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German Pages 304 Year 2020
David Kaller Territorien und Grenzen in der Kunst
Image | Band 175
David Kaller, geb. 1983, lebt in Berlin und promovierte im Graduiertenkolleg »Automatismen« an der Universität Paderborn. Er war Stipendiat der Studienstiftung des Deutschen Volkes.
David Kaller
Territorien und Grenzen in der Kunst Zu Begriff und Ästhetik territorialer Ordnungen in zeitgenössischen Werken
Die Fertigstellung dieses Buches wurde durch das DFG-Graduiertenkolleg »Automatismen« der Universität Paderborn ermöglicht. Ein besonderer Dank gilt Frau Prof. Dr. Inga Lemke und Herrn Prof. Dr. Horst Bredekamp. Große Unterstützung erhielt das Projekt zudem durch Dr. Kristin Wenzel, Matthias Drechsler und Lara Buch. Gedankt sei auch der Kolleg-Forschergruppe »Bildakt und Verkörperung«.
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Inhalt
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Einleitung | 7
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Das Territorium: Begriff und Repräsentation | 33
2.1 Zur Definition des Territoriums | 33 2.2 Das Territorium als Prozess | 42 2.3 Repräsentationen des Territoriums | 50
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WELTKARTEN UND TERRITORIALE GRENZEN 3
Karten und Territorien in der Werkreihe Mappa von Alighiero Boetti | 55
3.1 Kartografie in Boettis Frühwerk | 55 3.2 Weltkarten in Peschawar | 71 3.3 Mappa: Variation und Zufall territorialstaatlicher Ordnungen | 82 Grenzlinien und Grenzräume bei Francis Alÿs | 87 4.1 Loop: Die territoriale Grenze zwischen den USA und Mexiko | 87 4.2 Don’t Cross the Bridge Before You Get to the River: Das Mittelmeer als territoriale Grenze | 101 4.3 Abwesenheit und Präsenz der territorialen Grenze | 130 4
II OZEANE UND INSELN 5
Territoriale Ordnungen der Weltmeere bei Andreas Gursky | 139
5.1 Oceans: Vom unberührten zum ökonomischen Raum | 139 5.2 Oceans und Antarctica: Zwischen Fotografie und Malerei | 158 5.3 Territorialisierung der Weltmeere | 172
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Territorialkonflikt im Ostchinesischen Meer bei Ai Weiwei | 177
6.1 Diaoyu Islands: Die Materialität der Höhenschichten | 177 6.2 Map of China: Zeugnisse territorialer Zugehörigkeit | 190 6.3 Der Territorialkonflikt als Modell | 200
III MILITÄRISCHE TERRITORIEN 7
Das militärische Territorium Vieques bei Jennifer Allora und Guillermo Calzadilla | 205
7.1 Land Mark: Die Simulation des territorialen Raumes | 205 7.2 Land Mark (Foot Prints): Spuren der territorialen Besetzung | 220 7.3 Markierung und Veränderung des territorialen Raumes | 230 8
Militärische Drohnentechnologie und territoriale Räume bei Trevor Paglen und Omer Fast | 235
8.1 Untitled (Drones): Himmelsdarstellungen und territorialer Luftraum | 235 8.2 5000 Feet is the Best: Abwesenheit und Nähe zum Territorium | 253 8.3 Geliehene Augen und entfernte Territorien | 263 9
Schlussbemerkung: Das Territorium zwischen Sichtbarkeit und Entzug | 269
10
Quellenverzeichnis | 275
10.1 Literatur | 275 10.2 Internet | 294 10.3 Abbildungen | 297
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Einleitung
Abb. 1: Francis Alÿs: Green Line (2003).
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Eine Fotografie zeigt den Künstler Francis Alÿs dabei, wie er eine von Hügeln und Bäumen umgebene Straße hinaufgeht (Abb. 1). Er hält in seiner rechten Hand eine Farbdose, aus der Lack hinausfließt. Eine grüne Spur zeugt von seinem zurückgelegten Weg. Direkt vor ihm befindet sich ein Militärposten, an dem ein Soldat Patrouille hält. Eine Flagge deutet darauf hin, dass es sich um einen israelischen Grenzübergang handeln könnte. Es handelt sich bei der Fotografie um einen Ausschnitt von Alÿs Performance Green Line. In dieser künstlerischen Arbeit bezieht sich Alÿs auf die territoriale Grenze zwischen Israel und Palästina. In seiner künstlerischen Annäherung verweist er auf die komplexe Geschichte des israelischpalästinensischen Konflikts. Der Fokus seiner künstlerischen Annäherung richtet sich jedoch insbesondere auf die Frage nach der Repräsentation und Wahrnehmung von Territorien und Grenzen. Vor diesem Hintergrund steht die Arbeit Green Line für ein künstlerisches Werk, in dem sich wesentliche Aspekte und Fragestellungen dieser Untersuchung miteinander verschränken. Der Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit ist die Frage nach der Repräsentation von Territorien und territorialen Grenzen in der zeitgenössischen Kunst. Der belgische Künstler, der in Mexiko City lebt, realisierte die Arbeit Green Line im Juni 2004. Es handelt sich um eine filmisch dokumentierte Performance, die er an zwei Tagen durchführte.1 Alÿs durchquerte in diesem Zeitraum die Stadt Jerusalem entlang jener Strecke, die bis in das Jahr 1967 die offiziell anerkannte Waffenstillstandsgrenze zwischen Israel und Jordanien darstellte. Die filmische Dokumentation der Performance beginnt mit der Nahaufnahme eines auf dem Boden stehenden Farbeimers, in dem mit Hilfe eines Schraubenziehers ein kleines Loch geschlagen wird. Die Kameraeinstellung folgt daraufhin dem Künstler, der eine Straße hinabgeht. Aus dem Farbeimer, den Alÿs in seiner rechten Hand hält, fließt stetig grüne Lackfarbe, die
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Die filmische Dokumentation seiner Performance ist auf der Homepage des Künstlers abrufbar. Sie entstand in Zusammenarbeit mit Philippe Bellaiche, Rachel Leah Jones und Julien Devaux und besitzt eine Länge von 17:41 Minuten. Francis Alÿs hat zudem elf Personen, darunter Wissenschaftler, Künstler und Architekten eingeladen, die filmische Dokumentation zu kommentieren. Diese Interviews sind ebenfalls auf der Homepage des Künstlers zugänglich. URL: http://francisalys.com/the-green-line/ (Stand: 30.06.2020).
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sich als feine Linie auf dem Boden abzeichnet und als Spur die von ihm zurückgelegte Strecke markiert. Alÿs begibt sich über Haupt- und Nebenstraßen der Stadt Jerusalem. Er folgt dem Pfad einer alten Bahnschiene, überwindet brachliegende Berghänge und durchquert auf seiner Strecke kleine Vororte und Grenzübergänge. Insgesamt legte Alÿs im Rahmen der Performance eine Strecke von ungefähr 24 Kilometern zurück und hinterließ auf seinem Weg etwa 58 Liter Farbe.2 Im Anschluss an die erste Sequenz der filmischen Dokumentation wird der Ausschnitt einer Karte Israels eingeblendet. Es handelt sich um jene Karte, der im Anschluss an den israelischen Unabhängigkeitskrieg im Jahr 1948 eine besondere Bedeutung zukam. Auf ihr zeichneten der Repräsentant Jordaniens, Abdullah at-Tall, sowie der israelische General Mosche Dajan die Grenzlinien ein, die bis in das Jahr 1967 die territoriale Aufteilung zwischen Israel und Jordanien bestimmten. Abdullah at-Tall nutzte dazu einen roten Filzstift, Mosche Dajan zeichnete die Grenzlinie Israels mit einem grünen Filzstift ein. Die ‚Green Line‘, auf die Alÿs im Titel seiner Arbeit explizit Bezug nimmt, wurde zur offiziell anerkannten Waffenstillstandsgrenze des israelischen Staates. In diesem Zuge wurde auch die Stadt Jerusalem in zwei Gebiete aufgeteilt. Der Ostteil Jerusalems wurde einschließlich der Altstadt zum Hoheitsgebiet Jordaniens, wohingegen der westliche Teil Jerusalems Israel zugesprochen wurde. Dadurch verlief eine Grenzlinie mitten durch die Stadt. Dies führte auch dazu, dass der Zugang der Israelis zur für das Judentum bedeutenden Klagemauer versperrt wurde. In Folge des Sechstagekrieges vom 5. bis zum 10. Juni 1967 zwischen Israel und den Staaten Jordanien, Ägypten und Syrien erweiterten sich die von Israel besetzten Gebiete. Die ehemals syrischen Golanhöhen wurden ebenso von Israel besetzt wie die zuvor zu Ägypten gehörenden Gebiete des Gaza-Streifens und die Sinai-Halbinsel. Von Jordanien eroberte Israel das Westjordanland und insbesondere den östlichen Teil Jerusalems, in dem sich auch die historische Altstadt befindet.
2
Vgl.: Gieskes, Mette: „The Green Line. Potency, Absurdity, and Disruption of Dichotomy in Francis Alÿs’s Intervention in Jerusalem“. In: The Imagined and Real Jerusalem in Art and Architecture. Hrsg. v. Jeroen Goudeau, Mariette Verhoeven u. Wouter Weijers. Leiden 2014. S. 33 – 58. S. 37.
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Bis zu dem Zeitpunkt im Jahr 2004, zu dem Alÿs seine Performance realisierte, verschoben sich die Grenzlinien Israels in der Stadt Jerusalem zusehends und die besetzten Gebiete verfestigten sich im Rahmen der israelischen Siedlungspolitik.3 Im Zusammenhang mit Francis Alÿs Arbeit kommentiert der Kurator Mark Godfrey diese Situation: The green line constituted Israel’s eastern border until after the 1967 war, when it occupied territory up to the River Jordan. Whatever discussions had taken place in the early 1990s regarding the Israeli withdrawal from the West Bank and the formation of a Palestinian state in formerly Jordanian territory, few Israelis – even on the left – advocated a return to the green line when it came to the area of Jerusalem. Most argued that the city should not be divided. Meanwhile, the strategic government supported settlement of thousands of Israelis east of the line made such a withdrawal a demographic impossibility.4
Francis Alÿs Performance kann als eine künstlerische Annäherung an die Frage nach der territorialen Aufteilung Jerusalems verstanden werden. Dieses Thema bestimmt bis heute den israelisch-palästinensischen Konflikt. In der Arbeit richtet sich der Fokus auf die historische Veränderung territorialer Grenzen im Stadtraum und ihrer Repräsentation durch das Medium der Kartografie. Bezüglich der Motivation, die künstlerische Arbeit in Jerusalem durchzuführen, führt Alÿs an: „There were specific reasons why I chose Jerusalem as the site for that project. It wasn’t a commission, it was a project that I sought out, and I think I chose Jerusalem because it was – in terms of an intervention within a conflict situation – the one that was the most archetypal.“5 Bereits neun Jahre zuvor führte er in einer ähnlichen Herangehensweise eine Performance in Sao Paulo mit dem Titel The Leak durch, bei der er während eines Spaziergangs durch die Stadt blaue Farbe aus einem kleinen
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Vgl.: Johannsen, Margret: Der Nahost-Konflikt. Wiesbaden 2006. S. 98ff.
4
Godfrey, Mark: „Politics/Poetics: The Work of Francis Alÿs“. In: Francis Alÿs: A Story of Deception. Hrsg. v. Klaus Biesenbach, Mark Godfrey u. Kerryn Greenberg. Ausstellungskatalog. London 2010. S. 8 – 33. S. 22.
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Dezeuze, Anna: „Walking the Line: Francis Alÿs interviewed by Anna Dezeuze“. In: Art Monthly, 323. Veröffentlicht: 2/ 2009. S. 1 – 6. S. 4.
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Farbeimer fließen ließ. An das Prinzip des Ariadnefadens6 erinnernd, folgte er im Anschluss der Farbspur auf den Straßen und begab sich dadurch wieder zurück in die Galerie, an der seine Tour begann. Im Jahr 2002 wiederholte er eine ähnliche Form der Stadterkundung in Paris. Mehrere Ebenen der künstlerischen Annäherung an den Stadtraum verbinden sich dabei miteinander: Das Flanieren, die Aneignung des städtischen Raumes im Gehen, die enge Verbindung zwischen körperlicher Bewegung im Raum und der farblichen Spur, bei der die Straße im Sinne einer Leinwand genutzt wird.7 Ein wesentlicher Unterschied zu den zuvor durchgeführten Performances besteht in Green Line durch die Einbettung in einen dezidiert politischen Kontext. Die zurückgelegte Strecke folgt einer durch die kartografisch fixierte Grenzlinie festgelegten Route. Alÿs bezieht sich dadurch auf eine historische Grenzlinie, die zum Zeitpunkt seiner Performance zwar noch den israelisch-palästinensischen Konflikt prägt, sich jedoch zu großen Teilen nicht mehr im städtischen Raum Jerusalems abzeichnet. Der israelische Architekt und Schriftsteller Eyal Weizman bemerkt in diesem Zusammenhang: The line, marked on most Palestinian and international maps (but on very few official Israeli maps), has been consumed, blurred and erased by the built reality of the ever-expanding city. To walk along this map line is to cut a path through new neighbourhoods, roads, lines of infrastructure, barriers and checkpoints that make the material basis for the contemporary spatial politics of Jerusalem.8
Alÿs setzt in seiner Performance die kartografische Grenzlinie Israels aus dem Jahr 1948 in ein direktes Verhältnis zum realen Raum. Die Markierung der kartografischen Grenzlinie wird auf den städtischen Raum übertragen und im Sinne einer Karte, die einen Maßstab von 1:1 besitzt, nachgezeich-
6
Der griechischen Mythologie nach half Theseus ein Faden dabei, aus dem Labyrinth zurückzukehren, nachdem er den Minotaurus getötet hatte.
7
Vgl.: Kastner, Jens: „Flaneur und Tourist unter Vagabunden. Francis Alÿs und die Psychogeographie der Globalisierung“. In: Kritische Berichte. Zeitschrift für Kunst- und Kulturwissenschaften, 32. Veröffentlicht: 3/ 2004. S. 76 – 83.
8
Weizman, Eyal: „The 1:1 Map“. In: Francis Alÿs: A Story of Deception. Hrsg. v. Klaus Biesenbach, Kerryn Greenberg u. Mark Godfrey. Ausstellungskatalog. London 2010. S. 175 – 177. S. 175.
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net. Vor diesem Hintergrund wird die konventionalisierte Darstellungsform der Linie aus dem Medium der Kartografie auf jene räumliche Ebene zurückgeführt, die die Karte repräsentiert. Weizman kommentiert diese Vorgehensweise ebenfalls in Bezugnahme auf die kartografische Maßstabsveränderung: „To drip paint over the surface of the city along this line is to transform, for the duration of this walk, the territory into a map, a one-to-one map, as large as the territory and as detailed.“9 Bereits zum Zeitpunkt der Grenzziehung im Jahr 1948 verlief die grün markierte Grenzlinie durch zusammenhängende Siedlungen, überlagerte einzelne Häuser und orientierte sich nicht an der Infrastruktur der Stadt. Sie unterlag darin einer Logik, die auf der kartografischen Perspektive der Draufsicht basierte, nicht aber den räumlichen, lebensweltlichen Strukturen in Jerusalem entsprach. In der filmischen Dokumentation seiner Performance lässt sich die konkrete Route nicht gänzlich nachvollziehen, doch wird auch Alÿs nicht uneingeschränkt den Pfad der alten Grenzlinie verfolgt haben. Gebäude, über die Zeit veränderte Straßenzüge und andere Barrieren forderten womöglich nicht nur Umwege ein, sondern verweisen auch auf die Folgen der territorialen Aufteilung, auf die sich die kartografische Grenzlinie im konkreten Stadtraum Jerusalems auswirkte.10 Ein zusätzlicher Aspekt, den Alÿs in seiner Vorgehensweise aufzeigt, liegt in der mangelnden Genauigkeit, mit der die ehemalige Grenze kartografisch repräsentiert wurde. Godfrey schreibt dazu mit Blick auf die Arbeit von Alÿs: „He was aware that this act of mapping was already an act of violence: not only did it separate communities, but since it was drawn with a blunt pencil, the line, when translated to actual ground, was in some cases as thick as 60 metres and thus occupied precious territory.“11 Dadurch, dass die von Mosche Dayan verwendete Karte einen Maßstab von 1:25.000 besaß und die Schriftstärke des grünen Filzstiftes mehrere Millimeter betrug, weitete sich die eingezeichnete Grenzlinie im realen Raum auf eine Breite von bis zu 60 Metern aus. Darin unterscheidet sich die historische Grenzlinie entscheidend von jener, die Alÿs symbolisch im Raum nachzieht. Während sie bei ihm eine feine Linie darstellt, handelte es sich bei
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Weizman, Eyal (2010): S. 175.
10 Vgl.: Chiodelli, Francesco: Shaping Jerusalem: Spatial Planning, Politics and the Conflict. New York 2017. S. 6ff. 11 Godfrey, Mark (2010): S. 22.
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der im Jahr 1948 kartografisch fixierten um einen territorial schwer zu definierenden Raum, der weder gänzlich der Seite Israels noch Jordaniens zugehörig war. Die territoriale Grenze und das damit verbundene Grenzregime12 haben sich seit dem Jahr 1948 wesentlich verändert. Zum Zeitpunkt von Alÿs künstlerischer Arbeit im Jahr 2004 wird ihr Erscheinungsbild zu weiten Teilen von technologisch aufgerüsteten Sperranlagen aus Beton, Wachtürmen, militärischen Grenzposten und einer Überwachung des Luftraumes dominiert. Auf diese Veränderung verweist auch Godfrey, der schreibt: It could be seen as a visual reminder of the 1948 armistice line at a time when a new boundary – to the east of the green line – was being marked by the ‚separation wall‘, and when even those on the mainstream left in Israel preferred to ignore the earlier boundary. Another approach would be to see it in the context of the changing physical and conceptual status of the border. In 1948, a linear idea of a border had some purchase on reality, but by 2004, as Eyal Weizman has recognised, the ‚border‘ in this area was actually a three-dimensional complex. Parties contested the ownership of the water table and of air space, and indeed of tunnels, overpasses, even the various floors of houses. By making his green line so feeble, Alÿs could be seen to recognise the obsolescence of a purely linear idea of a border in the present age.13
Die Vorstellung der Grenze als Linie, auf die Alÿs Bezug nimmt, wird in seiner künstlerischen Annäherung durch ihr heutiges Erscheinungsbild in Jerusalem gespiegelt. Bereits in dieser kurzen Skizze der Arbeit Green Line deuten sich mehrere Aspekte an, die im Rahmen der hier vorliegenden Untersuchung zentral sind. Historische, politische und soziale Bedeutungen der Grenze, des Territoriums und der Repräsentation Jerusalems tauchen als Bezugs-
12 Der Begriff Grenzregime umfasst legislative, administrative, institutionelle und technische Maßnahmen und Praktiken, die sich auf die Etablierung sowie auch die Kontrolle von Grenzen beziehen. Eine Annäherung an unterschiedliche Phänomene mit dem Schwerpunkt auf Europa bieten: Hess, Sabine u. Kasparek, Bernd (Hrsg.): Grenzregime. Diskurse, Praktiken, Institutionen in Europa. Berlin/ Hamburg 2010. 13 Godfrey, Mark (2010): S. 24.
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punkte der Arbeit auf.14 Die Wahl des künstlerischen Mediums und die spezifischen ästhetischen Annäherungen an das Thema rufen sowohl Ähnlichkeiten und Parallelen zu Alÿs eigenem Werk als auch zu anderen Positionen innerhalb der Kunstgeschichte auf. Die Arbeit Green Line eröffnet eine Reihe von Fragen, die sich sowohl auf die Repräsentation der Grenze als auch auf den Begriff des territorialen Raumes beziehen. Sie steht damit beispielhaft für den Schwerpunkt der vorliegenden Untersuchung: Auf welche Vorstellung der territorialen Grenze wird Bezug genommen? Welche Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang dem Medium der Kartografie zu und welchen Anteil besitzt diese darin, ein spezifisches Bild des Raumes mit hervorzubringen? Wie werden die Grenze und der territoriale Raum auf ästhetischer Ebene in eine Sichtbarkeit überführt? Welche Aspekte des Territoriums geraten durch die künstlerische Annäherung in den Blick und welche rücken in den Hintergrund? Fragestellung Der Begriff des Territoriums wird in der wissenschaftlichen Rezeption nicht eindeutig definiert.15 Er wird häufig als umgrenzter Raum unter der Herrschaft einer Gruppe verstanden. Beispielhaft für diese Umschreibung ist ein Zitat des Geographen David Storey: „Territory refers to a portion of geographic space which is claimed or occupied by a person or group of persons or by an institution.“16 Diese Definition ist weit verbreitet und findet Verwendung in unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen bis hinein in die Alltagssprache.17 Obwohl das Territorium zu den zentralen Begriffen im Feld der Politischen Theorie, Geographie und Internationalen Beziehungen gehört, ist zum Konzept des Territoriums bislang wenig geforscht worden. Zahlreich sind hingegen exemplarische Fallstudien und Untersuchungen, die sich auf spezifische Territorien und Territorialkonflikte beziehen. In diesem
14 Vgl.: Gieskes, Mette (2014): S. 33. 15 Siehe dazu ausführlich Kapitel 2. 16 Storey, David: Territory: The Claiming of Space. Harlow 2001. S. 1. 17 Das Territorium gehört zu den zentralen Begriffen der Geographie sowie der Geschichts-, Politik- und Sozialwissenschaften.
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Sinne stellt der Geograph Stuart Elden in seinem Buch The Birth of Territory aus dem Jahr 2013 fest: „While there are some excellent and important investigations of particular territorial configurations, disputes, or issues, and some valuable textbooks on the topic, there is a little that investigates the term territory conceptually or historically.“18 In dem breiten Spektrum an Forschungsarbeiten zum Territorium, zu territorialen Grenzen sowie Territorialkonflikten führt dies dazu, dass der Begriff oftmals mehrdeutig verwendet wird.19 Begriffe wie Raum, Gebiet und Staat werden dem Territorium nahezu synonym herangezogen, wodurch eine begriffliche Unschärfe einerseits sowie eine unterkomplexe Verwendung des Begriffs des Territoriums andererseits entsteht.20 Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, zu Beginn dieser Untersuchung auf die begriffliche Komplexität des Territoriums zu verweisen. Eine zentrale Publikation zum Begriff des Territoriums stammt von dem französischen Geographen Jean Gottmann. Sein Buch The Significance of Territory wurde im Jahr 1973 veröffentlicht. Im Vorwort beschreibt Gottmann die Bedeutung, die dem Territorium im Kontext unterschiedlicher Disziplinen zukommt: To politicians, territory means the population and the resources therein, and sometimes also the point of honor of irredentist claims. To the military, territory is topographic features conditioning tactical and strategic considerations as well as distance or space to be played with; occasionally it is also resources in terms of local supplies. To the jurist, territory is jurisdiction and delimitation; to the specialist in international law it is both an attribute and the spatial extent of sovereignty. To the geographer, it is the portion of space enclosed by boundary lines, the location and internal characteristics of which are to be described and explained.21
Etwas überspitzt, dennoch sehr aufschlussreich, hebt Gottmann Fokussierungen hervor, die durch unterschiedliche Disziplinen in der Perspektive
18 Elden, Stuart: The Birth of Territory. Chicago 2013. S. 3. 19 Paasi, Anssi: „Territory“. In: A Companion to Political Geography. Hrsg. v. John A. Agnew, Katharyne Mitchell u. Gerard Toal. Oxford 2003. S. 109 - 122. S. 109. 20 Vgl.: Elden, Stuart (2013): S. 3. 21 Gottmann, Jean: The Significance of Territory. Charlottesville 1973. S. ix.
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auf das Territorium in den Blick geraten. In dem zitierten Textabschnitt deutet sich an, wie auf unterschiedliche Weise der Begriff als Beschreibungs- und Analysekategorie herangezogen wird. Verschiedene Ebenen, die sich mit dem Territorium verbinden, werden benannt. Das Territorium als Raum von Bevölkerung und Ressourcen, als strategischer und operativer Raum von Handlungen, das Territorium als ein spezifischer Rechtsbereich, als räumliche Ausweitung von Souveränität bis hin zu seiner Bedeutung im Sinne eines eindeutig umgrenzten Gebietes. In dieser Benennung unterschiedlicher Bereiche wird die Bandbreite deutlich, die sich mit dem Begriff des Territoriums verbindet. Eine ergänzende Definition bietet der französische Politikwissenschaftler Pierre Hassner. Er beschreibt das Territorium als ein Konglomerat mehrerer Bereiche, die zusammengenommen die Spezifik des Begriffs auszeichnen: It is three things: a piece of land, seen as a sacred heritage; a seat of power; and a functional space. It encompasses the dimension of identity […]; of authority (the state as an instrument of political, legal, police and military control over a population defined by its residence); and of administrative bureaucratic or economic efficiency in the management of social mechanisms, particularly of interdependence.22
Hassners Definition greift Aspekte auf, die bereits bei Gottmann genannt werden. Er führt darüber hinaus weitere Dimensionen an, die zentral für ein Verständnis des Territoriums sind. Der territoriale Raum besitzt eine identitätsstiftende Funktion und ist eng verwoben mit unterschiedlichen Machtpraktiken und Verwaltungstechniken. Eine erste Arbeitsdefinition des Territoriums, ausgehend von Gottmanns und Hassners Beschreibungen, wäre demnach: Das Territorium ist ein raum-politisches Machtgefüge, geprägt durch strategische, ökonomische, kulturelle sowie juristische Praktiken und Technologien. Diese Definition zeigt dennoch zugleich, dass ein Verständnis des Territoriums wesentlich auch davon bestimmt wird, wie die mit ihm verbundenen Bereiche wiederum begrifflich vorgestellt und
22 Hassner, Pierre: „Obstinate and Obsolete: Non-Territorial Transnational Forces versus the European Territorial State“. In: Geopolitics in the Post-Wall Europe: Security, Territory and Identity. Hrsg. v. Pavel Baev, Victoria Ingrid Einagel u. Ola Tunander. London 1997. S. 45 – 58. S. 57. (Schreibweise im Original).
