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German Pages 413 [416] Year 2001
Bernhard Milz Der gesuchte Widerstreit
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Kantstudien Ergänzungshefte im Auftrage der Kant-Gesellschaft herausgegeben von Gerhard Funke, Manfred Baum, Bernd Dörflinger und Thomas M. Seebohm
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Walter de Gruyter · Berlin · New York 2002
Bernhard Milz
Der gesuchte Widerstreit Die Antinomie in Kants Kritik der praktischen Vernunft
Walter de Gruyter · Berlin · New York 2002
Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein
© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme Milz, Bernhard: Der gesuchte Widerstreit : die Antinomie in Kants Kritik der praktischen Vernunft / Bernhard Milz. — Berlin ; New York : de Gruyter, 2002 (Kantstudien : Ergänzungshefte ; 139) Zugl.: Bochum, Univ., Diss., 1999 u.d.T.: Milz, Bernhard: Die Antinomie in Kants Kritik der praktischen Vernunft ISBN 3-11-017044-2
© Copyright 2001 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandentwurf: Christopher Schneider, Berlin Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co., Göttingen
Vorwort Die vorliegende Studie ist die leicht ergänzte Fassung der Arbeit, die 1999 unter dem Titel »Die Antinomie in Kants Kritik der praktischen Vernunft. Eine Fallstudie« von der Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik der Ruhr-Universität Bochum als Dissertation angenommen wurde. Mein besonderer Dank gilt Prof. Dr. Burkhard Mojsisch und Prof. Dr. Alexander Haardt für das Interesse und Verständnis, das sie dem Thema der Arbeit entgegengebracht haben, sowie meinem akademischen Lehrer Prof. Dr. Kurt Flasch, dem ich entscheidende Impulse und Anregungen in der Philosophie verdanke und der mir die nötigen Freiräume für meine Kantstudien verschaffte. Danken möchte ich Angelika Czaja, Gabriele Gebhardt, Dr. Mathilde Jamin und Doris Parkan für ihre tatkräftige Hilfe beim Korrekturlesen. Die Studienstiftung des deutschen Volkes hat die Arbeit durch ein Stipendium gefördert. Der Druck wurde durch die »Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften« großzügig unterstützt. Auch ihnen sei herzlich gedankt. Bochum, im Oktober 2001
Bernhard Milz
Inhaltsverzeichnis 1
Einleitung
1
2
Die Antinomie der praktischen Vernunft: das höchste Gut als Problem Der Text der Antinomie der praktischen Vernunft Schwierigkeiten des Textverständnisses
5 5 7
2.1 2.2 3 3.1 3.2 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4 3.4 3.4.1 3.4.2 3.4.2.1 3.4.2.2 3.4.2.3 3.4.2.4 3.4.3 3.5 3.6
Die Antinomie der praktischen Vernunft in der Literatur ... Typ 1: Paraphrasierende Wiedergaben Typ 2: Identifikation der Antinomie mit der Disjunktion der Verknüpfungsweisen von Tugend und Glückseligkeit Typ 3: Identifikation der Antinomie mit der Disjunktion in erweiterten Bedeutungen Dialektik von transzendentaler Freiheit und inhaltlicher Fixierung Dialektik von Sittlichkeit und Glückseligkeit Dialektik von praktischer Vernunft und Wirklichkeit Dialektik von analytischer und synthetischer Verknüpfung im höchsten Gut Typ 4: Interpretationen der Antinomie ohne Identifikation mit der Disjunktion Dialektik als Subreption des sittlichen Bewußtseins Weitere Deutungen der Antinomie als »Dialektik von Sittlichkeit und Glückseligkeit« Antinomie von Tugend- und Glückseligkeitsmaximen Dialektik von Form und Inhalt des moralischen Wollens ... Dialektik als Konflikt von Pflichten Dialektik von Sittlichkeit und Glückserfahrung Antinomie von Moral und Bedingungen ihrer innerweltlichen Verwirklichung Typ 5: Aufblähungen des Antinomie- und Dialektikbegriffs Erstes Resümee
12 12 15 19 20 20 25 30 32 32 34 34 37 40 41 46 48 55
VIII 3.7 3.8 3.9 3.10 3.11 4 4.1 4.2 4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.2.1 4.3.2.2 4.3.2.3 4.3.2.4 4.3.2.5 4.3.3 4.3.3.1 4.3.3.2 4.3.4 4.3.5 4.4 5 5.1 5.2 5.3
Inhaltsverzeichnis
Typ 6: Kritik der Kantischen Antinomie der praktischen Vernunft Typ 7: Kritik an Kants Darstellung der Antinomie und Entwicklung einer Alternative Typ 8: Ein Versuch zur Rehabilitierung der Disjunktion als Antinomie der praktischen Vernunft Typ 9: Eine andere Lesart des Antinomiekapitels Resümee des Literaturüberblicks Analyse und Interpretation des Textes zur Antinomie der praktischen Vernunft Allgemeine Exposition des Problems (KpVA 192-197) Bestimmung des Begriffs vom höchsten Gut (KpVA 198-203). »Die Antinomie der praktischen Vernunft« (KpVA 204 f.) .. Eine These der praktischen Vernunft ... und ihre Bestreitung Die ersten Schritte Die Disjunktion der Verknüpfungsmöglichkeiten von Tugend und Glückseligkeit Die absolute Falschheit des ersten Satzes der Disjunktion... Die Falschheit des zweiten Satzes der Disjunktion Die Falschheit der Disjunktion Ein Konflikt innerhalb der Vernunft ... die Möglichkeit des höchsten Gutes betreffend ... die Gültigkeit des moralischen Gesetzes betreffend Die Antinomie der praktischen Vernunft: Versuch einer Entscheidung Varianten der Antinomie der praktischen Vernunft Resümee der Textinterpretation Ursprung und Struktur der Antinomie der praktischen Vernunft Parallelität der Dialektik von reiner theoretischer und reiner praktischer Vernunft? Die Suche der reinen praktischen Vernunft nach dem Unbedingten Die Dialektik in der Antinomie der praktischen Vernunft..
57 60 73 83 94
99 99 107 123 123 127 127 129 144 148 168 173 173 176 195 204 210
214 214 217 227
5.3.1 5.3.2 5.3.3 5.3.4 5.3.5 5.4 5.4.1 5.4.2
6
Inhaltsverzeichnis
IX
Albrechts Deutung der Dialektik Die Verbindung von Noumenalem und Phänomenalem in der Idee des höchsten Gutes Der empiristische »Mißverstand« Die antithetische Form der Dialektik Resümee und Schlußfolgerungen Die Aufgabe einer Kritik der praktischen Vernunft Braucht die reine praktische Vernunft eine Kritik? Die Aufgabe einer Kritik der Vernunft in der ersten und zweiten Kritik
227 231 237 252 262 265 265 280
Der entwicklungsgeschichtliche Ort der Antinomie der praktischen Vernunft Der Dualismus von Beurteilungs- und Ausführungsprinzip ... Die absurda practica Das dilemma practicum Dilemma practicum und Postulatenlehre Kants Revisionen der ethischen Prinzipienlehre Dilemma practicum, natürliche Dialektik und Antinomie der praktischen Vernunft
314
7.1 7.2 7.3
Die »kritische« Aufhebung der Antinomie der praktischen Vernunft Kants Lösung(en) des Problems Antinomie und Postulatenlehre Kants »Folgerungen« aus der Auflösimg der Antinomie
325 325 340 352
8 8.1 8.2
Die Funktion einer Dialektik der praktischen Vernunft Gibt es eine Antinomie der praktischen Vernunft? Eine neue Funktion der Dialektik
357 357 362
Literaturverzeichnis Personenregister Sachregister
382 394 398
6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6
7
284 286 289 299 303 306
1 Einleitung Noch einmal eine größere Arbeit zu Kants Antinomie der praktischen Vernunft? Zu diesem Thema liegt bereits seit 1978 die beachtliche Monographie von Michael Albrecht vor, der das Thema mit bislang beispielloser Gründlichkeit und Umsicht bearbeitet hat 1 . Diese Studie hat ohne Zweifel Maßstäbe gesetzt. Albrecht nutzt den ganzen Raum der Kantischen Philosophie mit seinen immanenten Vergleichs-, Kontrast· und Problematisierungsmöglichkeiten. Noch beeindruckender, fast schon erdrückend ist die Masse der berücksichtigten Interpretationsliteratur. Selten wohl ist der Anspruch einer »möglichst vollständige[n] Benutzimg der einschlägigen Sekundärliteratur«2 so weitgehend eingelöst worden. In den (freilich oft überquellenden) Fußnoten breitet der Autor eine Fülle sachlicher und historischer Kenntnisse aus, verfolgt die Interpretationsgeschichte von der frühesten Rezeption bis in die Gegenwart und liefert zu zahlreichen Stichworten Spezialbibliographien. Jede weitere Arbeit muß erklären, was sie zum Verständnis der Antinomie in der Kritik der praktischen Vernunft noch beizutragen gedenkt. Ich möchte zeigen, daß das Problem in allen entscheidenden Punkten noch einmal aufgerollt werden muß. Elementaren Klärungsbedarf gibt es schon bei der Frage, worin nach Kants Wortlaut (KpVA204f.) der Sachverhalt der Antinomie besteht (Kap. 2). Albrecht entscheidet sich für eine Lesart des Textes, ohne sie gegen Alternativen ausreichend abzusichern. Von den Anfängen der Kant-Rezeption bis in die neueste Forschungs- und Interpretationsliteratur hinein weichen aber die Antworten auf die Frage nach dem antinomischen Sachverhalt in erheblichem Maße voneinander ab. Diese enorme Divergenz der Deutungen dokumentiere ich (Kap.3), um deutlich zu machen, daß der Text seine Tücken hat und daß es ein Problem seines Verständnisses gibt. Die Schwierigkeit wird zwar von den Kantexegeten subjektiv kaum empfunden, hat sich aber um 1
2
M. Albrecht, Kants Antinomie der praktischen Vernunft, Hildesheim • New York 1978 (überarbeitete Fassung der Diss. Trier 1974); im folgenden kurz: Kants Antinomie. M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 10.
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1 Einleitung
so mehr in der zweihundertjährigen Geschichte stark streuender Auslegungen niedergeschlagen, so daß es an der Zeit ist, sie als eigenes Problem zu fixieren. Die Interpretationsgeschichte illustriert, daß der unvermittelte Zugriff auf den Text leicht zu einem Fehlgriff wird. Wer den Text noch einmal auslegen und zeigen will, was das von Kant gemeinte und beschriebene antinomische Problem ist, ist gut beraten, mehr als bisher auf den genauen Wortlaut zu achten und sein Verständnis gegen alternative Auslegungen zu prüfen und zu begründen. Allein eine akribische und minuziöse Analyse, in der der Text Satz für Satz vorsichtig abgeklopft wird, kann klären, was er mit Bestimmtheit sagt, welchen Spielraum an Lesarten und Interpretationen er zuläßt, was er nicht sagt und was er mit einiger Sicherheit sogar ausschließt (Kap. 4). Es gibt aber auch Bedarf an Aufklärung des Ursprungs und der Struktur der Antinomie der praktischen Vernunft. Albrecht folgt wie viele Interpreten bereitwillig Kants Rede von einer »Dialektik der reinen praktischen Vernunft« (KpV A192). Die Rede unterstellt, daß sich die reine praktische Vernunft ebenso wie die reine theoretische bei der Suche nach dem Unbedingten in dialektische Widersprüche verwickelt, die Antinomie der praktischen Vernunft also einen ganz analogen Ort wie die kosmologischen Antinomien der ersten Kritik hat. Gibt es aber wirklich dialektische »Widersprüche der reinen praktischen Vernunft mit ihr selbst« (Kp V A 196)? Ist so etwas unter Kantischen Prämissen überhaupt denkbar? Diese Fragen sollen beantwortet werden, indem ich dem dialektischen »Mißverstand« in der zweiten »Kritik« genauer nachgehe und prüfe, wie er möglich ist und welches der Vermögen, die Kant unterscheidet, ihn verursacht und deshalb der Kritik bedarf (Kap.5). Desiderat ist des weiteren eine entwicklungsgeschichtliche Einordnung der Antinomie der praktischen Vernunft (Kap. 6). Erst als Kant eine zur ersten Kritik architektonisch parallel strukturierte Kritik der praktischen Vernunft konzipiert, entwirft er auch eine Dialektik und Antinomie der praktischen Vernunft. Die Kritik der reinen Vernunft galt ja zunächst als umfassende Kritik des gesamten Vernunftvermögens und enthielt in ihrem Kanon auch einen Abriß des praktischen Vernunftgebrauchs (vgl. Kr VA 796 ff./B 824 ff.), der anders als der theoretische dialektikfrei war. Man hat daher oft und nicht ganz ohne Grund mit
1 Einleitung
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Arthur Schopenhauer die Antinomie der praktischen Vernunft Kants »Liebe zur architektonischen Symmetrie«3 zugeschrieben; man sah ein Spannungsverhältnis zwischen der Analytik und der Dialektik der Kritik
der praktischen Vernunft, da die Lehre vom höchsten Gut, die die Notwendigkeit einer Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit behauptet, die strenge Pflichtethik unterminiere, die eben erst energisch alle Glückseligkeitsprinzipien aus ihren Grundlagen eliminiert hatte. Übersehen hat man dabei, daß die Antinomie der praktischen Vernunft ohne die Korrekturen und Modifikationen nicht möglich gewesen wäre, die Kant noch nach der Kritik der reinen Vernunft (1781) in der Lehre der Triebfeder und der sittlichen Verpflichtung vorgenommen hat und denen seine Ethik erst ihre endgültige Gestalt als autonome Vernunftmoral verdankt. Es ist deshalb darauf zu achten, wie sich in der Antinomie der zweiten Kritik die revidierte Prinzipienlehre widerspiegelt. Besonders aufschlußreich ist der Vergleich mit dem nicht-dialektischen »Vorläuferproblem« der Antinomie, dem »dilemma practicum«, das ebenfalls um das höchste Gut kreiste, aber noch unter den Bedingungen der älteren Prinzipienlehre der Ethik stand. Eine detaillierte Gegenüberstellung und Abgrenzimg von Dilemma und Antinomie fehlt bislang; eher war man geneigt, beide mehr oder weniger miteinander zu vermengen. Der Vergleich macht den Abstand deutlich und zeigt, daß die Antinomie der praktischen Vernunft ihren spezifischen Ort in der Entwicklung der Kantischen Ethik hat. Neu verhandelt werden muß auch die Aufhebung der Antinomie der praktischen Vernunft (Kap. 7). Man hat Kant dafür getadelt, daß er die Antinomie wie die Freiheitsantinomie der Kritik der reinen Vernunft al-
lein mit der kritischen Unterscheidung von Verstandes- und Sinnenwelt auflösen will, da doch erst die Postulatenlehre das Problem beheben könne. Dieser Einwand macht es erforderlich, weiteren signifikanten Verschiebungen in der Philosophie Kants nachzugehen. Die Auflösung der Antinomie der praktischen Vernunft markiert eine neue Differenzierimg zwischen der transzendentalphilosophischen Lösung des Problems um das höchste Gut und der Moraltheologie mit ihren Postulaten; zwi3
A. Schopenhauer, Kritik der Kantischen Philosophie, Zürcher Ausgabe. Werke in zehn Bänden, Zürich 1977, Bd. Π, S. 627 und 643.
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1 Einleitung
sehen beiden verläuft eine neue feine Bruchlinie mit vermittelnden Gelenkstellen, die Kant zunehmend genauer bestimmt hat. Die bisher umrissenen Analysen haben zu einem guten Teil etwas Kant-Apologetisches, ohne daß dies beabsichtigt wäre. Im Resultat laufen die Untersuchungen aber auf eine Situation hinaus, die für Kants Antinomie der praktischen Vernunft eher fatal ist: Die Problemstellung setzt bereits die kritische Unterscheidung von Verstandes- und Sinnenwelt voraus; Ort der Antinomie ist nicht mehr wie bei den kosmologischen Antinomien eine vorkritische, dogmatische Vernunft. Kann es aber, wenn die Formulierung der Antinomie schon Gebrauch von der Unterscheidung macht, in der auch ihre Lösung liegt, wirklich eine Antinomie der praktischen Vernunft geben, die doch etwas Unvermeidbares haben muß? Selbst wenn man diese Frage verneinen muß, es also im System Kants keine Antinomie der praktischen Vernunft gibt noch geben kann, bleibt paradoxerweise etwas, was man als innersystematische Funktion dieser eigentlich »immöglichen« Figur der »Antinomie der praktischen Vernunft« beschreiben kann (Kap. 8). Die Antinomie in Kants Kritik der praktischen Vernunft ist also in vieler Hinsicht ein Fall, der weiterer Aufklärung bedarf. Ein »Fall« ist aber auch ihre Behandlung in der Literatur, beunruhigend in dem Maße, wie er etwas Exemplarisches oder Symptomatisches haben könnte.
2 Die Antinomie der praktischen Vernunft: das höchste Gut als Problem Die Lehre vom höchsten Gut ist kein einheitliches Gebilde1. Kant hat an diesem Lehrstück bis in die Zeit seiner Spätphilosophie hinein wichtige Korrekturen, Umdeutungen und Ergänzungen vorgenommen. In der Kritik der praktischen Vernunft (A 204 f.) erreicht die Entwicklung einen markanten Punkt; denn hier verdichtet Kant das höchste Gut zu einem Problem, und zwar in der schärfsten Form, den die kritische Philosophie für ein Problem kennt: in Form einer Antinomie2. Ich zitiere zunächst die Kantische Formulierung der Antinomie der praktischen Vernunft in voller Länge (2.1), um dann in einem ersten Zugriff die Schwierigkeiten des Textes zu umreißen (2.2). Denn ein Problemtext ist das Antinomiekapitel auch in dem Sinne, daß keineswegs ohne weiteres klar ist, welcher Sachverhalt die Antinomie ausmacht.
2.1 Der Text der Antinomie der praktischen Vernunft Zum Zwecke einer leichteren Verständigung habe ich die Sätze des Antinomiekapitels ( K p V A 2 0 4 f . ) durchgehend numeriert; alle Hervorhebungen finden sich im Original: 1
2
Vgl. K. Düsing, Das Problem des höchsten Gutes in Kants praktischer Philosophie, in: Kant-Studien 62 (1971), S. 5-42; M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 72-88. Zur Bedeutung der Antinomien für die Entwicklung der Transzendentalphilosophie Kants, zu deren Erforschimg B. Erdmann den entscheidenden Anstoß gegeben hat (Die Entwicklungsperioden von Kants theoretischer Philosophie, in: Reflexionen Kants zur kritischen Philosophie. Aus Kants handschriftlichen Aufzeichnungen hrsg. von B. Erdmann. 2. Band: Reflexionen zur Kritik der reinen Vernunft, Leipzig 1884, S. XE-LX, bes. S. XXIV-XLIX), s. N. Hinske, Kants Weg zur Transzendentalphilosophie. Der dreißigjährige Kant, Stuttgart Berlin Köln Mainz 1970, S. 78-133; Teile dieser Arbeit waren schon früher erschienen: N. Hinske, Kants Begriff der Antinomie und die Etappen seiner Ausarbeitung, in: Kant-Studien 56 (1965), S. 485-496; ders., Artikel "Antinomie", in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von J. Ritter, Bd.l, Basel Stuttgart 1971, Spalte 393-395. Vgl. ferner L. Kremendahl, Kant - Der Durchbruch von 1769, Köln 1990.
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2 Die Antinomie der praktischen Vernunft: das höchste Gut als Problem
Die Antinomie der praktischen Vernunft (1) In dem höchsten für uns praktischen, d. i. durch unseren Willen wirklich zu machenden Gute werden Tugend und Glückseligkeit als notwendig verbunden gedacht, sodaß das eine durch eine praktische Vernunft nicht angenommen werden kann, ohne daß das andere auch zu ihm gehöre. (2) Nim ist diese Verbindving (wie eine jede überhaupt) entweder analytisch oder synthetisch. (3) Da diese gegebene aber nicht analytisch sein kann, wie nur eben vorher gezeigt worden, so muß sie synthetisch und zwar als Verknüpfung der Ursache mit der Wirkung gedacht werden; weil sie ein praktisches Gut, d. i. was durch Handlung möglich ist, betrifft. (4) Es muß also entweder die Begierde nach Glückseligkeit die Bewegursache zu Maximen der Tugend, oder die Maxime der Tugend muß die wirkende Ursache der Glückseligkeit sein. (5) Das erste ist schlechterdings immöglich: weil (wie in der Analytik bewiesen worden) Maximen, die den Bestimmungsgrund des Willens in dem Verlangen nach seiner Glückseligkeit setzen, gar nicht moralisch sind und keine Tugend gründen können. (6) Das zweite ist aber auch unmöglich, weil alle praktische Verknüpfung der Ursachen und der Wirkungen in der Welt, als Erfolg der Willensbestimmung, sich nicht nach moralischen Gesinnungen des Willens, sondern der Kenntnis der Naturgesetze und dem physischen Vermögen, sie zu seinen Absichten zu gebrauchen, richtet, folglich keine notwendige und zum höchsten Gut zureichende Verknüpfung der Glückseligkeit mit der Tugend in der Welt durch die pünklichste Beobachtimg der moralischen Gesetze erwartet werden kann. (7) Da nun die Beförderung des höchsten Guts, welches diese Verknüpfung in seinem Begriffe enthält, ein a priori notwendiges Objekt unseres Willens ist und mit dem moralischen Gesetze unzertrennlich zusammenhängt, so muß die Unmöglichkeit des ersteren auch die Falschheit des zweiten beweisen. (8) Ist also das höchste Gut nach praktischen Regeln unmöglich, so muß auch das moralische Gesetz, welches gebietet, dasselbe zu befördern, phantastisch und auf leere eingebildete Zwecke gestellt, mithin an sich falsch sein.
Schwierigkeiten des Textverständnisses
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2.2 Schwierigkeiten des Textverständnisses Legt man Kants Bestimmungen und Gebrauch des Begriffs »Antinomie« in der Kritik der reinen Vernunft zugrunde, dann müßte man nach der Ankündigung einer »Antinomie der praktischen Vernunft« folgendes erwarten: einen unvermeidlichen Widerstreit von Gesetzen der praktischen Vernunft, der sich in einer Antithetik manifestiert, also einem Widerspruch zweier kontradiktorisch entgegengesetzter Behauptungen (Thesis und Antithesis), die beide auf gültigen und notwendigen Vernunftgründen beruhen 3 . N. Hinske hat mit Recht darauf hingewiesen, daß sich schon in der Kritik der reinen Vernunft drei differierende Bedeutungen des Antinomiebegriffs finden: die Antinomie (1) als allgemeiner Widerstreit entgegengesetzter Gesetze, Grundsätze oder Maximen der Vernunft, (2) als Antithetik oder Widerstreit zweier Behauptungen und (3) als »Zustand der Vernunft« bei den dialektischen Vernunftschlüssen auf eine absolute Totalität (KrVA 340/B 398)4. »Antinomie« und »Antithetik« sind also nicht einfach gleichbedeutende Wechselbegriffe. Kant hat sie zudem heterogenen Traditionen entlehnt: Der Begriff der Antinomie ist ursprünglich ein juristischer Begriff, die Methode der Antithetik stammt dagegen aus dem Umkreis der protestantischen Kontroverstheologie 5 . So berechtigt die begriffsgeschichtliche und systematische Unterscheidimg von Antinomie und Antithetik auch ist, so sehr zeigt der Kantische Gebrauch in der ersten Kritik (eine explizite Verhältnisbestimmung beider Termini hat Kant nicht gegeben), daß sie in einem engen Zusammenhang stehen: Die Antithetik ist nicht nur »eine bloße Folge« der Antinomie6, sondern durch den Widerstreit einzelner Behauptungen (Antithetik) »offenbart« sich die Antinomie »in der Anwendung der Gesetze« der Vernunft (KrV A 423 f./Β 451 f.), so daß die
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Vgl. KrV A 407 f./Β 433 f., A 420 f./Β 448 f.; zur Forderung der Kontradiktion s. auch KrV A 502 ff./B 530 ff. N. Hinske, Kants Begriff der Antinomie, S. 486-491; ders., Kants Weg zur Transzendentalphilosophie, S. 99-106. Vgl. auch M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 12 f. N. Hinske, Kants Begriff der Antithetik und seine Herkunft aus der protestantischen Kontroverstheologie des 17. und 18. Jahrhunderts. Über eine unbemerkt gebliebene Quelle der Kantischen Antinomienlehre, in: Archiv für Begriffsgeschichte 16 (1972), S. 48-59. So N. Hinske, Kants Begriff der Antinomie, S. 489; ders., Kants Weg zur Transzendentalphilosophie, S. 103.
