Der letzte Zeichner : Aufsätze zu Kunst und Karikatur 3596149878

Robert Gernhardt spitzt die Feder: Kampf dem Dilettanten! Voller Verve weist Robert Gernhardt einen Weg durch die Kunst,

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German Pages [345] Year 2001

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Der letzte Zeichner : Aufsätze zu Kunst und Karikatur
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Robert Gernhardt spitzt die Feder: Kampf dem Dilettanten in der Kunst! In der Titelgeschichte, die Erzählung, Pamphlet und Ge­ neralbeichte in einem ist, erklärt der letzte Meister seinem letzten Schüler, wie alles begann - in den bilderreichen Höhlen der Stein­ zeit - und wie nun alles endet: in den weitgehend bilderlosen bis bildfreien Auftrittsorten des »erweiterten Kunstbegriffs« der Biennale von Venedig oder der Kasseler Documenta. Während Gernhardt aber mit dem ewigen Dilettanten abrechnet, äußert er sich profund über die von ihm verehrten Künstler und Könner. Von Giotto über Leonardo und Michelangelo bis hin zu Busch, Pfarr und Sowa, von den Klassikern der Malerei bis zu den gro­ ßen Karikaturisten unserer Tage reicht Gernhardts Palette. >Der letzte Zeichnen ist ein unverzichtbarer Wegweiser durch die Kunst, ein Buch, das den Zeichner und Schriftsteller Gernhardt in neuem Licht zeigt! Robert Gernhardt, 1937 geboren in Reval/Estland, studierte Male­ rei und Germanistik in Stuttgart und Berlin. Er lebt als freier Schriftsteller, Maler, Zeichner und Karikaturist in Frankfurt am Main. Als Fischer Taschenbuch sind von Gernhardt außerdem erschienen: die Gedichtbände >Wörtersee< (Bd. 13226), >Besternte Ernte< (mit F. W. Bernstein, Bd. 13229), >Körper in Cafes< (Bd. 13398), >Weiche Ziele< (Bd. 12985) und >Lichte Gedichte< (Bd. 14108), das Lese- und Bilderbuch >Über alles< (Bd. 12985), >Die Wahrheit über Arnold Hau< (mit F. W. Bernstein und F. K. Waechter, Bd. 13230), >Die Blusen des Böhmern (Bd. 13228),

>Glück Glanz Ruhm< (Bd. 13399), >ES gibt kein richtiges Leben im valschem (Bd. 12984), >Hört, hört! Das WimS-Vorlesebuch< (Bd. 13227), >Wege zum Ruhm< (Bd. 13400) sowie >In Zungen reden< (Bd. 14759). Zuletzt veröffentlichte Robert Gernhardt den Band >Berliner Zehnen mit Hauptstadtgedichten.

Unsere Adresse im Internet: vww.fischer-th.de

Robert Gernhardt

DER LETZTE ZEICHNER AUFSÄTZE ZU KUNST UND KARIKATUR

FISCHER TASCHENBUCH VERLAG

Nach- und Hinweise zu den Aufsätzen am Ende des Bandes.

Veröffentlicht im Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main, Dezember zooi Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung des Haffmans Verlags, Zürich O Haffmans Verlag AG, Zürich 1999 Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 96-14987-8

Inhalt

I ZUM STAND DER DINGE

Der letzte Zeichner.......................................................................

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II ZU KÜNSTLERN Die tollen Streiche der Florentiner Renaissance-Künstler . . 91 »Schweer, schweer« - Goethe und einige seiner Zeichenlehrer................................................................................. 103 Alt aussehen........................................................................................ 116 FAZ, Beuys, Schmock....................................................................... 120 Es ist ein Has’ entsprungen - Eine Mystifikation .................... 12;

III VORBILDERN

Dein Museum am Main.................................................................131 Stille Stunden in Karlsruhe............................................................. 141 Das hab ich bei Vermeer gelernt...................................................... 149 Das Steckbrett auf dem Streckbett - Zu Sybille EbertSchifferers >Die Geschichte des Stillebens< ........................... 153

IV VON KÖNNERN Lachen in Frankfurt - Ein Trauerspiel?......................................... 165 Vom Wettlauf zwischen Hase Hochkunst und Igel Karikatur 178

Wenn Künstler zuviel witzeln.......................................................... 199 Schlag nicht nach bei Flemig......................................................... 201

Mann unter Strom — Zu Kurt Halbritter.....................................207

Caricatura Ricca - Zu Volker Kriegei............................................ 219

Krieg wegen Chlodwig Poth?..........................................................226 Alles von ihm - Hans Traxler zum Siebzigsten........................... 230 Was ein guter Cartoonist braucht................................................... 233 Feier oder Feuer - Zu Bernd Pfarr............................................... 234 »Sowas möchte ich auch haben« - Zu Michael Sowa.............. 240 Grill-Patzer........................................................................................ 258

V ÜBER DEN LAUF DER ZEIT

Engel, Löwe, Lichtfleck............................................... 265 Ballade von der Lichtmalerei.......................................................... 342

Nach- und Hinweise.............................................................................. 343

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ZUM STAND DER DINGE

DER LETZTE ZEICHNER Der Tempel erstürmt, die Bildsäulen gestürzt, die Opferstätten verwüstet. Die Altäre umgewidmet, die Kelche entweiht, das Tabernakel geschändet. Die Fackel gesenkt, die Lunte gelegt, der Sieg vollkommen - wäre da nicht der Alte, der sich in die Cella, das siebenfach geschützte Allerheiligste des Kunsttempels, ge­ flüchtet hat und nun so irr wie wirr auf seinen Begleiter, den Jun­ gen mit den geweiteten Augen, einredet: »Antonio, hör mir gut zu: Höre nicht auf mich! Habe ich dir

jemals gesagt, Kunst käme von Können, käme sie von Wollen, hieße sie Wulst? Vergiß esl Die Wulst hat gesiegt, die Kunst ist am Ende, zusammen mit dem Jahrtausend, das einige ihrer glor­ reichsten Siege sah, räumt sie geschlagen das Feld dem, der sie seit Anbeginn gewünscht und verwünscht, verteufelt und vergöttert hat: dem ewigen Dilettanten. Sieben Pforten muß er noch spren­ gen, eine aus Holz, eine aus Stein, eine aus Eisen, eine aus Stahl, eine aus Bronze, eine aus Silber und eine, diese hier, aus eitel

Gold. Sieben Kerzen brennen in diesem Leuchter, erlischt die erste, bedeutet das, daß die erste Pforte überwunden wurde und so fortan: Ist die letzte Kerze niedergebrannt, werden sie durch die goldene Pforte in unser Versteck treten, sie, denn der ewige Dilettant ist Legion. Er war es seit Beginn der Menschheits-, und das meint ja zu­ gleich: Kunstgeschichte. Schon in den Höhlen der Steinzeit war er so zahlreich wie der Begabte rar, der verfluchte ewige Begabte, der ihm in den vergangenen zwanzigtausend Jahren immer dann lächelnd in den Weg trat, wenn er, der ewige Dilettant, drauf und dran war, auch einmal vom Honig des Künstlertums zu kosten, von Beifall und Ruhm, Wirkung und Dauer. Wenn er sich unter­ stand, im Schein blakender Fackeln unbemerkt zu Malrohr und Farbe zu greifen, um die beeindruckende Kavalkade der die Höhlenwand entlangstürmenden Hirsche, Büffel und Steinböcke durch ein - ja was eigentlich? — zu bereichern. >Was malsten da, Og-Og?
Ja, seht ihr das denn nicht? Ein Wildpferd!« >Ein Wildpferd? Aber ein Wildpferd hat doch keine Tellerohren wie die Kuh! Und hinten hat es keine Knie wie der Mensch! Wild­ pferde scheinen ja nicht gerade deine Stärke zu sein, Og-Og!< Und unter allgemeinem Gelächter war dann einer der ewigen Begabten aufgestanden, hatte dem Möchtegernkünstler lächelnd

den Malstock aus der Hand genommen, ihn in Farbe getaucht und mit so beneidenswerter Schnelligkeit wie hassenswerter Sicher­ heit hier und da Korrekturen angebracht, die das soeben noch berätselte Tier auf nicht weniger rätselhafte Weise zum derart lebensechten Abbild eines dahinjagenden Wildpferds machten, daß der jubelnden Zuschauerschar das Wasser im Munde zusam­ menlief und einige bei dem verlockenden Anblick unwillkürlich damit begannen, vor lauter Jagdeifer die Speere und Feuerstein­ äxte zu schwingen...« Während dieser Worte hatte der Alte die Schränke, Schubla­ den und Regale des ihm offensichtlich wohlvertrauten Raumes flüchtig gemustert,'mit einem »Wußt ich’s doch!« eine große bau­ chige Korbflasche hinter einer gegen die Wand gelehnten Kopie der iSchule von Athen«, hervorgeholt, sich einen ausgedehnten Schluck gegönnt, nun wandte er sich den Büchern und Katalogen zu, die neben einem Reißbrett, Zeichenpapieren und den viel­ fältigsten Kreiden vor ihm auf dem großen Tisch lagen. »Alles parat«, sagte er, um fortzufahren: »Antonio, habe ich dir jemals zugerufen: Zeichne, Antonio, zeichne? Ich tat es mehr als einmal, heute aber bereue ich die Jahre, die ich dich Tag für Tag anhielt, deine dir von der verschwenderischen Natur verliehene Begabung vor der Natur zu schulen und zu vervollkommnen. Denn das warst du bereits als Heranwachsender: zum Zeichnen begabt. Alle Kinder können zeichnen und malen, da jedes Kind das Inbild von allem und jedem in sich trägt. Jeder Mensch ist in der Tat solange Künstler, wie sein Verstand noch nicht damit begonnen hat, die Inbilder mit den Vorbildern zu vergleichen, doch ist er erst einmal soweit, dann erlebt der soeben noch träu­ merisch, ja gottgleich vor sich hin malende und zeichnende kleine Schöpfer seinen Sündenfall in menschlich-allzumenschliche Be­

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schränktheit: >So sieht ein Pferd doch nicht aus! Papi! Wie geht denn ein Pferd?< Da nun müssen traditionell 99% aller Papies passen, Dilettan­ ten allesamt. Zwar ahnen auch sie, daß ein Pferd so nicht geht, mit menschenähnlich kniebegabten Hinterbeinen, aber wie es geht, haben sie weder gelernt noch jemals durch eigene Wahrnehmung begriffen: Hieße man sie ein Pferd zeichnen, sie würden sich an verschüttete Reste ihres kindlichen Pferde-Inbildes klammern - lange Mähne, langer Schweif - und versuchen, dieses rudimen­ täre Inbild mit vagen Erinnerungen an Pferde-Abbilder zu ergän­ zen: So ein runder Leib auf vier Beinen, aber wie gehen diese Beine eigentlich? Vorne haben sie Knie. Und hinten? Hinten, wenn man so will, haben wir Menschen Knie. Warum nicht auch ein Pferd? Klar, auch ein Pferd! Kaum hingezeichnet, verliert sich die Euphorie. So geht ein Pferd jedenfalls nicht. Aber wie dann? Auch dein Vater, Antonio, wußte es nicht besser, doch ver­ mochte er es wenigstens zu würdigen, wie du, der Zehnjährige, dich damals durch Versuch und Irrtum vom Inbild zum Abbild zeichnend vorangearbeitet hast, zweifelnd, doch nie verzwei­ felnd, da du jenem Doppellicht folgtest, das im Verlauf der Jahr­ tausende allen zeichnerisch Begabten den Weg gewiesen hat, dem, von allen Meistern zu lernen, sowie dem, jedem Meister immer dann zu mißtrauen, wenn der eigene Augenschein die For­ mulierung des Meisters als Formel entlarvte und das eigene Zeichnen in Erfahrung brachte, was die bisherigen Abbilder beim Vorbild übersehen oder unterschlagen hatten. Erst Albrecht Dürer hat der Menschheit Augen und Herz für Erscheinung und Wesen des Hasen geöffnet, alle vorherigen Ha­ sendarstellungen waren lediglich Annäherungen gewesen, jeder seitherige Hase hätte niemals wieder hinter Dürers Hasen zurück­ fallen dürfen. Statt dessen —« Der Alte seufzte tief auf, fischte brüsk ein Blatt aus einer ab­ gestoßenen Mappe, knallte es regelrecht auf den Tisch: »Ein Li­ nolschnitt aus meinen Anfangerzeiten, ein Ostergruß aus jenen frühen 5oern, als nicht mehr der Hase das Ziel der Kunstanstren­

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gung sein durfte, sondern bestenfalls das Hasenhafte. Damals kam ich mir mit dieser Mischung aus Franz Marc und Gerhard Mareks mächtig mutig und modern vor, heute rührt mich der Murcks eher, als daß mich meine hasenhafte Angst, nicht auf der Höhe der Zeit zu sein, beschämt. Eine Jugendsünde - anders als du, Antonio, hatte ich damals nicht das Glück, meine Talente an einem Lehrer messen und in seiner Obhut ausbilden zu können. Das zweifelhafte Glück, wie wir heute wissen, denn wenn der ewige Dilettant etwas unerbittlich bekämpft hat und bekämpfen wird, dann-« Das jähe Erlöschen der ersten Kerze läßt den Alten innehalten, um sodann eiliger fortzufahren: »Antonio, verzeih! Nicht um meine in diesem Augenblick vollkommen unerheblichen Irrwege, Umwege und Wege zur Zeichnung darf es angesichts des bevor­

stehenden Untergangs gehen - die wenige Zeit, die uns in diesem Versteck noch bleibt, will und muß ich dafür nutzen, dir in gro­ ben Zügen und nach bestem Wissen und Gewissen zu berichten, wie es zu dieser vollständigen Niederlage respektive diesem tota­ len Sieg kommen konnte. Hör mir also zu, Antonio, hör mir gut zu! Vom ewigen Dilettanten habe ich gesprochen, doch über Jahr­ tausende schien es so, als werde der lediglich eine Randerschei­ nung bleiben, belächelt, wenn nicht verspottet. Er fallt hier und da als Möchtegernzeichner in ägyptischen Totenbüchern auf und belustigt noch heute durch die Ungeschicklichkeit, mit welcher er die damals üblichen und üblicherweise mit traumwandlerischer

Sicherheit notierten Bildzeichen verhaut, all die hundsköpfigen Götter, säugenden Göttinnen und anbetenden Männlein und Weiblein. Offenbar hatte da ein einflußreicher Mann seinem Fi­ lius einen Job verschafft, der eindeutig über dessen Kräfte ging: >O du weiser Rahotep, das ist wohlgetan, daß du meinen Sohn in deiner Totenbuchwerkstatt anstellst, denn wenn du dich weiterhin so angestellt hättest, von wegen Begabung, dann hättest du deine Bücher gleich persönlich zu den Toten bringen können l< Wir finden den ewigen Dilettanten wieder unter jenen spät­ antiken Malern, die in Fayum mit der ewiggleichen Aufgabe be­ schäftigt sind, Porträts auf Holztafeln zu malen, Mumienbild­

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nisse, welche samt der einbalsamierten Mumie im konservieren­ den Erdreich Ägyptens überlebt und bis auf den heutigen Tag

auch jene unbekannten Ungeschickten überliefert haben, denen es nicht gegeben war, die Bravuta der auftrumpfend schmissigen Konkurrenten auch nur annähernd zu erreichen. Offensichtlich machten sie durch den Preis wett, was ihnen an Talent fehlte: >Nicht für fünf Sesterzen, nicht für vier Sesterzen, nein, für den sensationellen Schnupperpreis von drei, weil Sie es sind, zwei Se­ sterzen male ich Ihnen Ihre Frau Mutter hin, daß ihr eigener Sohn sie nicht mehr wiedererkennen wirdl< Und so fortan: Meist namenlos versucht der ewige Dilettant nach besten, leider nie ausreichenden Kräften mit dem stetig voran und höher schreitenden Künstler Schritt zu halten, bis er im Italien der Renaissance vollends zur Lachnummer wird. Zu­ mal in Florenz, dessen Künstlerwerkstätten Michelangelos be­ schwörende Mahnung »Zeichne, Antonio, zeichne< bereits seit den Tagen Giottos von Generation zu Generation derart inbrün­ stig befolgt hatten, daß Michelangelo und einige seiner Kunst­ kumpanen sich den exquisiten Spaß erlauben konnten, bei einem ihrer Zusammentreffen nicht den besten, sondern den schlech­ testen Zeichner dadurch zu ermitteln, daß jeder, nach Maßgabe seiner Kräfte, einen völlig mißratenen Menschen aufs Papier legte. Die Palme aber errang kein anderer als Michelangelo, der mit einer veritablen Klozeichnung aufgetrumpft hatte und - folgt man seinem Biographen Vasari - schon deswegen zum Sie­ ger prädestiniert gewesen war, weil er als bester Zeichner natur­ gemäß auch die beste schlechteste Zeichnung hatte verfertigen können. Selige Zeiten, als noch jedermann wußte, was eine gute Zeich­ nung ist, was eine schlechtel Glorreiche Zeiten, als gute Zeichner noch spaßeshalber schlecht zeichnen konnten in der seligen Ge­ wißheit, dieser Satz werde sich niemals ins Gegenteil verkehren könnenl Paradiesische Zeiten für begabte Hände, höllische für Dilettantenpratzen I »Scheiße, wenn man unbegabt istl< Wohl niemals in der Ge­ schichte der bildenden Kunst ist der Fluch des ewigen Dilettan­

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ten häufiger von Werkstattwänden, Kirchenfassaden und Palast­

mauern zurückgeworfen worden: »Scheiße, daß ich unbegabt binl< Nicht nur in Florenz! In den dortigen Werkstätten wurden die Unbegabten vermutlich am raschesten erkannt, aussortiert und entweder nach Hause geschickt oder jenen Arbeiten zugeteilt, die mit etwas gutem Willen auch von anstelligen Handwerkern zu packen waren: Fensterläden bemalen, Schilde schmücken, Wirts­ hausschilder pinseln. Anders in der Provinz. Um 1470 sind vier Maler in Ferrara damit beschäftigt, im Auftrage des Herzogs Borso d’Este den Pa­ lazzo Schifanoia auszumalen: Der virtuose Cosme Tura, der ex­ travagante Ercole Roberti, der geniale Francesco Cossa und der — ja, wer eigentlich? »Maestro B< wird er von den Kunsthistorikern genannt, aber auch »Meister der aufgerissenen Augen«, als »TuraSchüler« führt ihn der eine, als »Antonio Cicognara« der andere eine Vieldeutigkeit, zu der die Wandbilder dieses Malers den denkbar entschiedensten Kontrast bilden: Die sind eindeutig di­ lettantisch. Eine Eindeutigkeit, die durch eine derart exemplari­ sche Laune des Zufalls unterstrichen wird, daß ich fast geneigt bin, an eine List der Kunstgeschichte zu glauben. Vier Künstler, sagte ich, schmückten den Prunksaal des Palastes mit Monats­ bildern aus, jeder von ihnen hatte demzufolge drei Monate zu bewältigen. Drei Monate ä je drei Bilder, da das Programm da­ hingehend festgelegt war, daß jeder Maler zu jedem Monat drei Aufgaben in aufsteigender Folge zu bewältigen hatte. Zuunterst feierte jedes Monatsbild die gute Herrschaft des Fürsten und schilderte zugleich die Tätigkeiten, die im jeweiligen Monat an­ fielen. Im Mittelstreifen das zum Monat gehörige Sternbild, sowie allegorische Darstellungen. Darüber der Triumphzug einer dem Monat zugeordneten heidnischen Gottheit - es geschieht nicht gerade häufig, daß Maler unter derart sportiven Bedingungen gegeneinander antreten müssen: An die Wände, fertig, los! Was dann passierte, können wir Heutigen lediglich rekonstru­ ieren, da die Monatsbilder Robertis und Turas im Laufe der Zeit fast vollständig zerstört worden sind. Eine geradezu dämonische Fügung aber hat dafür gesorgt, daß ausgerechnet jene beiden

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Konkurrenten Wand an Wand überdauert haben, die zu Lebzei­ ten durch Welten voneinander geschieden waren: der geniale Cossa und der dilettantische Maestro B. Die Monate März, April, Mai hat Cossa gestaltet, alles mit­ reißende Lösungen, allesamt unergründlich komplex, ungewöhn­ lich realistisch, unglaublich phantasievoll. Die Folgemonate Juni, Juli, August hat Maestro B zu verantworten, alles ebenso bemühte wie plumpe Versuche, den gestellten Anforderungen wenigstens in groben Zügen gerecht zu werden.« Nachdenklich blätterte der Alte im großformatigen Buch, ein Aufflackern der zweiten Kerze mahnte ihn, fortzufahren: »Das alles müßte gerechtigkeitshalber und der besseren Anschaulich­ keit wegen nicht vor diesen Abbildungen, sondern vor den Wän­ den selber verhandelt werden. Wer uns daran hindert? Der, wel­ cher über kurz oder lang in dieses Gemach einbrechen wird Maestro B persönlich. Denn das war er ja seit Anbeginn, der ewige Dilettant: Meister B oder C oder D oder E oder ein wei­ terer Aftermeister auf der nach unten hin offenen Unbegabten­ skala. Und er ist’s noch heute, obwohl er seit gut zweihundert Jahren die frohe Botschaft einer klassenlosen, weil von überprüf­ barer Begabung gereinigten Kunst nicht nur verkündet, sondern mit Feuer und Schwert verbreitet - als wolle er Rache nehmen für alles Leid und alle Unbill, die ihm die Cossas aller Zeiten zugefügt haben!« Erneutes zages Flackern der zweiten Kerze, der Alte beugt sich zum Knaben und hebt belehrend den Zeigefinger: »>Gegen große

Vorzüge gibt es kein anderes Heilmittel als die LiebeWahlverwandtschaften< notiert - doch dieser Bevor­ zugte hatte gut reden. Der Benachteiligte denkt da in der Regel anders, und was Maestro B-enachteiligt jeden Morgen dachte, wenn er seine Arbeitsstelle im Monatsbildersaal des Palazzo Schifanoia betrat, das läßt sich unschwer denken: >Scheiße, daß ich un­ begabt bin!< Mochte er auch abends vom Gerüst gestiegen sein im Gefühl, ein ganz ordentliches Tagewerk geschaffen zu haben, hatte die gnädige Dämmerung ihn noch glauben lassen, er und Cossa mal­

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ten nicht nur an Vergleichbarem, sondern Vergleichbares; so hielt ihm das harte Licht des Morgens Tag für Tag den himmelweiten Unterschied gerade deswegen so unerbittlich vor, weil das zu Vergleichende so nah beieinander lag, räumlich und inhaltlich.

Unfaßbar, was dieser Cossa da an Landschaft, Architekturen, Menschen und Tieren auf die Wand zauberte, unbegreiflich, wie er das Gewimmel so gliederte, daß komplizierteste Verkürzun­ gen, dichteste Gruppierungen und waghalsigste Perspektiven sich auf einen Blick erschlossen, während das Auge zugleich end­

los spazierengehen konnte und auf diesen Wanderungen mit nicht enden wollenden Erfindungen und Funden belohnt wurde: Da! Der geile Affe am Bein des Knaben! Dort! Der vom Einsturz bedrohte Torbogen! Hier vorn die feiernden Herrn! Da hinten die arbeitenden Bauern! Jeder von eigener Statur, jedweder bei einer unverwechselbaren Tätigkeit! Alles verwirrend vielfältig wie im wirklichen Leben und dennoch so traumhaft sinnfällig, wie es nur in echter Kunst vorkommt. Ein Bild, um hineinzugehen und sich für immer darin zu verlieren, seufzt Maestro B, aber er muß ja noch die paar Meter weiter, zu seinem Bild, dessen Anblick ihn mal wieder fragen läßt, was er eigentlich in diesem Monatsbilder­ saal verloren habe. Landschaft auch hier, doch nicht zum Eintreten verlockend, sondern phantasielos gestaffelt und abschreckend karg. Architek­ turen von fragwürdigster Standfestigkeit. Schematische Reiter­ gruppen, pedantisch gereihte Figuren mit Köpfen vom Faß und Kostümen von der Stange. Aber der Vertrag ist unterzeichnet, die monatlichen Zahlungen aus der herzoglichen Schatulle laufen, der Mensch muß essen, die Familie will leben, das Tagwerk ist vorgeschrieben, der Verputz ist aufgetragen, die Farben sind an­ gerührt, also weitermalen: Ciao Cosm£! Ciao Ercole! Wo bleibt der Francesco eigentlich? Und eine Stunde später schlendert der Cossa doch tatsächlich herein, wohl wissend, daß er sein Tagwerk auch heute wieder als erster beenden wird, schnell wie er ist, und er findet auch noch Zeit für ein Schwätzchen mit dem bereits längst wacker vor sich hinmalenden Maestro B:

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- Maestro! Welch göttliche Arbeit! Aber nein - du übertriffst ja den Schöpfer noch! - Wie das? Erkläre dich deutlicher, Francesco! - Nun, als der Herr den Hund schuf, hat er da dessen Vorder­ läufen Knie verliehen? O nein, Maestro, es blieb dir Vorbehalten, einen Hund zu erschaffen, der einer Kuh gleich vor seinem Schöpfer in die Knie gehen kann. Wirst du uns als nächstes mit einer Anbetung der Hunde überraschen, Maestro? Gelächter der Kollegen Tura und Roberti, Verwirrung bei Maestro B: - Wovon redest du denn da, Francesco? - Ja, hast du denn keine Augen im Kopf, Maestro? Ich rede von jener seltsamen Kreatur, die du neben dem prallen Pferd des dicken Herzogs Borso dahintrotten läßt, beide, Pferd und Hund, übrigens bei dir Passgänger, eine Gangart, die du in seltenen Fäl­ len beim Pferd, nie aber beim Hund beobachten wirst. Aber du

mußt dich ja auch nicht damit abgeben, die Natur zu beobachten, du erschaffst sie neu mit kniebegabten Hunden, mit prallen Pfer­

den, die Sandsäcken auf Stützen gleichen, und mit Menschen, die allesamt vom Huhn abzustammen scheinen, da sie einander glei­ chen wie ein Ei dem anderen! Und unter erneutem Gelächter der beiden anderen Maler be­ steigt Cossa sein Gerüst, greift zum Pinsel und bereichert eine Gruppe von Höflingen um einen schreitendenJagdhund, der ge­ radezu aufreizend den Vorderlauf anhebt, den langen Vorderlauf mit der elegant angewinkelten Vorderpfote... Maestro B vergleicht und begreift: Nicht bereits in der Mitte

des Beines knickt die Pfote des Hundes ab, sondern im Verhältnis vier Fünftel — ein Fünftel, doch zu spät, die Farbe seines Hundes hat bereits abgebunden, die Töle ist nicht mehr zu ändern, sein Herrchen und Maestro muß sich sputen, will er nicht vollends ins Hintertreffen geraten gegenüber seinem Kollegen und Konkur­ renten, der seine Monatsbilder nur deshalb nicht schon längst fer­ tig gemalt hat, weil ihn ein unerklärlicher Ehrgeiz dazu antreibt, auf seinen Wänden nicht nur das unbedingt Nötigste zu erzählen, sondern mehr, unendlich viel mehr, nicht weniger als die ganze

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Welt der Erscheinungen, eingebettet in Nähe und Ferne, Licht und Luft, Raum und Zeit. Verhalten fluchend greift Maestro B zum Pinsel, um sein Tag­ werk runterzumalen, tief im Innern aber schwört er den Cossas dieser Welt ewige Rache: Es wird kommen der Tag, da wird sich im Staube wälzen, was heute noch auffahrt und uns in den Staub tritt. Es wird kommen die Stunde, da nicht ihr uns verlacht wegen der Knie, die wir den Hunden verliehen haben, sondern wir euch, weil ihr wie die Hunde vor uns knien und Abbitte leisten werdet dafür, daß sich Künstler nur nennen durfte, wer zeichnend sein Wissen darüber unter Beweis stellen konnte, wo Pferd und Hund ihre Knie haben — wo doch jeder ein Künstler ist, nicht nur der, der die Welt der Erscheinungen sklavisch und kleinlich nachzubilden weiß, sondern vor allem der andere, der sie nach seinem Bilde modelt und ihr Knie da verpaßt, wo sie seiner Meinung nach hingehören, an die Vorderbeine oder an die Hinterbeine oder an beide oder an gar keine, da wir mit dem ganzen überprüfbaren Spuk aufräumen werden, mit Proportion und Komposition, Anatomie und Perspektive, Ähnlichkeit und Naturtreue: In Staub mit allem, was sich uns überlegen dünkt, in den Orkus mit jenen Künsten, die sie in dieser Gewißheit be­ stärken!« Zischendes Erlöschen der zweiten Kerze, grimmiges Nicken des Alten, der den Leuchter so vor den großen Spiegel rückt, daß der das verbliebene Licht verdoppelt. Ein Schluck aus der Korb­ flasche, dann fahrt er drängender fort: »Antonio, es war viel von Maestro B die Rede, doch ich hätte dir auch ganz andere Namen nennen können, Raffaelo Bottincini, Farrando Spagnuolo, Gio­ vanni di Francesco, Maestro di Pratovecchio, Giovanni di Piemonte, Marco Zoppo oder wie sie alle hießen, die das Unglück hatten, in eine Zeit hineingeboren zu werden, in welcher die Künstler gerade dabei waren, die Meßlatte höher und immer noch etwas höher zu legen, und in welcher die Kunden ihren Kunst­ verstand bereits derart an Gelungenem geschult hatten, daß je­ nen, die vor dem kundig prüfenden Auge versagten, auch die gro­ ßen Aufträge der großen Auftraggeber versagt blieben, großes

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Geld und, bis heute, großer Ruhm: »Scheiße, daß wir unbegabt sindh Es sollte gut vierhundert Jahre dauern, bis der Fluch des Mae­ stro B sich zu erfüllen begann, obgleich der ewige Dilettant sei­ ner Natur gemäß nicht nachließ, nach dem Künstlerlorbeer zu

greifen. Höre, Antonio, die Geschichte von Reinfall und Glücks­ treffer des Carl Philipp von Greiffenclau! Der war 1749 zum Fürstbischof von Würzburg gewählt worden und hatte mit dem Amt auch die Verpflichtung übernommen, endlich das von kei­

nem Geringeren als Balthasar Neumann entworfene und 1744 fertiggestellte Gebäude der bischöflichen Residenz auch im In­ nern zu vollenden: Noch immer harrten Treppenhaus und Kaiser­ saal der Ausmalung. Als ahnte er, daß ihm nur fünf Regierungsjahre beschießen sein würden, engagiert der frischgebackene Fürstbischof sogleich einen Maler, der aus dreierlei Gründen für das anspruchsvolle Projekt geeignet erscheint: Er kommt aus Mailand, also Italien, dem Ursprungsland großer Wandmalerei, er legt eine beeindrukkende Skizze vor, und er versteht es, seine Vorzüge herauszustrei­ chen. Hör nur, was er in seinem >Contract< zu leisten versprach!« Kurze Suche, rascher Zugriff, dann liest der Alte mit erhobe­ ner Stimme: »»Demnach der Künstler und Maler Joseph Visconti aus Mayland offeriert, den großen Saal en Fresco auf eine solche arth, wie man von einem Künstler immer nur praetendieren könne, dergestalten zu mahlen, daß an seiner Kunst und arbeit männiglichen ein vollkommens Vergnügen haben solle< - doch dauert es nicht lange, und der am 17. Oktober abgeschlossene »Contract des Mahlersi wird Makulatur. Bereits am 16. November nämlich ist allen Kunstverständigen klar, daß sie einem Schwind­ ler aufgesessen sind, einem Filou, der zwar von den vereinbarten 6000 fränkischen Gulden Lohn bereits 1000 Reichstaler einge­ sackt, jedoch nichts zustande gebracht hat, Dilettant, der er ist. Seine »voluble Zung< habe ihm den Auftrag verschafft, berich­ tet der Höfling und Chronist Spielberger, doch die Zung allein reichte damals glücklicherweise noch nicht aus, den Künstler­ status zu praetendieren, noch entschied die Hand über Aufstieg

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und Fall eines Malers. Und letzterer ist nach einem Monat Hoch­ stapelei unausweichlich. Visconti habe zwar ein Gerüst im Kaiser­ saal errichten lassen, berichtet der Chronist, aber dort »verschlösse er alles und ließe niemanden dahin auch nit einmahl den fürstenli Der freilich scheint sich dennoch Zutritt verschafft zu haben, und

was er da sah, sprach für sich: Visconti >mahlete so elend schlecht, da er ob S. hochfürstlichen Gnaden lauter Apellesstück mit Wor­ ten vorstellete seine ganze arbeit als erbärmliche Nichtsnutzigkeit nit verdecket bleiben konnten Lauter Apellesstück, Antonio, lauter Apellesstück!« Schallendes Lachen schüttelt den Alten, die fragenden Augen des Knaben lassen ihn innehalten und gesammelt fortfahren: »Apellesstück - damit meint Spielberger, der saubere Visconti habe seine Stümpereien zu Meisterwerken vom Rang eines Apelles, des berühmtesten aller griechischen Maler, schönreden wol­ len. Die Zung, die Rede, das Wort - sie vermögen viel, Antonio! Schon immer war es leichter zu reden als zu zeichnen, doch heute erst ist es den Maestro Bs dieser Welt gelungen, einer verwirrten, ja verängstigten Öffentlichkeit einzureden, das Wort sei bereits

die Sache, der Glaube an ein Kleidungsstück bereits die Beklei­ dung und der Kaiser nicht nackt, sondern prächtig gewandet. Wie anders am Hofe des Philipp von Greiffenclau! Der läßt sich kein X für ein U vormachen, möchte aber nicht alleine über Wert und Unwert des Gesehenen entscheiden. Er beauftragt vier Künstler, zwei Maler und zwei Bildhauer, damit, das bisher Ge­ malte zu taxieren. Es wird mit einen bazen werth< befunden und ein ungnädiger Auftraggeber entläßt den >VilouBildende Kunst< auf falschen Kurs und in von Piraten wie Eis­ bergen gleichermaßen verseuchtes Gewässer geriet, lasse mich, Antonio, noch einen Augenblick im Würzburg von 1750 verwei­ len, dem vielleicht letzten lichten Moment, da Kunst und Können noch jene untrennbare Einheit bildeten, welche jahrtausendelang gegolten und für Abertausende von Meisterwerken gesorgt hatte. Einen weiteren Reinfall kann und will sich der Fürstbischof nicht leisten, also engagiert er als Nachfolger des redegewandten Mai­ länder >Vilous< den allseits anerkannt besten Wandmaler seiner Zeit, den Venezianer Giovanni Battista Tiepolo. Der wird in der Würzburger Residenz zwei Jahre lang damit beschäftigt sein, Hunderte Quadratmeter Wand und Decke auszumalen, doch was tut er als erstes? Er zeichnet, und damit meine ich nicht die Kar­ tons, eins zu eins gezeichnete Vorlagen für das jeweilige maleri­ sche Tagwerk, ich spreche von Handzeichnungen, mit deren Hilfe Tiepolo sich das zu Malende nicht nur unermüdlich vergegenwär­

tigt, sondern regelrecht erarbeitet. Hier — die gemalte Figur des Stukkateurs Bossi, welche den im Treppenhaus Emporschreiten­ den von oben herab anschaut, unvergeßlich eindringlich. Und hier die Erklärung für so viel beeindruckende Präsenz: zehn Rö­ telskizzen, weiß gehöht auf blauem Papier. Sie zeigen, wie sich Tiepolo an seine schlagende Lösung herangetastet hat und was Zeichnung ihrem Wesen nach ist. Nicht die Lösung selber, son­ dern ein Schritt auf dem Weg dorthin, nicht Mittel zum Zweck, etwas unter Beweis zu stellen, etwa das Zeichnenkönnen, son­ dern Medium, etwas in Erfahrung zu bringen, in diesem Fall: Wie postiere ich eine Figur in schwerem Mantel so, daß daraus eine suggestive, möglichst monumentale Form wird? Das weiß auch ein zeichnerisches Genie nicht mit letzter Sicherheit, und sollte es auch, mit Dürer zu sprechen, »inwendig voller figur< sein. Da bleibt auch einem Tiepolo, der bei Bedarf einen Götterhimmel

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samt Putten, Musen und Sonnenrössern aus der Untersicht zu imaginieren und zu malen imstande ist, nichts weiter übrig, als sich vors Modell zu setzen und in aller Bescheidenheit sowie mit ganzem Kunstverstand in doppelter Hinsicht festzuhalten, was er da vor sich sieht, in natura und auf dem Papier. Sieh nur, Antonio,

wie er der Sache näherkommt! Wie er das stehende Modell veran­ laßt, erst nach rechts zu blicken, ihn dann en face anzuschauen, wie es auf Befehl den Hut aufsetzt, abnimmt, sich weiter dreht und immer weiter, bis wir zusammen mit dem Zeichner bei der

den Kopf wendenden Rückenfigur angelangt sind, bis kein Pelz­ kragen mehr stört und kein Degen mehr die geschlossene Figur durchspießt: Zeichnen als der Königsweg zur sinnlichen Erkennt­ nis. So, wie sich nach Heinrich von Kleist die Gedanken beim Reden verfertigen, so bilden die Bilder sich beim Zeichnen, so­ fern der Künstler dazu imstande ist, das, was er in sich hat - seine Idee - von dem, was er da vor sich sieht — sein Modell - in Frage stellen, in Gang setzen und auf Trab bringen zu lassen. Ich sage: der Künstler, ich hätte auch sagen können: der Meister. Als Tiepolo die Würzburger Residenz ausmalt, ist er Mitte fünfzig und auf der Höhe seiner Kunst. Er ist bereits als Knabe zum Maler ausgebildet worden und hat sich seither ständig zeichnend und malend vervollkommnet. Er hat ungezählte Lösungen gefunden, doch er verläßt sich nicht auf seine Formeln. Als er die segnende behandschuhte Rechte jenes Bischofs malen muß, der Kaiser Bar­ barossa und Beatrix von Burgund vermählt, zeichnet er sie erst einmal. Um sicherzugehen? Um in Form zu bleiben? Weil er ein­ fach gerne zeichnete? Wer sich im Zeichnen fortgebildet hat wie du, Antonio, der weiß, daß kein Meister vom Himmel fällt. Selbst die größten Ge­ nies begannen unselbständig und unbeholfen. Immer wieder sind es die Hände gewesen, die Zeichnern zu schaffen machten, und sind sie nicht, bei Licht betrachtet, zum Verzweifeln? Pfote, Tatze, Kralle, Huf — wie schön und leicht faßlich die Tiere auf­ treten und wie fragwürdig der Mensch in seinen Extremitäten endet! Unten in Fleischbroten, die ein arglistiger Konditor zu allem Überfluß viermal eingekerbt hat - gottlob wird dieses Ge­

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bilde bei allen zivilisierten Volkern vom sehr viel leichter zu

zeichnenden Schuh bedeckt. Aber die Händel Da endet eine be­ reits reichlich unausgesprochene Form in fünf unterschiedlich langen Würsten, die schon in Ruhestellung schwer zu packen sind. Nur daß die Hand nie Ruhe gibt. Anders als der Fuß ist die Hand auch dann in steter Bewegung begriffen, wenn der Rest des Körpers zu ruhen geruht. Entweder greift sie etwas, um es an Mund, Nase, Auge oder Ohr zu führen, oder sie unterstreicht etwas, beispielsweise die Rede des Mundes, oder sie macht sich an fremdem oder eigenem Körper zu schaffen, im schlimmsten Falle an der anderen Hand. Denn jede hat ja einen Zwilling, jede ver­ gewissert sich dauernd dieses Spiegelbildes, jede ist jederzeit dazu fähig, sich in die andere zu verschränken, zu verknäulen, zu ver­ wursteln —: Wer nie versucht hat, diesen Zehnfingerwurstsalat zeichnend zu entknäulen und in eine plausible Form zu bringen, der-« Sehr ferner Klang wie Paukenschläge und Gelächter, doch der Alte hört nicht darauf. Er redet weiter auf den Knaben ein, der die großen Augen nur zögernd wieder auf den Erzähler richtet: »Du, Antonio, weißt um diese Schwierigkeiten. Du hast Hände geübt, wie andere ihre Vorhand trainiert haben. Und du hast Fortschritte gemacht, da sich bei dir, dem Begabten, die für alle Unbegabten so grausame Regel erfüllt hat: Wer kann, der kann. Denn sinnvoll ist solch Spezialstudium der Hände lediglich dann, wenn Hände nur ein Schwachpunkt sind, nicht der Höhepunkt einer Schwäche, der nämlich, nicht zeichnen zu können, und schon gar keine Hände. Wer nicht sehr rasch inwendig begreift, wie ein Körper gebaut ist; wer sich nicht zeichnend in den Körper seines Ge­ genübers zu verwandeln vermag, und sei dieser ein Pferd oder ein Hund, der wird nie über Stückelung und Klitterung hinaus­ kommen. Goldene Zeiten für die Künste, als noch der Meister dem be­ gabten Schüler den Weg zum Tor der Kunst zu weisen wußte, durch welches der so geschulte Begabte leichtfüßig hindurch­ schritt! Graue, ja grausame Zeiten aber für die, denen der Einlaß trotz aller Hilfe verwehrt wurde, da unübersehbar ihre Zeichnun­

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gen wider sie zeugten, jene korrigierbaren, überprüfbaren, ledig­ lich in Maßen erlernbaren, nur wenigen verfügbaren und nicht übertragbaren Entrebillets in die Tetnpelvorhalle, die Kunstaka­ demie, vor deren Türen sich einst die Zutrittheischenden drän­ gelten, indes Zerberusse mit Argusaugen und Herkuleskräften die Riesenspreu vom Häufchen Weizen trennten, bis die Spreu aufbegehrte und nicht nur Weizen werden wollte, sondern den Weizen mitsamt dem Bade ausschüttete, seit ein staatlich bestall­ ter Türhüter wie der Düsseldorfer Kunstprofessor Joseph Beuys kurzerhand jedermann zum Künstler erklärte und in seine Klasse aufnahm - aber noch einmal und zum letzten Mal gefragt: Wer oder was hatte die scheinbar so wehrhaften Bastionen des Kunst­ tempels zuvor durchlöchert? Der ewige Dilettant? Gewiß. Doch hätte er diesen Triumph niemals feiern können, wären ihm nicht Verbündete außerhalb und, leider leider, auch innerhalb der Mauern zur Hilfe geeilt, Literaten und Verräter, Sprüchemacher und Malschweine. Tiepolo malte noch, da drängte es die Sprüchemacher bereits, Sturmleitern anzulegen, naturgemäß erst einmal an die Zitadelle »Literatur«. Nieder mit Regel und Kanon hieß die Parole der Stürmer und Dränger, jedermann, vor allem aber: jeder Jüngling trägt den Kunstmarschallstab in der fühlenden Brust, der ihn be­ fähigt, aus dem Stand und ohne alle Ausbildung — je unverbilde­ ter, desto besser - ein Homer zu sein, ein Pindar, ein Ossian, ein Shakespeare. Karriereaussichten, die den bildenden Dilettanten elektrisieren mußten: Wenn die Literaten jedwede Regel für Ge­ dicht, Drama und Epos in den Staub treten konnten - warum mußten die Künstler sie nach wie vor hochhalten? War nicht das großgedachte und weitgefühlte Sujet wichtiger als die kleinliche Ausführung? Galt nicht die Reinheit der subjektiven Idee mehr als das objektiv stets dem Schmutz und der Materie verhaftete Handwerk? Literatengedanken, Antonio, Sprüchemacherei! Zugleich aber auch der Beginn einer so unheiligen wie unausweichlichen Al­ lianz, der des Dilettanten mit dem Literaten. Warum ersterer seit Urzeiten sehnlichst in den Kunsttempel einzudringen wünschte,

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wissen wir bereits. Doch wieso mischten sich plötzlich die Litera­ ten in diese Auseinandersetzung ein? Wieso halfen sie dabei, die Sophismen zu gießen, mit denen der Tempel sturmreif geschossen wurde, die Argumente zu zimmern, dank derer seine Mauern er­

stürmt werden konnten? Es war der ständig heller erstrahlende Glanz, durch den die Malerei in den Jahrhunderten ihrer Blütezeit die Literaten zugleich geblendet und angelockt hatte. Waren Ma­ lerei und Bildhauerei im Mittelalter - anders als Rhetorik oder Geometrie - noch nicht einmal für würdig befunden worden, un­ ter die sieben artes liberales aufgenommen zu werden, hatte man Maler und Bildhauer — anders als Musiker und Philosophen nicht zu den Künstlern, sondern zu den Handwerkern gerechnet, so zählte spätestens seit dem 16. Jahrhundert wer zeichnen und malen konnte zur kleinen Schar schöpferischer, ja gottgleicher Geister, vor denen sich selbst höchste Häupter in Demut neigten: Michelangelo, dem die Mitwelt das Beiwort divino verlieh und der den ungebeten eintretenden Auftraggeber und Papst von sei­ nem Gerüst in der Sixtinischen Kapelle aus mit Steinwürfen trak­ tierte; Tizian, nach dessen zu Boden gefallenem Pinsel Kaiser Karl v. sich anstandslos bückte; Leonardo da Vinci, der in den Ar­ men des französischen Königs Franz 1. starb; Veläzquez und Ru­ bens, welche ihre Herrscher und Auftraggeber nicht nur malten, sondern auch als Diplomaten an den großen Höfen vertraten - all diese verehrungswürdigen Gestalten verkörperten Rang, Glanz und Pracht der Künste derart sichtbar, daß wer >Künstler< sagte, ohne weiteres den bildenden Künstler< meinte und nicht etwa den Dichter, den Schriftsteller, den Komponisten oder gar ausfüh­ rende beziehungsweise dienstbare Geister wie den Sänger, den Musikus oder den Schauspieler. >Nein, nein, nein - wir dürfen hier nicht rein< - was heute noch Hunden hier und da den Eintritt in Fleischerläden verwehrt, stand bis zum 18. Jahrhundert für alle

gen, was naturgemäß ihre Gier, sich Einlaß zu verschaffen, bis zur Besinnungslosigkeit anstachelte: So wie die Völker der Steppe jahrhundertelang von den Wundern der vielkuppligen Stadt By­ zanz träumten, so wie sie die Uneinnehmbare vom Wasser und



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vom Lande aus unablässig umkreisten und umschwärmten in der Hoffnung, eine zufällige Bresche, ein durch Unachtsamkeit nicht

geschlossenes Tor zu finden, so strich der Literat nimmermüd um die Kunstbastion, wo er früher oder später auf jenen treffen mußte, der bereits seit Höhlenzeiten den gleichen verzweifelten Wunsch hegte, auf den ewigen Dilettanten. Aber war es über­

haupt ein Gegenüber, auf das er da stieß? Nicht vielmehr ein Doppelgänger?« Ohne das leiseste Zeichen einer Vorwarnung erlischt die dritte Kerze. Das sehen, zur Korbflasche greifen und der Verblichenen grüßend zuprosten ist für den Alten eins. Sinnend stützt er das bärtige Haupt in die kräftige Hand, dann nimmt er den Faden mit Nachdruck wieder auf: »Die Eisenpforte ... Nur noch vier Tore zu sprengen, dann werden sie hier sein! Sie, die sich mit Fug und Recht als >Sonderkommando Werther< bezeichnen dürfen oder als die >Werther-Rächer< oder als >Werther-Zombies< oder meinetwegen auch als >Werthers Echte< — denn was sind die Tobenden da draußen anderes als Wiedergänger dieser ersten Doppelfigur von Bildarmut und Wortreichtum, von Literat und Dilettant?« Ohne Zögern fischt der Alte ein Buch aus dem Wust von Papieren und Broschüren, die den langen Tisch bedecken, ohne Suchen schlägt er es auf: »Wie Goethe begreift sich Werther als

Künstler, meint natürlich: als bildender Künstler. Wie sein Autor hat er von Kindesbeinen an gezeichnet, anders als sein Autor aber das Zeichnen bereits in den jungen Jahren, in welchen wir seine Bekanntschaft machen, so gut wie ganz eingestellt. Doch welchen Schluß zieht er daraus? Beklagt er sein Versagen? Leidet er gar darunter, wie es der Titel des ihm gewidmeten Buches nahelegen könnte? Im Gegenteil! Im zweiten Brief bereits hat er aus der Not eine Tugend gemacht, mehr noch, eine Leistung: >Ich bin so glücklich, mein Bester, so ganz in dem Gefühl von ruhigem Daseyn versunken, daß meine Kunst darunter leidet.< Seine Kunst, Antonio, aber nicht er, der Künstler: >Ich könnte jetzo nicht zeich­ nen, nicht einen Strich, und bin niemahlen ein größerer Mahler gewesen als in diesen Augenblicken.!