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bestimmt werden. Daher macht Elden darauf aufmerksam: „Anstatt die zentralen Begriffe und Vorstellungen als selbstverständlich hinzunehmen, sollten wir ‚begrenzt‘, ‚Raum‘ und ‚Herrschaft‘ bzw. ‚Kontrolle‘ genauer definieren. Das wird uns dazu führen, die Spezifik von Territorium besser zu verstehen.“23 Im Anschluss an diese erste Annäherung, was unter einem Territorium zu verstehen ist, zeigt sich, dass mehrere der genannten Aspekte in der Arbeit Green Line von Francis Alÿs auftauchen: Im Zentrum seiner Arbeit steht die territoriale Grenze als Vorstellung einer eindeutigen Abgrenzung des Staatsgebietes. Mit ihr verbinden sich strategische, militärische und politische Praktiken der Grenzziehung und Grenzsicherung. Alÿs Arbeit hebt dabei zum einen auf die historische Veränderung der Außengrenze Israels ab. Zum anderen thematisiert Green Line die Form, mit der die Grenze repräsentiert wird. In der klassischen Grenzforschung wird die Grenze „als Linie in der Ebene gedacht, welche zwischen zwei staatlichen Gebieten verläuft und dabei keinen nicht-staatlich besetzten Raum erzeugt.“24 Diese Vorstellung, die Alÿs in seiner künstlerischen Herangehensweise durch die Überführung der kartografischen Grenzlinie auf den städtischen Raum Jerusalems buchstäblich vorführt, verweist auf einen wichtigen Aspekt in der Repräsentation von Territorien. Sie ist in der Regel an eine mediale Vermittlung gebunden. Zum zentralen Medium der Repräsentation von Territorien, insbesondere des Territorialstaats, gehört die Kartografie. „Kartenbilder gehören zu eindringlichsten ‚Visualisierungen‘ räumlich-politischer Verhältnisse“, betont der Historiker Karl Schlögel.25 Die Ausdehnung sowie die Grenzen eines territorial besetzten Gebietes finden ihren Ausdruck in der visuell-räumlichen Darstellungsform der Karte. Im Medium der Kartografie wird der Raum in eine zweidimensionale Übersicht gebracht. Kar-
23 Elden, Stuart: Die Entstehung des Territorium. Hrsg. v. Erlanger Beiträge zur Kulturgeographie. Erlangen 2011. S. 2. 24 Laube, Lena: Grenzkontrollen jenseits nationaler Territorien: Die Steuerung globaler Mobilität durch liberale Staaten. Frankfurt am Main 2013. S. 23. 25 Schlögel, Karl: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. München 2003. S. 86.
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ten, so der Kulturwissenschaftler Wladimir Velminksi, „konstruieren Flächen, projektieren Räume und schaffen so erst Wissen und Territorien.“26 Velminski betont an dieser Stelle zwei wichtige Aspekte. Zum einen sind Karten zentral dafür, Territorien zu repräsentieren und somit ein Wissen über territorial besetzte Gebiete zu schaffen und zu dokumentieren. Zum anderen repräsentieren Karten nicht allein räumliche Verhältnisse, sondern konstruieren sie zugleich.27 Territoriale Ordnungen anhand der Kartografie zu analysieren, fordert in diesem Sinne immer auch eine medienkritische Perspektive mit ein.28 Der Philosoph Alfred Korzybski hat auf die Differenz zwischen Karte und Territorium verwiesen: „A map is not the territory it represents, but, if correct, it has a similar structure to the territory, which accounts for its usefulness.“29 Hinzuzufügen ist dem, dass ein Verständnis des Territoriums, welches dieses nicht allein auf ein umgrenztes Gebiet reduziert, mehr einfordert als das, was in der Regel auf politischen Kartenwerken gezeigt wird. Beispielsweise führen sie weder die Strittigkeit von Grenzziehungen, noch die daran beteiligten Machtpraktiken und auch nicht seine Ausdifferenzierung in einen spezifisch abgegrenzten Rechtsraum vor. Politische Kartenwerke reduzieren insofern die Komplexität eines Territoriums in seiner Repräsentation. Vor diesem Hintergrund steht Francis Alÿs Arbeit Green Line symptomatisch für ein Phänomen der Thematisierung von Territorien und territo-
26 Velminski, Wladimir: „Mysterien der Kartographie“. In: Visuelle Argumentationen. Die Mysterien der Repräsentation und die Berechenbarkeit der Welt. Hrsg. v. Horst Bredekamp u. Pablo Schneider. München 2006. S. 225 – 252. S. 225. 27 Vgl.: Krämer, Sybille: „Karte – Kartenlesen – Kartographie. Kulturtechnisch inspirierte Überlegungen.“ In: Bild/Geschichte. Festschrift für Horst Bredekamp. Hrsg. v. Philine Helas, Maren Polte, Claudia Rückert u. Bettina Uppenkamp. Berlin 2007. S. 73 – 82. S. 74. 28 Vgl.: Harley, John Brian: „Maps, Knowledge and Power“. In: The Iconography of Landscape: Essays on the Symbolic Representation, Design and Use of Past Environments. Hrsg. v. Denis Cosgrove u. Stephen Daniels. Cambridge 1988. S. 277 – 312.; Krämer, Sybille: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität. Frankfurt am Main 2008. S. 298ff. 29 Korzybski, Alfred: Science and Sanity: An Introduction to Non-Aristotelian Systems and General Semantics. Lakeville 1948. S. 58.
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rialen Grenzen in der zeitgenössischen Kunst. Die künstlerische Annäherung an das Thema der territorialen Grenze Israels führt Alÿs zugleich als eine kritische Auseinandersetzung mit dem Medium der Kartografie und der Territorialpolitik Israels vor. Feststellen lässt sich in diesem Zusammenhang, dass sich zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler in ihren Arbeiten auf sehr unterschiedliche Phänomene und Ausprägungen von Territorien beziehen.30 Drei Bereiche sollen an dieser Stelle hervorgehoben werden. Erstens betrifft dies den geographischen Raum. Hier rücken ausgewählte Staaten, staatliche Außengrenzen als auch spezifische Regionen in die Aufmerksamkeit. Eine umfangreiche Auseinandersetzung in künstlerischen Arbeiten zeigt sich in diesem Zusammenhang mit jenen Räumen, die durch eine aktive Grenzpolitik geprägt sind. Markante Bezugspunkte, die etwa auch im Werk von Francis Alÿs auftauchen, stellen beispielsweise die Grenze zwischen den USA und Mexiko, die europäische Außengrenze sowie die Bedeutung der territorialen Grenze im Konflikt zwischen Israel und Palästina dar.31 Zweitens lässt sich erkennen, dass in Werken der zeitgenössischen Kunst eine Bezugnahme auf Territorien ganz unterschiedlicher Skalierungen stattfindet. Die politische Karte als globale und regionale Repräsentation von Territorialstaaten tritt dafür beispielhaft in Werken der zeitgenössischen Kunst auf.32 Thematische Bezüge richten sich auf die Weltmeere, Territorialkonflikte um Meereszonen und Inseln.33 Einzelne Regionen der Erde rücken in den Fokus bis hin zur künstlerischen Thematisierung von
30 Siehe dazu den Abschnitt zur Forschungsübersicht in der Einleitung. 31 Exemplarisch: Mona Hatoum: Present Tense (1996), Francis Alÿs: The Loop (1999), Yto Barrada: The Strait of Gibraltar (2003), Alban Biussat: The Green(er) Side of the Line (2005), Wolfgang Tillmans: Empire (US/ Mexico border) (2005), Herman Asselberghs: Capsular (2006), Francis Alÿs: Don’t Cross the Bridge Before you Get to the River (2008). 32 Exemplarisch: Alighiero Boetti: Map of the World (1989), Mona Hatoum: Map (1998), Dierk Schmidt: The Division of the Earth (2005/ 2007), Ai Weiwei: World Map (2006), Reena Saini Kallat: Woven Chronicle (2011). 33 Exemplarisch: Allan Sekula: Fish Story (1989 – 1995), Charles Lim Yi Yong: Sea State (2005 – heute), Andreas Gursky: Oceans (2010), Ai Weiwei: Diaoyu Islands (2013).
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Exklaven und militärischen Sperrzonen von nur wenigen Quadratkilometern.34 Drittens liegt die Perspektive künstlerischer Positionen auf spezifischen Aspekten, die sich auf Territorien und territoriale Grenzen beziehen. Neben der Frage nach der kartografischen Repräsentation greifen zahlreiche Künstlerinnen und Künstler Themen der Migration, Identität, Überwachung und Kontrolle auf, die eng mit dem Begriff des Territoriums verwoben sind.35 Angesichts der Fülle an künstlerischen Arbeiten, die auf inhaltlicher Ebene eine Verbindung zum Thema Territorien und territoriale Grenzen besitzen, muss zwangsläufig eine Perspektivierung einerseits sowie eine Begrenzung des Korpus andererseits vorgenommen werden. Die Auswahl der Werke, die im Rahmen dieser Untersuchung für eine Analyse herangezogen wird, erhebt weder den Anspruch, das breite Spektrum an künstlerischen Annäherungen an Territorien abzubilden, noch die Vielzahl zentraler Territorialkonflikte unserer Zeit abzudecken. Der Korpus wird vielmehr gezielt im Hinblick auf die Fragestellung dieser Untersuchung zusammengestellt und dieser untergeordnet. Die leitende Forschungsfrage richtet sich, wie bereits hervorgehoben, auf die mediale Sichtbarkeit von Territorien und territorialen Grenzen in der zeitgenössischen Kunst. Aus dieser Schwerpunktsetzung ergeben sich folgende Unterfragen: Welche spezifischen Aspekte des Territoriums werden in der zeitgenössischen Kunst thematisiert? Auf welche Bildwelten, Diskurse und mediale Repräsentationen von Territorien referieren die künstlerischen Arbeiten? Wie wird auf bildlicher und medialer Ebene ein Wissen über den territorialen Raum geformt und gefestigt? Wie werden in exemplarischen Werken der zeitgenössischen Kunst unterschiedliche Aspekte des Territoriums auf ästhetischer Ebene in eine Sichtbarkeit überführt?
34 Exemplarisch: Jennifer Allora & Guillermo Calzadilla: Land Mark (2003), Jeff Wall: War Game (2007), Simon Norfolk: Burke + Norfolk (2010). 35 Exemplarisch: Emily Jacir: Memorial to 418 Palestinian Villages Which Were Destroyed, Depopulated, and Occupied by Israel in 1948 (2001), Mona Hatoum: Routes II (2002), Ursula Biemann: Sahara Chronicle (2006 – 2009), Trevor Paglen: Untitled (Reaper Drone) (2010), Omer Fast: 5000 Feet is the Best (2011), James Bridle: Drone Shadow (2014).
Einleitung | 21
Für die Auswahl des Korpus werden künstlerische Arbeiten herangezogen, die exemplarisch für drei große Themenbereiche von Territorien in der zeitgenössischen Kunst stehen. Dies betrifft erstens den Bereich von Territorialstaaten und territorialen Außengrenzen. Die politische Weltkarte gehört bis heute zu den zentralen Medien in der Repräsentation einer territorialen Aufteilung und Ordnung der Erde in Staaten. Die territoriale Grenze stellt zudem einen zentralen Ort dar, von dem aus Territorien als raum-politische Machtgefüge gedacht und repräsentiert werden. Der zweite Bereich richtet sich auf die Weltmeere sowie exemplarisch auf Territorialkonflikte um Inseln. Oftmals außerhalb der territorialen Aufteilung der Erde in Staaten gedacht, gehören sie aus ökonomischer sowie militärisch-strategischer Perspektive zu jenen Gebieten, die in hohem Grade von territorialen Ansprüchen unterschiedlicher Akteure geprägt sind. Der dritte Bereich betrifft den Komplex militärischer Territorien sowie militärisch-strategischer Praktiken innerhalb von Territorien. Insbesondere der Einsatz von Technologien, wie der militärisch genutzter Drohnen, verändert im 21. Jahrhundert die Wahrnehmung und Bedeutung territorialer Räume. Vor diesem Hintergrund bezieht sich der Begriff der Repräsentation auf zwei Aspekte innerhalb der Untersuchung.36 Zum einen beziehen sich die Künstlerinnen und Künstler in ihren Arbeiten bereits auf existierende Medien der Repräsentation unterschiedlicher Territorien. Die künstlerische Thematisierung territorialer Räume, die wahrgenommen, angeeignet und genutzt werden, ist dahingehend „eng verknüpft mit der symbolischen Ebene der Raumrepräsentation (etwa durch Codes, Zeichen, Karten).“37 Zentral ist in diesem Zusammenhang, dass dem Begriff der Repräsentation
36 Der Repräsentationsbegriff besitzt eine vielschichtige Bedeutung, die weit über seine alltagssprachliche Verwendung im Sinne von Darstellung, Stellvertretung und Vergegenwärtigung hinausreicht. Im Kontext dieser Arbeit ist ein ästhetischer Repräsentationsbegriff zentral. Exemplarisch: Hall, Stuart: „The Work of Representation“. In: Representation. Cultural Representations and Signifying Practices. Hrsg. v. Stuart Hall. London 1997. S. 13 – 74.; Burke, Peter: What is Cultural History?. Cambridge 2004. S. 77 – 99.; Mitchell, W. J. T.: Bildtheorie. Frankfurt am Main 2008. S. 77ff. 37 Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek bei Hamburg 2014. S. 293.
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nicht die Annahme unterliegt, es werde, etwa durch Karten, der Raum wiedergegeben, wie er ist. Die Kategorie der Repräsentation wurde innerhalb der Kunstgeschichte an vielen Stellen einer Kritik unterzogen. In diesem Zusammenhang merkt Niels Werber an: Heute relativieren die meisten aktuellen Reflexionstheorien der Kunst die Repräsentation mit Hinweis auf die Eigengesetzlichkeiten von Medien und Formen. Kunstwerke werden nicht mehr am Grad der Übereinstimmung zwischen Repräsentation und Repräsentiertem gemessen, sondern als Selektionsbündel aufgefaßt, die nach Maßgabe von Stil, Gattung, Medium usw. aus einem Möglichkeitshorizont ihre Wahl treffen.38
Die verwendeten Medien selbst besitzen einen Anteil darin, einen Gegenstand in seiner Repräsentation als solchen mit zu konstruieren und hervorzubringen. Repräsentation bedeutet insofern nicht, dass eine Ähnlichkeit zwischen dem zu repräsentierenden Gegenstand und seiner Darstellung angenommen wird. Der Philosoph John Goodman hat auf diesen Gedanken im Rahmen seiner symboltheoretischen Auseinandersetzung mit dem Begriff der Repräsentation dezidiert hingewiesen: „Tatsache ist, daß ein Bild, um einen Gegenstand repräsentieren zu können, ein Symbol für ihn sein, für ihn stehen, auf ihn Bezug nehmen muß; und daß kein Grad von Ähnlichkeit hinreicht, um die erforderliche Beziehung der Bezugnahme herzustellen. Ähnlichkeit ist für die Bezugnahme auch nicht notwendig; fast alles kann für fast alles andere stehen.“39
Zum anderen bezieht sich der Begriff der Repräsentation im Rahmen dieser Untersuchung auf die Arbeiten der zeitgenössischen Kunst, die auf ästhetischer Ebene eine Sichtbarkeit von territorialen Ordnungen für den Betrachter erzeugen und darin an einer Repräsentation des Territoriums
38 Werber, Niels: „Repräsentation, repräsentativ“. In: Ästhetische Grundbegriffe. Band 6. Hrsg. v. Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhart Steinwachs u. Friedrich Wolfzettel. Stuttgart 2003. S. 264 – 290. S. 277. 39 Goodman, John: Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie. Frankfurt am Main 1995. S. 17.
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beteiligt sind. Das Zitat von Goodman ist auf dieser Ebene insofern zentral, als dass diese Sichtbarkeiten auf unterschiedlichen Ebenen hergestellt werden und nicht an visuell wahrnehmbare Formen gebunden sind. Beispielsweise kann die verwendete Materialität einer künstlerischen Arbeit, ihre Textur und deren haptischen Qualitäten dazu beitragen, eine sinnliche Erfahrung zu bieten, die jedoch in keiner direkten Ähnlichkeitsbeziehung zu jenem Bereich des territorialen Raumes steht, auf den sie im Kontext des künstlerischen Werkes abhebt. Werkauswahl Im Zentrum der Untersuchung stehen exemplarische Einzelanalysen. Die Werkauswahl folgt insbesondere zwei Kriterien. Erstens richtet sich der Korpus künstlerischer Arbeiten nach dem herausgearbeiteten Spektrum an Bereichen, in denen wesentliche Aspekte territorialer Räume in Erscheinung treten: Repräsentation von Territorialstaaten und territorialen Grenzen, die territoriale Aufteilung der Weltmeere und Territorialkonflikte um Inselgruppen sowie militärische Territorien und die veränderte Bedeutung des territorialen Raumes im Kontext gegenwärtiger militärischer Technologien. Zweitens wurden künstlerische Arbeiten ausgewählt, in denen auf ästhetischer Ebene die mediale Sichtbarkeit von Territorien thematisch wird. Die Werkreihe Mappa des italienischen Künstlers Alighiero Boetti aus den Jahren 1969 bis 1994 bildet die Grundlage für die Analyse einer künstlerischen Thematisierung der kartografischen Repräsentation von Territorialstaaten. Boetti ließ politische Weltkarten zunächst im afghanischen Kabul und später in pakistanischen Flüchtlingslagern als großformatige Wandteppiche nachsticken. Aufgrund ihres aufwendigen Herstellungsprozesses stehen die gestickten Weltkarten nicht nur für eine Form des Medientransfers und einer damit verbundenen Nobilitierung handwerklicher Fähigkeiten der traditionellen Stickkunst in dieser Region. Sie repräsentieren insbesondere eine für diese Untersuchung relevante, künstlerische Thematisierung der medialen Form politischer Weltkarten und verweisen auf die Verschiebung territorialstaatlicher Ordnungen über einen Zeitraum von drei Jahrzehnten. Im Hinblick auf die Repräsentation territorialer Grenzen wurden zwei Werke des Künstlers Francis Alÿs ausgewählt. Seine Arbeit Loop aus dem Jahr 1999 bezieht sich auf die Grenze zwischen den USA und Mexiko. Alÿs performative Annäherung an diesen noch heute aktuellen Grenzdis-
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kurs bezieht sich auf die Grenzlinie und ihre Darstellung im Medium der Kartografie. In der künstlerischen Herangehensweise wird zudem ein Diskurs über global verteilte Transitzonen herangezogen. Eine zweite Grundlage innerhalb dieses Kapitels stellt die Arbeit Don’t Cross the Bridge Before You Get to the River aus dem Jahr 2003 dar. Ebenfalls von der performativen Praxis des Künstlers geprägt, bezieht sich diese Arbeit auf die europäische Außengrenze zwischen Gibraltar und Marokko. Im Fokus stehen die maritime Außengrenze und Diskurse zur Migration von Nordafrika in die Europäische Union. Das Motiv der Weltmeere wird anhand von zwei künstlerischen Arbeiten analysiert, die implizit auf die territoriale Ordnung und Aufteilung des maritimen Raumes abheben. Andreas Gurskys fotografische Serie Oceans aus dem Jahr 2010 stellt eine Repräsentation der Weltmeere auf Grundlage von Satellitenbildern dar. Gursky greift in diesem Zusammenhang einen Topos in der Wahrnehmung der Meere als Räume jenseits territorialstaatlicher Ordnungen auf und verweist zugleich auf den technischen und medialen Herstellungsprozess seiner Fotografien. In der Gegenüberstellung wird die Werkreihe Fish Story (1995) des Künstlers Allan Sekula herangezogen. In einer Tradition kritischer dokumentarischer Praktiken der Fotografie thematisiert seine umfangreiche Arbeit die historische Veränderung des maritimen Raumes im Zuge der Globalisierung. Der Territorialkonflikt um eine Inselgruppe im südchinesischen Meer wird in der Skulpturengruppe Diaoyu Islands (2010) des chinesischen Künstlers Ai Weiwei fokussiert. Insbesondere über materialikonographische Aspekte verweist der Künstler auf die von mehreren Staaten erhobenen Ansprüche auf eine Inselgruppe und sucht damit einem komplexen Territorialkonflikt eine Sichtbarkeit zu geben. Stellvertretend für die künstlerische Annäherung an militärisch besetzte Gebiete und damit verbundene Aspekte ihrer Nutzung steht die Werkreihe Land Mark (2001 – 2004) der Künstler Jennifer Allora und Guillermo Calzadilla. Im Zentrum der Analyse stehen zwei künstlerische Arbeiten, die sich auf die strategische Kartierung des besetzten Gebietes durch die U.S. Navy einerseits sowie die zivile Protestbewegung gegen eine territoriale Aneignung durch das Militär andererseits beziehen. Für das letzte Hauptkapitel wurden zwei Werke ausgewählt, die aus unterschiedlichen Perspektiven eine künstlerische Thematisierung der militärischen Drohnentechnologie bieten. Trevor Paglens fotografische Serie
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Untitled (Drones) (2010) konfrontiert den Betrachter neben der militärischen Technologie, angelehnt an eine kunsthistorische Tradition der Himmelsdarstellung, mit dem Luftraum als territorialem Hoheitsgebiet. Omer Fasts Videoarbeit 5000 Feet is the Best (2011) bildet insofern ein Pendant zu Paglens fotografischer Serie, als dass sie den Blick auf die Perspektive des Drohnenpiloten richtet. Der spezielle Fokus liegt hier auf der räumlichen Trennung zwischen dem Piloten, der aus der Distanz heraus die Drohne steuert und jenem territorialen Raum, in dem die Drohne ihren Einsatz findet. Die Auswahl der Werke steht damit exemplarisch für die eingangs genannten Kriterien. Zugleich bietet sie einen Blick auf unterschiedliche künstlerische Strategien, die in ihrer Medialität von der Performance über die Skulptur bis hin zur Fotografie reichen. Es findet zugleich eine Thematisierung von verschiedenen Verfahren, Materialien und Medien statt. Gemeinsam ist ihnen die Frage danach, wie ein territorial geprägter Raum in eine Sichtbarkeit überführt werden kann. Methode Das Ziel dieser Arbeit liegt darin, unterschiedliche Phänomene in der Thematisierung von Territorien und territorialen Grenzen in der zeitgenössischen Kunst herauszustellen. Der Schwerpunkt richtet sich in diesem Rahmen auf die Frage, wie in exemplarisch ausgewählten, künstlerischen Arbeiten die mediale Sichtbarkeit des territorialen Raumes auf ästhetischer Ebene vorgeführt wird. Die Untersuchung ist kunsthistorisch ausgerichtet und konzentriert sich auf historisch fundierten Einzelanalysen der benannten Werke. Methodisch geht die Arbeit dem Phänomen entsprechend über eine rein werkimmanente Analyse hinaus. Im Zentrum steht jedoch das künstlerische Werk in seiner spezifischen Ästhetik. Was wird wie gezeigt? Welche Materialien und Medien werden verwendet? Welche ikonographischen Bezüge werden aufgerufen? Welche Rezeptionsbedingungen sind im einzelnen Werk sowie gegebenenfalls in seiner kuratorischen Präsentation angelegt und welches Verhältnis entsteht dadurch zum Betrachter? In besonderer Weise werden in diesem Zusammenhang auch kunsthistorische Bezüge und Traditionen berücksichtigt, die für eine Kontextualisierung der künstlerischen Arbeit hinsichtlich der Fragestellung förderlich sind.
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Bildwissenschaftliche Zugänge sind insofern von methodischer Relevanz, als dass in den künstlerischen Arbeiten Phänomene kartografischer und technisch erzeugter Bilder auf unterschiedlichen Ebenen Referenzpunkte darstellen.40 Ergänzende Perspektiven auf ausgewählte Medien und Technologien, die in den künstlerischen Arbeiten hinsichtlich der Sichtbarkeit von territorialen Räumen thematisiert werden, bieten zudem medienwissenschaftliche Theorien und Analysen.41 Wichtige Bezugspunkte stellen raumtheoretisch ausgerichtete Texte verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen dar.42 In besonderer Weise gilt dies für Forschungsarbeiten, die sich dezidiert auf den Begriff des Territoriums beziehen.43 Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang aktuelle Forschungen zur Politischen Geografie, in der das Wechselverhältnis zwischen Gesellschaft, Raum und Macht im Vordergrund steht.44 Theorien und Analysen aus den Disziplinen der Geschichts- und Politikwissenschaft sowie der Soziologie werden punktuell mit einbezogen.45 Forschungsüberblick Territorien und territoriale Grenzen als Gegenstand der zeitgenössischen Kunst wurden bislang nur wenig systematisch erforscht.46 Dies überrascht, da es eine große Bandbreite an Forschungsarbeiten gibt, die sich in ihrer
40 Exemplarisch: Sachs-Hombach, Klaus (Hrsg.): Bildwissenschaft: Disziplinen, Themen, Methoden. Frankfurt am Main 2005. 41 Exemplarisch: Döring, Jörg u. Thielmann, Tristan (Hrsg.): Mediengeographie. Theorie – Analyse – Diskussion. Bielefeld 2009. 42 Exemplarisch: Dünne, Jörg u. Günzel, Stephan (Hrsg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaft. Frankfurt am Main 2006. 43 Exemplarisch: Newman, David (Hrsg.): Boundaries, Territory and Postmodernity. London 2000.; Storey, David (2001); Elden, Stuart (2013). 44 Exemplarisch: Agnew, John; Mitchell, Katharyne u. Gerard Toal (2003). 45 Exemplarisch: Maier, Charles S.: „Transformations of Territoriality 1600 – 2000“. In: Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien. Hrsg. v. Gunilla-Friederike Budde, Sebastian Conrad u. Oliver Janz. Göttingen 2006. S. 32 – 55.; Löw, Martina: Raumsoziologie. Frankfurt am Main 2001. 46 Die Darstellung der Forschungslage bezieht sich an dieser Stelle nicht auf den Begriff des Territoriums. Hier sei auf das Kapitel 2 verwiesen.