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2 Die Antinomie der praktischen Vernunft: das höchste Gut als Problem
Ausgestaltung der Antinomie zu einer Antithetik Voraussetzung für die Erkenntnis und Untersuchung der Antinomie der Vernunft ist (vgl. KrV A 421/Β 448). Geht man mit diesen Erwartungen an das Antinomiekapitel der zweiten Kritik, so vermißt man eine eindeutige textliche Gliederung in Thesis und Antithesis, wie sie für die Antinomien in der Kritik der reinen Vernunft (KrVA 426 ff./Β 454 ff.) charakteristisch ist. Zwar stehen auch hier und in der anschließenden Auflösung der Antinomie (KpV A 206 f.) »zwei Sätze« im Mittelpunkt: »Es muß also entweder die Begierde nach Glückseligkeit die Bewegursache zu Maximen der Tugend, oder die Maxime der Tugend muß die wirkende Ursache der Glückseligkeit sein« (Satz 4), die sich als Thesis und Antithesis anzubieten scheinen. Aber auch ohne eingehende Textanalyse ist klar, daß eine solche Antithetik nicht den strengeren Kriterien einer Antinomie der Vernunft genügt: Der erste Satz der Disjunktion, der die Begierde nach Glückseligkeit zum Motiv von Tugendmaximen erklärt, beruht mit Sicherheit nicht auf einem gültigen und notwendigen Vernunftgrund; Kant selbst qualifiziert ihn sofort mit Verweis auf die Analytik der Kritik der praktischen Vernunft7 als »schlechterdings unmöglich«. Ein anderes Paar von Sätzen, das sich besser für eine Antithetik eignete, findet sich im Text nicht. Muß man daraus mit N. Hinske schließen, daß »schon die Kritik der praktischen Vernunft den Begriff [sc. der Antinomie] wieder in einer sehr viel weiteren, sich vom Wortsinn lösenden Bedeutung« gebraucht und »von einem "Widerstreit der Gesetze ... der reinen Vernunft" (KrVΒ 434) ... bei der "Antinomie der praktischen Vernunft" nicht gesprochen werden« kann, »sondern höchstens von einem Konflikt zwischen den Folgerungen aus den "Maximen der Tugend und ... der eigenen Glückseligkeit" ((KpV A 202)«?8 In einem gewissen Kontrast dazu steht dann aber, daß Kant in der Kritik der Urteilskraft den Begriff der Antinomie offensichtlich wieder in einem engeren Sinne verwendet, der sich an dem der Kritik der reinen Vernunft orientiert. Sowohl in der Dialektik der ästheti7 8
Zu denken ist vor allem an KpV §§ 2 f. N. Hinske, Kants Weg zur Transzendentalphilosophie, S. 108, vgl. auch S. 101: In der Kritik der praktischen Vernunft vollzieht »sich die erste schwerwiegende Ausweitung der kritischen Antinomienlehre«; ders., Kants Begriff der Antinomie, S. 487 und 493 f.
Schwierigkeiten des Textverständnisses
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sehen wie auch der teleologischen Urteilskraft ist die Antinomie zu einer Antithetik mit einer textlich klaren Gegenüberstellung von »Thesis« und »Antithesis« bzw. »Satz« und »Gegensatz« entwickelt (vgl. KU Β 234 bzw. 314 f.). In beiden Fällen betont Kant, daß in der Antinomie jeweils Prinzipien bzw. Maximen in einem Widerspruch stehen, die in der Natur der ästhetischen bzw. der teleologischen Urteilskraft ihren Grund haben, so daß die Antinomie »natürlicher- und unvermeidlicherweise« auftritt, mit einem notwendigen Schein, »den man in der Kritik entblößen und auflösen muß, damit er nicht betrüge«9, Formulierungen, die aus der ersten Kritik vertraut sind10. Wichtiger noch ist folgender Hinweis: In der Anmerkung II zur »Auflösung der Antinomie des Geschmacks« (KU Β 243-245) liefert Kant in einer »wichtige[n] Bemerkimg« eine metatheoretische Begründimg dafür, daß es »dreierlei Arten der Antinomie der reinen Vernunft gebe«11, und nennt neben den Antinomien der Vernunft »in Ansehung des theoretischen Gebrauchs des Verstandes« und »des ästhetischen Gebrauchs der Urteilskraft« auch ausdrücklich: »3. eine Antinomie in Ansehung des praktischen Gebrauchs der an sich selbst gesetzgebenden Vernunft für das Begehrungsvermögen«, deren »Unvermeidlichkeit« und »Auflöslichkeit« ebenso wie die der Antinomie des theoretischen Gebrauchs »schon anderwärts gezeigt« ist12. Der Grund dafür, daß es drei Arten der Anti9 10
11 12
KU Β 232 bzw. Β 312 f., vgl. ferner KU Β 234 und Β 237. Vgl. KrV A 293 ff./B 349 ff., A 422/B 449 f. und Prolegomena AA IV, S. 329 u. ö. Für die Antinomie der teleologischen Urteilskraft muli aber unter Umständen die Unvermeidlichkeit des Scheines an eine weitere Bedingung geknüpft werden, s. dazu Anm. 12. KU Β 243, Hervorhebung im Original. KU Β 244, Hervorhebung im Original. Daß Kant hier die Antinomie der teleologischen Urteilskraft nicht berücksichtigt, könnte außer dem trivialen Umstand, daß er sie erst später in der Kritik der Urteilskraft entwickelt, auch einen sachlichen Grund haben: In der Dialektik der teleologischen Urteilskraft stehen sich zwei regulative Maximen der Beurteilung der Möglichkeit von Objekten gegenüber, die erst dann, wenn man sie als konstitutive Grundsätze mißversteht, eine Antinomie bilden (vgl. vor allem KU Β 312-319). Es ist nicht klar, ob Kant sagen will, dieses Mißverständnis sei unvermeidbar, so wie der transzendentale Schein in der Kritik der reinen Vernunft. Seine Ausdrucksweise ist jedenfalls bemerkenswert zurückhaltend und vorsichtig; schon bei der Einführung der Antinomie heißt es: »Zwischen diesen notwendigen Maximen der reflektierenden Urteilskraft kann nun ein Widerstreit, mithin eine Antinomie stattfinden« (KU Β 312, Hervorhebung von mir), und: »Da trifft es sich dann, daß diese zweierlei Maximen nicht wohl nebeneinander bestehen zu können den Anschein haben ...« (KU Β 314, Hervorhebung von mir); vgl. auch KU Β 318: »aller Anschein einer Antinomie ...«. Die entscheidende Frage ist, ob die Qualifikation der
10
2 Die Antinomie der praktischen Vernunft: das höchste Gut als Problem
nomie gibt, liegt darin, »daß es drei Erkenntnisvermögen: Verstand, Urteilskraft irnd Vernunft gibt« (KU Β 243). Gemeinsam ist allen drei Antinomien ihr Ursprung in einer Vernunftforderung, »sofern alle diese Vermögen ihre oberen Prinzipien a priori haben und, gemäß einer unumgänglichen Forderung der Vernunft, nach diesen Prinzipien auch unbedingt müssen urteilen und ihr Objekt bestimmen können« 13 ; identisch ist auch ihre Funktion, sofern sie die Vernunft zwingen, zur Auflösung des antinomischen Widerstreits die sinnlich gegebenen Objekte als Erscheinungen zu betrachten und ihnen ein »intelligibeles Substrat« zu unterlegen (KU Β 243 f.; vgl. auch Β 239). Es ist hier nicht der Ort, die Probleme dieser allgemeinen Charakterisierimg zu erörtern und ihre Angemessenheit für die einzelnen Antinomien zu prüfen 14 . Wichtig für unsere Frage ist, daß Kant in einem »metatheoretischen« Grundriß auch für die Antinomie der praktischen Vernunft einen strengeren Begriff reklamiert, der mit dem der Antinomien der theoretischen Vernunft und der ästhetischen Urteilskraft in entscheidenden Hinsichten vergleichbar ist. Nur wird leider an den Stellen der Kritik der Urteilskraft, an denen sich Kant expressis verbis auf die Antinomie der praktischen Vernunft bezieht (KU Β 239 und 244), auch nicht klarer, wie die antinomische Problemstellung, insbesondere die dazugehörige Antithetik, aussieht. Zumindest die Darstellung dieser Antinomie fällt also aus dem Rahmen. Bei den übrigen Antinomien in Kants Philosophie enthält in aller Regel der Text deutliche Markierungen 15 oder wenigstens äußere An-
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Grundsätze der teleologischen Urteilskraft als »bloße Maximen« noch in die Problemexposition gehört oder schon die Problemlösung ausmachen soll. KU Β 244, Hervorhebung im Original. Für die Antinomien der theoretischen Vernunft liegt die Entsprechung weitgehend auf der Hand, vgl. die allgemeine Beschreibung der vier Antinomien: KrV A 340/B 398, A 406 f . / B 433 und des Prinzips ihrer Auflösung: KrV A 490 ff./B 518 ff.; bei der Antinomie der ästhetischen Urteilskraft sind wohl weitere explikative Zwischenschritte erforderlich, die die besondere Art des »Objekts« der ästhetischen Urteilskraft berücksichtigen müßten. So durch die Gegenüberstellung von ausdrücklich als Thesis und Antithesis oder Satz und Gegensatz gekennzeichneten Behauptungen, wie dies außer bei den Antinomien in der Kritik der reinen Vernunft und der Kritik der Urteilskraft auch bei der Antinomie der Sätze über die Möglichkeit eines äußeren Besitzes in der Rechtslehre der Metaphysik der Sitten (AA VI, S. 254 f.) und bei der »Antinomie der constitution in politischer und Religionsverfassung« der Fall ist, die sich in den Vorarbeiten zur Rechtslehre findet (AA ΧΧΙΠ, S. 341), von Kant aber nicht in den endgültigen Text der Metaphysik der Sitten aufgenommen wurde.
Schwierigkeiten des Textverständnisses
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haltspunkte16 für die eindeutige Identifikation des von Kant gemeinten Sachverhalts. Weitere Stellen, an denen sich Kant auch terminologisch einschlägig auf die Antinomie der praktischen Vernunft bezieht, finden sich in Kants Werk nicht17.
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So durch textliche Gliederungen in numerierte Abschnitte bzw. Paragraphen wie in der Religionsschrift (AA VI, S. 116-118) und in der Tugendlehre der Metaphysik der Sitten (AA VI, S. 417 f.). Ohne Probleme für das Verständnis, welche Sätze nach Kants Intention in einem antinomischen Widerstreit stehen, ist auch eine Antinomie bezüglich der Religionsfreiheit, die sich nur in den Reflexionen findet (Nr. 5639, AA XVIII, S. 277). Eine gewisse Ausnahme bildet die »Antinomie zwischen Politik und Moral« (Friedensschrift, AA V E , S. 383 f.), wo Kant für die drei diskutierten Konfliktfälle auf eine explizite Gegenüberstellung der Maximen der Politik und der Moral verzichtet. Hier entfernt sich Kant auch am weitesten von seinen eigenen terminologischen Festlegungen: In den Vorarbeiten zur Tugendlehre reserviert er den Begriff der Antinomie dem Wortsinn entsprechend für einen Widerstreit von Gesetzen, ein Widerstreit von Maximen kann hier ausdrücklich noch »nicht eine Antinomie heißen« (AA ΧΧΙΠ, S. 389). Um kaum mehr handelte es sich aber bei dem Gegensatz von Maximen der »Staatsklugheit« und der »Moral (als Rechtslehre)« in der Friedensschrift. Kant gebraucht also den Begriff der Antinomie tatsächlich auch in einer weniger strengen Bedeutung, die derjenigen, die Hinske für die Dialektik der Kritik der praktischen Vernunft behauptet hatte (s. oben S. 8), zumindest sehr nahe kommt. Einschränkungen sind wohl auch bei der Antinomie in der Religionsschrift zu machen, vgl. dazu B. Milz, Dialektik der Vernunft in ihrem praktischen Gebrauch und Religionsphilosophie bei Kant, in: Theologie und Philosophie 1988 (63), S. 481-518, hier S. 491-494. Außerdem hatte Kant in den Vorarbeiten zur Tugendlehre eine Antinomie zwischen Moral und Religion vorgesehen, ohne jedoch dort etwas Näheres zur Problemstellung zu sagen (AA ΧΧΙΠ, S. 396); im späteren Text der Metaphysik der Sitten findet sich eine solche Antinomie nicht mehr. Vermutlich betraf sie dieselbe Fragestellung wie die Antinomie in der Religionsschrift, deren Thematik Kant in der Methodenlehre der Tugendlehre kurz streift (AA VI, S. 485); vgl. auch Vorarbeiten zur Tugendlehre AA ΧΧΙΠ, S. 415 f., wo die Darstellung noch stärker an die antinomische Form der Religionsschrift erinnert. Ein Hinweis auf die frühe Beschäftigimg mit dem Thema findet sich in den Bemerkungen zu den Beobachtungen über das Geßhl des Schönen und Erhabenen, AA XX, S. 190. - In Anlehnimg an Baumgartens Initia philosophiae practicae primae (§§ 85 und 104, s. AA XIX, S. 40 f. und 49) spricht Kant auch bei einem Konflikt von moralischen Gesetzen und bei einer Pflichtenkollision (die bei ihm immer nur eine scheinbare sein kann) von Antinomie: ζ. B. Refi. Nr. 6507 (AA XIX, S. 40); Praktische Philosophie Powalski, AA X X W . l , S. 142; Moralphilosophie Collins, AA XXVII. 1, S. 280; Metaphysik der Sitten Vigilantius, AA XXVn.2.1., S. 537. Vgl. dazu J. Schmucker, Die Ursprünge der Ethik Kants in seinen vorkritischen Schriften und Reflektionen, Meisenheim am Glan 1961, S. 349, und M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 84 Anm. 264.
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Die in den Vorarbeiten zur Tugendlehre (AA ΧΧΙΠ, S. 389) erwähnte »Art von Dialectik der practischen Vernunft« hat ihren Ort in einer Kasuistik bei der Bestimmung der weiten Pflichten und trägt zur Klärung nichts bei.
3 Die Antinomie der praktischen Vernunft in der Literatur Die mangelnde Klarheit des Kantischen Wortlauts der Antinomie der praktischen Vernunft ist nicht ohne Folgen geblieben. Wendet man sich an die Sekundärliteratur in der Erwartung, hier weiteren Aufschluß zu finden, erhält man von Anfang an, von den ersten Interpretationen noch zu Kants Lebzeiten bis zu den neuesten Veröffentlichungen, sehr divergierende Auskünfte, die zusammengenommen das Bild einer beträchtlichen Konfusion vermitteln. Man würde meinen, daß inzwischen alle Möglichkeiten des Verständnisses und des Mißverständnisses durchgespielt sein müßten, würde man nicht immer wieder von neuen Varianten überrascht. Im folgenden möchte ich in einem ersten Überblick typische Auslegungen charakterisieren und exemplarisch belegen; ich beabsichtige nicht eine vollständige Wiedergabe aller einzelnen Titel. Aus der Sekundärliteratur interessieren hier nur die Antworten auf die einfache quaestio facti, worin Kant die Antinomie der praktischen Vernunft gesehen hat. Die teilweise sehr heterogenen Kontexte, innerhalb derer die Antinomie rezipiert, modifiziert oder kritisiert wird, bleiben weitgehend ausgeblendet.
3.1
Typ 1: Paraphrasierende Wiedergaben
In einer ersten, relativ großen Gruppe lassen sich solche Wiedergaben älteren und neueren Datums zusammenfassen, die auch nicht expliziter als der Kantische Text sagen, worin die Antinomie besteht. Präzisierende Angaben fehlen nicht nur in mehr referierenden Passagen von Philosophiegeschichten1 und Rezensionen2, sondern auch in Kommentaren 1
Z. B. J. G. Buhle, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie und einer kritischen Literatur derselben. Achter Theil, Göttingen 1804, S. 570-572; ders., Geschichte der neuem Philosophie seit der Epoche der Wiederherstellung der Wissenschaften, Bd. 6, Göttingen 1804 (Nachdruck Brüssel 1969, Aetas Kantiana 52.6), S. 660 f.; D. F. Ast, Grundriß der Ge-
Typ 1: Paraphrasierende Wiedergaben
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zur Kritik der praktischen Vernunft3 und spezielleren Abhandlungen und Untersuchungen zu einzelnen Fragen der Ethik Kants4. Auch wo die Wiedergaben über mehr oder weniger ausführliche und korrekte Textparaphrasen5 hinausgehen und das Antinomiekapitel kritisch kommentiert und erörtert wird6, wird die antinomische Struktur des Problems nicht entscheidend transparenter. Andere Darstellungen sind wiederum so unspezifisch, daß bei der Wiedergabe mehrere Problemkomplexe un-
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schichte der Philosophie, Landshut 21825, S. 407; C. L. Michelet, Geschichte der letzten Systeme der Philosophie in Deutschland von Kant bis Hegel. Erster Theil, Berlin 1837 (Nachdruck Hildesheim 1967), S. 141 f.; F. Ueberweg, Grundriss der Geschichte der Philosophie. Dritter Teil: Die Philosophie der Neuzeit bis zum Ende des XVHI. Jahrhunderts. Von M. Frischeisen-Köhler und W.Moog, Tübingen "1953, S. 590. Z. B. H. A. Pistorius, Rezension der Kritik der praktischen Vernunft, in: Allgemeine deutsche Bibliothek 117 (1794), S. 78-105, hier S. 86 f. Z. B. J. Ch. Zwanziger, Commentar über Herrn Professor Kants Kritik der Praktischen Vernunft, Leipzig 1794 (Nachdruck Brüssel 1968, Aetas Kantiana 308), S. 103 f.; F. W. D. Snell, Menon oder Versuch in Gesprächen, die vornehmsten Punkte aus Kants Kritik der praktischen Vernunft zu erläutern, Mannheim 21796, S. 360-363; J. H. von Kirchmann, Erläuterungen zu Kant's Kritik der praktischen Vernunft, Berlin 1869, S. 55. Z. B. H. Cohen, Kants Begründung der Ethik nebst ihren Anwendungen auf Recht, Religion und Geschichte, Berlin 21910, S. 353-355; J. Gottschick, Kant's Beweis für das Dasein Gottes, in: Programm des Gymnasiums zu Torgau, Torgau 1878, S. 1-32, hier S. 15 f.; P. Lorentz, Ueber die Aufstellung von Postulaten als philosophische Methode bei Kant, in: Philosophische Monatshefte 29 (1893), S. 412-433, hier S. 425 f., 428; E. M. Miller, Moral Law and the Highest Good. A Study of Kant's Doctrine of the Highest Good, Melbourne 1928, S. 104; J. R. Silber, The Importance of the Highest Good in Kant's Ethics, in: Ethics 73 (1962/63), S. 179-197, hier S. 185; J. Schwartländer, Der Mensch ist Person. Kants Lehre vom Menschen, Stuttgart Berlin Köln Mainz 1968, S. 207; V. Rossvaer, Kant's Moral Philosophy. An Interpretation of the Categorical Imperative, Oslo Bergen Troms0 1979, S. 162; St. G. Smith, Worthiness to be Happy and Kant's Concept of the Highest Good, in: KantStudien 75 (1984), S. 168-190, hier S. 190; P. Guyer, In praktischer Absicht: Kants Begriff der Postulate der reinen praktischen Vernunft, Philosophisches Jahrbuch 104 (1997), S. 118, hier S. 7. So besteht bei W. Brugger (Kant und das höchste Gut, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 18 (1964), S. 50-61) die Wiedergabe der Antinomie (S. 50 f.) fast nur aus wörtlichen Übernahmen, an die sich allerdings eine Revision der Lehre vom höchsten Gut in theologischer Absicht anschließt. Stärker kantimmanent erläuternd: H. J. de Vleeschauwer, La Déduction transcendental dans l'oeuvre de Kant. Tome troisième: La Déduction transcendental de 1787 jusqu'à l'opus postumum, Antwerpen Paris 'S Gravenhage 1937 (Nachdruck New York & London 1976), S. 328-332. Wie u. a. in den Arbeiten von Cohen und ν. Kirchmann (s. Anm. 3 und 4). S. auch Α. Schweitzer, Die Religionsphilosophie Kant's von der Kritik der reinen Vernunft bis zur Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft, Freiburg i. Br., Leipzig und Tübingen 1899 (Nachdruck Hildesheim · New York 1974), S. 120 ff.
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3 Die Antinomie der praktischen Vernunft in der Literatur
deutlich ineinander verschwimmen7 oder da, wo offensichtlich auf die Thematik des Antinomiekapitels (KpVA 204 f.) Bezug genommen wird, von einer Antinomie schon gar nicht mehr ausdrücklich die Rede ist8, sondern z. B. nur von einem »Bedenken« gesprochen wird9. Es ist auch keineswegs selbstverständlich, daß bei der Behandlung der Kantischen Lehre vom höchsten Gut die Dialektik oder die Antinomie der praktischen Vernunft überhaupt berücksichtigt wird10. Es gibt in dieser ersten Gruppe auch Texte, die zwar keine klare und eindeutige Antwort auf die Frage nach der genauen Form der Antinomie geben, die aber durch die Zitatenmontage11 oder die Art der Paraphrasierung12 und Erörterung13 den Eindruck erwecken (können), als identifi7
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So bei U. Schultz (Immanuel Kant in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg ®1975, S. 119 f.), der bei der Erwähnung der Antinomie der praktischen Vernunft gleichzeitig die Kantischen Unterscheidungen von Moralität und Legalität, Gesetz und Zweck, Absicht und Realisierung sowie Tugend und Glückseligkeit ins Spiel bringt. J. G. C. Kiesewetter, Versuch einer faßlichen Darstellung der wichtigsten Wahrheiten der neuern Philosophie für Uneingeweihte, Berlin J1798, S. 288-292; G. Ch. Β. Pünjer, Die Religionslehre Kant's. Im Zusammenhange seines Systems dargestellt und kritisch beleuchtet, Jena 1874, S. 37; B. Bauch, Immanuel Kant, Berlin und Leipzig 21921, S. 337; M. Wundt, Kant als Metaphysiker. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Philosophie im 18. Jahrhundert, Stuttgart 1924, S. 334 f. So A. Goedeckemeyer, Kants Lebensanschauung in ihren Grundzügen, Berlin 1921 (Kantstudien Ergänzungshefte 54), S. 32. Mit M. Albrecht (Kants Antinomie, S. 85 Anm. 267) stellt man ζ. B. erstaunt fest, daß »in Hägerströms ansonsten gründlicher und textnaher Untersuchung der Ethik Kants auf 830 Seiten die "Antinomie der praktischen Vernunft" nicht einmal erwähnt wird«. Auch in der Kant-Monographie von O. Höffe kommt im Zusammenhang mit der Lehre vom höchsten Gut die Antinomie weder terminologisch noch der Sache nach zur Sprache: Immanuel Kant, München 31992, S. 248-252. Vgl. R. Eisler, Kant-Lexikon. Nachschlagwerk zu Kants sämtlichen Schriften / Briefen und handschriftlichem Nachlaß, Berlin 1930 (Nachdruck Hildesheim New York 1979), S. 238. Ζ. B. A.W. Rehberg, Rezension der Kritik der praktischen Vernunft, in: Allgemeine Literaturzeitung, Jena 6.8.1788, Nr. 188 a und b, Spalten 345-360, hier Spalte 349 (wiederabgedruckt in: E. G. Schulz, Rehbergs Opposition gegen Kants Ethik. Eine Untersuchung ihrer Grundlagen, ihrer Berücksichtigung durch Kant und ihrer Wirkung auf Reinhold, Schiller und Fichte, Köln Wien 1975, S. 230-256, hier S. 237 f.; J. Beversluis, The Connection Between Duty and Happiness in Kant's Moral Philosophy, Diss. Indiana University 1972, S. 79 f. Ζ. B. bei G. U. Brastberger, Untersuchungen über Kants Kritik der practischen Vernunft, Tübingen 1792 (Nachdruck Brüssel 1968, Aetas Kantiana 49), S. 185 ff. - Auch die knappen Erwähnungen der Antinomie bei K. Reich kann man so verstehen, wenn er lapidar von der »Antinomie im Gedanken der Verbindung von Tugend und Glückseligkeit« spricht (K. Reich, Kant und die Ethik der Griechen, Tübingen 1935, S. 46), ebenso die Dar-
Typ 2: Identifikation mit den Verknüpfungsweisen von Tugend und Glückseligkeit
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zierten sie die Antinomie mit der Disjunktion: »Es muß also entweder die Begierde nach Glückseligkeit die Bewegursache zu Maximen der Tugend, oder die Maxime der Tugend muß die wirkende Ursache der Glückseligkeit sein« (Satz 4 des Antinomiekapitels14). Es bleibt aber offen, ob diese Identifikation tatsächlich behauptet wird.
3.2 Typ 2: Identifikation der Antinomie mit der Disjunktion der Verknüpfungsweisen von Tugend und Glückseligkeit Eindeutig ist die Gleichsetzung in anderen Arbeiten, in denen der Terminus "Antinomie" direkt auf die Disjunktion bezogen wird 15 oder die beiden Teilsätze der Disjunktion sogar ausdrücklich als Thesis und Antithesis bezeichnet werden 16 . Das Problem besteht dann in einem »Widerstreit der Vernunft über die Vereinigungsart der Tugend mit der Glückseligkeit«, wie es Christian Friedrich MICHAELIS in einem frühen Kommentar (1797) formulierte17. Die schwerwiegenden Bedenken gegen diese Auslegung sind schon genannt (vgl. oben S. 8): Damit die Disjunktion als Antinomie im strengen Kantischen Sinne gelten kann, müßte man nachweisen, erstens daß die
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Stellung bei K. Düsing, wenn er schreibt: »Die synthetische Vereinigung [sc. von Sittlichkeit und Glückseligkeit] aber führt zu einer Antinomie« (K. Düsing, Das Problem des höchsten Gutes in Kants praktischer Philosophie, S. 34). Wenn im folgenden einfach von der »Disjunktion« gesprochen wird, dann ist immer dieser 4. Satz des Antinomiekapitels (s. oben S. 6) gemeint. Ζ. B. Ch. F. Michaelis, Ueber die sittliche Natur und Bestimmung des Menschen. Ein Versuch zur Erläuterung über I. Kant's Kritik der praktischen Vernunft. 2. Bd. Leipzig 1797, S. 47 f.; G. Funke, "Achtung fürs moralische Gesetz" und Rigorismus/ImpersonalismusProblem, in: Kant-Studien 65 (1974) Sonderheft, S. 45*-6T, hier S. 65*; F. Alquié, Introduction à la lecture de la critique de la raison pratique, in: E. Kant, Critique de la raison pratique. Traduction française de F. Picavet, Paris '1983 (11943), S. V-ΧΧΧΠ, hier S. XXVI. So bei K. Fischer, Geschichte der neuern Philosophie, IV. Bd.: Immanuel Kant. Entwicklungsgeschichte und System der kritischen Philosophie, 2. Bd., Mannheim 1860, S. 169, vgl. auch die dritte, veränderte Auflage (IV. Bd.: Immanuel Kant und seine Lehre, 2. Theil, Heidelberg 1889), S. 117; V. Delbos, La philosophie pratique de Kant, Paris 3 1969 (11905), S. 384; K. Nitzschke, Das Antinomienproblem im Kantischen Denken. Seine Entwicklung und systematische Bedeutung, Phil. Diss. Gießen 1924, S. 139; K. Konhardt, Die Einheit der Vernunft. Zum Verhältnis von theoretischer und praktischer Vernunft in der Philosophie Immanuel Kants, Phil. Diss. München 1977, S. 259. Ch. F. Michaelis, Ueber die sittliche Natur, Bd. 2, S. 48.