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Vom 4. Mai 1771 bis zum 20. Dezember 1772 dauern die Lei­ den dieses Unseligen an, dann schießt er sich eine Kugel in den Kopf. In all der Zeit hat er zweiundachtzig Briefe geschrie­ ben und ganze zwei Zeichnungen zu Papier gebracht, sofern man den Schattenriß Lottes auch dann noch als Zeichnung gelten las­ sen will, wenn man erfahrt, daß Werther seit der Begegnung mit der geliebten Frau >keinen Umriß packen< könne. Und dieser Nichtszeichner und Vielschreiber hat die Stirn, folgende Bilanz zu ziehen: >Das Beste, was ich hier getan habe, ist mein Zeich­ nen.! Sein Zeichnen, Antonio! Ein Zeichnen, ohne sich die Hände schmutzig zu machen, ohne Gegenstand, risikofrei und unüber­

prüfbar. Sein Zeichnen hat in unserem schwergeprüften, seinem verdienten Ende entgegengehenden Jahrhundert unendlich viele Nachahmer gefunden, nur daß sie sich jetzt nicht einfach Künst­ ler, sondern Konzept-Künstler nennen dürfen oder Minimal Artists, sofern sie nicht Ready Mades, Objects Trouvées, unbemalte Leinwände oder gar nichts ausstellen: All das begann mit dem Literatengeschwätz jenes Möchtegernkünstlers Werther, Antonio, und das alles wird erst mit dem endgültigen Sieg seiner Wieder­ gänger enden. Der freilich ließ zu Werthers Zeiten noch eine Weile auf sich warten. Kein anderer als der Autor des >Werthereingebohrnes Talent! als Zeichner in sich wähnte und sich Jahrzehnte lang immer wieder als Zeichner ver­ suchte, geht als alter Mann hart mit sich ins Gericht: >Einer mei­ ner Fehler ist, daß ich nie das Handwerk einer Sache, die ich trei­

ben wollte oder sollte, lernen mochte. Daher ist es gekommen, daß ich mit soviel natürlicher Anlage so wenig getan und gemacht habe.! Mitleidlose Worte, wenn man bedenkt, mit welcher In­ brunst der Dichter zeit seines Lebens danach gestrebt hatte, unter die wirklichen Künstler aufgenommen zu werden: Er, der sich auf seiner Harzreise anfangs als >Zeichenkünstler von Gotha! ausge­ geben hatte, dann als >Darmstädter Maler Johann Wilhelm We­ ber!, er, der sich in Rom als >Filippo Miller, pittore tedesco! regi­ strieren ließ, er, der seinem Herzog und Brötchengeber von Rom aus mitteilen zu können glaubte: >Ich darf wohl sagen: ich habe

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mich in dieser anderthalbjährigen Einsamkeit wiedergefunden; aber als was? - Als Künstler!« Als bildender Künstler mag sich der Dichter am Ende seiner von viel Zeichnerei begleiteten italienischen Reise gefühlt haben; im Rückblick hat er diesen Zeitpunkt als eine Periode bezeichnet, in welcher er sich von der Illusion verabschiedete, aus ihm könne wirklich und wahrhaftig ein großer bildender Künstler werden: >Ich bin zu alt, um von jetzt ab mehr zu tun als zu pfuschen.««

Der Alte sprang auf: »Welch großer Mann!« schrie er und rüt­ telte Antonio an den Schultern, als müsse er ihn aufwecken und aufrichten, dabei saß der Knabe doch die ganze Zeit wie schrekkensstarr vor dem Alten. »Verneigen wir unsre Häupter vor diesem großen Männl Zwei­ tausendsiebenhundert Handzeichnungen hat dieser Schreiber uns hinterlassen und ist doch schließlich zur Einsicht gelangt, daß er nie Künstler geworden, sondern ein Leben lang der Dilettant ge­ blieben ist, der 1775 den >Scheide Blick nach Italien« aufs Papier zu bannen suchte: >Ich hatte mich an dem Fußpfad, der nach Ita­ lien hinunterging, niedergelassen«, erinnert sich der fünfundsech­ zigjährige Goethe in >Dichtung und Wahrheit«, >und zeichnete, nach Art der Dilettanten, was nicht zu zeichnen war und noch weniger ein Bild geben konnte: die nächsten Gebirgskuppen, de­ ren Seiten der herabschmelzende Schnee mit weißen Furchen und schwarzen Rücken sehen ließ. Indessen ist mir durch diese frucht­ lose Bemühung jenes Bild im Gedächtniß unauslöschlich geblie­ ben.« Dabei hat sich die Mühe sogar teilweise gelohnt! Sieh nur, Antonio, wie sorgfältig und suggestiv Goethe den Bleistift ein­ setzt, um schwarze Bergrücken und weiße Schneefelder zu schei­ den! Freilich, freilich, bei den menschlichen Rückenfiguren hier unten und beim lediglich skizzierten Rest der Landschaft, da ver­ ließen sie ihn. Kein großer Zeichner, wirklich nicht, aber auch kein Literat, ganz und gar nicht! Ein vergeblich Liebender - denn auch solche Dilettanten gibt es, Antonio, und keiner wußte das so schön in Worte zu fassen wie Goethe: >Dem Dilettanten ist die Nähe des Künstlers unerläßlich, denn er sieht in diesem das Complement seines Daseins. Die Wünsche des Liebhabers erfüllen

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sich im Artisten.< Ein großer Mann, dieser Goethe und ein großer Liebhaber der Künstel Ein Mann, der nicht so zeichnen konnte, wie er wollte, dafür jedoch die richtigen Worte zu finden wußte: >Wir sollten weniger sprechen und mehr zeichnen.< Ein Mann, der den unerfüllbaren Wunsch auszusprechen wagte: >Ich meinerseits möchte mir das Reden ganz abgewöhnen und wie die bildende Natur in lauter Zeichnungen fortsprechen.« Auf die Knie fallen möchte man vor diesem Mann! Ein Mann des Wortes, der im Bild das ehrt, was es einzig macht: das Schweigen! Die Füße küssen möchte man ihm für sein Wort von der »bildenden Natur«, das er der bildenden Kunst für alle Zeiten an die Seite gestellt hat! Welch herrlicher Doppelsinn! Die Natur, die sich selber in unendlichen

Formen bildet und zugleich den, der bei ihr in die Lehre geht und sich in ein noch so kleines Detail dieser Unendlichkeit versenkt. Nicht nach der Natur, wie die Natur wollte noch ein Paul Klee arbeiten, doch das sind Haarspaltereien. »Wär nicht das Auge son­ nenhaft, die Sonne könnt es nicht erblicken«, und wäre ich nicht Pferd, Hund oder Katze - ich könnte keines der Tiere so zeich­ nen, daß noch dem stumpfesten Betrachter sich etwas vermittelt von der Wendigkeit des Pferdes, von der Wachheit des Hundes und von der Ruhe der Katze. Aber ich verliere mich in Erinne­ rungen, Antonio, und müßte mich sputen, dir vor Ablauf der Frist die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit über den Sieg des Kommandos »Werther« mitzuteilen. Verneigen wir uns also rasch noch einmal vor Goethe, diesem großen Dichter der uns Künstlern unser Künstlersein zwar neidete, jedoch nicht ver­ übelte. Ich werde dir nämlich von anderen Vertretern dieses Be­ rufsstandes berichten müssen, Antonio, von ganz anderen!« Den »Werther« beiseite schiebend, kramte der Alte in einem Sta­ pel von Katalogen, zog einen hervor und begann noch während des suchenden Blätterns weiterzureden: »Etwa zwanzig Jahre nach dem Ende des unseligen Werther setzte ein anderer Literat Möchtegernkünstlern einen weiteren verhängnisvollen Floh ins Ohr ... »Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbru­ ders« - heißt ein Büchlein, das des blutjungen Wilhelm Heinrich Wackenroders, welches die Wahnidee propagiert, große Kunst



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habe große Frömmigkeit und große Keuschheit der Künstler zur Voraussetzung und große Themen wie Religion oder die Kunst selber zum Inhalt. >Ich vergleiche den Genuß des edleren Kunst­ werks dem GebetAllegorie der Freundschaft! oder >Raffael, Fra Angelico und Michelangelo über den Wolken von Rom! in der denkbar steifsten, unsinnlichsten und ängstlichsten Weise aufs Papier zu bringen. Hier!« Der Alte deutet auf eine Abbildung: »Schau dir diese drei sonderbaren Heiligen doch einmal genauer an! Da stimmt aber auch nichts, keine Proportion, kein räumlicher Be­ zug; und da lebt ebenso wenig, kein Strich, kein Ausdruck. Alles seelenlos, macht aber nichts, Hauptsache, der Herr Zeichner ist

von seinem großen Thema beseelt, Hauptsache, die Gesinnung stimmt, Hauptsache, das Bürschchen erlebt sich als großen Künstler, wenn er seine großen Vorbilder in einer Manier dar­ stellt, die ihm jeder Einzelne der Dargestellten achtkantig um die Ohren geschlagen hätte, selbst der fromme Fra Angelico. Wenn nicht aus ästhetischen Gründen, dann aus persönlichen: Der engelhafte Bruder, weil er den Himmel nicht mit einem Hurenbock wie Raffael hätte teilen wollen; Michelangelo, weil er bereits zu Lebzeiten zu sehr unter dem Plagiator Raffael gelitten hatte, um ihn nun auch noch im Jenseits als Nachbarn auf der Wolke ertra­ gen zu können. Denn das war der so heiligmäßig verehrte Urbiner in Wirklichkeit: Ein sauberer Kollege, der sich über Bramante heimlich Zutritt zur Sixtinischen Kapelle zu verschaffen wußte, die bis dato noch so gut wie niemandem bekannte Manier des gerade in Florenz weilenden Michelangelo genau studierte, seine eigenen, gerade begonnenen Wandgemälde der Kirche San Agostino auf den neuesten Stand, den des Divino, brachte und den heroischen Stil kaltblütig als seine Erfindung ausgab - so einer war er! Raffael, das Kameradenschwein, das leider, leider bereits im Alter von siebenunddreißig Jahren das Zeitliche segnete, weil er sich zu Tode gevögelt hat. Zu Tode! Gevögelt!« Der Alte hält ein, da ihn die Augen des Knaben noch geweiteter anstarren.

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»Gebumst«, sagt er versöhnlich, »oder wie es sein Biograph Vasari

ausdrückt: >Er frönte auch vor seiner bereits festgesetzten Heirat mit einer Nichte des Kardinals Bibbiena den Freuden der Liebe und überließ sich deren Vergnügungen ohne Maß, da geschah es, daß er es eines Tages noch schlimmer als gewohnt trieb< - er kehrt mit starkem Fieber zurück, verschweigt den Ärzten seine Aus­ schweifungen, wird wegen Erkältung zur Ader gelassen und ver­ scheidet an Schwäche. Und ausgerechnet diesen Schlawiner rekla­ mierte Literatenunverstand als Musterbeispiel des großen, weil reinen Künstlers, ausgerechnet diesen Society-Liebling feiern die Lukasbrüder alias Nazarener in aller Unschuld als einen ihrer Schutzheiligen, als göttlichen Raffael: O sancta simplicitasl« Zögerndes Blättern: »Wo steckt denn der Bastard?« Dann ein erfreuter Ausruf: »Da ist ja der Bastard! Aber was für ein Zeich­ ner! Hier, diese Karyatide: Kann man hauchdünnes Gewand leichthändiger und verführerischer um einen erblühenden Mäd­ chenkörper wehen lassen? Zum Anbeißen, Antonio, zum Ver­ naschen! Die dunklen nackten Achselhöhlen, ah! Der wohlge­ rundete Busen, oh! Und derselbe Mann, der diesen Racker mit schwarzer und weißer Kreide auf weißgrundiertes Büttenpapier zaubert, greift zum unbarmherzigen, weil nicht korrigierbaren Silberstift, wenn es darum geht, sich die Figur des Philosophen Diogenes für sein Wandbild >Die Schule von Athen< zu erarbei­ ten. Zu erarbeiten, jawohl! Hier die Figur des würdigen halbnack­ ten Modells, das dabei ist, ein Schriftstück zu studieren, hier ein Detail der Schulter, hier Knie, hier Fuß, hier Faltenwurf, und alles auf einem Studienblatt: Die Arbeit eines Meisters, dem alles leicht von der Hand ging und der es sich trotzdem schwermachte. Sieh dir nur diese Füße an! Diese schwierigen Verkürzungen! Wie da einer hinschaut, das Problem begreift, die Aufgabe löst, um dann ganz gelöst eine Zeichnung hinzulegen, die im doppel­ ten Sinne Hand und Fuß hat: Wie handfest dieser Fuß ist! Und auf welch wackligen Füßen der Raffael des Ideenkünstlers Pforr steht! Unseliger Pforr! Vierundzwanzigjährig hat das Bürschchen in Rom das Zeitliche gesegnet, noch jünger als sein Einbläser Wackenroder und nur ein Jahr älter als dieser Bursche« - der Alte

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blättert triumphierend um und hämmert mit der Faust auf die Ab­ bildung einer Zeichnung, die eine Gruppe von Menschen in den unterschiedlichsten Stadien der Ausführung zeigt, vom tastend skizzenhaften Umriß bis zü porträtähnlich durchgearbeiteter Plastizität - »dieser Teufelskerl, dieser Fohr. Wie der die Massen gliedert I Wie er die Personen individuiert und zueinander in Be­ ziehung setztl Das sind keine toten Meister auf einer Wolke, son­ dern Fohrs deutsche Künstlerkollegen im Caff£ Greco, quick­ lebendige Zeitgenossen, Rivalen, Kneipenhocker und Literaten. Welch herrliches Blatt! Beweist es doch, daß sie zu allen Zeiten und an allen Orten immer wieder nachwachsen, die wirklichen Zeichner. Auch im Rom des Jahres 1818, wo in deutschen Künst­ lerkreisen Pforrs Lukasbrüder im Geiste den Ton angaben, die Cornelius, Overbeck, Veit, Schnorr von Carolsfeld und die übri­ gen Nazarener, die ihren Mangel an Talent durch jenen ideologi­ schen Fanatismus wettmachten, dank dessen sie, nach und nach in die Heimat zurückgekehrt, so gut wie alle strategisch wichtigen Kunstschlüsselpositionen besetzten, in Kunstakademien, Museen und sonstigen Gremien, denn wenn sie sich auf etwas verstehen, diese Ideenkünstler, dann ist es damals wie heute das Reden. Und wenn der arme Fohr etwas konnte, dann war es das Zeichnen. Und wenn diese Zeichnung vor uns nicht ausgeführt ist, nur in Details von seinem Riesentalent kündet, dann deswegen, weil der Bursche zwischendurch unbedingt mal im Tiber schwimmen mußte und weil der Fluß stärker war als der Zeichner. Wie viele Möglichkeiten mit ihm ertrunken sind! Wie viele Hoffnungen mit ihm zu Grabe getragen werden mußten, und das just zu jenem Zeitpunkt, als jeder wackere Künstler gebraucht wurde, um die bildende Kunst vor den Gutredenden und Schlechtmalenden zu schützen! Die sollten während der nächsten Jahrzehnte den Ton angeben: 1814 beispielsweise war Wilhelm Kobell, der Maler wunderbar durchlichteter Voralpenlandschaften, zum Professor der Landschaftsklasse an der Münchener Akademie berufen wor­ den - 1824 wird diese Klasse auf Betreiben des Nazareners Cor­ nelius aufgelöst: zu profan. Doch regt sich gottlob allüberall Widerstand gegen die bigotten Verdikte katholischer Propagan-

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dakünstler. In Berlin malt nicht nur der geniale Carl Blechen, da

bestechen Eduard Gaertner, Franz Krüger und Johann Erdmann Hummel durch realistische Sujets und meisterhafte Ausführung. Von der Bastion der Düsseldorfer Akademie aus wird zum Ge­ genangriff geblasen: Statt großer, wandfüllender Formate ma­ len die Brüder Oswald und Andreas Achenbach, beide Land­ schafter, bescheidene Staffeleibilder; statt großer Ideen und The­ men stellt Johann Peter Hasenclever aus dem Leben gegriffene Genrebilder aus; statt hochtrabender Absichtserklärungen zählen wieder Inspiration und Könnerschaft. Während die abgetanen Nazarener eine Position nach der anderen räumen müssen, bricht in Deutschland wie in ganz Europa, sogar im fernen Rußland und in den noch ferneren Vereinigten Staaten ein letztes goldenes Zeitalter der Malerei und Zeichnerei an: Noch einmal sprechen

die Bilder für sich. Deshalb sind sie zu Beginn unseres Jahrhunderts niederge­ schrienworden, deshalb wurde ihnen »sklavische Naturtreue< vor­ gehalten und »kleinlicher Realismusplatter Naturalismus< - doch ich greife vor. Das Geschrei hält ja noch an, hör nur, Antonio, wie es laufend näher kommt, während meine Zeit abläuft, dir begreiflich zu machen, wieso die Schreier siegen und die Bilder zum Schweigen bringen konnten. Hör mir also zu, Antonio, hör mir gut zu!« Brüsk klappte der Alte den Katalog zu, rückte seinen Stuhl nä­ her an den des Knaben, tat einen nicht enden wollenden Schluck aus der Korbflasche und begann: »>Ein feste Burg ist unser Gott< hat Luther einst gerühmt, aber auch vor dem Widersacher hat er gewarnt: »Groß Macht und viel List sein grausam Rüstung istHerzensergießungen< war Wackenroder einen ersten Schritt in Richtung serviler Kunstbetrachtung und herrischer Kunsterhöhung gegangen. Sein Rat für den Umgang mit Kunstwerken hatte gelautet: >Ihre Zaubergestalten sind stumm und verschlossen, wenn ihr sie kalt anseht; euer Herz muß

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sie zuerst mächtiglich anreden, sollen sie zu euch sprechen und ihre ganze Gewalt an euch versuchen könnens Arthur Schopenhauer geht einen Schritt weiter und vollzieht die Erhebung der Zaubergestalten in den Adelsstand: >Vor ein Bild hat jeder sich hinzustellen wie vor einen Fürsten, abwartend, ob und was es zu ihm sprechen werde; und wie jenen auch dieses nicht selbst anzureden: denn da würde er nur sich selbst ver­ nehmens Sätze, die den Künstlern wie Balsam vorgekommen sein müs­ sen! Hatten sie doch oft genug erlebt, wie das Publikum arglos plappernd, zerstreut oder vergnügungssüchtig vor ihren Bildern und Blättern gestanden hatte, unfähig, etwas anderes wahrzuneh­ men als Inhalte, unwillig, sich neben dem jedermann zugäng­ lichen Was auch noch mit dem Kennern und Künstlern so teuren Wie zu beschäftigen. Und in all dies Geplapper ruft da einer sein: Silentium! Einer, der über jeden Zweifel erhaben ist, pro domo zu sprechen. Kein Künstler, ein Denker, einer der größten zumal, er­ klärt die Kunstwerke durch die Bank zu Hoheiten, ihre Schöpfer mithin zu Fürstenvätern. Mußten die Künstler dem Philosophen nicht dankbar zustimmen: Da stärkt uns einer aber den Rücken!? Ist es nicht so, Antonio?« Verwirrt nickte der Knabe, barsch fuhr ihn der Alte an: »Da fallt uns einer aber in den Rücken! hätten sie aufschreien müssen, Antonio! Da kündigt einer mit einem Satz all das auf, was unsere Kunst über all die Jahrhunderte groß gemacht und zu immer strahlenderen Höhen geführt hat: unausgesetzte Kritik und un­ erbittliche Korrektur. Bilder sind Menschenwerk, und wenn ich sagte: >Im 19. Jahrhundert sprachen die Bilder noch einmal für sichi, dann meinte ich: im Guten wie im Schlechten. Dann meint das: Jedes Bild und jedes Blatt offenbarte dem, der zu sehen ver­ stand oder mit den Augen zu hören vermochte, noch einmal, ein letztes Mal, das Gesetz, nach dem es angetreten, und setzte sich dadurch der Chance — der Gefahr - aus, an diesem Gesetz ge­ messen, für gut befunden oder verworfen zu werden. Das Bild spricht für sich: Es ist so frei, sich ohne Dolmetsch und ohne Vermittler zu äußern. Das bedeutet aber auch, daß ich,

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der Betrachter, die Freiheit genieße, Bild wie Maler ins Wort zu fallen: Du kannst mir viel von Goethens Größe und Aufenthalt in der römischen Campagna erzählen, mein lieber Maler Tischbein, und du berichtest auch gar nicht schlecht - doch daß der Dichter zwei linke Füße besessen haben soll, das kannst du mir nicht weismachen, das nicht! Warten, bis das Bild redet? Als ob nicht jedes Bild von jenem

Moment an redete, an welchem ich es erblicke! Nur daß der arme Schopenhauer nicht die Augen gehabt zu haben scheint, das Stim­

mengewirr zu vernehmen, mit welchem es sich Gehör verschafft, zunächst ganz materiell: Schau mal, wie groß ich bin! sagt das

Bild als erstes. Daraus kannst du schon mal ersehen, für wie groß mein Maler sich gehalten und welch großartiges Sujet er behan­ delt hat. Und das ist erst der Anfang! Schon redet alles durchein­ ander: Schau mal, wie dünn ich aufgetragen worden bin, ruft das Braun der Bodenpartie des Goethe-Bildes. Schau mal, wie sorg­ fältig ich verrieben worden bin, hält das helle Ocker des Mantels dagegen. Schau mal, wie ich zwischen grauer Grundierung und leicht deckendem Blau changiere, trumpft der Himmel auf und fügt versöhnlich hinzu: Entscheide du, ob mein Maler mich un­ fertig gelassen hat oder ob es ihm wichtig war, der skizzenhaften Manier, mit der er den Boden behandelt hat, ein luftiges Pendant hinzuzugesellen, auf daß der in allen Einzelheiten durchgemalte Dichter um so dichter und wichtiger wirke -: und das sind nur vier von ungezählten Stimmen eines jeden vielschichtigen Bildes, die, wenn alles gutgeht, sich zu jenem jubelnd harmonischen Chor zusammenfinden, der uns unmißverständlich mitteilt: Seht nur! Ein Meisterwerk! Hören wir einen solchen Chor aus Tischbeins Goethe-Porträt? Wir sehen einiges Schöne und manches Gelungene — ohne Frage. Der Bildeinfall ist schlagend, die Person gut getroffen, die Farbe fein abgestuft - und doch und doch...« Der Alte beugte sich wie schnüffelnd über die Abbildung, dann fuhr er herrisch hoch: »Zu ängstlich das Blattwerk hingesetzt, zu formelhaft die Landschaft, zu leblos die rechte Hand, und zu allem Überfluß auch noch zwei linke Füße! Schau nur, Antonio!«

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. Mit seiner ausgespreizten Hand deckte der Alte das vor ihm lie­ gende Bild so weit ab, daß nur noch Goethes aus dem Umhang ragender rechter schwarzbeschuhter Fuß zu sehen war: »Ent­ scheide selbst — hat unser wackerer Tafelmaler unserem genialen Dichterfürsten nicht zwei gottverdammte linke Füße angehext? Der freilich scheint mehr auf das Gesicht geschaut zu haben, und was er da sah, gefiel nicht nur ihm: >Mein Porträt wird glücklich, es gleicht sehr und der Gedanke gefällt jedermann.. .< Einer, der zu sehen weiß, dieser Goethe! Sauber unterscheidet er da, wo Schopenhauer pauschal aufwertet. Vor einem Porträt nämlich muß niemand in langer Audienz darauf warten, daß es spricht es ist entweder sprechend ähnlich oder es ist es nicht, und ob es ersteres ist, darüber entscheidet nicht der Künstler und schon gar nicht das Kunstwerk, das vermag jeder zu erkennen, der zu ver­ gleichen vermag, auch der Dargestellte. Während seines zweiten römischen Aufenthalts wird Goethe erneut gemalt, diesmal von Angelica Kauffmann. Auch zu diesem Porträt hat sich Goethe geäußert: >Angelica malt mich auch, dar­ aus wird aber nichts. Es verdrießt sie sehr, daß es nicht gleichen und werden will. Es ist immer ein hübscher Bursche, aber keine Spur von mir.< Was für Zeiten, Antonio, als Bildern noch Überprüfbarkeit ab­ verlangt werden konnte! Schwere Zeiten für die Künstler, gute Zeiten für die Kunst! Auch Herder stand 1789 vor Angelicas Goethe-Porträt, auch er äußerte sich brieflich zum Problem der Malerin: >Goethes Bild hat sie sehr zart ergriffen, zarter als er ist, daher die ganze Welt über Unähnlichkeit schreiet< — doch nicht der ganzen bösen Welt gibt Herder die Schuld an dem Geschrei,

die weist er, wie schon Goethe, eindeutig der Künstlerin zu: >Die zarte Seele hat ihn sich so gedacht, wie sie ihn gemalt hat.< Und

Herder hätte auch noch weitergehen können: Die zarte Seele hat ihn so gemalt, wie sie selber gemacht war. Warte...« Der Alte suchte ein wenig, dann hielt er dem Knaben zwei Porträts vor Augen, das einer jungen Frau und das eines jungen Mannes: »Hier! Links ein Selbstporträt der Malerin, rechts das Bildnis Goethes — sind sie einander nicht wie aus dem Gesicht geschnit-

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ten? Muß man sie nicht für Schwester und Bruder halten? O ja: Fraglos schlimme Zeiten für Künstler, als jeder Auftraggeber vor sein Porträt treten und an der angeblich zu langen Nase herum­ mäkeln konnte, noch schlimmere Zeiten für die Kunst aber, wenn ein des Zeichnens gänzlich unkundiger Abstrakter wie Georg Meistermann sich unterstehen darf, den damaligen Bundeskanz­ ler Willy Brandt zu malen, als vages Farbgespenst, das weder den leisesten Gedanken noch die dürftigste Spur von Ähnlichkeit auf­ weist Ich erinnere mich nicht, daß Widerspruch gegen dieses Porträt laut geworden wäre, weder beim Auftraggeber — war es der Bund? war es die Partei? — noch in der veröffentlichten

Meinung. Rund 130 Jahre nachdem er ihn gedacht hatte, war Schopenhauers Gedanke Allgemeingut geworden: Schweigend wartete die Welt der Politik und Publizistik vor Meistermanns Mumpitz und wartete darauf angesprochen zu werden, ohne daß bis heute mehr zu vernehmen gewesen wäre als ein höhnisches >Signor Visconti - Sie hatten leider das Pech, zur falschen Zeit gemalt zu haben!< Nicht auszudenken, was dieser saubere Herr mit seiner volublen Zung im Mund und mit Schopenhauers Adelstitel im Rükken dem Fürstbischof von Greiffenclau angesichts seiner mißra­ tenen Wandbilder erzählt und wie er den vorlauten Auftraggeber zum Schweigen vergattert hätte: Müsse Exzellenz Schnauze halte und erstemal meine Wandbild rede lasse!« Glückliche Zeiten für die Kunst, als es der Dilettant Visconti noch nicht vermochte, dem Meister Tiepolo den Weg zur Wand zu versperren, unwiederbringliche Zeiten, als noch kein Literat auf die Idee verfallen war, unter dem Vorwand, die Kunst zu er­ heben, sich selber eine Sinekure im Reich der Kunst zu verschaf­ fen! Haben sich die Künstler irgendwann in die Probleme der Literaten mit ihrem Metier eingemischt? Haben sie sich ihnen je­ mals mit Ratschlägen angedient? Sie haben ihre Porträts gemalt, sie haben ihre Bücher illustriert und deren Stoffe als Bildideen ge­ nutzt, sie haben ihnen malend gezeigt, wo es langgeht - ut pictura poesis -: und das war’s auch schon. Kein Maler hat je einem Lite­ raten in sein Gewerbe reingemalt - wieso haben die Literaten den

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.Malern dauernd in ihr Handwerk reingeredet? Weil die Feder­

fuchser erstens von Natur aus darauf angewiesen sind, Worte zu machen, und weil sie zweitens davon leben, Worte zu Geld zu ma­

chen. Also suchen sie ständig nach Gelegenheiten mitzureden, also stoßen sie zwangsläufig auf die stummste aller Künste. Daß die zugleich die beredteste ist, vernehmen sie nicht, da sie nicht mit den Augen hören können. Alles, was sie wollen, ist, ihre voluble Zung in Einsatz zu bringen - ganz gleich, ob sie Kunstideen referieren oder Künstleranekdoten erzählen -, und das schaffen sie, indem sie das unüberhörbare Stummsein der Bilder in ein Schweigen umdeuten und verfälschen, das den Bildbetrachter dazu vergattert, seinerseits schweigend so lange vor dem Bild­ werk auszuharren, bis es geruht, huldvoll das Wort an den Ehr­ fürchtigen zu richten. Woran erinnert dich das, Antonio? Woher kennt auch der eine solche Audienzsituation, der nie einen Thron­ saal betrat? Richtig — aus der Kirchei Sprachlos wartet das Ge­ schöpf vor dem Schöpfer, begierig, der möge endlich sein Antlitz

enthüllen und seine Pläne offenbaren, doch der deus absconditus verharrt in einem Schweigen, das mit der Zeit derart unerträglich lastet, daß noch das leiseste Räuspern eines Dritten als wohltu­ ende Entlastung empfunden wird —: >Ja? was wollten Sie sagen?< >Ach, eigentlich nichtsnur das vielleicht, daß ich Mittel und Wege kenne, den Gott zum Sprechen zu brin­ gen. Oder doch zumindest sein Schweigen auszulegen.. .< >Ach ja? Was meint er denn? Verraten Sie es mir, es soll Ihr Schade nicht sein,-bester Herr... Herr.. .< iNennen Sie mich ruhig Monsignore. Oder Priester. Oder Pfar­ rer. Oder Publizist. Oder Ausstellungsmacher.. .< - denn darauf lief sie ja hinaus, die Fürstung der Bilder: Auf fürstlich bezahlte Kunstvermittler, die es verstanden haben, die Bilder selber nach und nach aus dem Verkehr zu ziehen, da die denn doch zu beredt waren. Wie anders all das, was die riesigen Flächen der KunstEvent-Hallen unserer Tage füllt beziehungsweise leert, all die Performance-Relikte, Rauminstallationen, Alltagsgegenstände, Land-art-Objekte, Kunstkonzepte und EnvironmentsI Je weniger es zu sehen gibt, desto mehr läßt sich darüber reden, und je deut­

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licher sich der Deuter Gehör verschafft, desto bedeutender sein Status: Kein Wunder, daß sich die in Kassel beheimatete, etwa alle fünf Jahre stattfindende Documenta längst nicht mehr mit den jeweils herausragenden Künstlernamen oder auch nur den zur fraglichen Zeit angesagten Kunstrichtungen schmückt, sondern nach ihren Organisatoren benannt wird und als Szeemann-, Hoetoder David-Documenta in die Annalen eingeht. Wie in Kassel, so überall. Als Harald Szeemann von einer italienischen Zeitung ge­ fragt wurde, was denn seine Auswahl der Ausstellungsstücke zur 1999er-Biennale in Venedig verbinde und Zusammenhalte, nannte er weder Künstler, noch Werke, noch Stile, noch Ideen, noch The­ men, noch Techniken, noch Mitteilungsformen, er sagte: >11 filo rosso sono io.< Er ist der rote Faden, die Künstler aber sind graue Mäuse, welche lediglich in dem Maße zählen, wie sie der Mittler für seine Zwecke brauchen kann -: Dahin ist es mit den durch die Bank gefürsteten Kunstwerken gekommen, so weit mußte es mit

den Künstlern kommen, die arglos in die Literatenfalle getappt sind: Als alle Werke unabhängig von ihrer Qualität zu Hoheiten erklärt wurden, verschwanden naturgemäß mit einem Schlage all jene Standesunterschiede, die bis dahin den bemühten Maestro B vom begnadeten Maestro A geschieden hatten. Zugleich aber vollzog sich das Gesetz aller Revolutionen: Alle sind gleich, nur einige sind noch gleicher als die anderen. Und das sind leider nie­ mals die Fähigsten, Antonio, sondern, anfangs, die Beredtesten, die Dantons und Lenins, sodann jene, welche die Beredten bei­ seite drängen, um ihrerseits das Feld zu beherrschen, die Bornier­ testen, die Robespierres und die Stalins. Doch ich greife vor, An­ tonio, ich überfordere dich! Von einer weiteren Umwälzung muß ich noch berichten, dann erst werden dir die Augen aufgehen, dann erst wird das ganze schändliche Zusammenspiel von Literat und Dilettant -fast hätte ich mich versprochen und >Dilerat und Littetant< gesagt. Dilerat und Littetant! Warum denn nicht?« Auflachend sprang der Alte in die Höhe, griff zur Korbflasche

und schwang sie wie grüßend durch die Luft: »Ein dreifach Hoch euch siegreichen Dileraten und Litettanten! Litettanten und Dileraten aller Länder vereinigt euch! Wer herrscht heut über Stadt

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und Land? Erraten! Unser Littetant. Wem huldigen heut Land und Stadt? Natürlich! Unserm -« Doch hier ließen ein fernes Ber­ sten und das jähe Erlöschen der vierten Kerze den Maßlosen innehalten. »Sie haben das Stahltor gesprengt, Antonio, bald, nur zu bald werden sie hier eindringen, und mit mir wird - aber nein, Anto­ nio! Da bist ja auch noch du, Antonio, du mein Kerzlein, du mein Hämmchen, du mein Fackelchen, ausersehen, das Licht der Wahr­ heit weiterzutragen durch die Zeit der Finsternis, die sich nun so verheerend über die Künste legen wird, wie in jener dunklen Epo­

che, da Barbaren aus dem Norden die griechischen Bronzen zu Schwertern schmolzen und den Marmor der römischen Tempel zu Kalk brannten, also hör zu, Antonio, hör gut zu! Rasch noch ein Wort zu Schopenhauers Dictum und den Fol­ gen, und dann weiter, Antonio, weiter! 1844 erstmals in >Die Welt als Wille und Vorstellung! veröffentlicht, hat der Satz seinen Weg durch viele Hirne und viele Schriften gemacht: Er findet sich beim, wenn man so will, rechten Kunsthistoriker Hans Sedlmayr und, in leicht abgewandelter Form, beim, sagen wir mal, links­ denkenden Kunstsoziologen Arnold Hauser: >Kunstwerke sind Herausforderungen... Kunstwerke sind unnahbare Höhenc Der Satz ist naturgemäß von den Apologeten jedweder Art von Avant­ garde-Kunst ins Feld geführt worden, aber auch von der >NSFrauenwarteDanae< begutachtet hatte: Tizians Kolorit und Ma­ nier gefalle ihm sehr wohl, es sei nur schade, daß man in Venedig nicht von Anfang an gut zeichnen lerne. Nicht auszudenken, was Michelangelo und sein Biograph zu dem flusigen Tintoretto, dem fließenden Guercino oder dem fetzigen Magnasco und deren Leinwänden gesagt hätten, ganz zu schweigen von dem, was sich im Norden Europas und auf der iberischen Halbinsel ereignen sollte. Dort traten im 17. Jahrhundert fabelhafte Maler die Menge auf, aber auch einige Trittbrettfahrer, in der Wolle gewaschene Dilettanten, welche beispielsweise durch die Flottheit des Vortra­ ges und prima vista eindrucksvolle Gewandung zu kaschieren suchten, daß sie keine allzu klare Vorstellung von dem darunter befindlichen Körper hatten, Pinselschwinger, die durch betörend silbergrauen Fond auf gut genutztem Bolusgrund hofften verges­ sen zu machen, daß ihnen die Körperlichkeit der Figur und deren Verhältnis zum sie umgebenden Raum so ziemlich Hekuba wa­ ren. Schau dir nur jemanden wie Hals an -« Der Alte glaubte ein Erschrecken in den Augen des Knaben zu erkennen, besann sich kurz und lachte dann laut auf: »Dirk, nicht Frans! Dirk Hals, Kleinmeister und Genremaler, nicht zu verwechseln mit dem gro­ ßen Frans, diesem malerischsten Maler seiner Zeit, dem einzig

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Velâzquez das Wasser reichen konnte, und mehr als das. Beide seither höchstens von Manet erreichte Malermaler, die dennoch vorzügliche Zeichner gewesen sein müssen - ich muß mich so vorsichtig ausdrücken, da sich leider keine Handzeichnungen die­ ser begnadeten Hände erhalten haben, aus welchen Gründen im­ mer. Macht aber nichts, Antonio, macht gar nichts. Ihre gemalten Hände sprechen ja für sich, die kindlichen Hände der Velasquezschen >MeninasRegentinnen< - all diese Hände sprechen Bände, Antonio, höre auf sie, vernimm ihre Botschaft, welche in handfester Form lautet - aber was rede ich da? Wovon hatte ich eigentlich berichten wollen?« Der Alte blickte erst auf die Korbflasche, dann in sie, worauf er, als habe er ihrem dunklen Bauch die Antwort entnehmen kön­ nen, die Flasche an den Mund setzte und nach einem ordentlichen Schluck fortfuhr: »Maler der saftigen Art hat es immer und in den verschiedensten Rängen gegeben, Genies wie die genannten, Großmeister wie Rubens, Renommisten wie Jordaens, Skizzisten wie Goyen, Ekstatiker wie El Greco, ohne daß doch einem von ihnen der Gedanke gekommen wäre, man müsse der freizügigen Malweise zuliebe nun auch die Farbe befreien. Das blieb dem freiheitstrunkenen 19. Jahrhundert vorbehalten. Darauf konnte nur kommen, wer sich als Erbe der französischen Revolution und ihrer Parole >Liberté, égalité, fraternité< begriff. Leibeigene wur­ den befreit, Sklaven wurden befreit, Frauen wurden befreit - und an all diese Freiheits- und Emanzipationsbewegungen hängten sich jene an, die für die Befreiung der Farbe stritten. Wobei die er­ strebte Freiheit zwar unterschiedlich definiert werden konnte, - Freiheit vom Naturvorbild, Freiheit vom Gegenstand über­ haupt — letzten Endes aber stets darauf hinauslief, die Farbe von jenem Fronherrn zu befreien, der sie angeblich jahrhundertelang geknechtet hatte: von der Kontur, von der Linie, von der Zeich­ nung also. >Nulla dies sine linea< — kein Tag ohne Zeichnen: Dieser Vor­ satz hatte einst die Kunstjünger zu harter Arbeit vor Meisterwer­ ken der Vergangenheit und gegenwärtiger Natur beflügelt, jetzt aber wurde ihnen eingeredet, daß sie mit jeder Linie dazu beitrü­

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gen, die Farbe zu fesseln, und das im Jahrhundert des Freiheits­ rausches — ja, da mußte man doch ganz einfach der Unterdrück­ ten zur Hilfe eilen und ihr mit breitestem Pinsel auf größter Leinwand eine sichere Heimat und eine Zukunft in Freiheit an­ bieten —: Es war vermutlich kein Zufall, daß diese Freiheitsbewe­ gung im land of the brave and the free kulminieren sollte, im Action Painting eines Jackson Pollock und in den Monsterforma­ ten eines Barnett Newman... Doch zuvor schon hatten sich viele Hände zur Befreiung der Farbe vom Gegenstand geregt, hatten viele Hirne diesen revolu­ tionären Akt begründet, sei es physikalisch, wie die Kombattan­ ten der Impressionisten, sei es mystisch, wie Franz Marc — >Man hängt nicht mehr am Naturbilde, sondern vernichtet es, um die mächtigen Gesetze, die hinter dem schönen Scheine walten, zu zeigen< —, sei es theologisch, wie Mondrian — >Die Domäne der Wahrheit ist die reine Abstraktion -, kein Hirn aber stellte sich oder gar der Farbe die naheliegende Frage: Ob sie denn über­ haupt befreit werden wolle? Hatte sie denn jemals kostbarer ge­ funkelt als in den vielschichtigen Wunderwerken der Brüder van Eyck? Jemals leuchtender gestrahlt als in den Lichtpunkten Jan Vermeers? Sich jemals glanzvoller präsentieren können als auf den Leinwänden des Diego Veläzquez? Jahrhundertelang hatten die Maler unablässig versucht, der Farbe nur jede erdenkliche Ehre zu erweisen: Welche Bedächtig­ keit beim Bedenken des Bildträgers, bei seiner Beschaffung, Zu­ bereitung und Grundierung! Welche Mühen bei der Pinselher­ stellung! Welcher Einfallsreichtum bei der Pigmentgewinnung! Welche Geduld bei der Erprobung der Bindemittel! Welche Sorg­ falt bei der Wahl der Malmittel und Firnisse! Maler — das waren einst Männer, welche die Dame Farbe selbstlos umwarben und kundigst umschmeichelten. Rembrandt, der allzu Neugierige mit den Worten zurückwies: >An meinen Farben sollt ihr nicht schnüf­ feln, sie sind giftigDame in Blaudas Mittel, durch welches das Universale erkennbar, das heißt in der Ge­ staltung anschaulich wird!, verkündete er und: >Mit etwas gutem Willen wird es nicht unmöglich sein, ein irdisches Paradies zu schaffen< - ein messianisches Projekt also, das er wie alle rech­ ten Religionsstifter und wackeren Kunstpäpste mittels Bannfluch und Säuberungsaktion vorantrieb: Sämtliche Mischfarben, selbst das uns von der Natur her so vertraute Grün, wurden von der Pa­ lette seines >Neo-Plastizismus< benannten Mal- und Weltverbesse­ rungsprogramms verbannt — hier schlug Befreiung der Farbe gut dialektisch in Befreiung von der Farbe um -, und alle Linien wurden verworfen, die sich nicht dem Schema Senkrecht-Waage­ recht! unterwarfen: Als Theo van Doesburg, wie Mondrian Mit­ glied der >De Stijl-Gruppe!, die Diagonale als Element der Bewe­ gung zur Diskussion stellt, gibt Mondrian ihm schriftlich, daß ihm mach deiner willkürlichen Korrektur des Neo-Plastizismus! jede weitere Form der Zusammenarbeit unmöglich sei. Die Er­ gebnisse solcher Reduktion sind bekannt: Bilder, auf denen schwarze Balken die drei verbliebenen Grundfarben Rot, Gelb und Blau umgittern, manchmal ist sogar nur eine pro Bild zuge­ lassen - wir stehen vor dem idealtypischen Ende einer jeden Säu­ berungsaktion, dem Farb-Gulag. Aber bleiben wir gerecht, Antonip: Nicht so sehr um die Freiheit der Farbe, vielmehr um das Heil des Menschen war es Mondrian gegangen, und einigen Men­ schen ist er denn auch ein veritabler Heilsbringer geworden, wenn auch nicht unbedingt in spiritueller Hinsicht. Was immer nämlich der Maler Mondrian gewollt hat, eines hat er malend auf uner­ hörte Weise erreicht: Seine Bilder sind überall und immer, ganz gleich auf wie kleinem Format oder aus wie großer Entfernung zu erkennen. Dank seines unerbittlichen Säuberungswahns hat er das ultimative Logo geschaffen, ein Markenzeichen, das seither das unerreichte Vorbild ist für Generationen von Designern, Art-

Direktoren, Buchgestaltern, Innenarchitekten sowie sonstwie vi­ suell Kommunizierenden. Was jede Firma von heute ersehnt und wofür sie sehr viel Geld zu zahlen bereit ist, den unverwechselba­

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ren optischen Auftritt, die auf den ersten Blick erkennbare corporate identity - Mondrian hat aller Geschäftswelt vorgemacht, wie es geht. Er hat die kostbare Trüffel des denkbar lapidarsten, dabei äußerst wandlungsfähigen Signets gewittert und ausgegraben, und seither ist sein Fund über unendlich viele Produkte und Fir­ meninteressen geraspelt worden, über Courreges-Klamotten und L’Oreal-Kosmetik, Wohnhochhäuser und Schrankwände, Bro­

schüren und Plakate, ja, in West Hollywood stellt das Hotel >Mondrian< dessen schier unbegrenzte Verwertbarkeit dadurch unter Beweis, daß die Geschäftsleitung alles nach des Meisters Vorbild durchgemustert hat, von der Fassade bis zu den Krawatten des Personals, den Waagen in den Naßzellen und den Streichholz­ briefchen für den Gast. Welch hohe Ziele immer den Künstler Mondrian zu seiner fanatischen Recherche bewogen haben mögen, gefunden hat er kein Heil, sondern einen Reiz, und den haben ihm interessierte Kreise ebenso rasch und vollständig entwunden, wie es dem Trüffelschwein geschähe, wollte es seinen Fund für sich behalten, ihn gar selbst verzehren: Nichts da, Freundchen!