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Analyse auf den Begriff des Raumes beziehen. Neben Forschungen zu primär materiellen Räumen in der Bildenden Kunst wie der Landschaft, dem Gebiet oder der Stadt, richtet sich der Raumbegriff in vielen Monographien, Sammelbänden und Aufsätzen auf soziale, politische und kunstimmanente Phänomene.47 Im Kontext dieser Untersuchung wird die räumliche Kategorie des Territoriums in der zeitgenössischen Kunst fokussiert. Wichtige Beiträge zur Rezeption bieten insbesondere Ausstellungen der vergangenen Jahre. In diesem Rahmen können zwei Ausstellungen hervorgehoben werden, die von einer Publikation begleitet wurden. Die Ausstellung Territories wurde von Anselm Franke und Eyal Weizman im Jahr 2003 in den KW Berlin kuratiert.48 Versammelt sind Perspektiven von Künstlern, Wissenschaftlern und Architekten auf Phänomene territorialer Räume. Der Kurator Anselm Franke beschreibt die Ausstellung sowie die damit verbundene Publikation als sich ergänzende Perspektiven auf Aspekte, die sich insbesondere auf die Entstehung, Sicherung und Kontrolle von Territorien beziehen: ‚Territories‘ is a project that deals with the production of space: its conquest, occupation, defense, and control. […] The contributions to both the exhibition and the book should be seen in the context of an increasing interdisciplinary interest in space and geography as a mode of production and organization of spatial knowledge, developing new topographical tools and techniques of representation.49
47 Exemplarisch: Möntmann, Nina: Kunst als sozialer Raum. Köln 2002.; Avanessian, Armen u. Hofmann, Franck (Hrsg.): Raum in den Künsten. Konstruktion – Bewegung – Politik. München 2010.; Barck, Joanna; Schröter, Jens u. Winter, Gundolf (Hrsg.): Das Raumbild: Bilder jenseits ihrer Flächen. München 2009.; Hartle, Johann Frederik: Der geöffnete Raum. Zur Politik der ästhetischen Form. München 2006.; Akademie der Künste (Hrsg.): Topos Raum. Die Aktualität des Raumes in den Künsten der Gegenwart. Ausstellungskatalog. Nürnberg 2005. 48 Die Ausstellung Territories wurde vom 02. Juni bis 07. September 2003 in den KW Berlin – KW Institute for Contemporary Art gezeigt. 49 Franke, Anselm: „Territories“. In: Territories: Islands, Camps and Other States of Utopia. Hrsg. v. Klaus Biesenbach. Ausstellungskatalog. Köln 2003. S. 10 – 14. S. 10.
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Schwerpunktmäßig findet jedoch eine Fokussierung auf Israel und den Nahen Osten statt. Die künstlerischen Arbeiten, die von den Kuratoren ausgewählt wurden, richten sich in besonderem Maße auf die Architekturen der Grenzsicherung. Eine breitere Perspektive auf das Phänomen des Territoriums in der zeitgenössischen Kunst bietet die Ausstellung Nobody’s Property: Art, Land, Space, 2000-2010. Sie wurde im Jahr 2010 von Kelly Baum am Princeton University Art Museum kuratiert.50 Insgesamt neun künstlerische Positionen wurden präsentiert, darunter auch die Arbeiten Green Line von Francis Alÿs sowie Land Mark (Foot Prints) von Jennifer Allora und Guillermo Calzadilla, die ebenfalls Gegenstand der hier vorliegenden Untersuchung sind. Im Kontext der Publikation stellt die Kuratorin das Territorium als einen zentralen Begriff für die Zusammenführung der künstlerischen Arbeiten heraus: „Nobody’s Property is organized around four compass points: land, space, territory, and the commons. Together they delimit this exhibition’s field of inquiry, establish its conceptual parameters, and acknowledge its intellectual debts.“51 Kelly Baum differenziert den Begriff des Territoriums gegenüber anderen Raumkategorien und deutet den komplexen Zusammenhang zwischen Gebiet, Grenze, Kontroll- und Machtstrukturen an. Zwar wird der Analyse der präsentierten Werke nur ein geringer Umfang eingeräumt, doch stellt die Publikation aufgrund ihrer Terminologie einen wichtigen Beitrag für die Rezeption von Territorien in der zeitgenössischen Kunst dar. Wichtige Grundlagen im Rahmen dieser Untersuchung bieten zudem Forschungsarbeiten, die sich auf einzelne Aspekte des Territoriums und ihre Repräsentation beziehen.52 Dies betrifft wissenschaftliche Arbeiten, in denen die Repräsentation von Grenzen in der zeitgenössischen Kunst analysiert wird. Zu diesem Themenbereich liegen zahlreiche Publikationen
50 Die Ausstellung Nobody’s Property: Art, Land, Space, 2000-2010 wurde vom 23. Oktober 2010 bis zum 20. Februar 2011 im Princeton University Art Museum gezeigt. 51 Baum, Kelly: „Nobody’s Property“. In: Nobody’s Property: Art, Land, Space, 2000-2010. Hrsg. v. Princeton University Art Museum. Ausstellungskatalog. New Haven 2010. S. 11 – 43. S. 14. 52 Vgl.: Scott, Emily Eliza u. Swenson, Kirsten (Hrsg.): Critical Landscapes: Art, Space, Politics. Berkeley 2015.
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vor.53 Der Begriff der Grenze wird auf unterschiedlichen Ebenen herangezogen, von seiner Beschreibung sozialer Phänomene bis hin zu seiner Verwendung als metaphorischer Begriff. Von besonderer Bedeutung sind an dieser Stelle Perspektiven auf künstlerische Arbeiten, die sich dezidiert auf territoriale Außengrenzen richten.54 Der Bezug auf Phänomene unterschiedlicher Ebenen spiegelt sich auch in der Analyse von Karten und kartografischen Praktiken in der zeitgenössischen Kunst wider.55 Sie reichen von der Kartografie psychischer Prozesse über alternative Darstellungen städtischer Räume bis hin zu Netzwerken innerhalb des Kunstbetriebs. Explizit oder auch implizit beziehen sich alle künstlerischen Arbeiten, die im Rahmen dieser Untersuchung in den folgenden Kapiteln untersucht werden, auf kartografische Praktiken. Insofern stellen insbesondere jene Publikationen, die sich auf ästhetische Strategien im Umgang mit der kartografischen Repräsentation territorialer Ordnungen beziehen, eine wichtige Grundlage dieser Untersuchung dar. Bezüglich der Forschungsliteratur zu den ausgewählten künstlerischen Arbeiten dieser Untersuchung sei hier auf die betreffenden Kapitel verwiesen, in denen diese Gegenstand der Analyse sind. Es lässt sich jedoch festhalten, dass die Forschungslage zu den einzelnen künstlerischen Arbeiten
53 Exemplarisch: Falk, Francesca: Eine gestische Geschichte der Grenze. Wie der Liberalismus an der Grenze an seine Grenze kommt. München 2011.; Wenzel, Anna-Lena: Grenzüberschreitungen in der Gegenwartskunst: Ästhetische und philosophische Positionen. Bielefeld 2011. 54 Exemplarisch: Sheren, Ila Nicole: Portable Borders: Performance Art and Politics US Frontera since 1984. Austin 2015. 55 Exemplarisch: Harmon, Katharine (Hrsg.): You Are Here: Personal Geographies and Other Maps of the Imagination. New York 2004.; Abrams, Janet u. Hall, Peter (Hrsg.): ELSE/WHERE: MAPPING: New Cartographies of Networks and Territories. Minneapolis 2006.; Harmon, Katharine: The Map as Art. Contemporary Artists Explore Cartography. New York 2009.; Reder, Christian (Hrsg.): Kartographisches Denken. Wien 2012.; Obrist, Hans-Ulrich (Hrsg.): Mapping it out: An Alternative Atlas of Contemporary Cartographies. New York 2014.; Guasch Ferrer, Anna Maria u. Jiménez Del Val, Nasheli (Hrsg.): Critical Cartography of Art and Visuality in the Global Age. Cambridge 2014.; Reddleman, Claire: Cartographic Abstraction in Contemporary Art: Seeing with Maps. New York 2018.
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sehr heterogen ist, insbesondere mit Blick auf die für diese Untersuchung zentrale Analysekategorie des territorialen Raumes. Exemplarisch zeigt sich dies am Beispiel der künstlerischen Arbeiten von Alighiero Boetti und Ai Weiwei. Zu Alighiro Boettis Werk wurden bereits zahlreiche Publikationen veröffentlicht. Diese umfassen ein ausführliches Werkverzeichnis, Monographien und Beiträge in Sammelbänden. Das Forschungsinteresse richtet sich, im Spezifischen bei der hier untersuchten Werkreihe Mappa, auf unterschiedliche Aspekte: die Tradition der Arte Povera, den Arbeitsprozess, die handwerkliche Fertigung der Wandteppiche im Nahen Osten, die Materialität bis hin zum Motiv der politischen Weltkarte. Vor diesem Hintergrund bietet die bereits existierende Forschungsliteratur eine reiche Grundlage für die Analyse seiner künstlerischen Arbeiten unter dem Aspekt der Repräsentation des territorialen Raumes. Anders hingegen stellt sich die Forschungslage zur Arbeit des Künstlers Ai Weiwei dar. Obwohl sein Werk ebenfalls Gegenstand umfangreicher Publikationen ist, liegen zu seiner künstlerischen Arbeit Diaoyu Islands bis auf einen Wandtext und kurze Erwähnungen in Zeitungsberichten keine Veröffentlichungen vor. Diese Heterogenität durchzieht den gesamten Korpus künstlerischer Arbeiten dieser Untersuchung, die insbesondere unter dem thematischen Aspekt der Repräsentation von Territorien und territorialen Grenzen nur eine geringe bis keine Rezeption erfahren haben. Aufbau der Arbeit Zu Beginn der Untersuchung wird in Kapitel 2 eine theoretische Annäherung an das Territorium vorgenommen. Diese zielt auf eine Bestimmung des Begriffs, die diesen im Sinne eines Raum-Macht-Gefüges herausstellt. Unterschiedliche Aspekte, die sich in diesem Zusammenhang mit Territorien und der Frage nach ihrer Repräsentation verbinden, werden mit Blick auf die untersuchten künstlerischen Arbeiten erläutert. Dies betrifft das Verhältnis von territorialen Ordnungen zu sozialen und politischen Machtpraktiken und ihren Akteuren. Gleichermaßen werden Territorien an dieser Stelle als prozessuale Räume hervorgehoben, in denen sich Machtkonstellationen stabilisieren, verändern und auflösen können. Das Kapitel verweist auf die sozialen, politischen, juristischen, technischen und medialen Dimensionen, die der Begriff in sich trägt.
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Die Struktur der Kapitel 3 bis Kapitel 8 folgt den herausgearbeiteten Phänomenen territorialer Räume. Diese wurden an obiger Stelle thematisch eingangs bereits identifiziert und beschrieben.56 In ihrer Reihenfolge und Zuordnung wurden jedoch bezogen auf das spezifische Phänomen des territorialen Raumes thematische Ähnlichkeiten berücksichtigt. Demnach finden sich unter dem Abschnitt Weltkarten und territoriale Grenzen die künstlerischen Arbeiten von Alighiero Boetti und von Francis Alÿs. Unter dem Titel Ozeane und Inseln sind die Arbeiten von Andreas Gursky und Ai Weiwei zusammengefasst. Der Abschnitt Militärische Territorien gruppiert die Arbeiten von Jennifer Allora und Guillermo Calzadilla sowie von Trevor Paglen und Omer Fast. In jedem Kapitel werden schwerpunktmäßig ein bis zwei künstlerische Arbeiten bzw. Werkreihen analysiert. Am Ende eines jeden Kapitels werden zentrale Aspekte der Analyse mit Blick auf die Fragestellung gebündelt und verglichen. In Kapitel 9 folgt ein resümierender Abschnitt. An dieser Stelle werden wesentliche Aspekte der untersuchten künstlerischen Arbeiten zusammengeführt. Insbesondere zeigen sich hier Ähnlichkeiten und Differenzen zu einem Begriff des Territoriums, wie er in Kapitel 2 konzeptualisiert wurde. Eine besondere Berücksichtigung erhält die Frage, welche Bereiche territorialer Räume auf ästhetischer Ebene eine Sichtbarkeit erhalten und inwiefern dieser Aspekt der Sichtbarmachung in den künstlerischen Arbeiten selbst thematisch wird.
56 Der Fokus dieser Kapitel wurde bereits in dem Abschnitt zur Begründung der Werkauswahl hervorgehoben, auf den an dieser Stelle verwiesen sei.
2
Das Territorium: Begriff und Repräsentation
2.1 ZUR DEFINITION DES TERRITORIUMS Territorium ist zweifellos ein Begriff aus der Geographie, doch zunächst einmal ist es ein rechtlich-politischer Begriff: Es bezeichnet das, was durch eine bestimmte Art von Macht kontrolliert wird.1 Michel Foucault
Etymologisch lässt sich der Begriff des Territoriums nicht eindeutig zurückführen. In der Rezeption des Begriffs sind zwei Linien zu erkennen. Zum einen taucht der lateinische Begriff ‚terra‘ als Verweis auf den physischen Raum, das Land und die Erde auf. In dem alltäglichen Gebrauch des Begriffs bis hinein in die wissenschaftliche Literatur dominiert diese Herleitung. Hingegen wird in der jüngeren Rezeptionsgeschichte des Territoriums auf die gemeinsame Wurzel zum heutigen Begriff ‚Terror‘ verwiesen.2 In dieser Herleitung wird insbesondere auf eine römische Rechtsquelle und ihre Rezeption im späten Mittelalter Bezug genommen, in der das Territo-
1
Foucault, Michel: „Fragen an Michel Foucault zur Geographie“. In: Michel Foucault: Schriften in vier Bänden. Band III: 1976-1979. Hrsg. v. Daniel Defert u. Francois Ewald. Frankfurt am Main 2003. S. 38 – 54. S. 44.
2
Vgl.: Connolly, William: The Ethos of Pluralization. Minneapolis 1995. S. xxii.
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rium mit dem lateinischen Begriff ‚terrere‘ (lat. Herrschaft, Schrecken) in Verbindung gebracht wird. An vielen Stellen wurde das Territorium in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung vom lateinischen Begriff für Land und Boden abgeleitet. Der Geograph John Agnew kommentiert: „At times the term is used more vaguely to refer at various spatial scales to portions of space that geographers normally label as region, place or locality.“3 ‚Terra‘, so ist die häufig auch implizite Annahme, sei die etymologische Wurzel für den heutigen Begriff des Territoriums. In Verbindung mit dem lateinischen Suffix ‚-orium‘ bezeichne ein Territorium demnach sprachgeschichtlich eine Land- oder Bodenfläche, die in ihrer begrenzten Ausdehnung einen Ort umgibt. Diese etymologische Herleitung ist selbst bis heute in verschiedenen Disziplinen, etwa in der Geographie, der Geschichts- und Politikwissenschaft, prägend für das Verständnis des Begriffs. In ihrer Betonung der physischen Materialität des Raumes rückt das Territorium dadurch in die Nähe anderer Raumbegriffe, wie dem des Gebietes oder des Terrains. Der Begriff des Raumes hat in den vergangenen Jahrzehnten eine zunehmende Konzeptualisierung erfahren.4 Dies führte dazu, dass auch der Begriff des Territoriums und seine Etymologie an verschiedenen Stellen neu bestimmt wurde.5 In diesem Kontext haben mehrere Autoren auf die uneindeutige und zum Teil nur schwer zu rekonstruierende Begriffsgeschichte des Territoriums hingewiesen. Das Territorium besitzt hinsichtlich seiner Genealogie eine Spannung, die noch im heutigen Begriff enthalten ist. Zum einen bezieht es sich auf einen physisch greifbaren Gegenstand und besitzt darin einen engen Bezug zum Gebiet. Zugleich geht das Territorium in diesem Raumbegriff nicht auf oder wäre begrifflich synonym zu einem (umgrenzten) Gebiet zu beschreiben, da es ebenso auf eine immaterielle Ebene verweist. Das Territorium bezeichnet daher auch eine Reihe von Praktiken, die verknüpft sind mit der Ebene des physischen Raumes und sich auf dessen Zurichtung, Abgrenzung und rechtliche Besetzung beziehen.
3
Paasi, Anssi (2003): S. 109.
4
Vgl.: Döring, Jörg u. Thielmann, Tristan (Hrsg.): Spatial Turn. Das Raumpara-
5
Hierzu exemplarisch: Elden, Stuart: Territory and Terror: The Spatial Extent of
digma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Bielefeld 2008. Souvereignty. Minnesota 2009. S. 28.
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Erwähnt sei ein wichtiger Bezugspunkt in der jüngeren, eher suggestiven Herleitung des Begriffs. Der italienische Geograf Franco Farinelli schreibt: „Territory is a word which stems, not from ‚terra‘ (land), as people normally think, but rather from ‚terror‘, as the Justinian Code (Digestum 50, 16, 239) explains.“6 Diese begriffliche Herleitung, in der das Territorium nicht auf den physischen Raum zurückgeführt wird, findet sich auch in Verweisen anderer Autoren. Obwohl sich der Quellenbezug gleicht, bleibt es in der Regel bis auf kürzere Textpassagen, wie auch bei Farinelli, bei einem Verweis auf die Etymologie, welche nicht näher ausgeführt wird.7 Farinellis Bezug auf den Justinian Code richtet sich auf eine Rechtsquelle, deren Überlieferung auf einen Text von Pomponius zurückgeht, einem der führenden Juristen des römischen Rechts aus dem 2. Jahrhundert. Dieser Rechtstext wurde im Auftrag des Byzantinischen Kaisers Justinian in eine Sammlung des Römischen Rechts der Republik und des Römischen Imperiums aufgenommen und im frühen 6. Jahrhundert kodifiziert. Die Geschichte dieses Kodex selbst ist verworren, da er lange Zeit verschwand und erst im 11. Jahrhundert unter dem Namen ‚Codex Iustinianus‘ in einer Bibliothek in Pisa wiederentdeckt und daraufhin verstärkt rezipiert und kommentiert wurde. Auf diese Rezeption der Gesetzessammlung im späten Mittelalter richtet sich die Herleitung des Territoriums vom Begriff ‚terrere‘. Bartolus de Saxoferrato (1314 – 1357), einer der bedeutendsten Rechtslehrer und Kommentatoren römischen Rechts des Mittelalters, greift Textpassagen des Pomponius im frühen 14. Jahrhundert auf. In seinen Kommentaren interpretiert er römisches Recht und Politik in den Texten Pomponius aus dem 2. Jahrhundert vor dem Hintergrund seiner Zeit und der spätmittelalterlichen Entwicklung der Stadtstaaten in Europa neu. An dieser Stelle sollen zwei kürzere Kommentare von Bartolus herausgestellt werden, auf deren Bedeutung Stuart Elden in seinen geopolitischen
6
Farinelli, Franco: „Map Knowledge“. In: KartenWissen. Territoriale Räume zwischen Bild und Diagramm. Hrsg. v. Stephan Günzel u. Lars Novak. Wiesbaden 2012. S. 33 – 43. S. 33
7
Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf die Darstellung der etymologischen Rückführung des Territoriums auf den Begriff ‚terrere‘ bei Stuart Elden. Vgl.: Elden, Stuart (2011): S. 6f.
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Schriften zum Konzept des Territoriums verwiesen hat. Das erste Zitat bezieht sich auf den Zusammenhang von Rechtssprechung zu einem Territorium. Es heißt bei Bartolus: Herrschaft ist etwas, dass der Person des sie Besitzenden [domini] innewohnt, aber sie erstreckt sich auf das Besessene. Ähnlich gründet Rechtsprechung auf einem Amt [oficio] und in der Person, die das Amt innehat, aber erstreckt sich auf ein Territorium. Sie ist daher nicht eine Qualität des Territoriums sondern der Person.8
An dieser Stelle wird der Konnex zwischen Rechtssprechung und einem Territorium hervorgehoben. Hier deutet sich bereits die Vorstellung der Gebietshoheit an. Die Rechtssprechung richtet sich auf einen begrenzten Raum und damit auch auf die Personen, die sich in diesem Gebiet aufhalten. Elden betont die historische Bedeutung dieser Verbindung für die Idee der Territorialität. Es ist schwer zu sagen, ob dieser Konnex zwischen Rechtssprechung und physischem Raum bei Bartolus historisch zum ersten Mal ausdrücklich formuliert wird, wie Elden vermutet. Doch die Formulierung bei Bartolus scheint auch heute noch grundlegend für das Konzept des Territoriums zu sein. Georg Simmel hat diese Verknüpfung der rechtlichen Ebene mit einem Gebiet als territorialen Ausdruck der Hoheit über Personen beschrieben. Bei ihm heißt es: [...] an welchen Orten dieses Gebietes sich auch diese oder andre Personen befinden werden, sie werden immer in gleicher Weise untertan sein. Aus dieser Unendlichkeit sozusagen punktueller Möglichkeiten macht der Begriff der Gebietshoheit ein Kontinuum, er antizipiert mit der lückenlosen Form des Raumes, was als konkreter Inhalt immer nur hier und dort realisiert werden kann.9
Die Gebietsherrschaft, so Simmel, gleiche darin einer nachträglichen Formulierung der Personenherrschaft. Sie verallgemeinere den Anspruch der Rechtssprechung, indem sie von den einzelnen Personen auf ein gesamtes Gebiet abstrahiere.
8 9
Bartolus de Saxoferrato zitiert nach: Elden, Stuart (2011): S. 6. Simmel, Georg: „Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung“. In: Georg Simmel. Gesamtausgabe. Band 11. Hrsg. v. Otthein Rammstedt. Frankfurt am Main 1992. S. 776. (Schreibweise im Original).
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Mit dieser Idee der Gebietshoheit, die bei Bartolus auftaucht, verknüpft sich auch die etymologische Verbindung des Territoriums zum Begriff ‚terrere‘. Zunächst soll die Textpassage von Pomponius aus dem Codex Iustinianus zitiert werden, auf die sich Bartolus bezieht. Hier heißt es: Das Territorium ist die Gesamtheit der Ländereien innerhalb der Grenzen einer Bürgschaft [Territorium est universitas agrorum intra fines cuiusque civitas]; was so genannt wird, wie manche sagen, weil der Vorsteher eines Ortes innerhalb dieser Grenzen das Recht hat zu terrorisieren, das heisst vor Gericht zu rufen [quod ab eo dictum quidam aiunt, quod magistratis eius loci intra eos fine terrendi, il est summouendi ius habent]. (Pomponius, Manual, in Digest L.16.239)10
Pomponius verweist hier auf eine Definition des Territoriums, in der die eingeschränkte Verwendung dieses Begriffs aufscheint, die der lateinische Begriff noch zu seiner Zeit besaß. Das Territorium wurde nicht als eine allgemeine räumliche Kategorie verstanden, sondern ausschließlich auf die Besitztümer Roms angewandt. So galt die Bezeichnung nicht für Gebiete außerhalb des Römischen Imperiums. Dennoch taucht in seiner Beschreibung eine wichtige Eigenschaft auf. Pomponius knüpft die Ausübung der Macht ‚zu terrorisieren‘ - im damaligen Sprachgebrauch bedeutete dies, jemanden vor das Gericht zitieren zu können – an einen konkreten Raum, wodurch dem Territorium sein Name zukomme. Das Territorium wird damit in seiner Eigenschaft als ein spezifischer Rechtsraum beschrieben. Der Blick auf die Etymologie des Territoriums zeigt die enge Verknüpfung von Raum und Macht, die der Begriff in sich trägt. Zugleich verweist die etymologische Perspektive auf seine historische Dimension. Zu unterschiedlichen Zeiten wurde unter dem Begriff des Territoriums etwas anderes verstanden. Das Territorium ist keine historische Konstante. Auf diesen Aspekt hat insbesondere der Geograph Stuart Elden hingewiesen. In seinem Buch The Birth of Territory hat er herausgearbeitet, wie sich das Territorium als Konzept bis in die Antike zurückführen lässt. Elden schreibt in der Einleitung seiner Studie: The approach is to try to grasp how political-geographical relations were understood in different times and places rather than to assume that the categories with which
10 Sextus Pomponius zitiert nach: Elden, Stuart (2011): S. 7.
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people in other times and places thought were the same as our own. The idea of a territory as a bounded space under the control of a group of people, with fixed boundaries, exclusive internal sovereignty, and equal external status is historically produced.11
Ausgehend von der griechischen Polis über das römische Recht bis hin zur modernen Form des Territorialstaats im Anschluss an den Westfälischen Frieden im Jahr 1648 zeichnet Elden unterschiedliche Konstellationen geographischer Raum-Macht-Verhältnisse nach, die für unseren heutigen Begriff des Territoriums prägend sind. Neben dieser Genealogie, die Elden in seiner Studie verfolgt, haben verschiedene Autoren auf die Schwierigkeit verwiesen, eine eindeutige Definition für den Begriff des Territoriums zu leisten. Anssi Paasi nennt in diesem Zusammenhang zum einen die Kontextgebundenheit, die der Begriff in wissenschaftlichen Diskussionen besitzt sowie zum anderen seine Verwobenheit mit einer Reihe weiterer Begriffe: One background for this conceptual vagueness is the fact that people simply mean different things when discussing the idea of territory: these ideas are contextual. One more problem is that territory is implied in many other keywords of political geography, such as nation, state, nationalism, and boundary, and it is practically impossible to write on these keywords without reflecting concomitantly the meanings of territory.12
Die gegenwärtig wohl bekannteste Ausprägung einer territorialen Ordnung besitzt der Nationalstaat.13 In einem Großteil wissenschaftlicher Diskurse, in denen der Begriff des Territoriums herangezogen wird, ist dieser eng verknüpft mit dem Begriff des Staates.14
11 Elden, Stuart (2013): S. 18. 12 Paasi, Anssi (2003): S. 110. 13 Die auf den Staatsrechtler Georg Jellinek zurückgehende Drei-Elemente-Lehre beschreibt den Staat als eine Verbindung von „Land, Volk und Herrscher“. Der Staat wird als ein soziales Gebilde aus Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt definiert. Vgl.: Jellinek, Georg: Allgemeine Staatslehre. Berlin 1929. S. 144. 14 Vgl.: Storey, David (2001): S. 21ff.