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3 Die Antinomie der praktischen Vernunft in der Literatur
beiden Sätze in einem kontradiktorischen Verhältnis stehen und zweitens daß jedem von ihnen gültige und notwendige Vernunftgründe zugrunde liegen. Beide Bedingungen sind nicht erfüllt und in der Kantischen Philosophie auch nicht erfüllbar. Die genannten Arbeiten der zweiten Gruppe (Aran. 15 und 16) gleiten in der Mehrzahl über diese fundamentalen Schwierigkeiten ohne erkennbare Irritation hinweg; die Einwände werden nicht erörtert, geschweige denn ausgeräumt. Gewisse Ausnahmen bilden die Interpretationen von Kurt NITZSCHKE und Victor DELBOS. Nitzschke stellt klar die entscheidenden Fragen: Kann »diese Antinomie wirklich die gleiche Bedeutung beanspruchen ... wie die der reinen Vernunft«? Stehen »beide Sätze wirklich gleichberechtigt nebeneinander«? 18 . Er bejaht beide Fragen und begründet die gleiche Berechtigung der Sätze damit, daß sie »die beiden einzigen bestehenden Möglichkeiten« seien, das höchste Gut zu bestimmen. Der moralische Maßstab, der zur unbedingten Ablehnung des ersten Satzes führe, scheide bei dieser Aufstellung ganz aus, da es sich »lediglich um die Erwägung der empirischen Möglichkeiten des höchsten Gutes« handele, und in dieser Hinsicht komme beiden Sätzen »gleiche Wahrscheinlichkeit« zu. Beweise für die beiden Seiten seien »nicht unbedingt von Nöten«, auch in der Kritik der reinen Vernunft bestehe »das Wesentliche der Beweise ... nur in der widersprüchlichen Explizierung des jeweiligen Weltbegriffs«, nicht in der apagogischen Methode 19 . Das ist nun sicherlich für die Antinomien der Kritik der reinen Vernunft falsch; das Erwägen und Explizieren von bloß möglichen Begriffen und Sachverhalten allein führt noch nicht zu einer Antinomie (sonst ließe sich aus jeder Disjunktion von alternativen Denkmöglichkeiten eine Antinomie ableiten), dazu kommt es erst, wenn beide Denkmöglichkeiten einer Disjunktion (die zudem vollständig sein oder scheinen muß!) aus notwendigen Vernunftgründen behauptet werden müssen. Nitzschke kann also die fragliche Disjunktion nur als Antinomie der praktischen Vernunft interpretieren, indem er zugleich den Antinomiebegriff in der ersten Kritik unzulässig abschwächt20. 18 19 20
K. Nitzschke, Das Antinomienproblem, S. 141. K. Nitzschke, Das Antinomienproblem, S. 144. Zur Kritik an Nitzschkes These der gleichen Berechtigung der beiden Sätze vgl. auch M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 37 f. und S. 105 Anm. 323. - Nitzschke hat seine Disserta-
Typ 2: Identifikation mit den Verknüpfungsweisen von Tugend und Glückseligkeit
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Delbos weist dagegen auf eine wichtige Asymmetrie in der Auflösung der Antinomien der spekulativen Vernunft und der als Antinomie der praktischen Vernunft verstandenen Disjunktion hin: Während in der Kritik der reinen Vernunft Thesis und Antithesis der mathematischen Antinomien (1. und 2. Antinomie) beide falsch sind und die dynamischen Antinomien (3. und 4. Antinomie) beide wahr sein können, ergibt die Auflösung der Antinomie der Kritik der praktischen Vernunft (A 205-207), daß der erste Satz, der die Tugend aus der Begierde nach Glückseligkeit ableitet, absolut falsch ist und bleibt und sich nur der zweite Satz, der die Glückseligkeit aus der Tugend ableitet, als bedingterweise falsch, d. h. als möglicherweise wahr erweist. Die kritische Unterscheidung von Sinnenwelt und intelligibler Welt setzt also nur am zweiten Satz an: »L'idéalisme critique trace ici sa ligne de démarcation, non plus entre les thèses antagonistes, mais entre deux expressions antagonistes d'une même thèse, à l'exclusion préalable et absolue de l'autre« 21 . Versteht man wie Delbos die Teilsätze der Disjunktion als Thesis und Antithesis einer Antinomie, dann muß man in der Tat von einer »nouvelle façon d'échapper au conflit de la thèse et l'antithèse« sprechen, die der von Kant behaupteten Parallelität der Auflösung der Freiheitsantinomie und der Antinomie der praktischen Vernunft (KpV A 205 f.) widerspricht 22 . Man hätte diese Asymmetrie aber auch zum Anlaß nehmen
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tion bei A. Messer in Gießen abgeschlossen; es ist daher etwas überraschend, daß er sich mit dessen kritischer Lektüre des Antinomiekapitels und Neufassung des antinomischen Problems überhaupt nicht auseinandersetzt (s. unten S. 65). V. Delbos, La philosophie pratique de Kant, S. 384 f. In diesen Formulierungen deutet sich sehr rudimentär eine andere Möglichkeit des Verständnisses der Dialektik der praktischen Vernunft an, wie sie C. Stange u. a. entfaltet haben (s. dazu unten Kap. 3.8), bei Delbos aber unentwickelt bleibt. V. Delbos, La philosophie pratique de Kant, S. 384. Zu Delbos vgl. auch M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 105 Anm. 323 und S. 107 Anm. 329. - Daß wenigstens diese Konsequenz gesehen wird, die sich aus der Gleichsetzung der Antinomie der praktischen Vernunft mit der Disjunktion ergibt, ist keineswegs selbstverständlich, wie die Darstellung des antinomischen Problems und seiner Auflösung bei N. Rotenstreich zeigt, die sogar in sich inkonsistent ist: Rotenstreich identifiziert die Antinomie (unter dem Titel einer »antinomy of happiness and virtuous disposition«) offensichtlich mit der Disjunktion, behauptet, daß wie bei der Freiheitsantinomie die Unterscheidimg von Dingen an sich und Erscheinungen die Akzeptierung beider Seiten der Antinomie ermögliche, und zitiert, ohne den Widerspruch zu bemerken, unmittelbar anschließend den Passus (KpVA 206), in dem Kant den ersten Satz der Disjunktion als »schlechterdings falsch« und den zweiten als »nur bedingterweise falsch« qualifiziert (N. Rotenstreich, Kant's Dialectic, in: The Review of Me-
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3 Die Antinomie der praktischen Vernunft in der Literatur
können, die ganze Anlage der Disjunktion darauf hin zu überprüfen, ob sie überhaupt dem anspruchsvolleren Begriff einer Antinomie genügt. Während also Nitzschke die richtigen Fragen stellt, sie aber unbefriedigend beantwortet, macht Delbos eine richtige Beobachtung, versäumt es aber, daraus die notwendigen Fragen abzuleiten. Ein vergleichsweise origineller Versuch, auch dem ersten Satz der Disjunktion eine Berechtigung zu verschaffen, stammt von Gilles DELEUZE, der Kants Ausführungen zur Subreption des praktischen Bewußtseins (KpVA 209 ff.) mit der Disjunktion des Antinomiekapitels in einen Zusammenhang bringt. Der Grund für die Antinomie liegt für Deleuze in einer doppelten Täuschving: (1) in der »Illusion«, die das, was bloß eine Folge der praktischen Bestimmung durch das moralische Gesetz ist, die »Selbstzufriedenheit«, als sittliche Triebfeder erscheinen läßt, und (2) in der Verwechslung dieser Selbstzufriedenheit mit der Glückseligkeit 23 . Folge der Täuschungen sei es, daß wir bald glaubten, die Glückseligkeit selbst sei Ursache und Beweggrund der Tugend, und bald, die Tugend sei durch sich selbst Ursache der Glückseligkeit24; darin bestehe die Antinomie. Dieser Rückbezug auf die Disjunktion des Antinomiekapitels ist nicht ungeschickt; denn diese doppelte Täuschung verleiht dem ersten Satz der Disjunktion einen gewissen Schein von Legitimität und verschafft ihm eine Begründung, die andere Interpretationen durchweg schuldig bleiben. Nim mag nach Kant zwar die erste Täuschung derart sein, daß sie »auch der Versuchteste nicht völlig vermeiden kann« (KpVA 209 f.); die Verwechslung von Selbstzufriedenheit mit sinnlich-bedingter Glückseligkeit ist für Kant aber keineswegs unvermeidlich; mögliche Mißverständnisse werden mit der Begriffsbestimmimg des höchsten Gutes als synthetischer Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit und insbesondere der Kritik der stoischen Position früh-
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taphysics 7 (1953/54), S. 389-421, hier S. 417 f.). Ähnlich auch schon K. Nitzschke, Das Antinomienproblem, S. 140 f. G. Deleuze, La philosophie critique de Kant, Paris 41977 ('1963), S. 55 f.; deutsche Übersetzung: G. Deleuze, Kants kritische Philosophie, Berlin 1990, S. 84 f. Daß es sich hier um eine doppelte Täuschimg handelt, kommt bei Deleuze leider nicht so klar zum Ausdruck. G. Deleuze, La philosophie critique de Kant, S. 56 (dt. S. 85).
Typ 3: Identifikation der Antinomie mit der Disjunktion in erweiterten Bedeutungen
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zeitig ausgeräumt 25 . Es ist klar, daß im Antinomiekapitel allein von der empirischen Glückseligkeit die Rede ist 26 . Bei allen unterschiedlichen Akzentuierungen im einzelnen stimmen die in der zweiten Gruppe zusammengefaßten Interpretationen darin überein, daß (1) sie die Antinomie mit der disjunktiven Gegenüberstellung der beiden Möglichkeiten einer synthetisch-kausalen Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit gleichsetzen, (2) das Verständnis dieser Disjunktion selbst sich eng an den Text hält und (3) eine kritische und durchschlagende Reflexion fehlt, daß die Disjunktion gerade in ihrer textnahen Auslegung keinen antinomischen Widerspruch der Vernunft formuliert. - Auch diese Form der Darstellung ist von der frühen Rezeption an bis in die einschlägige Literatur der Gegenwart hinein zu finden.
3.3 Typ 3: Identifikation der Antinomie mit der Disjunktion in erweiterten Bedeutungen Die Interpretationen der dritten Gruppe sehen zwar auch in der Disjunktion die Antinomie der praktischen Vernunft oder ihren unmittelba25 26
Vgl. auch M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 118. Ausführlicher unten S. 110 ff. Die Darstellung Deleuzes ist aber nicht eindeutig. So formuliert er kurz vor und nach der zitierten Stelle die Antinomie der praktischen Vernunft abweichend: »L'antinomie consiste en ceci, que le bonheur ne peut pas être cause de la vertu (puisque la loi morale est le seul principe déterminant de la volonté bonne), et que la vertu ne semble pas davantage pouvoir être cause du bonheur (puisque les lois du monde sensible ne se règlent nullement sur les intentions d'une bonne volonté« (ebd. S. 54 und 61, dt. S. 83 und 91 f.; Hervorhebungen von mir). In dieser Version stehen sich also die beiden negierten Sätze der Disjunktion gegenüber (vgl. auch unten S. 69 Anm. 177). Die unaufgelösten Unstimmigkeiten rühren daher, daß Deleuze drei verschiedene Motive bei Kant miteinander verknüpft und vermengt: (1) Die Subreption, in der eine mit der sittlichen Willensbestimmung unmittelbar zusammenhängende Lust als Bestimmungsgrund erscheint, (2) die »Selbstzufriedenheit«, die bloß ein »negatives Wohlgefallen« meint, und (3) das Problem der Verknüpfung von Tugend und empirischer Glückseligkeit. Er sieht zwar (im Unterschied etwa zu M. Laupichler und G. Krämling, s. unten S. 23 f.), daß Kant das Wort »Dialektik« in der Grundlegung (»natürliche Dialektik«) und in der Kritik der praktischen Vernunft »en deux sens assez différents« verwendet (ebd. S. 54, dt. S. 83); indem er aber die Antinomie in der Kritik der praktischen Vernunft von der Subreption des praktischen Bewußtseins her zu begreifen sucht, zwingt er beide Dialektiken dann doch wieder in eine zu große thematische Nähe (vgl. etwa ebd. S. 56, dt. S. 85). Zur Vermengung der Antinomie mit der Subreption s. auch unten S. 32 f.
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3 Die Antinomie der praktischen Vernunft in der Literatur
ren Ausdruck, aber sie gehen über den unmittelbaren Textsinn hinaus, verkürzen oder erweitern ihn, ohne daß sie jedoch selbst hinreichend auf die Differenz zum Text aufmerksam machen und den genauen Bezug ihrer Auslegungen zum Kantischen Wortlaut klären. Bei diesen stark modifizierenden Interpretationen handelt es sich bezeichnenderweise durchweg um Publikationen jüngeren Datums.
3.3.1 Dialektik von transzendentaler Freiheit und inhaltlicher Fixierung Peter HEINTEL z. B. identifiziert die Antinomie mit der Disjunktion; die Dialektik besteht für ihn aber darin, daß in der Idee des höchsten Gutes »der Freiheit ... etwas Inhaltliches als Bestimmung vorgegeben wird, nach der sie sich in allen Fällen zu richten hat«, und sie durch die sinnliche Fixierung »notwendig in Heteronomie« gerät27. Undeutlich bleibt der genaue Sinn dieser Dialektik »der Verinhaltlichung des Prinzips des moralischen Gesetzes«28 im höchsten Gut, die sich bei Kant so nirgends findet. Mögliche, aber voneinander abweichende Konkretisierungen einer solchen Problemstellung finden sich in den Interpretationen von F. Kaulbach und R. Kroner29. Unklar ist aber vor allem, wie sich eine derartige Dialektik gerade in einer Antinomie der kausalen Verknüpfungsformen von Tugend und Glückseligkeit niederschlagen soll.
3.3.2 Dialektik von Sittlichkeit und Glückseligkeit Bei Jürgen-Eckhardt PLEINES ist der Zusammenhang zwischen dialektischem Sachproblem und der Disjunktion enger, aber auch nicht ohne Lücken. Für ihn besteht das Problem der Antinomie in einer »Dialektik von Sittlichkeit und Glückseligkeit«, die sich in einem Widerstreit P. Heintel, Die Dialektik bei Kant, in: Studium Generale 21 (1968), S. 450-470, hier S. 465. P. Heintel, Die Dialektik bei Kant, S. 452. Zu Heintel vgl. auch M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 39 f. 29 Siehe unten S. 32 f. und S. 37 f. 27
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Typ 3: Identifikation der Antinomie mit der Disjunktion in erweiterten Bedeutungen
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zweier Bewegursachen von Handlungen äußert: der Begierde nach Glückseligkeit und der Maxime der Tugend; »dieser unwahre Widerstreit zwischen zwei, auf gleichem Gebiet eigentlich inkommensurablen Momenten« liege dem »scheinbaren Widerspruch« der beiden Sätzen der Disjunktion zugrunde30. Dies ist nun offensichtlich eine Verkürzung des Problems: Während die Disjunktion zwei in jeweils ganzen Sätzen formulierte Sachverhalte, die beiden Möglichkeiten der kausalen Verbindung von Tugend und Glückseligkeit, gegenüberstellt, besteht bei Pleines die Antinomie schon in einem Widerstreit der einfachen Relate der Verbindung: der »Momente Tugend und Glückseligkeit« oder genauer: der »Maxime der Tugend« und der »Begierde nach Glückseligkeit«31. Wie sich die angebliche Tiefenstruktur des Problems in die komplexeren Verhältnisse übersetzt, von denen Kant spricht, wird auch hier nicht geklärt32. 30
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J.-E. Pleines, Eudaimonia zwischen Kant und Aristoteles. Glückseligkeit als höchstes Gut menschlichen Handelns, Würzburg 1984, S. 24-26. Die Qualifizierungen »unwahrer Widerstreit« und »scheinbarer Widerspruch« sind nicht ganz eindeutig: Spielt Pleines mit ihnen nur kantimmanent auf die Auflösbarkeit der Antinomie an oder distanziert er sich von der Kantischen Problemstellung? J.-E. Pleines, Eudaimonia zwischen Kant und Aristoteles, S. 24 f. Pleines ignoriert zudem die Forschungsergebnisse zur Entwicklung der ethischen Prinzipienlehre Kants, wenn er nahtlos die Darstellung der Dialektik in der Kritik der praktischen Vernunft an Ausführungen der Reflexion Nr. 7202 (AA XIX, S. 276-282) anschließt, in der Kant noch eine Deduktion der sittlichen Verpflichtung aus der Vernunftforderung einer »wohlgeordneten Freiheit« (AA XIX, S. 276) versucht hat. Die Unzulänglichkeit solcher Versuche (auch des darin konzipierten Verhältnisses von Moralität und Sinnlichkeit) hat Kant in der Kritik der praktischen Vernunft mit der Lehre vom Faktum des Sittengesetzes und der neuen Triebfederlehre wenigstens indirekt selbst eingestanden; vgl. D. Henrich, Der Begriff der sittlichen Einsicht und Kants Lehre vom Faktum der Vernunft, in: D. Henrich, W. Schulz, K.-H. Volkmann-Schluck (Hrsg.), Die Gegenwart der Griechen im neueren Denken. Festschrift für Hans-Georg Gadamer zum 60. Geburtstag, Tübingen 1960, S. 77-115, hier S. 98 ff. (mit kleinen Änderungen wiederabgedruckt in: G. Prauss (Hrsg.), Kant. Zur Deutung seiner Theorie vom Erkennen und Handeln, Köln 1973, S. 223-254; im folgenden beziehe ich mich stets auf die Ersterscheinung von 1960). - Es ist wohl auch auf die falsche Nähe zu dieser Reflexion zurückzuführen, wenn Pleines die im höchsten Gut geforderte Vermittlung von Tugend und Glückseligkeit in der »intellektuellen Selbstzufriedenheit« sieht (Eudaimonia zwischen Kant und Aristoteles, S. 24, 27 f.). Daß dies nicht die gesuchte Vereinigung sein kann, ergibt sich übrigens unmittelbar aus den von Pleines zitierten Textstellen (KpVA 211-214): Die Selbstzufriedenheit ist gerade nicht jene empirische Glückseligkeit, die im höchsten Gut als synthetisch mit der Tugend verbunden gedacht wird. Auch dieses immer wieder vorkommende Mißverständnis glaubte man eigentlich durch die Kantforschung inzwischen ausgeräumt, vgl. M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 52 f. Anm. 181, S. 91,117 u. ö. Die Tendenz, den Kantischen
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3 Die Antinomie der praktischen Vernunft in der Literatur
Vor allem aber eignet sich der Gegensatz von Maximen der Tugend und der Glückseligkeit genausowenig zu einer Antinomie im engeren Sinne wie die Sätze der Disjunktion; denn dazu wäre eine notwendige Bedingung, daß sich aus der »Begierde nach Glückseligkeit« ein ebenso notwendiges und allgemeingültiges praktisches Gesetz wie der kategorische Imperativ gewinnen ließe (und wenn es nur ein solches wäre, das gelegentliche Ausnahmen vom Sittengesetz zugunsten der Neigungen gestattete). Kant spricht zwar in der Grundlegung von einer »natürlichen Dialektik« der Pflicht und Glückseligkeit, die sich »in der praktischen gemeinen Vernunft« »entspinnt«, und er räumt ihr sogar die gleiche methodische Funktion wie der Dialektik der theoretischen Vernunft ein, sofern sie den Übergang von der »populären sittlichen Weltweisheit« zu einer kritischen Moralphilosophie notwendig mache (AA IV, S. 405), aber er hebt auch hervor, daß dieses Verhältnis von Pflicht und Neigung sich gerade in der praktischen Konfliktsituation nicht als Widerspruch darstellt, sondern nur als »Widerstand der Neigung gegen die Vorschrift der Vernunft (antagonismus)« (AA IV, S. 424). Der Gegensatz von Tugend und Glückseligkeit kann also schon aus formalen Gründen keine Antinomie bilden, da es sich um ein reales »Widerspiel« von Kräften, von subjektiven Gewichten und Gegengewichten33 handelt und nicht, wie es eine Antinomie verlangt, um einen logischen Widerspruch von gleichberechtigten Geltungsansprüchen der theoretischen oder praktischen Vernunft (auch wenn der Widerstand der Neigungen dazu verleitet, »wider jene strenge Gesetze der Pflicht zu vernünfteln und ihre Gültigkeit, wenigstens ihre Reinigkeit und Strenge in Zweifel zu ziehen«, A A IV, S. 405). Kant hat später auf eine solche Dialektik zur Begründung der Notwendigkeit einer praktischen Philosophie auch
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Begriff der Glückseligkeit zu »entsinnlichen«, hält sich hartnäckig. R. Langthaler hat sogar Albrechts Kritik solcher Interpretationen zurückgewiesen (Kants Ethik als "System der Zwecke". Perspektiven einer modifizierten Idee der "moralischen Teleologie" und Ethikotheologie, Berlin · New York 1991, S. 372 Anm. 126). Seine Ausführungen sind aber völlig unzureichend und schon in sich nicht sonderlich klar; auch er beachtet nicht den spezifischen Problemzusammenhang, in den der Begriff der »intellektuellen« Form der Glückseligkeit gehört, von der Kant in der Refi. Nr. 7202 (AA XIX, S. 276) spricht. Vgl. dazu M. Albrecht, "Glückseligkeit aus Freiheit" und "empirische Glückseligkeit". Eine Stellungnahme, in: G. Funke (Hrsg.), Akten des IV. Internationalen Kant-Kongresses, Mainz 6. - 10. April 1974, Teil Π. 2: Sektionen, Berlin · New York 1974, S. 563-567. Vgl. z. B. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 404; KpVA 158.
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wieder ganz verzichtet 34 . In der Kritik der praktischen Vernunft wird das Verhältnis von Tugend und Glückseligkeit, soweit es um das moralische Prinzip und das sittliche Motiv geht, schon vor der Dialektik in der Analytik eindeutig bestimmt: Ethisch möglich ist nur die strikte Unterordnung des Glücksverlangens Vinter die Tugendmaxime. Wenn die Antinomie der praktischen Vernunft noch einmal in jenem praktischen »Widerstreit« (KpV A 62) bestehen sollte, dann liefe das, wie man Ausführungen von M. Albrecht zuspitzen könnte, darauf hinaus, daß entweder »das zweite Buch der Kritik der praktischen Vernunft gar keine eigene Fragestellung hätte« oder, sofern doch etwas Neues gesagt würde, dies nur der Analytik widersprechen könnte35. Es ist deshalb von vornherein verfehlt, wenn ζ. B. Max Laupichler 36 und in jüngerer Zeit wieder Gerhard Krämling die »dialektische[n] Widersprüche« (im Plural!) der zweiten Kritik auch ausdrücklich mit der »natürlichen Dialektik« der Grundlegung in direkten Zusammenhang bringen37. Krämling ist aber insofern konsequent, als er den Stellenwert der so verstandenen Dialektik einschränkt: »Nicht eigentlich eine Dialektik der reinen praktischen Vernunft selbst« stehe in der Kritik der praktischen Vernunft zur Diskussi34
35
36 37
Vgl. M. Fleischer, Das Problem der Begründung des kategorischen Imperativs bei Kant, in: P. Engelhardt (Hrsg.), Sein und Ethos. Untersuchungen zur Grundlegung der Ethik, Mainz 1963, S. 387-404, hier S. 400 ff. M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 53. - Eine Reduktion auf Fragestellungen der Analytik liegt ζ. B. bei Pleines vor, wenn er ein genuines Problem der Dialektik der praktischen Vernunft noch darin sieht, daß die Tugend »empirisch nicht überzeugend nachweisbar ist« (Eudaimonia zwischen Kant und Aristoteles, S. 25); er verkürzt eine Argumentation, die sich bei Kant auf den Zusammenhang der Tugend mit der Glückseligkeit bezieht (KpVA 204 f.), auf ein Problem, das allein die Tugend betrifft und mit der Hauptfrage der Analytik zusammenfällt, ob es überhaupt reine praktische Vernunft gibt (vgl. KpVA 29 ff.). M. Laupichler, Die Grundzüge der materialen Ethik Kants, Berlin 1931, S. 43. G. Krämling, Die systembildende Rolle von Ästhetik und Kulturphilosophie bei Kant, Freiburg/München 1985, S. 65 und 68 f., und ders., Das höchste Gut als mögliche Welt. Zum Zusammenhang von Kulturphilosophie und systematischer Architektonik bei I. Kant, in: Kant-Studien 77 (1986), S. 273-288, hier S. 282. Es besteht bei Krämling ein ungeklärtes Nebeneinander verschiedener Interpretationen; zuvor hatte er nämlich ein ganz anderes Problem der Dialektik der praktischen Vernunft genannt: die Antinomie »der Forderung, das höchste Gut durch vernünftiges Handeln zu verwirklichen, und der Unzulänglichkeit des endlichen Vernunftwesens, dieser Forderung zu entsprechen« (Die systembildende Rolle, S. 64; Das höchste Gut als mögliche Welt, S. 278 f.). Hier handelt es sich um eine weitere Variante, das Thema der Dialektik der Kritik der praktischen Vernunft zu bestimmen; vgl. unten S. 92 f. - Krämling und Laupichler fallen hier auch deshalb aus dem Rahmen, weil sie nicht die Disjunktion als Antinomie deuten und deshalb ihre Interpretationen dem folgenden Typ 4 zuzuordnen sind.