Spätestens seit Beginn dieses Jahrhunderts war es das Schicksal gerade der am radikalsten Neuland durchwühlenden Künstler, daß Unterhaltungsgewerbe, Werbung, Konsumgüterindustrie und sonstige Sparten der Bedarfsbefriedigung ihnen die Trüffel gerade dann besonders begeistert entrissen, wenn das jeweilige Trüffelschwein auf einen besonders ungenießbaren Fund gesto­ ßen zu sein glaubte: Diese Trüffel werden sie aber nie merkantilisieren können, die Spießer! Und ob sie das konnten! Expressionismus und Kubismus wur­ den zur Art deco verwurstet und prägten das Design der 20er Jahre bis in die Ausstattung von Fritz-Lang-Melodramen und Ernst-Lubitsch-Komödien. Was ein Kandinsky Anfang des Jahr­ hunderts hochfahrend dem iGeistigen in der Kunst< zugerechnet hatte, seine so schrecklich unsinnlichen wie letztlich geistlosen abstrakten Kürzel und Gesten, war immerhin so reizvoll — so voller Reize -, daß es Eingang in die Kleinbürgerwohnungen der 50er Jahre fand, in Gestalt von Tapetenmustern und Möbeldecor.

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Selbst die unerhörten, scheinbar jeglichen Biedersinn auf immer und ewig zutiefst verstörenden chocs der Surrealisten belebten dank Dali bereits in den 30er Jahren die Schaufenster und den Umsatz New Yorker Kaufhäuser und haben seither nicht aufge­

hört, ihre vollständige Verwendbarkeit und Verwertbarkeit unter Beweis zu stellen: Max Ernsts Collagen als Fundgrube für Gra­ phiker, Dails Bilderfindungen als Musterbuch für Ausstatter und >Le chien andalou« des Gespanns Dalí/Buñuel als Mutter aller Videoclips. Je doller - je oller, was zwangsläufig ein ungutes choc as choc can zur Folge hat, da jeder choc seiner Natur gemäß sich ver­ braucht und durch einen stärkeren Reiz übertrumpft werden muß. Den ausfindig zu machen, braucht es keinen Künstler. Ein blin­ des Huhn findet auch mal einen Reiz, und eine lebenslängliche Dilettantin wie Meret Oppenheim fand auch einmal einen veritablen choc, die pelzummantelte Kaffeetasse samt pelzbesetztem Löffel. Freilich hatte bei diesem eine Weile in der Tat schockie­ renden Fund ein veritabler Künstler Pate gestanden, und Meret Oppenheim selber hat das in aller Offenheit öffentlich gemacht:

Wie sie einmal in einem Pariser Café gesessen sei und wie Picasso sich zu ihr gesetzt habe. Wie er auf ihr Armband aufmerksam ge­ worden sei, das sie, einem Einfall folgend, mit Pelz besetzt habe. Wie Picasso diesen Einfall lobend aufgegriffen und gemeint habe, dann könne man ja alles mit Pelz besetzen, beispielsweise die Kaf­ feetasse oder hier: diesen Löffel! Heimgekehrt, realisierte Meret Oppenheim diese Anregung und errang neben dem großen Bei­ fall der Surrealisten auch einen kleinen Platz in der Geschichte der Objektkunst, einer mittlerweile endlosen Geschichte, zu end­ los, sie hier und jetzt zu erzählen, nur soviel: In dem Maße, in welchem die Objektverfremdungen nicht mehr schockierten, fiel diese Aufgabe den Objekten selber zu sowie dem Originalzusam­ menhang, aus welchem sie der Objektkünstler gelöst hatte, um sie in Kunst zu überführen: So nutzte Beuys in seinem Kunstraum >Zeige deine Wunde« original ausrangierte Bahren, die in Kran­ kenhäusern für Leichentransporte gedient hatten, so übermalte Arnulf Rainer, als nichts mehr verfing, Originalfotos aus Ausch­

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witz, so konfrontierte Boltanski mit einer Installation, von wel­ cher den Betrachter die von zagen Lichtlein erhellten Fotos jüdi­ scher Kinder anschauten, Originaldokumente einer Schreckens­ zeit, welche kein Fühlender mit jener Freiheit der Urteilskraft und jenem interesselosen Wohlgefallen wahrzunehmen in der Lage ist, mit denen er Historienbilder wie >Die kleinen Söhne Edwards warten im Tower auf ihre Morden oder >Der junge Konradin er­ fahrt sein Todesurteih zu heißen Schinken oder zu kaltem Kaffee hatte erklären können. Fotografiert ist nun mal nicht gemalt, das Foto eines Todeskandidaten ergreift anders als das nach seinem Tode gemalte Porträt, das Foto einer Exekution erzwingt eine andere Komplizen- und Zeugenschaft des Betrachters als das nachträglich angefertigte Gemälde. Ein Bild sagt mehr als tau­ send Worte, heißt es, und ein Vergleich zweier Bilder würde wei­ tere Worte unnötig machen, der zwischen dem kleinen Foto der Erschießung des armen Maximilian, den ein intriganter Napo­ leon III. dazu verführt hatte, den Pinsel beiseite zu legen — er war nämlich ein hochbegabter Dilettant - und in Mexiko den Kaiser zu spielen, und dem großformatigen Bild, das Manet im selben Jahr von dieser Exekution gemalt hat - welch vollkommen ver­ schiedene Aggregatzustände der Wirklichkeit, der Wahrheit, der Wahrnehmung, der Mitteilung und der Vermittlung all dessen! Welch von Fall zu Fall vollständig unterschiedliches Beteiligtsein der Bildermacher einerseits und der Anteilnahme der Betrachter andererseits! Welch naheliegende Versuchung aber auch, selbst diese Grenze zu überschreiten und aus der schillernden Blüte des zweifellos dokumentierten Bildes den mehr als zweifelhaften Ho­ nig des Authentizitätsreizes zu saugen: Wenn Bill Viola in einem Video-Triptychon den von ihm selbst bestückten Mittelteil von den Videoaufzeichnungen seiner eigenen gebärenden Frau und seiner eigenen sterbenden Mutter flankieren läßt, dann kündigt er jenen Kontrakt auf, der Jahrhunderte lang zwischen Bildmacher und Bildbetrachter gegolten hatte: Was ich euch zeige, ist wahr, aber nicht wirklich; was ihr seht, ist gestalteter Schein, nicht er­ littenes Sein. Eines zumindest haben die Betrachter solcher Installationen



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nicht zu befürchten: Daß die Kunstwerke der Viola, Naumann und anderer Videokünstler stumm bleiben könnten. Sie schreien, seufzen, stöhnen und lärmen ja in einem fort, und wer während des Reizbombardements von flackernden Bildwänden und auf­ dringlichen Tonspuren noch Herr seiner Sinne bleibt, der mag sich verzweifelt fragen, was um Himmels willen all diese Video­ künstler in einer bildenden Kunst verloren haben, deren unique selling point und ganzer Stolz es doch seit jeher gewesen ist, daß die Bilder erstens Ruhe bewahrten, daß die Bilder zweitens Still­ ständen und daß es dem Betrachter drittens freistand, wieviel Zeit er dem Bild einzuräumen gewillt war. Welch unerhörte Frei­ heit gegenüber dem, welcher sich in Theater, Opernhaus, Kon­ zertsaal oder Kino der vom Künstler vorgegebenen Verweildauer ebenso zu fügen hat, wie er stets gewärtig sein muß, daß der Künstler oder sein Interpret die ihm zur Verfügung stehenden Sprachen des Körpers, des Tons und des Bildes zum konzentrier­ ten Generalangriff auf die partiell schutzlosen Sinne nutzt oder mißbraucht - wegsehen ist möglich, nicht aber weghören Wäre die Videokunst im Kreise der schon immer multimedial ope­ rierenden Künste Ballett, Oper, Drama oder Film nicht weitaus besser aufgehoben als in den Häusern der von Haus aus mono­ medialen Malerei, den Museen also? Wieso ist es den Video-, Per­ formance- und Happeningkünstlern gelungen, mit ihren tönen­ den Spektakeln ausgerechnet dort Unterschlupf zu finden, wo der Besucher bis Mitte der 6oerJahre zuverlässig Stille und Stillstand erwarten durfte? Weil Kunstdolmetscher dank ihrer volublen Zung den Boden bereitet hatten, indem sie den Kunstinteressier­ ten nichts Geringeres als einen erweiterten Kunstbegriff< ver­ sprachen, so, als sei die bildende Kunst bis dato Opfer verengter Begriffe gewesen. >In der Beschränkung erst zeigt sich der Meister, und das Ge­ setz nur kann uns Freiheit geben< - mit Goethe haben Künstler aller Zeiten die Regel ebenso gefeiert, wie Dilettanten aller Län­ der sie verfluchten. Erweiterung! Welch Zauberwort nicht nur für jene, die sich vom Gesetz nicht gefördert, sondern gefesselt fühl­ ten, sondern auch für Museumsdirektoren, Ausstellungsmacher

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und Kunstpromoter, all jene also, die kommunalen oder sonstigen Geldgebern mit einem Wort mehr Kunst für ihr Geld versprechen konnten: Wer will schon eine simple Kunst, wenn er auch eine erweiterte haben kann, sei sie auch so unsichtbar wie Konzept­ kunst, so platzverschlingend wie Installation und Environment, so nebulös wie Crossover und Interaktive Medienkunst, so filmoder theaternah wie Videokunst, Lebenskunst und Performance — all jene Protagonisten, die seit dem Beginn der 60er mit solchen Begriffen gewappnet in die Kunstschlacht zogen, hatten ein un­ trügliches Gespür dafür, wie leicht es fallen müßte, ihre Kukkuckseier in die bereits bestehenden, sei es privat, sei es öffentlich geförderten Kunstnester zu legen, um sie dort von der allseits be­ kannten und geachteten Glucke >Bildende Kunst< bebrüten und großziehn zu lassen, obwohl doch die geschlüpften erweitertem Bankerte so gar keine Ähnlichkeit mit der vorgeblichen Mutter hatten, daß sie sich von Rechts wegen auch hätten anders nennen und als neue Spezies hätten outen müssen, als... als...« Der Alte überlegte einen Augenblick, dann griff er nach einer dicken, leuchtend gelben Kladde. »Ich hab’s mit doch mal no­ tiert, wie die sich nennen sollten, die Vögel«, murmelte er, und »Hier müßte es stehen!« rief er aus. »Hier! Niedergeschrieben am 15. Juni des Jahres 1993. Ach, meine Schrift! Oh, meine alten Augen!« Tief beugte er sich über das Heft, mit lauter Stimme be­ gann er zu lesen: »Noch einmal und sicher nicht zum letzten Mal: Furchtbar, in finsteren Zeiten leben zu müssen, und diese Zeiten sind furchtbar finster... Da wird der Deutsche Pavillon der Biennale in Venedig den Herren Haacke und Paik anvertraut. Letzterer bastelt aus aus­ rangierter Heimelektronik Figuren zusammen, die jedem Viertkläßler als erstes einfielen, stellte man ihn vor die Aufgabe, aus Sperrmüllfernsehern Organoides herzustellen. Den Hauptcoup aber landet Haacke mit seinem >GermaniaKunsträumen< längst nicht mehr um ästhetische Erfahrung oder zumindest intellektuellen Genuß, sondern um Gemütserregung und Gefühlsermöglichung. Das Publikum soll einen bisher un­ bekannten Reiz auskosten können und sich bei dieser wenig anstrengenden Tätigkeit auch noch als Teil des Kunstwerks, wenn nicht als veritabler Künstler fühlen dürfen: Was dem Bürger der Erlebnispark verspricht, Fun und Event für die ganze Fami­ lie mittels Wildwasserrutschen, Geisterbahnen, Märchenhöhlen, Saurieranimationen etc., das ist dem Anspruchsvolleren die In­ stallation: Mal darf er sich durch einen großen Raum voller Punching-Bälle wühlen, wie auf der Hoet-Documenta, mal läßt ihn Boltanski in schmalen, dunklen Gängen über Kleiderberge steigen und allerhand KZ-haftes assoziieren, wie in der Hambur­ ger Ausstellung >EinLeuchten< -: Ein kurzer Kick für den, der darüber hinweggestiegen ist, ein immerwährendes Fest für jenen, der darüber schreiben soll. Er kann erzählen, was er vorfindet, er kann das nacherzählen, was er im Katalog findet, er kann dar­ über berichten, was er vor dem Gezeigten empfindet, und er kann aufzählen, was ihm zu dem Gezeigten einfällt, beispielsweise beim Stiefeln über gelockerte, brüchige und scharfkantige Plat­ ten: >... alles so schwankend... regelrecht bodenlos... irgendwie Eiszeit.. .< Er wird auch nicht vergessen zu erwähnen, daß jene aufgebrochenen Platten seinerzeit von Nazi-Baumeistern ausge­ sucht und angeordnet worden waren. Echte Nazi-Steine also eigentlich hätte deren Authentizität noch irgendwie getoppt wer­ den müssen, durch Erde aus Auschwitz oder Wasser aus den Kata­

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komben Warschaus oder ein vergleichbar beredtes Element, das den aufquellenden Gefühlsbrei vollends zum Überkochen ge­ bracht hätte...« Unvermutet verstummte der Alte, blätterte sinnend vor und zurück, schüttelte mißmutig den Kopf: »Ich hätte schwören mö­

gen, daß ich mir damals ein paar Umbenennungsvorschläge no­ tiert hätte...« Mit einer Handbewegung wischte er das dicke gelbe Heft bei­ seite, da hellte sich seine Miene auf. Zwei Zeitungsausschnitte, die sich in der Kladde befunden hatten, waren auf den Tisch ge­ flattert, rasch griff der Alte nach ihnen: »Da habt ihr also ge­ steckt!« Bedeutungsvoll hielt er sie dem Knaben vor: »Frontbe­ richte, Antonio! Höre diesen Bulletins gut zu - genauer läßt sich der aktuelle Stand der Kunstdinge nicht in Worte fassen. Nach wie vor ist die Biennale die Musterschau der Kunsterweiterung, hören wir, was zwei Frontberichterstatter, beides beileibe keine Kuhstschwätzer, sondern altgediente Kunstschreiber zur Harald

>Der rote Faden« Szeemanns 99er-Ausstellung zu sagen haben. Vor allen Künstlern wird zunächst und ausgiebig ihm gehuldigt. Eine deichte Hand« und >das Gespür eines Magiers« attestiert ihm Thomas Wagner von der frankfurter Allgemeinen Zeitung«, und

Petra Kipphoff von der >Zeit< nennt ihn einen >mal hellseheri­ schen, mal poetischen Ausstellungsmacher«. Magier, Hellseher, Poet - waren diese Epitheta nicht vor Zeiten ausschließlich ge­ nialen Künstlern Vorbehalten gewesen? Nun gelten sie dem, der den Literaten leichthändig Schreibanlässe herbeizaubert, indem er - ich zitiere Thomas Wagner - >Chris Bürdens große Brücken­ modelle, Soo-Ja Kims LKW mit Bündeln gebrauchter Kleider, mit denen er durch Korea gefahren ist, und Simone Aaberg Kaerns Porträts von Fliegerinnen als den >Heldinnen der Lüfte« auf subtile Weise zu einem vielschichtigen Ensemble vereint, das bewußt auf den Krieg anspielt.« Soweit Thomas Wagners Nacherzählung eines kleinen Seg­ ments von Szeemanns Magie-Show, die allerdings mehr Fragen aufwirft als beantwortet. Auf welchen Krieg mag ein Ensemble aus Brückenmodell, Gebrauchtkleider-LKW und Fliegerinnen­

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porträts anspielen? Was ist daran subtil? Was vielschichtig? Vor

allem aber: Wie konnte es dem Koreaner Soo-Ja Kim gelingen, seinen Gebrauchtkleiderlastwagen von Korea ins ferne Venedig zu bugsieren und dort nicht auf dem Autofriedhof oder in der Altkleidersammelstelle, sondern direktemang in der Biennale zu landen? Da wüßten wir doch gern ein bißchen mehr, und Petra Kipphoff weiß auch mehr zu berichten: >Am Ende der Corderie

ist ein kleines Jagdflugzeug deponiert, mit durchsichtigem Cock­ pit. Es liegt auf dem Rücken. Wie.. .< Wie oder Was, Antonio? Woran mußt du bei einem Flugzeug denken, das auf dem Rücken liegt? Na? An einen Käfer natürlich! Und woran denkst du bei einem Käfer? Antonio! Du bist doch ein gebildeter Mensch! Was assoziiert der gebildete Mensch mit einem Käfer? Ach, aus dir wird nie ein Kunstschreiber, mein Junge - Kafka natürlich! So daß der Vergleich vollständig zu lau­ ten hat, das Flugzeug liege auf dem Rücken >wie Kafkas KäferPaola Pivi hat es< - gestaltet? Gebaut? Gebastelt? Nichts da -: »dahinlegen lassens - Lavoratori! Legt schon mal das Flugzeug dahin. Und zwar auf den Rücken. Ihr wißt schon: Wie... wie... — Wie Kafkas Käfer? Subito, maestra! Aber weiter im Text, Antonio, weiter, weiter: >Vor dem Flug­ zeug sind, an der Wand eines im Halbkreis gebauten Korridors, die im Grisailleton gehaltenen Porträts von Fliegerinnen im Zweiten Weltkrieg aneinandergereiht.< Doll! Richtige Bilder! Aber das kann’s doch noch nicht gewesen sein?! Ist es auch nicht: >Das Motorengeräusch kommt von oben.< Doller! Richtiger Flug­ lärm, den hört man ja selten. Und wem verdanken wir diese Mul­ timedia-Show? >Die junge dänische Künstlerin Simone Aaberg Kaern hat diese Galerie der »Schwestern im Himmek - bei Wag­ ner waren es noch »Heldinnen der Lüfte< gewesen, aber egal - zu­ sammengestellt, hat auch die Geschichten dieser Frauen gesam­ melt und selbst Fliegen gelernte Am dollsten! Eine Malerin, die nicht nur Fliegerinnengeschichten sammelt, sondern auch das Fliegen lernt! Die Bilder von Fliegerinnen nicht nur im Grisaille-

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ton hält, sondern von oben auch noch mit Fluglärm versorgt! Be­ greifst du nun, Antonio, warum uns Vermeers >Milchausgießerin< seinerzeit so verhärmt und uncool vorgekommen ist? Weil es im Rijks- und nicht im Reizmuseum hing! Ja, wenn der Katalog uns darüber belehrt hätte, daß Vermeer dieses Motivs wegen das Mel­ ken erlernt hat... Ja, wenn über eine Tonanlage das Geräusch des Milchausgießens eingespielt worden wäre... Ja, wenn der Maler sich wenigstens durch eine Fallsammlung ausgesuchter Schicksale minderjähriger Dienstmägde zur Hochzeit des goldenen Zeital­ ters der holländischen Malerei ausgewiesen hätte ... Aber so? Doch weiter im Text, weiter, immer weiter durch den immer er­ weiterteren Kunstbegriff: >Hinter der Pilotinnen-Galerie und dem Flugzeug steht aber noch ein Lastwagen, vollgepackt mit bunten Kleiderbündeln. Der Koreaner Soo-Ja Kim ist mit dieser Ladung seit 1997 unterwegs. In der hohen verspiegelten Wand, vor der sein farbenprächtig bepackter Laster steht, verdoppelt sich das Bild und fügt sich zusammen mit Paola Pivis Flugzeug und Simone Aaberg Kaerns Pilotinnen.! Mit dieser Bildbeschreibung endet leider, leider Petra Kipphoffs Nacherzählung. Kein Wort vom Krieg - ob der dem Wag­ ner auch nur so durch den Kopf gerauscht ist wie ihr der Kafka? - nichts wirklich Erschöpfendes zum Koreaner on the road. Zwar wissen wir nun, daß Soo-Ja Kim mit seinem Altkleiderlastwagen nicht einfach >durch Korea gefahren!, sondern >seit zwei Jahren

unterwegs! ist, doch den Grund für sein Tun kennen wir bislang ebensowenig wie die Umstände, unter denen Szeemann den ewi­ gen Altkleiderlastwagenfahrer kennengelernt hat. In einem Rast­ haus? Einer Tankstelle? Bei der Parkplatzsuche? Waren die Alt­ kleider ursprünglich für Boltanski- oder Pistoletto-Installationen bestimmt gewesen, die sich dann zerschlugen, worauf der Aus­ stellungsmacher dem bekümmerten LKW-Fahrer das Angebot machte, seinen Wagen samt Fracht für die Dauer der Biennale in der Corderie abzustellen? Es gibt noch viel zu erzählen, packen wir die Plaudertaschen aus!« Behutsam verstaute der Alte die Zeitungsausschnitte im dicken gelben Heft, urplötzlich schüttelte er es eifernd: »Aber erzählt uns

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bitte nicht, der längst nicht mehr taufrische Bengel >Erweiterter Kunstbegriff< sei ein legitimer Sproß der in die Jahre gekomme­ nen Frau Bildende Kunst. Der Bankert eines abgewirtschafteten Begriffs von Avantgarde - das ist erl Solange die Avantgarde die Richtung zu kennen vorgab, hieß die Parole unerbittlich vor­ wärts« I Erst als immer deutlicher wurde, daß bestimmte Gesten wie Duchamps Musealisierung des Alltagsgegenstandes Urinal unter dem Avantgarde-Vorzeichen unwiederholbar waren, daß bestimmte Markierungen wie Malewitschs >Schwarzes Quadrat auf weißem Grund< nicht überschritten werden konnten - da erst half man sich mit einer Richtungsänderung aus der Klemme: Nicht mehr vorwärts sollte es gehen, sondern in die Breite, wes­ halb all die zuvor einmaligen Gesten und endgültigen Fixpunkte

guten Gewissens beliebig oft rekapituliert und angesteuert wer­ den durften, je breiter, desto besser. 1917 hat Duchamp sein

Ready Made >Fontäne< in einer New Yorker Ausstellung gezeigt, 82 Jahre hat diese berühmte Geste auf dem Buckel. Wer heute noch kubistisch oder gar spätimpressionistisch malte, würde gna­ denlos der Ewiggestrigkeit geziehen, wer nach wie vor Fund­ stücke aus der Alltagswelt in Kunstzusammenhänge transpor­ tiert, von den Autoreifen eines Allan Kaprow Mitte der 60er bis zum vollständigen LKW eines Soo-Ja Kim Ende der 90er, darf sich ungebrochen auf der Höhe der Zeit fühlen - vielleicht ist ja auch dem >erweiterten Kunstbegriff« längst, wenn auch bisher unbemerkt, ein >erhöhter Kunstbegriff« gefolgt, und möglicher­ weise wird ihm nach der olympischen Faustregel Weiter, höher, schneller« auch noch der >beschleunigte Kunstbegriff« folgen doch da wir gerade von Sport reden, Antonio: Wie gefiele dir der >erweiterte Fußballbegriff«? Abschaffung des Torhüters zwecks höherer Resultate, Vermehrung der Einwirkungsmöglichkeiten auf den Ball durch Hand und Arm, Zulassung aller erdenklichen Haken und Ösen, die bisher als Fouls geahndet worden waren —: Dürfte sich ein solches Spiel noch iFußball« nennen? Müßte es nicht vielmehr der terminologischen Korrektheit und der sport­

lichen Fairneß wegen >Football< getauft werden? Wäre es sinnvoll oder wünschenswert, eine Fußball- gegen eine Footballmann-

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schäft antreten zu lassen, nur weil beides Sportarten sind? Tut na­ türlich auch kein Sportausrichter der Welt, nur unter dem präch­ tigen Deckmantel der bildenden Kunst erlaubt man sich solche Grenzverschleierungen, indem man der wundersamen Frankfur­ ter Ausstellung >InnenLeben< den Untertitel >Von Vermeer bis Kabakow< gibt und so tut, als stehe dessen Installation einer planen russischen Original-Klotür in der Ecke eines Städelsaales samt der unvermeidlichen Tonspur allen Ernstes in der Tradition jener

malerischen Recherche, die einen Vermeer, einen Kersting, einen Magritte hatten zum Pinsel greifen lassen, um auf kleinem For­

mat und flacher Leinwand die Tiefe so geheimnisvoller wie stiller Innenräume zu evozieren. Etikettenschwindell Elender E -«

- Hier jedoch wurde der Alte unterbrochen, da ihn ein er­ schreckter Fingerzeig des Knaben dazu veranlaßte, den Blick zum Leuchter zu wenden. Zart kräuselte sich der Rauch der so­ eben verloschenen fünften Kerze in die Luft, zornig stampfte der Alte auf: »Das Bronzetor gesprengt! Nur noch zwei Türen zu knacken! Und ich räsonniere egalweg über die schlechte Gegen­ wart, anstatt mich endlich darauf zu beschränken, dir, meinem Kronzeugen, meinem Kunstgewissen, meinem Geisteskind er­ schöpfend zu erklären, wie es zu dieser Gegenwart hatte kommen können! Doch vorerst muß ich noch eine Geschichte zu Ende bringen. Da hängt noch eine Geschichte in der Luft. Aber wel­ che? Was ist das für eine Welt, in welcher Harald Szeemänn ein roter Faden ist, während er bei mir reißt?« Suchend blickte der Alte um sich, geistesabwesend griff er zur Korbflasche, krachend stellte er sie auf den Tisch, ohne der auf­ geschlagenen Kataloge, der Einzelblätter, der massenhaft gesta­ pelten Kunstpostkarten zu achten: »Was hatte ich erzählen wol­ len? Mon dieu, mein altes Gedächtnis« — und »Mondrian!« schrie er wie befreit auf. »Ich hatte dir eine Mondrian-Schote erzählen wollen! Zurück zu Mondrian, dem Trüffelschwein, dem Befreier von Farben, dem Stifter sozialer Ordnungen - >Die rein plastische Sicht muß die neue Gesellschaft aufbauen< -, der doch von Far­ ben so wenig verstand, wie er fähig war, ordentliche Malgründe zuzubereiten. Mondrian, der es fertiggebracht hat, seine wenigen



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Farben mit Petroleum zu versetzen, um den Trocknungsprozeß zu beschleunigen, mit dem Erfolg, daß die Farbflächen voller Risse, die ursprünglich weißen Partien gedunkelt und vergraut sind. Mondrian, dessen selbstverfertigte Bildleisten von mitleid­ erregender Bastelschwäche zeugen, Mondrian, dessen Bilder die Konservatoren verzweifeln und den Betrachter daran zweifeln lassen, was eigentlich der zum Weltverbesserer taugt, der nicht einmal sein Handwerk gut zu machen versteht —: Diesen Mon­ drian also wollte ich einst guten Freunden anläßlich eines gemein­ samen Besuchs der Stuttgarter Staatsgalerie vor Augen führen. Freut euch auf Mondrian, hatte ich annonciert, da werde ich euch etwas zeigen, was euch noch keiner gezeigt hat. Nur Geduld, gleich kommt Mondrian - ah! Da ist er ja schon, hier, rechts neben der Tür! Und der anderen Museumsbesucher nicht achtend, auch derer nicht, die scheinbar zufällig und en passant vor dem Mon­ drian standen, begann ich nähertretend detailliert und gut hörbar die Freunde auf alle möglichen Macken und Malessen des Bildes hinzuweisen - >Wie schepp die schwarzen Linien sind! Wie ge­ stückelt die Rahmenleisten !< —, als mich das resolute Schwäbeln einer kräftigen Frau unterbrach: >Sehet Sie eigentlich net, deß mir hier meditiere?!« — oder wie immer dieser Sachverhalt auf Schwäbisch ausgedrückt wird. Und ungläubig erst, dann um so zerknirschter begriff ich, daß ich in einen Gottesdienst hineinge­ raten war, ein Verstockter unter Erleuchtungssuchenden, ein Ket­ zer unter gläubigen jungen Menschen, die zum Teil sogar im Schneidersitz vor dem Bild verharrten. Daß sie mit ihrem Gottes­ dienst fortfahren möge, stammelte ich der Priesterin zu, führte meine Freunde rasch fort von dem geweihten Ort, geradewegs ins Museumscafe, wo ich bei einer Schorle die Sprache wiederfand: Sollnse doch in die Kirche gehen, wennses gern heilig haben! Aber apropos Schorle -« Der Alte setzte angewidert die Korbflasche an den Mund, ließ sie jedoch, ohne einen Schluck genommen zu haben, ruckartig sinken: »Oder in den Luna-Park, wennses gern knallig und laut haben! Quanta bellezza al cuor per gli occhi — wichtige Worte, weise Worte, verwehte Worte des wunderbaren Leonardo: Wie­

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viel Schönheit fürs Herz durch die Augen. Nicht: Wieviel Ergrif­ fenheit für die Seele durch meditatives Starren. Nicht: Wieviel Betäubung fürs Hirn durch Inanspruchnahme sämtlicher Sinne, nein: Wieviel Schönheit fürs Herz. Müßte eigentlich über jeder Museumspforte stehen - Prost auch!« Wieder setzte der Alte die Korbflasche an, trank wie ein Verdurstender, wischte sich die trä­ nenden Augen, setzte eine Brille auf, durchwühlte den Stapel der Schriften und Kunstbücher, zog eine großformatige Broschüre

sowie einen schwergewichtigen Katalog heraus und hielt sie dem Knaben wie Beweisstücke vor: »Da hast du sie! Vollender der Kunst und ihre Totengräber. Glorreiche Mehrer des Schatzes an unvergeßlichen Bildern und zugleich Figuren, aus deren Hän­ den der Schlüssel zum Schatzhaus - und das meint zum Kunst­ tempel! - in falsche Hände geriet. Männer, die Maßstäbe setzten und diese gleichzeitig soweit korrumpierten, daß die Zwerge auf ihren Schultern darangehen konnten, das mit Erfolg zu planen, was zu tun sie im Begriffe stehn: die Kunstbastion zu stürmen. Hülle dein Haupt in Trauer, Antonio. Höre die Geschichte dieser beiden Männer, die unterschiedlicher nicht sein konnten und doch durch die Tatsache verbunden sind, daß das unergründliche Schicksal sie beide dazu ausersehen hat, der Kunst, die sie un­ sterblich gemacht hat, das Grab zu schaufeln. Ich spreche von Cezanne und Picasso, und ich weiß, wovon ich spreche. Beide sind in der Geschichte der Kunst ohne Vorbild, da beide nur in Zeiten auftreten können, da die Kunst in die Jahre gekommen ist. Beider Karrieren grenzen ans Wunderbare, doch lediglich dem einen war es vergönnt, noch ein wenig Kunstge­ schichte zu machen, schon der andere malte einen Großteil seiner riesigen Produktion mit dem Bewußtsein: Der Letzte macht das Licht aus. Was aber ist das Wunderbare an der Karriere Cezannes? Dreier­

lei: Daß er erstens der einzige mir bekannte Fall eines kompletten Dilettanten ist, der die Transsubstantiation zum Künstler ge­ schafft hat. Zum Künstler, nicht zum Könner, da ihm zweitens noch bis ins hohe Alter ganz unbegreifliche Ungeschicklichkeiten unterlaufen sind. Was ihm verwunderlicherweise drittens die Be­

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wunderung zuerst der jungen Maler, dann auch der Kritiker und Käufer eintrug, wobei sich ein junger Maler besonders hervortat, Picasso natürlich. Die Gründe dafür sollst du sogleich erfahren,

Antonio, doch zuvor noch ein Wort zum Werdegang Cézannes. Wie gerade du weißt, fallen Meister nicht vom Himmel, und wie

ich dir oft genug an ermutigenden Beispielen vor Augen führen konnte, haben auch große Künstler klein oder doch bescheiden angefangen, denk nur an des jungen Dürer steife, noch suchende Zeichnungen, die weit entfernt sind von späterer Vollendung. Auch kennt die Kunstgeschichte genügend Beispiele von minde­ ren bis mittleren Begabungen, die es durch Fleiß und Kunstver­ stand zu respektablen Leistungen gebracht haben, siehe unseren wackeren, als Zeichner keineswegs begnadeten Tischbein, dem dennoch ein meisterhafter Streich gelungen ist, die Rückenfigur des aus dem Fenster seines römischen Zimmers auf den Corso hinausschauenden Goethe. Aber das hatte es bis dato noch nie gegeben: Daß ein in jeder Hinsicht vollständig Unbegabter ener­ gisch fordernd an die Pforten der Kunst klopft und daß ihm zögernd aufgetan wird, daß er einzieht, sich in zäher Arbeit fort­ bildet, hin und wieder meisterliche Werke malt und dennoch bis an sein Lebensende nie so recht begreifen wird, was eine Figur im Innersten zusammenhält beziehungsweise nach welch doch recht simplen Gesetzen Gegenstände so im Raum positioniert werden sollten, daß es nicht den Anschein hat, sie fielen um, rutschten ab oder vereinten auf rätselhafte Weise Seitansicht wie Aufsicht. Ein selbstbewußter Mann, dieser Cézanne I Besucht als Jüngling zwei Jahre lang eine Zeichenschule in der tiefen Provinz von Aix-enProvence und ist noch im reifen Alter von 53 Jahren mit so un­ reifen Späßen beschäftigt wie dem abgeschmackten Vorhaben, dem zehn Jahre zuvor entstandenen Meisterwerk Manets, der >OlympiaModerne Olympia< entgegenzusetzen, ein nicht nur hochfahrendes, sondern ganz und gar törichtes Unterneh­ men, da Cézanne zu diesem Zeitpunkt nicht nur nicht zeichnen konnte, sondern auch nicht malen. Er scheint das gespürt zu haben, da er sich in die Zucht nahm und fortan das recht eigen­ willige Konzept verfolgte, Poussin vor der Natur zu wiederholen.

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Das förderte seine Malerei, schützte ihn jedoch nicht vor aben­ teuerlichen Verzeichnungen, etwa beim >Knaben mit der roten WesteUngeschicklichkeitExotikArchaismusNaivitätIch suche nicht, ich finde«, hatte auch einen weniger hochlöblichen Nebensinn: Picasso fand nämlich nichts dabei, auch in den Ateliers seiner Kollegen Anregungen zu finden. Letztere aber konnten die un-

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freiwilligen Anreger nach einem Besuch Picassos getrost verges­ sen, da der Besucher im Handumdrehn mit der Anregung in Se­ rie ging. Andererseits brachte Picasso seine eigenen Funde aus Kunstgeschichte und Naturbeobachtung stets derart erschöpfend auf den Punkt, daß für Zeitgenossen und Nachzügler nur noch

verbrannte Erde übrigblieb. So viele leuchtende Vorbilder hat die Geschichte der Kunst hervorgebracht, Picasso aber war ein ver­ dunkelndes, und das in zweifacher Hinsicht: Viele der gegen­ ständlich arbeitenden Künstler hat er von ihrem Weg abgebracht, bis sie sich in der direkten Picasso-Nachfolge gräßlich verirrten, wie es zwei so unterschiedlichen Malern wie dem armen Kirchner und dem alten Dix geschehen ist. Noch schwerer aber fiel ins Gewicht, daß Picasso durch sein souveränes Wechselspiel von Zeichnung und Verzeichnung nicht nur den Künstlern vorgau­ kelte, sie könnten ebenso unbekümmert von allen Blüten der gro­ ßen Kunstwiese naschen, obwohl doch lediglich der zu verzeich­ nen versteht, der erst einmal zu zeichnen gelernt hat, nein, er diente unwillentlich auch als Alibi für all das anmaßende Unver­ mögen, welches sich unter einem Großteil der bildenden Künst­ ler dieses unglücklichen Jahrhunderts und ihren literarischen Sprachrohren so lange breitmachen sollte, bis es das Feld fast vollkommen beherrschte: Da Picasso nun mal für alle sichtbar zeichnen konnte wie ein Weltmeister, da er es an Schwierigkeits­ graden des Motivs und der Technik mit jedem Altmeister von Cranach bis Ingres aufzunehmen wußte, da Picasso alle Kniffe der tradierten Kunst beherrschte, konnten Minderkünstler und deren Apologeten behaupten, bei ihnen verhielte sich das genauso oder doch so ähnlich, sie hätten es aber vorgezogen, einen so ent­ schiedenen wie mutigen Schritt über Picasso hinaus in die völlige Ungegenständlichkeit zu tun — welch verlogene Abtrünnigkeit auf der einen Seite! Und welch blinde Gläubigkeit auf der un­ seren!« Ein jähes Erschrecken in den Augen des Knaben, ein nach­ denkliches Stutzen des Alten, dann beeilte er sich, sich zu erklä­ ren: »Ja, auf unserer. Denn ich spreche natürlich die ganze Zeit von uns. Von uns jungen Künstlern der frühen 5 oer Jahre. Auch

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ich war einmal jung, und das heißt zugleich fanatisch und ver­ führbar. Auch ich glaubte bereits auf der Oberschule als Künstler auf dem rechten Weg zu sein, jener breiten Prachtstraße, die ohne Qual des Lernens und Mühe des Übens geradewegs zur Meister­ schaft führte, von der Deformation zur Abstraktion und mit et­

was Glück zu einem jener Markenzeichen, dank dessen man als Künstler und Steuerzahler ausgesorgt haben würde wie Pierre Soulages mit seinen Balken, Ernst Wilhelm Nay mit seinen Krei­ sen und Lucio Fontana mit seinen Schlitzen. Nur daß es mir

irgendwann nicht mehr möglich gewesen war, diesen Weg fort­ zusetzen, Antonio, da mir bei jedem Schritt bewußter wurde, daß, wer sich mit Picasso oder anderen verehrten Meistern der Moderne, mit Beckmann oder Matisse, auch nur im entfernte­ sten messen wollte, nicht von ihnen ausgehen konnte, sondern auf welchem Wege immer zu ihrem Ausgangspunkt zurückkehren mußte. Ein langer Rückweg, Antonio, ein steiniger Rückschritt!

Stets von der Hoffnung begleitet: Hier könnte ich Tritt fassen! Wie verführerisch die Vorstellung, da noch einmal in den Fluß der Kunst steigen zu können, wo Picasso auf Cézanne gestoßen war! Vermutlich die ernsthafteste all seiner Perioden, fraglos seine reizvollste. Wie zögernd er sich neue Freiheiten nimmt, wie ge­ wissenhaft er sich bemüht, altes Können zu verlernen! Wie er Cézanne an Waghalsigkeiten zu übertrumpfen sucht und wie er dort, wo das Vorbild auf den Bauch fällt, als andalusische Katze stets auf allen vieren landet. Wie er seine Gaukler nach und nach jeder Verkleidung beraubt und ihrer Schönheit alles Sentimentalische entzieht, bis schlicht gewandete oder nackte Gestalten ge­ senkten oder abgewandten Blicks ebenso für sich selber sprechen wie von ihrem seltsamen Schöpfer, der ihrer Präsenz zuliebe mit aller Kraft versucht, sein blendendes Licht unter den Scheffel zu stellen. Nie zuvor und nie hernach hat Picasso so wenig >Picassos< gemalt wie im Jahr 1906, und allzulange hat er es ja auch nicht in der ungewohnt selbstverständlichen Gesellschaft ausgehalten, mit welcher er sich da umgeben hatte. Schon 1907 war ihm nach grel­ lerem, vor allem aber immer schneller wechselndem Umgang, und wenn ich ihm daraus irgendwann einen Strick gedreht haben

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sollte, Antonio, dann gilt der nicht ihm allein und schon gar nicht ihm persönlich, da Picasso nur das i-Tüpfelchen darstellt auf einer abendländischen Kunstgeschichte, die sich niemals Zeit genom­ men hat, infiziert von ihrer irren Illusion eines immerwährenden Fortschritts auch dann, wenn der als Rückgriff kostümiert wurde, als Rinascimento, als Renaissance, als Wiedergeburt der Antike, als Klassizismus, als Neo-Gotik, als Prä-Raffaelitentum - die ei­ gentliche Losung lautete doch immer: Vorwärts zu neuen Ufern, neuen Augenweiden, neuen Hirnreizen. Dolce Stile nuovo — als »süßen neuen Stil« begrüßten bereits die Kunstfreunde des 15. Jahrhunderts eine bislang ungewohnte Darstellungsweise, ne­ ben der offenbar alles zuvor Gemalte und Justgebildhauerte ver­ grätzt und ganz schön alt aussah. Wer rastet, der rostet - Picasso hat das Gesetz steter Bewegung, und das meint: ständiger Be­ schleunigung, lediglich zur Kenntlichkeit entstellt — aufgestellt und erfüllt haben es die abendländischen Künstler schon immer. Nicht erst seit Beginn der Moderne ist ein Œuvre ohne Brüche,

Kehrtwendungen, Abstürze und Neuanfange kaum denkbar, schon ein Raffael konnte sich nicht mehr in aller Stille bilden und bemerkte in Rom rasch, daß alles beim sanften Perugino Erlernte out, der unsanfte Michelangelo aber mega-in war. Also raus aus den Intimitätskartoffeln, rein in die Grandezzakartoffeln, nur nicht den Anschluß verpassen, besorg mir doch schleunigst den Schlüssel zur Sixtina, lieber Bramante, Michelangelo ist ja gerade florenzhalber verhindert, und ich wollte schon immer mal in die­ ser Kapelle in aller Ruhe beten, hihihi, wenn du verstehst, was ich meine, also bring das Teil schon an -: Kunstgeschichte als im­ merwährendes Rattenrennen! War es das, Antonio, war’s das?« Die Fäuste reckend sprang der Alte auf, mit einem begütigen­ den Ausbreiten der Hände setzte er sich wieder. »Antonio, vor dir steht ein Geschlagener! Geschlagene neigen zur Verbitterung, da­ bei täten sie besser, den Rest der ihnen verbleibenden Zeit nicht zur Anklage, sondern zur Klage zu nützen. Die Klage freilich ist in Verruf geraten. Wer klagt, wird leicht mit dem verwechselt, der sich beklagt. Als ob nicht gewaltige Unterschiede bestünden zwi­ schen wehklagen, klagen, beklagen und sich beklagen. Haben die

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letzten Heiden, das Ende ihrer Götter vor Augen, sich beklagt?