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Der Geograph Robert Sack entfaltete als einer der ersten eine Definition territorialer Räume, in der sich diese auch jenseits des Staates bis hinein in Alltagsräume und Alltagspraktiken identifizieren lassen: „Territories are socially constructed forms of spatial relations and their effects depend on who is controlling whom and for what purposes.“15 Zentral sind aus seiner Perspektive die sozialen Machtpraktiken, die sich im physischen Raum manifestieren. Die Herstellung und Festigung dessen, was Sack als Territorium beschreibt, muss sich dahingehend nicht zwangsläufig in einer materiellen Begrenzung des Raumes, etwa im Motiv des Grenzzauns, ausdrücken. Er beschreibt beispielsweise Territorien, die durch Straßengangs hervorgebracht werden, die territorialen Ordnungen, die sich durch architektonische Raumaufteilungen in Sakralbauten und auf Arbeitsplätzen entfalten sowie auch territoriale Begrenzungen, die auf körpersprachlicher Ebene ihren Ausdruck finden.16 An das breite Spektrum von Erscheinungsformen jenseits des Nationalstaats, in dem sich nach Sack Territorien äußern, schließt ebenfalls der Geograph David Delaney in seiner Einführung zum Begriff des Territoriums an. Er bezieht sich in seinen Beispielen auf Räume, die insbesondere durch soziale und politische Praktiken der Ein- und Ausgrenzung geprägt sind: „Examples of territories of modernity include the high-tech prison cell, the refugee camp, the factory, the airport-gate waiting area, the trailer park, and countless others.“17 Eine Definition des Territoriums, die die oben genannten Phänomene mit einschließt, bietet der Geograph John Agnew an. Er beschreibt den Begriff des Territoriums folgendermaßen: „A unit of contiguous space that is used, organized and managed by a social group, individual person or institution to restrict and control access to people and places.“18 Agnews Definition ist insofern anschlussfähig an eine Reihe von Phänomenen, in denen sich territoriale Ordnungen zeigen, da sie in ihrer Beschreibung des Be-
15 Sack, Robert: Human Territoriality: Its Theory and History. Cambridge 1986. S. 216. 16 Vgl.: Storey, David (2001): S. 15. 17 Delaney, David: Territory: A Short Introduction. Oxford 2005. S. 23. 18 Agnew, John: „Territory“. In: Dictionary of Human Geography. Hrsg. v. Derek Gregory, Ron Johnston, Geraldine Pratt, Michael Watts u. Sarah Whatmore. Oxford 2009. S. 746 – 747. S. 746.
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griffs wesentliche Aspekte allgemein genug formuliert. Erstens sagt sie nichts über die Größendimension aus, die ein Territorium besitzt. Er spricht allein von einem zusammenhängenden Raum (‚contiguous space‘), der sich auf die Form eines Staatsgebietes ebenso anwenden ließe wie auf kleine militärische Stützpunkte. Zweitens lässt seine Definition die Frage nach den Akteuren offen. Ein Territorium kann nicht allein durch einen Staat verwaltet und kontrolliert werden, sondern ebenso durch Institutionen, Gruppen oder auch Einzelpersonen. Drittens verweist Agnew in der Funktion von Territorien darauf, dass diese sich sowohl auf die Kontrolle von Personen, Gruppen und die Bevölkerung eines Staates beziehen können als auch auf konkrete Orte und Gegenden. Dies schließt die gezielte Regulierung von Migration an staatlichen Grenzen ebenso mit ein als auch den regulierten Zugriff auf Ressourcen, wie Bodenschätze an Land oder im maritimen Raum. Viertens lässt Agnew in seiner Definition des Territoriums offen, wie sich genau die Begrenzung eines Gebietes äußert, konkret materialisiert und welche Praktiken der Kontrolle sich damit verbinden. Dieser Aspekt ist insofern von Bedeutung, als dass sich die Grenzen von Territorien sehr unterschiedlich im Raum manifestieren. Die Vorstellung von territorialen Grenzen ist dennoch eng mit dem Bild der Grenzmauer oder des Grenzzauns verbunden. Zu den bekanntesten territorialen Außengrenzen von Staaten, die mit diesen Bildwelten verknüpft sind, gehören in unserer heutigen Zeit etwa die israelischen Sperranlagen im Westjordanland, die Grenze zwischen den USA und Mexiko oder der Grenzzaun von Melilla, der die spanische Enklave vom marokkanischen Staatsgebiet trennt. Ein weiteres Beispiel wäre die Grenze zwischen Nordund Südkorea, die sich jedoch nicht allein im Sinne einer Grenzmauer äußert, sondern als demilitarisierte Zone in einer Breite von bis zu vier Kilometern, die von beiden Staaten nicht betreten werden darf. Letztere Form lässt sich mit Georg Simmel – auch wenn es sich um eine historisch und territorialstaatlich nur wenig vergleichbare Konstellation handelt – als ein zurückverfolgbares Motiv des Grenzraumes erkennen: In früheren Zeiten haben Völker oft das Bedürfnis, daß ihre Grenze nicht unmittelbar auch die eines andren Volkes sei, sondern daß an sie zunächst ein wüster Landstrich sich anschließe. Unter Augustus suchte man die Reichsgrenze auch dadurch zu sichern, daß man z. B. den Landstrich zwischen dem Rhein und dem Limes entvölkerte: Stämme wie die Usipier und Tenkterer mußten teils auf das linke Ufer
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übersiedeln, teils sich tiefer in das Land hineinziehen. Während der wüste Strich hier noch Reichsgebiet war, sollte von Nero an auch jenseits der römischen Grenzen zunächst unbewohntes Land liegen.19
In den oben genannten Beispielen besitzt die territoriale Grenze durch ihre physische Markierung im Raum, ob in der Form einer Mauer oder als nicht betretbares Gebiet, einen sichtbaren Ausdruck. Territoriale Grenzen können zugleich jedoch eine Form annehmen, die sehr viel weniger augenscheinlich ist. Dies gilt etwa für die Weltmeere, die insbesondere in Küstennähe ebenfalls territorialstaatlichen Ordnungen unterliegen. Auf ihnen zeichnen sich keine sichtbaren Grenzen ab. Die Soziologin Lena Laube hat zudem am Beispiel der Europäischen Union und den USA aufgezeigt, wie sich die territorialen Außengrenzen von Staaten zunehmend auch auf Orte verlagern, die sich außerhalb des staatlichen Territoriums befinden. Damit verknüpft sind Praktiken der Grenzkontrolle, die sich zur Regulierung von Mobilität oftmals tausende Kilometer außerhalb des eigenen Staatsgebietes befinden: Indem die Grenze sich von der Außenlinie des Nationalstaats löst, geht sie dynamischer als je zuvor mit grenzüberschreitenden Bewegungen von Personen um. Die Grenze erwartet Reisende und Migranten nicht mehr nur an der klassischen Grenzlinie, sondern forciert eine Grenzbegegnung bereits an Orten jenseits des Territoriums.20
Dies zeigt, dass sich territoriale Grenzen nicht allein im Sinne von Linien und klaren Markierungen beschreiben lassen, wie das Bild der Grenzlinie auf politischen Weltkarten und kartografischen Repräsentationen evozieren könnte.21 Es handelt sich um komplexe Gebilde, die sich als Begrenzung eines territorialen Raumes mit Machtpraktiken der Kontrolle und Sicherung
19 Simmel, Georg (1992): S. 784. (Schreibweise im Original). 20 Laube, Lena (2013): S. 284. 21 Vgl.: Kleinschmidt, Christoph: „Einleitung: Formen und Funktionen von Grenzen. Anstöße zu einer interdisziplinären Grenzforschung“. In: Topographien der Grenze: Verortungen einer kulturellen, politischen und ästhetischen Kategorie. Hrsg. v. Christine Hewel u. Christoph Kleinschmidt. Würzburg 2011. S. 9 – 22. S. 10.
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verbinden. Sie sind Ausdruck sozialer und politischer Verhältnisse und dienen neben ihrer trennenden Funktion zwischen einem Innen und Außen als Schnittstelle, an denen „unterschiedliche Zonen, Ordnungen, Vorstellungen miteinander in Bezug gesetzt werden.“22 Der Philosoph Henning Ottmann hat auf diese Komplexität hingewiesen: Grenzen sind sehr viel mehr als das, was man an Schlagbäumen, Zäunen und Mauern sehen kann. Sie bestehen aus sichtbaren und unsichtbaren Trennlinien. In aller Regel sind sie mythologisch und ideologisch aufgeladen. […] Grenzen sind mehrfach codierte Gebilde, ein Gemisch aus militärischen, ökonomischen, pragmatischen und weit über alle Pragmatik hinausreichenden Interessen.23
An der Grenze zeigt sich demnach, dass Territorien nicht im Sinne statischer Gebilde gedacht werden können, die in der Vorstellung eines Behälters gesellschaftliche Prozesse umfassen.24 Territoriale Räume werden durch Personen, Gruppen, Institutionen sowie auf staatlicher Ebene produziert, gefestigt und verändert. Storey schreibt: „Territories are human social creations.“25 Territorien sind demnach immer auch in Verschränkung und Wechselwirkung mit sozialen und politischen Prozessen zu verstehen, die sich gegenseitig bedingen und beeinflussen.26
2.2 DAS TERRITORIUM ALS PROZESS Eine Definition des Territoriums hat die prozessuale Ebene, die sich mit sozialen und politischen Praktiken verbindet, zu berücksichtigen. Dieser Gedanke ist in der genannten Definition des Begriffs von John Agnew bereits implizit angesprochen, indem er die Funktion des Territoriums darin be-
22 Wenzel, Anna-Lena (2011): S. 25f. 23 Ottmann, Henning: „Grenzen in einer Welt, die immer grenzenloser wird“. In: Grenzen und Grenzüberschreitungen: XIX. Deutscher Kongress für Philosophie. Hrsg. v. Joachim Bromand u. Wolfram Hogrebe. Berlin 2004. S. 334 – 343. S. 335. 24 Vgl.: Löw, Martina (2001): S. 17f. 25 Storey, David (2001): S. 10. 26 Vgl.: Elden, Stuart (2013): S. 322ff.
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schreibt, den Zugriff auf ein umgrenztes Gebiet zu beschränken und dieses zu kontrollieren. Dezidierter stellt der Geograf Anssi Paasi das Territorium als einen Effekt von Handlungen und Vorstellungen heraus: Territories are not frozen frameworks where social life occurs. Rather, they are made, given meanings, and destroyed in social and individual action. Hence, they are typically contested and actively negotiated. As Knight (1982, p. 517) has pointed out ‚territory is not; it becomes, for territory itself is passive, and it is human beliefs and actions that give territory meaning.‘ Spatial organizations, meanings of space, and the territorial uses of space are historically contingent and their histories are closely interrelated.27
Die von Paasi vorgeschlagene Perspektive richtet sich vor diesem Hintergrund darauf, wie und über welche sozialen, politischen, ökonomischen, militärischen und medialen Praktiken Territorien hergestellt werden. Welche Strukturen sind daran beteiligt, ein Territorium zu produzieren, raumpolitische Machtverhältnisse zu festigen oder auch zu verändern? Die Frage, die Paasi implizit aufwirft, richtet sich demnach auf die strukturbildenden Prozesse territorialer Räume. Theorien, in denen das Verhältnis von sozialen Praktiken und der Entstehung räumlicher Strukturen unmittelbar miteinander verschränkt gedacht werden, verwenden nur selten allein den Begriff des Territoriums.28 Dem Territorium wird oftmals der Begriff der Territorialität gegenübergestellt oder gänzlich durch diesen ersetzt. Das Verhältnis der beiden Begriffe zueinander beschreibt Elden wie folgt: „Territoriality will be defined as the attempt by an individual or group to affect, influence, or control people, phenomena, and relationships, by delimiting and asserting control over a geographic area. This area will be called the territory.“29 Territorium und Territorialität stehen damit in einer wechselseitigen Beziehung zueinander. Während Territorialität den Prozess beschreibt, bezeichnet das Territorium das Ergebnis dieser strukturbildenden Prozesse. Das Territorium wird in dieser Konstellation als ein Raumbegriff herausge-
27 Paasi, Anssi (2003): S. 110. 28 Vgl.: Delaney, David (2005): S. 13. 29 Elden, Stuart (2013): S. 19.
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stellt, der steten Veränderungen unterliegt, da er an die Prozesse seiner Herstellung und Stabilisierung gekoppelt ist. Dieser Gedanke erscheint zentral, wie Martina Löw anmerkt, denn nur „wenn der Raumbegriff selbst und nicht nur das Handeln als bewegt gefaßt wird, können auch Veränderungen von Räumen verstanden werden.“30 Damit verbindet sich eine spezifische Perspektive auf den Raum. Den Ausgangspunkt bildet nicht die Annahme, dass territoriale Strukturen bestehen und darüber auf die sozialen und politischen Dimensionen einer Gesellschaft einwirken. Ebenso wenig steht zunächst im Vordergrund, welchen Einfluss territoriale Grenzen auf die Mobilität von Bevölkerungsgruppen und Migrationsbewegungen besitzen. Der Blick richtet sich vielmehr auf die strukturbildenden Praktiken. Dies betrifft insbesondere die Praktiken der Vermessung, Kartierung, Grenzziehung, Überwachung und Rechtssetzung ebenso wie die verschiedenen Formen der Bildproduktion, in denen ein Territorium visualisiert und darin ein bildliches Wissen über den Raum gefestigt wird. Georg Simmel richtete bereits in einem kurzen Aufsatz mit dem prägenden Titel Über räumliche Projektionen sozialer Formen (1903) und wenige Jahre später in einem Kapitel seiner Soziologie (1908) die Frage darauf, welchen Einfluss soziale Praktiken auf den Raum besitzen. In seiner Problematisierung hebt er sich zugleich vom raumdeterministischen Denken im geopolitischen Diskurs des frühen 20. Jahrhunderts ab. Der Raum wird nicht als eine ‚natürliche‘ Tatsache angenommen, von dem eine Wirkung auf die Gesellschaft ausgeht. Nicht der Einfluss, den der Raum in seiner „Weite oder Enge des Gebietes, der Zerrissenheit oder Arrondierung der Grenzen, dem Flächen- oder Gebirgscharakter des Territoriums auf die Form und das Leben der gesellschaftlichen Gruppe“31 besitzt, soll untersucht werden. Simmel kehrt dieses Verhältnis zwischen physischem Raum und sozialen Formen um. Der Fokus seiner Untersuchung richtet sich darauf, wie sich die sozialen Ordnungen und Gestaltungen einer Gruppe im Raum niederlegen und diesen formen. Dies macht seinen Ansatz für eine
30 Löw, Martina (2001): S. 25. 31 Simmel, Georg: „Über räumliche Projektionen socialer Formen“. In: Georg Simmel. Gesamtausgabe. Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908. Band 7. Hrsg. v. Rüdiger Kramme, Angela Rammstedt u. Otthein Rammstedt. Frankfurt am Main 1995. S. 201 – 220. S. 201. (Schreibweise im Original).
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raumtheoretische Betrachtung des Territoriums interessant. Es verbindet sich mit Simmels Ansatz die Frage, wie aus sozialen Praktiken spezifische Formen territorialer Strukturen hervorgehen. Die Ordnung eines Territoriums wird somit nicht unabhängig von den sozialen Phänomenen einer Gesellschaft verstanden. In der räumlichen Struktur eines Territoriums sind vielmehr soziale Konstellationen verdichtet. Dadurch scheinen in ihm selbst wiederum soziale Dimensionen auf, in die es eingebunden ist und durch die räumlichen Strukturen, etwa Grenzziehungen, erzeugt werden. Simmel beschreibt dahingehend auch die Grenze nicht zuallererst als eine räumliche Gegebenheit mit soziologischen Wirkungen, sondern als eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt. Es seien demnach die räumlichen Strukturen selbst, in denen spezifische Machtkonstellationen eine Sichtbarkeit erhalten. Er schreibt: „In der Art, wie der Raum zusammengefasst oder verteilt wird, wie die Raumpunkte sich fixieren oder sich verschieben, gerinnen gleichsam die soziologischen Beziehungsformen der Herrschaft zu anschaulichen Gestaltungen.“32 Einen wichtigen Bezugspunkt für Theorien, die den Prozesscharakter eines Territoriums hervorheben und in diesem Zusammenhang auf den Begriff der Territorialität rekurrieren, bildet Robert Sacks Entwurf einer ‚Human Territoriality‘. Entgegen biologistisch argumentierenden Theorien, nach denen die Territorialität im Sinne eines tierischen Revierverhaltens instinktgeleitet gedacht wird, bezeichnet Sack mit seinem Begriff der ‚Human Territoriality‘ soziale Strategien, die sich auf die Ausübung von Macht richten. Er definiert den Begriff als „spatial strategy to affect, influence, or control resources and people, by controlling area.“33 Territorialität wird als eine bewusste Strategie herausgestellt, die dazu dient, Personen, größere und kleinere Gebiete, einzelne Orte, Ressourcen und Dinge zu kontrollieren. Sack legt den Schwerpunkt auf die Ausübung von Macht: „Territorializations are the expressions of power, and of how power is manifested in the material world. This fundamental relationship to social power is one of the features that distinguishes territory from other forms of social space.“34
32 Simmel, Georg (1992): S. 779. 33 Sack, Robert (1986): S. 21. 34 Ebd.: S. 16f.
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Wichtig ist, dass Sack einen Begriff von Macht verwendet, der sich nicht allein auf Ausschluss, Begrenzung, Hierarchisierung und Unterdrückung richtet. Macht, die zu einer Etablierung territorialer Räume führt, wird ebenfalls als ein produktiver und konstitutiver Moment gedacht. Er schreibt in Abgrenzung zu einer Begriffstradition in der Verwendung von Territorialität: Perhaps the most well-publicized statements on human territoriality have come from biologists and social critics who conceive of it as an offshoot of animal behavior. These writers argue that territoriality in humans is part of an aggressive instinct that is shared with other territorial animals. […] Although I see territoriality as a basis of power, I do not see it as part of an instinct, nor do I see power as essentially aggressive.35
Sacks Konzeption einer ‚Human Territoriality‘ bietet sich aus drei Gründen als Bezugspunkt für eine Analyse künstlerischer Arbeiten an, in denen die Repräsentation von Territorien untersucht wird. Erstens entwirft er dezidiert einen Begriff von Territorialität, der nicht in einer behavioristischen Tradition steht.36 Die Konstruktion territorialer Räume wird ausgehend von sozialen Praktiken beschrieben, die ihren Ausdruck in territorialen Ordnungen finden. Diese betreffen auch die Art und Weise, wie Grenzen konstruiert werden, wie sich Machtverhältnisse auf sozialer Ebene im physischen Raum niederlegen bis hin zu Repräsentationstechniken von Territorien, wie etwa der Kartografie. Zweitens bezieht er den Begriff des Territoriums nicht allein auf den Nationalstaat. In seiner Konzeption lassen sich ganz unterschiedliche Phänomene territorialer Raumordnungen betrachten, die vom Maßstab des Territorialstaats über militärische Praktiken bis hin zu Raumaneignungen durch einzelne Personen reichen. Delaney beschreibt, an Sack anschließend, dieses Spektrum an Phänomenen: We can, therefore, analyze the territoriality of institutions (schools, prisons, hospitals), of organizations (corporations, military, religions), of activities (child’s play,
35 Sack, Robert (1986): S. 1. 36 Exemplarisch: Esser, Aristide (Hrsg.): Behaviour and Environment: The Use of Space by Animals and Men. New York 1971.
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money laundering, drug use), or of aspects of identity or social being. Moreover, the term territoriality can also be modified to focus on more specific relationships or processes: the gendered territoriality of child’s play, the racialized territoriality of political representation. This allows us to examine how territoriality is implicated in the social expression of these sorts of connections; how, for example, territory mediates the interplay of gender and age, or race and political power.37
Drittens richtet sich die Konzeption von Territorialität bei Robert Sack auf die Veränderung territorialer Ordnungen. Das Ziel ist weniger, ein Territorium als festes Gefüge zu beschreiben. Untersucht werden hingegen die sozialen Prozesse, die zur Etablierung, Stabilisierung und Verschiebung von Raum-Macht-Verhältnissen führen. Dieser Aspekt ist insofern von besonderer Relevanz, als das sich auch in den künstlerischen Arbeiten dieser Untersuchung ein Schwerpunkt erkennen lässt, indem territoriale Räume in ihrem Prozesscharakter thematisiert werden. Die künstlerischen Arbeiten richten sich auf die Veränderbarkeit von Territorien durch soziale und politische Akteure. Eine weitere Perspektive auf den Prozesscharakter von Territorien bietet die Philosophie von Gilles Deleuze und Félix Guattari. In ihrem Werk Mille Plateaux entwerfen sie in Rückgriff auf musiktheoretische Überlegungen des französischen Komponisten Pierre Boulez eine Unterscheidung zwischen dem glatten und gekerbten Raum. Dieser Unterscheidung unterliegen unmittelbar die Prozesse der De- und Reterritorialisierung. Mit ihrer Begrifflichkeit beziehen sich Deleuze und Guattari, anders als die bereits oben genannten Autoren, nicht explizit auf konkrete Territorien, die ihren Ausdruck im geographischen Raum besitzen. Ebenso wenig beschreiben sie die Auflösung etwa territorialstaatlicher Ordnungen in einer globalisierten Welt, wie die Begriffe der De- und Reterritorialisierung implizieren könnten.38 Elden kommentiert in diesem Zusammenhang:
37 Delaney, David (2005): S. 15. 38 Vgl.: Ottmann, Henning (2004): S. 334.; Jureit, Ulrike u. Tietze, Nikola: „Postsouveräne Territorialität. Eine Einleitung“. In: Postsouveräne Territorialität. Die Europäische Union und ihr Raum. Hrsg. v. Ulrike Jureit u. Nikola Tietze. Hamburg 2015. S. 7 – 24. S. 7.
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Yet, as Deleuze and Guattari insist, there is a continual process of deterritorialization and reterritorialization. In other words, there is an ongoing and complicated reconfiguration of spatial relations rather than their end. In their book A Thousand Plateaus, they claim that they are ‚always connected, caught up in one another‘ and that deterritorialization ‚always occurs in relation to a complementary reterritorialization.‘ Indeed, they make this point more forcefully when they stress that territoriality itself is the condition for change. Yet deterritorialization, in spite of its name, should not be interpreted as an argument for the end of the importance of territory.39
In ihrem Kapitel 1440 – Das Glatte und das Gekerbte beschreiben Deleuze und Guattari die Prozesse der De- und Reterritorialisierung anhand verschiedener Modelle, darunter textile Techniken, Musik, Mathematik, Physik und auch in der Erschließung der Weltmeere. Diese Bereiche zeigen bereits, dass es sich entgegen anderen Theorien zur Territorialisierung zum Großteil nicht um geographische Räume handelt, die mit sozialen und politischen Machtpraktiken konfrontiert werden.40 Mit glatten und gekerbten Räumen sind keine konkreten Aufteilungen sozialer Räume gemeint, sondern vielmehr handelt es sich hier um einer „Metatheorie der Räumlichkeit des Politischen“.41 Eine Differenzierung gelingt einzig auf theoretischer Ebene. In den Worten von Deleuze und Guattari: „Im gekerbten Raum wird eine Oberfläche geschlossen, und entsprechend den festgelegten Intervallen, nach den festgesetzten Einschnitten ‚teilt man sie wieder auf‘; beim Glatten wird man in einem offenen Raum ‚verteilt‘, entsprechend den Frequenzen und der Länge der Strecken [...].“42 So stellt für Deleuze und Guattari die Figur des Nomaden den Prototyp des glatten Raumes dar, wie die Figur des Sesshaften als Stellvertreter für den gekerbten Raum erscheint. In diesem Sinne wird der Begriff des Raumes von seiner konkreten geographischen Materialität losgelöst. Der unbe-
39 Elden, Stuart (2009): S. xxvii. 40 Vgl.: Best, Ulrich: „Staat und Raum bei Deleuze und Guattari“. In: Staat und Raum. Hrsg. v. Bernd Belina. Stuttgart 2013. S. 147 – 159. 41 Dünne, Jörg: „Ästhetische Räume. Einleitung“. In: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaft. Hrsg. v. Jörg Dünne u. Stephan Günzel. Frankfurt am Main 2006. S. 371 – 385. S. 381. 42 Deleuze, Gilles u. Guattari, Félix: Tausend Plateaus: Kapitalismus und Schizophrenie. Hrsg. v. Günther Rösch. Berlin 1997. S. 666.
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stimmte, nicht kartografierte Raum wird dem kalkulierbaren, berechneten Raum gegenübergestellt. Das Meer wird von Deleuze und Guattari als Inbegriff des glatten Raumes beschrieben. Der glatte Raum sei nicht von Punkten und metrischen Bestimmungen beherrscht, sondern er sei „von Intensitäten, Winden und Geräuschen besetzt, von taktilen und klanglichen Kräften und Qualitäten, wie in der Steppe, der Wüste oder im ewigen Eis. Das Krachen des Eises und der Gesang des Sandes. Der eingekerbte Raum wird dagegen vom Himmel als Maßstab und den sich daraus ergebenden, meßbaren visuellen Qualitäten überdeckt.“43 Deleuze und Guattari nennen historisch neben dem Punkt der Positionsberechnung, der sich auf Grundlage der Beobachtung von Sternen und der Sonne bestimmen ließ, die Karte als zentrale Technik zur Einkerbung des Meeres. Es sei die Karte, „die die Meridiane und Breitenkreise, sowie die Längen- und Breitengrade verbindet und so die bekannten oder unbekannten Regionen rastert […].“44 Dieser Gedanke taucht ebenfalls bei Karl Schlögel auf, der schreibt: „Raum ist, solange er nicht vermessen ist, ungeheuer, wild, undiszipliniert, ungebändigt, leer, ermeßlich. Erst der vermessene Raum ist gebändigt, erschlossen, diszipliniert, zur Vernunft gekommen, zur Vernunft gebracht. Erst der territorialisierte Raum ist beherrschbar und beherrschter Raum, Herrschaftsraum.“45 Das Territorium als Prozess unterschiedlicher Praktiken wurde bereits in Bezugnahme auf Robert Sacks Theorie einer ‚Human Territoriality‘ erläutert. Im Denken von Deleuze und Guattari wird darüber hinaus noch einmal stärker betont, dass sich Prozesse der De- und Reterritorialisierung nicht nacheinander oder auch unabhängig voneinander im Raum niederlegen und zu einer Veränderung territorialer Ordnungen führen. Beide Prozesse werden in einem stetigen Wechselverhältnis zueinander gedacht, der „glatte Raum wird unaufhörlich in einen gekerbten Raum übertragen und überführt; der gekerbte Raum wird ständig umgekrempelt, in einen glatten Raum zurückverwandelt.“46
43 Deleuze, Gilles u. Guattari, Félix (1997): S. 664. 44 Ebd.: S. 664. 45 Schlögel, Karl (2003): S. 167. 46 Deleuze, Gilles u. Guattari, Félix (1997): S. 658.