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on, sondern ein »vorgebliche[r] Einwand..., der die Unbedingtheit des Sittengesetzes mit dem Hinweis auf die Unhintergehbarkeit des menschlichen Glückstrebens widerlegen will«38. Die Rede von einer »Dialektik der Sittlichkeit und Glückseligkeit« hätte am ehesten noch einen sachlichen Bezug bei einem Vorläuferproblem der Antinomie der praktischen Vernunft gehabt: dem »dilemma practicum«, das sich aus einer früheren Ethik-Konzeption Kants ableiten ließ und dem menschlichen Glücksverlangen noch ein größeres Recht neben der Tugendpflicht einräumte (s. unten Kap. 6.2 und 6.3). Das »dilemma practicum« hat Kant aber aus rekonstruierbaren Gründen nie als Dialektik oder gar Antinomie entwickelt: In der Kritik der reinen Vernunft standen die Antinomien noch ganz im Dienste der »skeptischen Methode« zur Begrenzimg des spekulativen Gebrauchs der Vernunft, und es war geradezu ein Unterscheidungsmerkmal der praktischen Vernunft, daß sie anders als die theoretische frei von jeder Dialektik war 39 . Als Kant später auch eine Dialektik der praktischen Vernunft vorsah, war eine »Dialektik von Sittlichkeit und Glückseligkeit« durch die neue Prinzipienlehre in der Analytik der Kritik der praktischen Vernunft unmöglich geworden (ausführlicher dazu Kap. 6.5 und 6.6). Es ist daher außerordentlich verwirrend, wenn Allen W. Wood (1) das »absurdum practicum« (das eine Seite des »dilemma practicum« ausmacht) in den Reflexionen und Vorlesungsnachschriften, (2) die »natürliche Dialektik« in der Grundlegung und (3) die »Antinomie« in der Kritik der praktischen Vernunft ohne jede Berücksichtigung der Entwicklung der Kantischen Ethik von der Sache her für austauschbar hält und die Antinomie der praktischen Vernunft in der Terminologie des »absurdum practicum« expliziert und erläutert40 - mit der Folge, daß er keiner der Problemkonstellationen ganz gerecht wird. Das wird besonders deutlich, wenn Wood behauptet, daß die klarsten Äußerungen Kants zur Natur der Dialektik der praktischen Vernunft in der Lehre vom »absurdum practi38 39 40
G. Krämling, Die systembildende Rolle, S. 65, Hervorhebung vor mir. Vgl. M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 14-23. A.W. Wood, Kant's Moral Religion, Ithaca und London 1970, bes. S. 25-34, 101-105. Zur Kritik an dem »Verfahren der unkontrollierten Vermischung sachlich divergierender Positionen Kants trotz der eindeutigen Sprache der Quellen«, das Wood und viele andere Autoren praktizieren, s. M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 15 ff. (Zitat S. 16 Anm. 9), S. 106 Anm. 328 und S. 154 Anm. 474.
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cum« zu finden seien, wie sie in den Vorlesungen über die philosophische Religionslehre vorliege41, sich aber bei der Beschreibung des Problems inhaltlich eher an Positionen Kants in der Kritik der praktischen Vernunft orientiert, so daß seine Interpretation der Antinomie der praktischen Vernunft gar nicht auf eine »Dialektik von Sittlichkeit und Glückseligkeit« hinausläuft, wie man das erwarten müßte42. Woods Verständnis der Antinomie, in dem die Disjunktion der beiden Verknüpfungsweisen von Tugend und Glückseligkeit keine Rolle spielt - sie wird nicht einmal erwähnt - , gehört deshalb zu einem anderen Typ der Interpretation (siehe unten S. 91 f.).
3.3.3 Dialektik von praktischer Vernunft und Wirklichkeit Der Gegensatz von Tugend und natürlichem Glücksverlangen nimmt zuweilen in der Literatur auch eine erweiterte Bedeutung an. Dann ist damit nicht nur ein Widerstreit von Maximen der Tugend und der Glückseligkeit gemeint, sondern allgemeiner ein Gegensatz von praktischer Vernunft und Wirklichkeit, insbesondere im Sinne der Realisierimg der sittlichen Vernunft in der Welt. Das ist ζ. B. bei Friedrich KAULBACH der Fall43. Nach ihm geht es in Kants Lehre vom höchsten Gut vor allem um das Problem der »Verwirklichimg der Vernunft in der "äußeren" Welt« 44 . Inhaltlich mag das in seiner Allgemeinheit stehenbleiben (solange das Thema des höchsten Gutes nicht restlos darauf reduziert wird). Einwände richten sich aber gegen die Art und Weise, wie Kaulbach seine Deutung auf den Text zu stützen sucht. Kaulbach verwendet den Gegensatz von praktischer Vernunft und Wirklichkeit als Oberbegriff, unter den gleichermaßen und ohne hinrei41 42
43
44
A.W. Wood, Kant's Moral Religion, S. 28 f. Daß überhaupt der Schein einer sachlichen Identität der Probleme entsteht, hängt wesentlich damit zusammen, daß Wood sich nur auf eine Seite des »dilemma practicum«, das »absurdum practicum« oder »morale«, bezieht und die andere Seite, das »absurdum pragmaticum«, das dem Glücksverlangen Rechnung trägt, in keiner Weise berücksichtigt. S. dazu unten Kap. 6.2. F. Kaulbach, Das Prinzip Handlung in der Philosophie Kants, Berlin • New York 1978, S. 246 ff. F. Kaulbach, Das Prinzip Handlung in der Philosophie Kants, S. 252.
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chende Differenzierung der Konflikt von Maximen der Tugend und der Glückseligkeit wie auch das Spannungsverhältnis von sittlicher Vernunft und ihrer Realisierung in Natur und Geschichte subsumiert wird. In diesem »Parteienstreit« vertritt nach Kaulbach die Stoa bei Kant den Standpunkt der autarken sittlichen Vernunft, Epikur »die Sache der Natur« 45 in dem globalen Sinne, der sowohl das Glückseligkeitsstreben wie überhaupt die »äußere« Welt umfaßt. Beide Seiten kämpfen »miteinander um die absolute Herrschaft«46 und stehen sich mit radikalen und unversöhnlichen Ansprüchen gegenüber, die aber, kritisch eingeschränkt und zu Perspektiven eines größeren Ganzen herabgesetzt, beide einen wahren Kern haben und in ihrer relativen Gültigkeit gerechtfertigt werden können47. Die beiden Sätze der Disjunktion geben für Kaulbach dabei die Thesen Epikurs und der Stoa wieder; er hält es allerdings für inkonsequent, daß Kant »die These Epikurs als "schlechterdings falsch" erklärt, während er die der Stoiker als "nicht schlechterdings, sondern nur sofern sie als die Form der Kausalität in der Sinnenwelt betrachtet wird ... " falsch anspricht«, da nach Kants eigenen Voraussetzungen auch die epikureische These, kritisch restringiert, eine wahre Perspektive repräsentiere48. Diese Interpretation und ihre Kritik beruhen auf einem doppelten Mißverständnis: (1) Zum einen gibt Kaulbach der Position Epikurs und dem Gegensatz von Epikur und Stoa eine Bedeutung, die sie bei Kant (und auch historisch) nicht haben. Es ist schlicht falsch, daß Epikur für den Aspekt der »Wirklichkeit« und der »Natur« in einem weitgefaßten Sinne
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F. Kaulbach, Das Prinzip Handlung in der Philosophie Kants, S. 247. F. Kaulbach, Das Prinzip Handlung in der Philosophie Kants, S. 248. F. Kaulbach, Das Prinzip Handlung in der Philosophie Kants, S. 247-250. F. Kaulbach, Das Prinzip Handlung in der Philosophie Kants, S. 250 Anm. 81. - Ähnlich kritisiert auch J. Kopper, für den ebenfalls die »Haltungen« der Epikureer und Stoiker Thesis und Antithesis der Antinomie bilden, die Darstellung Kants: »Wie er die erste Maxime [sc. der Epikureer] zu streng verurteilt, so erhebt Kant die zweite Maxime [sc. der Stoiker] zu hoch«: J. Kopper, Transzendentales und dialektisches Denken, Köln 1961 (Kantstudien Ergänzungshefte 80), S. 98, vgl. S. 96 ff.; diese einseitige Bewertung werde »dem Anliegen der Thesis der Antinomik nicht gerecht«, da auch die Weise des »Sichbestimmens von der Sinnlichkeit her« ein Wahrheitsmoment repräsentiere; Kant selbst habe »sich solcher Einsicht in seinen Spätschriften zugeneigt«, insbesondere in der Religionsschrift (ebd. S. 96-99). Zu Kopper s. auch unten S. 28 f. Anm. 55 und 56.
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steht. Es verrät nicht gerade ein feines historisches Gespür, weder für die Bedeutung Epikurs selbst noch für seine Rolle bei Kant49, wenn Kaulbach den wahren Kern der epikureischen »Perspektive« ausgerechnet darin entdeckt, daß »die Gewinnung der Glückseligkeit nicht allein in der Macht der moralischen Gesinnung und der Tugend liege«, sondern »auch vom Laufe der Natur und der Geschichte« abhänge, die nicht in unserer Macht seien50, und er damit den Epikureern ein Bewußtsein der spezifischen Verschiedenheit von Tugend und Glückseligkeit unterstellt, das Kant historisch durchaus zu Recht gegen die »Einerleiheit der praktischen Prinzipien« in beiden Schulen geltend macht (KpV A 201 ) 51 . Eine Dialektik von autarker sittlicher Vernunft und ihren Realisierungsbedingungen in einer fremden, undurchschaubaren Welt (oder von Bewußtsein und Sein, Freiheit und Natur/Geschichte52, Planung und Durchführung53, wie einige andere von Kaulbach in diesem Zusammenhang gebrauchten Dichotomien lauten) läßt sich nicht am Gegensatz der Stoiker und Epikureer festmachen; und sofern diese historischen Positionen bei Kant den Konflikt zwischen Tugend- und Glückseligkeitslehren repräsentieren, läßt sich ihr Verhältnis, wie gezeigt, nicht als Antinomie darstellen, da in der ethischen Prinzipienlehre dem epikureischen Standpunkt kein Recht und kein Anspruch zukommt, auch nicht als »Perspektive« (was übrigens aus den Ausführungen bei Kaulbach
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50 51
52 53
Zur Rezeption der Ethik Epikurs bei Kant vgl. K. Düsing, Kant und Epikur. Untersuchungen zum Problem der Grundlegung einer Ethik, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 1976 (1/2), S. 39-58. Nach Düsing wird Kants Argumentation gegen die Glückseligkeitslehre der Differenziertheit des epikureischen ήδονή-Begriffs nicht ganz gerecht, da er die wichtige Unterscheidung von kinetischer und katastematischer Lust nicht berücksichtige (ebd. S. 46 f., 55). F. Kaulbach, Das Prinzip Handlung in der Philosophie Kants, S. 249, vgl. 247 f. Selbst Hegel, der sonst oft zu dichotomisch und trichotomisch stilisierten Darstellungen neigt, sieht in der epikureischen Einstellung gegenüber den Wechselfällen des Lebens die gleiche Geisteshaltung wie bei den Stoikern: Auch die Epikureer suchen »die Glückseligkeit auf solche Weise«, »daß sie ein von äußerlichen Zufälligkeiten, Zufälligkeiten der Empfindung Freies, Unabhängiges sei. Und sie haben so dasselbe Ziel wie die Stoiker«, G.W. F. Hegel, Werke in zwanzig Bänden, hrsg. v. E. Moldenhauer und K. M. Michel, Bd. 19: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie Π, Frankfurt a. M. 1977, S. 324. F. Kaulbach, Das Prinzip Handlung in der Philosophie Kants, S. 252,254,258. F. Kaulbach, Das Prinzip Handlung in der Philosophie Kants, S. 257 ff.
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selbst hervorgeht 54 ). Das Prinzip Epikurs ist für Kant »ein ganz falsches Prinzip« (KpVA 228) 55 . (2) Kaulbachs Kritik an dieser Qualifikation der »These Epikurs« geht noch aus einem anderen Grund am Kantischen Text vorbei: Der Satz, den Kant KpVA206 als »schlechterdings falsch« bezeichnet (»daß das Bestreben nach Glückseligkeit einen Grund tugendhafter Gesinnung hervorbringe«, identisch mit dem ersten Satz der Disjunktion A 204), ist keine Wiedergabe der These der Epikureer, wie überhaupt die Disjunktion nicht als Gegenüberstellung der Positionen der Epikureer und Stoiker verstanden werden kann. Die Disjunktion formuliert, wie zweifelsfrei aus dem Text (KpV A 204) hervorgeht, die beiden Denkmöglichkeiten einer realen, synthetisch-kausalen Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit, die Kant von den beiden Weisen einer bloß logischen, analytischen Einheit der Begriffe, wie sie durch die Epikureer und Stoiker repräsentiert werden, abhebt (vgl. KpVA 199 ff.). M. Albrecht hatte daher völlig zu Recht schon gegen entsprechende Versuche bei
54 55
Vgl. F. Kaulbach, Das Prinzip Handlung in der Philosophie Kants, S. 249 ff. Klaus Düsing hat allerdings vor allem mit Hinweis auf die Refi. Nr. 6607 (AA XIX, S. 106 f.) darauf aufmerksam gemacht, daß Kant in Reflexionen aus den 70er Jahren die Ethik Epikurs nur hinsichtlich des Beurteilungskriteriums (principium diiudicationis) für die Moralität von Handlungen verwirft, nicht jedoch hinsichtlich des Ausführungsprinzips (principium executionis): K. Düsing, Kant und Epikur, S. 41-44. Diese differenzierte Beurteilung war aber, was Düsing leider hier nicht deutlich macht, nur bis in die Ethik der frühen 80er Jahre hinein möglich. Kants Anerkennung der epikureischen Theorie der Ausführung sittlicher Handlungen bezog sich dort auch nicht nur darauf, daß »Handlungen nur durch Emotionen im Menschen« zustande kommen (ebd. S. 41) (was in dieser Allgemeinheit noch für die Kritik der praktischen Vernunft zutrifft, sofern auch die »Achtung vor dem Sittengesetz« ein Gefühl ist, wenn auch ein allein durch die Vernunft bewirktes, vgl. KpVA126 ff.), sondern hatte ihren Grund vor allem in der älteren Triebfederlehre, die dem menschlichen Glücksverlangen auch in der ethischen Prinzipienlehre noch mehr Recht zugestand, wie sich deutlich in der für die damalige Ethik typischen Problemkonstellation des »dilemma practicum« zeigt (s. Kap. 6.2 und 6.3). Spätestens mit der Grundlegung mußte Kant wenigstens stillschweigend das Zugeständnis an die epikureische Position zurücknehmen; KpVA 228-230 z. B., wo Kant die ethischen Prinzipien der griechischen Schulen vergleicht und beurteilt, fehlt die frühere Differenzierung völlig. Auch »das jederzeit fröhliche Herz in der Idee des tugendhaften Epikur« (AA VI, S. 485; weitere Belegstellen s. Düsing, Kant und Epikur, S. 42), das Kant auch später noch gegen die »Mönchsascetik« hochschätzt, ist jetzt ausdrücklich kein legitimer moralischer »Bewegungsgrund« mehr (vgl. KpVA208). Ein größeres Verständnis für die epikureische Position findet sich also in einer früheren Konzeption der Ethik Kants und nicht in den Spätschriften, wie J. Kopper meint: Transzendentales und dialektisches Denken, S. 97, vgl. oben S. 26 Anm. 48.
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L. BRUNSCHVICG, E. BRÉHIER und J. KOPPER56 festgestellt, daß die Identifikation der Sätze der Disjunktion mit den Positionen Epikurs und der Stoa »als im Ansatz verfehlt angesehen werden« muß57. Auch der Versuch Kaulbachs, die Disjunktion durch Rückbezug auf die epikureische und stoische Ethik als Antinomie verständlich zu machen, muß also als gescheitert gelten58. Er beruht auf einer sachlich wie textlich unzulässigen Kontamination verschiedener Kantischer Gesichtspunkte. 56
L. Brunschvicg, L'idée critique et le système Kantien, in: Revue de Métaphysique et de Morale 31 (1924), S. 133-203, hier S. 186 (wiederabgedruckt in: L. Brunschvicg, Écrits philosophiques, Vol. 1, Paris 1951, S. 206-270, hier S. 254): In seiner Rezension des für die Rezeption der praktischen Philosophie Kants in Frankreich wichtigen Buches von V. Delbos (La philosophie pratique de Kant, Paris 1905) fehlt (ebenso wie bei Delbos) noch der Bezug der Antinomie auf Epikur und Stoa, hier charakterisiert er das Problem als »une antinomie entre la législation de la liberté et la législation de la nature, entre la dignité du bonheur, par laquelle se définit la vertu, et la réalité même du bonheur« (ohne daß man aber aus diesen Formulierungen auf ein anderes Verständnis des Problems schließen müßte): La philosophie pratique de Kant par Victor Delbos, in: Revue de Métaphysique et de Morale 15 (1907), S. 66-93, hier S. 85 (wiederabgedruckt in: L. Brunschvicg, Écrits philosophiques, Vol. 1, Paris 1951, S. 179-205, hier S. 197). - É. Bréhier, Histoire de la Philosophie. Tome 2: La philosophie moderne. Première partie: XVII e et XVIII e siècles, Paris 1930, S. 552. - J. Kopper, Transzendentales und dialektisches Denken, S. 96. Bei Kopper steht die Wiedergabe der Ausführungen Kants ganz im Dienste seines eigenen Themas: »das transzendentale Sichverstehen des Sichwissens des Selbstbewußtseins«) (ebd. S. 92 ff.), wobei er in der Durchführung mit einem stark hegelianisierenden Dialektikbegriff operiert (bei allen Abgrenzungen im einzelnen), vgl. etwa ebd. S. 95: in der transzendentalen Dialektik der theoretischen Vernunft gehe »es um das Sichbezeugen des Beisichseins des Geistes aus sich selbst«; S. 94: Vernunftdialektik sei das »Sichdurchsichtigwerden der transzendentalen Reflexion in sich selbst« und mache als solche »das oberste Lehrstück der kritischen Philosophie aus« usw. Eine solche »philosophische Geschichte« des »Sichfindens des Sichwissens des Geistes« ist mit einem noch höheren Verlust an relevanten historischen Details und stärkeren Verzerrungen der Kantischen Problemstellungen als bei Kaulbach erkauft.
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M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 106 Anm. 328, vgl. S. 133 Anm. 392. - Die Identifikation findet sich schon früh, so in der Rezension der Kritik der praktischen Vernunft von H. A. Pistorius (1794), S. 86 f. Ch. F. Michaelis sah zwar auch in den Versuchen der Stoiker und Epikureer eine Dialektik der Vernunft am Werk: Ueber die sittliche Natur (1796/97), S. 10 ff.; bei ihm bleibt aber unklar, in welcher genauen Beziehung diese Dialektik der epikureischen und stoischen »Irrthümer« zu der Antinomie der Vernunft »über die Vereinigungsart der Tugend mit der Glückseligkeit« steht, wie sie für ihn in der Disjunktion zum Ausdruck kommt (vgl. oben S. 15), da er - darin sorgfältiger als Kaulbach und andere Interpreten - eine explizite Identifikation beider, soweit ich sehe, vermeidet. Das bedeutet auch, daß das historische Auftreten der epikureischen Ethik anders als etwa die rationalistischen und empiristischen Thesen der kosmologischen Antinomien nicht aus dem Wesen einer dialektischen Vernunft begriffen werden kann. Im Unterschied zur theoretischen Philosophie (vgl. Kr VA 852 ff./B 880 ff.; AA XX, S. 340-343) kennt die praktische Philosophie in Fragen der Prinzipienerkenntnis bei Kant auch keine immanente
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3.3.4 Dialektik von analytischer und synthetischer Verknüpfung im höchsten Gut Die Konfusion wird noch übertroffen durch die Vermengung von Aspekten bei A. PHILONENKO, der die Disjunktion nicht nur als Gegenüberstellung von epikureischer und stoischer These, sondern, sie überlagernd, zugleich als Antinomie von analytischer (»position analytique«) und synthetischer Verbindimg (»position synthétique«) zwischen Tugend und Glückseligkeit versteht59. Diese Interpretation entfernt sich für ein unvoreingenommenes Lesen insgesamt so weit vom Kantischen Text, daß hier nicht näher darauf eingegangen zu werden braucht. Ein Teil der Probleme, die Philonenko mit dem Kantischen Text hat, sind Folge seiEntwickhingsdynamik nach einem Vernunftschema, das dem Philosophiehistoriker als rationales Erzählgerüst dienen könnte. Es gibt allerdings Versuche einer Systematisierung der ethischen Prinzipien (sogar mit dem Anspruch auf Vollständigkeit), deren Einteilungsgesichtspunkte aber einem Schema von Denkmöglichkeiten und nicht dem »Plan« einer »reinen« Vernunft folgen; ihr argumentationsstrategischer Zweck ist es zu zeigen, daß nach dem Ausscheiden aller anderen praktischen Prinzipien Kants formales Prinzip das einzig mögliche sei (KpVA 68-71). - Ein Grund für die innere Ungeschichtlichkeit der praktischen Einsicht ist sicherlich Kants Überzeugung, daß alle Menschen von Natur aus unabhängig von ihren Bildungsbedingungen wenigstens in moralisch-praktischen Fragen dasselbe Vemunftvermögen besitzen und als der Moralität fähige Personen gleich sind: »Die Stimme der Vernunft« spricht »in Beziehung auf den Willen so deutlich, so unüberschreibar, selbst für den gemeinsten Menschen so vernehmlich« (KpVA 62), daß das sittlich Gebotene auch »für den gemeinsten Verstand ganz leicht und ohne Bedenken einzusehen« ist (KpVA64; vgl. KrVA831/B 859; Über den Gemeinspruch, AA VIH, S. 286-288). Der im Interesse der Gleichheit der Menschen moralisierende Ton ist unüberhörbar, wenn Kant das Fortbestehen anderer ethischer Prinzipien neben dem kategorischen Imperativ »den kopfverwirrenden Spekulationen der Schulen« zuschreibt, »die dreist genug sind, sich gegen jene himmlische Stimme taub zu machen, um eine Theorie, die kein Kopfbrechen kostet, aufrecht zu erhalten« (KpVA 62). Kants Ausdrucksweise ist hier allerdings etwas unklar: (1) Der letzte Teil meint vermutlich: »um eine Theorie, die kein Kopfzerbrechen wert ist [d. h. eine Ethik, die die eigene Glückseligkeit zum Prinzip macht], aufrechtzuerhalten«; weniger wahrscheinlich ist die Lesart: »anstatt daß sie einer Theorie, die kein Kopfzerbrechen kostet [also Kants eigene Theorie], folgten«, »kein Kopfbrechen« kontrastierte dann mit den »kopfverwirrenden Spekulationen der Schulen«. (2) Auch der Bezug des Pronomens »sie« in dem vorangehenden Satzteil »so aber kann sie sich nur noch in den kopfverwirrenden Spekulationen ...« ist nicht eindeutig; inhaltlich wohl nicht in Frage kommen »Sittlichkeit« und »Stimme der Vernunft«, die sich grammatikalisch als nächstliegende Termini anbieten; am meisten Sinn macht die Einsetzung des etwas entfernteren Ausdrucks »eigene Glückseligkeit« (verstanden als praktisches Prinzip). 59
A. Philonenko, L'Œuvre de Kant. Tome Π: Morale et politique, Paris 1972, S. 160-166, bes. S. 160-162.
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nes Mißverständnisses, so wenn er die Ausführungen Kants zur stoischen Position nicht klar findet, da Kant sie einerseits als »position synthétique«, andererseits als »position analytique« darstelle60. Ich sehe nicht, daß Kant den stoischen Begriff des höchsten Gutes anders denn als analytisch verstanden hätte. Man könnte die Auslegung Philonenkos als freie Nachdichtung mit einigen Kantischen Reminiszenzen bezeichnen, hätte sie literarische Qualitäten. Auch die Klarstellungen M. Albrechts haben es nicht geschafft, der Vermengung der Disjunktion mit dem Streit zwischen Stoa und Epikur und mit der Unterscheidung von analytischer und synthetischer Verknüpfung vorzubeugen. So hält R. BRANDT die beiden Sätze der Disjunktion für Darstellungen der epikureischen und stoischen Positionen und meint, die Antinomie komme dadurch zustande, daß Epikureer und Stoiker »zirkulär auf rein analytische Weise ein synthetisches Begriffsverhältnis zu beweisen versuchen«61. Brandts Rekonstruktion ist nicht nur als Textinterpretation unhaltbar, sie beruht auch auf einem sachlichen Kurzschluß, wenn er daraus, daß Epikureer und Stoiker die Verbindung von Tugend und Glückseligkeit als analytisch ansehen, folgert, daß die Beweise, in denen sie ihre Thesen als Konklusionen eines Schlusses ableiten (und nicht einfach als evidente Sätze behaupten), zirkulär sein müßten62. Einen zwingenden Zusammenhang von Analytizität und Zirkularität gibt es weder im allgemeinen noch hier im besonderen; er wird von Brandt ad hoc konstruiert. Kant wirft den beiden antiken Schulen eine Verkürzung des Begriffs des höchsten Gutes auf die logische bzw. ästhetische Seite vor (vgl. KpVA 201 f.), nicht aber einen Zirkel; dafür gibt es weder sachliche noch textliche Anhaltspunkte. Beruhte die Dialektik der praktischen Vernunft auf einem Zirkel, dann handelte es sich auch nicht, wie angekündigt, um eine natürliche und
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A. Philonenko, L'Œuvre de Kant, S. 162. - Eine Antinomie von analytischer und synthetischer Verbindung zwischen Tugend und Glückseiligkeit hatte A. Messer erwogen, aber gleich verworfen: Kants Ethik, Leipzig 1904, S. 88. R. Brandt, Der Zirkel im dritten Abschnitt von Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: H. Oberer und G. Seel (Hrsg.), Kant: Analysen - Probleme - Kritik, Würzburg 1988, S. 169-191, hier S. 181 f. Die Wiederholung des Mißverständnisses ist um so überraschender, als Brandt kurz zuvor (ebd. S. 180 Anm. 10) auf die Arbeit von Albrecht verwiesen hatte. R. Brandt, Der Zirkel, S. 182.