Nein, sie haben den Tod des großen Pan ¿«klagt. Haben die letz­ ten Christen auf dem letzten noch nicht erstürmten Mauerrest ihrer Stadt Byzanz sich beklagt? Nein, nein, sie haben den Unter­ gang ihrer goldenen Stadt ¿«klagt. Hat der letzte Mohikaner sich beklagt? Nein, nein, nein, er hat den Verlust seiner Heimat, die Auslöschung seines Volkes und den Sieg des weißen Mannes beklagt.« Der Alte, der bei jedem »sich« mit spitzem Zeigefinger auf sich gedeutet hatte, reckte ihn mit mahnendem Gewackel gen Him­ mel: »Und wenn ihr erst einmal alle Künstler geworden seid, dann werdet ihr erkennen, daß man Video-Installationen, Computer­ graphik und Konzeptkunst nicht essen kann! Gezeichnet Häupt­ ling Letzter Zeichner. Hick! Ich habe gebrochen!« Höhnisches Gelächter, das plötzlich abbrach: »Verzeih, Antonio, dies ist nicht die Zeit für Späße, und hier ist nicht der Ort für weitere Sophis­ men! Auch die Bilder, auch die Zeichnungen hat man nie essen können, und dennoch stärkten sie. Kunstwerke sind Kraftwerke. Je mehr an konzentrierter Technik und feurigem Ingenium in das je einzelne Werk investiert wurde, desto länger kann es abstrah­ len, und desto mehr Betrachter wird es wärmen und erleuchten. Ungezählte solcher Energiespender sind auf uns gekommen; für eine nicht absehbare Zeit werden sie den Kunstwärmebedarf der sich ja stetig verringernden Menge von wahren Kunstfreunden, Kunstliebhabern und Kunstsüchtigen befriedigen - sollte es uns da nicht gleichgültig sein, wenn jene, die von der bildenden Kunst Heil und Segen respektive Krach und Wonne erwarten, in Zu­ kunft vom ewigen Dilettanten, vom Literaten mit der volublen Zung sowie von Afterkünstlern und Kunstquislingen beliefert und gespeist werden? Mundus vult decipi, ergo decipiamus! Spie­ len wir der betrugssüchtigen Welt doch ruhig vor, wonach ihr ver­ langt: Nicht den Künstler, sondern den Künstlerdarsteller, nicht den Maler, sondern den Malerfürsten, nicht den Artisten, sondern den Schamanen. Muß ja alles nicht mehr durch ein Werk gedeckt, sondern nur noch durch eine Geste visualisiert oder durch ein Markenzeichen signalisiert werden: Ein Kopfüber: Achtung

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Kunst! Ein Hutauf: Alle Achtung! Künstler! Ein —« Doch hier unterbrach sich der Alte: »Ein Teufelskreis!« schrie er aufstamp­ fend aus. »Klagen sollst du die dir verbleibende Zeit, nicht an­ klagen oder rumjammern!« schrie er sein Spiegelbild an. »Oder kannst du das auch nicht klagen?! Wie klagt man, Antonio?

Wie geht das noch mal? Verhüllt man erst das Gesicht? Oder zer­ rauft man sich vorher die Haare? Zerkratzt man sodann seine Brust? Oder zerreißt man zuvor sein Gewand? Schreit man gleich? Oder psalmodiert man erst? O tempora, o mores! Wieviel nutzlose Technik umgibt uns! Wie viele lebenswichtige Techniken haben wir verlernt 1 Die Technik der Schichtenmalerei. Die Tech­ nik der Trois-Croyon-Zeichnung. Die Technik der Klage! Schon die habe ich nie erlernen können, da niemand da war, der sie mich hätte lehren können. Und so bei allen Techniken. Stets mußte ich sie mir ohne jede Hilfe durch Versuch und Irrtum zusammen­ buchstabieren, solange, bis sich erst Worte formten, dann so et­ was wie ein Lehrsatz zu bilden begann. Ich habe diese Sätze er­ probt, und dann, wenn sie der Probe standgehalten hatten, an dich weitergegeben, Antonio, doch stets unter dem Vorbehalt, die Kunst sei eine cosa mentale. Geist - das meint nicht Intellekt, nicht Hirn, sondern jenes wissensdurstige Organ, dessen Lust darin besteht, sich auf alles einen Reim oder von allem ein Bild zu machen. All die Techniken, die ich dir, Antonio, versucht habe weiterzugeben, hatten nur den einen Sinn, dir diesen lustvollen Erkenntnisgewinn zu erleichtern. Sie sollten dir ersparen, was vielen meiner Generation widerfahren ist: Daß über dem einsa­ men Zusammenbuchstabieren die Zeit verrann, bevor sich Worte, Sätze gar abzuzeichnen begannen. Antonio! Du solltest es einmal besser haben! Immer haben Vater so gesprochen, immer haben sie zuviel versprochen, immer haben die Söhne ihnen widersprochen. Immer wollten die es einmal besser machen als die Vater, und sie haben es ja auch getan, die Schlingel! Albrecht Dürer machte es besser als sein Vater, der Goldschmied, Holbein der Jüngere machte es besser als sein Vater, der als Holbein der Ältere seither im Schatten des Sohnes steht, und Picassso machte es soviel bes­ ser als sein Vater, der Professor für Zeichnung an der Kunstschule



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Malaga Don José Ruiz Blasco, daß der feierlich der Kunst entsagt und seinem zehnjährigen Sohn Palette und Pinsel übergibt Eine scheinbar nicht enden wollende Erfolgsgeschichte, vor der jeder Kunstfreund versucht wäre, den Hut zu ziehen, würde der ihm nicht durch das gräßliche Ende, dem wir just beiwohnen, aus der Hand geschlagen. Schneller, höher, weiter - ihr Söhne habt diesen Sportlertraum nur geringfügig modifiziert, und das bereits seit Jahrhunderten: Besser, tiefer, neuer. Die Welt der Erscheinun­ gen besser begreifen, die Lebensformen tiefer erfassen, die Mit­ teilungsformen ständig erneuern — das waren die Energien, wel­ che die Kunstwerke aufluden, speisten und bis heute abstrahlen lassen; das war aber zugleich ein horrender Raubbau, eine Ener­ gieverschwendung ohne Beispiel in der Menschheitsgeschichte. Wie weise und langsam die Natur formt, verändert, verwirft, ver­

fertigt! Wie lange sie an ihrem Menschenbild gemodelt hat, und wie wenig sie in den letzten zwanzigtausend Jahren an ihrem Mo­ dell des Herrn der Schöpfung verbessern mußte, so wenig wie an Wildpferd, Hirsch oder Steinbock. Und nun halte mal dagegen, wie viele Menschenbilder, Tierbilder, ja ganze Weltbilder der Mensch im gleichen Zeitraum entworfen und verworfen hat! Ich sage: der Mensch, und ich meine: den ewigen Künstler. Diesen ewig reizbaren, ewig dienstbaren, ewig verführbaren Typ, immer zur Stelle, wenn es darum geht, etwas noch nie Dagewesenem Ge­ stalt zu verschaffen: >Also, wenn Sie mich fragen, o mein Pharao Chephren - was halten Sie davon, wenn wir Ihre Grabanlage bei Gizeh nicht mit dem üblichen Klein-Klein bestücken, sondern mit einer Riesensphinx, gut 1000 Ellen hoch? Ja, Sphinx. So ein Mischwesen zwischen Mensch und Löwe — ich habe schon mal eine Zeichnung mitgebracht, damit Sie sich ein Bild davon ma­ chen können, wie das Ganze aussehen soll: Hier!< - Und dabei haben sich die Ägypter ja noch weise zurückgehalten, vergleicht man sie mit den Griechen und ihrer Kunstgeschichte im 50-JahreTakt: 600 bis 550: Früharchaik, 550 bis 500: Hocharchaik, 500 bis

450: Spätarchaik beziehungsweise Frühklassik, 450 bis 400: Hoch­ klassik, 400 bis 350: Spätklassik beziehungsweise Frühhellenis­ mus, 350 bis 300: Hochhellenismus, 300 bis 250: Späthellenismus

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usw. Jahrtausendelang haben die Ägypter ihren vollplastischen Fi­

guren wohlweislich nicht mehr Bewegung zugestanden als ein vorgestelltes Bein - gerademal hundert Jahre konnte sich auch der griechische Kouros zu solcher Enthaltsamkeit bequemen, dann

ging auch schon das Gekniee, Getanze, Gestampfe, Gedrehe, kurz: die ständige Veränderung los. Unbewegte Ägypter fürwahr,

und doch nicht unbewegt genug. Was sind denn schon 3000 Jahre? Geh in die Tropfsteinhöhlen, Äntonio, schau dir an, was Mutter Natur in 3000 Jahren an Stalaktiten und Stalagmiten zustande bringt. Herzlich wenig, und das auch noch nach dem stets glei­ chen Muster gestrickt. Langweilig? Vorbildlich! Never change a winning horse — und die Tropfsteinhöhlen waren doch von Be­ ginn an eine Riesennummer: Skulpturen aus Salz, geformt von einem der einfallsreichsten und fleißigsten Bildhauer überhaupt, millionenfach bewährt und seit Jahrmillionen am Werk, dem Was­ ser. Aber apropos Wasser!« Der Alte griff zur Korbflasche und schüttelte sie mißtrauisch. »Die war auch schon mal—«, begann er, doch da ließ ihn ein Luft­ zug verstummen. Starr blickte der Knabe auf die Verloschene, be­ ruhigend fuhr der Alte fort: »Antonio, ich habe zwei Nachrichten für dich, eine gute und eine bessere. Zunächst die gute: Ich habe

dir nicht mehr allzuviel zu sagen. Und nun die bessere: Die Zeit wird ausreichen, dir auch den Rest, den du wissen solltest, mitzu­ teilen. Hörst du das Gewisper da draußen? Sie stehen vor der letz­ ten liir, die steril Aufgeregten, doch diese vermögen sie nicht zu sprengen wie die anderen. Die goldene Pforte wird sich ihnen erst öffnen, wenn diese letzte Kerze zur Gänze niedergebrannt ist. Ja - so steht es geschrieben, nutzen wir also die letzte Zeit zu letz­ ter Rede. Erfahre den Rest der Geschichte, Antonio!« Noch einmal unterbrach sich der Alte, um einen langen Schluck aus der Korbflasche zu tun, dann blickte er in den Spie­ gel, strich sich im Schein der letzten Kerze langsam über den Bart und hub an: »Der Mensch hat seit jeher Hummeln im Hintern gehabt, der abendländische zumal. Und erst der westliche Künst­ ler dieses Jahrtausends! Der nahöstliche immerhin beschied sich einige Jahrhunderte lang damit, festgelegte Ikonentypen zu repe­

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tieren; der fernöstliche sah es über Generationen als erstrebensund ehrenwert an, das Bambusblatt des längst verschiedenen Tuschmeisters nicht auftrumpfend zu überbieten, sondern ehr­ fürchtig zu wiederholen - mittlerweile jedoch ist der ganze Glo­ bus in jenen Maelstrom der Beschleunigung geraten, der gerade dabei ist, West- und Weltkunst in immer enger werdenden Spira­ len in die Tiefe zu ziehen. Eng freilich ging es in der Geschichte dieser Kunst schon immer zu. Was sind denn vor dem Hinter­ grund der Menschheitsgeschichte die fünfzig Jahre italienische Frührenaissance - ein Atemzug! Das goldene Jahrhundert der hol­ ländischen Malerei, in Wahrheit nicht mehr als achtzig Jahre - ein Lidschlag! Die Hochzeit der spanischen Malerei, gerade mal sech­ zig Jährchen - ein Augenblick! Und in all den erwähnten Zeit­ räumen herrscht ja nicht ein Maler dank seines überwältigenden Personalstils, unterwirft nicht ein unpersönlicher Zeitstil alles Ge­ malte und Skulpierte - da treten überall und fortwährend die unterschiedlichsten Konzepte und Temperamente gegeneinander an: Was haben die sanften Figuren eines Fra Angelico zu tun mit den rabiaten Schwerenötern eines Donatello, was verbindet Benozzo Gozzolis naive Freude am gestaltenreichen Erzählen mit Piero della Francescas Fähigkeit, uns glauben zu lassen, wir sähen die Welt des ersten Schöpfungstages mit den Augen eines ordnen­ den Geistes — und das sind nur vier von vierzig Namen, die zum gleichen Zeitpunkt - um 1450 - in einer einzigen Kunstregion - der Toskana — jeder für sich zu den verschiedensten Bildern von der Welt gekommen sind: Welch unüberschaubares Miteinander! Hätten die Künstler mit etwas Maßhalten daraus nicht auch ein gepflegtes Nacheinander machen können? Vierzig Jahre ein Fra Angelico als Leitfigur, meinetwegen auch dreißig Jahre, dann dreißig Jahre ein Donatello als Haupt der Schule e cosi via. Bereits mit zehn Künstlern kämen wir auf dreihundert Jahre Frührenais­ sance, und wenn die Folgekünstler mit ihren Funden und Phan­ tasien ebenso hausgehalten hätten, dann lägen zur Zeit noch ge­ schlagene 50 Jahre Hochrenaissance vor uns, und wir Künstler von heute könnten uns besten Gewissens mit immer vertrackte­ ren Anatomie- und Perspektivestudien beschäftigen und immer

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gewagtere Scheinarchitekturen imaginieren, denn irgendwann wäre dann ja doch der Barock an der Reihe, aber pian piano, non esagerare! Doch statt des Barock wird bald er auf der Matte ste­ hen, der ewige Nichtgenanntwerdeseinname, und wer hat ihm den Weg geebnet? Wir, die unentwegten Kunstzuschandenreiter. Was haben wir nicht alles in kürzester Zeit in den Sand gesetzt an Genres, Themen, Kunststücken, Programmen, Techniken, Er­ kenntnisinteressen, Verdienstmöglichkeiten und Stilen! Reihen­ weise sind sie unter uns zusammengebrochen: das Tierbild, die Verkündigung, das Trompe-l’cruil, die Monochromie, die Enkau­ stik, die Künstleranatomie, das Wandbild, der Impressionismus. Beklagenswerte Fälle, doch nichts gegen den seit einem Jahrhun­ dert sich weltweit vollziehenden Sturz all jener Künstler, die sich auf dem - kein Wunder bei dieser Behandlung! - immer bockenderen Kunstpferd nicht zu behaupten wissen und bereits in den besten Jahren aus der Kunst-, manchmal auch aus der Lebensbahn geworfen werden. Betrauern wir diese Beklagenswerten, doch verneigen wir uns zuvor in aller Form vor zwei Männern, die uns vorgemacht haben, wie es auch hätte laufen können. Wieviel Jahre gesteht die Kunstgeschichte dem Impressionismus zu? Besten­ falls 25 Jahre, von 1865 bis 1890, denn da stehen ja bereits der Postimpressionismus, der Symbolismus und der Jugendstil ge­ stiefelt und gespornt, die ihrerseits mit knapp 15 offiziellen Jähr­ chen auskommen müssen, von 1890 bis 1905, weil zu diesem Zeit­ punkt ja bereits Fauvismus, Expressionismus, Kubismus, Pittura Metafísica und Futurismus ihren Fuß im Steigbügel haben, um alsogleich von Abstrakter Kunst und Neuer Sachlichkeit abge­ löst zu werden - und während all dieser turbulenten Auf- und Abstiege ziehen zwei Männer unbeirrt und mit nicht nachlassen­ der Kraft ihre Bahn, Monet von 1840 bis 1926, dann erst gibt er sechsundachtzigjährig den Impressionistenzügel aus der Hand, gefolgt von Bonnard, 1867 bis 1947, der sich ebenfalls achtzig Jahre lang im Sattel gehalten hat, gut sechzig davon als Maler. Zusammen verkörpern die beiden Langlebigen demnach um die hundert Jahre Freilichtmalerei - warum mußte der Rest der Rei­ terschar zur gleichen Zeit unbedingt Avantgarde spielen? Ein

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ruhigeres Tempo wäre allen bekommen, Kunstreitern wie Kunst­ pferd: Hundert Jahre Motiv- und Futtersuche in blühenden Mohnfeldern, auf leicht schwankenden Hausbooten, im eigens zu Malzwecken angelegten Garten. Hundert Jahre Studium von Lichtflecken und farbigen Schatten, Frühstück im Freien und Tanz unter den Bäumen der Moulin de la Galette. Nachmittags treibt man Pferdestudien auf der Rennbahn, schaut mal bei den Ballettratten vorbei oder findet sich im Garten eines Malerfreun­ des zu einer Partie Crocket ein - nicht ohne zugleich einen schö­ nen Malanlass zu finden -, und abends trinkt man ein bon bock im Café de l’Opera, wobei man heimlich die schöne Kellnerin zeichnet und in aller Offenheit über den Salon und die dort aus­ gestellten Pompiers lästert. Man ist ja wieder abgelehnt worden und plant nun die ultimative Refüsiertenausstellung für den Herbst, indes am Nebentisch einige Jüngere zaghaft auf Neues sinnen - eben, 1950, sind die ersten Farbholzschnitte aus Japan nach Europa gelangt und lassen aufrührerische Geister daran zweifeln, ob Farbzerlegung und flüchtiger Pinselstrich wirklich der Weisheit letzter Schluß sein können, ob nicht vielmehr Linie und Fläche - aber ich verliere mich in Gedankenspielen, Antonio, anstatt mich auf den einen Gedanken zu beschränken, den ich dir noch mit auf den Weg geben will, den letzten - oder: neinl Den vorletzten! Und nicht um einen wirklichen und wahrhaftigen Ge­ danken handelt es sich dabei, sondern um ein Gedenken. Ach An­ tonio! Gedenken wir all der traurigen Opfer unter all den kühnen Künstlern dieses Jahrhunderts! Wie gut hätten ihnen allen die hundert Jahre Impressionismus getan, körperlich wie seelisch! Wie schlimm sind sie geendet, weil sie unbedingt weiter wollten, höher hinaus, schneller ans Ziel! Wie hoch war ihr Einsatz, wie rasch ereilte sie oft der Ruhm, wie tief war ihr Sturz, wenn das Feuer der Jugend verbraucht war, der Reiz der Neuheit sich ver­ braucht hatte und das Interesse des Publikums verraucht war! Am glücklichsten noch die sogenannten Frühvollendeten, Opfer des Krieges wie Franz Marc, August Macke und Umberto Boccioni oder der Krankheit wie Otto Mueller und Amadeo Modigliani. Alles Maler, die, obwohl noch jung an Jahren, ihren Zenit bereits

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überschritten hatten, denen der veritable Absturz jedoch gnädi­ gerweise erspart geblieben ist. Aber die anderen! Vater der Mo­ derne, wie Edvard Munch und James Ensor, deren Schicksal all jene hätte warnen müssen, die es ihnen darin nachtaten, auf so un­ sichere Pferde wie Ausdruckskunst und Phantasieausbeutung zu setzen, Expressionisten und Surrealisten also. Der Belgier stürzt bereits vor der Jahrhundertwende ab und repetiert fortan seine

unheimlichen Sujets bis zu seinem Tode im Jahre 1941, ohne je­ mals wieder die unheimliche Dichte der Malerei seiner Anfänge zu erreichen. Den Norweger ereilt der Absturz wenig später, bis 1944 wird er immer unpersönlichere Bilder malen bar all der Spannung seiner Jugendjahre. Was freilich die Maler der Künst­ lervereinigung >Die Brücke< nicht davon abhält, seinen Spuren zu folgen, um nach kurzem Malrausch und Gruppenglück jeder für sich abzustürzen, Erich Heckel, Karl Schmidt-Rottluff, Max Pechstein, vor allem aber Ernst Ludwig Kirchner, den Begabung und Zeitgeist am höchsten hatten aufsteigen lassen. Es fallen na­ turgemäß die Malerinnen und Maler des iBlauen Reiten, Gabriele Münter, Marianne Werefkin und Alexander Jawlensky. Abstürze aber auch bei denen, die durch ein kühleres Konzept und eine un­ persönlichere Technik besser dagegen gefeit schienen, nach ent­ flammter Jugendzeit als Ausgebrannte weiterleben und weiter­ malen zu müssen, die Maler der Pittura Metafísica, der Neuen Sachlichkeit und des Surrealismus. Schon ihr aller Ahnherr Gior­ gio de Chirico stürzt als Dreißigjähriger ab und verbringt die ver­ bleibenden vierzig Lebensjahre damit, sein Jugendwerk entweder zu verdammen oder zu plagiieren. Abstürze die Menge auch bei den deutschen Malern der Neuen Sachlichkeit. In den Zwanzi­ gern ganz oben, geht es in den Dreißigern bergab mit Otto Dix, Christian Schad, Karl Hubbuch und Rudolf Schlichter, und das bereits vor der Machtübernahme der Nazis. In diesen Jahren näm­ lich ist kein Maler sicher, nirgendwo. André Derain, Maurice de Vlaminck und Maurice Utrillo stürzen in Frankreich ab, Carlo Carrä, Giacomo Baila und Gino Severini in Italien, Salvador Dali und Joan Miró in Spanien, in Rußland müssen Kasimir Malewitsch, Alexander Rodtschenko sowie Marc Chagall daran glau-

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bcn, und in der Emigration erwischt es George Grosz, Lionel Feininger und Oskar Kokoschka. Wir klagen angesichts all dieser tiefen Stürze, Antonio, doch wir tun es voller Hochachtung für die Gestürzten. Das Jahrhundert neigt sich dem Ende zu, kein goldenes Zeitalter der Kunst, doch ein großes, zumal in seinen er­ sten Jahrzehnten, als die Stürze sich häuften. Daß die in den letz­

ten Dezennien rar geworden sind, macht uns nicht froh, sondern mißtrauisch: Da stimmt doch was nicht?l Was da faul ist, das sollst du sogleich erfahren, zuvor jedoch möchte ich zwei weitere Abstürzler ehren, einen sehr frühen und einen späten, möglicher­ weise einen der letzten, der sich noch einmal nach allen Regeln der Kunst dem Scheitern ausgesetzt hat. Da ist einmal Ludwig Meidner. Nach talentiertem Beginn wird er in den Jahren vor dem

Ersten Weltkrieg von einer unvergleichlichen Ausdruckswut ge­ packt und gestaltet in einer rasch entstehenden Reihe von Bildern ohne Vorbild Themen ohne ersichtlichen Anlaß: brennende, kriegszerstörte Städte - erst die Bombennächte des Zweiten Welt­ kriegs haben seine wie in Trance hingemalten, in zuckenden Kür­ zeln regelrecht hingeschriebenen Gesichte Realität werden lassen. Eine Trance, die von ihm wich, Gesichte, die ausblieben. ■ Sehr schnell berühmt geworden, hatte Meidner schon bald nichts mehr zu sagen; der Handvoll erleuchteter Jahre folgten Jahrzehnte grauer Mittelmäßigkeit. Fall Nummer zwei: Mit David Hockney tritt Anfang der 6oer Jahre noch einmal ein Zeichentalent erster Güte auf die Kunstbühne, einer, der sich so selbstbewußt an Pi­ casso mißt, wie der sich an Ingres gemessen hatte: »Ich habe ver­ standen! Thema ist die Porträtzeichnung. Zugelassen sind ledig­ lich harter Bleistift, wahlweise Feder, Tusche und weißes Papier. Benotet werden Ähnlichkeit und Glaubwürdigkeit der oder des Dargestellten sowie Virtuosität, Originalität und Schönheit der Darstellung. Auf die Plätz, fertig, los< — aber halt! Der Engländer hat ja leider niemals mit dem Spanier um die Wette zeichnen kön­

nen! Als Hockney seine besten Jahre durchmalte und durchzeich­ nete, als seine Freundschaftsbilder enstanden, seine SwimmingPool-Apotheosen und seine Hotel-Interieurs, da variierte Picasso auf immer größeren Formaten serienmäßig immer absonderli­

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chere Vorlagen aus der Kunstgeschichte, Manetsche Frühstücker

und Rembrandtsche Musketiere. Sehr viel bescheidener die For­ mate, auf denen der Hockney von heute seine Lieblingsmotive in Serie gehen läßt, abstrakte Landschaften und seine beiden Dakkel, sehr ähnlich die Flusigkeit und Beliebigkeit der Darstellung.

Nein, Antonio, und nochmals nein: Nichts dagegen, wenn je­ mand seine Dackel malt, wirklich nicht, doch sollte gerade dem Hundemaler von heute bewußt sein, an welchen Hundemalern der Vergangenheit er sich mißt. Ein Veläzquez, ein Terborch, ein Stubbs und ein Bonnard haben in der Hundemalerei Maßstäbe gesetzt, die gerade ein Hockney hätte ernst nehmen sollen. Er, der uns in den 6oer Jahren mit ganz unerwartet gelungenen Doppel­ porträts seiner Menschenfreunde überrascht und erfreut hat - Christopher Isherwood! Henry Geldzahler! -, darf uns in den 9oern ganz einfach nicht mit einem mehr wurstig hingepinselten denn saftig gemalten Dackeldoppel in zigfacher Variation abspei­ sen. Ja, Antonio, und abermals ja: Nicht nur vom Pferd, auch vom Dackel kann der Künstler stürzen. Wie erst von ¡¡wei Dackeln und dennoch: Noch der Dackelfall eines Hockney bewegt uns heftiger als all der Lärm und all das Geräusch, mit welchem die Vertreter eines erweiterten Kunstbegriffs davon abzulenken ver­ suchen, daß sie trotz aller Bewegung gar nicht fallen, sondern lediglich zum Stillstand kommen können. >Laß es sich bewegen, und die Leute werden hinschauem, hat Andy Warhol einmal ge­ sagt, und der war ja kein dummer Kopf. Doch nicht einmal er hat voraussehen können, in welchem Maße wir Menschen des aus­ gehenden Milleniums überall und immer mit bewegten Bildern abgefüllt und von bewegten Bildern abgestumpft werden wür­ den. Nie werde ich jenen Nachmittag in der verschlafenen Bar >Arcobaleno< im toskanischen Cavriglia vergessen, in welcher die üblichen Pensionäre wie gewohnt vor sich hinstarrten oder in Sportzeitungen blätterten, indes im gut sichtbar postierten Fern­ sehapparat eine unglaublich aufwendige Massenschlägerei in ei­ ner aufwendig ausgestatteten, nach Plan zu Bruch gehenden Wild­ west-Bar lief, ohne daß auch nur einer der Alten das Spektakel auch nur eines Blickes gewürdigt hätte - das wäre vermutlich erst



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beim unerwarteten Erstarren des Bildes geschehen. Laß es sich nicht bewegen, und die Leute werden wieder hinschaun. Aber apropos Bar—« Der letzte Schluck aus der Korbflasche, der prüfende Blick auf die Kerze, das gefaßte Fazit: »Alles geht dem Ende zu, alles will zur Ruhe kommen. Wie haben die Happening-, Fluxus- und Perfbrmance-Künstler der 6o-Jahre auf die Flüchtigkeit, die Unver­ wertbarkeit, kurz: die Unmusealität ihrer Aktionen gepocht, um sich nur ja vom überholten, statischen, verkrusteten Kunstbegriff abzusetzenl Wie drängt das alles spätestens jetzt, da die Künstler in die Jahre gekommen sind, in die Museen und nach Retrospek­ tive! Was aber zeigt einer, der nichts vorzuweisen hat? Nicht mehr lange, und sie werden hier alle persönlich eintreten, lassen wir zwei von ihnen bereits virtuell passieren, je ein Musterexemplar der beiden siegreichen Spezies, den Dilettanten mit dem invisiblen Werk und den Literaten mit der volublen Zung, den Ak­ tionskünstler Franz Erhard Walther und den Kunstschriftstel­ ler Michael Grus, der in der >Frankfurter Rundschau! zur Leier griff, als Walther im Juni des Jahres 1999 die Ernte seines >Anderen oder Erweiterten Werkbegriffs< in die Scheuern des Darm­ städter Landesmuseums fuhr. Vor dreißig Jahren hatte der jetzige Professor an der Hamburger Hochschule für Bildende Künste mittels Stoffbahnen und mitwirkenden Laien iKörperhandlungen< und >Bewegungsräume< evoziert, heute stellt er die sorgfältig verpackten Materialien dieser Events, den, glaubt man Grus, in­ zwischen legendären 1. Werksatz! als >Raumarbeit< in der Mitte des Museumsraumes aus und umgibt sie mit den ä la mode ame­ rikanisch titulierten >Lissabon Configurationsi, laut Grus >kastenähnliche Elemente aus einheitlich gefärbtem Baumwollstoff! und einer >Darmstadt Configuration!, von welcher der Literat zu sa­ gen weiß: >... simuliert die eigens für die Ausstellung geschaffene iDarmstadt Configuration! durch ihre Geschlossenheit und die andersfarbigen Rahmenelemente den Eindruck eines traditionel­ len Bildkörpers. Die gut 3 mal 4,20 große Komposition schließt den Raum an der Stirnseite ab und wiederholt, nicht zuletzt durch die gewaltigen Ausmaße der leeren Binnenfläche, nochmals den

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eindringlichen Appell an das Publikum: Durch die Besinnung auf eigene Imaginationskraft die Arbeit des Künstlers zu vollendens«

Aufstöhnend lehnt sich der Alte zurück, wie leidend spricht er mit geschlossenen Augen weiter: »Wer nichts sieht, ist selber schuld. Weil das Herz des Betrachters nicht heiß genug schlägt, sagt Wackenroder; weil der Sinn des Betrachters nicht ehrerbietig genug ist, sagt Schopenhauer; weil die Imaginationskraft des Be­ trachters nicht genügend entwickelt ist, sagt Grus. Dem unsicht­ baren >Apellesstück< eines Visconti hatte der Fürstbischof noch heftig und mit Erfolg widersprochen, dem >Appell< der leeren Fläche eines Walther wagt nach zwei Jahrhunderten erfolgreicher Gehirnwäsche offenbar niemand mehr ins Wort zu fallen, jeden­ falls kann ich mich nicht erinnern, auch nur eine Gegenstimme gehört zu haben. Weil es sie nicht mehr gibt? Weil sie sich nicht mehr Gehör zu verschaffen weiß? Weil sie der Faxen müde ist? Müde wie die meine?« Langsam öffnet der Alte die Augen, unerwartet flink greift er zur Korbflasche, wiegt sie in der Hand und wirft sie enttäuscht von sich: »Finita la musica. Tja. Dann gibt’s eben nichts mehr. Dafür gibt es dich, Antonio. Was machen wir nur mit dir?! Du hast Pech — du bist begabt. Was macht man mit jemandem, der zeichnen kann? Noch vor hundert Jahren hätte es geheißen: Der Junge wird Künstler. Aber das ist ja heute schon jeder. Was wird aus Begabungen, die nicht mehr gebraucht werden? Was wurde aus Begabungen, die nie gebraucht wurden? Was haben die natu­ ral born kickers der Menschheitsgeschichte gemacht, bevor es den Fußball gab? Müßige Fragen, solange die eine noch nicht beant­ wortet ist: Was wird aus dir und deiner Begabung? Was aus jener bruchstückhaften Grammatik, die ich mir aus dem zerstreuten, geplünderten und verschleuderten Wortschatz der Techniken und Finessen früherer Zeiten habe zusammenreimen und dir weiter­ geben können, auf daß du sie weiterträgst? Statt >weitertragen< hätte ich auch >tradieren< sagen können, doch was für eine Tradi­ tion läßt sich auf jemanden wie dich schon gründen? Auf welchem Wege denn willst du die dir anvertraute Konterbande weitertra­ gen? Und schließlich: Ist da überhaupt noch jemand, der etwas

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mit ihr anzufangen wüßte? Fast heruntergebrannt die Kerze. Finis temporis. Untergang des Kunsttempels. Und in seinem dunk­ len Zentrum wir, zwei letzte Ratten, die den Absprung nicht rechtzeitig geschafft haben. Ist es das, was ich dir unterm Strich vermache: Mitgefangen, mitgehangen? Ist es das, Antonio? Ist das alles?« Wie ein Häufchen Elend der Alte, wie betäubt der Knabe. Wie entgeistert sodann, als sich sein Gegenüber urplötzlich strahlend erhebt und, den Leuchter mitsamt der letzten Kerze beiseite schiebend, den schweren Spiegel mit leichter Hand aus der Hal­ terung löst und bedeutend auf die dunkle rechteckige Öffnung zeigt, welche das Glas bis dahin verdeckt hatte: »Da geht’s lang, Antonio! Folge dieser Treppe! Wie jede gute Befestigung, die schon so manchen Sturm erlebt hat, besitzt auch der Tempel der Kunst naturgemäß einen Geheimgang. Er wird dich ins Freie führen, möglicherweise auch zu jenen Freien, von denen ich ge­ rüchteweise habe reden hören. Freistreunende Zeichner sollen in abgelegenen Landstrichen dabei sein, die von der hier und heute herrschenden Hochkunst verschmähten und auf den Kehricht geworfenen Kenntnisse, Techniken und Materialien früherer Künstlergenerationen zusammenzuklauben und so gut es geht für ihre nicht immer ganz durchsichtigen Zwecke zu nutzen. Angeb­ lich unter unverfänglichen Etikettierungen gehen sie ihrem we­ nig geachteten und kaum beachteten Gewerbe nach. Als Illustra­ toren, Cartoonisten, Comic- oder Witzezeichner bezeichnen sie sich selber; es heißt, kein noch so erweiterter Kunstbegriff habe sie bisher einfangen können. Will es wohl auch gar nicht, da die Genannten nicht nach Dauer und musealer Weihe zu streben scheinen, sondern sich wohlig in niederen Druckerzeugnissen flüchtigster Art suhlen. Desungeachtet, so habe ich läuten hören, sind sie seit geraumer Zeit dabei, den Schwierigkeitsgrad ihrer Arbeit in bezug auf Motiv und Darstellung stetig zu erhöhen, ja, es sollen sich bereits regelrechte Schulen gebildet haben. Viel­ leicht gibt es sie ja wirklich, diese seltsamen Freischärler, viel­ leicht existiert sogar er, der legendäre Commandante Bernstein, der mit seinen Dessinados im gehobenen Norden alles in Grund

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und Boden zeichnen soll, was sich bewegt beziehungsweise so lange nicht bewegt, wie ein Zeichner braucht, um es festzuhalten, und das kann, wie du weißt, Antonio, flink gehen, verdammt flink! Wage den Versuch, diese sagenhaften Gesellen zu finden, mein Junge, und laß dich, solltest du denn auf sie stoßen, nicht von ihrem fragwürdigen Auftreten abschreckenl Die Geschichte der Kunst gleicht dem Lauf eines jener Flüsse, die an der einen Stelle versickern, um an unerwartetem Ort ihren Fortgang zu nehmen. Vielgestaltig wie das Wasser weiß sie sich Bahn zu ver­ schaffen, durch dunkle Kanäle zieht sie unbeirrt, hat sie doch bisher immer wieder einen Weg ins Freie gefunden. Wer hätte am Ende der sinnenfrohen Antike sich auszumalen gewagt, daß aus­ gerechnet weltflüchtige Mönche einer körperfeindlichen Religion die vom Erlöschen bedrohte Fackel der sinnlichsten aller Künste aufgreifen und in den Skriptorien ihrer Klöster neu entfachen würden? Ist es da so gänzlich auszuschließen, daß diesmal jene Gaukler dazu ausersehen sind, das zage Flämmchen so lange zu hüten und weiterzutragen, bis kräftigere Arme neuen Brennstoff herbeigeschafft und mächtigere Lungen den matten Schein zu neuem Hochglanz aufgeblasen haben? Immer war die Kunst bei­ des: lebenspendendes Wasser und wärmendes Feuer. Den Kunst­ tempel können sie erstürmen, sorge du dafür, Antonio, daß sie nicht auch die Flamme ersticken und das Wasser abgraben. Zwei Bündel habe ich dir bereits geschnürt - hier im linken ist einiges, was du für die Kunst brauchen wirst, Materialien und Papiere; in diesem rechten befindet sich, was zum Überleben behilflich sein wird, Brot und Wein. Noch aber ist die Kerze nicht niederge­ brannt, noch bleibt mir Zeit, dir einen dritten Beutel zu packen, dessen Inhalt dich für Kunst und Leben stärken soll: einen Beutel

mit Büchern. Ja, Antonio, du hast richtig gehört! Ich, der in den letzten Stunden nicht müde wurde, die Literaten aller Couleur an­

zuprangern, gebe dir ausgerechnet Bücher mit auf den Weg! Wie ist das zu verstehen? Liegt da nicht ein verdammter Bruch in der Logik vor?« Schon will der Knabe zum Sprechen ansetzen, da bedeutet ihm der Alte mit einer Handbewegung zu schweigen. Bedachtsam er­

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hebt er den Leuchter, mit festem Schritt schleppt er sich zu einem kleinen Bücherregal. Viermal greift er zu, dann kehrt er mit seiner Ausbeute zum Tisch zurück: »Zeichne, Antonio, zeichne, habe ich dir oft und oft gesagt, jetzt sage ich dir: Lies, Antonio, lies. Von Dunkelmännern der Literatur habe ich dir viel erzählt; vier Lichtmänner will ich dir mit auf den Weg geben. Lies Georg Chri­ stoph Lichtenbergs >SudelbücherMenschen-Verstand ist eine herrliche Sache, allein das unbeholfenste unbrauchbarste Ding von der Welt wo man ihn nicht nötig hat. Wer sagt euch denn, daß ihr ihn brauchen sollt wenn ihr eine Ode lesen wollt?< Lichtenberg spricht von den dunkel rasenden Oden der Werther-Zeitgenossen, doch seine Diagnose läßt sich mühelos auf Werke des erweiterten Kunstbe­ griffs übertragen, zumal das Fazit seiner zwei Seiten langen Über­ legung. Die neuen Oden solle man gar nicht mit dem Maßstabe messen, mit welchem man die älteren eines Horaz oder eines Hagedorn mißt, sagt er und fahrt fort: >Sie gehören zu einer ganz

anderen Klasse von Kompositionen und sind das in der Poesie, was Jacob Böhms unsterbliche Werke in Prose sind, eine Art von Pickenick, wobei der Verfasser die Worte (den Schall) und der Leser den Sinn stellt. Will er nicht, oder kann er nicht, gut so läßt ers bleiben. Zu einem solchen Kränzgen finden sich immer Leute.< Ist das nicht hellsichtig gesehen und glänzend formuliert, Antonio? Legt das nicht jedem klaren Kopf nahe, sich von sol­ chen Kränzgen klüglich fernzuhalten? Lies den großen Aufklärer Georg Christoph Lichtenberg!« Der Alte versenkt den umfangreichen Band im Beutel, indes er mit der anderen Hand ein noch umfangreicheres Buch in die Luft reckt: »Lies in den Briefen des Theodor Fontane, Antonio, wenn dein Sinn Gefahr läuft, sich zu verdüstern angesichts einer Kunst­ welt, die dem nackten Kaiser überschwenglich huldigt und den adrett Gekleideten als altmodischen Narren verlacht! Lies den Brief, welchen Fontane am 3. November des Jahres i874geschrieben hat, hundert Jahre nach Lichtenbergs Diagnose und hundert

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Jahre bevor das Pickenick erst so richtig losging. Lerne von Fon­ tane, daß es nichts Neues unter der Kunstsonne gibt. Der Brief­ schreiber ist längere Zeit in Rom gewesen, jetzt zieht er in Neapel Bilanz: >In Kunstschwatz kann ich mich hier nicht ergehn. Nur so viel ganz allgemein, daß ich, bei der aufrichtigsten Bewunde­ rung vieler der sogenannten >großen NummernIch glaube ganz be­

stimmt, daß drei geistreiche Kerle einen vierten, wenn sie es nur eisern wollen, berühmt machen können, namentlich wenn der zu Feiernde dunkel und unverständlich ist.< Welch heller Kopf, die­ ser Fontane! Doch der Mensch lebt nicht vom Kopf allein, und die

Kunst war niemals allein eine Kopfangelegenheit. Was aber dann? Lassen wir noch einmal Fontane zu Wort kommen: >In meinem Gemüt steht es felsenfest, daß es in aller Kunst - wenn sie mehr sein will als Dekoration - doch schließlich auf etwas Seelisches, zu Herzen Gehendes ankommt, und daß alles, was mich nicht er­ hebt oder erschüttert oder erheitert oder gedanklich beschäftigt keinen Schuß Pulver wert ist.< Sapere aude, haben uns die Phi­ losophen gelehrt, wage zu wissen. Wage zu fühlen, lehrt uns der Künstler Fontane. Mach es wie er, Antonio: Gebrauch deinen Kopf und hör auf dein Herz. Erst dann wirst du auch für das dritte, das höchste Wagnis gewappnet sein. Lies, was Fontane dar­ über denkt und sagt: >Mögen andre anders darüber denken, ich denke so und habe mein gutes Recht dazu. Ich lasse mich von nie­ mandem mehr von dieser mir tief ins Herz geschriebenen Über­ zeugung abbringen, auch von den Berühmtesten nicht. Es ist un­

glaublich, wieviel Schwindel umgeht. So viel, daß alle Welt mit

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Fingern auf jenen zeigt, der es wagt, dies auszusprechen. Denn auch die Besten sind mehr oder weniger Großschwindelbewah­ rer und fühlen sich verletzt und bedroht, wenn jemand laut oder leise zu lachen wagt.< Folge Theodor Fontane, Antonio, wage zu lachen!« Lachend verstaut der Alte den dicken Briefband im Beutel, schmunzelnd zeigt er auf zwei Taschenbücher, zerlesen und ver­ gilbt das eine, neu und glänzend das andere. »Hier noch etwas Le­ sefutter für deine Wanderung, Antonio. Lichtenberg und Fontane sollen dir auf deinem Weg ins Ungewisse leuchten, die Autoren dieser beiden Bücher wollen dich während der einen oder ande­ ren Rast unterhalten und belustigen. Leonhard Frank heißt der eine, Maler wollte er werden, doch dann hat es nur zum Schrift­ steller gereicht. Vor dem Zweiten Weltkrieg war er ein vielgelese­ ner Autor, als er aus der Emigration zurückkehrte, hatte man ihn in Deutschland vergessen. Nach dem Kriege, in der romanhaften Autobiographie >Links wo das Herz istIm Winter 1908 nahm Michael an einer Sitzung teil, im Hinterzimmer einer Gastwirtschaft. An einem schmutzigen Biertisch saßen acht Maler, präsidiert von Kan­ dinsky. An jenem Abend wurde die Gruppe >Der Blaue Reiten ge­ gründet. Während die anderen über abstrakte Malerei diskutier­ ten, zeichnete Michael die Kellnerin. Kandinsky - er hatte einen Vollbart - hielt das für ungehörig und sagte es. Michael, der zwei Dinge gleichzeitig tun konnte, zeichnen und zuhören, empfand die Rüge als schullehrerhaft. Er lehnte sich zurück, nicht mehr in­ teressiert. Es ging ihm nicht in den Kopf, daß es auf der Welt ei­ nen Platz geben könnte, wo Zeichnen ungehörig wäre.< Schönen Dank, Herr Frank! Sehr aufschlußreich: Hier wird nicht gezeich­ net! Sehen Sö denn nicht, daß wir hier gerade eine Künstler­ gruppe gründen, Sö Flegel?!«

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. Prustend schließt der Alte das Taschenbuch, überlegt, dann blickt er stumm auf dem ganzen Tisch herum. Findet ein Blatt

Papier, rückt den Leuchter näher, studiert es im Schein der nun fast zur Gänze heruntergebrannten Kerze: »Und das, Antonio, ist die traurige Konsequenz des Gruppenabends am schmutzigen Biertisch damals in München: >Ich empfand schon sehr früh den Menschen als häßlichDas Tier schien mir

schöner, reiner. Aber auch an ihm entdeckte ich so viel Gefühls­ widriges und Häßliches, daß meine Darstellungen instinktiv, aus einem inneren Zwang immer schematischer, abstrakter wurden.< Immer schematischer... immer abstrakter... Gut gesagt, schlimm gedacht. So verendet am Münchener Biertisch, was in den Höhlen der Steinzeit begonnen hatte: Das flüchtige Tier als ständige Her­ ausforderung des feststehenden Menschen. Wo hat es eigentlich seine Knie, das Wildpferd? Daß er darauf keine Antwort wußte,

hatte einst Og-Og aus dem Kunsttempel vertrieben; daß Franz Marc die Frage für gegenstandslos erklärt hat, führt heute zur Stürmung dieser ehrwürdigen Bastion, immer reinspaziert, meine Herrschaften, hier wird keiner mehr mit Fragen dieser Art sekkiert —: Antonio! Lies Leonhard Frank, wenn du wissen willst, was das für Leute waren, die diese Fragen aus der Welt geschafft haben, ein für allemal...« Zögerndes Versenken des Taschenbuchs im Beutel, bedenk­ liches Flackern der Kerze, bekümmerter Blick des Alten auf das besorgte Gesicht des Knaben: »Antonio! Du glaubst doch hof­ fentlich deinem Lehrer nicht?! In der Kunst gibt es kein >ein für allemald Schreib dir das ein für allemal hinter die Löffel! Keine Macht vermag es, die Frage aus der Welt zu schaffen, wo eigent­ lich das Pferd seine Knie hat. Sie stellt sich jedesmal dann wieder neu, wenn irgendwo auf diesem gottverlassenen Planeten irgend­ ein abgefahrener Mensch sich aus irgendeinem verdammten Grund vor irgend so einem abgefuckten Blatt Papier fragt: Wo hat das Pferd eigentlich seine Knie?« Ein letztes Buch hält der Alte dem Knaben vor, kaum größer als die Hand, die es durch die Luft wedelt: »Der hier hat es nicht

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gewußt und wohl auch nie erfahren. Doch er hat den Mut beses­ sen, sein Unvermögen in einem sehr gelungenen Text mitzutei­ len: Lies Henry Millers Bericht über seine Erfahrungen als zeich­ nender und aquarellierender Dilettant, lies die Erzählung >Der Engel ist mein Wasserzeichens

>Ich schreibe diese Seiten, um über die Entstehung eines Mei­ sterwerkes zu berichten, hebt er an; hätte ich die Zeit, ich läse dir Wort für Wort vor, wie es weitergeht. Doch ich muß mich sputen, Antonio, muß raffen: Ein Aquarell will Henry Miller malen, eine Vorzeichnung soll den Anfang machen, und nach acht Seiten kann es auch schon losgehn: >Also, laßt uns beginnen. Das ist die Hauptsache. Beginnen wir mit einem Pferd... Ich fange natürlich mit dem leichtesten Teil des Tieres an - dem Hinterteil des Pfer­ des ... Kaum habe ich mit dem Rumpf begonnen, als ich auf ein­ mal bemerke, daß er zu länglich geraten ist. Achtung, du zeich­ nest ein Pferd - keine Leberwurst!< Köstlich, Antonio, ganz köstlich! Und es kommt noch besser, hör nur: >Aber jetzt erheben sich neue Schwierigkeiten. Es han­ delt sich um die Beine. Die Form eines Pferdebeines macht einem Kopfzerbrechen, wenn man sich nur auf sein Gedächtnis stützen kann.. .< Und nicht nur das Bein! Dem guten alten Henry wird al­ les am Pferd zum Problem: >Wahrend ich an den Beinen herum­ experimentiere, ist der Bauch aus der Form geraten. Ich drücke ihn, so gut ich es kann, wieder zurecht, bis er aussieht wie eine Hängematte.. .< Und so fortan: >Niemand, der nicht den Schädel eines Pferdes genau studiert hat, kann sich vorstellen, wie schwer er zu zeichnen ist. Es muß ein Kopf und kein Futterbeutel wer­ den —< Es wird kein Futterbeutel, Antonio, soviel sei schon jetzt verraten, aber auch kein Pferdekopf. Lies selber, wie es weiter­ geht, lies, wie Miller dreizehn Seiten später jene Konsequenz zieht, die schon immer des Dilettanten vorletzter Schluß gewesen ist: >Wenn man schon mit einem Pferd anfängt, so sollte man das Ding wenigstens als Pferd erhalten - oder es gänzlich beseitigen. Sobald man einmal mit der anatomischen Struktur des Tieres zu pfuschen anfangt< - ja, was macht man da? >Mit dickem, undurch­ sichtigem Grün und Indigo lösche ich das Pferd aus< — und auch

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das ist noch nicht das Ende vom Lied vom verpfuschten Pferd, das geht noch weitere zehn Seiten weiter, bis der Maler zu jenem

allerletzten Mittel greift, das Dilettanten aller Zeiten zuverlässig von all ihren Problemen befreit hat: >Dann habe ich plötzlich eine wirkliche Inspiration. Ich trage das Bild zum Ausguß, weiche es gründlich mit Wasser ein und schrubbe es dann mit der Nagel­ bürste -< Doch den Rest der Entstehungsgeschichte dieses naturgemäß unsichtbaren Kunst- und Meisterwerks mußt du schon selber lesen, Antonio! Lies Henry Miller, sollte dich jemals der Gedan­ ken anfechten: Scheiße, daß ich begabt bin.« Der Knabe will reden, der Alte wehrt ab, sich aufrichtend reicht er dem Knaben die drei Beutel. »Ich bin am Ende. Du stehst am Anfang. Laß dich umarmen, Antonio! Und nun: Leb wohl!« Ein fragender Blick des Knaben, ein lächelndes Kopfschütteln des Alten: »Nein, nein, Antonio! Was soll ich da draußen? Frag­ lich ist, ob ich überhaupt durch den engen Gang ins Freie gelan­ gen würde. Ziemlich sicher ist, daß ich zu alt bin, um noch in freier Wildbahn zu überleben. Ganz sicher ist jedoch, daß ich hier­ her gehöre. Gleich werden sie Arm in Arm in diesen Raum tre­ ten, Dilettant und Literat, unverzüglich werden mir diese Bilder­ stürmer von heute den Prozeß der Sieger machen. Ein letztes Mal werde ich mir ihre Anklagen anhören müssen - >platte Gegen­ ständlichkeit, trockene Bildchen, bemühter Fleiß, überkommene Sehgewohnheiten, akademisches Kleben am Modell, geistlose Nachahmung, ängstliche Naturtreue< - und ein letztes Mal« - der Alte rückt ein Reißbrett auf dem Zeichentisch zurecht, befestigt darauf ein feingeripptes, graublau getöntes Büttenpapier und legt drei bereits sorgsam gespitzte Kreiden in den Farben rot, schwarz und weiß daneben -: »Und ein letztes Mal werde ich mit den Herrschaften im Moment ihres Triumphs das machen, was Zorro auf seine Weise mit den Mächtigen und Anmaßenden seiner He­ misphäre zu tun pflegte: Ich, der letzte Zeichner, werde sie zeich­ nen, Antonio, zeichnen!«

Il ZU KÜNSTLERN

DIE TOLLEN STREICHE DER FLORENTINER RENAISSANCE-KÜNSTLER Im Jahre 1482 verläßt der dreißigjährige Leonardo da Vinci die Kunststadt Florenz, um fortan für Ludovico Sforza und seinen

Mailänder Hof tätig zu sein. Als Grund für diesen Wechsel nennt Leonardos Biograph, der englische Kunsthistoriker Kenneth Clark, die Unvereinbarkeit von Mensch und Stadt — Leonardo sei stets sorgfältig gekleidet gewesen, dabei zurückhaltend und ge­ heimnisvoll im Auftreten: »Ein solcher Charakter kam ihm im öffentlichen Leben von Florenz nicht zugute, mit den offenen Werkstätten, den harten sarkastischen Kritiken und den furcht­ baren Streichen, die in den zeitgenössischen Lebensbeschreibun­ gen der Künstler eine so große Rolle spielen.« Künstlerstreiche vertreiben Universalgenie - trifft diese Be­ hauptung wirklich zu? Welcher Art waren diese Florentiner Strei­ che denn wirklich? Waren sie wirklich so furchtbar? Und war Leonardo wirklich nur Opfer? Die Antwort findet sich in den Aufzeichnungen zeitgenössi­ scher Zeugen; im >Decamerone< des Dichters und Humanisten Giovanni Boccaccio (1313 -137 5), in den »Dreihundert Novellen* des Gesandten und Statthalters Franco Sacchetti (um 1330— 1400), in der »Geschichte vom dicken Holzschnitzer* des Mathe­ matikers und Architekten Antonio Manetti (1423-1497), vor allem aber in dem achtbändigen Standardwerk »Lebensläufe der berühmtesten Maler, Bildhauer und Architekten* des Malers und Architekten Giorgio Vasari (1511 -1574). Schreiten wir in Sachen Florentiner Künstlerstreiche zunächst zur Bestands- und Beweis­ aufnahme. »Die Toskaner sind alle Spaßvögel«, läßt Sacchetti einen Flo­ rentiner Kriminalrichter sagen, und an anderer Stelle befindet er selber, »daß es in allen großen Städten Spaßvögel gibt«. Nun war Florenz seit dem 13. Jahrhundert nicht nur die größte Stadt der Toskana, sondern eine der größten Europas - dementsprechend groß war die Zahl der dortigen »Spaßvögel« und »Possenreißer«,

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deren Hauptvergnügen darin bestanden zu haben scheint, ihre Mitmenschen in jeder nur denkbaren Hinsicht zu täuschen: >Der Apostel Giovanni, der den Frommen spielt, verschafft sich Einlaß in eine Einsiedelei und erfreut sich dort an drei Einsiedlerinnen< heißt eine der Erzählungen Sacchettis. >Man gibt Messer Dolcibene zum Hohn eine Katze zu essen.