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2.3 REPRÄSENTATIONEN DES TERRITORIUMS In ihrer Repräsentation können Territorien unterschiedlich in Erscheinung treten. Dies hängt wesentlich davon ab, welche Vorstellungen und welche Begriffe von einem Territorium existieren. Gleichzeitig ist es entscheidend, welche Aspekte eines Territoriums dargestellt werden, etwa seine Bevölkerung, die Grenzsicherung eines Territoriums oder seine Ausdehnung über ein spezifisches Gebiet. Wenn von der Repräsentation eines Territoriums die Rede ist, muss diese nicht zwangsläufig an visuell wahrnehmbare Bildwelten, wie Karten, gebunden sein. Eine Sichtbarkeit des Territoriums kann gleichzeitig auch eine diskursive Sichtbarkeit sein. Sie kann sich auf die historische Dimension eines territorialen Raumes in Geschichtstexten und Mythen bis hin zu seiner Grundlage in Gesetzestexten, wie am Beispiel eines Staates als abgegrenzter Rechtsraum, beziehen. Darüber hinaus gibt es ikonographische Traditionen, die sich in Repräsentationen äußern können und in denen auf symbolischer Ebene der Verweis auf ein territorial besetztes Gebiet stattfindet.47 So ist die Nationalflagge ein Symbol für den Staat, verweist aber auch indirekt auf das dem Staat zugehörige Territorium. Der Begriff des Territoriums besitzt viele Facetten und Nuancen. In seiner historisch und geographisch spezifischen Ausprägung verbinden sich mit ihm Gebiete, die an der Herstellung und Veränderung territorialer Räume beteiligten Institutionen, Gruppen und Personen, Praktiken und Techniken der Raumproduktion und Grenzsicherung, die rechtliche Dimension eines Territoriums bis hin zu einer Form der Identitätspolitik, die sich mit ihm verschränkt. Der Fokus dieser Untersuchung liegt auf der bildlichen Repräsentation eines Territoriums im Sinne einer Verschränkung von Raum- und Machtpraktiken als Gegenstand der zeitgenössischen Kunst. Die wohl bekannteste Ausprägung in der Repräsentation von Territorien stellen Karten dar. Sie prägen in einem hohen Maße die Vorstellung vom Begriff des Territoriums und sind wesentlich an der bildlichen und diskur-
47 Vgl.: Bredekamp, Horst: „Staat“. In: Handbuch der politischen Ikonographie. Band 2: Imperator bis Zwerg. Hrsg. v. Uwe Fleckner, Martin Warnke u. Hendrik Ziegler. München 2011. S. 373 – 380.
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siven Konstruktion territorialer Räume beteiligt.48 Mark Neocleous, Professor für Politische Ökonomie, merkt an: „Outside the world of maps, states carry on a precarious existence for, as I have been arguing, to map a state is to assert its territorial expression; to leave a state off a map is to deny its existence.“49 Karten bieten ein Orientierungswissen über räumliche Verhältnisse und sind als Medien maßgeblich dafür, territoriale Ordnungen zu behaupten, ihnen eine Sichtbarkeit zu geben und ein diesbezügliches Wissen zu vermitteln. Karten sind vor diesem Hintergrund nicht nur politisch, da sie Ordnungen in der territorialen Aufteilung der Welt abbilden, sondern weil sie auf medialer Ebene selbst ordnend und gliedernd Bilder der Welt erzeugen.50 Der Wissenschafts- und Medienhistoriker Wolfgang Schäffner betont: Die Geschichte der modernen Kartographie zeigt sich [...] von Anfang an in die Aporien einer Repräsentation verstrickt, die Transparenz nur in der Form ihrer operationalen Erfindung ihrer Gegenstände erreicht. Das Dargestellte, die Landschaft, der menschliche Körper usw. sind Produkt und nicht Ursprung der topographischen Repräsentation.51
Das Verhältnis von kartografischen Techniken, ihrer Darstellung von Territorien sowie die spezifische Form des Wissens, das medial vorgeführt wird, stellt einen zentralen Bezugspunkt in der künstlerischen Thematisierung von Territorien dar. Dies zeigt sich im Rahmen der Untersuchung nicht allein bei Künstlern, wie etwa Alighiero Boetti, die explizit das Motiv der Karte aufgreifen und reproduzieren. Die Karte ist ebenso als Paradigma in jenen Arbeiten von Künstlern präsent, die diese nur implizit in ihrer künst-
48 Gugerli, David u. Speich, Daniel: Topografien der Nation. Politik, kartografische Ordnung und Landschaft im 19. Jahrhundert. Zürich 2002. 49 Neocleous, Mark: Imagining the State. Maidenhead 2003. S. 124. 50 Vgl.: Bauer, Matthias: „Karte“. In: Lexikon der Raumphilosophie. Hrsg. v. Stephan Günzel. Darmstadt 2012. S. 198 – 200. S. 199. 51 Schäffner, Wolfgang: „Operationale Topographie. Repräsentationsräume in den Niederlanden um 1600“. In: Räume des Wissens. Repräsentation, Codierung, Spur. Hrsg. v. Hans-Jörg Rheinberger, Michael Hagner u. Bettina WahrigSchmidt. Berlin 1997. S. 63 – 90. S. 66.
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lerischen Annäherung an Territorien und territoriale Grenzen als medienkritischen Horizont mitdenken. Am Beispiel der Karte zeigt sich exemplarisch, dass jede Form der Repräsentation territorialer Räume diese nicht nur in eine Sichtbarkeit überführt. Der Prozess der Sichtbarmachung selbst bringt ein spezifisches Bild des Territoriums als politisches Raum-Macht-Gefüge mit hervor. Das Thema der folgenden Kapitel konzentriert sich vor diesem Hintergrund nicht nur auf die Frage, wie in der zeitgenössischen Kunst Territorien und territoriale Grenzen als Gegenstand herangezogen werden, sondern ebenso darauf, welchen Anteil Medien und Techniken an der Repräsentation und darüber an einem Wissen über territoriale Räume besitzen.
I Weltkarten und territoriale Grenzen
3
Karten und Territorien in der Werkreihe Mappa von Alighiero Boetti
3.1 KARTOGRA F IE IN BOETTIS FRÜHWERK
Abb. 2: Alighiero Boetti: Mappa (1971). Stickerei auf Leinwand. 200cm x 360cm.
Der italienische Künstler Alighiero Boetti ließ im Jahr 1971 den ersten großformatigen Wandteppich aus seiner Werkreihe Mappa in Kabul herstellen (Abb. 2). Der Teppich, auf dem eine Weltkarte abgebildet ist, besitzt im Querformat eine Größe von etwa 200cm x 360cm. Vor einem leicht unterschiedlich strukturierten, hellblauen Hintergrund heben sich auf ihm die Umrisse der Kontinente ab. Wie große, zusammen-
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hängende Blöcke sind diese wiederum in farblich verschieden markierte, insbesondere rote, weiße, gelbe und grüne Flächen gegliedert. Entlang des äußeren Randes des Querformats verläuft zudem ein Rahmen, auf dem in unterschiedlichen Farben Schriftzeichen hervortreten. Die Weltkarte besitzt eine eurozentrische Ausrichtung. Entgegen gewohnter Darstellungsformen auf politischen Weltkarten sind die verschiedenen Staatsgebiete auf Boettis Weltkarte gänzlich von den Nationalflaggen der jeweiligen Länder ausgefüllt. Nahtlos gehen die Grenzen der einzelnen Staaten in die Flagge des Nachbarstaates über. Die Antarktis sowie der Nordpol sind nicht abgebildet, wodurch sich diese Darstellung der Erde auf fünf Kontinente beschränkt. Nordamerika besteht auf der linken Hälfte des Wandteppichs fast ausschließlich aus rot-weißen Formen der Landesfarben Kanadas, der USA und der Nationalflagge Dänemarks, die sich über Grönland legt. Gegenüberliegend tritt nahezu der gesamte asiatische Kontinent als einheitlich rote Fläche hervor. Erst im Blick auf die Details lässt sich erkennen, dass es sich nicht um eine zusammenhängende Fläche handelt, sondern die Staatsgebiete der ehemaligen Sowjetunion, der Mongolei und China durch eine feine, schwarz-weiß gestrichelte Linie voneinander getrennt werden. Im unteren Bereich der Weltkarte erscheinen insbesondere Südamerika und der afrikanische Kontinent weitaus fragmentierter. Durch die Vielzahl unterschiedlicher Staaten sind die beiden Kontinente fast vollständig in Formen und Farben zergliedert. Um diesen aufwendig gestickten Wandteppich in Auftrag zu geben, reiste der damals in Turin lebende Künstler im Frühjahr 1971 gemeinsam mit seiner Frau Annemarie Sauzeau in die afghanische Hauptstadt. Es war seine Frau, die im Rahmen dieses Aufenthalts den Kontakt zu einer der traditionsreichsten Kunsthandwerksschulen Afghanistans, der ‚Royal School of Embroidery‘, herstellte. Diese Institution war insbesondere für ihr textiles Kunsthandwerk bekannt und es war möglich, größere Stickarbeiten in Auftrag zu geben. Für diesen Zweck wiederholte Boetti seinen Aufenthalt in Kabul und reiste noch im selben Jahr ein zweites Mal in die afghanische Hauptstadt.1 Bereits in Turin versuchte er, die Gestaltung des Wandteppichs detailliert vorzubereiten. Auf eine großformatige Leinwand ließ er
1
Eine ausführliche Darstellung von Boettis erster Reise nach Kabul bietet: Sauzeau, Annemarie: Alighiero Boetti’s One Hotel. Ostfildern 2012.
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von Rinaldo Rossi, einem befreundeten Grafiker, das Grundmuster einer politischen Weltkarte übertragen. Staatsgrenzen wurden vorgezeichnet und einzelne Flächen mit dem Design und der Farbgebung der dazugehörigen Nationalflaggen ausgefüllt. Das Garn für die Ausgestaltung der unterschiedlichen Staatsgebiete wählte Boetti vor Ort in Kabul aus, um die Farbgebung der jeweiligen Flaggen möglichst exakt zu reproduzieren. Gestickt wurde der Wandteppich von vier Frauen, die gleichzeitig daran arbeiteten. Aufgrund des großen Formats und der Technik, mit der die Leinwand sehr fein bestickt wurde, nahm die Fertigstellung über ein Jahr in Anspruch.2 Gegenüber den späteren Wandteppichen der Werkreihe Mappa wurde in dieser Version von 1971 sehr feines Garn benutzt, welches zudem mit einem aufwendigen Bokhara-Stich gestickt wurde.3 Der Faden durchläuft jede Einstichstelle zweifach, wodurch auf der gestickten Oberfläche die darunterliegende Leinwand völlig verschwindet. Selbst kleine Details, wie etwa Inseln in ihren geographisch genauen Umrissen treten dadurch als farbig abgesetzte Formen inmitten der Ozeane hervor. Ein zusätzliches Element des Wandteppichs stellt die Rahmung dar. Entlang des äußeren Randes verlaufen Schriftzeichen, die sich aus den Farben der unterschiedlichen Nationalflaggen zusammensetzen. Auf der linken und rechten Seite besteht der Rahmen aus persischen Schriftzeichen der in Afghanistan verbreiteten Sprache Farsi. Auf dem oberen und unteren Rand verläuft ein Text auf Italienisch und Englisch. Am rechten unteren Rand steht ‚MADE IN KABUL AFGHANISTAN ONE HOTEL‘.4 Die Beschriftung des Rahmens findet sich auch auf allen später entstandenen Arbeiten der Werkreihe. Am häufigsten geben diese in den Sprachen Farsi, Italienisch und Englisch Auskunft über den Ort und das Datum der Herstellung. Im späteren Verlauf, insbesondere ab den frühen 1980er Jahren, lassen sich vermehrt auch von den einzelnen Stickerinnen gewählte Widmungen und Anekdoten, Informationen über die Herstellungsbedingungen sowie auch kurze Gedichte finden.
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Cerizza, Luca: Alighiero e Boetti: Mappa. Cambridge 2008. S. 32. Vgl.: Godfrey, Mark: „Boetti and Afghanistan“. In: Alighiero Boetti: Game Plan. Hrsg. v. Lynne Cooke, Mark Godfrey u. Christian Rattemeyer. Ausstellungskatalog. London 2012. S. 153 – 177. S. 166.
4
Der Text bezieht sich auf das Hotel, welches Alighiero Boetti von 1971 bis 1979 gemeinsam mit seinem Freund Gholam Dastagir betrieb.
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Mappa del mondo Boetti ließ bis zu seinem Tod im Jahre 1994 die Weltkarten der Serie Mappa in Kabul sowie später in pakistanischen Flüchtlingslagern herstellen. Über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahrzehnten entstanden über 150 gestickte Weltkarten. Es veränderten sich im Laufe der Jahre der Prozess ihrer Herstellung und zum Teil auch die Gestaltungsform der Wandteppiche. Die Werkreihe selbst stellt jedoch bis zu Boettis Tod ein kontinuierliches Projekt innerhalb seiner künstlerischen Arbeit dar. Bereits im Anschluss an die Fertigstellung des ersten Wandteppichs aus dem Jahr 1971 weitete er die Produktion aus. Der Kurator Mark Godfrey beschreibt diese Veränderung des Herstellungsprozesses folgendermaßen: Boetti soon decided to move production to a more versatile set-on organized through Dastaghir, working with a less delicate stitch and less refined threats. Dastaghir would relay Boetti’s instructions to two women, Fatimah and Habibah, who employed teams of women to make the embroideries. In other words, Boetti never came into contact with the people who actually stitched his works.5
Der Personenkreis, der an der Produktion der Wandteppiche beteiligt war, ging aufgrund dieser Delegation von Aufgabenbereichen bereits zu Beginn der Werkreihe über Boettis engen Kreis an Mitarbeitern hinaus. Die gestickten Weltkarten wurden dadurch von Personen hergestellt, denen Boetti persönlich nie begegnete. Zeitweise sollen bis zu 500 Personen in die Produktion der Wandteppiche involviert gewesen sein.6 In Überblicksdarstellungen der gestickten Wandteppiche Boettis, die etwa in der New Yorker Gladstone Gallery und im Rahmen einer Retrospektive in der Londoner Tate Modern, dem Museo Reina in Sofia sowie im Museum of Modern Art in New York zu sehen waren, gerät die Vielfalt
5
Godfrey, Mark (2012): S. 166.
6
Vgl.: Cerizza, Luca (2008): S. 38.
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der entstandenen Wandteppiche in den Blick (Abb. 3).7 Obwohl auf jedem Exemplar das Motiv einer Weltkarte auftaucht, ähnelt kein Wandteppich dem anderen. Sie besitzen unterschiedliche Formate und variieren in ihrer Farbgebung. Die am Rand verlaufenden Rahmen weisen individuelle Beschriftungen auf. Am prägnantesten tritt in einem Vergleich die Gestaltung der Weltmeere in den Blick. Entgegen der Konvention, die Ozeane blau einzufärben, werden diese auf einzelnen Wandteppichen beispielsweise als rote, gelbe, grüne oder pinke Flächen dargestellt.
Abb. 3: Alighiero Boetti: Mappa in der New Yorker Gladstone Gallery 2009. (Ausstellungsansicht). Foto: David Regen.
Sieht man zunächst von der textilen Materialität der Wandteppiche ab, ihrer individuellen Rahmung durch Schriftzeichen sowie der ungewöhnlichen
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Die Ausstellung Alighiero Boetti: Mappa fand vom 07. November 2009 bis zum 23. Januar 2010 in der New Yorker Gladstone Gallery statt. Große Überblicksdarstellungen der Wandteppiche fanden zudem im Rahmen der Ausstellung Alighiero Boetti: Game Plan im Museo Reina Sofia (05. Oktober 2011 bis 05. Februar 2012), in der Londoner Tate Modern (28. Februar bis 27. Mai 2012) sowie im Museum of Modern Art in New York (01. Juli bis 01. Oktober 2012) statt.
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Farbgebung der Weltmeere, sind es nur wenige Merkmale, in denen sich diese Arbeiten Boettis ihrem äußeren Erscheinungsbild nach von den Darstellungskonventionen politischer Weltkarten unterscheiden. Auf ihnen wird jeweils streng die geopolitische Ordnung der Welt abgebildet. Als Vorlage diente ihm für jeden Wandteppich, der in Auftrag gegeben wurde, eine jeweils aktuelle politische Weltkarte. Bis auf die Weltmeere wird dadurch auch auf Boettis Wandteppichen die gesamte Oberfläche der Erde territorialstaatlich geordnet. Sie unterstützen wie die Darstellungen auf politischen Weltkarten den Eindruck, dass sich die Erde in eindeutig zuweisbare Staatsgebiete aufteilen ließe.8 Ein Unterschied besteht jedoch darin, dass auf den gestickten Weltkarten die Staatsgebiete durch Nationalflaggen dargestellt sind, diese aber nicht durch zusätzliche Grenzlinien voneinander getrennt werden. Dies ist nur der Fall bei Nationalflaggen mit der gleichen Farbe. Auf dem ersten Wandteppich aus dem Jahr 1971 verläuft beispielsweise zur besseren Unterscheidbarkeit eine schwarze Linie zwischen China, der Mongolei und der Sowjetunion. Für Boetti war es wichtig, die Vorlagen ohne große Veränderungen zu übernehmen. In einer der wenigen Äußerungen, die er über die Serie Mappa machte, heißt es: „For me the embroidered ‚mappa‘ couldn’t be more beautiful, […] I did nothing for this work, chose nothing myself, in the sense that: the world is shaped as it is, I did not draw it; the flags are what they are, I did not design them. In short I created absolutely nothing.“9 Die starke Orientierung an der geopolitischen Ordnung der Erde, wie sie auf den zugrunde liegenden Weltkarten vorliegt, korrespondiert auf Boettis Wandteppichen mit der Gestaltung der einzelnen Staatsgebiete, die jeweils in den dazugehörigen Nationalflaggen ausgefüllt sind.10 Insofern wählte Boetti auch an dieser Stelle ein bereits vorgegebenes Gestaltungs-
8
Vgl.: Münkler, Herfried: „Das politische Weltbild“. In: Atlas der Weltbilder. Hrsg. v. Christoph Markschies, Ingeborg Reichle, Jochen Brüning u. Peter Deuflhard. Berlin 2011. S. 386 – 395.
9
Alighiero Boetti zitiert nach: Godfrey, Mark (2012): S. 167.
10 Zur politischen Ikonographie der Flagge siehe: Fleckner, Uwe: „Flagge“. In: Handbuch der politischen Ikonographie. Band I: Abdankung bis Huldigung. Hrsg. v. Uwe Fleckner, Martin Warnke u. Hendrik Ziegler. München 2011. S. 324 – 330.
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element, ohne den Flächen der repräsentierten Staatsgebiete etwa eine Farbe oder Struktur zuordnen zu müssen. Die Frage nach der Gestaltung greift jedoch an dieser Stelle zu kurz. Die geopolitische Ordnung der Welt werde, so Boetti, reproduziert wie sie sei. Die Aufteilung der Welt sei ebenso gegeben wie die Formen und Farben der Nationalflaggen. Was Boettis Arbeiten genauer reproduzieren, ist jedoch nicht die geopolitische Ordnung der Erde, sondern ihre konventionalisierte Repräsentationsform im Medium der Kartografie. Seine Aussage steht demnach für den Versuch, eine möglichst große Entsprechung zwischen den jeweils verwendeten politischen Weltkarten und den auf dieser Grundlage produzierten, gestickten Weltkarten herzustellen. Im Hinblick auf die dabei verwendeten Weltkarten reduziert sich der ästhetische Zugriff Boettis nicht allein auf die mögliche Veränderung von Grenzziehungen, Gebietsaufteilungen oder den verwendeten Symbolen der Nationalflaggen. Bereits in der Auswahl einer spezifischen Form der Kartografie und ihrer Projektionsmethode sowie durch den Herstellungskontext im Nahen Osten erhält die Serie Mappa eine konzeptuelle Rahmung, die weit über eine pragmatische und funktionale Einbindung politischer Weltkarten hinausgeht. Boettis Arbeiten unterscheiden sich insofern grundsätzlich von handelsüblichen politischen Kartenwerken, als dass sie in einer traditionellen Sticktechnik aufwendig hergestellt wurden. Für die Rezeption der Werkreihe Mappa ist diese mediale Überführung und Neukontextualisierung zentral. Sie zeigt sich bei Boetti bereits in seinen frühen Arbeiten, in denen sich grundlegende Gestaltungselemente seiner gestickten Weltkarten antizipieren lassen. Von Twelve Forms zu Occupied Territories Boettis Beschäftigung mit kartografischen Darstellungen und die Verwendung von Stickerei als zentrale Technik der Bildgebung lässt sich bereits
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seit dem Ende der 1960er Jahre erkennen.11 Von diesem Zeitraum an beschäftigte er sich in seiner künstlerischen Arbeit mit geopolitischen Fragestellungen seiner Zeit und ihrer Repräsentation. Bereits hier entwickelte Boetti zentrale Gestaltungselemente, die er wiederum formal in der großen Serie der gestickten Weltkarten aufgreift. Im Jahr 1967 entstand eine Serie von Zeichnungen, die auf Kartendarstellungen der italienischen Zeitung La Stampa basierten (Abb. 4). Aus einem Zeitraum von mehreren Jahren wählte er insgesamt zwölf Titelseiten, auf denen im Zusammenhang mit Kriegsberichterstattungen Karten der betreffenden Gebiete abgebildet wurden. Als Bildträger für seine Zeichnungen zog Boetti Kupferplatten im Format der Zeitung heran und übertrug ausschließlich die Form der abgebildeten Karte auf exakt jene Stelle, die mit der Position auf der Zeitungsseite übereinstimmte. Den abgebildeten Kartenausschnitt wiederum abstrahierte er soweit, dass ausschließlich die Konturen des Gebietes sowie eine Rahmung des Kartenausschnitts aus der Zeitung festgehalten wurden. Gänzlich isoliert vom thematischen Kontext, ohne jeden begleitenden Text, blieben nur die Außengrenzen der jeweiligen Gebiete übrig.
11 Alighiero Boettis frühe Arbeiten wurde unter anderem 1967 in der von Germano Celant kuratierten Ausstellung Arte Povera e IM spazio in der Genueser Galerie La Bertesca präsentiert. Diese Ausstellung wurde namensgebend für eine Gruppe von Künstlern und gilt rückblickend als Beginn der Arte Povera. Neben Boettis Werk versammelte sie auch künstlerische Arbeiten von Luciano Fabro, Jannis Kounellis, Giulio Paolini, Pino Pascali und Emilio Prini. Vgl.: ChristovBakargiev, Carolyn: „Arte Povera oder Der Raum der Elemente“. In: Arte Povera. Arbeiten und Dokumente aus der Sammlung Goetz 1958 bis heute. Hrsg. v. Ingvild Goetz u. Christiane Meyer-Stoll. Ausstellungskatalog. München 1997. S. 9 – 16.
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Abb. 4: Alighiero Boetti: Twelve Forms from June 10, 1967 (1967). Gravur auf Kupferplatten. 59cm x 43cm.
Die Serie trägt den Titel Twelve Forms from June 10, 1967. Dieser bezieht sich auf den Sechstagekrieg zwischen Israel und den Staaten Ägypten, Jordanien und Syrien. Das erste Blatt der Serie zeigt die Konturen der Sinai-Halbinsel, der Westbank und der Golanhügel. Diese Gebiete wurden am 10. Juni 1967 durch eine große militärische Intervention seitens Israel in Besitz genommen. Durch die Abstraktion der Zeitungsseiten auf wenige Konturlinien wird es dem Betrachter erschwert, die Karten als solche zu identifizieren. Auf wenige Charakteristika reduziert, scheinen sie sogar einer Logik der Kartografie enthoben. Sie verlieren ihre Lesbarkeit und wirken wie abstrakte Formen, die keine funktionale Einbindung in eine der Kartografie eigentümliche räumliche Ordnung und Orientierung besitzen. Es verschwindet zudem ihre Einbindung in einen spezifischen Kontext der Kriegsberichterstattung. Boetti, der über zwei Jahrzehnte später auf diese Arbeit zurückblickt, äußerte sich in einem Interview mit dem französischen Kurator Nicolas Bourriaud: „So I observed every political change until 1971, the year of the creation of Bangladesh. What interested me was the fact that these drawings did not come from my imagination, but from artillery attacks, air raids, diplomatic negotiations…“12 Boettis Interesse richtete sich auf die kartografische Repräsentation der betreffenden Gebiete als Resultat militärischer und politischer Praktiken,
12 Alighiero Boetti zitiert nach: Cerizza, Luca (2008): S. 12.
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die hinter den Zeichnungen zurücktreten. Der Politikwissenschaftler Mark Neocleous greift diesen Gedanken auf, wenn er schreibt: „Borders may be drawn in blood, but the blood never appears on the page.“13 Die kartografisch dargestellten Gebiete sind damit Ausdruck für den politisch aufgeteilten Raum als umkämpftes Ergebnis unterschiedlicher, zumeist staatlicher Akteure. Das abgebildete Gebiet erscheint als Sinnbild für die dahinterliegenden Praktiken der Aneignung des Raumes, seiner Besitznahme, Sicherung und Verteidigung. Der Kartenausschnitt wird für Boetti so zum Ausdruck politischer Machtkonstellationen. Das erste Blatt dieser Serie diente Boetti im Jahr 1969 zugleich als Grundlage für eine Arbeit, die er gemeinsam mit seiner Frau Annemarie Sauzeau realisierte. Hier taucht zum ersten Mal textiles Material in seinem Werk auf. Ein rechteckiger Leinenstoff wurde auf einen kreisförmigen Holzrahmen mit einem Durchmesser von 120cm x 127cm gespannt. Der Stoff ist so fein, dass der Holzrahmen durch ihn hindurchscheint. Inmitten der Kreisfläche sind eine größere sowie darüber zwei kleinere, dunkelgelbe Flächen aufgestickt. Die Arbeit trägt den Titel Occupied Territories (Abb. 5). Sie bezieht sich ebenfalls auf die von Israel im Sechstagekrieg eroberten Gebiete der Sinai-Halbinsel, der Westbank sowie der Golanhügel. Die einzelnen Flächen bestehen aus dunkelgelbem Garn, das mit einem einfachen Kreuzstich von Annemarie Sauzeau auf den darunterliegenden Stoff gestickt wurde. Betrachtet man diese Arbeit vor dem Hintergrund der Serie Mappa, so scheinen hier bereits drei wichtige Aspekte auf.