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3 Die Antinomie der praktischen Vernunft in der Literatur
unvermeidbare Dialektik der reinen Vernunft, sondern nur um einen Fehler der allgemeinen Logik, um eine logische Dialektik, wie Brandt selbst zum Zirkel im 3. Abschnitt der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten bemerkt, der für ihn eine strukturelle Ähnlichkeit mit dem Zirkel in der Kritik der praktischen Vernunft hat63.
3.4 Typ 4: Interpretationen der Antinomie ohne Identifikation mit der Disjunktion Wie vage und nahezu beliebig der Textbezug der Deutungen der dritten Gruppe bleibt, ergibt sich auch daraus, daß dieselben oder vergleichbare Interpretationen in der Literatur vertreten werden, ohne daß dabei die Disjunktion als Ausdruck oder Darstellung der Dialektik oder Antinomie der praktischen Vernunft verstanden wird; dabei wird teilweise der Disjunktion sogar explizit ein von der Antinomie unterschiedener, wieder textnäherer Sinn zugewiesen.
3.4.1 Dialektik als Subreption des sittlichen Bewußtseins Ähnlich wie P. Heintel behauptet auch F. KAULBACH (an anderer Stelle und abweichend von seiner schon diskutierten Interpretation), die Dialektik der praktischen Vernunft komme dadurch zustande, »daß die transzendentale Bewegimg des reinen Willens selbst in ein festes und bestimmtes Objekt eingetauscht« und dabei »für ein vorgegebenes und dem Bewußtsein vorgestelltes Objekt eine Rolle« erschlichen werde, »die eigentlich nur der nicht objektivierbaren Bewegung der Vernunft« zukomme. Dies könne auf zweifache Weise geschehen: einmal dadurch, daß wie bei Epikur die Glückseligkeit zum Motiv moralischen Handelns erklärt werde, aber auch dadurch, daß »infolge einer uns natürlichen moralischen Optik« anstelle des Gesetzes die Glückswürdigkeit mit dem Anspruch auftrete, Motiv zu sein64. Für diese Auslegung der Dialektik 63 64
R. Brandt, Der Zirkel, S. 187. Zur logischen Dialektik s. auch unten S. 114. F. Kaulbach, Immanuel Kant, Berlin · New York 21982 (Ί969), S. 251 f.
Typ 4: Interpretationen der Antinomie ohne Identifikation mit der Disjunktion
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der praktischen Vernunft bezieht sich Kaulbach nicht auf das Antinomiekapitel und die Disjunktion, sondern vor allem auf die Ausführungen Kants zur Subreption der praktischen Selbsterkenntnis (KpVA 208-211). Die erste Form der Dialektik läuft auf den Gegensatz von Maximen der Tugend und der Glückseligkeit hinaus65 und scheidet aus den mehrfach genannten Gründen als Kandidat für eine Antinomie der praktischen Vernunft aus, und die Subreption der praktischen Selbsterfahrung hat keinen engeren inhaltlichen Bezug zu dem, was Kant vorher zur Dialektik und Antinomie der praktischen Vernunft ausgeführt hat, wie Albrecht in einer detaillierten Analyse gezeigt hat66. Zudem gibt Kaulbach das Subreptionsproblem sehr eigenwillig wieder. Der »Fehler des Erschleichens (vitium subreptionis)« entsteht nach Kant dadurch, daß ein Gefühl der Lust und des Wohlgefallens an der sittlichen Handlung, das tatsächlich Folge der Bestimmimg des Willens durch das moralische Gesetz ist, in der nachträglichen Reflexion durch eine »optische Illusion« als ursprüngliches Motiv der Sittlichkeit erscheint. Nach Kaulbach liegt dagegen die Illusion darin, daß anstelle des eigentlichen Bestimmungsgrundes, des Gesetzes, sich die Glückswürdigkeit als Handlungsmotiv aufdrängt; er übersieht dabei, daß für Kant die Glückswürdigkeit nur in der Tugendhaftigkeit bestehen kann, die geradezu »als die Würdigkeit, glücklich zu sein«, definiert wird67, so daß eine solche Täuschung praktisch wie theoretisch unerheblich und unbedenklich bliebe.
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64 67
Genauer gesagt: Dialektisch ist hier nicht wie in der Arbeit von 1978 das Gegensatzverhältnis von Tugend- und Glückseligkeitsethik mit den falschen Verabsolutierungen von Perspektiven auf beiden Seiten - historisch gesprochen: das Verhältnis von Stoa und Epikur - , sondern nur noch die Glückseligkeitsethik, also allein die Position Epikurs! Dazu, wie seine verschiedenen Interpretationsvorschläge miteinander zu vereinbaren seien, hat sich Kaulbach nicht geäußert. M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 114-123. KpVA 198, vgl. A 234.
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3 Die Antinomie der praktischen Vernunft in der Literatur
3.4.2 Weitere Deutungen der Antinomie als »Dialektik von Sittlichkeit und Glückseligkeit« Unter der gemeinsamen Bezeichnung einer »Dialektik« oder »Antinomie zwischen Sittlichkeit und Glückseligkeit« verbergen sich in der Literatur inhaltlich sehr unterschiedliche Problemstellungen. Die nachfolgend besprochenen Arbeiten stimmen aber darin überein, daß sie die Antinomie nicht auf den Gegensatz der beiden Sätze der Disjunktion beziehen, jedenfalls nicht explizit.
3.4.2.1 Antinomie von Tugend- und Glückseligkeitsmaximen Wie Kaulbach meint auch Hans Willi ZWINGELBERG, daß nach Kant der Grund der Antinomie in einer falschen Verhältnisbestimmung von Tugend und Glückseligkeit liege, wenn nämlich die Selbstliebe dem allgemeinen Moralgesetz übergeordnet werde68. Er bringt die Antinomie also ebenfalls in Zusammenhang mit dem Gegensatz von Tugend- und Glückseligkeitsmaximen. Anders als Kaulbach und auch Pleines sieht er allerdings noch einen Begründungsbedarf, wenn er den Versuch unternimmt, die Gleichberechtigung des Glücksstrebens neben der Tugendmaxime mit Kant und zugleich gegen ihn zu begründen. Seinen Überlegungen liegt aber eine Fülle von gravierenden Mißverständnissen zugrunde. Unbekümmert um elementare Regeln der logischen Konsistenz unterstellt er z. B., die Überordnung des allgemeinen Gesetzes über die Selbstliebe führe bei Kant zu einem kontradiktorischen Gegensatz beider mit der Folge, daß die eigene Glückseligkeit gänzlich aus der sittlichen Willensbestimmung verbannt werde. Aus der Eliminierung des Prinzips der Selbstliebe aus dem obersten moralischen Bestimmungsgrund und dem entsprechenden AusschlußVerhältnis von Pflicht- und Glückseligkeitsethik schließt Zwingelberg irrtümlich, daß sich der sittlich bestimmte Wille, in seiner strengen Kantischen Bedeutung genommen, in keiner Weise
68
H.W. Zwingelberg, Kants Ethik und das Problem der Einheit von Freiheit und Gesetz, Bonn 1969, S. 71.
Typ 4: Interpretationen der Antinomie ohne Identifikation mit der Disjunktion
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auf die eigene Glückseligkeit beziehen dürfe69. Kants Beispiel, daß in einer strikten Unterordnung auch die Maxime der Selbstliebe in den vom moralischen Gesetz geleiteten Willen aufgenommen werden kann (indem ich »anderer ihre [sc. Glückseligkeit] in dieselbe mit einschließe«, KpV A 61, und sie auf diese Weise als »vernünftige Selbstliebe« »auf die Bedingung der Einstimmung mit diesem Gesetze« einschränke, KpV A 129), dient dann Zwingelberg als Beleg dafür, daß Kant es gegen seine einseitige explizite Ethik im Grunde besser gewußt habe; auch er habe die Synthese von Tugend und Glückseligkeit gedacht, auch wenn bei ihm selbst nicht der adäquate »Begriff dieser Relation« vorliege70. Die Frage nach der Einheit von Sittlichkeit und Glückseligkeit, die bei Kant ja Inhalt der Idee des höchsten Gutes ist, gehöre deshalb »nicht erst in den "dialektischen" Teil der "Kritik der praktischen Vernunft", sondern bereits in den "analytischen"«71. Tatsächlich handelt es sich aber bei dem Beispiel Kants noch um eine ganz undialektische Beziehung von Tugend und Glückseligkeit. Daß »alles Wollen auch einen Gegenstand, mithin eine Materie haben müsse« (KpVA 60) und dieser Gegenstand auch die eigene Glückseligkeit sein kann, steht nicht im Widerspruch zur Formalität des Sittengesetzes und ist kein Grund für eine Dialektik der praktischen Vernunft. Da der unterstellte absolute Gegensatz von Tugend und Glückseligkeit bei Kant nicht besteht, ist Zwingelbergs eigener Versuch der Begründung der Einheit von Sittlichkeit und Glückseligkeit ebenso müßig wie untauglich; aus kantisch-kritischer Sicht beruht er in den entscheidenden Schritten eher auf Vermengungen homonymer Begriffe als auf dem Nachweis realer Zusammenhänge, wenn Zwingelberg etwa folgert, das Prinzip der Selbstliebe könne nicht völlig vom Gesetz ausgeschlossen werden, da auch der allgemein gesetzgebende Wille immer noch Selbstbestimmung sei und deshalb das Selbst der Selbstliebe in ihm »aufbe-
69
70 71
H.W. Zwingelberg, Kants Ethik, S. 70 f., vgl. auch S. 192 u. 199. - Kant selbst hat eine solche Auffassung in seiner »Beantwortung einiger Einwürfe des Hm. Prof. Garve« ausdrücklich als MiÜverständnis bezeichnet: Über den Gemeinspruch, AA VIII, S. 278-281, vgl. 283. Vgl. auch R. Wimmer, Kants kritische Religionsphilosophie, Berlin · New York 1990, § 3 (bes. S. 37-39 und 47-49), mit weiteren Belegstellen. H.W. Zwingelberg, Kants Ethik, S. 69,72 ff. H.W. Zwingelberg, Kants Ethik, S. 69.
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3 Die Antinomie der praktischen Vernunft in der Literatur
wahrt« sei, wenn auch in relativierter Form 72 . Die Interpretation Zwingelbergs ist in formaler Hinsicht zu sehr nach Art einer - in der Durchführung allerdings vagen - Hegeischen Dialektik bemüht, schon in der Analytik dialektische Widersprüche zu entdecken 73 , und inhaltlich zu stark von theologischen Voreingenommenheiten bestimmt 74 , als daß der 72
H.W. Zwingelberg, Kants Ethik, S. 68 ff., bes. S. 69-71. Durch ein ähnliches Spiel mit der Mehrdeutigkeit von Termini »erschleicht« er sich aus Kantischer Perspektive auch eine Verknüpfung von Freiheit und Neigung, wenn er argumentiert, beide entsprächen sich darin, »daß ich etwas geme und deshalb freiwillig und von selbst tue« (ebd. S. 162, Hervorhebungen im Original). Für die Kantische »Tugend, d. i. moralische Gesinnung im Kampfe« (KpVA151), ist es eher die Regel, daß eine Handlung aus Pflicht - und nur sie kann nach Kant frei genannt werden - und spontane Lust an der Handlung nicht zusammenfallen (vgl. KpVA143,148-152); Menschen sind im Moralischen keine »Volontäre« (KpV A 146). - In den 50er Jahren hatte Kant allerdings mit einer ganz ähnlichen Gleichsetzung, wie Zwingelberg sie vornimmt, Freiheit im Rahmen des Determinismus der Leibniz-Wolffschen Ontologie zu retten versucht: Auch wenn der Mensch in seinen Entscheidungen vollständig bestimmt ist, handelt er frei, sofern er aus inneren, bewußten Gründen spontan und gerne den Lockungen der Vorstellungen gehorcht: »Libere agere est appetitui suo conformiter et quidem cum conscientia agere« (Principiorum primorum cognitionis metaphysicae nova düucidatio, AA I, S. 403, vgl. insgesamt S. 398-405, bes. S. 400,402-404). In der Wahrnehmung und Bewertung von Handlungen stellen wir in der Tat oft - auch unabhängig von einer bestimmten Ontologie - einen Zusammenhang her zwischen einem Handeln aus Lust und Neigimg einerseits und einem freien, freiwilligen und spontanen Handeln andererseits; und es mag gute Gründe geben, ein solches Handlungsverständnis weniger abzuwerten und zu diskreditieren, als dies in der Kantischen Ethik geschieht, in der ein Handeln rein aus Neigung niemals frei genannt werden kann. Eine entsprechende Verschiebung des Kantischen Autonomiebegriffs nimmt schon, wohl unter dem Einfluß Rousseaus, der junge Hegel vor (vgl. D. Henrich, Historische Voraussetzungen von Hegels System, in: D. Henrich, Hegel im Kontext, Frankfurt a. M. 21975, S. 41-72, hier S. 67 f.), ohne freilich zu sehen, daß er damit zu dem »weicheren« Freiheitsbegriff des dreißigjährigen Kant zurückkehrt. J. D. Wallace versteht das Handeln aus Neigung sogar als Paradigma eines im weitesten Sinne freien Handelns, sofern es nicht nur frei von Zwängen und Notwendigkeiten, die uns die Bedürfnisse und sozialen Rücksichten auferlegen, sondern auch frei von moralischen Nötigungen ist (dadurch allerdings auch seine besonderen Rechtfertigungsnöte hat): J. D. Wallace, Pleasure as an end of action, in: American Philosophical Quarterly 3 (1966), S. 312-316, bes. S. 314-316.
73
So wenn Zwingelberg schreibt, die Selbstliebe sei »sowohl abzuschließen wie beizubehalten«, die schroffe Entgegensetzung von Tugend und Glückseligkeit bei Kant sei Folge der Verabsolutierung des »bloß relative[n] Unterschiedes] zwischen Sittlichkeit und Glückseligkeit« (H.W. Zwingelberg, Kants Ethik, S. 70); leitend ist dabei die - allerdings nicht klar ausgesprochene - Unterstellung, der eigentliche Grund und der ganze Umfang der Dialektik der praktischen Vernunft sei Kant selbst noch verborgen geblieben und müsse erst noch ausgelotet werden. Was Kant als Dialektik angibt (nach Zwingelbergs Meinimg also die Überordnung der Selbstliebe über das allgemeine Gesetz), bildet dann nur eine Seite der voll entfalteten Dialektik, die um die verabsolutierte Überordnung des allgemeinen Gesetzes über die Selbstliebe zu ergänzen sei (ebd. S. 70 f.).
Typ 4: Interpretationen der Antinomie ohne Identifikation mit der Disjunktion
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Blick noch frei wäre für eine möglicherweise besondere Problemstellung Kants im Antinomiekapitel, auf das Zwingelberg auch nicht weiter eingeht.
3.4.2.2 Dialektik von Form und Inhalt des moralischen Wollens Während Zwingelberg selbst sich nicht auf Hegel berufen hat, steht bei Richard KRONER die unkantische Verabsolutierung des Gegensatzes von Tugend und Glückseligkeit direkt unter dem Einfluß Hegels. Das Prinzip der Glückseligkeit (oder Eudämonie) fungiert bei ihm als Inbegriff aller inhaltlichen Bestimmungen des leeren formalen Gesetzes75. Das moralische Gesetz sei aber »um seiner Reinheit willen von allen anderen Bestimmungsgründen des Handelns abgesondert«; »jede inhaltliche Erfüllimg der bloßen Form des Gesetzes« bedeute »eine Trübung seiner Reinheit«76. Wenn Kant sich dennoch genötigt sehe, im höchsten 74
75
76
So wenn als Grund der Dialektik, »wodurch ihr eigentliches Wesen im tiefsten bezeichnet wird«, »die der Liebe Gottes entgegengesetzte Liebe« genannt wird (H. W. Zwingelberg, Kants Ethik, S. 202) oder die praktische Dialektik darin bestehen soll, »daß der Mensch sich selbst zuschreibt, was er von Gott empfängt, und auf die Anmaßung dieser Initiative seinen Eigenwillen gegen Gott gründet« (ebd. S. 175, vgl. S. 181), eine Moralisierung und Theologisierung der Dialektik, die bei Kant aus gutem Grund fehlen. R. Kroner, Von Kant bis Hegel, Tübingen 21961 (>1921/1924), S. 202. Diese schon seit den Anfängen der Kantinterpretation zu beobachtende Gleichsetzung von Tugend (Gesetz) und Glückseligkeit mit Form und Inhalt (Materie) des Willens nimmt auch Zwingelberg vor (Kants Ethik, S. 73); vielleicht steht sie auch bei P. Heintel im Hintergund (s. oben S. 20). R. Kroner, Von Kant bis Hegel, S. 208. Kroner beruft sich dafür auf: Hegels theologische Jugendschriften, hrsg. von H. Nohl, Tübingen 1907, S. 238 f. (= G. W. F. Hegel, Werke in zwanzig Bänden, hrsg. von E. Moldenhauer und Κ. M. Michel, Bd. 1: Frühe Schriften, Frankfurt a. M. 1971, S. 195 f.). Den angeblich jede Bestimmtheit abweisenden Charakter der reinen Form des Sittengesetzes stilisiert Hegel später im Naturrechtsaufsatz weiter im Sinne seiner Dialektik der »negativen Absolutheit«: vgl. Werke in zwanzig Bänden, Bd. 2: Jenaer Schriften 1801-1807, Frankfurt a. M. 1974, S. 459 ff. Dieses Mißverständnis ist auch mit verantwortlich für die völlig verfehlte Bewertung des Depositumbeispiels Kants (KpV A 49), die eine Konstante im Kantverständnis Hegels bis in die Berliner Zeit geblieben ist (Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie und sein Verhältnis zu den positiven Rechtswissenschaften, Bd. 2, S. 462 ff.; Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, Bd. 20, S. 365 ff.; vgl. auch Grundlinien der Philosophie des Rechts § 135, Bd. 7, S. 252-254). Zur Zurückweisung der Kritik Hegels und des Vorwurfs der Leere des kategorischen Imperativs s. G. Patzig, Der kategorische Imperativ in der Ethik-Diskussion der Gegenwart, in: ders., Tatsachen, Normen, Sätze. Aufsätze und
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3 Die Antinomie der praktischen Vernunft in der Literatur
Gut »das Prinzip der Autonomie mit dem der Eudämonie in Einklang zu bringen, damit die reine praktische Vernunft einen "Gegenstand" bekomme, d. h. in ihre bloße Formalität einen Inhalt aufnehme«, komme es zum Widerstreit in der Vernunft: Sie darf ihr eigenes Gesetz in seiner Reinheit nicht preisgeben, sie muß »aber auch den Anspruch der "glückswürdigen" Tugend auf einen ihr angemessenen Glückseligkeitszustand als sittlich anerkennen«77. Wie bei Zwingelberg erscheint auch hier die Dialektik der praktischen Vernunft als direkte Folge der in der Analytik der Kritik der praktischen Vernunft vorgenommenen falschen
Trennving der Elemente78, der Dualität des formalen und materialen Bestimmungsgrundes menschlicher Handlungen79. Anders als Zwingelberg sieht Kroner den Grund der Dialektik bei Kant aber nicht in einer Überordnung des natürlichen Glücksstrebens über das Gesetz, sondern in einem Konflikt der Vernunft, die mit den gleichberechtigten sittlichen Ansprüchen des formellen Gesetzes auf »Reinheit« und des Glücksbedürfnisses auf eine der Tugend angemessene Erfüllung konfrontiert werde. Kroner orientiert sich also an einem strengeren Begriff der Antinomie; der Konflikt geht über die »natürliche Dialektik«, von der Kant in der Grundlegung (AA IV, S. 405; vgl. oben S. 22) gesprochen hatte, hinaus, sofern es sich nicht nur um einen Antagonismus von Pflicht und sinnlichen Neigungen, sondern um einen »Widerstreit« von Pflicht und (vermeintlich) vernünftigem Anspruch auf eine der Tugend angemessene Glückseligkeit handelt 80 .
77 78 79
80
Vorträge, Stuttgart 1988, S. 155-177, hier S. 161 f.; K.-H. Ilting, Der Geltungsgrund moralischer Normen, in: ders., Grundfragen der praktischen Philosophie, hrsg. von P. Becchi und H. Hoppe, Frankfurt am Main 1994, S. 138-175, hier S. 142 Anm. 8.; Ch. Schnoor, Kants Kategorischer Imperativ als Kriterium der Richtigkeit des Handelns, Tübingen 1989, S. 138,155 f. und 196. R. Kroner, Von Kant bis Hegel, S. 203, vgl. 209. R. Kroner, Von Kant bis Hegel, S. 207. R. Kroner, Von Kant bis Hegel, S. 201. N. Fischer spricht sogar von einem »extreme[n] Dualismus« der formalen und materialen Willensbestimmung, den Kant in der Kritik der praktischen Vernunft einzuführen scheine; er bringt den Dualismus aber nicht in Verbindung mit der Dialektik der praktischen Vernunft: N. Fischer, Der formale Grund der bösen Tat. Das Problem der moralischen Zurechnung in der Praktischen Philosophie Kants, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 42 (1988), S. 18-44, hier S. 26, vgl. 27-30. Ähnlich auch schon Christian Garve: Einerseits fordere das Vernunftgesetz »als eine unerläßliche Bedingung einer sittlich guten Handlung, daß der Mensch dabey nicht seine eigene Glückseligkeit..., sondern lediglich die Uebereinstimmung mit dem Gesetze zur Absicht habe« und deshalb die Glückseligkeit aus dem Endzwecke auszuschließen sei, ande-
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Bezugspunkt dieser Auslegung ist Kants »Lehrsatz«, daß »alle materialen praktischen Prinzipien ... unter das allgemeine Prinzip der Selbstliebe oder eigenen Glückseligkeit« gehören (KpV A 40). Da nach Kant ebenfalls »unleugbar« ist, »daß alles Wollen auch ... eine Materie haben müsse« (KpVA 60), schließt Kroner, daß das Prinzip der inhaltlichen Seite aller Willensbestimmung die Glückseligkeit sei, die mit dem formalen Prinzip in einem unaufhebbaren Widerstreit stehe. Dieser Schluß geht aber weiter als der Kantische Lehrsatz. Das ergibt sich schon daraus, daß Kant die empirischen Inhalte nur insoweit unter das Prinzip der eigenen Glückseligkeit subsumiert, als sie beanspruchen, Bestimmungsgrund des Willens zu sein. Nicht jede empirische Materie ist aber qua Inhalt des Willens auch Bestimmungsgrund, der mit seinem Ziel der Glückseligkeit unvermeidlich in Konkurrenz zum moralischen Gesetz tritt (vgl. KpV A 60 f.). Genau dies setzt Kroner aber in seiner Argumentation voraus. Sofern der Handelnde natürlicherweise auch ein empirisch-bedingtes Interesse am Inhalt seiner Zwecke nimmt, besteht die moralisch reine Gesinnung in der Maxime, die Befriedigung dieses Interesses ausnahmslos dem moralischen Gesetz als der obersten Bedingung unterzuordnen, und nicht darin, es ganz auszuschließen81. Zudem klafft in Kroners Argumentation eine empfindliche Lücke, wenn er aus der Notwendigkeit eines Inhalts für die praktische Vernunft einen sittlichen Anspruch auf Glückseligkeit ableiten will. Einen weiteren »unaufheblichen Widerspruch« entdeckt Kroner darin, daß ich nach Kant einerseits gemäß der Idee des höchsten Gutes
81
rerseits müssen Tugend und Glückseligkeit »auf irgendeine Art verbunden sein«, so daß der Tugendhafte bei Kant sogar ein Recht habe, die Glückseligkeit zu erwarten und zu verlangen: Uebersicht der vornehmsten Principien der Sittenlehre, von dem Zeitalter des Aristoteles an bis auf unsre Zeiten. Eine zu dem ersten Theile der übersetzten Ethik des Aristoteles gehörende und aus ihm besonders abgedruckte Abhandlung, Breslau 1798 (Nachdruck Brüssel 1968, Aetas Kantiana 81), S. 313 f., vgl. 276, 279 und 388. Anders als bei Kroner spielt bei Garve aber nicht das Verhältnis von Form und Inhalt des sittlichen Willens in die Problemstellung hinein; die Antinomie ist für ihn eher das versteckte Eingeständnis Kants, daß die Achtung fürs moralische Gesetz allein keine hinreichende Triebfeder für sittliches Handeln sein könne, vgl. bes. ebd. S. 371-389. Vgl. z. B. Religionsschrift, AA VI, S. 36. S. dazu A. Hägerström, Kants Ethik im Verhältnis zu seinen erkenntnistheoretischen Grundgedanken systematisch dargestellt, Upsala und Leipzig 1902, S. 213 Anm. 1. Sehr pointiert arbeitet H. Köhl den Zusammenhang von formalem sittlichem Prinzip und notwendigem Inhalt des Wollens bei Kant heraus: Kants Gesinnungsethik, Berlin · New York 1990, bes. S. 20-23,80-82.