Einige Zeit darauf setzt er denen, die ihm die Katze servierten, Mäuse vorDer Possenreißer Gonella verlangt von zwei Kaufleuten Geld, das ihm nicht zukommt< — und wenn es jemanden gab, der so etwas wie den Superlativ des toskanischen Spaßvogels dar­ stellte, dann war das der Florentiner Künstler. »Von jeher hat es unter den Malern sehr ungewöhnliche Menschen gegeben« — der­ art allgemein läßt Sacchetti eine Novelle beginnen, deren Held der legendäre Maler Buffalmacco (keine genauen Daten) ist, doch schon der erste Satz der Erzählung »Die Kunst der Frauen« stellt den Zusammenhang zwischen Kauz und Künstler unmißver­ ständlich her: »In der Stadt Florenz, die immer einen Überfluß an kuriosen Käuzen gehabt hat, lebten einst einige Maler« - ein Be­ fund, den jeder Florenzbesucher seufzend bestätigen kann, meist ohne zu ahnen, daß fast alle dieser ehrfurchtgebietenden Meister auch meisterhaft zu täuschen und zu narren verstanden. Das aber hatte unmittelbar mit ihrem Gewerbe zu tun. Ein Florentiner Leineweber oder Advokat konnte seinen Beruf und seine Berufung zur possenreißerischen Täuschung trennen, beim Florentiner Maler oder Bildhauer waren die Grenzen stets flie­ ßend, da bereits ihre Kunst das erklärte Ziel hatte, die Natur mit allen malerischen Mitteln und sämtlichen perspektivischen Tricks täuschend ähnlich nachzuahmen. Getäuscht werden sollte natürlich der Betrachter, als besonders kunstvoll aber galt die Täuschung eines Kollegen. Das gelingt be­ reits dem Ahnherrn aller Florentiner Künstler, Giotto (um 12701537), von dem Vasari erzählt, »Giotto habe als Knabe, als er noch bei Cimabue in der Lehre war, einmal einer Figur seines Meisters eine Fliege so natürlich auf die Nase gemalt, daß Gmabue, als er zurückkehrte und sich wieder an die Arbeit setzte« -

Giotto lacht

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die Pointe dieser Wanderlegende dürfte bekannt sein. Authenti­ scher klingt da schon, was Vasari von Brunelleschi (1577-1446)

und Donatello (1386—1466) zu berichten weiß: Letzterer hat ein Kruzifix vollendet, stolz zeigt er es dem Kollegen. Der, in Erwartung eines besonderen Meisterwerks, äußert enttäuscht, »es dünke ihn, er habe einen Bauern ans Kreuz genagelt« - und nicht einen Christus. Worauf Donatello mit der ältesten Künstler­ retourkutsche der Welt reagiert: »Nimm doch ein Stück Holz und versuche selber, einen Christus zu machen.« Brunelleschi tut dies denn auch in aller Heimlichkeit, bringt das Kruzifix »zu höchster Vollendung«, bittet Donatello zum Essen, kauft mit ihm auf dem alten Markt ein und fordert ihn gleisnerisch auf, doch schon mal mit den Lebensmitteln vorzugehen, er käme gleich nach: »Als nun Donatello das Haus betreten hatte, erblickte er das Kruzifix Filippos in guter Beleuchtung« - und ist so außer sich vor Stau­ nen, daß er die Hände öffnet: »Da fielen ihm die Eier, der Käse und alles andere zu Boden.« Auf Brunelleschis lachende Frage, was sie denn nun essen sollten, erwidert er: »Was mich betrifft, so habe ich heute schon meinen Teil gehabt« - kein furchtbarer, eher ein fruchtbarer Streich, da er Donatello zu einer derartigen Kunstfertigkeit in der Naturnachahmung antrieb, daß er selber die Grenzen zwischen Kunst und Leben nicht mehr wahrhaben mochte: Als er an der Figur des Propheten Habakuk arbeitete - sie steht heute am Campanile des Doms und wird im Volks­ mund Zuccone, Kürbiskopf, genannt - da schaute er ihn nach Vasaris Worten an, »und rief in einem fort zu ihm: >So sprich doch, sprich doch, sonst sollst du den Blutschiss bekommene« Die natürliche Zielscheibe der Florentiner Künstlerstreiche freilich waren nicht die Kollegen, sondern die Kunden, zumal die schlichteren Gemüts und aus einfacherem Stand. Wieder setzt Giotto Maßstäbe, und diesmal übernimmt Vasari ganz einfach eine Erzählung Sacchettis: >Giotto, dem großen Maler, wird von einem unbedeutenden Mann ein Schild gebracht, den er bemalen soll; er macht sich den Spaß, bemalt den Schild nach Vorschrift, doch so, daß jener in Verwirrung gerate Da hat sich offenbar je­ mand in der Werkstatt geirrt und in Giotto getäuscht, hält den für

Donatello staunt

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einen schlichten Gebrauchsmaler, stellt sich nicht vor, verlangt ohne weitere Angaben, daß der Meister sein Wappen male, und geht, nachdem er den Liefertermin festgelegt hat. Giotto, von Vasari als »sehr fröhlich« beschrieben, macht sich den Doppel­ sinn des Wortes »arene« zunutze und läßt einen Gehilfen kein »Wappen«, sondern »Waffen« auf das Schild malen, eine Sturm­ haube, ein Schwert, ein Schild und anderes. Der ge- und ent­ täuschte Kunde zieht vor Gericht, wird dort jedoch, da der Künst­ ler den Auftrag ja wortgetreu ausgeführt habe, zur Bezahlung des »Wappenschildes verdonnert - eine Eulenspiegelei, die vorweg­ nimmt, was allen anderen Florentiner Bürgern widerfährt, die sich mit ihren Künstlern anlegen. Als »den spasshaftesten aller Männer« bezeichnet Vasari den Maler Buonamico, Spitzname »Buffalmacco«, eine äußerst schwankende Gestalt der Kunstgeschichte — einige Fachleute be­ streiten seine Existenz, andere schreiben ihm die Fresken im Pisaner Camposanto zu. Dafür sind jede Menge Schwänke überlie­ fert: Ein Kunde schließt mit ihm einen Vertrag über ein 12 Ellen großes Christophorus-Wandbild ab, der Meister mißt die Kapelle aus und stellt fest, daß die nur neun Ellen hoch, breit und tief ist. Daher malt er den Heiligen liegend an eine der inneren Seiten­ wände, und da auch die nicht ausreicht, biegt er ihn ab den Knien um die Rückwand: Klage des Kunden, Freispruch des Malers, der vertragsgemäß bezahlt werden muß. Bürger ziehen vor Gericht, Künstler wissen sich anders, ele­ ganter zu helfen. Einer will eine Madonna nicht zahlen, die er sich auf seine Hauswand hat malen lassen? Buffalmacco nimmt »Far­ ben, die bloß mit Wasser und ohne Leim angemacht sind und ver­ wandelt das Kind in den Armen der Madonna in einen kleinen Bären.« Verzweifelt bittet der nunmehr zahlungswillige Kunde, die Verwandlung rückgängig zu machen, lachend streicht der Künstler das Geld ein und wischt den Bären mit einem nassen Schwamm ab. Andere Künstler setzen noch einen drauf: Ihnen gelingt es, krittelnde Kunden durch schieres Nichtstun zufriedenzustellen. Im Auftrag der Zunft der Leinenhändler verfertigt Donatello eine

Buffalmacco narrt



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Statue des Evangelisten Markus für die Fassade von Or San Mi­ chele. Den erhöhten Standort berücksichtigend war sie Vasari zu­ folge »mit solcher Überlegung geschaffen, daß sie in ihrer Voll­

kommenheit zu ebener Erde von Nichtkennern nicht erfasst werden konnte«. Schon wollen die Konsuln der Zunft das Werk ablehnen, da bittet Donatello darum, die Statue am vorgesehenen Platz abstellen und noch zwei Wochen lang bearbeiten zu dürfen. Er tut das erstere, verbirgt die Figur hinter einem Holzverschlag und unterläßt das zweite: »Vierzehn Tage hielt er sie verschlossen und enthüllte sie dann, ohne sie auch nur berührt zu haben, und erfüllte alle mit Erstaunen.« Etwa hundert Jahre später löst Michelangelo (1475-1564), der gerade die Statue seines >David< beendet hat, ein ähnliches Pro­ blem noch rascher und noch dreister, nämlich vor den Augen des Kunden. Piero Sodarini, Gonfaloniere der Stadt und Michelange­ los Auftraggeber, besucht den Künstler in der Werkstatt, lobt die Statue, bemängelt jedoch, die Nase sei zu dick. Der Meister steigt aufs Gerüst, greift sich einen Meißel und etwas Marmorstaub, klopft zum Schein und läßt dabei den Staub zu Boden rieseln: »Darauf schaute er zum Gonfaloniere hinunter, der ihm zusah, und sagte: >Betrachtet sie nun!< >Was mich anlangtso gefällt sie mir besser, Ihr habt ihr Leben gegeben!Iphigenie< in »Jamben übersetzt«, den >Tasso< sowie den >Egmont< vollendet, doch von alledem ist in Goethes Briefen und in der zwanzig Jahre später aus ihnen kompilierten sowie redigierten italienischen Reise< nur selten die Rede. Aus gutem Grund: »Daß ich zeichne und Kunst studire, hilft dem Dichtungsvermögen auf, statt es zu hindern, denn schreiben muß man nur wenig und zeichnen viel«, schreibt Goethe am 21. Dezember aus Rom. Und viel gezeichnet hat er, sehr viel. »Über 800 Blätter« habe er nach Weimar mitgebracht, vermerkt Boyle, was bei einer Reisedauer von rund 22 Monaten

einen Schnitt von 1,2 Blättern pro Tag bedeutet. Und all dieser Aufwand soll für die Katz gewesen sein? Als Goethe nach Rom kommt, weiß er um den Aufbau der Kunsthierarchie und seinen Platz in ihr. Oben walten die Künst­ ler, angeführt von den Meistern, darunter weben die Schüler, um­ geben vom Kreis der Dilettanten, Kenner und Zuschauer. Letz­ tere betrachten lediglich, der Dilettant schafft gleich dem Schüler und den Künstlern. Bemüht er sich darum, das Handwerk zu er­ lernen, kann er zum Liebhaber, zum Künstler, selbst zum Meister aufsteigen, lernt er nichts, sinkt er zum Pfuscher herab. Goethe ist von seinem angeborenen Zeichentalent ebenso überzeugt wie von der Tatsache, bisher nicht über den Dilettantenstatus hinausge­ kommen zu sein. Um Künstler werden zu können, braucht er einen Meister. Oder zwei. Oder viele: »Die Künstler belehren mich gerne«, schreibt er am 17. Februar 1787, »denn ich fasse ge­ schwind. Nun ist aber das Gefaßte nicht gleich geleistet... dazu gehört die Übung eines Lebens. Und doch soll der Liebhaber,

so schwach er auch nachstrebt, sich nicht abschrecken lassen...: >Ein kleiner Mann ist auch ein Mann.< Und damit wollen wir’s bewenden lassen.«

GOETHE UND EINIGE SEINER ZEICHENLEHRER

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Nein, das wollen wir nicht. Uns interessiert, weshalb der zu Be­ ginn seines Italienaufenthaltes noch als »Liebhaber« auftretende Goethe sich am Ende seiner Studienzeit als »Pfuscher« sah. Hatte sein Zeichentalent nicht ausgereicht? Hatten seine Zeichenlehrer versagt? So schwer sich Goethe anfangs mit der neuen Manier tut, er bleibt vorerst bei ihm bereits vertrauten Sujets, bei Landschaft und Architektur. Der Künstler Tischbein begleitet den Liebhaber, was so weit geht, daß er bei Goethes Zeichnung >Blick auf Rom vom Monte Pincio aus< das Blattwerk der rahmenden Bäume übernimmt, während der Adept sich mit der schwierigen Auf­ gabe abplagt, den von Michelangelo entworfenen Brunnen an­ schaulich zu machen: Über einem achteckigen Becken und auf

achteckigem Fuß erhebt sich eine runde Granitschale, in deren Mitte ein Wasserstrahl aus runder Kugel steigt, die unter Goethes Händen freilich zu einer Art rechteckiger Taschenflasche gewor­ den ist (Abb. i). Aber nicht nur dieses Detail, auch Räumlichkeit und Statik der Brunnenanlage wirken reichlich wacklig und nicht von Grund auf begriffen - hier hätte ein verantwortungsbewuß-

Abb. i: Gotth« ^eichntt mit Tutbbein

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ter Zeichenlehrer beim Schüler die Fundamente stereometrischen

und perspektivischen Sehens und Darstellens legen müssen, statt dem Blatt durch formelhaft Hotte Baumkronen den Anschein des Fertigen, gar Vollendeten zu geben. Aber war Tischbein über­ haupt der rechte Lehrer für Goethe? Nicht zum Landschafter, zu Höherem fühlte sich der Mentor berufen, zum Porträtisten und Historienmaler. So daß Goethe eigentlich von Glück sagen kann, als Tischbein einer lockenden Anstellung an der dortigen Kunstakademie wegen die geplante gemeinsame Sizilienreise bereits in Neapel abbricht und den Dichter mit dem Landschaftsmaler Christoph Heinrich Kniep be­ kannt macht. Der Liebhaber verpflichtet den Künstler als Doku­ mentaristen - Goethe kommt für die Reisekosten Knieps auf, dafür sollen ihm Knieps Reisezeichnungen gehören -, und für zwei Monate geht der Auftraggeber beim Angestellten in die Lehre. Knieps Spezialität sind betont breite Panoramalandschaf­ ten, sorgfältig eingekästelt, mit spitzem Bleistift konturiert und mit Sepia laviert - Goethe zeichnet den >Monte Pellegrino in Palermo < in der gleichen Manier, breitgestreckt, konturiert, Ton in Ton. Kniep beherrscht die Tricks und Kniffe der Aquarell­ malerei — je näher, desto brauner, je ferner, desto blauer — Goethe beherzigt Knieps Ratschläge und tuscht während der beiden ge­ meinsam verbrachten Monate die gelungensten, weil unpräten­ tiösesten Blätter seiner italienischen Reise. Wie Tischbein legt auch Kniep hin und wieder Hand an des Schülers Zeichnung, so bei der Darstellung der Vulkaninsel Stromboli. »Die verschie­ denen Segler hineinzuzeichnen, ist wohl Kniep zugefallen«, ver­ mutet Gerhard Femmel, der in zwanzigjähriger Sammeltätigkeit den >Corpus der Goethe-Zeichnungen< zusammengetragen hat (Abb. z.). Als »wahren Hoffegut« preist Goethe den unermüdlich zeich­ nenden Kniep; »so wie ich redlich den Treufreund fortspiele«, setzt er hinzu - der Frau von Stein aber kann der redliche Treu­ freund noch eine weitere erfreuliche Tatsache melden: »Die Zeichnungen, die mein Begleiter gemacht hat, sind soviel werth als ich für die Sicilianische Reise ausgegeben habe.«

GOETHE UND EINIGE SEINER ZEICHENLEHRER

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Abb. 2: Goethe zeichnet mit Kniep

In Neapel trennen sich die beiden; im Juni ist Goethe wieder in Rom und kann sich sogleich einem weiteren Lehrer und wirk­ lichen Meister anschließen, dem neapolitanischen Hofmaler Ja­ kob Philipp Hackert: »Herr Hackert hat mich gelobt und getadelt und mir weitergeholfen. Er tat mir halb im Scherz, halb im Ernst den Vorschlag, achtzehn Monate in Italien zu bleiben und mich nach guten Grundsätzen zu üben; nach dieser Zeit, versprach er mir, sollte ich Freude an meinen Arbeiten haben.« Nicht andert­ halb Jahre, ganze zwei Wochen lang zeichnet Goethe an der Seite des hochberühmten Landschafters die Wasserfälle und Ruinen von Tivoli, und er ist rundum zufrieden: »Er hat mich in vierzehn Tagen, die ich mit ihm auf dem Lande war, weiter gebracht, als ich in Jahren für mich würde vorgerückt sein.« Hochtönende Worte, die im Laufe des merkwürdigen Jahres 1787 zu regelrechten Fanfaren anschwellen werden. Entsprechen ihnen vergleichbar hochfliegende bildkünstlerische Taten? Leider nein: Während der Berichterstatter Goethe sich auf gutem, stets ansteigendem Kunstweg glaubt, läuft der Kunststudent fortwäh­ rend mehr in die Irre. Oder wird er irregeleitet? Der verehrte Hackert jedenfalls bringt den Verehrer nicht wei­ ter. Die Lehren des sehr achtbaren Malers beschränken sich auf bewährte Rezepte zum Verfertigen idealer Landschaften: »Nichts gefallt mehr, sowohl in der Natur als in Zeichnungen und Gemählden, als ein schöner Baum. Einige Felsen, Steine oder andere

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Bäume im Mittelgrund, und etwas Fernung macht eine schöne Landschaft, wo der Baum am ersten brillirt.« Eine »Man-nehme«- und »Probatum-est«-Einstellung, die bei Goethe fatalerweise auf fruchtbaren Boden fällt. Seit seinen An­ fängen war die Zeichnung für ihn nur selten Mittel, etwas über Natur und Welt in Erfahrung zu bringen, meist Selbstzweck: Das Blatt sollte in erster Linie Effekt machen und nicht so sehr vom Dargestellten als vom Darsteller künden. Es sei einer seiner Kar­ dinalfehler gewesen, räumt Goethe rückblickend ein, »daß ich nie soviel Zeit auf eine Arbeit oder ein Geschäft wenden mochte, als dazu erfordert wird. Da ich die Glückseligkeit genieße, sehr viel in kurzer Zeit denken und kombinieren zu können, so ist mir eine schrittweise Ausführung nojos und unerträglich.« Von Hackert darin bestärkt, vernachlässigt Goethe das Zeich­ nen nach der Natur zugunsten von Phantasielandschaften, auf de­ nen rahmende Bäume ebensowenig fehlen wie etwas Fernung. Bei der Ausführung hilft ein weiterer Hackert-Trick: »Drei Tinten ste­ hen, wenn er tuscht, immer bereit, und indem er von hinten her­ vorarbeitet und eine nach der anderen braucht, so entsteht ein Bild, man weiß nicht, woher es kommt.« Fortan verwendet auch Goe­ the immer wieder fertig angerührte Sepia-Tuschen verschiedener Helligkeitsgrade. Ein Know-how, das zügiges Arbeiten ermög­ licht und der Gefahr wehrt, die Ausführung könne nojos werden, nicht aber verhindern kann, daß Goethes Motive immer sche­ matischer und seine Blätter immer langweiliger werden (Abb. 3.).

Abb.): Goethe zeichnet nach Hackerts Ratschlägen

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Der Kunststudent freilich sieht das ganz anders: »Mein Haupt­ zweck ist, Landschaft zu zeichnen und meine Einbildungskraft zu bereichern und meinen Styl zu erweitern, zu reinigen, zu vergrö­ ßern.« So formuliert er es am 18. August. Fünf Tage später ist der Hauptzweck zur Nebensache degradiert und der hochgemute Schüler zum Kampf auf ganz anderem Terrain gerüstet: »Nun hat

mich zuletzt das A und O aller uns bekannten Dinge, die mensch­ liche Figur, angefaßt und ich sie, und ich sage: >Herr, ich lasse dich nicht, du segnest mich denn, und sollt’ ich mich lahm ringen.Urworte. Orphisch« organisch gewachsene Form für unzerstörbar erklärt? »Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt Geprägte Form, die lebend sich entwickelt« -

so dachte der Dichter im Jahre 1817, doch noch schreiben wir 1788, und da zerstückelt der Student angeleitet vom zwölf Jahre jüngeren Meyer menschliches Antlitz und menschlichen Körper, daß es eine Art hat. »Das Gesicht in seine Einzelteile zu zerglie­ dern, hat er bereits bei Lavater gelernt«, schreibt Petra Maysak in Reclams Prachtband >Johann Wolfgang Goethe - Zeichnun­ gen«, und sie zitiert den Zergliederer: »Ich habe all meine phy-

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siognomischen Kunststückchen wieder hervorgesucht, und sie kommen mir gut zupasse«; doch ihre Bildbeispiele - »Kopfstudien nach der Antike«, »Vier Kopfstudien im Profil« - lassen Goe­ thes Prinzipienreiterei, seinen Zerstückelungs- und Systematisie­ rungswahn nur erahnen. Dessen Abgründigkeit ermißt erst, wer sich in Femmels »Corpus der Goethe-Zeichnungen« vertieft und auf so hanebüchenes, unfreiwillig komisches Stückwerk stößt wie den Versuch einer Schematisierung des menschlichen Mundes, Von Nummer i bis Nummer 14, samt der Umsetzung der Num­ mern 8, 9, 13 und 14 in idealtypische Lippenprofile (Abb. 4, 5).

Abb. 4: Goethe schematisiert din menschlichen Mund

Abb. j: Göttinfiibrt ttin Scbttna aut

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Hackert hatte Goethe gelehrt, eine Ideallandschaft aus lauter schönen oder bedeutenden Einzelteilen zusammenzusetzen, nun redet ihm Meyer als Sprachrohr des klassizistischen Zeitgeists ein, beim Menschen auf die gleiche Weise zu verfahren. Und Goethe gehorcht blindlings. »Er hat mir zuerst die Augen über das De­ tail, über die Eigenschaften der einzelnen Formen aufgeschlos­ sen, hat mich in das eigentliche Machen initiiert«, schreibt der von Meyer völlig bezauberte Schüler. »Er spricht niemals mit mir, ohne daß ich alles aufschreiben möchte, was er sagt«, begeistert er sich, doch es ist ein unguter und pedantischer Zerstückelungs­ geist, der da von ihm Besitz ergriffen hat und mit dem er der Welt der Erscheinungen zu Leibe rückt. Auch seinem Frankfurter Landsmann, dem Maler Schütz: »Da nun Schütz wegen seiner hübschen Ohren bekannt war, ersuchte ich ihn, mir bei der Lampe zu sitzen, bis ich das vorzüglich gut gebildete, es war ohne Frage das rechte, sorgfältig abgezeichnet hätte.« Sechsmal hat sich Goethe an Schützens Ohren versucht (Abb. 6), kein einziges Mal scheint ihm die doch recht nahe­ liegende Idee gekommen zu sein, den ganzen Schütz abzubilden oder zumindest dessen unzerteilten Kopf. Von »unzähligen De-

Abb. 6: Goethe zeichnet das Ohr von Johann Georg Schütz

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tailskizzen zum menschlichen Körper« spricht Petra Maysak — auf

keinem überlieferten Blatt hat Goethe während seiner römischen Studien diesen Körper zur Gänze gezeichnet, nicht einmal als er sich der größten Herausforderung seines Lehrprogramms stellte: »Vorige Woche zeichnete man die Menschen wie sie Gott erschaf­ fen hat.« Wirklich? Zwei Männerakte in gewagten Verdrehungen hat Goethe aufs Papier zu werfen versucht, eine kniende und eine über sie hinwegschreitende Figur, zwei steife, unlebendige, ja lebensunfähige Gestalten, denen der Verzeichner zu allem Über­ fluß jenen Abschluß versagt, mit denen Gott sein Ebenbild beid­ seitig ausgestattet hat, die Hände (Abb. 7). Weil dieser »letzte Theil« noch nicht »absolvirt« war?

Abb. 7/ Goethe qticbnet die Menschen, »wie sie Gott erschaffen bat«

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Dabei waren gerade Hände für den Zeichner Goethe nichts Neues. Auf Ende 1786, also den Beginn der italienischen Reise, datiert Fetnmel der »weichen Materialien« wegen vier »Hand«Zeichnungen Goethes, die durch Lebendigkeit des Dargestellten

und Versiertheit der Darstellung verblüffen. Welche Frauenhand mag da Modell gelegen haben (Abb. 8)?

Abb. 8: Goethe ^eichnet die Hand einer Unbekannten

Mit Feder und Lavur absolviert Goethe Anfang 1788 das feh­ lende Teil, »in der Starrheit das Gips-Requisit des Künstlerateliers verratend«, wie Fetnmel anmerkt. Doch nicht nur die Starrheit jener Hände schmerzt den, der sich der Weichheit der früheren Handstudien erinnert, nicht nur die uninspirierte Wurstigkeit, mit welcher Goethe die Wurstfinger so rasch es eben geht zu Papier bringt (Abb. 9). Tiefer bewegt die langanhaltende Verblen­ dung, vor welcher selbst ein so erleuchteter Geist wie der Goethes nicht gefeit war. Vielleicht, weil Verblendung und Erleuchtung nicht immer zu unterscheiden sind? Glaubt man seiner »Italieni­ schen ReiseIch habe gestern eine Zeichnung gemacht. Ich

glaube, ich bin da auf etwas Neues gestoßen.Siehst du, ich habe dir ja gesagt, daß ich ein bißchen weitergegangen bin.. .Kreuzigung< des Joseph Beuys. Daß der ein »niederrheinischer Mystiker« gewesen sei, schreibt von Simson, jemand, der Christus nicht traditionell, sondern als »geheimnisvoll gegenwärtige Wirklichkeit« habe darstellen wollen: »Wir sollen das Erlösungsopfer nicht nur mit den Au-

FAZ, BEUYS, SCHMOCK

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gen erfassen, sondern mittels eines erweiterten Sinnenbewußt­ seins.« Was immer »Sinnenbewußtsein« bedeuten mag, bei von Simson muß es sich gut erweitert haben. Mit den Augen allein hätte er die folgenden Beobachtungen je­ denfalls nicht machen können: »Die beiden Flaschen haben eine eigentümliche Verwandlung durchgemacht... Auch aus der Nähe gesehen scheinen sie uns abgewandt, den Blick aufs Kreuz ge­ richtet wie jene monumental vereinfachten Rückenfiguren Giottos« - wer jemals den Blick einer Flasche auf sich ruhen fühlte, dem wird, sofern sich sein Sinnenbewußtsein auch nur ein biß­ chen erweitert hat, beim Anblick eines Flaschenrückens zwangs­ läufig Giotto einfallen. Bzw. ein Krankenhaus. Bzw. ein Barock­ dichter: »Die Flaschen sollen uns an Blutkonserven erinnern unwillkürlich denkt man an Paul Gerhardts >Oh, Haupt voll Blut und Wundem.« Man? Mich erinnern Flaschen immer an Getränke, und bei Trinkbarem fällt mir unwillkürlich Gottfried Kellers »Trink, oh Auge, was die Wimper hält« ein - aber von Simson sieht eben nicht nur, er schaut, ja manchmal erschauert er geradezu: »Das Ganze steht auf zwei weißverschmierten Balken, von denen jeder an der linken Seite (ist etwa an die Seitenwunde Christi gedacht?) einen deutlichen Einschnitt hat.« Ruhe dahinten! Ich dulde kein Gelächter während der Kunst­ betrachtung, Sö Rüpel! Von Simson, fahren Sö fort! Was will uns die >Kreuzigung< noch alles sagen? Kleine Hilfestellung. Achten Sö auch auf das Material! »Kreuz und Gekreuzigter sind aus Holz, greifbar im Sinne des >lignum vitae< der Liturgie...« Trefflich, von Simson! Und was machen die Nägel für uns? »Die oben und links unten herausragenden Nägel machen für uns das Leiden als physischen Schmerz spürbar.« Sehr gut! Aber, von Simson, wagen Sö sich auch an eine Deu­ tung des so augenfällig über dem Balken ragenden Drahtes, an dem eine Nadel hängt? »Man wagt sich nicht recht an die Deutung des so augenfällig

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über dem Balken ragenden Drahtes, an dem eine Nadel hängt. Immerhin: Beuys hat gelegentlich Christus als Erfinder der Elek­ trizität bezeichnet, also als >Erfinder< jenes Prinzips der Substanz­ umwandlung, die physikalisch in der Elektrizität geschieht. Na­ turwissenschaft war für Beuys auch ein theologisches Ereignis; so mag man sich fragen, ob jener Draht nicht ein maturwissen­ schaftlicher« Hinweis auf eucharistische Wandlung und Auferste­ hung ist.« Sö Lümmel! Nein, nein - ich meine nicht Sö, von Simson! Ich meine den Lümmel von der letzten Bank! Pfeiffer! Wieso feixen Sö denn dauernd zu den sehr, sehr wertvollen Ausführungen Ih­ res Klassenkameraden?! Wissen Sö denn eine tiefschürfendere Deutung der >Kreuzigung< anzubieten, Sö Flegel? - Also ich meine, daß Beuys uns mit seiner >Kreuzigung< sagen wollte, daß die Jünger Flaschen waren und sich auf dem Holzweg befanden. Und daß der Herr Jesus schwer auf Draht war und außerdem der erste Autofahrer Wieso denn solches, Pfeiffer? - Weil es doch in der Bibel heißt: Er predigte in einem Ford. Und außerdem hat Beuys noch deutlich auf den ersten Mord in der Menschheitsgeschichte angespielt — Wo denn, Pfeiffer! - Mit dem alten Kabel, das die beiden Holzstücke verbindet und das an das Brüderpaar Ain und Kabel erinnern soll. Und außerdem hat Beuys Pfeiffer!! - hat Beuys bei den links eingeschnittenen Balken ganz sicher an den Heiland gedacht, weil Heiwasser doch keine Balken hat und — Schweigen Sö, Sö Nichtsnutz!!! Ja, schweigen wir. Aber auch von Simson sollte fürderhin ganz still sein. Denn wenn uns in diesen klebrigen Zeiten eines noch gefehlt hat, dann die Verbindung von Schmock und Schmerz, Fla­ sche und Masche, Beuys und Bibelarbeit.

ES IST EIN HAS’ ENTSPRUNGEN Eine Mystifikation Das Paradoxon, daß ein Kunstwerk je ferner zurückblickt, je näher wir es betrachten, gilt insbesondere für die Arbeit von

Joseph Beuys. Doch auch Zurücktreten hilft nicht weiter, da in seinem Fall Übersicht nicht Übersichtlichkeit zur Folge hat, viel­

mehr geradezu schmerzhaft vor Augen führt, wie sehr sich sein Werk, das sein Schöpfer stets als in Bewegung begriffen verstan­ den hat, dem feststellenden Blick, dem Wort gar, immer noch ent­ zieht. Dennoch soll, ja muß von Beuys geredet werden, auch und gerade in diesen Weihnachtstagen. Denn so verstörend »das Phänomen Beuys« acht Jahre nach seinem Tode noch immer anmuten mag, so unumstritten ist mitt­ lerweile eine sein Werk durchgehend prägende Dimension, die religiöse. >Sonnenkreuz< ist eine sehr frühe Plastik von 1947 be­

titelt, »Kreuz und Zeichen. Religiöse Grundlagen im Werk von Joseph Beuys< stellte das Aachener Suermondt-Ludwig-Museum 1985 in einer der letzten Ausstellungen zu Lebzeiten des »nieder­ rheinischen Mystikers« vor; dazwischen freilich liegen ein Le­ bensweg und eine Werkfolge, die alles andere als gradlinig ver­ laufen sind. Derselbe Künstler, der zu Beginn noch den leidenden Christus in Bronze dargestellt hatte, stellte ihn 1971 selber dar, als er während seiner Basler Aktion >Celtic< sieben Personen die Füße wusch. Beuys selber freilich mochte darin keine Imitatio Christi se­ hen: »Also nicht, daß ich die Rolle des Christus übernehme, son­ dern die Rolle des Menschen als einem, der diese Kraft hat.« Fra­ gen wir also, wie für Beuys diese Kraft beschaffen ist, die den Menschen mit Christus verbindet. Erschöpft sie sich in der beiden gemeinsamen Passion - man denke an jenes berühmte Foto Her­ bert Riebesehls, auf welchem der geschlagene, aus der Nase blu­ tende Künstler beim Aachener Fluxus-Happening von 1964 dem »wahnsinnigen Gekreisch« der Zuschauer ein Kruzifix entgegen­ reckt —? Oder verbirgt sich im religiösen Werk des Joseph Beuys

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auch eine frohe Botschaft? Wer das herausfinden will, der darf dieses Werk nicht aus gelassener Distanz betrachten, er muß sich darin hakenschlagend bewegen. Und welcher Beuyssche Bote könnte ihn dabei wendiger durch die Bildwelt seines Schöpfers geleiten als der Hase? Im Jahre 1963 taucht der Hase erstmals auf, als Herzstück der

ersten Beuysschen Aktion iSibirische Symphonie 1. Satze »Den gekreuzigten Hasen« nennt ihn Uwe M. Schneede, und diesmal widerspricht Beuys nicht: »In der Aktionszeit tritt das Christliche ja ganz zentral auf. Schon in der ersten Aktion tritt es auf.« »Als Christus?« wird er gefragt, und Beuys bejaht. Noch also gleicht der Hase Mensch und Heiland dadurch, daß auch er Opfer ist, doch in der Aktion von 1965, >Wie man dem toten Hasen die Bil­ der erklärt«, scheiden sich die Geister bereits: Da nimmt Beuys

> Ufie man dem toten Hasen die Bilder erklärt,

ES IST EIN HAS’ ENTSPRUNGEN

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eine »ikonographisch eindeutige Position - die der Pietä - ein«,

da führt er das tote Tier deshalb vor die Bilder, weil es dem leben­ den Menschen überlegen ist: »Der Hase weiß vermutlich besser als der Mensch, daß Richtungen wichtiger sind.« Und in welche Richtung läuft dieser Hase? Schon 1949 hatte Beuys aus einer Zigarrenkiste und Kitt das Objekt >Christus in der Dose< verfertigt, ein Titel, der unüberhör­ bar das Kinderlied vom »Häschen in der Grube« paraphrasiert, doch erst seit den sechziger Jahren häufen sich Parallel-, wenn nicht Gleichsetzungen von Hase und Heiland. >Der Unbesieg­ bar heißt ein Figurenensemble von 1963, in welchem ein Blei­ soldat auf die Plastik eines Hasen anlegt — 1979 sollte Beuys die­ ses Motiv für den Europa-Wahlkampf der Grünen zur Verfü­ gung stellen —: Wer dächte da nicht an den Triumphator Christus, die notwendige und alle Not wendende Gegenfigur zum Opfer Jesus?

Wie man dem lebenden Hasen den Krieg erklärt:

/Der Unbesiegbare/, tf6j

Beide Bedeutungen aber vereinen sich in der Aktion >Eurasia< von 1966. Wieder steht ein Hase im Mittelpunkt, doch diesmal

verharrt der Künstler nicht als Pietä, er bewegt das an Stangen

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gebundene, tote Tier. Jesus war für Beuys »Der Erfinder der Dampfmaschine« — so bezeichnete er ihn handschriftlich auf einer italienischen Devotionalienpostkarte nun setzt er selber den Hasen unter Dampf: »Der Hase ist wie ein Geschoß, ein Überbrückungszeichen durch Bewegung, der Aktion, die den

starren Kunstbegriff ändert und sogar mit der Berliner Mauer fer­ tig wird... Wenn ich mit einem Tier agiere, ist es so, als wenn ich mit einem Gott reden würde.« Dem Hasenträger Beuys aber er­ geht es so wie dem legendären Christusträger Christophoros, der unter der Last des Kindes zusammenzubrechen drohte: »Es ist folgerichtig, daß der Schweiß in Strömen von Beuys herunter­ rinnt, daß er wie ein Mensch in höchster Pein schaut«, schreibt Troels Andersen, ein Augenzeuge der Aktion. Nochmals Passion also — wo aber bleibt die große Freude, die allem Volke widerfah­ ren wird? Wo die Geburt? Wo der Neubeginn? Selbst ein so besonnener Beuys-Deuter wie Wouter Kotte schießt über das Ziel hinaus, wenn er im Beuysschen Hasen »das

Transsubstantiationsprinzip« und somit »die ewige Wiederkehr« zu entdecken glaubt: »Wenn der Hase sich eingräbt, wird er so­ zusagen eins mit der Erde. Er will in Erde aufgehen, das heißt von Hasen-Substanz in Erd-Substanz übergehen ... Wenn der Hase sich von seinem Erdlager löst, inkarniert er sich wieder in der Hasen-Substanz.« Das klänge plausibel, grübe der Hase sich ein. Das aber tut er im Gegensatz zum Kaninchen keineswegs, und Beuys, der Kriegskamerad, Friedensfreund und gelegentliche Mitarbeiter des bekannten Tierfilmers Heinz Sielmann, wußte dies natürlich am besten. Auch hieße es, das Beuyssche Hasenbild unzulässig zu verengen, wollte man auf die Wiedergeburt reduzieren, was doch, ebenso wie der Künstler, als Inbild eines erweiterten Kunstbe­ griffs nach steter Erneuerung strebt. Wo aber wäre das verbor­ gene Ziel dieser Bewegung zu orten? Beuys, der sich seinem holländischen Gesprächspartner Pieter Heynen 1980 noch mit den kryptischen Worten »Ik ben de haas« vorgestellt hatte, wird 1982 ungewöhnlich deutlich, als er zu einem sehr unerwarteten Zeitpunkt »allem Volk«, also öffentlich

ES IST EIN HAS’ ENTSPRUNGEN

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seine sehr persönliche frohe Botschaft verkündet, bezeichnender­ weise nicht in Worten, sondern durch eine Tat. »Eine Nachbildung der Krone von Iwan dem Schrecklichen wird von Beuys vor dem Museum Fridericianum in ein Friedens­ symbol, Friedenshase mit Zubehör, umgeschmolzen«, verzeich­ net die >Beuys-Chronik< Götz Adrianis für den 30. Juni - und das nun ist ein ganz und gar weihnachtlicher Vorgang: Vor der Sonne des Friedens schmelzen die Reiche dieser Welt mitsamt ihren materiellen Machtinsignien dahin und werden zugleich im spiri­ tuellen Werk einer erweiterten Kunst in der doppelten Bedeutung des Wortes »aufgehoben«. Fragt sich nur, warum Beuys diese Ak­ tion nicht am Weihnachtstag selbst durchgeführt hat, sondern zu einem Zeitpunkt, der die denkbar größte zeitliche Distanz zum 24. 12. markiert. Da im Werk dieses Künstlers nichts zufällig ist, liegt die Antwort auf der Hand: Wem es mit dem Frieden auf Er­ den ernst ist, lehrt Beuys, der wird jeden Tag des Jahres zu einem Fest des Friedens machen müssen. Sein Hase steht, besser: läuft, also für nichts Geringeres als für einen radikal erweiterten Weih­ nachtsbegriff.