13 Neocleous, Mark (2003): S. 124.
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Abb. 5: Alighiero Boetti: Occupied Territories (1969). Stickerei auf Leinenstoff, Holzring. 120cm x 127cm.
Erstens wird die Karte als Darstellungsform gesucht, da sie auf einen größeren Zusammenhang verweisend Fragen der geopolitischen Ordnung und Veränderung aufwirft. In ihr verdichten sich, als bildliche Form, gegenwärtige raumpolitische Konstellationen. In diesem Zusammenhang folgt die kartografische Darstellung einer doppelten Bewegung. Sie verweist zum einen auf konkrete Fragen der Raumpolitik und – damit auch auf ihre Medialität bezogen – auf die Entstehung kartografischer Repräsentationen. Zugleich aber reduziert sie die komplexen Zusammenhänge der Raumpolitik in ihrer endgültigen Form als kartografisches Bild, hinter welchem die Akteure und Bedingungen ihrer Entstehung zurücktreten. Zweitens deutet sich bei dieser Arbeit Boettis bereits ein Gestus der künstlerischen Produktion an, bei dem die Idee und das fertige Objekt einen höheren Stellenwert besitzen als die von ihm eigenständige, handwerkliche
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Ausführung des Werkes. Für Boetti war es nicht relevant, dass die Stickerei von ihm selbst ausgeführt wurde. Damit verbindet sich implizit ein Kunstbegriff, der den konzeptuellen Rahmen der Werkentstehung in den Vordergrund hebt. Zuletzt bedeutet dies drittens im Falle Boettis jedoch nicht, dass der Prozess, durch den die Arbeit entsteht, in den Hintergrund rückt. Mit der Überführung der Karte von der Zeichnung in ein gesticktes Wandbild verändert sich nicht nur die Materialität des Trägers. Vor allem verbindet sich hiermit auch eine neue Form der Zeitlichkeit, die in die Produktion der Arbeit mit einfließt. Die insbesondere in der Serie Mappa lange Entstehungszeit der Wandteppiche von zum Teil mehreren Jahren wird zu einem wesentlichen Bestandteil der ästhetischen Produktion im Werk Boettis.
Abb. 6: Alighiero Boetti: Planisfero Politico (1969). Farbstifte auf Weltkarte. 78cm x 125cm.
Die wohl auffälligste Entsprechung zu den gestickten Wandteppichen der Serie Mappa tritt in einer kolorierten Weltkarte hervor, die im Jahr 1969 entstand (Abb. 6). Überschrieben mit den italienischen Worten ‚PLANISFERO POLITICO‘ handelt es sich um eine politische Weltkarte in der Größe von 78cm x 125cm. Jedes einzelne Staatsgebiet füllte Boetti mit der Flagge des jeweiligen Landes farblich aus. Von der formalen Gestaltung erscheint diese Karte rückblickend wie der erste konkrete Entwurf
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für die gestickten Weltkarten. Die kartografische Gleichsetzung von Staatsgebiet mit der entsprechenden Nationalflagge taucht hier als ein Prinzip auf, welchem bis zuletzt alle Arbeiten der Serie Mappa folgen. Territorialstaatliche Ordnungen im Wandel Die in dem Zeitraum von 1971 bis 1994 gestickten Weltkarten können auf zweifache Weise als Dokumente verstanden werden. Zum einen hinsichtlich ihrer Repräsentation territorialstaatlicher Ordnungen, die sie als kartografisches Medium vorführen. Zum anderen verweisen sie über ihren Herstellungskontext auf die zahlreichen Frauen im afghanischen Kabul und palästinensischen Flüchtlingslagern, ohne die Boetti keinen der Wandteppiche in dieser Form hätte realisieren können. Basierend auf den Fertigkeiten der beteiligten Arbeiterinnen ist jeder Wandteppich zugleich eine Zurschaustellung ihres anspruchsvollen, handwerklichen Könnens. Der italienische Kunstwissenschaftler Luca Cerizza betont diese beiden Ebenen und hebt dabei den Aspekt der Zeitlichkeit hervor: „The series of maps measures time: the time of official history, as well as the time of individual history – the history of those involved in its execution, and its manual production.“14 Im Vergleich der Wandteppiche untereinander treten die Veränderungen territorialstaatlicher Ordnungen besonders deutlich hervor. Dies zeigt sich durch die veränderten Formen der Staatsgebiete als Verschiebungen territorialer Außengrenzen. Im Nebeneinander repräsentieren die gestickten Weltkarten einzelne historische Momente der geopolitischen Aufteilung der Erde. Karl Schlögel hält zu dieser Eigenschaft, insbesondere historischer Karten, fest: „In Karten sind Zeiten aufbewahrt; Vergangenheiten, Gegenwarten, Zukünfte“.15 Er betont, dass sie „etwas vom Drama des Auftauchens und Wiederverschwindens von Orten, Räumen und Raumbildern sagen, daß Karten immer, nicht nur in den dramatischen Momenten der Abwicklung eines alten Zustandes, Zeit in Karten gefaßt darstellen, in Konturen und Schraffuren.“16 Auf den gestickten Weltkarten von Boetti weichen die Schraffuren dem feinen Garn, mit dem in großer Detailgenauigkeit die Nationalflaggen dar-
14 Cerizza, Luca (2008): S. 2. 15 Schlögel, Karl (2003): S. 87. 16 Ebd.: S. 86ff.
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gestellt sind. An ihnen zeigt sich neben der Verschiebung von Staatsgrenzen ebenfalls die Veränderung der geopolitischen Welt. Die Wandteppiche aus den ersten Jahren repräsentieren die heutigen Staatsgebiete von Angola und Mosambik noch unter portugiesischer Herrschaft. Erst nach ihrer Unabhängigkeit im Jahr 1975 verschwindet an diesen Stellen auch die Nationalflagge Portugals. Luca Cerizza hebt diese dokumentarische Qualität der Werkreihe hervor: „Mappa shows the world revealed as both a symbolic and historical representation, in which the symbols of the flags bear witness to the historical moment of the production.“17 Besonders eindrücklich sind jene Veränderungen auf der Weltkarte, bei denen eine Nationalflagge aufgrund uneindeutiger Souveränitätsansprüche nicht genau zugewiesen werden kann. Dies lässt sich im Falle des Staatsgebietes Namibias erkennen. Auf den Wandteppichen ab dem Jahr 1979 ließ Boetti bis zur Unabhängigkeit Namibias im Jahre 1990 das Staatsgebiet nicht mit den Farben der südafrikanischen Flaggen ausgestalten, sondern als weiße Fläche. Damit trug er im besetzten Namibia nicht allein dem bürgerkriegsähnlichen Zustand innerhalb des Landes Rechnung.18 Es ist auch die ungewisse Zukunft über die Souveränität des Staates, die sich in diesem Zeitraum auf den Weltkarten Boettis in Form einer weißen Fläche symbolisch manifestiert. Mit Blick auf die gesamte Werkreihe nahm Boetti eine weitere Veränderung vor, die sich jedoch nicht allein auf die Darstellung einzelner Staatsgebiete und ihrer Grenzverläufe bezog. Bis zum Jahr 1984 verwendete der Künstler als Vorlage für die Wandteppiche Weltkarten mit einer Mercartor-Projektion.19 Die Größenverhältnisse der Kontinente werden in dieser Projektionsmethode stark verzerrt. Ihre Flächen werden zu den Polkappen hin gestreckt und es entsteht etwa der Eindruck, als würde Afrika (obwohl es etwa das Vierzehnfache an Fläche beträgt) eine annähernd vergleichbare Größe einnehmen wie Grönland. Ab dem Jahr 1984 verwendete Boetti politische Weltkarten als Vorlagen, denen die Projektionsmethode
17 Cerizza, Luca (2008): S. 32. 18 Vgl.: Dale, Richard: The Namibian War of Independence, 1966 – 1989. Diplomatic, Economic and Military Campaigns. Jefferson 2014. 19 Vgl.: Monmonier, Mark: Rhumb Lines and Map Wars: A Social History of the Mercator Projection. Chicago 2004.
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des Kartografen Arthur Robinson zugrunde lag.20 Die Erdoberfläche wird hier nicht hinsichtlich der rechtwinkligen Anordnung der Längen- und Breitengrade projiziert, sondern nahezu flächengetreu.21 In der Gegenüberstellung von Boettis Wandteppichen mit den zwei unterschiedlichen Projektionsmethoden wird deutlich, wie sich die Größenverhältnisse in der Darstellung verändern. Auf den späteren gestickten Weltkarten besitzt Grönland einen weitaus geringeren Flächenanteil gegenüber dem afrikanischen Kontinent und Europa rückt aus dem Bildzentrum an den oberen Rand der Karte. Der Vergleich zwischen den Wandteppichen Boettis vor und nach 1984 zeigt, dass über die Weltkarte nicht nur eine räumliche Übersicht erzeugt, sondern durch das Medium der Kartografie auch die Ordnung des Raumes auf bildlicher Ebene mit produziert wird. „To map is to ‚do‘ politics“, pointiert der Politikwissenschaftler Kennan Fergueson.22 Durch die Art und Weise, wie etwa Größenverhältnisse auf der Karte abgebildet sind, wird ein Wissen über räumliche Ordnungen mit hervorgebracht und auf bildlicher Ebene gefestigt.23 Einem wichtigen Merkmal unterliegt die Werkreihe Mappa aufgrund ihrer sich oftmals über mehrere Jahre erstreckenden Herstellungszeit. Boetti zog für die Anfertigung eines jeden Wandteppichs zwar stets eine politische Weltkarte mit den aktuellen Gebietsaufteilungen und Grenzziehungen heran, doch waren die gestickten Weltkarten zum Zeitpunkt ihrer Fertigstellung häufig nicht mehr aktuell. Karl Schlögel hat diesen Aspekt als allgemeines Phänomen politischer Kartenwerke herausgestellt: „Karten sind meist schon in dem Augenblick, da sie erscheinen, überholt. Das gilt erst recht in Zeiten beschleunigten Wandels.“24
20 Vgl.: Godfrey, Mark (2012): S. 167f. 21 Vgl.: Klinghoffe, Arthur Jay: The Power of Projections: How Maps Reflect Global Politics and History. New York 2006. S. 172f. 22 Ferguson, Kennan: „Unmapping and Remapping the World. Foreign Policy as Aesthetic Practice“. In: Challenging Boundaries. Global Flows, Territorial Identities. Hrsg. v. Hayward R. Alker u. Michael J. Shapiro. Minneapolis 1996. S. 165 – 191. S. 179. 23 Vgl.: Krämer, Sybille (2008): S. 298ff. 24 Schlögel, Karl (2003): S. 81.
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Abb. 7: Alighiero Boetti: Mappa (1989). Stickerei auf Leinwand. 117,5cm x 227,7cm. Museum of Modern Art New York. Inv.-Nr. 1253.1999.
Die gestickten Weltkarten Boettis führen diese zeitliche Kluft zwischen der aktuellen geopolitischen Ordnung und ihrer Repräsentation eindrücklich vor. Sichtbar wird dies in besonderer Weise an einem Wandteppich Boettis, der noch vor dem Zeitpunkt der Auflösung der ehemaligen Sowjetunion im Jahr 1989 in Auftrag gegeben wurde. Er besitzt eine Größe von 117,5cm x 227,7cm und befindet sich heute in der Sammlung des Museum of Modern Art in New York (Abb. 7). Zwischen der von Boetti vorgefertigten Leinwand und ihrer Fertigstellung als Wandteppich in Peschawar erstreckte sich ein Zeitraum, in dem sich eine der größten Veränderungen territorialstaatlicher Ordnungen im 20. Jahrhundert vollzog. Das ehemalige Staatsgebiet der Sowjetunion löste sich auf und es entstanden zahlreiche neue Staaten. Auf der Weltkarte Boettis hingegen erstreckt sich immer noch die rote Flagge mitsamt des kommunistischen Symbols eines Hammers und einer Sichel. Staaten, die nach dem Zerfall der Sowjetunion ihre Unabhängigkeit erhielten, sind noch nicht aufgeführt. Die Wandteppiche Boettis werden damit zum Sinnbild einer nicht vorhersehbaren, steten Veränderung territorialstaatlicher Ordnungen.
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3.2 WELTKARTEN IN PESCHAWAR Boettis Werkreihe Mappa ist eng verknüpft mit ihrem Herstellungsort und den an der Produktion beteiligten Personen.25 Erst die handwerkliche Fertigkeit der beteiligten Arbeiterinnen ermöglichte die Realisierung der Wandteppiche. Über ihre Stickkunst verweist jeder Wandteppich auf den anspruchsvollen Herstellungsprozess der Werkreihe.26 Einen direkten Bezug auf die Entstehungsbedingungen der Wandteppiche stellen die Rahmentexte dar, die die Darstellung der Weltkarten umgeben. Indem sie um den Rand herum verlaufen, besitzen die Textelemente die Funktion einer Rahmung des Bildes. Darüber hinaus geben sie dem Be-
25 Zum Verhältnis von Anonymität und Sichtbarkeit der Frauen, die maßgeblich an der Produktion von Alighiero Boettis Werkreihe Mappa beteiligt waren: Müllerschön, Nicola: „Versatile Collaborations: Narratives of Alighiero Boetti’s Afghan Embroideries“. In: Global Studies. Mapping Contemporary Art and Culture. Hrsg. v. Hans Belting, Jacob Birken, Andrea Buddensieg u. Peter Weibel. Ostfildern 2011. S. 44 – 55. 26 Die amerikanische Fotografin Randi Malkin Steinberger dokumentierte bereits während eines Studienaufenthaltes in Florenz das Atelier von Alighiero Boetti in Rom. Im Jahr 1990 reiste sie nach Peschawar und fotografierte jene Frauen bei der Arbeit, die an den Weltkarten der Werkreihe Mappa arbeiteten. Die Fotografien dokumentieren nicht nur die Stickerinnen, sondern auch ihren Alltag vor Ort. Insgesamt 55 Fotografien veröffentlichte Steinberger, welche erstmals 2012 gemeinsam in einer Ausstellung mit den Arbeiten Alighiero Boettis in einem Format von etwa 40cm x 50cm ausgestellt wurden. Zunächst im Fowler Museum der University of California und anschließend im Rahmen der Retrospektive Alighiero Boetti: Game Plan in der Londoner Tate Modern. Vgl.: Bennett, Christopher G. (Hrsg.): Order and disorder: Alighiero Boetti by Afghan Women. Ausstellungskatalog. Los Angelos 2012.; Cooke, Lynne; Godfrey, Mark u. Rattemeyer, Christian (Hrsg.): Alighiero Boetti: Game Plan. Ausstellungskatalog. London 2012. Eine Publikation der Fotografien erschien bereits im Jahr 2011: Gute, Charles (Hrsg.): Afghan People by Boetti. Photographs by Randi Malkin Steinberger. Köln 2011.
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trachter vor allem zusätzliche Informationen, die sich auf den Prozess der Herstellung beziehen.27 Bereits auf dem ersten Wandteppich aus dem Jahr 1971 sind auf Italienisch, Englisch und Farsi der Name Boettis sowie der Entstehungsort Kabul verzeichnet. Der Text folgt in seinen Angaben weitestgehend den Konventionen einer Künstlersignatur.28 Für den Betrachter stellt der die Karte umlaufende Text zudem einen wichtigen Hinweis auf die Region dar, in der der Wandteppich hergestellt wurde. Neben diesen Informationen nutzt Boetti die Rahmenfläche von Beginn an dazu, Zitate und Wortspiele aufzugreifen und diese in Beziehung zu den gestickten Weltkarten zu setzen. Auf einem im Jahr 1973 fertiggestellten Wandteppich ist der Satz ‚METTERE AL MONDO IL MONDO‘ gestickt. Boetti zitiert damit den Titel von einer seiner eigenen Arbeiten.29 Die sinngemäße Äußerung, die Welt in die Welt zu bringen, kann in Anlehnung an das Motiv der Weltkarte als Bild für die zurückgelegte Strecke verstanden werden, die jeder Wandteppich von Turin über Kabul hinaus in die Welt zurücklegt. Ausgestellt und sichtbar wird damit auch die mit der Region verbundene afghanische Stickkunst, mit der die Wandteppiche nicht nur hervorgebracht wurden, sondern die auf ihnen zugleich eine Zurschaustellung und Würdigung findet. Die Welt in die Welt zu bringen bedeutet aber auch, sie nicht zu verändern, aber bereits Existierendes neu zu kontextualisieren. Das entspräche der Anmerkung Boettis zu seiner Werkreihe Mappa: „I invent the world as it is, without inventing anything“.30 Die nationalstaatliche Aufteilung der Erde werde wiedergegeben wie sie ist.
27 Rahmentexte besitzen eine lange Tradition in der Gestaltung von Weltkarten. Exemplarisch: Walter, Rainer: „Der doppelte Paradiestext auf der Ebstorfer Weltkarte“. In: Kloster und Bildung im Mittelalter. Hrsg. v. Nathalie Kruppa u. Jürgen Wilke. Göttingen 2006. S. 331 – 343. 28 Vgl.: Gludovatz, Karin: Fährten legen – Spuren lesen. Die Künstlersignatur als poietische Referenz. München 2011. 29 Die Werkreihe Mettere al mondo il mondo entstand im Jahr 1973 und besteht aus zwei Zeichnungen, die mit Kugelschreibern angefertigt wurden. Sie gehören zu der größeren Werkreihe Lavori biro, die er ebenfalls von anderen Personen ausführen ließ. 30 Alighiero Boetti zitiert nach: Le Nouveau Musée (Hrsg.): Alighiero e Boetti: Insicuro Noncurante. Ausstellungskatalog. Villeurbanne 1986. S. 36.
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Abb. 8: Mona Hatoum: Twelve Windows (2012/ 2013). Bestickte Stoffe, Stahlseil. Dimensionen variabel. Alexander and Bonin Gallery. (Ausstellungsansicht). Foto: Joerg Lohse.
Die Verbindung der Stickkunst mit einer konkreten Region, wie sie bei Boetti für den Betrachter auf den Rahmentexten ersichtlich wird, stellt ebenfalls den Ausgangspunkt für eine Arbeit der palästinensisch-britischen Künstlerin Mona Hatoum dar.31 Es handelt sich um die Rauminstallation Twelve Windows aus den Jahren 2012/ 2013 (Abb. 8). Sie entstand in Kooperation mit der libanesischen Nichtregierungsorganisation Inaash, die Arbeit an palästinensische Frauen in libanesischen Flüchtlingslagern ver-
31 Die Künstlerin Mona Hatoum hat in ihrem Werk zahlreich auf das Motiv der Karte Bezug genommen. Einen kurzen Überblick bietet: Ianniciello, Celeste: „Postcolonial Art: A Living Archive of Border-Crossings and Migrant Matters“. In: Critical Cartography of Art and Visuality in the Global Age. Hrsg. v. Anna Maria Guasch Ferrer u. Nasheli Jiménez del Val. Cambridge 2014. S. 19 – 33. S. 19ff.
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mittelt.32 Zentraler Bestandteil der Rauminstallation sind zwölf bestickte Stoffe, die an einem dünnen Stahlseil mit Wäscheklammern befestigt sind. Jeder der quadratischen Stoffe besitzt eine Größe von etwa einem Quadratmeter. Dargestellt sind auf ihnen überwiegend Muster in den Farben rot, blau und grün, die sowohl an geometrische Formen als auch an florale Motive erinnern. Keiner der Stoffe gleicht einem anderen. Auf einem von Mona Hatoum mit entworfenem Saaltext heißt es über die Arbeit: Jedes ‚Fenster‘ stellt mit seinen Motiven, Stichen und Mustern eine zentrale Region Palästinas dar: Oberes und Unteres Galiläa, Jaffa, Ramallah, Bethlehem und Jerusalem, Hebron, den Küstenstreifen von Gaza und Zentralgaza sowie Be’er Scheva in Südpalästina. Einer Tradition folgend, die seit Jahrhunderten von Mutter zu Tochter weitergegeben wird, bieten die Tafeln einen Einblick in das Erbe palästinensischer Kunststickerei, eine der beständigsten und greifbarsten Facetten palästinensischer Kultur.33
Die bestickten Stoffe bieten dem Betrachter Einblick in die palästinensische Tradition der Stickkunst. In ihren unterschiedlichen Ausprägungen stehen sie stellvertretend für die zentralen Regionen Palästinas. Ein Staat, der medial insbesondere über seinen Konflikt mit Israel wahrgenommen wird, begegnet dem Betrachter in Twelve Windows zunächst auf der Ebene des Kunsthandwerks. Mona Hatoum greift mit ihrer Arbeit jedoch einen weiteren Aspekt auf. Die Erfahrung der räumlichen Begrenzung, die das Alltagsleben in den Palästinensergebieten prägt, überführt die Künstlerin in die räumliche Inszenierung der ausgestellten Stoffe. Das Stahlseil dient nicht nur der Hängung, sondern durchzieht an mehreren Stellen den Ausstellungsraum und verläuft diagonal zwischen den Wänden. Der Raum wird auf diese Weise in einzelne Bereiche aufgeteilt. Der Besucher muss sich, will er die Stoffe aus der Nähe betrachten, mit Vorsicht durch das Netz aus Begrenzungen hindurchbewegen. Im Ausstellungskatalog des Kunstmuseums St. Gallen wird diese räumliche Erfahrung beschrieben: „In der Tradition
32 Vgl.: Bitterli, Konrad u. Veronese, Nadia: „Parcours. Anmerkungen zur Ausstellung“. In: Mona Hatoum. Hrsg. v. Konrad Bitterli u. Nadia Veronese. Ausstellungskatalog. Berlin 2014. S. 9 – 23. S. 21f. 33 Zitiert nach: ebd.: S. 20.
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begehbarer Environments verortet, packt Twelve Windows den Besucher gleichsam physisch und lässt ihn im geschützten Raum des Museums mit formalen Behinderungen wie gedanklichen Barrieren jene kollektive Erfahrung unmittelbar nachempfinden, die den Alltag unzähliger Menschen weltweit prägt.“34 Eine Gemeinsamkeit besitzt Twelve Windows mit der Werkreihe Mappa zunächst darin, dass sie in einer traditionellen Form des Kunsthandwerks von Stickerinnen im Nahen Osten ausgeführt wurden. Ab den frühen 1980er Jahren ließ zudem auch Boetti die gestickten Weltkarten in einem Flüchtlingslager von Frauen herstellen. Der Verweis auf die Region und den Ort, an dem die Stickereien entstanden sind, ist ein zentraler Aspekt beider Werke. Ein Unterschied besteht darin, dass Hatoum neben den regionalen Ausprägungen einer Tradition des Stickhandwerks auch die Bedingungen, unter denen die Stickerinnen leben, in die räumliche Inszenierung der textilen Arbeit mit aufgenommen hat. Was sich in Boettis Arbeiten in den Rahmentexten andeutet, erfährt der Betrachter in Hatoums Arbeit auf körperlicher Ebene als unmittelbare Form der räumlichen Begrenzung. Begreift Hatoum jeden bestickten Stoff im Sinne des Titels Twelve Windows als eine Repräsentation verschiedener Regionen Palästinas, so ist der Besucher in seiner Mobilität eingeschränkt, will er diese symbolisch durchschreiten. Das Stahlseil wird damit sowohl buchstäblich als auch im übertragenen Sinne zur Grenzlinie. Die Werkreihe Mappa ändert sich ab dem Zeitpunkt, als die Wandteppiche nicht mehr in Kabul, sondern in pakistanischen Flüchtlingslagern hergestellt wurden. Der Grund dafür waren die sowjetische Intervention im Jahr 1979 und der damit verbundene Bürgerkrieg in Afghanistan. Einen Großteil der Rahmenfläche ließ Boetti von nun an frei und die Frauen wurden dazu aufgefordert, selbstgewählte Texte in ihrer Sprache Farsi aufzubringen. Es lassen sich von nun an Texte auf den gestickten Weltkarten finden, in denen die Lebens- und Arbeitsumstände der aus Afghanistan stammenden Frauen in den pakistanischen Flüchtingslagern thematisiert werden. Die in Peschawar entstandenen Wandteppiche besitzen Aussagen, Gedichte und Anekdoten, in denen die Stickerinnen auf ihre veränderte Situa-
34 Vgl.: Bitterli, Konrad u. Veronese, Nadia (2014): S. 22.
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tion durch den Krieg in Afghanistan verweisen. Auf dem Rand einer Karte aus dem Jahr 1988 heißt es in der englischen Übersetzung: The needlework of Alighiero e Boetti an Italian artist was produced in collaboration with Abduljalil Afghan in the city of Peshawar in Pakistan. It is important to note that this work was hand crafted by un-named Afghan women in the refugee camps in the city of Peshawar in Pakistan. These women had to leave their beloved homes in Afghanistan due to the fear from the invading Russians.35
Der Rahmentext thematisiert die zentralen Entstehungsbedingungen des Wandteppichs. Die Auftraggeber werden genannt, die Stickerinnen verweisen auf ihre eigene Anonymität, ihre Gründe für eine Flucht aus Afghanistan und ihren derzeitigen Aufenthalt in den Flüchtlingslagern. Es lassen sich zahlreiche Äußerungen und Verweise dieser Art auf den ab 1980 entstandenen Rahmentexten finden. Sie bieten einen Raum zur Artikulation individueller Erfahrungen der Migration und des Verlusts. Selbst für jene Betrachter, die die persischen Schriftzeichen inhaltlich nicht übersetzen können, wird ein Eindruck der Mehrstimmigkeit in der Gestaltung des gestickten Rahmens vermittelt. Die Wandteppiche führen insofern zwei unterschiedliche Perspektiven vor. Zum einen verweisen sie aus der Makroperspektive auf die territorialstaatliche Ordnung der Erde, zum anderen repräsentieren sie Äußerungen einer vom Bürgerkrieg in Afghanistan betroffenen Gruppe. Dadurch stellen sie ein zeitgeschichtliches Dokument der Besetzung Afghanistans durch die Sowjetunion dar. Die Thematisierung des Krieges in Afghanistan ab dem Jahr 1979 besitzt in Form von Wandteppichen eine eigene Tradition. Ab Mitte der 1980er Jahre tauchen sogenannte War Rugs auf.36 Es handelt sich um gestickte und gewebte Teppiche aus Afghanistan und Pakistan, die das Motiv der sowjetischen Invasion in das Land aufgreifen (Abb. 9). In zahlreichen Variationen sind auf ihnen Szenen des Krieges und der Besetzung dargestellt. Neben sowjetischen Panzern, Helikoptern, Raketenwerfern bis hin zum sowjetischen Sturmgewehr Kalaschnikow lassen sich auf ihnen Karten
35 Zitiert nach einer Übersetzung von Mark Godfrey: Godfrey, Mark: Alighiero e Boetti. New Haven/ London 2011. S. 243. 36 Vgl.: Mascelloni, Enrico: War Rugs: The Nightmare of Modernism. Mailand 2009.