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3 Die Antinomie der praktischen Vernunft in der Literatur
meine Glückseligkeit befördern und damit »schon auf dem Boden des sittlichen Wollens« die Synthese von formalem und materialem Bestimmungsgrund vollziehen soll, andererseits aber diese Einheit Gegenstand der Glaubenspostulate ist82.
3.4.2.3 Dialektik als Konflikt von Pflichten In der Interpretation von Walter BRÖCKER nimmt diese Schwierigkeit sogar die zugespitzte Form eines Konfliktes von Pflichten an. Er meint, Kant habe folgende Dialektik gelehrt: Auf der einen Seite zwinge mich das moralische Gesetz, das Glücksstreben einzuschränken, und stelle so nach aller Erfahrungserkenntnis die Aussicht auf Glück dem Zufall anheim, und zwar um so mehr, je moralischer ich bin (Bröcker vermeidet hier also das Hegeische Mißverständnis des völligen Ausschlusses der Glückseligkeit aus dem sittlich bestimmten Willen); auf der anderen Seite sei es Pflicht, das summum bonum derivativum zu meinem Endzweck zu machen, d. h. »mich selbst um so glücklicher zu wollen, je moralischer ich bin«, also »unter bestimmten Bedingungen mein eigenes Glück zu wollen«83. Bröcker selbst hält allerdings diese Dialektik für sachlich unbegründet, weil sie auf der irrigen Voraussetzimg beruhe, daß ich verpflichtet sei, das höchste Gut und damit meine eigene Glückseligkeit zum Endzweck des Handelns zu machen. Daß diese Voraussetzung falsch sei, ergebe sich schon aus Kants eigenem Hinweis in der Metaphysik der Sitten, daß es sich widerspreche »zu sagen: man sei verpflichtet seine eigene Glückseligkeit mit allen Kräften zu befördern«, weil diesen Zweck alle Menschen schon von Natur aus haben (AA VI, S. 386; vgl. KpVA 65) 84 . Die Adäquatheit dieser Deutung und Kritik hängt davon ab, ob Kants Lehre vom höchsten Gut als dem Endzweck der praktischen Vernunft ei-
82 83
84
R. Kroner, Von Kant bis Hegel, S. 209 f. W. Bröcker, Der europäische Nihilismus und die kantische Philosophie, in: Studium Generale 7 (1954), S. 545-554, hier S. 548 f. W. Bröcker, Der europäische Nihilismus und die kantische Philosophie, S. 549. Dort ist irrtümlich als Zitatnachweis AA VI, S. 368 angegeben.
Typ 4: Interpretationen der Antinomie ohne Identifikation mit der Disjunktion
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ne solche Pflicht der Beförderung der eigenen Glückseligkeit in Proportion zur Tugendhaftigkeit beinhaltet.
3.4.2.4 Dialektik von Sittlichkeit und Glückserfahrung Während Kroner und Bröcker (in gewisser Weise auch Zwingelberg) die Dialektik der praktischen Vernunft als Folge falscher Prämissen der Moralphilosophie Kants werten und sie wenigstens in der Kantischen Form für vermeidbar halten (wobei sie sich allerdings uneinig sind, welche Prämisse fehlerhaft ist), mißt Eduard VON HARTMANN der Antinomie von Tugend und Glückseligkeit größte Bedeutung für die Sittlichkeit bei; sie ist für ihn sogar der »architektonische Gipfel« der Kritik der praktischen Vernunft65. Er tadelt Kant für seinen »transcendenten Optimismus«, weil er die Antinomie in einer intelligiblen Welt für auflösbar angesehen habe86. Der Sinn dieser Dialektik ist weiter als bei Pleines, Zwingelberg, Kroner und Bröcker; sie meint nicht nur ein Gegensatzverhältnis von Maximen der Tugend und der Glückseligkeit, sondern ein prinzipielles antagonistisches Spannungsverhältnis zwischen dem sittlichen Streben und dem Zweck der kulturellen Entwicklung einerseits und der kollektiven wie individuellen Glückserfahrimg andererseits. Ein »eudämonologischer Pessimismus« in bezug auf die Erreichbarkeit der Glückseligkeit ist für v. Hartmann die bleibende »conditio sine qua non« der Möglichkeit echter Moral87. Nicht »die Harmonie von Sittlichkeit und Glückseligkeit, wenn auch erst im Jenseits«, sei »ein Postulat der praktischen Vernunft«, sondern »die Nothwendigkeit dieser Antinomie für die Sphäre der Erscheinungswelt«88. 85
86
87 88
E.V. Hartmann, Zur Pessimismus-Frage, in: ders., Philosophische Fragen der Gegenwart, Leipzig · Berlin 1885, S. 78-120, hier S. 117. E.v. Hartmann, Kant als Vater des modernen Pessimismus, in: ders., Zur Geschichte und Begründung des Pessimismus, Leipzig 21891 (11880), S. 64-137, bes. S. 76, 83,104,122,127 u. 134. E.v. Hartmann, Kant als Vater des modernen Pessimismus, S. 84 f. E.v. Hartmann, Kant als Vater des modernen Pessimismus, S. 127, vgl. 84. Daß eine Disharmonie zwischen der Sinnlichkeit mit ihrem Glückseligkeitsstreben und den praktischen Gesetzen notwendig sei und sogar ein Analogon der Rezeptivität des Begehrungsvermögens und der materiellen Welt über dieses Leben hinaus postuliert werden müsse, damit Freiheit und Moralität möglich seien und Stoff und Widerstand für ihr unendliches
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3 Die Antinomie der praktischen Vernunft in der Literatur
Dazu ist kritisch anzumerken, daß die Verwendung des Antinomiebegriffs zur Charakterisierung einer postulierten ontologischen Struktur unkantisch ist und auf einen späteren Dialektikbegriff verweist. »Antinomie der Vernunft« meint bei Kant »Widerstreit« von Gesetzen oder Grundsätzen der Vernunft, der sich im kontradiktorischen Gegensatz zweier Sätze manifestiert (vgl. oben S. 7); solange das Widerspruchsprinzip gilt, kann ihm per definitionem keine Wirklichkeitsstruktur entsprechen. Ein antinomischer Widerstreit der Vernunft muß daher aufgelöst werden können, soll nur die »skeptische Methode« und nicht auch ein dogmatischer Skeptizismus die Folge sein, »welcher die Grundlagen aller Erkenntnis untergräbt« (KrVA 424/B 451) und die Vernunft an sich selbst verzweifeln läßt89. Ein realer Gegensatz von Sittlichkeit und Glückserfahrung kann daher nach dem Kantischen Begriffsgebrauch nicht Antinomie heißen, so gut zumindest für den späten Kant zu belegen ist, daß er »Pessimist in bezug auf den Glückseligkeitszustand der uns empirisch gegebenen Welt war«90 und eine Diskrepanz zwischen Tugendhaftigkeit und Glückserfahrung in gewisser Hinsicht sogar als moralisch zweckmäßig beurteilt hat91. Bemerkenswert ist die Textinterpretation v. Hartmanns aber insofern, als er nicht nur vermeidet, die Antinomie zwischen Sittlichkeit und Glückseligkeit an der Disjunktion festzumachen, sondern ihr in seiner Wiedergabe sogar eine deutlich andere Funktion gibt. Sie ist nicht Ausdruck der Antinomie, sondern ein argumentativer Zwischenschritt
89 90 91
Streben bekommen, hatte schon 1795 Johann Christoph Greiling gegen den Proportionszusammenhang von Tugend und Glückseligkeit in der Kantischen Idee des höchsten Gutes reklamiert, ohne aber diese Disharmonie in Zusammenhang mit der Antinomie der praktischen Vernunft zu bringen: J. Ch. Greiling, Darlegung einiger Schwierigkeiten in der Lehre vom höchsten Gute, in: Philosophisches Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten, hrsg. v. F. I. Niethammer, Π. Bd. 4. Heft, Neu-Strelitz 1795, S. 283-305. Das Motiv einer Disharmonie zweier Gesetzgebungen, »aus denen der freie (allmächtige) Wille synthetisch ein Drittes, eine moralische Welt, erzeugt« (ebd. S. 305), dürfte schon unter dem Einfluß von J. G. Fichte stehen. Vgl. Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik, AA XX, S. 327. E.v. Hartmann, Zur Pessimismus-Frage, S. 115. Kants Aussagen zum Verhältnis von Tugend und Glückseligkeit sind aber ausgesprochen vielschichtig und vom jeweiligen Problemkontext abhängig; dem wird die Interpretation v. Hartmanns nicht immer gerecht. Vgl. auch das Urteil M. Albrechts, Kants Antinomie, S. 77 Anm. 247; dort auch weitere Literatur zur Pessimismusdiskussion im 19. Jahrhundert.
Typ 4: Interpretationen der Antinomie ohne Identifikation mit der Disjunktion
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bei ihrer Begründung und Herleitung: Weil nach der Eliminierung einer analytischen Verknüpfung auch keine der beiden denkbaren Weisen einer synthetischen Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit realisierbar ist, existiert zwischen beiden ein antinomisches Verhältnis92. Nicht die gleichzeitige Behauptung beider Sätze der Disjunktion, sondern die Negation beider Sätze führt auf ein Problem. Eine andere Deutung zieht aus dem Mißverhältnis eine entgegengesetzte Konsequenz. Wegen dieses Kontrastes sei sie hier referiert, auch wenn sie an dieser Stelle nur bedingt ihren Ort hat (es handelt sich um keine Deutung der Dialektik als Antinomie von Sittlichkeit und Glückseligkeit). Eine unaufhebbare Diskrepanz zwischen Tugend und empirischer Glückseligkeit bildet auch für Jacqueline MARINA den Kern der Dialektik der praktischen Vernunft93. Wie v. Hartmann kritisiert auch sie Kants Idee einer synthetischen Einheit von Tugend und Glückseligkeit. Sie verwirft sogar die gesamte Fragestellung und Lösung, die Kant unter dem Titel »Antinomie der praktischen Vernunft« vorträgt (KpV A 198-207), weil dort eine synthetische Verbindimg von Tugend und empirischer Glückseligkeit in der empirischen Welt gesucht und für möglich erklärt werde94, die definitiv nicht erreichbar95 und sogar moralisch bedenklich sei, da die Annahme, die Menschen bekämen schon hier, was sie verdienten, gleichgültig gegenüber dem Schicksal der anderen mache 96 . Anders als v. Hartmann beläßt sie es aber nicht bei der Diskrepanz von Sittlichkeit und Glück, sondern überbietet die Idee eines immanenten synthetischen Zusammenhangs. Kant selbst habe noch in der Kritik der praktischen Vernunft (A 232 f.) sein immanentes Verständnis des höchsten Gutes revidiert und durch das transzendente Konzept ersetzt, das Marina als maßgeblich betrachtet97: Heiligkeit, die analytisch Seligkeit im Sinne einer Unabhängigkeit von allen sinnlichen Neigungen und Bedürfnissen einschließt98. Erst in einem solchen Ziel 92 93 94 95 96 97 98
Ε. v. Hartmann, Zur Geschichte und Begründung des Pessimismus, S. 82 f. J. Mariña, Making Sense of Kant's Highest Good, in: Kant-Studien 91 (2000), S. 329-355. Vgl. J. Marina, Making Sense of Kant's Highest Good, S. 336 f. Vgl. J. Mariña, Making Sense of Kant's Highest Good, S. 337,340 und 350. J. Mariña, Making Sense of Kant's Highest Good, S. 340 f. J. Mariña, Making Sense of Kant's Highest Good, S. 337; vgl. 331 f., 339 f. und 350. Vgl. J. Mariña, Making Sense of Kant's Highest Good, S. 331 f. und 350.
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3 Die Antinomie der praktischen Vernunft in der Literatur
jenseits der Sinnenwelt werde endgültige Zufriedenheit erreicht, nicht in einem unendlichen Progreß". Zu einer Dialektik komme es dadurch, daß man glaubt, das höchste Gut als transzendentes Ideal reiner praktischen Vernunft sei schon in der empirischen Welt realisierbar100. In Mariñas Deutung besitzt die Dialektik der praktischen Vernunft die von Kant behauptete Parallele zur Dialektik der spekulativen Vernunft: In beiden Fällen wird das Unbedingte, das »nur in Dingen an sich selbst angetroffen werden« kann (KpVA 192), fälschlicherweise schon in der Sinnenwelt gesucht. Weniger plausibel ist es schon, wie der für eine Dialektik der Vernunft charakteristische »unvermeidliche Schein« (vgl. KpVA 193) zustande kommen soll, daß ein so hochgestecktes Ziel wie Heiligkeit-Seligkeit, das eine »gänzliche Unabhängigkeit« von aller Sinnlichkeit (KpVA 214) verlangt, schon in diesem Leben erreichbar ist. Vor allem aber ist Mariñas Deutung kein Beitrag zu einer Klärung der Kantischen Problemstellung; ihr Verständnis der Dialektik ist erklärtermaßen keine Auslegung der »Antinomie der praktischen Vernunft«. Da dieses Problem nach Mariñas Urteil auf einem verfehlten Begriff des höchsten Gutes beruht, fehlt jedes Interesse, sich mit ihr näher auseinanderzusetzen. Bedenklich stimmt auch, wie differenzierte Erörterungen Kants zum höchsten Gut als synthetischer Einheit von Tugend und Glückseligkeit zugunsten eher sporadischer Bezugnahmen Kants auf das transzendente Ideal der Heiligkeit-Seligkeit beiseite geschoben werden. Daß Kant mit diesen gelegentlichen Ausblicken ins Transzendente eine Revision des synthetisch-immanenten Verständnisses des höchsten Gutes beabsichtigt habe, wird schon dadurch in Frage gestellt, daß er auch später noch die Fragestellung, die bei der Entwicklung der Antinomie leitend war, aufgegriffen und im Sinne der Kritik der praktischen Vernunfi behandelt hat, insbesondere in der Kritik der Urteilskraft und in der Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik101. Vgl. J. Mariña, Making Sense of Kant's Highest Good, S. 338-340. Mariña beruft sich hier insbesondere auf KpVA231 f. und Das Ende aller Dinge, AA VID, S. 335. 1 0 0 J. Mariña, Making Sense of Kant's Highest Good, S. 333: »The Dialectic of pure practical reason arises when this goal, which as an unconditioned condition cannot pertain to the world of appearances, is thought of as the final goal of appearances realizable in the empirical world« (Hervorhebung im Original). ιοί vgl. unten S. 198-204. Zur Problematik eines primär transzendenten Verständnisses des höchsten Gutes bei Kant s. auch unten S. 338 f. 99
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Die Rede von einer »Dialektik« oder »Antinomie zwischen Tugend und Glückseligkeit« in der Sekundärliteratur ist vieldeutig und gibt leicht zu Mißverständnissen Anlaß. Es ist daher für jeden Autor die genaue Problemstellung zu eruieren, die mit diesem Titel versehen wird. Wenn ζ. B. Werner KINGELING von einer »Antinomie von Tugend und Glückseligkeit«102 oder sogar »zwischen sittlicher Maxime und Glückseligkeit«103 redet, reicht das noch nicht, ihn zu den Autoren zu zählen, die meinen, Kants Antinomie der praktischen Vernunft bestehe in einem Konflikt zwischen den Maximen der Tugend und der eigenen Glückseligkeit, wie das M. Albrecht tut104. Denn Kingeling präzisiert, was bei Kant darunter verstanden werden kann und was nicht: »Gute Gesinnungen können belohnt werden, und sie können es nicht. In diesem Widerspruch, auf den Kant zunächst nur undeutlich hinweist, hat man die eigentliche praktische Antinomie zu sehen; jedenfalls bezieht sich die nachfolgende Auflösung nur auf ihn und nicht auf den ebenfalls angeführten Gegensatz zwischen Glücksethik und rationaler Ethik«105. Ob es sich bei dieser Formulierung um eine angemessene Wiedergabe des Kernproblems handelt, kann erst anhand der Textanalyse entschieden werden (Kap. 4). Kingeling selbst drückt diesen Sachverhalt auf verschiedene Weisen aus, die sich nicht ganz decken. So gibt er der Antinomie auch die Form: »Tugendgesinnimg bringt Glückseligkeit hervor« mit der Antithesis: »Glück folgt nicht auf Tugend«106, oder spricht genereller von »der Unvereinbarkeit von sittlicher Welt und Sinnenwelt oder von Wollen und Vollbringen«107. Und auch bei diesen Formulierungen ist genau auf die vollständige Problemkonstellation zu achten: Kingeling
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W. Kingeling, Die Antinojnien in Kants drei Kritiken und das Ding-an-sich-Problem( Phil. Diss. Hamburg 1961, S. 141. W. Kingeling, Die Antinomien in Kants drei Kritiken, S. 148. M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 95 Ann». 300. Auch für Delekat und v. Hartmann, die Albrecht ebenfalls nennt, greift diese Zuordnung zu kurz. W. Kingeling, Die Antinomien in Kants drei Kritiken, S. 140. Albrechts Mißverständnis ist um so erstaunlicher, als er diesen Passus vorher selbst in voller Länge zitiert hat (Kants Antinomie, S. 38). W. Kingeling, Die Antinomien in Kants drei Kritiken, S. 43, Hervorhebimg im Original. Kingeling bezieht sich hier also offensichtlich auf die Disjunktion, wobei aber die Antinomie nicht zwischen den beiden Teilsätzen, sondern zwischen dem zweiten Teilsatz und seiner Negation besteht. W. Kingeling, Die Antinomien in Kants drei Kritiken, S. 42.
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3 Die Antinomie der praktischen Vernunft in der Literatur
meint nicht nur wie Kaulbach (und auch Delekat108) den Gegensatz von sittlicher Norm und ihrer Realisierung, sondern differenzierter sowohl »die Realisierbarkeit sittlicher Maximen als auch die Aussicht des Tugendhaften auf seinen verdienten Lohn«109, er reduziert also die Glückseligkeit nicht auf den Aspekt der Realisierung der sittlichen Zwecke. Mehr noch als für v. Hartmann ist für Kingeling die Dialektik der praktischen Vernunft von »ganz zentraler Bedeutung innerhalb des kritischen Systems«110. Er versteht sie als Ausdruck der Unvollkommenheit der menschlichen Erkenntnis, die darin zugleich schöpferisch ist. Diese Deutung steht allerdings nur noch in sehr lockerer, oft nur assoziativer Beziehung zum Kantischen Text. Sie folgt einem unkantisch ontologisierten Begriff von Antinomie, der nicht mehr nur einen Widerspruch von Geltungsansprüchen, sondern einen Gegensatz der »Grundfakten« des Empfindungsmoments und des rationalen Moments bezeichnet, der nach Kingeling als »Urantinomie« den Antinomien aller drei Kritiken zugrunde liegt und - an Kantischen Maßstäben gemessen - nicht in eindeutigem Sinne auflösbar ist, sondern die existenzielle Grundbedingung des schöpferischen Verstandes und der produktiven Mehrdeutigkeit seiner »intellektuellen Anschauung« bildet111.
3.4.3 Antinomie von Moral und Bedingungen ihrer innerweltlichen Verwirklichung Ein Beispiel schließlich für das Verständnis der Dialektik von Sittlichkeit und Glückseligkeit als Antinomie zwischen ethischer Norm 108 109 110 111
Siehe unten S. 47. W. Kingeling, Die Antinomien in Kants drei Kritiken, S. 140, vgl. S. 142. W.Kingeling, Die Antinomien in Kants drei Kritiken, S. 11. W.Kingeling, Die Antinomien in Kants drei Kritiken, S. 119 ff., bes. S. 122, 130 f., 137 f., 144 ff. Vgl. auch die berechtigten Vorbehalte M. Albrechts (Kants Antinomie, S. 38 f.) gegenüber dieser Sorte von Interpretation und ihrer wenig reflektierten Übertragung von Begriffen (»intellektuelle Anschauung«), die durch den Deutschen Idealismus geprägt sind, in einen Kantischen Problemkontext: »Kingelings Darstellung stellt den Leser an vielen Stellen vor die Frage, ob sie eine vom Idealismus geprägte Kant-Kritik oder eine gründliche Kant-Interpretation sein will, die hinter dem Wortlaut der Texte die inneren Antriebe des Kantischen Denkens und seine Schwierigkeiten sichtbar machen will« (ebd. S. 39 Anm. 115).
Typ 4: Interpretationen der Antinomie ohne Identifikation mit der Disjunktion
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und begrenzten Möglichkeiten ihrer Verwirklichung in einer fremden Welt, ohne daß in der Interpretation (wie bei Kaulbach) der Disjunktion die zentrale Rolle bei der Darstellung zufällt, findet sich in der Kant-Monographie von Friedrich DELEKAT112. Er gibt der Disjunktion einen ähnlichen argumentativen Stellenwert wie v. Hartmann: Daß weder die Glückseligkeit die Bewegursache zu Maximen der Tugend noch die Maxime der Tugend die wirkende Ursache der Glückseligkeit sein könne, referiert er als einen Begründungsschritt Kants bei der Entwicklung der Antinomie113. Den historischen Hintergrund des Gegensatzes von Gesetzen der Moral und Gesetzen des Weltlaufs bildet für ihn auch nicht der Streit zwischen Stoa und Epikur, sondern die neutestamentliche »Diskrepanz zwischen dem radikal ausgelegten göttlichen Gesetz (Bergpredigt) und der vom Bösen beherrschten Welt«; erst dieser biblisch-pietistische Hintergrund mache verständlich, warum Kant den Gegensatz zwischen Tugend und Glückseligkeit als Antinomie formuliert habe 114 . Auch dieser ideengeschichtliche Rückbezug ist wenig überzeugend, da es dafür keine direkten textlichen Anhaltspunkte gibt115. Eine weitere Frage bezieht sich wie bei Kaulbach auf den Glückseligkeitsbegriff: Ist Glückseligkeit in allen ihren wesentlichen Aspekten bei Kant wirklich »als Zweckbestimmimg des sittlichen Handelns eindeutig der Verwirklichimg der Norm zuzurechnen«, so daß sie nichts anderes wäre als die realisierte Moral116? F. Delekat, Immanuel Kant. Historisch-kritische Interpretation der Hauptschriften, Heidelberg 21966, S. 301-312, bes. S. 307. 1 1 3 F. Delekat, Immanuel Kant, S. 305. 1 1 4 F. Delekat, Immanuel Kant, S. 306. 115 vgl. M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 133 Anm. 392. Der Einwand Albrechts allerdings, daß bei Delekat ungeklärt bleibe, ob und inwiefern die Sätze der Disjunktion den Gegensatz von »göttlichem Gesetz« und der »vom Bösen beherrschten Welt« ausdrücken, ist gegenstandslos, da Delekat die beiden Sätze der Disjunktion eben nicht als Thesis und Antithesis der Antinomie versteht. H® F. Delekat, Immanuel Kant, S. 303. - Die Verwirklichung der Norm bezieht sich bei Delekat und auch bei Kaulbach nicht nur auf die subjektive Gesinnung, sondern auf die Realisierung der sittlichen Zwecke in der Welt unter kontingenten und sogar widrigen Bedingungen, die anders als die tugendhafte Gesinnung nicht vollständig in der Macht des sittlich handelnden Subjekts liegen. Deshalb beinhaltet die Gleichsetzung der Glückseligkeit mit der Verwirklichung der sittlichen Zwecke nicht notwendig auch eine Reduktion der Glückseligkeit auf eine rein »moralische Glückseligkeit« im Sinne der Selbstzufriedenheit, die unmittelbar mit dem Bewußtsein der Tugend verbunden ist (vgl. KpVA 211 f., s. 112
48
3 Die Antinomie der praktischen Vernunft in der Literatur
3.5
Typ 5: Aufblähungen des Antinomie- und Dialektikbegriffs
Der wuchernde Gebrauch des Antinomiebegriffs (intensional wie extensional) zeigt sich nicht nur als anonyme Tendenz, wenn man die vielen einzelnen Auslegungen der Antinomie der praktischen Vernunft zu einem Überblick zusammenträgt, sondern ist gelegentlich bei einigen Autoren direkt zu beobachten. Ein krasses Beispiel in dieser Hinsicht bietet ein Aufsatz von Harald HOLZ, dessen Interpretation allerdings nicht mehr (jedenfalls nicht explizit) um eine Dialektik von Tugend und Glückseligkeit kreist. Er versteht unter Antinomie einen »grundsätzlichein], mit den Mitteln der Vernunft selbst nicht mehr zu überwindende[n] Zwiespalt« innerhalb der Vernunft, der aber »nicht einen formellen Widerspruch in sich« schließen soll117, und entdeckt dann vier solcher Antinomien allein in der praktischen Philosophie Kants: (1) eine »Antinomik zwischen teleologischer Anlage und transempirischer Normativität«, (2) eine »Antinomik zwischen empirischem und intelligiblem Element der Teleologie«, (3) eine Antinomie »zwischen der absoluten, göttlichen Freiheit, die unmittelbar zugleich Allmacht ist, und der menschlichen Freiheit und ihrer Autonomie« sowie (4) eine dem theologischen Gnadenstreit entsprechende Antinomie zwischen der sittlichen Autonomie und der ihr innewohnenden »heteronomen Forderimg« eines »schlechthin transzendenten Prinzips«, das erst die »aktuale Errei-
117
oben S. 21 f. Anm. 32). Beides ist deutlicher voneinander zu unterscheiden, als das M. Albrecht in seinem reichhaltigen Literaturüberblick tut (Kants Antinomie, S. 52 f. Anm. 181). Glückseligkeit als Genuß der verwirklichten Moralität ist übrigens schon ein Aspekt in der Kantinterpretation Hegels (vgl. G.W. F. Hegel, Werke in zwanzig Bänden, hrsg. v. E. Moldenhauer und K. M. Michel, Bd. 3: Phänomenologie des Geistes, Frankfurt a. M. 1970, S. 444 u. 454 f.), auch wenn Hegel vor allem in seinen frühen philosophischen Entwürfen dazu neigt, den Begriff der Glückseligkeit zu »entsinnlichen«, worauf Albrecht (ebd.) hinweist, mit Bezug auf K. Düsing: Die Rezeption der kantischen Postulatenlehre in den frühen philosophischen Entwürfen Schellings und Hegels, in: R. Bubner (Hrsg.), Das älteste Systemprogramm. Studien zur Frühgeschichte des deutschen Idealismus (Hegel-Studien Beiheft 9), Bonn 1973, S. 53-90, hier S. 73. H. Holz, Philosophische und theologische Antinomik bei Kant und Thomas von Aquin, in: Kant-Studien 61 (1970), S. 66-82, hier S. 68, vgl. S. 72. Im Zusammenhang mit der vierten der im folgenden aufgeführten Antinomien ist dann aber doch wieder von einem Widerspruch die Rede, den die sittliche Autonomie in sich berge (ebd. S. 79), ohne daß der Leser erfährt, was er hier unter einem nicht-formellen Widerspruch zu verstehen hat.