III VOR BILDERN

DEIN MUSEUM AM MAIN Wann immer ich wo auch immer ein mir noch unbekanntes Kunstmuseum betrete, stets tue ich das mit einem Gefühl der Spannung und des Staunens: Was mag mich da alles erwarten? Und: Daß das da alles auf mich wartet! Kunstmuseen nämlich zählen zu den ganz raren Orten auf die­ ser Welt, an denen man den Glauben an die Menschheit gewinnen bzw. wiederfinden kann: Entgegen jeder Wahrscheinlichkeit sind im Laufe der Jahrhunderte gut und gern 95 % aller wirklich wich­

tigen Bilder nicht in Privatsammlungen gelandet - sei es in Villen oder in Datschen -, sondern in jedermann zugänglichen Gebäu­ den, wo sie gegen wenig Geld betrachtet werden können und mit viel Aufwand für alle Zeiten gehegt und beherbergt werden müs­ sen. Wer ein Museum stiftet, gründet oder sonstwie veranlaßt, handelt wie jemand, der eine Katze schenkt: Er spendet rasche Freude und delegiert langanhaltende Verantwortung. Nur, daß eine Katze keine 172 Jahre alt wird. Der Gründer des Städelschen Kunstinstituts, sprich: des Städel, hieß Johann Friedrich Städel. 1817 legte er der Frankfurter Bürgerschaft das goldene Kuckucksei ins Nest: seine Sammlung, sein Haus, sein Vermögen sowie detaillierte Angaben darüber, wie mit dieser Stiftung zu verfahren sei. Heute besitzt das Städel rund 2000 Bilder, von denen etwa 650 ständig gezeigt werden. Aber werden sie auch gesehen? Dr. Klaus Gallwitz, der seit 1974 amtierende Direktor des Mu­ seums, meint, das Städel sei eine Bildungsstätte, die der Durch­ schnittsfrankfurter nur einmal in seinem Leben besuche: als Kind, bestenfalls als Jugendlicher. Als Erwachsener drängelt er dann wohl lieber zur heißesten Sommerszeit durch die überfüllten Florentiner Uffizien, als daß er durch sein fast allzeit stilles und selten überlaufenes Museum am Main schritte - die Uffizien gel­ ten schließlich als Museum, das man gesehen haben muß. Dabei besitzt das Städel eine weit umfassendere und besser bestückte Sammlung als die Uffizien — wenn man von diesen ganzen Italie-

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VOR BILDERN

nern einmal absieht. Italiener hat es zwar auch, aber eben nicht nur. Außerdem gibt es im Städel Flamen, Altdeutsche, Holländer, Franzosen, Spanier und Frankfurter aus sieben Jahrhunderten zu

sehen, derart berühmte und dermaßen gute, daß die Uffizien bei solch einem Breitenvergleich eigentlich beschämt ihr Haupt sen­ ken müßten. Aber sehr beschämt. Ein Gemeinwesen, das sich trotz der erwähnten Zurückhal­ tung der Bürgerschaft den Luxus einer ständigen Bildersamm­ lung leistet, muß gute Gründe dafür haben, in seinen Anstren­ gungen und Ausgaben nicht nachzulassen. Einer dieser guten Gründe bin ich. Ein sehr guter Grund, vielleicht sogar einer der besten: Irgendwann in den joern ging ich das erste Mal durch das Städel, und als ich 1964 nach Frankfurt übersiedelte, ging das so weiter: Kein Jahr ohne zwei, drei, viele Städelbesuche, aus keinem anderen Grunde als dem: Weil ich mich immer wieder begeistern, weil ich mich immer wieder wundern und weil ich mich immer wieder ärgern wollte. Mich, und nach Möglichkeit auch andere: Gerne gehe ich in Begleitung durchs Museum — geteilte Freude ist schließlich doppelte Freude -, und herzlich gern bin ich der Auf­ forderung gefolgt, Freude, Staunen und Ärger dadurch zu ver-

dreißigtausendfachen, daß ich meine bisher nur mündlich ver­ breiteten Vorlieben und bösen Nachreden schriftlich kundtue, so sachlich wie nötig und so persönlich wie möglich: Licht aus, Spot an auf fünfzehn Städelgemälde meiner Wahl, auf meine fünf be­ geisterndsten, auf meine fünf verwunderlichsten und meine fünf ärgerlichsten. Fünfmal Begeisterung Je länger ich mir Bilder ansehe, desto abgeklärter nehme ich zur Kenntnis, daß ich mit meinen Vorlieben nicht allein dastehe: Zwei der unbezahlbarsten, meistreproduzierten und höchstgepriese­ nen Gemälde des Städel gehören auch zu den mir teuersten, zwei Kraftquellen, Höhepunkte und Augenweiden allerersten Ranges. Jan van Eycks sogenannte >Lucca-Madonna< und Jan Vermeers >GeographVenedig von San Giorgio Maggiore aus gesehen< von Antonio Canaletto ist das Werk eines Viel­ malers, der Rokoko-Touristen mit dem belieferte, was auch heu­ tige Venedig-Touristen am liebsten nach Hause tragen: Venedig, Venedig, Venedig. Nur daß die Venedig-Maler von damals noch malen konnten, und zwar mit Haken und Ösen. Nicht nur die to­ pographisch genaue Architektur ihrer Stadt, sondern auch Leute, Schiffe und Wasser, stets unter Zuhilfenahme sämtlicher zeitspa­ render Tricks und dank vielfältigster special effects alles derart in Luft getaucht und in Licht gebadet, daß ich vor so viel Bravour achselzuckend auf all das verzichte, was mir Bilder sonst lieb und teuer machen: Geheimnis und Gelassenheit. Wenig von alldem freilich auch bei Favorit Nummer 4, bei der >Croquetpartie< von Edouard Manet. Jedenfalls auf den ersten Blick: Da bemüht sich eine fast unziemlich beleibte Matrone, eine Holzkugel zu treffen, indes ein nicht näher erkennbares Paar im Vordergrund zu- und ein unidentifizierbarer Herr im Hinter­ grund wegschaut. Ein hochnormales Sujet, ein zutiefst rätselhaf­ tes Bild: Wie schafft es der Maler, diesem belanglosen Vorgang einen derartigen Glanz zu verleihen? Durch die Malerei selbst-

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redend - doch was heißt schon »Malerei«? In unmittelbarer Nähe

des Manet hängen zwei thematisch einigermaßen verwandte Bil­ der aus dem bürgerlichen Heldenleben, eine >Frühstücksszene im Zimmer< von Monet und eine >Frühstücksszene im Freiem von Renoir. Achtbare Werke, jedes für sich genommen und gesehen, neben dem Manet aber gänzlich deplaziert. Augenblicklich treten die Unterschiede zutage: Monet streicht, Renoir stupft und tupft, Manet malt. Deswegen nimmt auch nur er seinen Protagonisten jene Erdenschwere und Zeitverfallenheit, die mir vor den Nach­ barbildern das Gefühl geben, selber schwer und leer zu sein. Der letzte der Favoriten schließlich: >Rebhuhn mit Birnei des Franzosen Jean-Baptiste-Simeon Chardin. Ein wunderschönes, hier ebenso engagiert wie didaktisch plaziertes Bild, zeigt es doch den ersten von drei toten Vögeln, die sich nicht zufällig durch all meine selbstgeschaffenen Abteilungen ziehen. Das Städel näm­ lich kann mit einer Vielzahl von toten Vögeln aufwarten. Ich kam bei einer flüchtigen Zählung auf 15 Stück. Wer bietet mehr?

Schöner toter Vopel: ¡Rebhuhn mit Birnee von Jean-Baptiste-Simeon Chardin

DEIN MUSEUM AM MAIN

B?

Fünfmal Verwunderung Schon mal was von Lucas van Valckenborch gehört, geboren 1535 in Löwen, gestorben 1597 in Frankfurt/M.? Mir wäre er wahr­ scheinlich bis heute ebenfalls unbekannt geblieben, hätte mir nicht ein alter Wärter bereits bei meinem ersten Städel-Besuch zu verstehen gegeben, daß er mir etwas, hum, hum, Dolles zeigen könne. Bitte, gern. Wo denn? Hier — der Wärter deutete auf Valckenborchs >Winterlandschaft

bei Antwerpen mit Schneefall< - Da! Und da, im linken Bildeck, lag doch tatsächlich ein Scheiß­ haufen im Schnee, und hinter dem Baum stand doch tatsächlich

der Scheißer. Bei keinem der vielen späteren Besuche hat mich je wieder ein Wärter auf den Haufen aufmerksam gemacht, gerne, reiche ich die Fackel des ersten weiter; zumal Valckenborch im Städel nicht nur mit der auch sonst reichlich ruppigen Schnee­ landschaft vertreten ist, sondern auch mit einer sehr schönen >Ansicht von LinzTanz der Rat­ tern, seufzte der: »Doch das geht nicht. Die Frankfurter lieben dieses Bild.« Recht haben die Frankfurter. Die aufrecht schreitenden Tanz­ ratten eines unbekannten Niederländers sind schön eklig und immer für ein Huch! des unvorbereiteten Besuchers gut. Auch sind sie leicht zu finden: Der vorbereitete Besucher muß den unvorbereiteten lediglich ins Kabinett 11 führen — Treppe ganz rauf, linke Tür, rechte Wand: Huch! (Und dem ersten, der mir verbindlich mitteilen kann, welchem Tier der merkwürdige Kopf im Hintergrund zuzuordnen ist, dem zeichne ich eine HuchlRatte.) Tiere auch auf Bild drei meiner Verwunderungsliste, dem >Paradiesgärtlein< eines oberrheinischen Meisters von 1410. Ein Bild für den ganzen Stadtrat: Die Christdemokraten er­ freut der christliche Gehalt, die Sozialdemokraten begrüßen das tätige Treiben all der Heiligen — Obstpflücken, Kindererziehen

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Lieber toter Drache:

»Das Paradiesgärtlein< von einem oberrheinischen Meister, um 1410

und Wasserschöpfen - und die Grünen begeistern sich für Arten­ vielfalt und das garantierte Ungespritztsein des dargestellten Ob­ stes. Mein Lieblingsdetail dieses ganz und gar bezaubernden Bil­ des liegt rechts unten im Gras: Detlev, der dürftigste Drache der

abendländischen Kunstgeschichte, so groß wie ein Dackel und so tot wie bemitleidenswert: So was mußte also seinerzeit Prinzes­ sinnen entführen! Und dafür, daß man so etwas Niedliches nie­ dermachte, wurde man als Georg - riesengroße sitzende Gestalt über dem Drachen - auch noch heiliggesprochen! In früheren Jahrhunderten pflegten Museumsführer empfind­ same Gemüter vor bestimmten Bildern zu warnen - >Die Blen­ dung Simsons« von Rembrandt kann auch dem nicht ganz ab­ gebrühten Besucher von heute an die Nieren gehen. Ihm zur Seite aber hängt eines der stillsten und verwunderlichsten Bilder des Städel, das >Interieur< des Holländers Pieter Elinga Janssen. Jedes­ mal, wenn ich davorstehe, begeistern mich die subtil inszenierten Schatten ebenso, wie mich die unverzeihlich rohen Lichtflecke auf

DEIN MUSEUM AM MAIN

B?

Boden und Wand erstaunen, vom anfängerhaft aufdringlich hin­ gestrichenen Gold des Spiegelrahmens ganz zu schweigen. Was ist da passiert? Ich lese, 1971 habe man das Bild restauriert, dabei erst sei die fegende Magd im Vordergrund freigelegt worden, unter Über­ malungen des 19. Jahrhunderts, welche das Bild in ein Werk des hochgeschätzten und gutbezahlten Pieter de Hooch verwandeln sollten. Ist dieser Übermaler auch für die erwähnten Stümpereien

verantwortlich? Ob es sich lohnt, mal nachzusehen, wie es dar­ unter ausschaut? Frankfurt kann sich nicht rühmen, die Wiege allzu vieler Ma­ ler gewesen zu sein - neben dem berühmtesten, Adam Elsheimer, fällt mir auf die Schnelle lediglich Abraham Mignon ein, ebenfalls ein Künstler aus dem 17. Jahrhundert. Doch nicht des­ wegen taucht sein >Totes Geflügeh auf meiner Liste auf, sondern weil der Kleinmeister ganz groß darin ist, dank geduldiger An­ schauung und gründlichem Können derart überrealistische Bilder zu malen, daß es bereits ein sinnliches Vergnügen bereitet, dem Verlauf jenes schlichten Bindfadens zu folgen, an welchem das Federvieh aufgehängt ist, vom geradezu taktilen Reiz, den das Betrachten all der Flaum- und Schwungfedern bereitet, ganz zu schweigen. Fünfmal Arger Johann Heinrich Roos war ein Zeitgenosse Mignons, er zählt zu den raren Malern, die in Frankfurt gestorben sind. Noch Goethe rühmte Roos für seine Spezialität: Weidevieh in allen Lebens­ lagen. Mit dem Ölgemälde >Angebliches Selbstbildnis des Künst­

lers und seiner Frau mit Symbolen des christlichen Glaubens< hat er sich trotz einiger ansprechender Schafe im Vordergrund gründlich übernommen: Das ranzige Paar, das da hinter einem riesigen Lebkuchenherz auf ein strahlendes Backwerk schaut, entlockt nicht einmal ein Huch!, bestenfalls ein Auweia! (Wun­ derschön dagegen ein unweit hängendes Werk des gleichen Roos, >An der FurtWeibliche Brustbild« und nicht die >Maiia mit dem Kind

und dem Johannesknaben< abgebildet, eine triste, kalte, unsinn­ liche Arbeit, der man anmerkt, daß Meister Sandro beim Malen dauernd auf die Sanduhr geschaut hat: »Das muß morgen noch raus! Die Brüder vom Schmerzenden Kreuz« - oder wer sonst im­

mer der Auftraggeber war - »steigen mir sonst aufs Dach!« Wenn etwas in der Malerei unentschuldbar ist, dann Lieblosigkeit - ich empfehle einen Vergleich der billigen Botticelli-Perlen (auf dem Buch der Muttergottes) mit den einzigartigen Eyck-Perlen (am Mantelsaum der Muttergottes.) Verblasenheit freilich fällt als Malervergehen nur wenig leich­

ter ins Gewicht, und Verblasen war und ist der Franzose Odilon Redon immer dann, wenn er nicht schwarz-weiß, sondern farbig arbeitet, wenn er statt auf gute Bilderfindungen auf große The­ men setzt und wenn er das Geheimnisvolle durch Geheimnistue­ rei ersetzt: Wenn seine verwaschene Phantasie >Christus und die Samariterin< große Kunst ist, dann war Rudolf Steiner ebenfalls ein großer bildender Künstler.

Schlimm wirkt sich auch Unvermögen auf Bilder aus, und Ernst Ludwig Kirchner war in den zwanziger Jahren bereits zu kraftlos, um noch vor seinem eigenen Frühwerk bestehen zu kön­ nen. Sein >Bildnis Dr. Carl Hagemann«, fast eine Parodie auf einen ebenso hilflosen wie anmaßenden Modernismus, hat das Unglück, neben einem Kirchner zu hängen, der viele Qualitäten der Moderne vorführt: Nervosität, Subjektivität und Radikalität ich meine sein Bild >Die Schwestern«. Carl Hagemann sei ein För­

derer Kirchners und ein Wohltäter des Städel gewesen, höre ich. Die Hängung des Porträts stellt eine Geste der Dankbarkeit dar, vermute ich. Sie ist, fürchte ich, geeignet, das Andenken beider zu beeinträchtigen, das des Malers und das des Gemalten. Ein Bild steht noch aus, ein letztes Mal soll es ein Vogel sein. Die Anfänge des Georg Baselitz in den 6oern waren eigenwillig, fesselnd und - das Wort stammt vom Künstler selber - marode: Sein >Kopf< im Treppenhaus des Städel legt davon Zeugnis ab. Seit der Maler Anfang der 70er damit begann, seine Motive auf

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Verhauener Wohltäter.

>Bildnis Dr. Carl Hagemann< von Emst Ludwig Kirchner

den Kopf zu stellen, sind seine Bilder immer erfolgreicher und teurer geworden; seinem Werk der 8oer kann man monumentale Einfachheit oder schlichte Unbedarftheit nachsagen — man rate, wofür ich mich entschließen würde. An einem einzigen Tag, dem 15. Januar 1982, malte Baselitz den ganzen großen >AdlerAdler< von Georg Baselit^

»Und was soll Georg detzt malen?« »Mal doch noch einen Gackgack!« »Au jal« Ende der Führung, meine Herrschaften — wenn Sie sich jetzt zum Ausgang bemühen könnten, das Stadel schließt nämlich. Aber morgen ist es ja wieder geöffnet: Dienstag bis Sonntag von io bis 17 Uhr, mittwochs bis 20 Uhr, sonntags freier Eintritt.

STILLE STUNDEN IN KARLSRUHE

Ist es überhaupt ratsam, zum Museumsbesuch zu ermuntern? Soll der Kunstfreund seine lautere Freude und sein stilles Glück an­ gesichts von Bildern publik machen, auf die Gefahr hin, daß es

fortan in den Kabinetten weniger still und in den Sälen lauter zu­ gehen könnte? Darf andererseits der schweigen, welcher vom Gu­ ten und Schönen weiß und sich dem Wahren verpflichtet fühlt? Daß Karlsruhe mit seiner Staatlichen Kunsthalle eine gute Sammlung besitzt, ist mir seit 1963 bekannt - damals sah ich sie zum ersten Mal. Daß das Museum und seine Bestände in der Zwi­ schenzeit erheblich erweitert und verschönert worden sind, nahm ich wahr, als ich an einem Samstag im Januar erneut durch das Gebäude am Schloßpark ging und neben dem unübersehbaren Neubau des letzten, bisher noch fehlenden Flügels auch jene dis­ kreten Schildchen erblickte, die in Karlsruhe außer dem Titel, dem Maler und dem Entstehungsjahr des jeweiligen Bildes mit­ teilen, wann es erworben worden ist. Überraschend häufig näm­ lich finden sich da auch und gerade neben den Bildern alter Mei­ ster erstaunlich junge Daten, von Peter Paul Rubens (erworben

1964) über Matthias Grünewald (erworben 1971) bis zu Willem van de Velde (erworben 1985). Die Erklärung für diese wundersame Vermehrung der Bilder bietet der Prachtband >150 GemäldeZentralfonds für die Anschaffung von Spitzen­ werken der Kunst< den vier (seit 1973 fünf) staatlichen Museen

zukommen zu lassen. Die Kunsthalle wurde dadurch zu Erwer­ bungen in den Stand gesetzt, von denen ihre Direktoren (1957— 73 Jan Lauts, seither der Unterzeichnete) sonst nur hätten träu­ men können.« Der Unterzeichnete ist Dr. Horst Vey, derzeit amtierender Di­ rektor der Kunsthalle, und nicht nur er hat allen Grund, dem na-

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menlosen Tipper und dem anonymen Wetter für seinen unfrei­ willigen Einsatz in Sachen Kunst zu danken. Auch den Kunst­ freund erfreut die Tatsache, daß eine Sammlung, die einst von ba­ dischen Markgrafen begonnen und 1846 von einem badischen Großherzog seinen lieben Landeskindern zugänglich gemacht worden war, heute von jener großen Menge kleiner Glückssucher alimentiert wird, denen schon der Frankfurter Maler Jacob Marrell mahnend den Spiegel vorgehalten hat: Auf seinem 1637 ent­ standenen >Vanitas-Stilleben< führt er eindringlich vor, daß nicht nur Rosen, Tulpen und Lilien welken, sondern auch Kunst und Wissen sowie Gut und Geld sich gleich Seifenblasen in Nichts auflösen. 1969 wurde diese perfekt gemalte und ausgezeichnet er­ haltene Mahnung vor der Vergänglichkeit mit Toto- und Lotto­ mitteln erworben.

Als »gut faßlich und erinnerlich« bezeichnet Direktor Vey die Karlsruher Sammlung; in zwei, drei Stunden habe man alles Wichtige gesehen - eine Faßlichkeit, die sich zwei Umständen verdankt: der Beschränkung auf drei Hauptgebiete - deutsche Malerei seit der Gotik, Franzosen seit dem Barock, Holländer aus Renaissance und Barock - und dem Geist der Intimität, welcher viele der oft kleinformatigen, fast immer delikat gemalten Bilder verbindet, ganz gleich, wo und wann deren Schöpfer gearbeitet haben. Daß Malerei auch anders sein kann als erfreulich und anderes bewirken kann als Genuß, führen vor allem die Altdeutschen vor. Von jedem Saal der Abteilung aus sichtbar, bildet Grünewalds große und letzte Kreuzigung aus der Zeit um 15 24 den ergreifen­ den Abschluß und Höhepunkt einer Bilderfolge, die weit öfter als vom himmlischen Frieden von irdischen Leiden berichtet. Fünf der sieben bekannten Tafeln eines um 1440 entstandenen Straß­ burger Passionsaltars befinden sich in Karlsruhe, figurenreiche Szenen voll wüster Aktion und kühl gemalter Details: Dieser »Meister der Karlsruher Passion« ist auch ein Meister darin, das Material der Rüstungen und Hellebarden derart metallisch wie­ derzugeben, daß es den Betrachter all des scharfkantigen Glanzes unwillkürlich schaudert.

STILLE STUNDEN IN KARLSRUHE

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Ein Gefühl, das sich in der Kunsthalle sonst selten einstellt. Der eine mag eines der großformatigen Historienbilder im pompösen Erdgeschoß schaurig finden, beispielsweise Ferdinand

Kellers (»Der badische Makart«) drei mal fünf Meter große Schil­ derung der >Schlacht von Salankamen« - heldischer Markgraf aus Baden besiegt türkischen Großwesir. Den anderen mag es beim Betreten der 1909 eingeweihten »Thoma-Kapelle« schauerlich an­ wehen — der damals 70jährige Akademieprofessor und Kunsthal­ lendirektor vergriff sich an höchsten Themen, Christus, Mythos, Kosmos, und fiel auf den Bauch Ich finde es erfreulich, daß ich mir ein eigenes Bild von einigen der lange magazinierten »Ma­ schinen« aus dem 19. Jahrhundert machen kann, und ich empfehle dem Thoma-Geschwächten, sich angesichts einer der Ölstudien

zu erholen, die vor dem Eingang zur Kapelle zu sehen sind. >Gräser zwischen Felsern heißt die mir liebste, 1863 gemalt von Hans Thoma: ein lichterfülltes, konzentriert, ja inspiriert gemal­ tes Bild, das weniger von der Geschicktheit des Malers zeugt als von seinem Wunsch, etwas in Erfahrung zu bringen. In Erinne­ rung aber bleibt vor allem die Schönheit des Gemalten und die Fähigkeit der Malerei, auch noch den beiläufigsten Gegenstand zu verwandeln und zu verklären. Das geschieht auf vielen der Karlsruher Bilder. Schon als die Markgräfin Caroline Luise um die Mitte des 18. Jahrhunderts ihr »Mahlerey-Cabinet« zusammentrug, überwogen Stilleben und Landschaft. Zwei Genres, die sich seither mit erstaunlicher Ste­ tigkeit und in bildender Breite durch die Karlsruher Kabinette ziehen und den Betrachter immer wieder am Sinn von Epochen­ unterteilungen ebenso zweifeln lassen wie an der Existenz eines Fortschritts oder auch nur einer Entwicklung der Malerei: Wer vor Odilon Redons >Blumen in grünem Krug< von 1866/68 so­ gleich an Jean-Baptiste-Sim£on Chardins >Stilleben mit Glas­ flasche und Früchten< aus der Zeit um 1760 erinnert wird (und vor dem Chardin an ein Stilleben des Willem Kalf, das wiederum 100 Jahre älter ist), wer sich angesichts einer Landschaft des ihm bisher unbekannten Franzosen Pierre Henri de Valenciennes ver­ wundert die Augen reibt, wenn er erfährt, daß sie nicht, wie ver-

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mutet, um 1840 gemalt wurde, sondern bereits 1785, der wird je länger je mehr Zusammenhänge und Gemeinsamkeiten auch da sehen, wo frühere Zeiten und Betrachter lediglich harte Brüche und unaufhebbare Gegensätze erblickten. Denn auch in der nicht allzu umfangreichen Sammlung von Bildern dieses Jahrhunderts, die in der benachbarten Orangerie untergebracht ist, setzt sich die Reihe ruhiger Stilleben und stiller Landschaften fort, sei es über Alexander Kanoldt und Georges Braque bis Fritz Klemm oder über Paul Cézanne und Karl Hofer bis hin zu Nicolas de Staël. »Topographie eines Schweigens! nannte der Karlsruher Maler

Hans Martin Erhardt neun Gemälde, die er im Auftrag der Kunsthalle zwischen 1977 und 1979 eigens für die Rotunde der Karlsruher Orangerie ausgeführt hat. »Ein Zyklus gleich großer Tafeln war Bedingung«, heißt es im Katalog, sowie: »Das Thema »Landschaften! wurde dem Künstler vorgeschlagen. « Der hat die Aufgabe achtbar, wenn auch recht plakativ gelöst — mal steigert

viel einheitlich heller Himmel die kargen Informationen des dunklen Landschaftssegments, mal türmt sich dunkle, so gut wie monochrome Landschaft fast bis zum oberen Bildrand und adelt so das verbleibende Stück Helligkeit zum schmalen Hoffnungs­ streifen: ein effektsicher inszeniertes Schweigen, das freilich in jenen Karlsruher Bildern sehr viel besser aufgehoben ist, die nicht

davon reden, sondern es darstellen. Dies tun, beispielsweise, die vier Stilleben Chardins — alles Erwerbungen der bereits genannten Markgräfin — nicht obwohl, sondern weil sie eine Menge mitteilen über Farbe und Form der Dinge, über deren Volumen und deren Beschaffenheit, über Licht und Schatten schließlich. Eine Vielzahl von Informationen also, die der Maler Chardin in geduldiger und gesammelter Arbeit auf den Punkt und damit zur Ruhe gebracht hat — allein seine Bilder lohnen einen Besuch der Kunsthalle, zumal sie in äußerst lehr­ reicher Nachbarschaft hängen.

STILLE STUNDEN IN KARLSRUHE

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Was unterscheidet das 1716 gemalte >Stilleben mit Pflaumen und

zwei Rebhühnern! des Alexandre François Desportes eigentlich von Chardins >Stilleben mit totem Rebhuhn und Pflaumen< von 1728? Warum wurde das vielgeliebte >Orangenbäumchen< des Henri-Horace Roland de la Porte, 1763 gemalt und bereits drei Jahre danach erworben, schon wenig später und für lange Zeit als Chardin archiviert und angesehen? Alles Fragen, die sich erst angesichts der Originale beantwor­ ten lassen, da nur vor ihnen Chardins einzigartiger Umgang mit Farben und Farbsubstanz geradezu taktil erfahrbar wird. Es gibt für den Kunstfreund freilich auch andere, weniger spektakuläre Gründe, nach Karlsruhe zu fahren. Die Kunsthalle dort ist zwar beileibe kein regionales Museum, aber auch das einer Region, Baden. Neben internationalen Meisterwerken besitzt und zeigt die Kunsthalle daher auch Bilder von Malern, die anderswo nicht so leicht oder gar nicht zu sehen sind. Ein Bild von CharlesFrançois Daubigny bekomme ich in jeder besseren Sammlung zu Gesicht - doch wer zeigt mir schon dessen Zeitgenossen, den, zumal in seinen Ölskizzen, ganz fabelhaften Karlsruher Land­

schafter Johann Wilhelm Schirmer? Einen Otto Dix besitzen viele deutsche Museen, doch welches kann schon eine ganze Georg-Scholz-Ausstellung aus eigenen Be­ ständen zusammenstellen? Scholz, erst Student, später Lehrer an der Karlsruher Akademie, gehört zu jenen Malern der Neuen Sachlichkeit, die zwar kein großes Werk geschaffen haben, aber doch eine Reihe großartiger Werke: Sein Selbstbildnis vor der Litfaßsäule! von 1926 braucht keinen Vergleich mit den Porträts von Christian Schad, George Grosz oder Dix zu scheuen (und läßt fragen, wieso eigentlich all diese Künstler, Scholz inbegrif­ fen, einsilbige Nachnamen tragen). Kein schlechter Grund schließlich, das Karlsruher Museum aufzusuchen, ist das Museum selber. Das Gebäude nämlich ge­ hört zu den ältesten deutschen Museumsbauten und vermittelt, vor allem im wiederhergestellten, prächtigen Erdgeschoß und im wandbildgeschmückten Treppenhaus, einen guten Eindruck da­ von, wie opulent einst Kunst präsentiert wurde, als man sich von

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Das gibt es nur in Karlsruhe

Meister der Karlsruher Passion: >Die Entkleidung Christù, um 1440

STILLE STUNDEN IN KARLSRUHE

Johann Wilhelm Schirmer, Karlsruher Akademiedirektor »Meeresbrandung mit fernen Schiffern, 1836

Georg Schoby Karlsruher Akademieprofessor:

»Selbstbildnis vor der Litfaßsäule^ 1926

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ihr noch ganz naiv ganz handfesten Nutzen versprach: »Das Ge­ bäude hat die Bestimmung, die vorhandenen und ferner noch hinzukommenden Kunstwerke... durch eine vorteilhafte Aufstel­ lung dem Publikum nicht nur zu erfreuenden, sondern weit mehr noch zur belehrenden Anschauung zu bringen, damit diese aus­ gezeichneten Vorbilder um so leichter ihren wohlthätigen Ein­ fluss auf die Verschönerung und die Gesittung des Lebens aus­ üben, und angehende Künstler und Gewerbsleute sich nach ihnen ausbilden können.«

Große Worte aus dem 1848 erschienenen ersten Katalog der Karlsruher Kunsthalle, denen ich noch einen letzten Grund dafür anfügen möchte, warum man besser erst einmal diese einiger­ maßen naheliegende Stätte der Gesittung aufsuchen sollte, bevor man sich an sehr viel fernere wagt: »Die Museen in Florenz beklagen einen Besucherschwund«, lese ich in der >Frankfurter Allgemeinen Zeitung< vom 14. 1.1991. »Die Stadt, die seit Jahren unter dem Ansturm der Touristen stöhnt, registrierte im vergangenen Jahr >nur< 3 Millionen Besu­ cher (gegenüber 3,2 Millionen im Vorjahr) in ihren weltberühm­ ten Kunstsammlungen. Der Chef der städtischen Kulturverwal­ tung zeigt sich >sehr besorge über diesen Schwund und macht die Fußball-Weltmeisterschaft sowie die Verdoppelung der Eintritts­ preise in den Museen für die Entwicklung verantwortlich.« Später entnahm ich einer Ausgabe der Zeitschrift >Merkurvirtuellen< Realität statt­ finden.« Das meint vermutlich Cyber-Expositions oder wie im­ mer man derlei in Zukunft nennen wird, wenn nicht bereits nennt: Dabei war avancierteste Virtualität in Den Haag bereits wortwörtliche Realität geworden. Während ich im zähen, immer wieder stockenden Besucherstrom durch die Ausstellung trieb, konnte ich von meinen privilegierten i Meter 84 den vertikal we­ niger Begünstigten dabei zuschauen, wie ihr Audio-Guide ihnen jene Bilder beschrieb, die zu sehen ihnen leider verwehrt war, bei­ spielsweise die >Ansicht von Delftc »Dunkle Wolken ballen sich im oberen Bildteil, und große Teile des Vordergrunds und die sich am gegenüberliegenden Ufer ausdehnende Stadtmauer liegen im Schatten.« Ein bißchen zu virtuell, dieser Ersatz von Bildbetrachtung durch Bildbeschreibung? Wie wäre es dann mit einer erweiterten, bei künftigen Ausstellungen jedem Besucher zugeteilten AudioVideo-Guide-Ausrüstung, bestehend aus Walkman zwecks Bild­ benennung, aufsetzbarer und ausfahrbarer Videokamera zwecks Bilderfassung und vor dem Bauch tragbarem Monitor zwecks Bildbetrachtung? Auch nicht so ganz im Sinne dessen, was die Maler einmal mitteilen wollten und was die Malerei auch heute noch mitzuteilen hat? Dann hilft nur Umdenken: Es gibt viel zu tun, lassen wir es bleiben. Auch und nicht zuletzt noch nie da­ gewesene, nie und nimmer wiederkehrende Jahrhundertausstel-

DAS STECKBRETT AUF DEM STRECKBETT

Zu Sybille Ebert-Schifferers >Die Geschichte des Stillebens
Die Geschichte des Stillebens< stillt so basale Bedürfnisse des kunstliebenden Menschen wie Bilderhun­ ger, Wissensdurst und Schaulust. Ein Buch aber auch, das kein Kunstfreund ohne gemischte Gefühle aus der Hand legen wird. Was hat er da eigentlich zu sich genommen? Ein Festbankett? Eine Henkersmahlzeit? Soviel jedenfalls weiß er nach der Lektüre, daß für Ebert-Schifferer >Die Geschichte des Stillebens< auch meint, daß das Stilleben Geschichte ist. >Nouveaux Réalistes und die Folgen: Das Ende des Stillebens an der Grenze des Trompe-l’ceil< hat sie ihr letztes Kapitel überschrieben, und wenn sich da auch alles in allem keine Eule der Minerva zum Flug durch das Grau in Grau der Dämme­ rung anschickt, sondern ein prächtiger Paradiesvogel im Licht der scheidenden Sonne noch einmal sein Glanzgefieder spreizt - für die Autorin ist die Gattung am Ende, hat die Stunde des Nachrufs geschlagen. Wie müßte eine kurzgefaßte Todesanzeige anheben: Plötzlich und unerwartet? Oder: Nach langer, schwerer Krank­ heit? Das Stilleben ist nicht die einzige totgesagte Gattung der Ma­ lerei. Die Bulletins für Historienbild, Altarbild, Genrebild, Land­ schaft oder Porträt lauten keinen Deut hoffnungsvoller, trotzdem fallt es, auch wider bessere Einsicht, schwer, gerade an diesen Tod zu glauben: Sah doch immer so frisch aus! Schien überhaupt nicht zu altern! Eine Alterslosigkeit, die die Gattung mit ihren Motiven teilt. Um Vorformen des Trompe-l’œils zu dokumentieren, Steckbrett und Quodlibet, bildet Ebert-Schifferer das >Bildnis eines Kauf-

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mannsi vom Mabuse genannten Jan Gossaert aus dem Jahre 1530 ab. Expedierte eine Zeitmaschine einen Kaufmann von heute ins Büro des Kollegen von 1530, er stünde vermutlich genauso fra­ gend vor dessen Arbeitsgerät wie ein Gast von 1530 vor seinem Laptop. Auch Kleidung, Schmuck und Haarschnitt wären sicher­ lich Anlaß zu wechselseitigem Befremden - »Also ich könnte in solchen Puffärmeln nicht arbeitenl« —, setzten sich die beiden je­ doch zu Tisch, würden sie vermutlich eher über die Fülle des bei­ den Vertrauten staunen. Ebenfalls um 15 30 ist ein Bild von Marten van Heemskerck da­ tiert, das den Haarlemer Patrizier Pieter Jan Foppeszoon mit sei­ ner Familie an einem Eßtisch zeigt, dessen Speisen und Gegen­ stände durchweg heute noch bekannt und gebräuchlich sind: Brot, Wein, Käse, Kirsche, Traube, Nuß und Birne werden da in Korb, Kanne, Pokal sowie auf Tellern aufgetischt und bei Bedarf mit Messern zerteilt. Noch ist die Familie dem Maler Anlaß da­ für, sie mit Tafelgerät und Genußmitteln zu umgeben, doch schon deutet sich an, was in der Folgezeit Tausende von Bildern for­ matfüllend beherrschen wird: die innige Freude an der täuschend echten Wiedergabe von Eßbarem und Faßbarem. Mildes Tages­ licht fällt von links ein, rundet das Körbchen, wird von Metall und Glas zurückgeworfen, fangt sich in den Schnittflächen von Brot und Käse, sorgt für genau berechnete Schatten auf dem hel­ len, leicht gewellten Tischtuch und erfreut den Beschauer, der sich einmal so richtig satt sehen kann. Von »einer Dreiecksgeschichte« zwischen »Realität und Schein, in die sich der Mensch, janusköpfig, in einer Doppelfunktion als Schöpfer und staunender Betrachter einschaltet«, sei zu erzählen, schreibt Ebert-Schifferer in ihrer Einleitung und bringt gleich zu Beginn die von Plinius überlieferte, immer wieder gern geglaubte Anekdote von zwei rivalisierenden Athener Malern: Um 400 vor Christus sei der berühmte Zeuxis bereits sicher gewesen, seinen Kollegen Parrhasios in einem Malerwettstreit geschlagen zu ha­ ben, da echte Vögel versucht hatten, an seinen gemalten Trauben zu picken. Stolz habe er den Kollegen aufgefordert, endlich den Vorhang vor dessen Bild beiseite zu ziehen, zerknirscht sei ihm

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bei näherem Hinsehen klargeworden, daß auch dieser Vorhang gemalt war: Hatte er lediglich unvernünftige Tiere getäuscht, war es dem Rivalen gelungen, dank der Mimesis, der Kunst der Na­ turnachahmung, selbst ihn, Zeuxis, reinzulegen. Zwar ist von der Stillebenmalerei der Antike wenig überliefert, nichts von den Griechen und von den Römern nur das, was sich als Mosaik oder dank unglücklicher Zufälle wie des Untergangs Pompejis als Wandmalerei erhalten hat, doch belegen bereits die acht Abbildungen zu Ebert-Schifferers geraffter Darstellung des antiken Stillebens, daß den Malern die ganze Palette illusio­ nistischer Kniffe vertraut war: Man setze den realen Raum un­ auffällig ins Bild fort, zum Beispiel durch eine nicht zu tiefe Scheinnische, welche den Betrachterstandpunkt und die Lichtver­ hältnisse im Raum berücksichtigt; man statte diese Nische bei Be­ darf mit Regalbrettern aus und lege darauf Gegenstände des täg­ lichen Bedarfs — Schreibgeräte, Münzen, Früchte, Fisch - alles in natürlicher Größe; man arrangiere die Objekte möglichst zwang­ los, lasse zum Beispiel einen Fischkorb umfallen, einen Pfirsich anschneiden, Schreibzeug übers Regalbrett in den Raum ragen; man achte schließlich darauf, was das Licht mit den Dingen und deren Lokalfarben macht, wobei die angestrebte Täuschung we­ niger durch kläubelnde Feinmalerei als durch die suggestive Set­ zung von Lichtakzenten und Schattenpartien erreicht wird - und schon erschafft man ein Kunstprodukt, vor dem Laie und Fach­ mann gleicherweise staunen, wenn auch aus verschiedenen Grün­ den: »Wie er mich geleimt hat!« - »Wie gut das gemalt ist!« Zusammen mit der Antike starb nicht nur das Stilleben seinen ersten Tod, es endet auch die unbeschwerte Zeit, in welcher die Darstellungsmittel der Gattung — illusionistisch — und seine Ge­ genstände - banal — noch gepriesen und geschätzt wurden. Seit ihrer Wiederauferstehung am Anfang des vierzehnten Jahrhun­ derts ist die Stillebenmalerei fortwährend in Frage gestellt, ange­ feindet oder gänzlich verdammt worden, von Klerikern, die ihr vorwarfen, den Betrachter durch täuschenden Schein vom wah­ ren Sein abzulenken, von Kunsttheoretikern, die sie wegen man­ gelnder Idealität zum Kellerkind der malerischen Gattungshier­

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archie degradierten, von Künstlern schließlich, welche Prinzessin Farbe aus den Klauen des Drachen Gegenstand befreien zu müs­ sen glaubten - eigentlich ein Wunder, daß die Gattung nicht schon viel früher das Zeitliche gesegnet hat. Auf den ersten Blick scheinen die Künstler der Neuzeit da wei­ tergemacht zu haben, wo die antiken Maler den Pinsel hatten fallenlassen. Der Florentiner Taddeo Gaddi malt um 1330 eine Scheinnische mit Gefäßen auf die Wand der Baroncelli-Kapelle in der Kirche Santa Croce, ein unbekannter Nachfolger Rogier van der Weydens malt um 1470 ein >Stilleben mit Büchern und Wasserkrug< sowie andere Gegenstände in gemalter Nische und hin­ ter gemaltem, ein wenig zugezogenem Vorhang, dessen Schatten über die Gegenstände und die Nischenwand gleitet, doch der Ein­ druck autonomer Stilleben täuscht: Bei Gaddis Gegenständen handelt es sich um liturgisches Gerät, Bücher und Wasserkrug aber finden sich auf der Rückseite eines Bildes der Muttergottes und künden von ihrer Frömmigkeit (Buch) und ihrer Jungfräu­ lichkeit (Krug). Auch in der Folgezeit sahen sich Stillebenmaler und Stilleben­ liebhaber so gut wie ständig gezwungen, ihr Malen und ihr Be­ trachten zu begründen oder nach Kräften zu adeln, und EbertSchifferer referiert diese Rechtfertigungsversuche gründlich, ohne die Bilder zu Überfrachten und den Leser zu überfordern. Sie vermittelt eine Vorstellung vom Ausmaß christologischer, hu­ manistischer und moralisierender Deutungsmöglichkeiten, ver­ gißt darüber jedoch nicht, daß selbst das anspielungsreichste Stil­ leben, zumal in seiner Blütezeit und im Holland des siebzehnten Jahrhunderts auch eine reichlich produzierte Ware darstellte, die ihren Käufer suchte: »Eine solche Marktstruktur und die dahin­ terstehende Produktionsweise von Gemälden bedingen, daß die meisten Stilleben in ihrer moralischen Aussage mehrschichtig und somit für verschiedene Deutungen offenbleiben, da der Künstler ja häufig ihren künftigen Besitzer noch gar nicht kannte.« Meinen die Austern auf einem >Frühstücksstilleben< von Pieter Claesz eine Aufforderung zu frommem Lebenswandel? Sollen sie an erotische Freuden denken lassen? Das hängt davon ab, ob man

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sie als Fastenspeise oder als Aphrodisiakum deutet. Beide Bedeu­ tungen waren dem Betrachter von 1635 vertraut, der heutige aber sieht mit Ebert-Schifferer vor allem ein Wunderwerk toniger Ma­ lerei, »eine spezifische Haarlemer Spielart des Mahlzeitstillebens,

das die Bezeichnung monochrome banketje erhielt. Hier dominiert erstmals in der Geschichte der niederländischen Stillebenmalerei deutlich das malerische Wie über das inhaltliche Was.« Fünf Jahre vor diesem Austernfrühstück hatte Pieter Qaesz noch deutlich dem »Was« Tribut gezollt, jedenfalls auf den ersten Blick. Sein >Vanitas-Stilleben< von 1630 versammelt einen reprä­ sentativen Querschnitt von dem, was Malern und Mahnern bisher an Todessymbolen und Vergänglichkeitsallegorien eingefallen war: die zerbrechliche Glaskugel, den beinernen Schädel, die ge­ öffnete Taschenuhr, das umgestürzte Trinkglas, die weggewor­ fene Schreibfeder und die beiseite gelegte Geige. Vorbei ist die Musike - doch gibt es eine Kunst, die dem Vergehen wehrt. Aus­

gerechnet in der Glaskugel, Schwester der Seifenblase und Sinn­ bild des Homo bulla, des vergänglichen Menschen, spiegelt sich nicht wie auf anderen Vanitasbildern menschlicher Tand, Krone und Zepter beispielsweise, sondern der an seiner Staffelei sitzende Maler, der mit diesem Selbstporträt »die Fähigkeit der Malerei un­ terstreicht, die Vergänglichkeit und damit den Tod aufzuheben«. Auch den des Stillebens? Das Vanitas-Stilleben jedenfalls ging da­ hin, richtiger: es ging im normalen Stilleben auf, da ja bei Licht

betrachtet jedwede Blume und jeder beliebige Gegenstand die Endlichkeit von Natur und Menschenwerk bezeugt. Nachdem Maler wie de Heern sich Mitte des siebzehnten Jahrhunderts da­ mit begnügt hatten, ihren Prunkstilleben durch beiläufig herum­ liegende Taschenuhren einen Vanitas-Touch zu geben, waren die Grenzen Anfang des achtzehnten Jahrhunderts bereits derart fließend, daß Ebert-Schifferer beim Italiener Cristoforo Minari »eine Mischung aus Vanitasbild und Dessertstilleben« konstatiert, auf dem statt des Totenkopfs eine angeschnittene Melone ein so appetitliches wie mäßig mahnendes Memento signalisiert. Rund hundert Jahre später aber spielt das »Was« in der euro­

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päischen Stillebenmalerei überhaupt keine Rolle mehr. »Vom Triumph des Wie« schreibt die Autorin, vom »Sieg der Rübe«, der gutgemalten versteht sich, über die Madonna, vom Zusammen­ bruch der bis dato geltenden Gattungshierarchien: »Mit ihrem Fall endete ab Mitte des neunzehnten Jahrhunderts auch die Rolle des Stillebenspezialisten.« Die weitere Geschichte der Stilleben­ malerei sei daher »untrennbar mit der komplexen Geschichte der modernen Avantgarden verbunden«. Die aber gingen mit dem Illusionismus noch härter ins Gericht als irgendein mittelalterlicher Kleriker, die dachten vom selbst­ genügsamen, nicht radikalsten Idealen verpflichteten Kleinmei­ ster noch geringer als die Kunsttheoretiker des achtzehnten Jahr­ hunderts, die strebten nach dem »Geistigen in der Kunst« und kapitulierten vor dem Material: »Das Bild war nur noch ein fla­ ches Objekt für sich.« Im vergleichbar flachen Mainstream der Kunstgeschichte die­ ses Jahrhunderts bewegen sich denn auch die restlichen siebzig Seiten des Buches. Ebenso gewissenhaft wie weitgehend über­ raschungsfrei werden alle wichtigen Leuchtfeuer der Moderne passiert und illustriert, vom >Blauen Reiter< bis zur >Neuen Figu­ ration^ keiner Abbildung, sondern lediglich eines Halbsatzes da­ gegen würdigt Ebert-Schifferer Einzelgänger wie Rudolf Levy und Hans Purrmann, die »als Stillebenmaler herausragen, ohne der Gattung neue Impulse zu geben«. Mit diesem Verdikt aber wechselt die Autorin merkwürdig ungerührt die Fronten. Nicht länger verteidigt sie das Stilleben gegen die Kunstrichter, sie stellt selber eine Regel auf, der die Gattung vorgeblich zu genügen hat. 1678 hatte der holländische Maler und Kunsttheoretiker Samuel van Hoogstraten die Still­ lebenmaler zu »gemeinen Soldaten im Heer der Künstler« erklärt, da sie, anders als die Feldherrn Historienmaler, nicht zur inventio, der Erfindung, fähig seien. Heute hingegen wird den Malern innovatio, die Erneuerung, abverlangt, als bewiese nicht gerade die Geschichte des Stillebens die Fragwürdigkeit solcher Postulate. Zeuge: van Hoogstraten persönlich. Um 1650 hatte der einen fol­ genreichen Stillebentyp erfunden, das »Steckbrett«: Hinter Bän-