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Afghanistans, Porträts politischer und religiöser Führer, eingebettet in ornamentale Muster aus der traditionellen Teppichgestaltung dieser Region, finden. Der deutsche Ethnologe und Islamwissenschaftler Jürgen Wasim Frembgen merkt zu der Bildsprache dieser Wandteppiche an: Die afghanischen Kriegsteppiche sind ein besonders treffendes Beispiel für eine Gegenwartskunst, die nur vor dem Hintergrund des aktuellen Kriegsgeschehens in den 1980er- und 1990er-Jahren zu verstehen ist. Es handelt sich um Teppiche, in deren Bildern der Betrachter den schrecklichen Ereignissen des Widerstandskampfes gegen die Sowjets und die von ihnen unterstützten afghanischen Regierungstruppen begegnet. […] Diese Bildteppiche mit Kriegsmotiven irritieren westliche Sehgewohnheiten, die sich immer noch an den imaginären Welten von 1001 Nacht orientieren.37
Abb. 9: War rug (Entstehungsjahr unbekannt). Baghlan, Afghanistan. Geknüpfter Teppich. 182cm x 115,5cm.
37 Frembgen, Jürgen Wasim: „Afghanische Bildteppiche mit Motiven von Krieg und Frieden“. In: Lebensbaum und Kalaschnikow. Krieg und Frieden im Spiegel afghanischer Bildteppiche. Hrsg. v. Jürgen Wasim Frembgen u. Hans Werner Mohm. Blieskastel 2000. S. 23 – 48. S. 23f.
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Über die genaue Herkunft der Wandteppiche und jene Personen, die an ihrer Produktion und Gestaltung beteiligt waren, ist kaum etwas bekannt. Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass die Exemplare aus den ersten Jahren zur Zeit der sowjetischen Besatzung als Ausdruck des Widerstands im Nordwesten Afghanistans oder in pakistanischen Flüchtlingslagern entstanden sind.38 In ihrer Bildsprache und ihrer Umsetzung in einer traditionellen Form des Kunsthandwerks können sie als Ausdruck eines von Krieg und Traumata geprägten kollektiven Gedächtnisses Afghanistans verstanden werden.39 Im Vergleich zu der Werkreihe Mappa thematisieren die War Rugs auf direktere Weise die Präsenz eines Kriegszustandes. Jedoch findet in dem Zeitraum der 1980er Jahre auch auf Boettis Wandteppichen die sowjetische Besetzung Afghanistans ihren Ausdruck.40 Dies betrifft nicht nur die Verlagerung der Produktion in pakistanische Flüchtlingslager. Auf einer gestickten Weltkarte aus dem Jahr 1984 ist das Staatsgebiet Afghanistans nicht mit der Nationalflagge ausgefüllt, sondern bleibt ebenfalls wie eine frühere Darstellung Namibias weiß. Die Umbruchsituation, in der sich das Land zu diesem Zeitpunkt befindet, wird dadurch deutlich. Cerizza führt mehrere Gründe für die fehlende Ausgestaltung an: It is possible that the flag was not embroidered or was embroidered white for mere practical reasons: the uncertainty of the political situation or ignorance the part of the work co-ordinators; as a form of protest on the part of the Afghans against the Russian invasion; or to represent a desire for peace in the strife of the Afghan political situation, experienced from the viewpoint of the refugees in Peshawar.41
Andere Weltkarten von Boetti aus diesem Zeitraum besitzen auf der weißen Fläche Afghanistans den Schriftzug der Reformpartei ‚Khalq‘ in der Sprache Farsi. Darin zeigt sich eine von den Stickerinnen geäußerte, politische
38 Vgl.: Sachsse, Rolf: „Geknüpfter und gewebter Krieg. Militärische Motive auf afghanischen Teppichen“. In: Zeithistorische Forschungen, 3. Veröffentlicht: 2/ 2006. S. 297 – 307. S. 299. 39 Vgl.: Passow, Till u. Wild, Thomas (Hrsg.): Geknüpftes Gedächtnis. Krieg in afghanischer Teppichkunst. Berlin 2015. 40 Vgl.: Cerizza, Luca (2008): S. 34f. 41 Ebd.: S. 89.
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Präferenz gegenüber ihrem Land. Für Boetti, der die Fläche als Leerstelle beließ, bestand darin die Möglichkeit, einen Gestaltungsfreiraum vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Lage an jene zu übergeben, die die Weltkarten produzieren. Farbige Meere Mark Godfrey bemerkt zum Konzept der Autorschaft in Boettis Werkreihe: „Boetti was interested in the idea that an artwork might be produced by different parties without collaboration or discussion, and that authorship could be split rather that shared.“42 Dieser Aspekt, dass Boettis Arbeiten konzeptuell von ihm entworfen und fast gänzlich von Frauen im Nahen Osten realisiert wurden, ist an verschiedenen Stellen bereits kritisch diskutiert worden.43 Jenseits der konkreten Bedingungen der für Boetti arbeitenden Frauen und dem logistischen Kontext seiner Werkreihe Mappa ist jedoch zu erkennen, wie Boetti über die Jahre hinweg bestimmte Bereiche der Weltkarten seiner eigenen Planung entzieht und Gestaltungsräume an die beteiligten Personen übergibt. Die Kunstwissenschaftlerin Matilda Felix hat diese Ebene seiner künstlerischen Arbeitsweise betont, die den „Zufall als kreativen Akteur“44 integriert. Zum einen kommt dies in der Gestaltung der Rahmentexte zum Ausdruck. Noch deutlicher zeigt sich dieser Aspekt jedoch in der Darstellung der Weltmeere. Auf den gestickten Weltkarten der Werkreihe Mappa, die bis 1979 in Kabul hergestellt wurden, sind die Ozeane mitsamt der Binnengewässer stets blau gefärbt. Darin entsprechen sie Darstellungskonventionen, wie sie in der Regel in politischen Kartenwerken auftauchen. Die Kontinente sind – farblich differenziert – nach nationalen Hoheitsgebieten gegliedert, wohingegen die Weltmeere aus dieser Ordnung heraustreten. Obgleich auch die Ozeane dieser Erde insbesondere an den Küstengebieten der staatlich organisierten Gebietshoheit unterliegen und außerhalb durch die Seerechtskon-
42 Godfrey, Mark (2012): S. 163. 43 Exemplarisch: Müllerschön, Nicola: Alighiero Boettis Textilproduktionen. München 2016. 44 Felix, Matilda: Nadelstiche. Sticken in der Kunst der Gegenwart. Bielefeld 2010. S. 208.
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vention der Vereinten Nationen reguliert werden, impliziert ihre andersfarbige Ausgestaltung einen ebenso freien wie unbesetzten Raum. In dieser Gestaltung werden sie noch auf heutigen Weltkarten in ihrer scheinbaren Sonderstellung als ‚mare liberum‘ in einer gänzlich territorial aufgeteilten Welt vorgeführt.45 Die Darstellung der Weltmeere veränderte sich in der Werkreihe Mappa ab dem Jahr 1979. Es wurde der erste Wandteppich nach Italien zurückgesandt, auf dem die Ozeane und Binnengewässer nicht wie in den üblichen Darstellungskonventionen mit blauer Farbe ausgefüllt wurden. In einer Anekdote Boettis heißt es, die Arbeiterinnen hätten die Flächen für die Weltmeere lediglich als Hintergrund für die unterschiedlichen, farbig zu stickenden Formen und nicht als kartografische Darstellung der Erde wahrgenommen. Da kein blaues Garn mehr vorhanden war, füllten sie die Flächen alternativ in pink aus. Von diesem Zeitpunkt an legte Boetti auf den Vorlagen der Weltkarten nicht mehr die Farbe der Ozeane fest, sondern überließ die Farbwahl den Frauen vor Ort in Peschawar. Ein Grund dafür liegt in dem angelegten Zufallsmoment, der sich einer Planung entzieht. Diesbezüglich gibt es Parallelen zu anderen Werken Boettis, in denen dem Prinzip von Ordnung und Unordnung, genauer Planung und zufälliger Struktur eine bedeutende Rolle zukommt.46 Bezogen auf die Werkreihe Mappa ist diese Spannung von geordneten und zugleich ungeplanten Strukturen auf zwei Ebenen erkennbar. Sie betrifft erstens den langen Herstellungsprozess, durch den die abgebildete nationalstaatliche Ordnung auf den gestickten Weltkarten nach ihrer Fertigstellung in der Regel nicht mehr der Aktualität entsprachen. Einzelne Staatsgrenzen haben sich verschoben, an anderen Stellen veränderten sich die Nationalflaggen. Darin äußert sich eine nicht abzusehende Veränderung
45 Vgl.: Kapitel 5.1. 46 Sehr deutlich tritt dies in der umfangreichen Stickarbeit Order and Disorder von Alighiero Betti aus den Jahren 1985 und 1986 zum Vorschein. Es handelt sich um eine zweiteilige Serie kleiner Stickbilder, die er ebenfalls in pakistanischen Flüchtlingslagern hat herstellen lassen. Zum Verhältnis von geplanten und ungeplanten Strukturentstehungen aus insbesondere medienwissenschaftlicher Perspektive siehe exemplarisch: Bierwirth, Maik; Leistert, Oliver u. Wieser, Renate (Hrsg.): Ungeplante Strukturen. Tausch und Zirkulation. München 2010.
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der geopolitischen Ordnung, die jedoch in der aufwendigen und langwierigen Übertragung in das textile Medium des Wandteppichs von Boetti angelegt ist. Eine bewusstere Entscheidung stellt hingegen die farbliche Ausgestaltung der Weltmeere dar. Diese Ebene führte der Künstler als geplanten Zufallsmoment in seine Werkreihe ein. Die Farbe der Weltmeere besitzt zwar keinen Einfluss auf die nationalstaatliche Ordnung, doch nehmen sie in ihrem Flächenanteil über zwei Drittel der Wandteppiche ein und verändern dadurch in hohem Grade das Erscheinungsbild der Weltkarte. Im Vergleich der Wandteppiche untereinander werden die Weltmeere dadurch ab dem Jahr 1979 durch ein breites Spektrum an Farben gekennzeichnet. Graue, gelbe, grüne, rote, goldfarbene oder auch schwarz gefärbte Ozeane umgeben die in einzelne Staaten gegliederten Kontinente. In ihren farblichen Variationen unterstützt die Werkreihe von diesem Zeitpunkt an noch stärker den Eindruck, die Weltmeere befänden sich außerhalb einer territorialstaatlichen Aufteilung der Erdoberfläche. Gleichzeitig wird in der Farbigkeit der Weltmeere aber auch eine Konvention der Darstellung auf Karten geradezu ad absurdum geführt. Der französische Historiker Michel Pastoureau merkt an: In den Gesellschaften der Antike und des Mittelalters wird das Wasser nämlich selten als blau wahrgenommen. Auf Bildern kann es jede Farbe annehmen, aber symbolisch wird es vor allem mit grün assoziiert, was beispielsweise auf Seekarten und den ältesten Landkarten zu erkennen ist, auf denen Meere, Seen Flüsse und Ströme fast immer grün sind. Erst Ende des 15. Jahrhunderts überlässt die Farbe Grün – die ebenfalls gerne für die Darstellung von Wäldern verwendet wird – allmählich dem Blau den Platz. Aber in der Vorstellungskraft und im Alltag benötigte es noch viel Zeit, bis das Wasser auch als blau bezeichnet wurde und Blau als kühle Farbe galt.47
Die farbliche Gestaltung von Kartenwerken verliert im Blick auf Boettis Werkreihe an Selbstverständlichkeit. Die Meere werden in den ver-
47 Pastoureau, Michel: Blau. Die Geschichte einer Farbe. Berlin 2013. S. 142.
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schiedensten Farbtönen imaginiert und stehen in ihrer Erscheinung den Konventionen entgegen, in denen sie zum Großteil dargestellt werden.48 In ihren zahlreichen Variationen verweisen die Weltmeere auf Boettis Wandteppichen jedoch auch auf ihren seit jeher beförderten Status als Projektionsflächen. Im Bild der Meere imaginieren sich Sehnsüchte und andere Welten. Diese Vorstellung kommt ebenfalls zum Ausdruck, wenn Hegel bemerkt: „Das Meer gibt uns die Vorstellung des Unbestimmten, Unbeschränkten und Unendlichen, und indem der Mensch sich in diesem Unendlichen fühlt, so ermutigt dies ihn zum Hinaus aus dem Beschränkten.“49
3.3 MAPPA: VARIATION UND ZUFALL TERRITORIALSTAATLICHER ORDNUNGEN Alighiero Boettis Werkreihe Mappa thematisiert explizit die kartografische Repräsentation nationaler Territorien. Die Wandteppiche stellen vor diesem Hintergrund ein zeitgeschichtliches Dokument dar. Über 150 gestickte Weltkarten zeugen von den territorialen Veränderungen der Welt in einem Zeitraum von über zwei Jahrzehnten. Im Jahr 1971 begonnen, orientierte sich die Gestaltung der Wandteppiche bis zuletzt stark am Grundmodell der politischen Weltkarte. Insbesondere in der Gegenüberstellung der Wandteppiche aus verschiedenen Jahren entsteht ein Panorama territorialer Verschiebungen, in denen die stete Veränderung von nationalen Hoheitsgebieten und Grenzverläufen auf globaler Ebene sichtbar wird. Mit der Werkreihe verschränkt sich gleichzeitig eine Perspektive auf die Lebenswelt jener, die die Wandteppiche realisiert haben. Sie verweist auf ihre Handfertigkeit, die mit der Ausführung verbunden ist und werden darin zu einer Zurschaustellung und Nobilitierung einer Kunst der Stickerei. Vor diesem Hintergrund formulieren Boettis Arbeiten eine bildkritische Annäherung an das Medium der politischen Weltkarte und der kartogra-
48 Vgl.: Döring, Jörg: „Die Farben der Landkarten“. In: Die Farben imaginierter Welten. Zur Kulturgeschichte ihrer Codierung in Literatur und Kunst vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hrsg. v. Monika Schausten. Berlin 2012. S. 271 – 300. 49 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Band 12. Frankfurt am Main 1973. S. 118.
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fischen Repräsentation territorialstaatlicher Ordnungen. Drei Aspekte sollen in diesem Kontext noch einmal hervorgehoben werden. Erstens führen Boettis Arbeiten die stete Veränderung territorialstaatlicher Ordnungen vor. Auf jedem Wandteppich lassen sich Grenzverschiebungen staatlicher Territorien nachvollziehen. Keine gestickte Weltkarte aus der Werkreihe gleicht einer anderen. Von diesem Aspekt zeugt jedoch nicht nur die Werkreihe als Ganzes, sondern bereits der Herstellungsprozess jeder einzelnen Weltkarte. Da jeder Wandteppich erst nach mehreren Monaten und zum Teil Jahren fertiggestellt wurde und die von Boetti gewählte Vorlage reproduziert, entsprachen die einzelnen Weltkarten bereits zum Zeitpunkt ihrer Fertigstellung nicht mehr der jeweils aktuellen geopolitischen Ordnung. Nationale Grenzen verschoben sich in der Zwischenzeit und politische Ereignisse führten dazu, dass einzelne Staaten aufgelöst und neu gegründet wurden. Diese Differenz, der jede politische Weltkarte unterliegt, wird in Boettis Arbeiten durch die spezifische Form des Medientransfers geradezu zur Schau gestellt. Der Aspekt der Zeit wird damit auf der Ebene der Repräsentation durch die politische Weltkarte ebenso relevant wie auf der Ebene des Herstellungsprozesses. Luca Cerizza hebt ebenfalls hervor: Like other system-works Mappa is a reflection on time, difference and repetition. It is a true concentration of time: the long time of its production, the even longer time of history. […] Form always in flux; image continuously constructed and reconstructed, a perpetually open, potentially infinite work that changes with the passing of time and measures the passing of time.50
Mit dem Rückgriff auf die Stickerei wählte Boetti eine besonders zeitaufwendige Herstellungstechnik, in der die Differenz zwischen Vorlage, Ausführung und Fertigstellung besonders stark ausgeprägt ist. Grenzlinien und Staatsgebiete werden in einem zeitintensiven Prozess buchstäblich eingestickt und festgezurrt. Hier zeigt sich, dass es von Beginn an nicht Boettis primäres Ziel war, die geopolitischen Verhältnisse seiner Zeit möglichst schnell auf künstlerischer Ebene zu reproduzieren. Vielmehr lässt Boetti seine Arbeiten in einer Technik ausführen, in der der Prozess der Darstel-
50 Cerizza, Luca (2008): S. 66.
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lung territorialer Ordnungen im Motiv der politischen Weltkarte verlangsamt wird. Zweitens bieten Boettis Arbeiten eine veränderte Wahrnehmung politischer Weltkarten an, indem sie die kartografische Perspektive auf die territoriale Aufteilung der Erde mit der konkreten Thematisierung des Zeitgeschehens in Afghanistan zusammenführen. Auf diesen Aspekt bezogen, lassen sich zwei Tendenzen in der Werkreihe erkennen. Zum einen werden territorialstaatliche Verhältnisse vereinfacht, indem weder umstrittene Grenzlinien noch Staatsgebiete kenntlich gemacht werden. Zum anderen macht Boetti am Beispiel Afghanistans deutlich, dass territoriale Machtverhältnisse zwischen staatlichen und außerstaatlichen Akteuren auf politischen Weltkarten oftmals aus der Sichtbarkeit verschwinden. Darauf weist beispielsweise auch der Politikwissenschaftler Mark Neocleous hin, wenn er diesen Aspekt als eine Form der Naturalisierung beschreibt: By encouraging a belief in the naturalness of the nation the cartographic enterprise encourages the state to see and think of its territory in terms of ‚natural‘ boundaries, and thus its very existence is naturalized. The intensely political and violent processes through which borders are established and social order is fabricated are obliterated: the social order established by the state appears as a natural order established by geography. The map thus plays an important role in the ruling-class tendency to erase from the political imagination the violence and bloodshed out of which the state was born: territory and terror are ideologically torn asunder. Map, territory and power become mutually implicated in one another as the map encourages a primordialist thesis about the autochthonous state, depoliticizing and ideologically mystifying the original violence through which the state and its territory were shaped.51
Boettis Werkreihe kennzeichnet diese Nicht-Sichtbarkeit auf seinen politischen Weltkarten einerseits durch die Rahmentexte, in denen die aus Afghanistan stammenden Frauen durch Zitate, Anekdoten oder Gedichte ihre von politischen Ereignissen geprägte Lebenswelt thematisieren. Dadurch eröffnet sich eine Perspektive auf die Machtverhältnisse innerhalb eines Staates, die in der alleinigen Darstellung des Staatsgebietes, seiner territorialen Grenzen sowie der eindeutigen Zuschreibung staatlicher Souveränität auf kartografischer Ebene verschwinden. Andererseits wird der ungewisse
51 Neocleous, Mark (2003): S. 124.
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Status Afghanistans durch die Gestaltung der Flagge markiert. Hier zeigt sich, wie Boetti in beiden Bereichen dem Bild der politischen Weltkarte eine ergänzende Perspektive auf die Repräsentation jenes Staates hinzufügt, der eng mit der Entstehung seiner Werkreihe verbunden ist. Drittens wird in Boettis Werkreihe Mappa eine Spannung vorgeführt, die sich zwischen genauer Planung und Zufall bewegt. Jeder Wandteppich wurde von Boetti und seinen Mitarbeitern bis auf die Rahmentexte akribisch als Entwurf auf der zu bestickenden Leinwand vorbereitet. Es wurde eine möglichst hohe Entsprechung zwischen der Vorlage und dem späteren Ergebnis, der jeweils aktuellen politischen Weltkarte und dem gestickten Wandteppich, gesucht. Dadurch stellte Boetti einen direkten Zusammenhang zwischen der Gestaltung seiner Bildwerke zum einen und der Veränderung territorialer Ordnungen zum anderen her. Gestalterische Entscheidungen von Boetti selbst richteten sich neben der Wahl der Sticktechnik demnach hauptsächlich auf die Rahmung der Weltkarte, der Übereinstimmung von Staatsgebiet und Nationalflagge sowie der zugrundeliegenden Projektionsmethode. Der Wandel territorialer Ordnungen, der sich in der Verschiebung von Grenzlinien sowie staatlicher Souveränität über einzelne Gebiete ausdrückt, wurde damit maßgeblich zum gestalterischen Prinzip in der Veränderung der Wandteppiche. Auf diese Konzeption Bezug nehmend kommentiert Cerizza: Boetti excluded his own subjectivity from the artwork but, importantly, he did this by relying on a socio-political system instead of a mathematical one. Through the different versions and variations of the maps, he harnessed disorder in the guise of order that constantly revealed its continuous, potentially infinite regeneration.52
Boettis Rolle als Künstler kann damit insbesondere im Sinne einer planenden Instanz verstanden werden, indem er für die Umsetzung seiner Werkreihe ein festes Schema entwickelte, das in den über 150 gestickten Wandteppichen kaum variiert. Mit seiner Entscheidung, die Rahmentexte und Farben der Meeresflächen nicht mehr vorzugeben, wurde ein Gestaltungsspielraum in der Anfertigung der Wandteppiche vom Künstler bewusst angelegt. Zwar veränderte sich dadurch nicht die kartografische Repräsentation der territorialstaatlichen Ordnung, jedoch in hohem Grade das Erschei-
52 Cerizza, Luca (2008): S. 64.
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nungsbild der Weltkarten und die Sichtbarkeit der am Herstellungsprozess beteiligten Personen. Die Variationen, die die Wandteppiche innerhalb dieses von Boetti angelegten Systems zeigen, werden zugleich zu einem sinnbildlichen Verweis auf die stete Verschiebung von Grenzlinien und nationalen Souveränitätsansprüchen. Die Farbigkeit der Meere, die von den gewöhnlichen Darstellungskonventionen auf politischen Weltkarten abweicht, befördert ihre Wahrnehmung als Projektionsfläche, in der sich Sehnsüchte und Welten jenseits der politisch-administrativen Aufteilung der Erde imaginieren lassen. Boetti wird damit gleichermaßen zu einem Initiator als auch zum Beobachter des von ihm angelegten Schemas auf den politischen Weltkarten, die die globale Veränderung territorialstaatlicher Ordnungen repräsentieren.
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Grenzlinien und Grenzräume bei Francis Alÿs
4.1 LOOP: DIE TERRITORIALE GRENZE ZWISCHEN DEN USA UND MEXIKO Der in Mexico City lebende, belgische Künstler Francis Alÿs reiste 1997 von der mexikanischen Grenzstadt Tijuana in die 30 Kilometer entfernte Stadt San Diego im Süden der USA. Er folgte einer Einladung zu der Biennale InSite im Süden Kaliforniens.1 Die beiden Städte Tijuana und San Diego werden durch die Grenze zwischen den USA und Mexiko voneinander getrennt. Sie erstreckt sich mit einer Länge von über 3000 Kilometern von der Küste des Pazifiks bis zum Golf von Mexiko. Kaum eine Grenzlinie wird täglich von mehr Menschen überquert und zugleich in einem höheren Maße überwacht. Im Rahmen seines künstlerischen Beitrags zur Biennale reiste Alÿs von Tijuana nach San Diego, ohne jedoch die gemeinsame Grenzlinie der beiden Staaten direkt zu überqueren. Sein Weg führte ihn am 1. Juni 1997 zunächst in entgegengesetzter Richtung von Tijuana nach Mexico City. Von dort aus flog er über die Hauptstadt der Republik Panama weiter nach Santiago de Chile. Mit Zwischenaufenthalten in Auckland, Sydney, Singapur, Bangkok, Rangun, Hong Kong, Shanghai und Seoul führte seine Reise nach Nordamerika in die Stadt Anchorage im US-Bundesstaat Alaska. Über Vancouver und Los
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Die Biennale InSite wurde 1991 gegründet. Sie findet in den beiden Grenzstädten Tijuana und San Diego statt. Der Name der Biennale bezieht sich auf die Ortsspezifität der ausgestellten Arbeiten sowie auf deren Sichtbarkeit im öffentlichen Raum für das Publikum.
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Angeles erreichte Alÿs am 5. Juli nach insgesamt 35 Tagen San Diego. Auf seiner Reise passierte er 17 Flughäfen und 16 verschiedene Staaten. Ein Zwölftel der gesamten Reisezeit legte er mit dem Flugzeug zurück. Unter dem Titel Loop (Tijuana – San Diego) dokumentierte Francis Alÿs seine Reise als künstlerischen Beitrag zur Biennale in zweifacher Hinsicht. Von seinen jeweiligen Aufenthaltsorten schrieb er E-Mails an den Leiter der Biennale, Olivier Debroise. Die Nachrichten verfasste Alÿs hauptsächlich an den verschiedenen Flughäfen, die die Zwischenstationen seines Weges nach San Diego bildeten. Es handelt sich dabei nicht um ausführliche Reiseberichte.2 Oftmals beschränken sie sich auf nur wenige Zeilen und nehmen den Status kurzer Reisenotizen ein. In ihnen verbinden sich Eindrücke vor Ort mit dem Gedanken des künstlerischen Beitrags. Die an Märchen erinnernde Metaphorik des fliegenden Teppichs aufgreifend, schrieb Alÿs am zehnten Tag aus Panama City: „Loops are elusive. This journey makes me think of the infinite unfolding of a flying carpet“.3 Vier Tage darauf überquerte er die internationale Datumsgrenze: „The plane crosses the International Date Line while I am sleeping. It costs me a day of life: a Friday 13.“4 Nach der Hälfte seiner Reise schreibt er aus Shanghai: „Insignificant details transport me, is it just a matter of geography? At this point, whether I travel east or west, it would take me a week to reach a homeland. As I become progressively unable to read the local codes, I’m happily losing knowledge of my self.“5
2
Vgl.: Fleckner, Uwe; Steinkamp, Maike u. Ziegler, Hendrik (Hrsg.): Der Künstler in der Fremde: Reise – Migration – Exil. Berlin 2015.