Typ 5: Aufblähungen des Antinomie- und Dialektikbegriffs
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chung des Menschlichen oder Humanen in seiner Totalität« ermögliche 118 . Nur bei der dritten Antinomie (zwischen göttlicher und menschlicher Freiheit) macht Holz die Einschränkung, daß ein solcher »Zwiespalt« kein Thema der kritischen Philosophie mehr sei, weil er sich auf einen für die menschliche Erkenntnis überschwenglichen Bereich beziehe119. Er verschweigt, daß Kant keines der genannten Probleme in dieser Form als Antinomie ausgeführt hat 120 ; am ehesten könnte man noch in der zweiten Antinomie (zwischen »empirischem und intelligiblem Element der Teleologie«, sofern man unter den »Elementen« Glückseligkeit und Tugend versteht) eine Anspielung auf das Antinomiekapitel der Kritik der praktischen Vernunft sehen, die aber imbestimmt genug bleibt. Sein Beweisziel, eine Gleichheit der Antinomienstruktur bei Thomas von Aquin und Kant aufzudecken, kann Holz nur erreichen, indem er sich der Analyse der tatsächlichen Verwendving des Antinomiebegriffs bei Kant und ihrer inhaltlichen und formalen Bedingungen (einschließlich der eventuell unscharfen Ränder) enthoben glaubt. Schwerwiegende Bedenken richten sich auch gegen die Verwendung des Dialektikbegriffs bei Richard SCHAEFFLER, der bei Kant sogar eine »innere Dynamik« der »fortschreitenden Radikalisierung« und »kontinuierlichein] Verschärfung der Dialektik des praktischen Vernunftgebrauchs« 121 am Werke sieht: Die Freiheitsantinomie der Kritik der rei118 119 120
121
H. Holz, Philosophische und theologische Antinomik, S. 78 f. Ebd. Vgl. M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 152 Anm. 471. - Auch die Antinomie in der Religionsschrift (AA VI, S. 116-121), die in der Tat einen Bezug auf das Gnadenproblem hat, hat ein anderes Thema und eine andere Form. Der »Widerstreit« besteht hier zwischen den Sätzen: "Die Hoffnung, ein fremdes Verdienst könne dem Menschen zugute kommen, muß wegen der Verderbtheit der menschlichen Natur vor aller Bestrebung zu guten Werken vorhergehen" und: "Ein gebesserter Lebenswandel muß einer solchen Hoffnung vorausgehen", wobei für Kant unter moralisch-praktischen Gesichtspunkten, »wo nämlich nicht gefragt wird, was physisch, sondern was moralisch für den Gebrauch unserer freien Willkür das erste sei, wovon wir nämlich den Anfang machen sollen, ob vom Glauben an das, was Gott unsertwegen gethan hat, oder von dem, was wir thun sollen, um dessen ... würdig zu werden, ... kein Bedenken« ist, sich »für das Letztere zu entscheiden« (AA VI, S. 118) und damit gegen das Lutherische »sola fide«. R. Schaeffler, Kant als Philosoph der Hoffnung. Zu G.B. Salas Kritik an meiner Interpretation der kantischen Religionsphilosophie, in: Theologie und Philosophie 56 (1981), S. 244258, hier S. 248 f.
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3 Die Antinomie der praktischen Vernunft in der Literatur
nen Vernunft könne noch durch die Unterscheidung von »intelligiblem« und »empirischem Charakter« aufgelöst werden. Die Kritik der praktischen Vernunft fordere schon mehr zur Auflösung des mit dem Sittengesetz und der menschlichen Freiheit verbundenen Widerspruchs, nämlich einen »unendlichen Progressus« (Postulat der Unsterblichkeit), da das Sittengesetz vom Menschen nicht nur einzelne gute Taten, sondern eine gänzliche Änderung seiner selbst verlange. Die »dritte Schwierigkeit« in der Religionsschrift122, die vom Selbstwiderspruch der praktischen Vernunft in seiner äußersten Zuspitzung handle, zeige, daß auch diese Annahme den Widerspruch nicht endgültig auflösen könne, da der Mensch, der vom »radicalen Bösen« anfing, auch in einem unendlichen Progressus der Besserung immer noch sittlich unvollkommen bleibe. Wenn uns das Sittengesetz mit seiner Forderung, daß wir nicht nur relativ bessere, sondern gute Menschen werden sollen, nicht eine unerfüllbare Pflicht auferlegen und so sich selbst widersprechen soll, so könne die Lösung nur in der Hoffnung auf jenen »Urtheilsspruch aus Gnade« liegen, von dem Kant in der Religionsschrift (AA VI, S. 76) spreche; er allein, auf den wir »keinen Rechtsanspruch« haben, könne dem Menschen die verlangte sittliche Qualität zusprechen, die er von sich selber her nicht besitze 123 . In seiner letzten Schärfe stelle sich der Selbstwiderspruch als »Dialektik der selbstverschuldeten Unfreiheit und wiederempfangenen Freiheit«124 dar: Sie »besteht darin, daß Freiheit, um sittliche Freiheit zu sein, von uns selbst erworben werden muß; daß sie aber als verlorene Freiheit nicht durch uns selbst wiedererworben werden kann, weil wir dazu der Freiheit schon bedürften«125. Der Sache nach wird Kant damit eine Antinomie von der Art »Du sollst, aber Du kannst nicht« unterstellt126. Der Widerspruch sei nur zu vermeiden, wenn vor122
123 124 125 126
Gemeint ist hier die »dritte Schwierigkeit« gegen die Realität der »Idee der Gott wohlgefälligen Menschheit«: Religionsschrift, AA VI, S. 71-78. R. Schaeffler, Kant als Philosoph der Hoffnung, S. 247. R. Schaeffler, Kant als Philosoph der Hoffnung, S. 251. R. Schaeffler, Kant als Philosoph der Hoffnung, S. 252, vgl. S. 247 ff., 251. Von protestantischer Seite hatte man sich gerade darüber beklagt, »dass Kant, der innerhalb der theoretischen Vernunft die vielen bekannten Antinomien aufstellte, nicht auch die practische (und factische, erfahrungsmässige) Antinomie ausgeführt hat: "Du sollst" (gemäss dem Gesetze), "aber du kannst nicht" (gemäss deinem Charakter)«: E. Hoehne, Kants Pelagianismus und Nomismus, Leipzig 1881, S. 68, Hervorhebung von mir; vgl. auch I. A. Dorner, Entwicklungsgeschichte der Lehre von der Person Christi von den äl-
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ausgesetzt werde, daß die sittliche Selbstbestimmung der Vernunft »ein Recht zur Hoffnung auf ungeschuldete Gnade begründet. Nur in einem solchen religiösen Verständnis der Vernunftautonomie wird die Dialektik der Vernunft in ihrem praktischen Gebrauche auflösbar«127. Kants Rede von der Hoffnung nehme nicht nur eine zentrale Stelle innerhalb seiner Religionsphilosophie ein, sondern sie zeige auch die fundamentale Bedeutung der Religion innerhalb des Systems seiner kritischen Schriften 128 . Gegen die Textimmanenz dieser These, auf die Schaeffler großen Wert legt129, spricht aber schon der Umstand, daß Kant selbst keinen solchen »dynamischen« Zusammenhang einer »logisch konsequentefn] Entwicklung« »von der Freiheitsantinomie der Kritik der reinen Vernunft über das Unsterblichkeitspostulat der Kritik der praktischen Vernunft zu jener "dritten Schwierigkeit"« der Religionsschrift130 hergestellt hat. Wichtiger noch: bei seiner Konstruktion einer dialektischen Steigerungsreihe bucht Schaeffler Problemstellungen unter dem Titel einer »Dialektik der Vernunft in ihrem praktischen Gebrauche« ab, die bei Kant keinen solchen Bezug haben: Weder das Problem, das dem Unsterblichkeitspostulat der Kritik der praktischen Vernunft zugrunde liegt, noch die »dritte Schwierigkeit« der Religionsschrift hat Kant als Dialektik oder Antinomie entwickelt. Das Unsterblichkeitspostulat bezieht sich zwar auch auf die Möglichkeit des höchsten Gutes (vgl. KpV A 215, 220-223), aber es antwortet (jedenfalls in der Kritik der praktischen Vernunft) nicht auf jenes Problem des höchsten Gutes, das offensichtlich (auf noch genauer zu klärende Weise) den inhaltlichen Bezugspunkt der
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129 130
testen Zeiten bis auf die neueste. Zweiter Theil: Die Lehre von der Person Christi vom Ende des vierten Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Berlin 21853, S. 990. Schon 1894 verteidigte C. von Flothow Kant gegen die »Zumutung« eines solchen Widerspruchs; er meinte: »Jene Antinomie könnte nur lauten: Du sollst und kannst nicht ohne Hilfe« (Aus Kants kritischen Religionslehren, Phil. Diss. Königsberg 1894, S. 63 Anm. 2). Siehe auch unten S. 182 f. Anm. 222. R. Schaeffler, Kant als Philosoph der Hoffnung, S. 247 (der letzte Satz im Original hervorgehoben), vgl. S. 246,252-254. R. Schaeffler, Kant als Philosoph der Hoffnung, S. 248, vgl. 245 f.; s. auch ders., Was dürfen wir hoffen? Die katholische Theologie der Hoffnung zwischen Blochs utopischem Denken und der reformatorischen Rechtfertigungslehre, Darmstadt 1979, S. 12. Vgl. R. Schaeffler, Kant als Philosoph der Hoffnung, S. 248. R. Schaeffler, Kant als Philosoph der Hoffnung, S. 247.
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3 Die Antinomie der praktischen Vernunft in der Literatur
Antinomie bildet: die Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit; es soll ein Problem lösen, das allein das erste Element des höchsten Gutes betrifft: wie nämlich die geforderte »völlige Angemessenheit der Gesinnungen zum moralischen Gesetze« (Heiligkeit) möglich ist (KpV A 219 ff.) 131 . Auch die Hoffnung auf einen »Urtheilsspruch aus Gnade«, für Schaeffler zentrales Motiv der Kantischen Religionsphilosophie132, ist von Kant nicht als Auflösung irgendeiner Dialektik oder Antinomie konzipiert133. Die der Form, dem Inhalt und der Auflösimg nach deut131
Siehe dazu die ausführliche Diskussion bei M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 123-133. Mit der Begründung, daß bei Kant »die Postulate zur Auflösung einer Antinomie der praktischen Vernunft da« seien, hatte schon C. Stange gemeint, daß man annehmen müsse, es gebe »nicht bloß eine, sondern zwei Antinomien der praktischen Vernunft«, nämlich auch eine, die dem Unsterblichkeitspostulat zugrunde liege: C. Stange, Die Ethik Kants. Zur Einführung in die Kritik der praktischen Vernunft, Leipzig 1920, S. 118 f. In einer früheren Arbeit hatte Stange sogar noch eine dritte Antinomie behauptet, die vom Postulat der Freiheit vorausgesetzt werde (und nicht mit der Freiheitsantinomie der Kritik der reinen Vernunft identisch sein sollte): ders., Einleitung in die Ethik, I. Bd. System und Kritik der ethischen Systeme, Leipzig 1900 (21923), S. 114 f., 158 ff.). Zu Stange s. unten S. 64. - Auch A. W. Wood behauptet, daß man das Postulat der Unsterblichkeit als Antwort auf ein selbständiges dialektisches Argument und eine eigene Antinomie verstehen müsse, auch wenn Kant selbst den Eindruck erwecke, als gäbe es nur eine Antinomie der praktischen Vernunft: A. W. Wood, Kant's Moral Religion, S. 104 ff. Ähnlich wie für Schaeffler enthält auch für ihn erst die Religionsschrift mit der Lehre vom radikalen Bösen das vollständige dialektische Argument (ebd. S. 109 ff., 208 ff., 226 f.) und die befriedigende Auflösung dieser Dialektik, die nicht im Postulat der Unsterblichkeit liege, sondern im Postulat der göttlichen Gnade (ebd. S. 120 f., 231 ff.). Im einzelnen unterscheiden sich aber die Darstellung und Begründung des Problems und seiner Lösimg: Das radikale Böse bedroht bei Wood nicht substantiell die menschliche Freiheit, die Kantische Auflösung, der »Urtheilsspruch aus Gnade«, kann deshalb deutlich semipelagianische Züge tragen. Außerdem macht Wood (und auch Stange) im Unterschied zu Schaeffler deutlich, daß es sich bei seiner Auslegung zu einem gut Teil um Konjekturen (und auch Kritik!) des Interpreten handelt, der Linien ausziehen will, wo Kant selbst dies nicht mehr explizit tut. Der Interpretation Woods folgt weitgehend R. J. Sullivan; er meint, »a genuine antinomy of reason« bestehe darin, daß das moralische Gesetz von uns verlange, vollkommen (heilig) zu sein, ein Ziel, das wir aber beim besten Willen nicht aus eigener Kraft erreichen können; dies aber habe zur Folge, daß wir auch die Glückseligkeit und damit das höchste Gut nicht erlangen können. Allein die göttliche Gnade könne diese Unvollkommenheit ergänzen. Auch Sullivan konstatiert aber ausdrücklich, daß Kant selbst gezögert habe, dieses Problem als Antinomie zu bezeichnen: Immanuel Kant's moral theory, Cambridge · New York · New Rochelle · Melbourne · Sydney 1989, S. 142-144.
132
Vgl. z. B. R. Schaeffler, Kant als Philosoph der Hoffnung, S. 247 und 250. Mit Schaefflers These, daß es bei Kant eine fortschreitende Dialektik der Vernunft in ihrem praktischen Gebrauche sei, die zu ihrer Auflösung den Übergang zur Religion notwendig mache, habe ich mich an anderer Stelle eingehender auseinandergesetzt: B. Milz, Dialektik der Vernunft in ihrem praktischen Gebrauch und Religionsphilosophie bei Kant. - Einige der Thesen, die Schaeffler sehr pointiert ausführt, finden sich vorsichtiger und
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Typ 5: Aufblähungen des Antinomie- und Dialektikbegriffs
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lieh anders gelagerten Probleme, die Kant in der Kritik der praktischen Vernunft und der Religionsschrift explizit als Dialektik und Antinomie ausführt, bezieht Schaeffler nicht in die »kontinuierliche Verschärfung der Dialektik des praktischen Vernunftgebrauchs« mit ein. Die Antinomie in der Religionsschrift134 erwähnt er merkwürdigerweise überhaupt nicht; die Antinomie der Kritik der praktischen Vernunft steht im Hintergrund eines weiteren Widerspruchs, einer Dialektik der moralischen Intention und ihrer Realisierung: Die Reinheit der Gesinnung garantiert nicht nur nicht den Erfolg der guten Handlung, sondern behindert ihn sogar eher, da Skrupellose es leichter als die Gewissenhaften haben, effektiv zu handeln; zudem werden unter dem Gesetz der Kausalität in der Erscheinungswelt die besten Absichten oft in die schlimmsten Wirkungen verkehrt 135 . Da die Welt der Erscheinungen das Ergebnis des theoretischen Gebrauchs unserer Vernunft ist, handelt es sich nach Schaeffler bei diesem Konflikt um »einen inneren Widerstreit der Vernunft« in ihrem theoretischen und praktischen Gebrauch; die Einheit der Vernunft sei nur »in einem Akt der gläubigen Hoffnung wiederzugewinnen«, das Vertrauen allein auf ihre Selbst- und Weltgesetzgebung führe dagegen zur Selbstzerstörung der Vernunft136.
134 135
136
zurückhaltender formuliert schon bei Hans Blumenberg, Kant und die Frage nach dem "gnädigen Gott", in: Studium Generale 7 (1954), S. 554-570. Auch hier dürften die Grenzen einer Textinterpretation deutlich überschritten sein, wenn Blumenberg von einer »Antinomik der Postulate der Unsterblichkeit und der Existenz Gottes« spricht, die in der Religionsschrift ein »Postulat zweiter Ordnung«, das »Postulat des gnädigen Gottes«, nötig mache (ebd. S. 565). Er betont aber, daß Kant in der »Frage der Unantastbarkeit der rationalen "Substanz" des Menschen durch das radikale Böse ... dem Tridentinum näher« stehe »als der Reformation« (ebd. S. 566 f.), und vermeidet so die stärker reformatorische Wendung, die Schaeffler dem Problem unter dem Titel einer »Dialektik der selbstverschuldeten Unfreiheit und wiederempfangenen Freiheit« gibt. Blumenbergs Referat der Antinomie der praktischen Vernunft ist auch noch näher am Text orientiert (s. unten S. 91). Vgl. oben S. 49 Anm. 120. R. Schaeffler, Kant als Philosoph der Hoffnung, S. 253 f. Schaeffler nennt hier keine Stellen bei Kant; daß das Antinomiekapitel der Kritik der praktischen Vernunft für ihn den Bezugspunkt dieser Ausführungen bildet, geht aber aus anderen Publikationen hervor, vgl. z. B. R. Schaeffler, Glaubensreflexion und Wissenschaftslehre. Thesen zur Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte der Theologie, Freiburg · Basel · Wien 1980 (Quaestiones disputatae; 82), S. 107; ders., Religionsphilosophie, Freiburg/München 1983, S. 171 f. R. Schaeffler, Glaubensreflexion und Wissenschaftslehre, S. 111 f., vgl. S. 106-109.
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3 Die Antinomie der praktischen Vernunft in der Literatur
Wie Kaulbach, Delekat und andere Interpreten stellt Schaeffler die Antinomie der praktischen Vernunft in den Problemzusammenhang von moralischer Absicht und Bedingungen ihrer Verwirklichung. Aber auch bei solchen allgemeinen Problemtiteln ist auf den genauen Sinn zu achten: War es bei Kaulbach der nicht weiter qualifizierte Gegensatz von Vernunft und »äußerer Welt« (Natur, Geschichte, siehe oben S. 25 f.) und bei Delekat die Diskrepanz zwischen dem göttlichen Gesetz und der vom Bösen beherrschten Welt (siehe S. 47), so verschärft sich bei Schaeffler das Problem zu einem inneren Widerspruch der Vernunft selbst. Formal genügt dies sicherlich mehr dem Kantischen Begriff der Antinomie. Es wird bei Schaeffler aber (trotz eines Differenzierungsversuches137) nicht hinreichend untersucht, ob es die theoretische Vernunft als solche (mit ihrem allgemeinen Grundsatz der mechanischen Kausalität) ist, die auch nach der Kritik der reinen Vernunft noch in Widerstreit mit dem Gesetz der praktischen Vernunft gerät, oder ob es nicht vielmehr spezifische empirische Gesetzmäßigkeiten sind, die ein wirksames sittliches Handeln so problematisch machen. Im letzteren Fall läge zwar die allgemeine Form (Kategorie) der Kausalität der einzelnen empirischen Gesetze in der theoretischen Vernunft begründet, aber nicht ihr besonderer Inhalt; denn nach Kant ist es eine Eigentümlichkeit des menschlichen Verstandes, daß seine allgemeinen Begriffe und Gesetze das Besondere nicht in seiner Spezifität bestimmen138. Die Schwierigkeiten bei der Verwirklichung des sittlich Gebotenen wären dann der besonderen empirischen Verfaßtheit unserer Welt anzulasten und nicht der »reinen« Vernunft mit ihrer apriorischen Gesetzgebung. Bei den sogenannten guten Absichten, aus denen böse Wirkungen hervorgehen - Schaeffler denkt hier an »die subjektiv gutgemeinten "Weltverbesserungsabsichten" der Moralisten«, die »schon oft in den schrecklichsten Terror geführt« haben139, und weniger an eine unglückliche Verkettung von zufälligen Umständen - , wäre auch im einzelnen zu prüfen, ob die Absichten und vor allem die Maximen, die ihrer Realisierung und der Wahl der Mittel zugrunde gelegt werden, immer den Kan137 138 139
R. Schaeffler, Glaubensreflexion und Wissenschaftslehre, S. 106-108. KU Β 346 f., vgl. insgesamt KU § 77. Vgl. auch unten S. 335,341 und 343. R. Schaeffler, Glaubensreflexion und Wissenschaftslehre, S. 107 f., vgl. ders., Kant als Philosoph der Hoffnung, S. 254.
Erstes Resümee
55
tischen Beurteilungskriterien für Moralität standhalten, ehe man ein prinzipielles »dialektisches« Mißverhältnis zwischen moralischer Intention und ihren Wirkungen behauptet.
3.6
Erstes
Resümee
Schaut man sich die buntscheckige Palette unterschiedlichster Dialektiken und Antinomien an, die man alle in Kants praktischer Philosophie entdeckt hat, so scheint dies das Hegelwort zu bestätigen, daß die moralische Weltanschauung Kants »ein ganzes Nest« von Widersprüchen sein muß140, allerdings in einem Maße, das selbst Hegel in leichtes Erstaunen versetzt haben dürfte. Man hat zuweilen den Eindruck, daß die Dialektik der Kritik der praktischen Vernunft als plastisches Projektionsfeld für alle möglichen Widersprüche dient, die einem aus irgendeinem Grund am Herzen liegen. Es gibt gerade in der Interpretation der praktischen Philosophie Kants mit ihren zahlreichen systembildenden Dichotomien die ausgeprägte Neigung zu einem inflationären und in der Konsequenz unscharfen Gebrauch des Antinomiebegriffs. Nahezu jedes Begriffspaar und jedes Spannungsverhältnis von Elementen und Momenten der Ethik Kants hat man mit diesem Titel belegt. Man hat die Antinomie in Verbindung gebracht: (1) mit der Kantischen Unterscheidung von analytischer und synthetischer Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit (oder mit der Verwechslung von analytischer und synthetischer Verknüpfung), (2) mit den beiden Möglichkeiten der synthetischen Verbindung von Tugend und Glückseligkeit; mit dem Verhältnis (3) von Tugend- und Glückseligkeitsmaximen, (4) von Tugendund Glückseligkeitsethik, (5) von Sittlichkeit und Glückserfahrung, (6) von Form und Materie (Inhalt) des sittlich bestimmten Willens, (7) von reinem Willen und gegenständlicher Fixierung, (8) von moralischem Motiv und sittlicher Selbsterkenntnis (Subreption), (9) von ethischer Norm und ihrer Erfüllbarkeit, (10) von sittlicher Gesinnung und weltlichen 140
G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 453 (Hervorhebung im Original); vgl. Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie ΙΠ, S. 371. Hegel wendet hier eine Formulierung gegen Kant, die dieser in der Kritik der reinen Vernunft (A 609/B 637) in bezug auf den kosmologischen Gottesbeweis gebraucht hatte.
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3 Die Antinomie der praktischen Vernunft in der Literatur
Realisierungsbedingungen, (11) mit dem Konflikt der Pflicht zur Einschränkung des Glücksstrebens und der Pflicht, im höchsten Gut das eigene Glück zu wollen141. Fast alle Themen wurden als »Dialektik« oder »Antinomie von Tugend und Glückseligkeit« interpretiert. Teils hat man die antinomischen Widersprüche mit Kant, teils gegen ihn in seiner Philosophie entdeckt; teils sucht man sie als Scheinprobleme zu entlarven (so Kroner und Bröcker), teils verschärft man sie im Gegenteil philosophisch oder theologisch zu prinzipiell (so v. Hartmann) oder wenigstens für den Menschen (so Holz und Schaeffler) unauflösbaren Gegensätzen der menschlichen Existenz oder deutet sie wie Zwingelberg als Folge religiös-sittlicher Verfehlung. Die meisten der Themen, die in der Sekundärliteratur als inhaltlicher Kern der Dialektik der praktischen Vernunft angegeben werden, geben nicht den Stoff zu einer Antinomie ab, wie schon im Vorfeld der eigentlichen Text- und Problemanalyse mit Hinweis auf elementare Begriffsbestimmungen Kants gezeigt werden konnte; andere Autoren erörtern die berührten Probleme denn auch, ohne daß sie gleich als antinomieträchtig oder -verdächtig gelten. In der Vielzahl der Themen spiegelt sich aber eine Vielschichtigkeit und Mehrdimensionalität Kantischer Begriffsbedeutungen und -Verwendungen wider. Hegel ist sicherlich an manchem Mißverständnis und mancher dialektischen Übertreibimg nicht unschuldig, aber es ist ein Vorzug seiner Kantinterpretation, 141
Die Aufzählung läßt sich noch fortsetzen, wenn man jene angeblichen Dialektiken und Antinomien in der Moralphilosophie Kants berücksichtigt, die von ihren Entdeckern nicht mit der Dialektik der Kritik der praktischen Vernunft in Zusammenhang gebracht werden. So bezeichnet R. Schaeffler mit Bezug auf Kant als Dialektik auch das Spannungsverhältnis zwischen der »Vergleichgültigung des Individuums« und der »sittlichen Unvertretbarkeit individueller Verantwortung« sowie die sinnlich-vernünftige »Doppelnatur des Menschen«, die den Akt des Gehorsams gegen das Gesetz der Vernunft ebenso nötig wie möglich macht: Der Zuspruch des Vergebungswortes und die Dialektik des praktischen Vernunftgebrauchs. Überlegungen zur Ethik und Religionsphilosophie im Anschluß an Immanuel Kant und Hermann Cohen, in: P. Hünermann und R. Schaeffler (Hrsg.), Theorie der Sprachhandlungen und heutige Ekklesiologie. Ein philosophischtheologisches Gespräch, Freiburg · Basel · Wien 1987 (Quaestiones disputatae; 109), S. 104129, hier 114 und 124 bzw. 115 f. und 125 f. S. - Axinn fand »a moral antinomy« bei Kant zwischen den Positionen, daß die Moral radikal individuell und daß sie sozial sei, hält aber fest, daß Kant selbst eine solche Antinomie nicht aufgestellt hat: Kant and the Moral Antinomy, in: P. Laberge, F. Duchesneau, B. E. Morrisey (Hrsg.), Actes du Congrès d'Ottawa sur Kant dans les traditions anglo-américaine et continentale tenu du 10 au 14 octobre 1974, Ottawa 1976, S. 459-466, hier S. 459 f. und 465 f.