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Wallerant Vaillant: >Steckbrett mit Briefen, Federmesser und SchreibfederSteckbrettOffice Boardfor Smith Brothers Coal Company, 1877

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dem, an eine Holzwand genagelt, stecken die unterschiedlich­

sten Objekte, vom Brief bis zur Goldmedaille, die Kaiser Ferdi­ nand III. dem Maler dafür verliehen hatte, daß es seiner Kunst ge­ lungen war, selbst einen Kaiser zu täuschen, was van Hoogstraten in den Augen gelehrter Zeitgenossen noch über den Tiertäuscher Zeuxis und den Zeuxistäuscher Parrhasios stellte. Zweihundert­ fünfzig Jahre lang haben Maler aller Länder van Hoogstratens

Anregung aufgegriffen, der Franzose Vaillant, der Schwede Klopper, der Amerikaner Peto schließlich, der das Motiv bis ins er­

ste Jahrzehnt unseres Jahrhunderts variierte, damals ein erfolg­ loser Einzelgänger, der sich als Hornbläser seiner Gemeinde über Wasser hielt, heute der hochgerühmte Schöpfer hochbezahlter Trompe-l’cEils. Wurde mit ihm auch das Steckbrett begraben, oder sollte es seinen Geist auf dem Streckbett der Innovationsfolter ausgehaucht haben? Ein Freund habe Jasper Johns Anfang der Sechziger jahre eine Reproduktion eines Bildes von Peto geschenkt, das eine illusio­ nistisch vor der Wandfläche schwebende Tasse mit einem Wort­ spiel verband, schreibt Ebert-Schifferer. »Als reale Tasse taucht sie in mehreren Werken Johns’ wieder auf«, fahrt sie fort und bil­ det ein >Ö1 auf Leinwand mit Objekten< des Amerikaners ab: Ein echter Besen und eine echte Tasse hängen da vor blauem Fond und tiefblauen Inschriften; »broom« sagt die eine, »cup« die an­ dere, und diese ebenso grundehrlichen wie brummend eindeuti­ gen Tautologien markieren nun in der Tat das Ende einer Kunst, die so lange durch Zweideutigkeit zu täuschen, zu bezaubern und zu erbosen gewußt hatte, bis hin zu Magrittes paradoxalem Öl­ bild >Dies ist keine PfeifeGermania und der deutsche Michel< beispielsweise oder mit >Reichsverweser und Fürsten< oder mit >Einzelne Abgeordnete< - Karikaturen die Menge. Zugleich jede Menge Fragen: Wieso waren all diese Spottbilder Einzelblätter? Hatte es denn keine satirische Zeitschrift gege­ ben? Warum gab es derart viele dieser Graphiken? Wer waren die Zeichner? Wer die Gezeichneten? Was schließlich waren die An­ lässe? Einigermaßen unbedacht kam ich mit Henner überein, nach flüchtiger Übersicht der Bestände von einer Handvoll besonders suggestiver Blätter Ablichtungen anfertigen zu lassen, um mich sodann zu Hause und in aller Ruhe über sie zu beugen, um mir, unbeleckt von allem Fachwissen, einfach so von Zeichner zu Zeichner einige Gedanken darüber zu machen, was sich seither in

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Sachen politischer Karikatur getan und in welche Richtung sich dieses Genre entwickelt hatte. War dann aber doch nicht konsequent. Frage vielmehr reich­

lich unbedacht, ob es in der Bibliothek der graphischen Samm­ lung zufällig Literatur zum Thema Parlamentskarikaturen gebe. Wurde auf einen Katalog des Ludwigshafener Stadtmuseums aus dem Jahre 1988 verwiesen, >Liberalnichtoftsky und der deutsche Micheh, durchflog den Text von Richard W. Gassen und KarlLudwig Hofmann und fand mich unversehens wieder im - um einen Borges-Titel zu variieren - »Garten der Fragen, die sich verzweigen«. Erinnern wir uns der Eckdaten: Nach Märzunruhen, Märzforde­ rungen und Märzgefallenen konnten dank der Märzerrungen­ schaften vom 18. 5. 1848 an gewählte Volksvertreter in der zum

Parlament umfunktionierten Paulskirche die Verfassung des von vielen erhofften deutschen Einheitsstaates beraten. Zu jenen bür­ gerlichen Grundrechten, die bereits erstritten schienen, gehörte auch die »Preßfreiheit«, und die bewirkte laut Katalog ein re­ gelrechtes »Karikaturenfieber«, das - hättest Du das gewußt,

Fritz? — vor allem in jener Stadt grassierte, in welcher auch wir gut 114 Jahre später unsere ersten Karikaturen veröffentlichen soll­ ten: »An keinem Orte Deutschlands hat diese Kunst des Spottes und des Humors einen so ausgiebigen Boden gefunden, als ge­ rade in unseren Tagen hier in Frankfurt«, schreibt der Frankfur­ ter Verleger H. Umpfenbach in einem Werbeprospekt; die Freie Stadt nämlich sei der Ort, »wo sich in der zahlreichen Versamm­ lung in der Paulskirche eine große Auswahl der originellsten Per­ sönlichkeiten darbietet, deren hervorstechendste Eigenheiten und Schwächen... mit der treffendsten Porträt-Ähnlichkeit und mit köstlichem Witz abkonterfeyet und gegeißelt werden«. »In Frankfurt entfaltete sich rasch eine ganze Flugblattindu­ strie«, resümiert der kenntnisreiche, wenn auch arg deutschtümelnde Eugen Kalkschmidt in seinem 1928 erschienenen Buch >Deutsche Freiheit und deutscher Witze »Die Frankfurter Parla­ mentsatiren bilden eine eigene Gattung«, befindet er, doch weder

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Kalkschmidt noch der Ludwigshafener Katalog können oder wol­ len jene Frage beantworten, die sich förmlich aufdrängt, hält man folgende Zahlen nebeneinander: Da gibt es in Frankfurt und Um­ gebung 34 nachweisbare Karikaturenverlage, sie verlegen laut Katalog »den Löwenanteil der gesamten deutschen Karikaturen­ produktion, mit 230 Einzelblättern nahezu ein Drittel« — und doch kommt es in Frankfurt zu keiner Zeitschriftengründung, während Kalkschmidt für Berlin, die Stätte Deines jetzigen, nachfrankfurterischen Wirkens, gleich acht satirische Blätter, alles 48er-Gründungen, aufführt: »Kladderadatsch. Der Berliner Krakehler. Der Freischärler. Die Buddelmeyer-Zeitung. Der blaue Montag. Freie Blätter. Der Volkstribun. Berliner Großmaul.«

Frage Nummer 1: Weißt Du, warum in Frankfurt — anders als in Berlin, Breslau, München, Stuttgart, Hamburg, Leipzig, Köthen, Bonn, selbst Torgau - Karikaturen ausschließlich einzeln ge­ druckt, wenn auch hier und da kollektiv genossen wurden? 1884 berichtet der Schriftsteller Alfred Meißner in seinen Me­ moiren von einem Frankfurtbesuch des Jahres 1848: »Auf den Trottoirs drängten sich die Spaziergänger und blieben mit Vor­ liebe vor den Schaufenstern der Buchhandlungen stehen... Zahl­ lose Karikaturbilder, hier vom konservativen, dort vom radika­ len Gesichtspunkte gezeichnet, gaben Anlaß zu Erheiterung oder Ärger.« Sechs dieser »Karikaturbilder« liegen vor mir, immer dann her­ ausgepickt, wenn das Sujet gefiel oder die Erzählweise zusagte, die Formulierung einleuchtete oder der Strich erheiterte. Sechs wahllos gegriffene Graphiken also, jedoch nicht Blätter von sechs Graphikern. Denn als ich die Ausbeute aneinanderreihen und miteinander vergleichen konnte, da stellte sich heraus, daß ich je zwei Blätter von insgesamt drei Zeichnern aus den Konvoluten gefischt hatte. Nicht irgendwelchen Zeichnern I Je länger ich die Blätter betrachtete, desto mehr juckte es mich, etwas über diese 48er-Kollegen zu erfahren, und je mehr ich über sie erfuhr, desto, ich gestehe es ein, stolzer war ich auf die Ausbeute meines Fisch­ zugs: Ich hatte nämlich keine geringeren Hechte aus dem Karp-

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fenteich gezogen als Alfons von Boddien, Friedrich Pecht und Ernst Schalck.

Frage Nummer 2: Hast Du jemals einen dieser Namen nennen hören, Fritz? Ich nicht. Und doch sind sie keine Unbekannten. Überall da, wo man sich der 48er-Karikatur angenommen hat, werden ihre Namen mit Achtung genannt; und wenn ich mittlerweile etwas mehr über sie weiß, dann verdanke ich das, neben dem Ludwigs­ hafener Katalog, den Forschungen von Wolfgang Klötzer, dem ehemaligen Leiter des Frankfurter Stadtarchivs, Anette Reter, der Herausgeberin des Butzbacher Katalogs der Sammlung A. W. Heil, sowie Michael Bringmann, dem Biographen Friedrich Pechts. Boddien, Pecht und Schalck also — Frage Nummer): Wolle mer se reilasse? Über Alfons von Boddien habe ich lediglich in Erfahrung brin­

gen können, daß er von 1802 bis 1867 lebte, in Frankfurt fleißig

Parlamentarier karikierte und selbst Deputierter des Paulskirchenparlaments war. Politisch der Rechten zugeordnet, wird er übereinstimmend als begabter Dilettant eingestuft, der seine Ka­ rikaturen während der Parlamentssitzungen anfertigte, um sie so­ dann vom erfolgreichsten der Frankfurter Verleger, von Eduard Gustav May, drucken und vertreiben zu lassen. Außer in Buch­ läden wurden Karikaturen auch von fliegenden Händlern ver­ kauft, direkt vor der Paulskirche, wo sie nicht von Belache», son­ dern auch von den Belachten erworben wurden. Stolz berichtet der Verleger Umpfenbach: »Sehr viele Käufer, namentlich unter den Deputierten selbst, haben vollständige Collectionen ange­ legt, die mit jedem neu erscheinenden Blatt ergänzt werden.« Der Deputierte karikierte nur einen Sommer, lese ich bei Preißmann, nach den Frankfurter Septemberunruhen sei »für die gutmütige Spöttelei Boddiens kein Platz mehr gewesen«, doch er hat diese Zeit gut genutzt. Seine zeichnerischen Mittel sind bescheiden, seine komische Kraft ist beträchtlich. Den Ab­ geordneten, Zoologieprofessor und überzeugten Materialisten

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Abb. 1: Boddien äfft nach

Vogt zeichnet er in bewährter Karikaturistentradition als Affen (Abb. 1), den Abgeordneten Rösler wegen seines stets getrage­ nen gelben Fracks als »Reichskanarienvogek, den Abgeordneten Schlöffel als >Reichshyäne< - doch in seiner Karikatur des Ber­ liner Philosophen Carl Nauwerck wächst er über sich hinaus (Abb. 2). Friedrich Pecht schildert diesen Abgeordneten in seiner

Abb. 2: Boddien dreht auf

Autobiographie als jemanden, »der wie ein aus dem Grabe gestie­

genes Gespenst aussah, aber sehr das Reden oder vielmehr das Dozieren liebte«, Boddien zeigt den Redner als Täter -, selbst der

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Reichskanarienvogel fliegt fluchtartig davon. Ein in doppelter Hinsicht erstaunliches Blatt: Erstens wendet es bereits 1848 eine komische Technik an, die uns Jung-Cartoonisten anno 1964 im­ mer noch als Ausweis durchtriebener Metakomik erschien, und zweitens setzt er sie erfreulich drastisch ins Bild. Die komische Technik ist natürlich die wortwörtliche Illustration einer Rede­ wendung — so, wie Boddiens Beifall sichtlich fortläuft, wurden auch unsere Blindenhunde in >pardon< bzw. >WimS< selig von sichtbar blinden Hunden ins Bild gesetzt. Das hielten wir für schön dreist, schön lustig und schön neu -

Frage Nummer 4: Wußtest Du, Fritz, wie sehr wir im letzten Punkte geirrt haben? 48er-Preßfreiheit und 48er-Karikatur hatten Lieblingsthemen, den deutschen Michel oder den preußischen König Friedrich Wil­ helm IV., Hauptthema aber waren die Abgeordneten der und die Debatten in der Paulskirche, die hätten, schreibt Dein Dir wohl­ bekannter Göppinger Landsmann Eduard »Sitten« Fuchs, »die Satire am meisten provoziert. Der Nationalversammlung gegen­ über feierte der Spott in Deutschland regelrechte Orgien.« Eine Orgiastik, die mich beim Durchblättern der Mappen, Kataloge und Bücher fortwährend an die in den 60er Jahren wild wuchernden Undergroundcomix erinnerte — in beiden Epochen brach sich ein geradezu elementarer komischer Mitteilungsdrang Bahn und drückte auch solchen Leuten den Stift in die Hand, die ihn in ruhigeren Zeiten höchstens zu privaten Zwecken, nicht aber zu öffentlicher Stellungnahme genutzt hätten. Das hatte na­ turgemäß jede Menge nicht nur liebenswerten Dilettantismus zur Folge, siehe auch unsere eigenen Anfänge: Damals wie heute stand die Kunst der Karikatur nicht auf dem Lehrplan der Kunsthochschulen, von Deinem Lehrstuhl, Fritz, mal abgesehen. Weshalb mich auch beim Sichten weniger die Vielzahl recht wackliger Spottbilder erstaunte, als vielmehr die Existenz einer Reihe hervorragender Blätter verwunderte: Wie hatten deren Zeichner ohne erkennbare Ausbildung und Lehrzeit die Kurve zum komischen Künstler kriegen können?

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. Womit wir bei Friedrich Pecht wären, der aus Konstanz stammte, von 1814 bis 1903 lebte, als Maler begann und als berühmter Kunstkritiker endete. Dazwischen aber, offenbar ein­ mal und nie wieder, karikierte er, daß es noch heute eine Freude ist, auf eines seiner raren Blätter zu stoßen. Insgesamt 21 poli­ tische Karikaturen Pechts sind bekannt, alles — und bereits das unterscheidet ihn von seinen stets lithographierenden Kollegen — Radierungen und alle herausragende Beispiele dafür, daß komi­ sche Kraft und artistische Raffinesse einander nicht neutralisie­ ren, gar behindern müssen, sondern steigern können. Zwei Jahre lang, 1846 bis 1848, hatte der ausgebildete Porträ­ tist in Weimar an seinem ersten Historienbild gearbeitet: >Goethe wird nach der Aufführung der Iphigenie in Tieffurt von der Schauspielerin Schröter im Beisein des Hofes gekröntq dann bricht er - glücklicherweise - nach Frankfurt auf, da er dort lu­ krativere Motive wittert. Zum geplanten großen 4Ser-Historien­ bild >Die Eidleistung des Reichsverwesers Erzherzog Johann in der Paulskirche< kommt es freilich nicht, statt dessen empört sich der Maler über »Uneinigkeit, Wirklichkeitsferne und Verschro­ benheit« der Debatten und beschließt nach eigenen Worten, »durch die Karikatur alle die Torheiten, die täglich auftauchen, zu bekämpfen«. Das ist edel gedacht und schön gesagt, jedoch nicht die volle Wahrheit. Daß Pecht »die Verdienstmöglichkeiten der >Karikaturenepoche< genutzt habe«, schreibt sein Biograph, von seinem Plan, mit dem Schriftsteller Robert Heller »ein satyrisches Blatt« herauszubringen, ist die Rede, nach dessen Scheitern habe Pecht seine Karikaturen »mit großem Erfolg« bei einem Leipziger Verleger heftweise als >Ätzbilder aus Frankfurt ver­ öffentlicht. Geätzte Bilder, nicht unbedingt ätzende. Wenn Pecht den echten? erfundenen? - »Vorschlag des Abgeordneten N. N.« ins Bild setzt, den deutschen Kaiser unter Deutschlands 35 Fürsten auslosen zu lassen (Abb. 3), dann vollzieht der Betrachter be­ lustigt nach, was der Radierer ihm mit sichtbarer Lust vorführt: Große und kleine gefürstete Häupter scharen sich um den Par­ lamentspräsidenten Heinrich von Gagern, um aus dessen Re-

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Abb. j: Pecht läßt ziehen

publikanermütze den Hauptgewinn herauszufischen: Überragt vom preußischen König, vom österreichischen Kaiser und vom Bayernkönig tummelt sich da eine rechte Rasselbande oft zwer­ genhaft vergreister Lausbuben.

Abb. 4: Pecht läßt reden

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. Und wenn Pecht sich eines der meistkarikierten Abgeordneten der Nationalversammlung, des Leipziger Buchhändlers Robert Blum annimmt (Abb. 4), dann muß man schon sehr genau hin­ schauen, um die vielen pointierten Details dieses Doppelbildes nachschmeckend auszukosten: Links gibt sich Blum unter freiem

Himmel vor einer sehr lebendig dargestellten Volksmenge er­ staunlich gemäßigt: »Es lebe die constitutionelle Monarchie. Es lebe Deutschland!« Rechts aber hat er seine Tolle nach hinten ge­ strichen und bietet den konservativen Paulskirchenabgeordneten die Stirn: »Es lebe die Republik! Es leben die Märtyrer des badi­ schen Aufstands!« Verkehrte Welt! Reden nicht in der Regel Volksvertreter drau­ ßen radikal und drinnen moderat? Aber nicht das ist

Frage Nummer j, lieber Fritz, die folgt sogleich. Pechts Zeitgenos­ sen, lese ich, hätten den künstlerischen Charakter der >Atzbilder< anerkannt, Leopold Grün, Gustav Kühne und Heinrich Laube hätten ihren »dauernden Kunstwerth« gewürdigt. Danach aber - warum eigentlich? - seien sie in Vergessenheit geraten und erst 1960 »von Wolfgang Klötzer zum ersten Mal wieder als zeit­ geschichtliche Dokumente und als Kunstwerke gewürdigt wor­ den« -: Wie ist es zu erklären, daß dieser in Frankfurt tätige her­ ausragend komische Zeichner selbst uns, den Gründungsvätern der »Neuen Frankfurter Schule«, so vollständig unbekannt blei­ ben konnte? Je mehr ich vom Frankfurter Karikaturenfieber von 1848 er­ fuhr, desto bemerkenswerter erschienen mir seine Verbreitung und sein Verlauf. Wann hätte es das je zuvor oder danach gege­ ben: Karikierende Parlamentarier - der Ludwigshafener Katalog führt neben Boddien noch J. H. Detmold und A. Haubenschmid an —, Wanderkarikaturisten, die das Geschäft nach Frankfurt lockt - außer Pecht wäre da vor allem der Düsseldorfer Adolf Schrödter zu nennen, der sehr witzige Zeichner der >Thaten und Meinungen des Herrn Piepmeyer. Abgeordneten zur constituierenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main< -, kari­ kierende Künstler schließlich, vom Städeldirektor Philipp Veit

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über den etablierten Maler Eduard von Steinle bis zum Städelschüler Ernst Schalck — ? Wobei der Spott der Arrivierten sich naturgemäß gegen die Linken richtete, während der junge Schalck, Jahrgang 1827, durch seine zahlreichen Karikaturen gegen die Rechten - ca. fünfzig Blätter — der Obrigkeit derart suspekt war, daß sie ihm die Teil­ nahme an den Barrikadenkämpfen des 18. Septembers 1848 zu­ traute und eine - ergebnislose - Untersuchung gegen ihn an­ strengte. Sehr unbekümmert setzt Schalck auch Politikerphrasen ins Bild: Wenn der Abgeordnete und Staatsrechtler Theodor Welck wettert, jetzt regierten »Buben« Deutschland, zeichnet er die Mit­ glieder der Regierung stante pede als Lausebengel (Abb. 5), deren

Abb. j: Schalck. steig?s den deutschen Professoren

knäbischer Aufzug auch dann zu erheitern vermag, wenn Anlaß, Personal und Tendenz der Karikatur nur noch mit Kommentar verstanden werden können. Leicht verständlich, sehr direkt und von bitterem Doppelsinn dagegen sein Blatt aus dem Jahre 1849, >Wie der deutsche Michel

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Abb. 6: Schalck. igigt's dem deutschen Michel

Alles wieder von sich gibt« (Abb. 6) Der Preußenkönig hat die ihm angetragene Kaiserkrone als »Reif aus Dreck und Letten« verhöhnt und zurückgewiesen, die Nationalversammlung ist ge­ scheitert, der Michel hat die Märzerrungenschaften nicht halten können, die deutsche Politik wird zukünftig in Preußen gemacht. Mit dem großen Kotzen endete auch das Frankfurter Karika­ turenfieber. Zwar kam es dort noch einmal zu einem leichten Rückfall, als Ernst Schalck zusammen mit Friedrich Stoltze das Witzblatt >Frankfurter Latern< gründete, doch nach dem frühen Tod des Zeichners im Jahre 1865 sollte es noch einmal rund hun­ dert Jahre dauern, bis in der Paulskirchenstadt der Karikaturen­ virus erneut virulent wurde, einen Frankfurter Bub wie Kurt Halbritter ebenso ansteckte wie die Zugereisten Chlodwig Poth und Hans Traxler - die Rede ist natürlich von der 196z gegrün-

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deten Satirezeitschrift >pardonTitanic< vom Stapel lief, das Flaggschiff der »Neuen Frankfurter Schule«, da kamen nach Hilke Raddatz und Marie Mareks nach und nach auch Bernd Pfarr und Rattelschneck an Bord, Michael Sowa und Brösel und Achim Greser und Heribert Lenz Seit nunmehr über dreißig Jahren ist Frankfurt wieder das, was es im vorigen Jahrhundert für zwei Jahre gewesen war: Mittelpunkt der deut­ schen Print-Satire und Karikatur - aber warum erzähle ich das alles? Weil ich noch zwei Fragen auf dem Herzen habe, Fritz; zuvor aber laß mich eine Parallele ziehen. Drei Frankfurter Institutionen besitzen umfangreiche Samm­ lungen von 48er Karikaturen: das bereits erwähnte Städelsche Kunstinstitut, das Historische Museum und das Institut für Stadt­ geschichte, vorm. Stadtarchiv. 1974 forderte sein damaliger Lei­

ter Wolfgang Klötzer: »Von etlichen zwanzig Künstlern sind mir um die 500 Frankfurter Karikaturen bekannt geworden, die alle die Revolution, die Nationalversammlung, die Paulskirche, die Volksvertreter, die großen und kleinen Probleme der Tagespoli­ tik und ihre Spiegelung in Frankfurt zum Gegenstand nehmen... Sie haben auch heute nach 12 5 Jahren nichts an Wirkung einge­ büßt ... Ein wissenschaftlich kommentierter Katalog aller Frank­ furter 48er Karikaturen wäre der Mühe und der Ausgaben wert und würde eine wichtige Forschungslücke schließen.«

Diese Lücke klafft auch heuer, im Jubiläumsjahr, in vollstän­ diger Breite, doch es kommt noch schlimmer: Wer etwas über Frankfurter Karikaturen nachlesen will, ist nach wie vor auf den Ludwigshafener, den Butzbacher und den sehr verdienstvollen brandneuen Mannheimer Katalog angewiesen; wer Frankfurter Revolutionssatire sehen möchte, muß sich im Frankfurter Revo­ lutionsjubeljahr nach Butzbach oder ins Mannheimer Reiss-Mu­ seum bequemen, da er sie in Frankfurt so gut wie gar nicht zu Ge­

sicht bekommen wird.

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Frage Nummer 6: Erinnert dieser Umgang Frankfurter Institutio­ nen mit Frankfurter Komikprodukten nicht an die Vorgänge rund um die 25 jährige Jubiläumsausstellung der »Neuen Frank­ furter Schule«, die anno 1987 nicht etwa von der Heimatstadt ini­ tiiert und organisiert worden war, sondern von den Städten Göt­ tingen und Marburg? Im Ludwigshafener Katalog war von 230 Frankfurter Revolu­ tionskarikaturen die Rede, Klötzer schätzt die Zahl auf 500 — ganze 30 Blätter will die rührige Frankfurter Bürgerstiftung im Frankfurter Holzhausenschlößchen präsentieren — mehr Raum steht dieser Privatinitiative nicht zur Verfügung. Und wa9 ist mit der Stadt? Dem Vernehmen nach hatte Prof. Dr. Rainer Koch, der Leiter des Historischen Museums, eine 48er-Karikaturenausstellung seines Hauses in Aussicht gestellt, worauf die anderen Sammlungen ihm den Vortritt ließen. In letzter Minute aber habe Koch sie davon unterrichtet, daß der Ausstellungsplan ad acta ge­ legt worden sei. Also ward im 48er Jubiläumsjahr die Präsentation und die Dokumentation des Frankfurter Karikaturenfiebers zu Grabe getragen, eh sie das Licht der Welt erblicken konnte. Frage Nummer7, lieber Fritz: Ist das nicht ein ziemliches Armuts­ zeugnis?

VOM WETTLAUF ZWISCHEN HASE HOCHKUNST

UND IGEL KARIKATUR Bemerkungen %u einem Jahrhundertrennen

Wie vor fünf Jahren folgt die Caricatura der Documenta stehen­ den Fußes, genauer gesagt die Zweite Caricatura der Neunten Documenta, und möglicherweise ist der eine oder andere Caricatura-Teilnehmer auch diesmal nicht ohne Wehmut durch die Documenta-Säle geschritten. Oh, wenn ich doch auch einmal hier, unter den gefeierten Hochkünstlern, hängen könnte, mag er gedacht haben oder: Wann wird sie endlich aufgehoben, die unselige Trennung zwischen E- und U-Kunst? Weltweit fallen Mauern, die man für unüberwindlich gehalten hatte, allüberall brechen scheinbar für die Ewigkeit errichtete Dogmen wie Kar­ tenhäuser in sich zusammen, »come together« fordert die Wer­ bung Arm in Arm mit dem auf Multikulti eingeschworenen Zeit­ geist — und nur in den Künsten soll alles so bleiben, wie es war: hie Weihe - hie Witz, hie Preise - hie Pointen, hie Kunst - hie Komik? Wird es denn nie soweit kommen, daß sich die beiden Strömungen bildender und bildhafter Mitteilung zu einem einzi­ gen Strome vereinigen, zu einer Documentura oder Caricamenta? Gedanken, die ich verstehe, Hoffnungen, die ich nicht teile: Was nicht einmal während der kulturrevolutionären Wirren der 6oer gelang - einen sagenwireinmal Robert Crumb in die Docu­ menta zu schleusen —, hat in diesen Zeiten einer aus gutem Grund wieder auf Aura und Unantastbarkeit bedachten Kunst natürlich nicht die geringste Chance: Off limits statt come together. Traurig, traurig, doch kann ich dem bekümmerten Karikaturi­ sten einen Trost anbieten. Das heißt: Eigentlich bin nicht ich der Trostspender, es sind seine Kollegen Karikaturisten aus dem vo­ rigen Jahrhundert. Und eigentlich bin ich gar nicht befugt, mich zu deren Interpreten zu machen, da ich das ganze Ausmaß ihrer Trostressourcen lediglich erahnen kann. Aber bevor ich dennoch davon berichte, sollte ich eigentlich etwas deutlicher werden. Machen wir es kurz. Ich möchte eine These auf- und zur Dis­

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kussion stellen, die das Oben und Unten und das Hinten und Vorn von moderner Kunst und Karikatur auf den Kopf bzw. auf die Beine stellt. Ich behaupte, daß auf allen Wegen der modernen Kunst, sei es dem der Innovation, Expression oder Abstraktion, Karikaturisten stets führend, ja wegweisend vorangeschritten sind. Ihre Namen, nicht die vorgeblicher Avantgardisten, müßten die Kunstgeschichten rühmen. Daß sie es nicht tun, liegt im Desinteresse der Kunstgeschicht­ ler. Oder hat deren Schweigen in Sachen Kunst und Karikatur ganz handfeste Gründe? Scheuen sie davor zurück, die Ge­ schichte der modernen Kunst völlig neu schreiben zu müssen? Bei meinen allerdings unsystematischen Recherchen zum Thema bin ich lediglich auf zwei hilfreiche Arbeiten gestoßen, die zweite stammt von mir selber. Die erste fand ich im umfangreichen Ka­ talog, den eine Gruppe von deutschen Kunsthistorikern 1978 zu Courbet erarbeitet hat. Vor allem das Material, das von Klaus Herding zum Thema >Courbets Modernität im Spiegel der Ka­ rikatur! zusammengetragen wurde, ist ein schöner Beleg dafür, wie sehr Karikatur und moderne Kunst einander befruchtet ha­ ben, wobei die Karikatur, ihrer dialektischen Natur entsprechend, sich stets eng an das karikierte Werk anschloß, um es zugleich weit zu überflügeln. Wenn Courbet 1860 eine vom Schnee ver­ wehte Kutsche malte (1), dann machte ein namenloser Pariser Ka-

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Abb. 2

rikaturist aus dem reichlich weißen Vorwurf etwas, was wie ein Vorgriff auf die Weißinweiß-Bilder unseres Jahrhunderts wirkt

(2), wenn Courbet 1855 zwei etwas steife Muskelpakete mitein­ ander ringen läßt (3), dann karikiert Nadar diese doch noch recht

Abb. }

realistische Szene dergestalt, daß etwas vom Geist der Pittura Metafísica durch die seltsame Zeichnung weht (4): Zwei starre

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Abb. 4

Puppen werfen einen Schatten, der über den Rahmen des Bildes in den Ausstellungsraum fällt, fremd und beziehungslos hängt zudem eine Figur neben den Ringern, welche zwar kein Gegen­ stück bei Courbet findet, dafür aber an jene Körperfragmente und Silhouetten erinnert, die in den Bildern des jungen de Chirico auftauchen.

Und so fortan. Courbet reduziert 1855 die >Felsige Landschaft bei Ornans< (5) auf wenige, wuchtige Informationen, der Kari-

Abb.;

katurist Bertall läßt noch die letzten erzählenden Reste weg, die Bäume, die Häuser, und gelangt zu einem Gebilde, dessen Gegen-

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Abb. 6

ständlichkeit äußerst fragwürdig geworden ist, und das gut sechzigjahre vor Kandinskys erstem abstrakten Bild: Als >Vue de Ro­ quefort, also als Käseansicht, bezeichnet der Karikaturist selber das, was ebensogut als »Bewegtes Weiß« oder als »Transzenden­ tale Tektonik« durchgehen könnte (6). Noch einen Schritt weiter geht sein Kollege Somm, der 1870 das im gleichen Jahr entstan­ dene Bild >Die Welle< (7) karikiert. Während sich die Farbflecken

Abb. 7

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des Malers noch problemlos zu Informationen wie Woge und

Wolke zusammensetzen, gibt es auf der Schwarz-Weiß-Zeichnung des Karikaturisten nichts mehr zu sehen außer Flecken — fast ein

Abb. S

Vorgriff auf Action Painting bzw. Action Drawing, eine Assozia­ tion, die noch durch die beiden etwas versteckten Tintenfässer und ein Wortspiel der Unterzeile unterstützt wird: »jeter ancre« kann als »Anker werfen« und als »Tinte verschütten« gedeutet werden (8). »Werkkarikaturen sind einem Vergrößerungsglas vergleichbar. Sie heben aus dem Gesamtbild einen Ausschnitt hervor, der für das Ganze Symbolwert gewinnt«, sagt Klaus Herding und fährt fort: »Auf diese Weise werden inhaltlich anstößige Stellen ins Licht gerückt, in denen sich der Aussagekern kristallisiert. Im Angriff hierauf bewähren sich die Karikaturisten als Hüter gel­ tender Standards und als Promotoren eben der Anstöße, denen sie widersprechen wollen. Ganz besonders entstehen durch die iso­ lierende Verformung nur eines Gegenstandes Karikaturen, die in ihrem Abstraktionsgrad der Entwicklung weit vorauseilen.« Das ist nur zu genau beobachtet, jedoch allzu gelassen konsta­ tiert; erstaunen doch selbst den abgebrühten Betrachter der er­ wähnten Karikaturen die ungebremste Rasanz und die vielfälti­ gen Richtungen dieses Vorauseilens: Während die Courbet-Woge Somm ins Tachistische fortriß, lockte ein Courbet-Hintern den

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Zeichner Nadar bis an einen jener Endpunkte der Kunst, deren berühmtester wohl Malewitschs >Schwarzes Quadrat auf weißem Grund< ist. 1853 malte Courbet seine >Badenden< (9), im gleichen Jahr erschien im >Le journal pour rire< eine Zeichnung (10), die

Abb. 9

Abb. 10

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Herding mit den Worten kommentiert: »In seiner Karikatur der >Badenden< beschränkt sich Nadar darauf, den Mond (d. h. das Hinterteil) der Aktfigur zu zeichnen.« Kommentar des Nadarschen Ausstellungsbesuchers: »Nach­

dem uns Herr Courbet jetzt seinen Hintern gezeigt hat, was wird er uns im nächsten Jahr zeigen?« Gedanke des heutigen Betrachters: Weißer Kreis auf schwar­ zem Grund - und das gut siebzig Jahre vor dem epochalen Qua­ drat des Russen! Karikatur und moderne Kunst - nicht immer läuft das so ab, daß der Igel Karikaturist lediglich eine bestehende Tendenz ganz hemmungslos übertreibt und dadurch Jahrzehnte vor dem Hasen Künstler an deren Extrem- und Endpunkt an­ langt: »Ich bün all dor!« Als von Natur aus extreme Mitteilungsform stieß die Kari­ katur auch ohne Hochkunst-Auslöser immer wieder in bis dato unbetretene bildnerische Randbezirke vor. Auf welch vielfältige Weise der Karikaturist Neuland gewinnen konnte, belegt das Werk Adolf Oberländers, des Star-Zeichners der >Fliegenden Blätter*, die ihre Blütezeit in der zweiten Hälfte des vorigen Jahr­

hunderts erlebten. Aus dem Jahre 1890 stammt seine Karikatur >In das Album eines neumodischen Kunstjüngers* (11). Ohne

Abb. ii

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Zweifel ein moralisierend gemeinter Titel: So nicht, ihr Neumodi­ schen! bzw.: Wenn ihr so weitermacht, wird die Kunst noch bös enden! Aber so malte um diese Zeit natürlich noch nicht einmal das ärgste Münchener Malschwein, erst sechzig Jahre später sollte Oberländers Albtraum zum Wunschtraum einer ganzen Genera­ tion von abstrakten Expressionisten werden: Malerei als ekstati­ scher Akt, der unter Zuhilfenahme aller Materialien und sämt­ licher Körperteile vollzogen wird. Anders liegt der Fall bei Oberländers Serie >Heimliche Rand­ zeichnungen aus dem Schreibhefte des kleinen MoritzBetrunkene Straße mit Selbstbildnis! nennt er sein Blatt, doch der heu­ tige Betrachter kann auf die Berücksichtigung toxischer Ursachen für das architektonische Gewackel verzichten: Klarer Fall von Expressionismus lautet seine Diagnose (14).

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Abb. 14

Eine weitere Arbeit Oberländers, diesmal aus dem Jahre 1877. Kein selbständiges Bild, sondern eine von mehreren Stationen eines Berichterstatters, den es zum Kriegsschauplatz zieht, in die­ sem Fall wird uns die >Noch nicht bestätigte Nachricht seines Heldentodes< vor Augen geführt (15). Stante pede sei dem überaus

Noch nicht bestätigte Meldung seines Heldentodes

Abb.

zerrissenen Motiv das Meidner-Pendant hinterhergeschickt, seine Zeichnung >Die Kanone< von 1914, zwei - nehmt alles nur in al­ lem - bombige Blätter (16).

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Abb. 16

Bevor ich in die Schluß- und Zielgerade meiner Überlegun­

gen einbiege, soll ein weiterer Künstler eine weitere, noch wenig erforschte Variante der Beziehung zwischen Kunst und Karika­ tur beisteuern, ich meine die Künstlerkarikatur, präziser gesagt: Die von einem Künstler gezeichnete Karikatur, die im vorliegen­ den Falle sogar den Künstler selbst und dessen Kunst ins Visier nimmt. Die Rede ist von dem Präraffaeliten Edward Burne-Jones, dessen Ölmalerei dieses Bild von 1886 ins Gedächtnis rufen soll

(17). Das Gemälde schildert eine Szene der Perseus-Sage — der Held zeigt der Andromeda im Spiegel das unheilvolle Haupt der Gorgo vor dem Hintergrund eines schönen Orangenhaines.

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Abb. Z7

Runde, orangenähnliche Formen auch auf einem anderen Bild — und sie sind auch schon alles, was der Selbstkarikaturist BurneJones auf seine Leinwand gezaubert hat (18). Allerdings ist diese Zeichnung erst der Anfang eines Dreibilder-Strips, an dessen Ende eine recht überraschende Pointe steht. Meiner Fundstelle, dem Buch >Die Kunst der Karikatun von Edward Lucie-Smith, entnehme ich, daß Burne-Jones solche Karikaturen für den Haus­ gebrauch zeichnete und den Briefen an beispielsweise seine Frau Kathie beilegte — uns interessiert vorerst der Fortgang der Hand­ lung und die Verzweiflung des Künstlers angesichts seiner an Warhols Blumenbilder gemahnenden gereihten vegetabilischen Formen (19). Nicht lange! Denn unversehens wird aus dem Zer­ störten ein Zerstörer (20). In einem destruktiven Akt nimmt er vorweg, was Lucio Fontana etwa sechzig Jahre später noch ein-

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I9!

Abb. iS

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Abb. 20

mal erfinden sollte - wenn ich mich recht erinnere, nannte der Italiener seine Burne-Jones-Variante »Spazialismus«. Auf zwei Vorarbeiten, sagte ich, gründen sich diese Überle­ gungen, die zweite kann ich um so hemmungsloser nutzen, als sie von mir stammt. Als ich vor zwölf Jahren gebeten wurde, etwas zu Wilhelm Busch zu schreiben, stieß ich bei vorbereitender Lek-

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türe immer wieder auf jene Wohlwollenden, die den Karikaturi­ sten Busch dadurch aufwerten zu meinen glaubten, daß sie auf den Maler Busch hinwiesen und darauf, daß dieser recht flotte Pinselschwinger den Impressionismus vorweggenommen habe. Dem widersprach ich heftig, und weil’s so schön zum Thema paßt, möchte ich mit graphischen Belegen für diesen Wider­ spruch schließen. Allerdings nicht ohne vorher meinen imaginierten Kollegen Karikaturisten aufmunternd auf die Schulter ge­ klopft zu haben: Kopf hoch, Kumpel! Kunst kommt von Können, und wenn jemand was gekonnt hat, dann waren es die Karika­ turisten vergangener Zeiten, deren »Ihr könnt uns alle mal« bis auf den heutigen Tag keinen Staub angesetzt hat, sehr im Ge­ gensatz zu dem Gros der Documenta-Teilnehmer verflossener Jahre. Oder erinnert sich noch jemand an einen Birolli oder einen Bargheer? Beide waren sie dabei, als die Documenta 1955 aus der Taufe gehoben wurde, heute sind ihre Namen, wenn überhaupt, nur noch Spezialisten geläufig. Nicht so der Name Busch, der frei­ lich einer der heftigsten Vorwegnehmer aller Zeiten gewesen ist. Nicht als Maler, sondern als komischer Zeichner. Der nämlich nahm so ziemlich alles vorweg, was viel spätere Stilrichtungen und Künstler dem Menschenbild und der Welt der restlichen op­ tischen Erscheinungen antun sollten. Busch hat nämlich

den Jugendstil vorweggenommen

den Pointillismus

den Expressionismus

den Kubismus

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den Kubismus, jawohl

den Futurismus

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KARIKATUR

den Surrealismus

den Tachismus

den Tachismus, doch

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die Op- bzw. Pop-Art und

die Neue Figuration. Ferner nahm Busch eindeutig und zweifelsfrei folgende Künstler

vorweg:

Salvador Dali und Claes Oldenburg

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Henry Moore

Jean Dubuffet

Alberto Giacometti

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sowie Günter Uecker und

Soweit meine Belege - mögen nun andere die Fackel aufgreifen und weitere Fälle von weiteren Wettläufen zwischen diesen Hoch­ kunsthasen und uns Karikaturigeln erhellen; der Befund - da bin ich sehr zuversichtlich - wird stets der gleiche sein: Wir sin all dor.

WENN KÜNSTLER ZUVIEL WITZELN

In Kassel laufen zwei größere Ausstellungen, die Documenta IX und die Caricatura II. Beide versuchen, witzig zu sein, die Caricatura-Witze fand ich frischer. Im Museum für Sepulkralkultur haben die Organisatoren der Caricatura, Achim Frenz und An­ dreas Sandmann, deutschgezeichnete Witze zum Thema Sterben und Tod versammelt: »Schluß jetzt!« Nein, nein, bitte weitermachen. Einiges ist sehr schön getuscht - ein Tusch für Gerd Glück -, vieles ist lustig, alles tritt ange­ nehm unprätentiös auf. Außerdem kann man in Hurzlmeiers Kunstautomaten wirklich schöne Kunst zu Spottpreisen erwer­ ben: Mit vier Mark sind Sie dabei. Fünfmal soviel kostet allein der Eintritt in die Documenta, und so schildert Thomas Wagner, Kunstkritiker der FAZ, einen der dort ausgestellten Scherze: »Im Obergeschoß des Museums Fri­ dericianum präsentiert Georg Herold lakonisch zwei geschlos­ sene, grau gestrichene Türen. Wie Bilder sitzen sie auf der Wand. Auf der linken Tür steht in schlichter schwarzer Schrift geschrie­ ben: >There is nothing leftThere is no rightc Ein ironisches, ein scherzhaftes und doppelbödiges Spiel mit Worten, mit politischen und ästhetischen Bezügen.« Ironisch, scherzhaft, doppelbödig? Nicht eher: abgestanden? Wie oft ich diese Pseudoparadoxa bereits gesehen habe! Wann hat Magritte unter eine gemalte Pfeife geschrieben: »Dies ist keine Pfeife?« Wann Arakawa auf eine leere Leinwand: »Ich habe be­ schlossen, diese Leinwand leer zu lassen?« — Vor dreißig Jahren? Vor siebzig Jahren? Vor hundert? Ein weiterer Documenta-Türenwitz geht so, diesmal zitiert nach >Die Zeit< und Petra Kipphoff: »Damit keine Verwechs­ lungen passieren, montiert Erika Rothenberg über an der Wand gestellte Türen die Schilder: Damen, Herren; Damsels, Knights; Cowgirls, Cowboys; Vaginas, Penises; Assholes, Assholes.« Ja - da weiß man mal wieder nicht, was tun: Soll man sich nun vor Lachen bepissen? Oder lieber gleich in die Hose scheißen?