3
Alÿs, Francis: PANAMA/ 10 JUNE 1997. Veröffentlicht: unbekannt. URL: http://formerly.bak-utrecht.nl/report/PDFs/Report_A3_Alys.pdf (Stand: 22.11.2018).
4
Alÿs, Francis: INT DATE LINE/ 14 JUNE 1997. Veröffentlicht: unbekannt. URL: http://formerly.bak-utrecht.nl/report/PDFs/Report_A3_Alys.pdf (Stand: 22.11.2018).
5
Alÿs, Francis: SHANGHAI/ 29 JUNE 1997. Veröffentlicht: unbekannt. URL: http://formerly.bak-utrecht.nl/report/PDFs/Report_A3_Alys.pdf (Stand: 22.11.2018).
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Für die Biennale in San Diego gestaltete Alÿs eine Postkarte, von der jeder Ausstellungsbesucher ein Exemplar mitnehmen konnte (Abb. 10).6 Auf ihrer Vorderseite befindet sich im Querformat die Fotografie eines Meeres. Darauf erstreckt sich über der blauen Wasseroberfläche im oberen Viertel der Abbildung ein wolkenloser Himmel. Die Horizontlinie besitzt eine leichte Krümmung und es deutet sich im weiten Blick auf das Meer die Kugelgestalt der Erde an. Unter der Fotografie befindet sich in kleinen, gedruckten Lettern eine Beschreibung der Arbeit: In order to go from Tijuana to San Diego without crossing the Mexico/ USA border, I will follow a perpendicular route away from the fence and circumnavigate the globe heading 67° SE, NE, and SE again until meeting my departure point. The project remained free and clear of all critical implications beyond the physical displacement of the artist.
Auf der Rückseite der Postkarte ist eine Weltkarte abgebildet, auf der die einzelnen Stationen der Reise mit dem Namen der Stadt sowie den dazugehörigen Reisedaten verzeichnet sind (Abb. 11). Entgegen einer eurozentrischen Ausrichtung ist auf ihr der Pazifik in den Mittelpunkt gerückt, dessen Fläche dadurch zum Zentrum der Karte wird.7 Europa und der afrikanische Kontinent befinden sich am linken Außenrand und Nord- sowie Südamerika schließen mit dem rechten Rand der Karte ab. In dieser Zentrierung der Weltkarte nimmt auch der Titel der Arbeit eine konkrete Form an. Die Reiseroute ähnelt in der kartografischen Darstellung der Figur eines Kreises. Diese umspannt ausgehend von Mittelamerika über Australien und den Westen Asiens einen großen Teil des Pazifischen Ozeans.
6
Das Format der Postkarte greift Francis Alÿs in einer Vielzahl seiner performativen Arbeiten als dokumentarisches Medium auf. Vom Museum of Modern Art in New York wurde im Jahr 2010 eine Auswahl seiner Postkarten herausgegeben: The Museum of Modern Art (Hrsg.): Francis Alÿs: Postcards. New York 2010.
7
Vgl.: Black, Jeremy: Maps and Politics. London 1997. S. 37f.; Salesa, Damon Ieremia: „The World from Oceania“. In: A Companion to World History. Hrsg. v. Douglas Northrop. Chichester 2015. S. 391 – 404. S. 391f.
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Abb. 10: Francis Alÿs: Loop (1997). Postkarte, Vorderseite. 15cm x 10,5cm.
Abb. 11: Francis Alÿs: Loop (1997). Postkarte, Rückseite. 15cm x 10,5cm.
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Mit seinem künstlerischen Beitrag bezog sich Francis Alÿs auf einen Grenzdiskurs, der sich mit dem Ausstellungsort der Biennale in San Diego direkt verbindet. In seiner Arbeit verdichten sich eine Vielzahl von räumlichen, sozialen und medialen Dimensionen in der Thematisierung der Grenze zwischen den USA und Mexiko. Neben der bereits benannten Performance Loop aus dem Jahr 1997 hat der Künstler in seinem Werk mehrfach Bezug auf territoriale Grenzen genommen. In der Arbeit Don’t Cross the Bridge Before You Get to the River aus dem Jahr 2008 bezieht sich Alÿs auf die Straße von Gibraltar und deren Bedeutung für die Migration von Nordafrika in die Europäische Union. Diese beiden Arbeiten sollen in diesem Kapitel vorgestellt und mit Blick auf Alÿs Thematisierung der territorialen Grenze diskutiert werden. ‚Away from the fence‘ Die Reise von Francis Alÿs in die nur 30 Kilometer entfernte Grenzstadt der USA erscheint wie eine Allegorie auf die Mühen und Schwierigkeiten bei der Überwindung territorialstaatlicher Grenzen. Dies äußert sich insbesondere in dem Aufwand, mit dem der Weg aus dem Norden Mexikos in die USA zurückgelegt wurde, der in zeitlicher und räumlicher Hinsicht kaum größer sein könnte. Von Seiten der USA findet seit Beginn der 1990er Jahre ein intensiver Ausbau der Grenzanlagen am Rande des mexikanischen Staatsgebietes statt. Ein wesentliches Ziel dieser US-amerikanischen Grenzpolitik ist die Regulierung der Migration aus Mexiko und dessen Nachbarstaaten in die USA.8 Ein sichtbarer Ausdruck dafür sind die Ausweitungen von Sperrzonen entlang der Grenzlinie. Neue Grenzzäune wurden gebaut, verfestigt und technologisch aufgerüstet. Der Ausbau dieses Grenzregimes hat in den letzten Jahrzehnten nicht nur die Migrationsbewegungen in die USA, sondern auch nachhaltig die soziale Wahrnehmung der Grenze geprägt.9
8
Vgl.: Ganster, Paul u. Lorey, David E.: The U.S.-Mexican Border Today. Conflict and Cooperation in Historical Perspective. London 2016. S. 215ff.
9
Vgl.: Rodriguez, Nestor: „Die soziale Konstruktion der US-amerikanischen Grenze“. In: Grenzsoziologie: Die politische Strukturierung des Raumes. Hrsg. v. Monika Eigmüller u. Georg Vobruda. Wiesbaden 2006. S. 89 – 111.
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Francis Alÿs richtet seinen Blick weder auf die Sperranlagen, noch präsentiert er Bilder von aufwendig überwachten Grenzübergängen oder kilometerlanger Zäune, die den Norden Mexikos durchziehen. Diese haben, zahlreich in den Medien reproduziert, die Vorstellung von diesem Grenzregime wesentlich geprägt.10 Ein prägnantes Beispiel für eine verbreitete Ikonographie der Grenze zwischen den USA und Mexiko findet sich in einer Werkreihe des Künstlers Wolfgang Tillmans (Abb. 12). Unter dem Titel Empire (US/ Mexico border) handelt es sich um eine Schwarz-Weiß-Fotografie aus dem Jahr 2005. Sie besitzt eine Größe von 234cm x 174cm und entstand im Rahmen von Tillmans Werkreihe Empire.11 Sie zeigt aus einer erhöhten Perspektive einen Grenzübergang zwischen Mexiko und den USA, der von Fußgängern durchquert wird. Hohe Sicherheitszäune prägen die Wegführung und dienen als Absperrung nach Außen. Durch die tiefstehende Sonne legen sich die Schatten der Zäune über eine Straße im unteren Bereich der Fotografie. Unmittelbar darüber befindet sich neben einem Wachhäuschen ein Durchgangsbereich in Form eines Drehkreuzes. Umgeben von Gitterzäunen und Mauern, nimmt der Grenzübergang die Form einer Schleuse an, in dessen hinteren Bereich ein Schild mit der Aufschrift ‚Bienvenidos a Tijuana‘ zu erkennen ist. Der Kurator Bob Nickas hat diese von Sicherheitszäunen geprägte Gestalt des Grenzübergangs auf der Fotografie Tillmans mit einer auf Sichtbarkeit und Begrenzung ausgelegten Gefängnisarchitektur verglichen.12
10 Vgl.: Ellingwood, Ken: Hard Line: Life and Death on the U.S.-Mexico Border. New York 2004.; Romero, Fernando: Hyperborder: The Contemporary U.S.Mexico Border and its Future. New York 2008. 11 Die Werkreihe Empire von Wolfgang Tillmans aus dem Jahr 2005 besteht aus Fotografien, die der Künstler zwischen 1991 und 2002 angefertigt hat. Im Rahmen dieser Werkreihe vergrößerte Tillmans die Fotografien mittels eines Fotokopierers und fertigte auf dieser Grundlage C-Prints von ihnen an. 12 Vgl.: Nickas, Bob: „Pictures to Perceive the World“. In: Tillmans, Wolfgang: Freedom From The Known. Hrsg. v. P.S.1 Contemporary Art Center New York. Göttingen 2006. S. 1 – 15. S. 9.
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Abb. 12: Wolfgang Tillmans: Empire (US/ Mexico border) (2005). 234cm x 174cm.
Im Kontrast zu Tillmans Fotografie wird deutlich, wie Alÿs es geradezu vermied, die Grenze bildlich zu reproduzieren. Über seine Reise verweist er
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zwar auf die Grenzlinie zwischen den USA und seinem südlichen Nachbarstaat, doch die Form seines künstlerischen Beitrags führt dies allein auf performativer Ebene vor.13 Die Grenze selbst rückt vielmehr indirekt in den Blick. Seine Route, die ihn über insgesamt vier Kontinente führte, entfernte sich von der Grenzlinie in scheinbar größtmöglicher Distanz. Dabei unterschied sich sein Weg in die USA gegenüber einer direkten Einreise aus dem Norden Mexikos nicht nur in räumlicher Hinsicht. Mit ihm veränderte sich insbesondere die für den Grenzübergang genutzte Infrastruktur. Verglichen mit den zahlreichen Menschen, die tagtäglich bemüht sind, die Grenze in die USA auf legalem Wege zu überqueren oder mit dem hohen Einsatz ihres Lebens versuchen, diese jenseits der offiziellen Grenzübergänge hinter sich zu lassen, könnte die Reise von Alÿs kaum privilegierter erscheinen.14 Sein Weg führte ihn hauptsächlich über die Transitzonen der Flughäfen großer Weltstädte. Von den Orten, an denen sich Alÿs während dieser Zeit aufhielt, gibt es von ihm nur wenige Informationen. Einen Großteil der Zeit verbrachte der Künstler auf den jeweiligen Flughäfen. Sie besitzen als globale Knotenpunkte des Luftverkehrs einen zentralen Stellenwert für Alÿs künstlerische Strategie, die territoriale Grenze zwischen den USA und Mexiko zu umgehen. An einem der letzten Tage seiner Reise schreibt Alÿs an Olivier Debroise: „The airport, upon arrival, functions as a decompression chamber.“15 In dieser Metaphorik, mit der Alÿs den Flughafen charakterisiert, klingt bereits dessen räumliche Spezifik an. Mit einer ähnlichen Rhetorik beschreibt auch der Schriftsteller Alain de Botton den Flughafen als einen Ort, an dem sich gesellschaftliche Dimensionen von Natur, Technologie und romantische Sehnsüchte des Menschen miteinander verdichten:
13 Bezogen auf den Titel Loop handelt es sich insofern um eine unvollständige Kreisbewegung um den Pazifik, als dass Alÿs Reise etwa 30 Kilometer von ihrem Anfangspunkt entfernt endet. 14 Vgl.: Bender, Steven: Run for the Border: Vice and Virtue in U.S.-Mexico Border Crossings. New York 2012. 15 Alÿs, Francis: AIRPORTS & PLANES/ 3 JULY 1997. Veröffentlicht: unbekannt. URL: http://formerly.bak-utrecht.nl/report/PDFs/Report_A3_Alys.pdf (Stand: 22.11.2018).
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Were we asked by a Martian to visit a single place on this earth that neatly captures the gamut of themes running through modern civilization – from our faith in technology to our destruction of nature, from our interconnectedness to our romanticizing of travel – there would be no choice but to visit the airport.16
In Alÿs Arbeit tauchen diese Aspekte nicht explizit, sondern allenfalls in der Vorstellungskraft des Betrachters auf. Die einzelnen Flughäfen hingegen nehmen nicht mehr Gestalt an als die eines Punktes auf der Weltkarte, dessen Darstellung sich auf der Rückseite der Postkarte befindet. Verbunden durch gestrichelte Linien verweisen sie neben der von Alÿs zurückgelegten Strecke auf ihren Status als Durchgangsorte.17 Auf diese räumliche Eigenschaft von Flughäfen hat insbesondere der Ethnologe Marc Augé hingewiesen. In Anlehnung an Pierre Noras Konzept der Erinnerungsorte unterscheidet Augé zwischen Orten und Nicht-Orten: „So wie ein Ort durch Identität, Relation und Geschichte gekennzeichnet ist, so definiert ein Raum, der keine Identität besitzt und sich weder als relational noch als historisch bezeichnen läßt, einen Nicht-Ort.“18 Letztere stellen für Augé das Symptom einer aktuellen Entwicklung, der „Übermoderne“, dar.19 NichtOrte zeichnen sich dadurch aus, dass sie keine für den Menschen identitätsstiftende Funktion besitzen. Sie fungieren, wie der Medienwissenschaftler Jörg Dünne schreibt, als „Durchgangsorte [...], an denen Medien und Körper unauflöslich miteinander verbunden sind.“20 Dies verändert nach Augé neben der Funktion, die einzelnen Räumen zukommt, auch die
16 de Botton, Alain: Peter Fischli and David Weiss’s 800 Views of Airports. Veröffentlicht: 01.10.2012. URL: https://bombmagazine.org/articles/peter-fischliand-david-weisss-800-views-of-airports/ (Stand: 30.06.2020). 17 Vgl.: Adey, Peter: „Airports: Terminal/ Vector“. In: Geographies of Mobilities: Practices, Spaces, Subjects. Hrsg. v. Tim Cresswell u. Peter Merriman. Farnham 2011. S. 137 – 150. 18 Augé, Marc: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit. Frankfurt am Main 1994. S. 92. 19 Vgl.: Chihaia, Matei: „Nicht-Orte“. In: Handbuch Literatur & Raum. Hrsg. v. Jörg Dünne u. Andreas Mahler. Berlin 2015. S. 188 – 195. S. 188. 20 Dünne, Jörg: „Soziale Räume: Einleitung“. In: Raumtheorie - Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Hrsg. v. Jörg Dünne u. Stephan Günzel. Frankfurt am Main 2006. S. 289 – 303. S. 295.
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Raumerfahrung des Menschen. Dahingehend fasst er in zweifacher Hinsicht unter dem Begriff der Nicht-Orte sowohl „Räume, die in bezug auf bestimmte Zwecke (Verkehr, Transit, Handel, Freizeit) konstituiert sind, und die Beziehung, die das Individuum zu diesen Räumen unterhält.“21 Neben Beispielen, wie etwa Schnellstraßen und Autobahnkreuzen bis hin zu „großen Einkaufszentren oder [...] Durchgangslagern, in denen [...] Flüchtlinge kaserniert“22 werden, nennt Augé auch den Flughafen, ohne jedoch dessen Spezifik ausführlicher zu analysieren. Mit Blick auf die Arbeit von Alÿs, der die einzelnen Flughäfen selbst nicht in eine Sichtbarkeit des Bildes überführt oder diese auf andere Weise näher kennzeichnet, scheint insbesondere die von Augé formulierte Betonung der Nicht-Orte als Räume des Transits von Relevanz. Die Flughäfen selbst besitzen als Orte insbesondere darin einen Wert für Alÿs künstlerische Strategie, als dass sie miteinander verbundene Stationen auf seinem Weg markieren. Grenzlosigkeit und Grenzpunkte Die Funktion der Flughäfen als Durchgangsorte, die sich bei Alÿs auf der Postkarte allein grafisch andeutet, lässt sich auch in deren spezifischer Architektur wiederfinden. Ausgehend von diesem Aspekt besitzt Alÿs Arbeit eine Parallele zu einer Rauminstallation des argentinischen Künstlers Jorge Macchi (Abb. 13). Für seine Einzelausstellung im Kunstmuseum Luzern im Jahr 2013 gestaltete Macchi den größten Ausstellungsraum des Museums in Anlehnung an die Wartebereiche in Flughäfen. Es handelte sich um den ersten Raum, den die Besucher im Rahmen der Ausstellung betraten. Die Ein- und Ausgangstür des länglich geschnittenen Ausstellungsraumes befanden sich an zwei gegenüberliegenden Seiten. Über die gesamte Fläche eines azurblauen Teppichbodens erstreckten sich zahlreiche Absperrbänder, die an chromfarbenen Standfüßen angebracht wurden. Diese waren so angeordnet, dass Besucher beim Eintreten erst die gegenüberliegende Ausgangstür erreichen konnten, indem sie den gesamten Raum entlang der aufgestellten Barrieren durchquerten.
21 Augé, Marc (1994): S. 110. 22 Ebd.: S. 44.
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Abb. 13: Jorge Macchi: The Longest Distance Between Two Points (2013). Abgrenzungsständer und Absperrgurte. Größe variabel. Kunstmuseum Luzern. (Ausstellungsansicht). Foto: Stefano Schröter.
Auf diese Wegstrecke verweist auch der Titel der Rauminstallation: The Longest Distance Between Two Points von Jorge Macchi. Durch die Anordnung der Absperrbänder wurde die Strecke zwischen den Türen um ein Vielfaches gestreckt. Für die Besucher verlängerte sich dadurch auch zwangsläufig die Aufenthaltszeit innerhalb des Raumes und ihre Raumerfahrung wurde besonders von der zeitlichen Dimension geprägt, in der sie den ‚Parcours‘ zurücklegten. Die Gestaltung weckte durch die verwendeten Absperrbänder, die als einzige Objekte dem Betrachter begegneten, Assoziationen an die Wegführung von Personen in Flughafenterminals, bevor sie etwa die Check-In-Bereiche oder Pass- und Zollkontrollen bei der Ankunft erreichen. Bereits im Titel der Arbeit deutet sich eine große Ähnlichkeit zu Alÿs künstlerischer Umsetzung an. Der Weg, den er von Tijuana nach San Diego zurücklegte, erstreckte sich auf ein globales Ausmaß. Für die Besucher der Rauminstallation von Macchi bezog sich diese Dimension auf die Größe des Ausstellungsraumes, in dem sie ebenfalls zwischen dem Anfangs- und Endpunkt ihres Weges eine größtmögliche Distanz überwinden mussten.
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Die Funktion, die der jeweiligen Wegstrecke zukommt, unterscheidet sich jedoch in den beiden Arbeiten. Bei Alÿs dient sie dazu, einen direkten Grenzübergang zwischen zwei Staaten zu umgehen und über die Strecke, die er dafür zurücklegt, eine Metapher für die Selektionsmechanismen territorialstaatlicher Grenzen zu finden. Die Arbeit von Jorge Macchi hingegen konfrontiert den Betrachter mit einer Raumerfahrung, die in der Spezifität von Transiträumen gründet. Der Ausstellungsraum wird auf einen Durchgangsort reduziert, dessen Funktion darin liegt, die Bewegung von Personen im Raum zu leiten. Die Gestaltung des Bodens, die Macchi wählte, erinnert in ihrer azurblauen Farbgebung an die Weite des Himmels, die auf jene Personen wartet, die sich zum Flughafen begeben. Ebenso weckt die Farbe Assoziationen an die blaue Oberfläche des Meeres, die auch auf der Postkarte von Alÿs herangezogen wird. In beiden Fällen steht für den Betrachter ein derartiger Vergleich in einem Kontrast zu der reglementierten Wegführung im Ausstellungsraum. Darüber hinaus verbinden sich mit der Raumgestaltung Assoziationen an Praktiken der Grenzkontrolle. Dies betrifft zum einen die Überprüfung zollrechtlicher Bestimmungen an Flughäfen, vor denen ähnlich angeordnete Wartebereiche anzutreffen sind.23 Jene begegnen den Passagieren jedoch ebenso in den Zonen der Check-In-Bereiche und Passkontrollen. Diese Aspekte, die Macchi in Form einer Rauminstallation andeutet, tauchen zwar in Alÿs Arbeit nur implizit auf, sind für diese jedoch zentral. Alÿs meidet die territoriale Grenze zwischen Mexiko und den USA. Dafür überwindet er auf seiner Strecke von Station zu Station zahlreiche andere territoriale Grenzen zwischen Ländern, dessen Grenzkontrolle er sich an den jeweiligen Flughäfen unterzieht. Dem Ort des Flughafens kommt ebenso die regulierende Funktion eines Grenzübergangs zu, da von ihm ausgehend territoriale Grenzen überquert werden.24 Am deutlichsten
23 Für ihre Arbeit Contraband fotografierte die Künstlerin Taryn Simon am John F. Kennedy International Airport in New York Waren im Zollbereich und dem internationalem Postzentrum. Insgesamt entstanden 1075 Fotografien, die beschlagnahmte Waren zeigen. 24 Vgl.: Muller, Benjamin J.: „Travelers, Borders, Dangers. Locating the Political at the Biometric Border“. In: Politics at the Airport. Hrsg. v. Mark B. Salter. Minneapolis 2008. S. 127 – 143.
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manifestiert sich dies im Dokument des Reisepasses.25 Der Geograf Jouni Häkli pointiert dies folgendermaßen: „[...] in a passport we carry the border in a pocket, a border that the sovereign may choose to enforce upon us.“26 Dabei besitzen die Zugehörigkeit zu einer Staatsbürgerschaft, die sich im Reisepass widerspiegelt sowie auch die Länder, die bereits bereist wurden, einen unmittelbaren Einfluss auf die Reisefreiheit von Personen.27 Auf diese Gemeinsamkeit von Praktiken der Kontrolle und Selektion zwischen staatlichen Grenzen und Flughäfen hat der Geograf Peter Adey aufmerksam gemacht: „Airports act as border zones to the vertical vectors of mobility that cross national and state boundaries. For this, Airports must function in a similar way to the borders that police the boundaries of our countries, regulating the movement of people that enter and leave.“28 Der Reisepass, dessen Status Alÿs Überwindung der territorialen Grenzen erst ermöglichte, findet weder einen expliziten Eingang in seine Reiseberichte noch in die Dokumentation seiner Arbeit für die Besucher der Biennale. Die zahlreichen Grenzübergänge, die auf seinem Weg stattfanden, treten im Rahmen der Ausstellungspräsentation in Form der Postkarte in den Hintergrund. Die darauf abgebildete Weltkarte verzeichnet seine Stationen in Form einzelner Punkte, die Staatsgrenzen sind hingegen nicht abgebildet. Dadurch erscheinen die Kontinente als homogene Landmassen umrahmt von den Weltmeeren. Die Funktion, die dem Flughafen im Sinne einer territorialen Grenzkontrolle in seiner künstlerisch performativen Aktion dennoch zukommt, zeigt, dass Alÿs mit der Überwindung der Grenze
25 Vgl.: Torpey, John: The Invention of the Passport: Surveillance, Citizenship and the State. Cambridge 2000. 26 Häkli, Jouni: „The Border in the Pocket: The Passport as a Boundary Object“. In: Borderities and the Politics of Contemporary Mobile Borders. Hrsg. v. Anne-Laure Amilhat Szary u. Frederic Giraut. Hampshire 2015. S. 85 – 99. S. 98. 27 Insbesondere in Folge der Anschläge am 11. September 2001 haben sich die Kontroll- und Sicherheitsmaßnahmen an Flughäfen stark verändert. Vgl.: Lyon, David: „Filtering Flows, Friends, and Foes: Global Surveillance“. In: Politics at the Airport. Hrsg. v. Mark B. Salter. Minneapolis 2008. S. 29 – 49. 28 Adey, Peter: „Secured and Sorted Mobilities: Examples from the Airport“. In: Surveillance & Society, 1 (4). Veröffentlicht: 2004. S. 500 – 519. S. 504.
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zwischen den USA und Mexiko nicht allein finanzielle und zeitliche Ressourcen thematisiert. Die Grenzüberquerung erweist sich zudem als ein Privileg der Staatsbürgerschaft.29 Eine gesonderte Stellung nimmt in Alÿs Arbeit die Fotografie der Meeresoberfläche ein. Sie wurde zentral auf der Vorderseite der Postkarte über dem beschreibenden Text zur Arbeit platziert. Es wirkt wie ein kritischer Kommentar, die Abbildung einer weiten, unberührten Meeresfläche als bekanntes Motiv von Postkarten mit einer künstlerischen Arbeit zusammenzuführen, die sich thematisch auf den Ausschluss von Personengruppen durch territorialstaatliche Grenzen richtet. Ikonografisch verbindet der offene Horizont des Meeres Vorstellungen von Aufbruch, Fortschritt und Grenzenlosigkeit ebenso wie das Unbekannte und die Bedrohung. In dieser Hinsicht gleicht die Fotografie einer Projektionsfläche. Sie öffnet im Kontrast zu Alÿs Thematisierung der stark regulierten Grenze zwischen den USA und Mexiko einen Gegenpol, in dem das Meer mit der Freiheit des Reisens konnotiert ist. Insofern ähnelt die Fotografie der Meeresoberfläche auch der Weltkarte, auf der die Stationen von Alÿs Weg aufgeführt sind. Die Kontinente werden ebenfalls als Landzonen dargestellt, die nicht von zwischenstaatlichen Grenzen durchzogen sind. Sie evozieren eine Geografie ohne politische Grenzen. Dieses Bild wird jedoch durch die tatsächliche Form des privilegierten Reisens von Alÿs geradezu konterkariert. Von besonderer Relevanz ist in der Arbeit Loop dahingehend das, was nicht gezeigt wird. Weder die Grenze zwischen den USA und Mexiko, nicht die einzelnen Orte auf Alÿs Reise, noch die Formalia, die seine Grenzüberschreitungen ermöglichten. Der Betrachter ist dadurch aufgefordert, diese Leerstellen zu füllen.
29 Die Beratungsfirma Henley & Partners veröffentlicht seit 2006 jährlich den Visa Restrictions Index. Reisepässe aller Staaten werden in einem Ranking danach geordnet, welche Länder ohne Visa bereist werden können. Auf ihrer Homepage lassen sich die Rankings sowie die jährliche Entwicklung einzelner Länder abrufen. Henley & Partners: Passport Index. Veröffentlicht: unbekannt. URL: https://www.henleypassportindex.com/passport (Stand: 30.06.2020).
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