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Oder einen auf den Schreck trinken: »Weiter unten in der Halle dann ein kleinerer Apparat, wie der Getränkeautomat in der Kneipe mit den Hähnen für Cola und Sprite, hier zur Selbstbedie­ nung mit Urin, wahlweise vom Pferd, von der Kuh, vom Schaf,

von der Frau. Ein Primanerscherz mit Bürgerschreckniveau.« Den Bürger möchte ich sehen, dem solche Scherze noch einen Schreck einjagen - gut fünfundzwanzig Jahre nach den Schmud­ delhappenings der Österreicher Nitsch und Mühl und ihren Live-

Pinkeleien, fünfunddreißigjahre nach Manzonis mit >Artists Shit< beschrifteten Aluminiumdosen, achtzig Jahre - oder tausend? nach Duchamps in New York ausgestelltem Urinal, betitelt >FontäneKarikaturisten-Lexikon< zu besprechen? Erratenl Er schaut nach, ob er selber drinsteht. Ich stehe drin, soviel sei schon jetzt verraten, doch zunächst möchte ich einigen anderen Herren den Vortritt lassen, Zeichnern, die mir so nahestehen, daß ich sie persönlich mit dem konfrontieren konnte, was Flemig über sie zusammengetragen hat. Ich rede natürlich von meinen Freun­ den von der sog. »Neuen Frankfurter Schule«, und bereits beim Stichwort »Bernstein, F. W.« kündigte sich das an, was jede wei­ tere Überprüfung erhärten sollte: Mit den Fakten nimmt es der

Flemig aber nicht so genau. Bernstein beispielsweise war nicht »seit 1972 Kunsterzieher« - das war er bereits seit 1966 -, sondern Dozent an der Göttinger PH; er wurde nicht »1985« ordentlicher Professor in Berlin, son­ dern 1984; er arbeitete nicht mit »Robert Gerhardt« zusammen, sondern mit einem Herrn ähnlichen Namens; der Held ihres er­ sten Gemeinschaftswerks war nicht »Arnold Rau«, sondern Ar­ nold Hau; er stellte nicht bei der »Karikatura-Documenta« aus, da es eine solche Doppelausstellung nie gegeben hat, sondern ledig­

lich bei der »Caricatura«, die 1987 erstmals in Kassel, parallel zur sehr viel bekannteren Documenta, veranstaltet wurde; und Bern­ stein hat auch nie ein Buch mit dem irritierenden Titel »Der Zeichner als Studentenwerk« veröffentlicht. Die Broschüre hieß:

>Der Zeichner alsHeute< und >RevueTrend< beliefert zu ha­ ben und vermutet eine Verwechslung mit >twenTaktik der Verführung< nennt und von Flemig vierzehn Zei­ len später auch so angeführt wird; Poths Buch >Tanz auf dem Vul-

kan< erschien nicht »1982«, sondern 1984, sodann fehlt jeder Hin­ weis auf die folgenden Bücher, auf >Frankfurt oder Ein letzter Tag der Menschheit! von 1986 oder auf >Neunzig Jahre Überfluß< von

1990 — und das bei einem Lexikon, das 1993 als Erscheinungsjahr angibt und im Vorwort behauptet, Daten bis 1990 zu berücksich­ tigen. Und so fortan: Hans Traxlers Comicfigur war nicht der Hund »Negro«, sondern Nero, auch »zeichnet« er nicht »Werbekari­ katuren für den Bundesverband des deutschen Güterfernver­ kehrs« - das hat er Vorjahren einmal gemacht, Anfang der 70er. F. K. Waechter schließlich war nicht »Mitgründer von >pardonWelt im Spiegelt keine Zeitkritik ent­ hielt, sondern Nonsens, und daß der nicht schreibend war, son­ dern geschrieben. Konfus wird es dann wieder bei Waechters Werken, da geht aber auch alles durcheinander: Unter »Filme« führt Flemig an »Der Beinemacher« — recte ein Theaterstück namens >Die Beinemachert - sowie drei weitere, nie verfilmte

Stücke fürs Kindertheater, und »>Die Bären im Brunnent (auch für Erwachsene)« - dabei handelt es sich um ein bisher unver­ filmtes Kinderbuch, das >Die Bauern im Brunnent heißt und fünf-

SCHLAG NICHT NACH BEI FLEMIG

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zehn Zeilen später auch von Flemig korrekt angeführt wird, dies­

mal freilich inmitten von fast durchgehend fehlerhaften Buch­ titeln wie »Brülle dich zum Fenster raus« statt Brülle ich..., »Opa

Hucks Mitmachkabinett« statt Opa Huckes..., »Es lebe die Frei­ heit« statt des von Waechter mit Absicht verkürzten >Es lebe die Freiheit Erste Zwischenbilanz: Der Flemig ist eine ziemliche Katastro­ phe. - Einwand: Aber die Karikaturistenwelt besteht doch nicht

nur aus Mitgliedern der NFS! Vielleicht hat der Flemig bei ande­ ren Biographien mehr Glück?! - Einspruch stattgegeben. Wen hat der Flemig denn noch so zu bieten? — Jeden, der seit plusminus 1750 einen Stift in der Hand gehalten und damit etwas Karikaturenähnliches zu Papier gebracht hat. Im >KarikaturistenLexikon< taucht unerwarteterweise auf: »Lichtenberg, Georg Christoph«, weil der »eine Vorliebe für Karikaturen« hatte: »In seinen Briefen benutzte er diese zur Illustrierung seiner Gedan­ ken.« Wir finden ferner »Eichendorff, Joseph Frh. von«, denn: »Zahlreiche Zeichnungen in seinen frühen Tagebüchern (18001812) zeigen den Sinn des Jungen für das Karikieren«, auch Eduard Mörikes und Wilhelm Raabes wird Erwähnung getan und last not least des Top-Karikaturisten »Löns, Hermann, *28. 08. 1866 Culm, f2Ö. 9. 1914 (gefallen bei Reims)«, dem das Kunst­ stück gelang, nach dem Tode karikaturistisch tätig zu werden: »1931 sandte er seinem Freund Traugott Pilf 28 humoristische Postkartengrüße«, die jener - wenn schon okkult, dann aber rich­ tig — veröffentlichte, bevor sie ihn erreicht hatten: »hrsgb. von T. Pilf als Eulenspiegeleien, 1928.« Zweite Zwischenbilanz: Der Flemig ist eine schwere Katastro­ phe. - Einwand: Vielleicht hat der Flemig bei deutschen Karika­ turisten keine allzu glückliche Hand. Aber wie sieht es bei Auslän­ dern aus? Oder gibt es im Flemig gar keine Ausländer? - Einwand stattgegeben. Natürlich gibt’s beim Flemig Ausländer, beispiels­ weise »Crumb, Robert... Sein bekanntester Strip >Fritz the CatSpiegel< veröffent­ licht, ich habe 1982 etwas über ihn im >Spiegel< geschrieben.

Das Ausland ist ein weites Feld, da heißt es auswählen. Aber wie, wenn man nicht Bescheid weiß? Zu Italien fällt Flemig beispiels­ weise ein: »Guareschi, Giovannino«, sowie die seltsam vage Li­ teraturangabe »Lit. (u. a.) Pressebesprechungen in der Bundes­ republik zwischen 1952-1984«. Nicht erwähnt wird der auch in Deutschland hier und da nachgedruckte Politkarikaturist der auf­ lagenstärksten italienischen Tageszeitung, >RepubblicapardonTitanicpardon< —, doch seine Arbeiten waren mir schon früher zu Augen gekommen. Wahr­ scheinlich in Gestalt eines seiner »Schmunzelbücher« aus den 50er Jahren, mit Sicherheit in besagter, 1962 gegründeter Zeit­ schrift. Als ich, zusammen mit dem Freund und Mitstreiter Fritz Weigle alias E W. Bernstein, in die Redaktion eintrat, war der vier­ zehn Jahre ältere Kurt Halbritter der erfolgreichste zeichnende Autor des Verlages Bärmeier und Nikel und zugleich ungemein populär dank seiner Figuren Schorsch und Schaa, die auf Groß­ plakaten und Bierdeckeln schön witzig und gut frankfoderisch für »Binding«-Bier warben. Doch weder der Altersunterschied noch Kurt Halbritters Erfolg und Volkstümlichkeit standen einer an­ regenden Bekanntschaft, dann herzlichen Freundschaft im Wege; wir trafen uns in der >pardonpardonHalbritters Buch der Entdeckungen im Hanser Verlag erschienen - all das mag als Beleg dafür genügen, daß ich mich als Halbritter-Kenner fühlen durfte und mich auf einigermaßen bekanntem Boden glaubte, als ich im Halbritter-Nachlaß zu suchen und zu blättern begann, den Silvia Stenger auf das Übersichtlichste archiviert und

damit zugänglich gemacht hat. Doch es sollte anders kommen. »Anders liest der Knabe Terenz, anders der Greis«, sagt ein geflügeltes Wort, und auch ich bekam angesichts der Blätter zu spüren, wie sehr die Zeit den Blick zu ändern vermag. Für den, der sich etwas länger auf der Welt umgeschaut hat, ist das natur­ gemäß nichts Neues: Nach plusminus 20 Jahren wird mehr oder weniger alles historisch, Kunstwerke zumal, und meist blickt man etwas verwundert auf frühere Begeisterung zurück: Das hat mich mal gerührt? Das schaudern lassen? Das zum Lachen gebracht? Bestenfalls stellt man fest, daß das älter gewordene Werk die damalige Zustimmung noch immer rechtfertigt; häufiger muß man resignierend eingestehen, daß sich der alte Zauber in alt­ backene Nostalgie verwandelt hat; nur sehr selten geschieht es, daß man sich verwundert und bewundernd die Augen reibt: Wo hatte ich nur damals meine Augen?! So ging es mir beim Wiedersehen mit den Arbeiten Kurt Halb­ ritters aus den 60er Jahren, und noch eine andere Erinnerung wurde korrigiert: Hatte ich bis dahin gemeint, Halbritter sei seit seinen Anfängen Mitte der 50er schon immer unverkennbar Halbritter gewesen, so stellte sich das in der Revision ganz anders dar. Der Beginn des Zeichners ist durchaus zeitkonform, ja kon­ ventionell — um so überraschender seine Wandlung vom — was eigentlich in was? Vom bläßlichen jungen Entlein in den prächti­ gen Schwan? Von der grauen 5oer-Jahre-Raupe in den 6oer-JahrePrachtfalter?

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In jedem Fall geben Kurt Halbritters frühe Jahre Rätsel auf. Bedingt durch Krieg und Kriegsgefangenschaft, ist er bereits 28 Jahre alt, als er sich als freier Karikaturist und Illustrator in Rödelheim etabliert; die frankfurter Rundschau! druckt ihn, viele Zeitungen und Zeitschriften sollten folgen. Mit 30 Jahren - einem für Künstler schon recht reifen Alter - veröffentlicht er sein erstes Schmunzelbuch, >Disziplin ist allesAuf den Hund gekommen!. Auch Kurt Halbritter war mit >Disziplin ist allesi erfolgreich nun hätte er mit Loriot gleichziehen und ein halbrittertypisches Männchen entwickeln können, doch ihn lockt es in andere Rich­ tungen. Im Schmunzelbuch >Rue de Plaisin von 1955 erprobt er zeitbezogenere Sujets mit einem manchmal bereits zeitgenössi­ schen Personal, sein drittes Buch, >JohannesHeimat deine Zwerge«. Zwerge, jawohl, und dennoch ganz und gar zeitbedingte und diesseitige Gestalten. Sie leben in astreinem 5 oer-Jahre-Ambiente und sind von Kopf bis Fuß belebt und beseelt. Statt der breiten Feder hat Kurt Halbritter die dünne Zeichenfeder gewählt, statt der gemächlichen Linie setzt er den nervösen, jedoch nie fahri­ gen Strich ein - wer diesen Wesen beim Saufen und Fressen zu­ schaut, spürt, wie die geballte komische Kraft, die Halbritter in ihre Darstellung gesteckt hat, auf das eigene Körpergefühl ein­

wirkt. Beseelt, ergo belebend, sind auf solch einem Blatt jedoch nicht nur die Protagonisten - auch Gegenstände wie Stühle, Tischtuch und Teppich beginnen ein zuckend pulsierendes Leben zu führen, das wiederum den Betrachter animiert, ja regelrecht elektrisiert (Abb. 2).

Abb. 2: Elektrisierende Zwerge, 1^9

KURT HALBRITTER

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Was ist da passiert? Was hat die Wandlung vorn betulichen, et­ was steifen Johannes zu den quicklebendigen Zwergen bewirkt?

Offen gestanden weiß ich keine Antwort. Ich kann nur soviel sagen: Der neue Geist, der über die Zeichnungen gekommen ist,

stellt ein kleines Wunder dar. Offenbar hat er sich nicht langsam vorbereitet. Offensichtlich ist da nicht Quantität irgendwann in Qualität umgeschlagen. Vielmehr fällt da auf einmal ein Meister vom Himmel, der in all seinen Gesellen jähren bei Licht besehen nie so hoch hatte aufsteigen können. Belassen wir es bei der Fest­ stellung, daß Kurt Halbritter ab 1958 ein unverkennbares Origi­ nal ist, das erkennbar unter Strom steht. In den Folgejahren entsteht Buch um Buch, diese Ausstellung dokumentiert viele von ihnen, ich möchte Ihre Aufmerksamkeit vor allem auf zwei, für mich neue Einsichten lenken. Die eine bezieht sich auf Halbritters Illustrationen, die ich ih­ rer humorigen, manchmal leicht verschnarchten Anlässe wegen - Limericks, Schülerstreiche, Dichterleiden - in den 60er Jahren

Abb. 3: Lernender Lehrer, 196)

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nicht so recht zu klassifizieren und zu würdigen wußte. Heute weiß ich es besser. Heute sehe ich klar und deutlich, daß Kurt

Halbritter die bräsige Erdenschwere der Anlässe locker hinter sich ließ, da er sie lediglich als Startrampe nutzte, um seine mal knäbischen, mal erotischen, mal anarchischen, stets jedoch graphi­ schen Phantasien in immer aberwitzigere und komischere Gefilde zu schießen - man werfe nur einen Blick auf den unseligen Pau­ ker, der das Nachtclubmilieu angeblich für den Französischunter­ richt braucht —: lockendere und lockerer aufs Papier geworfene Bardamen habe ich noch nicht zu Gesicht bekommen (Abb. 3). Die zweite Einsicht verdanke ich dem Archiv. Erst die Sich­ tung der Vorstudien und Skizzen ließ mich erahnen, wie selbst­ kritisch und stilbewußt Kurt Halbritter gearbeitet hat. Dreimal zeichnet er ein und denselben Einfall für sein Buch /Tagebuch einer Minderjährigem, dreimal verändert er Milieu, Protagonisten und Hintergrund um der besseren Ablesbarkeit der Zeichnung und der stärkeren Pointe willen (Abb. 4 bis 6).

»Aas hat sic zu mir gesagt - na warte, laß Deinen Sohn zur Welt kommen!«

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Abb. 4 bis 6: Variationen eines »Minderjahrigen«-Motivs, 196}

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Das /Tagebuch einer Minderjährigem erschien 1965; bei der Gestalt der allen Klischees vom braven, kleinen Mädchen wider­ sprechenden und Zuwiderhandelnden Göre standen sicherlich Ronald Searles kleine Biester vom St. Trinian-Internat Pate, und

doch ist Searles recht selbstverliebte und verspielte Graphik him­ melweit von Halbritters graphischem Furor entfernt, der sich

ganz und gar dem einen Ziel verschrieben hat, die komische Bot­ schaft so schnörkellos und so unwiderstehlich wie möglich an die Frau und an den Mann zu bringen. Bevor ich mit einem Blick auf >Adolf Hitlers Mein Kampfpardon< neben Chlodwig Poth, Hans Traxler und F. K. Waechter zu den prägenden Karikaturisten dieser sehr schnell sehr erfolgreichen Zeitschrift gehörte. Beim Stöbern im Archiv stieß ich auf viele alte und liebe bekannte Blätter - doch auch diesmal blieben Überraschungen nicht aus. 1966 hatte ich aus aktuellem Anlaß — die >Nationalzeitung< behauptete, der Zweite Weltkrieg sei durch Verrat verlorengegangen - einen klei­ nen satirischen Überblick verfaßt, Deutschland, deine Dolch­

stößen Den, so erinnerte ich mich, hatte Halbritter seinerzeit il­ lustriert —: die Wiederbegegnung mit Halbritters Zeichnungen belehrte mich eines Besseren. Das waren keine Illustrationen, da

sich keines der vier Blätter auf eine Episode im Text bezog, das war eher so etwas wie eine zweite Stimme, eine kleine graphische Suite, in welcher Halbritter das Motiv des Dolchstoßes in einer Art und Weise durchspielte, die staunen läßt. Man vertiefe sich nur in das vierte Blatt, in welchem die Ermordung von Ludwig »Caesar« Erhard durch die Verschwörer Strauß, Adenauer und Barzel von einem Rankenwerk umspielt wird, das - grobge­ schätzt - 40 weitere Dolchstoßminiaturen enthält, Früchte einer überschäumenden Phantasie, die sich um keine Kosten-NutzenRechnung scherte; denn natürlich war Halbritter nicht pro Dolchstoß, sondern pro Blatt honoriert worden, unabhängig vom Aufwand, den er darauf getrieben hatte (Abb. 7). 1968 schließlich krönte Kurt Halbritter seinen 1958 begönne-

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Ahh. 7: Dolchstoß-Orgie, 1766

nen zeichnerischen Höhenflug mit einem Meisterwerk, in wel­ chem er die ganze Palette seiner erzählerischen und graphischen Fähigkeiten unter Beweis stellte, mit >Adolf Hitlers Mein Kampf. Gezeichnete Erinnerungen an eine Große ZeitDer Rock’n’Roll-König< ge­ schrieben und gleichzeitig das Buch >Hallo< gezeichnet. Beide sind im Schweizer Verlag Sauerländer erschienen (1982). Hallo ist mittlerweile vergriffen, aber der >Rock’n’Roll-König< behauptet sich ganz prima. Als Hardcover hat er zwei Auflagen erlebt, und die Taschenbuchausgabe bei Rowohlt brummt nach wie vor recht ordentlich. Kürzlich wurde die Dreißigtausender-Hürde locker genommen. Und was ich besonders herzwärmend finde: es gibt seit 1985 eine japanische Ausgabe, die noch heute im Handel ist. Die Zusammenarbeit mit dem Haffmans Verlag begann 1983. >Kriegels Kleine Hundekunde< erschien 1986. Neben der deut­ schen gibt es eine englische, eine französische und eine holländi­ sche Ausgabe.«

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Und es gab lobende Erwähnungen der beiden erstgenannten Bücher durch Hans Mentz, den Humorkritiker der 1979 gegrün­ deten Satire-Zeitschrift >TitanicHallo< gab es neben stillen Ohne-Worte-Blättern, also klassischen Fünfziger-Jahre-Cartoons, auch jede Menge jener Text-Bild-Korrespondenzen, an denen wir uns in >pardonWelt im Spie­ gelt, versucht hatten, also Witze mit Worten, Bildergeschichte, Bildroman, Bildgedicht, Comic; als ein besonders ansprechendes Beispiel einer solchen Bild-Wort-Kombination hatte ich in der Humorkritik folgendes Blatt abdrucken lassen: Da sieht man den Trompeter einer bayerischen Trachtenkapelle, der vor jubelndem Bierzelt das nächste Stück ansagt:

VOLKER KRIEGEL

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Zehn Jahre nach >Hallo< erschien im Haffmans Verlag ein weite­ rer, der bisher letzte und umfangreichste Cartoon-Sammelband von Volker Kriegei, der die in den Worten Cartoon und Kriegei bereits anklingende K-Alliteration furios steigert, >Künstler, Kra­ cher und Konsorten^ ein Werk, welches belegt, wie konsequent Kriegei in diesem Dezennium mit seinem zeichnerischen Pfunde weitergewuchert hat: Sein Strich ist noch beschwingter, die ange­ wandten Techniken sind noch vielfältiger, doch nach wie vor sind Zeichnung und Materialreize nie Selbstzweck, stets dienen sie dem Ziel, den jeweiligen Einfall, so frisch wie denkbar und so fettfrei wie machbar zu präsentieren, auf daß er so rasch und so lustvoll wie möglich konsumiert und goutiert werden kann —: Daß ich an dieser Stelle in Feinschmecker-Jargon verfalle, ist an­ gesichts der vielen Feinschmecker-Cartoons, die hier rundum zu sehen sind, sicherlich kein Zufall. Auf einem der mir liebsten frei­ lich gibt es nichts zu verzehren und nur wenig zu sehen. Es zeigt einen sehr kleinen und sehr, sehr korrekt angezogenen Theodor W. Adorno auf einem gefährlich hohen Hocker vor einem be­ drohlich großen und befremdlich tierähnlichen Flügel. »Teddy mag keinen Jazz«, behauptet die Unterzeile, doch Adornos Kör­ persprache läßt auch eine andere Deutung zu: Zuckt es ihn nicht auffällig in den Fingern? Und schaut er nicht deshalb so bohrend auf den Betrachter, weil er auf dessen Verschwinden wartet, um sodann flugs auszuprobieren, ob er den guten alten »There aint no right life in the wrong«-Stomp noch drauf hat? Spekulationen ge­ wiß - halten wir uns lieber an Gewißheiten. So viel weiß ich je­ denfalls: Daß solche einfach wirkenden Blätter schwer zu zeich­ nen sind. Da ist einmal der Adorno-Kopf, den Kriegei auf eine verblüffend lapidare Formel gebracht hat: Punkt, Punkt, Strich, Strich — fertig ist das Denker-Gesicht. Daß solche Reduktionen - natürlich bei strikter Wahrung größtmöglicher Ähnlichkeit — ein Kunststück sind, wird auch der Laie wahrnehmen. Beim Ken­ ner aber kommt zusätzlich Freude über den auf den ersten Blick recht unspektakulär wirkenden Flügel auf: Wie fehlerfrei die ziemlich heiklen Umrißlinien gesetzt sind! Wie eindringlich die leichte Verzerrung das starre Möbel animiert, sprich beseelt! Wie

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locker schließlich das dräuende Schwarz in den Umriß plaziert worden ist, so, daß man hier und da noch die Kontur sehen oder ahnen kann — all das sind, ich wiederhole mich, doch ich wieder­ hole mich gern, man kann es einfach nicht oft genug sagen: all das sind keine graphischen Raffinessen um der Graphik willen, mit dem Hintergedanken eingesetzt, der Cartoon könne auf diese Weise zum Hochkunstblatt geadelt werden, all das wird unter einem fast sportiven Gesichtspunkt betrieben: Schaun wir mal, wie weit sich Verknappung und Verdichtung von Material und Inhalt treiben lassen - aber hören wir hier noch einmal Kriegei selber: »Was mich wirklich antörnt, ist der gekonnte Strich. Nicht so sehr die Lachpointe. Was ich schätze, ist eine gewisse ästhe­ tische Raffinesse. Willkommen ist eine bestimmte Mischung aus Übermut, Sophistication, luftiger Ironie und Formbewußtsein. Auf for-

Volker Kriegei: >Teddy mag keinen Jag%
pardonWie ver­ kauft man eine satirische Zeitschrift?Die Lage war noch nie so einfach< oder Kurt Halb­ ritters Cartoons zum immergrünen Thema >Wirb oder stirbt.

Freilich: Daß wir bei einem der Beiträge das Gefühl gehabt hätten »Was diese Frankfurter sich traun!« - daran kann ich mich nicht erinnern. Noch war der satirische Frischling recht zahm, zwar nicht bißlos, aber unbissig. Noch... Denn einen Monat spä­ ter erschien die zweite Ausgabe von >pardonBildBildpardonpardon< dal« Was aber hatte den Appetit geweckt? Warum signalisierte eine bren­ nende >BildBildpardonpardonGeliebte Schandmauen überschrieben und erzählte auf vier Seiten in we­ nigen Worten und einprägsamen Bildern, wie die >BildBildBildBildpardonpardonpardon< so etwas wie die satirische Feuertaufe dar, und die Leser honorierten das: »Trotz der Schwierigkeiten, die man uns machte, reichte die erste Auf­ lage von 90 000 Exemplaren nicht aus. Wieder druckten wir 25 Tausend nach«, melden die >pardonBildBildAUes von mirl< nennt sich der 258 Seiten starke vierfarbige Prachtband, den Hans Traxler unlängst bei Zweitausendeins

herausgebracht hat, und das ist, freundlich gesagt, eine dreiste Irreführung. Enthält das Buch doch lediglich jene Cartoons aus

den letzten plusminus zehn Jahren, die bisher ausschließlich in Magazinen zu sehen waren, im Magazin der Süddeutschen Zei­ tung^ im mittlerweile verschiedenen >Zeit-Magazin< und im Ma­ gazin der frankfurter Allgemeinen Zeitung«. »Alles« von Traxler würde einen weit dickeren Band füllen sein Werkregister führt zwanzig Bücher auf, angefangen mit der Wissenschaftsparodie >Die Wahrheit über Hänsel und Gretel«, 1963, über firne, das Buch zum Kanzler«, 1983, bis zum Kinder­ buch >Paula, die Leuchtgans« aus dem Jahre 1998. Doch damit nicht genug: Den Büchern gingen Zeichnungen und Texte für Zeitungen und Zeitschriften voraus. Hans Traxler, der am 21. Mai siebzig Jahre alt wird, veröffentlicht seit mehr als fünfzig Jah­ ren und hat seit seinen Anfängen nicht aufgehört, Wege und Irr­ wege der Bundesrepublik und iher Bundesrepublikaner kritisch zu kommentieren: 1962 gehörte er zu denen, die >pardon< aus der Taufe hoben, die erste ernstzunehmende Satirezeitschrift nach dem >Simplicissimus< von 1896; 1979 war er Gründungsmitglied des »endgültigen Satiremagazins« /Titanic«, das drauf und dran ist, in diesem Jahr die 1982 eingegangene >pardon< als dienstältestes Satireperiodikum der Bonner Republik zu überflügeln. Was Traxler in diesen beiden Zeitschriften als satirischer Zeichner geleistet hat, harrt noch der sammelnden Sichtung. Das Ergebnis wäre eine ebenso erhellende wie erheiternde Chronik, die bis zum Ende der achtziger Jahre führen würde. Von da ab nämlich vertauschte Traxler die angeblich spitze Feder mit dem vermeintlich weichen Pinsel und konzentrierte sich auf eine ko­ mische Mitteilungsform, die hierzulande nach wie vor kaum Tra­ dition und bedauernswert wenig Auftrittsorte hat, den Cartoon.

HANS TRAXLER

Im Laufe der Jahre hatte Hans Traxler alle Möglichkeiten der

komischen Zeichnung ausprobiert, den Witz ohne und mit Wor­ ten, die Bildergeschichte, das Bildgedicht — nun brilliert er im car­ toonistenarmen Deutschland als Cartoonist von Weltklasse: Wie nun je einer der von Komikliebhabern rund um den Globus ge­ schätzten angelsächsischen Cartoonisten bringt er Blatt für Blatt das Kunststück fertig, der scheinbar so witzlosen Welt, in der wir leben, jene raren Pointen abzuluchsen, die den Zeitgenossen auch dann noch lachen lassen, wenn er sich in seiner Rolle als Mann oder Frau oder Vater oder Mutter oder Tourist oder Konsument oder Gutmensch oder Schleckermaul oder Bildungshuber oder

Hans Traxler:

»Sieh nur, er lebt noch, der Geist von '68!«

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Modefuzzi genau getroffen und eiskalt erwischt fühlt. Die Nach­ geborenen aber werden Traxlers >Alles von mir!< als in jedem Detail verläßliche und durchweg fabelhaft gezeichnete Sittenge­ schichte der 8oer und 90er Jahre dieses Gemeinwesens studieren können und sich möglicherweise einen Traxler für ihre ureigenen Ungereimtheiten wünschen. Ob sie einen kriegen werden? Frag­ lich, sehr fraglich. Komische Zeichner wie Hans Traxler werden nur alle plusminus siebzig Jahre gebacken - seien wir froh, daß wir so einen haben.

WAS EIN GUTER CARTOONIST BRAUCHT, WAS EINEN GUTEN CARTOONISTEN AUSMACHT UND WAS EINEM GUTEN CARTOONISTEN ZUSTEHT Ein Geburtstags-Akrostichon auf undfür Hans Traxler

Hände, um den Stift zu führen Augen, das Motiv zu sehn Nerven, die den Zeitgeist spüren Sitzfleisch, um das durchzustehn: Taglang nach Pointen jagen Rastlos auf Vollendung sinnen Allem Mittelmaß entsagen

Xmal wieder neu beginnen —: Lob sei solchem Mann gesungen Ehre, weil er viel gerungen Ruhm, weil ihm so viel gelungen.

FEIER ODER FEUER Zu Bernd Pfarr

»Natürlich müßte auf den Straßen getanzt werden, wenn ein

großer Komiker in die Stadt kommt, und dieser Mann ist ein großer Komiker.«

Derart enthusiastisch begrüßte der New Yorker Starkritiker Alexander Woolcott im Jahre 1924 die Bühnenschau der Marx Brothers, wobei er allen voran Harpo die Palme reichte. Mir ist nicht bekannt, ob sich irgendein Bürger der Millionen­ stadt an Woolcotts Empfehlung gehalten hat, dennoch möchte ich ihr nicht nur zustimmen, sondern sie ausweiten: »Natürlich müßten alle Glocken läuten, auf allen Straßen ge­ tanzt und in allen Parks Feuerwerkskörper entzündet werden,

wenn eine große Comicfigur auf die Welt kommt, und dieser Mann ist eine große Comicfigur.« Womit wir glücklich und zwanglos beim Helden dieses Buches, bei Sondermann gelandet wären. Aber wann genau wurde er gebo­ ren? Und von welchem Sondermann ist hier eigentlich die Rede? Dunkle Fragen, die ich so klar wie möglich zu beantworten ver­ suchen werde. Von Anbeginn war Sondermann zweierlei, eine Figur und eine Beilage, und ich kann sagen, daß ich dabeigewesen bin, als dieses Doppelwesen gezeugt wurde — freilich ohne zu ahnen, welcher Sternstunde ich da beiwohnte. An einem Montag im Sommer 1987 war’s. Nach der traditionellen Redaktionskonferenz saßen >TitanicWimSBerliner Verallgemeinerte
Kolibri< aus. So nämlich hatten die alten Non­

sens-Seiten in >Titanic< geheißen, 1979 ins Leben gerufen, und über Jahre von Richard Kähler und Hans Werner Saalfeld am Leben gehalten. Doch die hatte es wieder ins Hamburgische zu­ rückgezogen, ein neuer Anfang mußte gemacht werden, und Si­ mone Borowiak war nicht faul gewesen, den nach Kräften vor­ zubereiten. Eine ganze Liste möglicher Namen hatte sie zusammengestellt, darunter so umwitterte wie »Leuchtender Pfad«, doch erst bei ihrem Vorschlag »Sondermaus« fiel der Groschen. »Warum nicht gleich Sondermann?« fragte Bernd Eilert scharfsinnig und löste da­ mit eine Freude aus, die durchaus etwas Privatistisches hatte, da der damalige >TitanicTitanic< als nach wie vor einzige Satirezeitschrift im Bereich der ehemaligen BRD und Sondermann, wie bereits gesagt, gleich zweifach. Simone Borowiak nämlich setzte sich nach geglückter Namensfindung mit Bernd Pfarr zu­ sammen, und die Frucht dieser Zusammenarbeit erblickte im September 1987 das Licht der Welt - ein vier Seiten starker Son­ derteil, der noch heute, 1991, so auftritt wie beim allerersten Mal: Die erste Seite nennt das Thema - ¡Sondermann spielt!, ¡Sondermann ißt< etc. - zugleich visualisiert ein großer Sondermann-Cwttoon das Thema, während ein Editorial zum Thema doziert und polemi­ siert. Die beiden Mittelseiten steuern sodann weiteres Material zum Thema bei, vorwiegend Text, immer aber auch einen kleinen Sondermann-Czttoon. Auf der letzten Seite schließlich bringt der Sondermann-Str'vp das Thema nochmals auf den Punkt bzw. zur Strecke — so ging und geht das Monat für Monat. Und doch täuscht dieses äußerliche Gleichmaß. Sowohl Si­ mone Borowiaks Texten als auch Bernd Pfarrs Graphiken diente der strenge Sondermann-Knittm. lediglich als einigermaßen bruch­ sicherer Rahmen für die ziemlich ungebärdigen Kinder ihrer Ein­ bildungskraft. Damit die sich entwickeln konnten, brauchten sie jene Lebensbedingungen, die nur eine Zeitschrift bereitstellen

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kann: einen festen Platz, regelmäßige Termine, fördernden Zu­ spruch und keinerlei Bevormundung. Ob Rubriken lebensfähig sind, merkt der Leser rasch genug und der Kenner noch eher, doch darauf, wie sich Sondermann ent­ wickeln sollte, war auch ich nicht vorbereitet - wobei Sondermann ab jetzt ausschließlich die Comicfigur gleichen Namens meint. Ob ihr Schöpfer Bernd Pfarr von Anfang an gewußt hat, welchen Weg sein Geschöpf gehen würde? Fragen, die dem Betrachter dieses Buches etwas merkwürdig vorkommen mögen. Was heißt hier Sondermann-\fleg, mag der zu­ rückfragen, Sondermann ist doch da, und wie, und das von der er­ sten bis zur letzten Seitel Stimmt, doch das hat mit einer - meiner Meinung nach

goldrichtigen — Entscheidung von Bernd Pfarr zu tun. Da der keine Jb»Hinz & KunzDulle schwer genervte Im gleichen Jahr erschien jedoch auch >Ich liebe dich!Nächte wie SamtSondermann treibt Sport< entlassen, in der nächsten aber, ^Sondermann wird Hypochonder^ tritt er dem Chef dreist als Hy­ pochondermann entgegen; und als der Chef Sondermanns Neger­ radio kaputtmacht, da treibt ihn die nackte Angst zu seiner ebenso verzweifelten wie enthüllenden Tat — um freilich seiner­ seits in der nächsten, der letzten Folge des Buches wieder ganz obenauf zu sein. Ein Jahr lang dauerte die Inkubationszeit von Sondermann, dann, 1990, bekam er Pfarr immer besser in den Griff bzw. um­ gekehrt. Ab 1991 schließlich beginnt die Sondermann-'WtAt sich mit

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neuen Figuren zu bevölkern, die, so scheint es, dem Chef seinen Status als einzig durchgehender Assistenzfigur streitig machen wollen: TNT-Schulze wäre da zu nennen oder Weihönig. Die frei­ lich gehören in ein neues Sondermann-Kapitel, welches einem Fol­ geband vorbehalten bleiben wird und welches ich hier nur deswe­ gen erwähne, um die geradezu unheimliche Fruchtbarkeit zu

belegen, die das Sondermann-Projekt von Anfang an entwickelt hat. Dies aber: daß ein Produkt der Einbildungskraft nicht einfach brav die Gesetze irgendeines Genres oder irgendeiner Gattung erfüllt, sondern sich gleichsam organisch entfaltet und über sich, ja selbst den Schöpfer hinauswächst - das ist der Traum jedes

Bernd Pfarr: >SONDERMANN im Wilden Western

BERND PFARR

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Künstlers, ganz gleich ob er nun eine Romanfigur oder eine Comicfigur in die Welt setzt. Bernd Pfarr hat er sich erfüllt — der wache Betrachter der Jo»//«rzwaw»-Folgen aber kann ihn sympathe­ tisch nach- und mitträumen. Eine durchgehend lustvolle Lektüre ist ihm sicher, auch und gerade dann, wenn sich in mancher Epi­ sode jene bereits erwähnte, durchaus albtraumhafte Bodenlosigkeit auftut - zum Schluß findet er sich ja doch stets auf dem festen Grund von Bernd Pfarrs sehr tragfähiger Komik wieder und kann gefahrlos schaudernd auf jene Momente schaurig-schönen Schwindels zurückblicken. So - und nun bleibt uns allen eigentlich nichts weiter übrig, als die Glockenseile loszubinden, die Tanzschuhe überzustreifen und die Feuerwerkskörper in die Parks zu tragen: Isse große Feier. Sondermann wichtig Feier! Sonst große Feuer!

»SOWAS MÖCHTE ICH AUCH HABEN« Einige Worte

einigen Bildern von Michael Sowa

Arbeiten von Michael Sowa kenne ich seit 1985; sie haben seit­ her nicht aufgehört, mir Freude und Kopfzerbrechen zu bereiten. Über die Freude gleich mehr, über das Kopfzerbrechen sofort et­

was: Wie jedermann, der ein reiferes Alter erreicht hat, sehe ich es eigentlich nicht so gern, wenn eigene einigermaßen probate und durch Erfahrung gefestigte Meinungen in Frage gestellt werden. Das aber tat und tut Sowa mit seinem Malen, und mir wird nichts anderes übrigbleiben, als mich diesen Fragen so furchtlos wie möglich und so ehrlich wie nötig zu stellen. Doch zuvor ein Wort

zur Freude: Eine der reinsten Freuden, welche der Umgang mit bildender Kunst zu bereiten vermag, ist die Entdeckerfreude. Zumal dann, wenn der Entdecker im Laufe der Zeit merkt, daß mehr und mehr Leute seine Freude teilen, wird er sich ihrer immer freudiger erinnern: »Als ich damals in dieser obskuren Galerie am Mont­ martre zum ersten Mal vor einem Cézanne stand - der Mann war zu dieser Zeit noch vollkommen unbekannt —, da wußte ich so­ fort« - ein frühes Wissen um späteren Ruhm, welches der Berich­ tende im Idealfall dadurch belegen kann, daß er diesen Moment nicht nur als Betrachter nutzte: »Heute ist er ja unerschwinglich, aber raten Sie mal, was mein Cézanne damals gekostet hat...« womit sich zur Freude am Fund und der am Bild noch eine dritte gesellt, die am Deal. Von der freilich kann ich anläßlich meiner er­ sten Begegnung mit Sowa schon deswegen nicht berichten, da der mir nicht in einer Galerie als Maler von Bildern, sondern in einem Buch als namenloser Wahlkämpfer entgegentrat. >Bevor uns schwarz vor Augen wird: Buntes aus dem Untergrund< hieß die Dokumentation, um eine Großflächenkampagne der AL in Berliner U-Bahnhöfen ging es. Der Anlaß war der Berli­ ner Wahlkampf 1985 gewesen, das Besondere der Kampagne aber hatte darin bestanden, daß all die Motive Originale, also Unikate waren, von Hand auf große, transportable Werbeflächen gemalt.

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MICHAEL SOWA

Daß ich, der Frankfurter, von diesen Berliner Umtrieben er­

fuhr, war kein Zufall. Zu jener Zeit war ich in der Zeitschrift Ti­ tanic! als Mit-Humorkritiker tätig, und Hans Mentz, der gräm­ liche Herr, hinter welchem meine kritisierenden Kollegen und ich uns zu verstecken pflegten, wurde von zahlreichen Verlagen mit wie immer komischen Veröffentlichungen beliefert. Pflichtschul­ dig nahm ich denn auch die Broschüre der Berliner >Elefanten

Press< in die Hand. Die Titelgraphik, ein sauber durchgemalter hechelnder Bär un­ ter verrußter Glasglocke, war sehr gelungen, drinnen aber wurde der fromme Kinderglaube der AL erbarmungslos widerlegt, daß wer ein Anliegen habe, das auch in Wort und Bild zu formulieren in der Lage sei. Die ersten Seiten boten nichts als den kruden Di­ lettantismus engagierter Bürgerinitiativen und Bezirksgruppen, schon blätterte ich immer lustloser, als ich, fast widerstrebend, immer häufiger vor Abbildungen verharrte, die mustergültig knappe Worte mit ebenso lapidaren, erstaunlich stilsicheren Bil­ dern verbanden. Wer war der Maler? Es brauchte Zeit, bis ich dahinterkam. Allem Personenkult ab­ hold, hatte die AL nämlich jedwede Autorennennung unter den Abbildungen vermieden, und erst der Hinweis, der Titel sei »un-

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ter Verwendung eines Motivs von Michael Sowa« gestaltet wor­ den, brachte mich auf die richtige Spur: Daß alle gelungenen Pla­

kate der Dokumentation von Sowa stammten, erkannte ich, und: Daß dieses mir vollkommen unbekannte Talent offenbar dazu in der Lage war, zwischen ganz unterschiedlichen, jedoch unter­ schiedslos gekonnten Darstellungsweisen zu wählen - der feinge­ malte Glockenbär des Titels (Abb. i) taucht im Buch ein zweites Mal auf, diesmal als Plakatmotiv im Format von 3,56 x 2,52 m und dementsprechend plakativ hingestrichen (Abb. 2). All das hatte

meine Neugierde geweckt, ich rief Sowa an und referierte das Gehörte als Hans Mentz in der >TitanicWitziger Wahl­ kampf, ohne doch nur entfernt zu ahnen, mit wem ich es da zu

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tun hatte: »Sowa nämlich kann etwas, was ganz wenige können: komplexe bzw. komplizierte Sachverhalte auf eine verblüffend einleuchtende und zugleich unterhaltende Formel bringen.« Es sollte etwas dauern, bis ich nach und nach mitbekam, daß er noch ganz andere, sehr viel seltenere Künste beherrschte. Von denen soll gleich die Rede sein, zuvor noch einige Eckdaten: Sowa wurde 1945 in Berlin geboren, von 1965 bis 1972 stu­ dierte er auf der dortigen Hochschule für bildende Künste das Fach Kunstpädagogik, wobei dieses Studium, dem Zug der Zeit folgend, mehr und mehr in den Hintergrund trat. Ende der Sech­

ziger wurde Sowa Mitglied des trotzkistischen Spartacus, rück­ blickend schreibt er in einem Brief, aus welchem ich noch häufi­ ger zitieren werde: »Zu meiner >KadertdtigkeitLandschaft< (Abb. 3). Unübersehbar ihre Herkunft aus der Kunstgeschichte - Ruisdael mag da Pate ge-

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standen haben, vielleicht auch Elsheimer und zugleich bezau­ bert dieses Kunstgebilde durch eine kalkulierte Natürlichkeit, die nicht ganz von dieser Zeit ist. Denn während noch Auge und Kopf das Abgeleitete der Landschaft registrieren und das Gut­ gemachte kennerhaft würdigen — bemerkenswert, mit wie wenig Informationen der Eindruck verläßlicher Naturtreue erweckt wird! —, derweil sind Herz und Bauch dem Sog des Dargestellten bereits erlegen, ohne sich groß darum zu kümmern, ob man heute noch so malen kann. Daß Sowa es kann, sieht man ja, und an­ standslos besetzt der Betrachter den doppeldeutigen Prospekt ist der nun anheimelnd oder unheimlich? - mit Erinnerungen und Phantasien, angezogen von jenem lockenden Blau, der eben­ so traditionellen wie unverbraucht suggestiven Farbe der Ferne. Eine Bildtiefe, welcher die einigermaßen heikle Technik ent­ spricht, mit welcher Sowa diese frühen Bilder gemalt hat. Uber

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eine Gouache-Untermalung auf Preßplatte kam eine Schicht Klar­ lack, dessen glänzende Oberfläche stumpfgewischt und erneut mit Gouache bemalt wurde, worauf eine weitere Schicht Klar­ lack folgte - und so fortan, bis sich nach zehn, zwanzig und mehr Schichten jene satten Dunkelheiten und fast funkelnden Licht­ punkte einstellten, die entfernt an Lack- oder Emaillearbeiten er­ innern.

»Die Bühnenbilder waren da, die Darsteller mußten noch gefunden wer­ den. Beispiele: Schwein auf Floß, Ehepaar mit Hund auf der Wiese, Mäd­ chen mit Gorilla im Ruderboot...«

Ein Motiv, das Sowa zwischen dem Ende der 70er und Mitte der 80er mehrfach variiert hat, Variationen, die mit der gleichen vertrackten Schlichtheit funktionieren wie die noch unbelebte Landschaft; jedenfalls tun dies zwei der drei Fassungen: Unmög­ lich, vor diesen Bildern keine Gefühle zu haben. Daß die sich vor der - zeitlich — dritten Version (Abb. 4) nicht so recht einstellen wollen, ist kein Zufall. Zu sehr wird hier der

Kopf in Anspruch genommen, zu sehr wird das Motiv à la Ma­ gritte verfremdet, wird gut surrealistisch das Disparate (Baum, Raum, Boot) alogisch geeint — alles in allem ein Bild, das zweifel­ los der klassischen Moderne verpflichtet und einigermaßen pro­

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blemlos den mehr oder weniger phantastischen Realismen der 70er Jahre zuzuordnen ist. Aber wohin mit den beiden anderen Versionen? Woher kommt beispielsweise die große, düstere, auf­ gewühlte Fassung (Abb. 5)?

An niederländische Marinemaler erinnert sich der Kopf, mög­ licherweise denkt er sogar an Aiwasowski - er ist halt hochge­ bildet und kennt jenen fabelhaften russischen Wind- und Wellen­ spezialisten des vorigen Jahrhunderts, von dem Sowa freilich noch nie etwas gehört hat. »Caspar David Friedrich«, sinniert der Kopf weiter, »Mönch am Meer - der gleiche bleierne Himmel, die­ selbe Schutzlosigkeit des winzigen Menschen angesichts einer schrecklich unverbindlichen, durch keinerlei Vordergrundstaf­ fage begrenzten und domestizierten Natur - als wären einem die Augenlider weggeschnitten, wie es Kleist vor dem Bilde Fried­ richs so treffend ausgedrückt hat...« »Hat er das?« fragt da der Bauch ebenso höflich wie geistes­ abwesend - sitzt er doch längst schon mit im Boot und weiß wie­ der mal nicht so recht, wie ihm ist: flau oder tatenfroh, ängstlich oder entschlossen. »Hauptsache, die Kleine weiß, wo es langgeht«, beruhigt ihn das Herz und ist ganz Auge. Obwohl es auf dem Bild eigentlich nicht viel zu sehen gibt, kann es sich nicht sattsehen: All diese

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strudelnde Bewegung, die nur für den Moment des Betrachtens innezuhalten scheint, um, kaum daß sich der Betrachter abwen­ det, ungestört weiterzuwogen. All diese flüchtigen Zustände des sich unablässig wandelnden Wassers, mal transparent, mal un­ durchlässig, mal locker schäumende Gischt, mal lastende Masse. »Nicht schlecht gemacht«, stimmt der Kunstverstand zu, »handwerklich geradezu brillant...«, und dunkel schwant ihm,

daß dieses Bild durchaus mehr ist als die Summe der Teile, die ihm dazu eingefallen sind: Auf seinem Weg durch die Kunstge­ schichte scheint dem kindgesteuerten Nachen das von Kleist be­ schworene Kunststück gelungen zu sein, dem Ziel einer durch Kunstfertigkeit wiedererlangten Unschuld ziemlich nahezukom­ men. Hat er das gar erreicht? Auf jeden Fall ist der Kahn nicht gesunken. Auf der kleineren Version (Abb. 6) haben sich die Wogen geglättet, muß das Mäd­ chen nicht mehr die Richtung anzeigen, kann sich der Gorilla ge­ lassener in die Riemen legen. »So könnte ein Film enden«, sagt der Kunstverstand, »eigentlich kitschig: Ein Paar rudert ins Abendlicht.« »Ist doch gar kein Abendlicht, sondern lediglich ein kurzes

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Aufklaren des düsteren Himmels«, widerspricht der Augenschein. »Und was heißt hier >Paar