Typ 6: Kritik der Kantischen Antinomie der praktischen Vernunft
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daß bei ihm die Kantische Mehrschichtigkeit vor allem des Verhältnisses von Tugend und Glückseligkeit stärker gewahrt bleibt 142 als in neueren Deutungen der Antinomie, in denen dieses Verhältnis nur in jeweils einzelnen, isolierten Aspekten zur Sprache kommt. Hegels dialektisch-systematisches Erzählgerüst zeigt sich in diesem Fall der Komplexität des Sachverhalts besser gewachsen als die meist simpleren rationalen Erzählmuster späterer Autoren. Was aber die Antinomie der praktischen Vernunft angeht, so lassen die vielen divergierenden Antworten den Beobachter der Szene eher noch ratloser zurück. Es bleibt nicht nur die quaestio facti, worin denn nun bei Kant die Antinomie besteht, sondern es ist jetzt auch zu prüfen, wie plastisch und vieldeutig Kants Ausführungen zur Dialektik der praktischen Vernunft tatsächlich sind, wie bestimmt oder unbestimmt der Sache nach das ist, was er in dem Abschnitt entwickelt, der im Titel eine Antinomie der praktischen Vernunft ankündigt. Im folgenden werde ich auf Interpretationen eingehen, die auf die eine oder andere Weise eine kritische und distanziertere Haltung zum Kantischen Text und zum dargestellten »Sachverhalt« einnehmen. Kritik ist auch schon verschiedentlich im Vorangehenden laut geworden (vgl. vor allem die Interpretationen von Kroner und Bröcker), und an Verbesserungs- und Umdeutungsvorschlägen hat es nicht gefehlt. Aber sie alle bezogen sich auf inhaltliche Voraussetzungen, nicht auf die Form und die textliche Darstellung der Antinomie der praktischen Vernunft bei Kant.
3.7 Typ 6: Kritik der Kantischen Antinomie der praktischen Vernunft Von der leichtfertigen Verwendung und inflationären Ausweitimg des Antinomie- und Dialektikbegriffs, wie sie zuweilen in der neueren Literatur zu Kant zu beobachten ist, hebt sich die kritische Einstellung vor allem einiger älterer Autoren ab: Sie bestreiten pauschal, daß sich ein wirklicher antinomischer oder dialektischer Sachgehalt in der Kritik der praktischen Vernunft finden lasse. 142
Vgl. G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 441-464.
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3 Die Antinomie der praktischen Vernunft in der Literatur
Nach Arthur SCHOPENHAUER verdankt vieles im Kantischen System seine Existenz einer »ganz individuelle[n] Eigenthümlichkeit des Geistes Kants«: dem »sonderbare[n] Wohlgefallen an der Symmetrie« 143 , der »Liebe zur architektonischen Symmetrie« 144 , die nicht immer von einem entsprechenden Sachgehalt getragen werde. In einer Randnotiz seines Handexemplars der Kritik der praktischen Vernunft bezieht Schopenhauer den Vorwurf auch direkt auf die Antinomie der praktischen Vernunft: »Symmetrie! fons errorum« 145 . Die Kritik richtet sich bei Schopenhauer und anderen Kantinterpreten, von denen hier nur Erich ADICKES und Franz ERHARDT genannt seien 146 , allgemein gegen das logische Fächerwerk und die parallelen Einteilungs- und Gliederungsformen in den Schriften Kants. Die Antinomien der Kritik der praktischen Vernunft und der Kritik der Urteilskraft, aber auch der Metaphysik der Sitten gelten dann als künstliche Erzeugnisse einer äußerlichen Systematik, die neben einer »Analytik« eben auch eine »Dialektik« mit einer »Antinomie« obligatorisch mache. Man spricht nicht in jedem Fall den Ausführungen Kants allen Problemgehalt ab, aber man bestreitet, daß die von der architektonischen Struktur vorgegebene Form der Antinomie der angemessene Ausdruck für die Probleme sei, und insistiert stärker auf Kants eigenen Begriffsbestimmungen: Antinomie bezeichne bei ihm, so z. B. F. Erhardt, mehr als nur einen bloßen Gegensatz zweier Positionen, auch wenn er in der Geschichte der Philosophie noch so bedeutsam war; dazu gehöre, daß sowohl Thesis wie Antithesis vom dog-
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A. Schopenhauer, Kritik der Kantischen Philosophie, in: A. Schopenhauer, Zürcher Ausgabe. Werke in zehn Bänden, Zürich 1977, Bd. Π, S. 528. A. Schopenhauer, Kritik der Kantischen Philosophie, Zürcher Ausgabe, Bd. II, S. 627 und 643. Arthur Schopenhauers Randbemerkungen zu den Hauptwerken Kants, hrsg. von R. Gruber, in: Arthur Schopenhauers sämtliche Werke, hrsg. von P. Deussen, 13. Band, München 1926, S. 373. E. Adickes, Kants Systematik als systembildender Factor, Berlin 1887, bes. S. 149 f.; F. Erhardt, Kritik der Kantischen Antinomienlehre, Leipzig 1888. Vgl. auch M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 24-36; neben einer ausführlichen Erörterung der »Erklärung Schopenhauers« mit weiteren Belegstellen findet sich dort auch ein materialreicher Überblick über die vielfältigen, bis in die frühe Rezeption zurückreichenden Ursprünge (S. 24 f. Anm. 40) und die Wirkungsgeschichte dieses Motivs der Kritik an Kant (S. 31-36). - Mehr noch im Detail setzt sich J. Young mit der Kritik Schopenhauers an der Ethik Kants und ihrer Berechtigung auseinander: Schopenhauer's Critique of Kantian Ethics, in: Kant-Studien 75 (1984), S. 191-212.
Typ 6: Kritik der Kantischen Antinomie der praktischen Vernunft
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matischen Standpunkt aus bewiesen werden könnten147, und diesem von ihm selbst erhobenen Beweisanspruch werde Kant schon in der Kritik der reinen Vernunft nicht ganz gerecht. Bedauerlicherweise glauben Schopenhauer und Erhardt, daß jede inhaltliche Erörterung der Antinomie der praktischen Vernunft durch die Reduktion auf systematische Vorlieben Kants entbehrlich sei, so daß der Leser gar nicht erst erfährt, was denn ihre Lesart der Antinomie gewesen wäre (Adickes' Verständnis der Antinomie gehört zu einer anderen Gruppe von Interpretationen, siehe unten S. 88). Trotz mancher wichtiger Anstöße für eine auch sachlich relevante Entwicklungsgeschichte der Philosophie Kants (insbesondere in der Arbeit von Adickes) fragt man sich an vielen Stellen, was schematischer ausfällt: das Kantische »System« oder die Kritik daran. Vom Typ her läßt sich auch die Interpretation von Roger J. SULLIVAN dieser Form der Kritik zurechnen, wenn er die von Kant beanspruchte Parallele im Aufbau der ersten und zweiten Kritik zurückweist und zur Dialektik der praktischen Vernunft nur lapidar bemerkt: »But the "dialectic" here does not involve contradictions, only problems needing clarification«148. Etwas konkreter und differenzierter sind die Auskünfte in den schon erwähnten Arbeiten von Norbert HINSKE. Für ihn besteht ähnlich wie für Pleines die Antinomie der praktischen Vernunft in »einem Konflikt zwischen den Folgerungen aus den "Maximen der Tugend und ... der eigenen Glückseligkeit" (KpVA 202)«, aber anders als Pleines konstatiert er gleich, daß es sich dabei um »die erste schwerwiegende Ausweitung der kritischen Antinomienlehre« handle, da der Begriff der Antinomie »wieder in einer sehr viel weiteren, sich vom Wortsinn lösenden Bedeutung« gebraucht werde und nicht mehr wie in der Kritik der reinen Vernunft »von einem "Widerstreit der Gesetze ... der reinen Vernunft" (KrV Β 434)« gesprochen werden könne (siehe oben S. 8). Man ist allerdings dann doch verwundert, wenn Hinske die Antinomie allein auf das Verhältnis der wechselseitigen Einschränkung von Tugend- und Glückselig147 148
F. Erhardt, Kritik der Kantischen Antinomienlehre, S. 3, bes. Anm. 1. R. J. Sullivan, Immanuel Kant's moral theory, S. 362 Anm. 5. Zu Sullivan siehe auch oben S. 52 Anm. 131.
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3 Die Antinomie der praktischen Vernunft in der Literatur
keitsmaximen in demselben Subjekt beziehen will, ein Sachverhalt, von dem Kant gerade an der zitierten Stelle sagt, daß er schon »aus der Analytik klar« sei (KpVA 202), und in diesem Zusammenhang mit keinem Wort auf das Antinomiekapitel selbst und das neue Thema der Dialektik, das höchste Gut, eingeht. - Eine Distanzierung von Kants Darstellung intendiert wohl auch Gerhard LEHMANN, wenn er meint, daß die Antinomie der praktischen Vernunft, die er als »Konstruktion« apostrophiert, auf den »Gegensatz von Epikuräismus und Stoizismus« zurückgehe, der aber nicht als Antinomie zu verstehen sei149.
3.8 Typ 1: Kritik an Kants Darstellung der Antinomie und Entwicklung einer Alternative Seit genau der Wende zum 20. Jahrhundert gibt es eine Tradition der Auslegung der Antinomie der praktischen Vernunft, die in methodischer Hinsicht wohl als die bislang differenzierteste und reflektierteste gelten kann, weil sie gleichermaßen das Text- wie das Sachproblem berücksichtigt. Gemeinsam ist den Interpretationen dieses Typs, daß sie wie die Auslegungen der 2. und 3. Gruppe die Disjunktion des Antinomiekapitels als die Kantische Formulierung der Antinomie ansehen, sich dabei im Verständnis dieser Disjunktion wie die 2. Gruppe eng an den Text halten, aber anders als sie gleich zu dem Schluß kommen, daß die Disjunktion nicht die Bedingungen einer Antinomie erfüllt, legt man die Maßstäbe der Kritik der reinen Vernunft an. Im Unterschied zur 6. Gruppe gehen sie aber über eine bloße Kritik an Kant hinaus und entdecken in den Ausführungen Kants einen Sachverhalt, der sich mit größerem Recht als Antinomie darstellen läßt. Auch nach der Neuformulierung sind allerdings für die meisten Autoren noch nicht alle Bedenken gegen die Antinomie der praktischen Vernunft und ihre sachlichen Voraussetzungen ausgeräumt. Carl STANGE ist meines Wissens 1900 der erste gewesen, der diese Interpretation vorgetragen hat. Nach ihm erweckt die Art und Weise, wie Kant »auf jene bei der synthetischen Verknüpfung von Tugend und 149
G. Lehmann, Erläuterungen zu Metaphysik K}, AA XXIX.1.2, S. 1138.
Typ 7: Kritik an Kants Darstellung der Antinomie und Entwicklung einer Alternative 6 1
Glückseligkeit mögliche Alternative zu sprechen kommt in dem Abschnitt, der nach der Überschrift es mit der "Antinomie der praktischen Vernunft" zu thun hat, ... de[n] Anschein . . a l s ob in jener Alternative die Antinomie der praktischen Vernunft enthalten sei«. Bestärkt werde man in dieser Auffassung »noch durch Kant selbst«, wenn er in dem folgenden Abschnitt, der nach der Ankündigung die »kritische Aufhebung der Antinomie der praktischen Vernunft« enthält (vor allem KpVA 205207), die beiden Sätze der Alternative (sc. Disjunktion) in den Mittelpunkt seiner Ausführungen stelle und den Gegensatz der beiden Sätze ausdrücklich mit der Freiheitsantinomie vergleiche. »Die Antinomie der praktischen Vernunft wird hier also geradezu mit jener Alternative identifiziert«. Dadurch aber werde »das Verständnis dessen, worauf es bei der Antinomie der praktischen Vernunft ankommt«, »ausserordentlich erschwert« und »sogar unmöglich gemacht« 150 . In der Kritik der Kantischen Darstellung der Antinomie kommen jetzt auch begriffliche Nuancen zur Sprache, die sonst bestenfalls in der mehr oder weniger paraphrasierenden Wiedergabe des Textes mit enthalten waren, aber mit ihren Implikationen nicht weiter thematisiert wurden. So fällt auf, daß Kant in den beiden Sätzen der Disjunktion nicht denselben Ursachenbegriff verwendet, um das synthetische Verhältnis von Tugend und Glückseligkeit zu bestimmen, sondern davon redet, daß entweder die Begierde nach Glückseligkeit die Bewegursache zu Maximen der Tugend oder die Tugend die wirkende Ursache der Glückseligkeit sei. Versuche man, so Stange, dem ersten Satz überhaupt einen nachvollziehbaren Sinn geben, zeige sich, daß er den zweiten Satz impliziere: »Denn wenn die Begierde nach Glückseligkeit die B e w e g Ursache zu Maximen der Tugend ist, so setzt das zugleich voraus, dass die Maxime der Tugend die w i r k e n d e Ursache der Glückseligkeit sei: man kann sich zu tugendhaften Handlungen durch die Begierde nach Glückseligkeit nur dann bewegen lassen, wenn thatsächlich die tugendhafte Handlung die Erlangung der Glückseligkeit bewirkt«. So aber stünden die beiden Arten der synthetischen Verknüpfung gar nicht in einem Gegensatz zueinander, mehr noch: Tugend und Glückseligkeit würden in der Konsequenz nicht mehr synthetisch verbunden gedacht, sondern der Begriff des
150
C. Stange, Einleitung in die Ethik, I. Bd., S. 110 f. Vgl. ders., Die Ethik Kants, S. 105.
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3 Die Antinomie der praktischen Vernunft in der Literatur
höchsten Gutes werde »alsdann lediglich durch die Glückseligkeit bestimmt, während die Tugend nur das Mittel ... für die Erlangung des höchsten Gutes« sei, und dies stehe im Gegensatz zur Analytik der Kritik der praktischen Vernunft151. Erst wenn man »von jener gänzlich überflüssigen und durchaus irreführenden Alternative« absehe, lasse »sich das, was Kant eigentlich unter der Antinomie der praktischen Vernunft versteht, ohne jede Schwierigkeit deutlich machen« 152 ; sie besteht nach Stange »in der Alternative, zu welcher die zweite der beiden Möglichkeiten führt. Wenn wir es nämlich mit dem zweiten Satz zu tun haben (daß Tugendgesinnung notwendig Glückseligkeit hervorbringe), dann müssen wir im Hinblick auf die realen Verhältnisse, Vinter denen wir leben, feststellen, daß dieser Satz nicht richtig ist, obgleich doch das moralische Bewußtsein an der Notwendigkeit dieser Verbindung festhält. Die Antinomie der reinen praktischen Vernunft besteht also in dem Widerstreit zwischen der Idee unseres moralischen Bewußtseins und der Wirklichkeit der empirischen Welt« 153 , oder mit Kants eigenen Worten formuliert: »Auf der einen Seite [ist] es "a priori notwendig ..., das höchste Gut durch Freiheit hervorzubringen" [vgl. KpVA 203], während auf der anderen Seite "alle praktische Verknüpfung der Ursachen und der Wirkungen
151
152 153
C. Stange, Einleitung in die Ethik, I. Bd., S. 112; vgl. ders., Die Ethik Kants, S. 106 f. Daraus, daß Glückseligkeit und Tugend in einer Zweck-Mittel-Relation stehen, würde allerdings noch nicht folgen, daß ihr Zusammenhang analytisch ist. Allenfalls gilt folgendes: Wenn die Tugend ein notwendiges Mittel zur Erlangung der Glückseligkeit ist (ein synthetisches Urteil!), dann folgt analytisch, daß, wer die Glückseligkeit will, auch »(so fern die Vernunft auf seine Handlungen entscheidenden Einfluß hat) ... das dazu unentbehrlich nothwendige Mittel [will], das in seiner Gewalt ist« (Grundlegung, AAIV, S. 417), d. h. hier: die Tugend. Anders als Kant dies annahm, wäre allerdings der hypothetische Imperativ: »Wer die Glückseligkeit will, solle auch die Tugend wollen« synthetisch; vgl. dazu G. Seel, Sind hypothetische Imperative analytische praktische Sätze?, in: O. Höffe (Hrsg.), Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Ein kooperativer Kommentar, Frankfurt a. M. 1989, S. 148-171; A. Burri und J. Freudiger, Zur Analytizität hypothetischer Imperative, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 44 (1990), S. 98-105. Die Analytizität des Prinzips der hypothetischen Imperative würde nur aus Prämissen folgen, die nicht allgemein als zur deontischen Logik gehörend akzeptiert werden; vgl. dazu den Versuch von G. Nakhnikian, Kant's Theory of Hypothetical Imperatives, in Kant-Studien 83 (1992), S. 21-49, bes. 35-46, und die Kritik bei J. Freudiger, Kants Begründung der praktischen Philosophie, Bern · Stuttgart · Wien 1993, S. 52 f. Anm. 93. C. Stange, Einleitung in die Ethik, I. Bd., S. 112. C. Stange, Die Ethik Kants, S. 105.
Typ 7: Kritik an Kants Darstellung der Antinomie und Entwicklung einer Alternative
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in der Welt als Erfolg der Willensbestimmung sich nicht nach moralischen Gesinnungen des Willens, sondern der Kenntnis der Naturgesetze und dem physischen Vermögen, sie zu seinen Absichten zu gebrauchen, richtet, folglich keine notwendige und zum höchsten Gut zureichende Verknüpfung der Glückseligkeit mit der Tugend durch die pünktlichste Beobachtung der moralischen Gesetze 'in der Welt' erwartet werden kann"« (vgl. KpVA 204 f.) 154 . Auch mit der Revision sind für Stange nicht die Vorbehalte gegenüber der Lehre vom höchsten Gut und ihrer Antinomie beseitigt. Die Idee einer notwendigen Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit bleibt für ihn Ausdruck »der eudämonistischen Form der Vergeltungsidee«, die »in der Aufklärimg der letzte, kümmerliche Überrest eines religiösen Verständnisses des sittlichen Lebens« ist und im Widerspruch zur Strenge und Reinheit der Kantischen Ethik steht 155 . In diesem Urteil, das besonders einflußreich durch die Kritik von Arthur Schopenhauer, Kuno Fischer und Hermann Cohen wurde, sind sich bei allen Unterschieden im einzelnen die meisten Interpreten der Ethik Kants vor allem in den Jahrzehnten vor und nach der Jahrhundertwende einig 156 . Für Stange ist die Antinomie der praktischen Vernunft dann Folge einer mit der Analytik der Kritik der praktischen Vernunft unvereinbaren »Überordnung der Glückseligkeit über die Tugend«: »Sie besteht einfach darin, daß wir von der Erfüllung der Tugend unsere Glückseligkeit erwarten und daß wir dazu durch unser moralisches Bewußtsein genötigt werden, obgleich doch in der physischen Ordnimg der Dinge dieser Zusammenhang tatsächlich nicht gegeben ist« 157 . Außerdem könne man den be154
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C. Stange, Einleitung in die Ethik, I. Bd., S. 112 f., Hervorhebungen im Original. Stange fügt noch eine weitere Version hinzu, die allerdings durch den Bezug auf die Endlichkeit des Menschen den Akzent des Problems nicht unwesentlich verschiebt: »Auf der einen Seite die Unmöglichkeit, dass der Mensch als endliches Wesen das höchste Gut zustande bringe, auf der anderen Seite die Forderung der Vernunft, dass er es zustande bringe, darin besteht die Antinomie der reinen praktischen Vernunft« (ebd.); vgl. auch ders., Die Ethik Kants, S. 107 f. S. dazu unten S. 92 f. C. Stange, Die Ethik Kants, S. 126 f., vgl. S. 99-101 und S. 127 f.: »Der Begriff des höchsten Gutes ist demgemäß keine apriorische Erkenntnis der praktischen Vernunft, sondern das Produkt einer minderwertigen Sittlichkeit«. Die Kritik an der Aufnahme der Glückseligkeit in den Begriff des höchsten Gutes reicht aber bis in die frühe Kantrezeption zurück, s. M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 43-48. C. Stange, Die Ethik Kants, S. 107. In der früheren Schrift von 1900 (Einleitung in die Ethik, I. Bd., 1923 wiederaufgelegt) ist dies noch nicht das beherrschende Motiv der
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3 Die Antinomie der praktischen Vernunft in der Literatur
schriebenen Widerstreit »schwerlich als eine Antinomie der reinen praktischen Vernunft bezeichnen ..., da sie gar nicht im Wesen der Vernunft, sondern in ihrem Zusammensein mit der empirischen Welt ihren Grund hat«158. Stange nahm an, daß so, wie das Postulat der Existenz Gottes in der Kritik der praktischen Vernunft als Auflösimg einer Antinomie eingeführt werde, auch die beiden anderen Postulate aus Antinomien abgeleitet würden, auch wenn bei Kant selbst eine solche explizite Zuordnung fehle. Dem Postulat der Unsterblichkeit der Seele liege »gewissermassen eine zweite Antinomie der praktischen Vernunft« zugrunde: »Das moralische Gesetz fordert die völlige Angemessenheit des Willens zum moralischen Gesetze, d. h. Heiligkeit; Heiligkeit aber ist "eine Vollkommenheit, deren kein vernünftiges Wesen der Sinnenwelt, in keinem Zeitpunkte seines Daseins fähig ist"« (KpVA220)159. Und auch das Postulat der Freiheit setze eine Antinomie voraus, die »sich etwa folgendermassen formulieren [ließe]: das moralische Gesetz fordert von dem in der Sinnenwelt lebenden Menschen Anerkennimg; als sinnlich affiziertes Wesen vermag aber der Mensch sich nur durch das Prinzip der Selbstliebe!,] aber nicht durch das moralische Gesetz bestimmen zu lassen«160. In
158 159 160
Kritik. Hier folgt die Aufnahme der Glückseligkeit in den Begriff des höchsten Gutes für Stange geradezu noch aus den (für ihn allerdings auch problematischen) Begriffsbestimmungen der Analytik der Kritik der praktischen Vernunft, sofern Kant neben dem kategorischen auch die hypothetischen Imperative zur praktischen - wenn auch nicht reinen Vernunft rechne und so »die Sinnlichkeit als Bestimmungsgrund des Willens unter den Begriff der praktischen Vernunft« mitbefasse; »die Glückseligkeit [sei] ebenso wie der Gehorsam gegen das Gesetz eine Forderung der Vernunft« (ebd. S. 154 f., Hervorhebung im Original, vgl. S. 120,129 ff.; vgl. auch ders., Der Begriff der "hypothetischen Imperative" in der Ethik Kants, in: Kant-Studien 4 (1900), S. 232-247). Die Kritik Stanges an der Kantischen Unterscheidung von kategorischen und hypothetischen Imperativen hat A. Messer zu Recht zurückgewiesen: Kants Ethik. Eine Einführung in ihre Hauptprobleme und Beiträge zu deren Lösung, Leipzig 1904, S. 121 ff. - In der Schrift von 1920 (Die Ethik Kants) verändert Stange die Abfolge seiner Argumente, so daß die Kritik an der Implikation der Disjunktion (die Tugend ist nur noch Mittel zur Erlangung der Glückseligkeit) nun auch die Antinomie in der korrigierten Fassung treffen soll. Die Voraussetzungen dieser Kritik und ihre Stichhaltigkeit werden später im Rahmen der Textanalyse erörtert (s. unten S. 135 f. und 139 f.). C. Stange, Einleitung in die Ethik, I. Bd., S. 105, Hervorhebung von mir. C. Stange, Einleitung in die Ethik, I. Bd., S. 114. C. Stange, Einleitung in die Ethik, I. Bd., S. 115. - Später hat Stange bezüglich des Freiheitspostulats eine andere Strategie gewählt: Wie vor ihm u. a. schon H. Cohen (Kants Begründung der Ethik, S. 357), K. Vorländer (Geschichte der Philosophie, Π. Bd.: Philoso-
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der anschließenden Kritik verwirft dann Stange aber die gesamte Postulatenlehre Kants mitsamt den angeblichen Antinomien, aus denen sie resultiert, weil sie das Wesen des Sittlichen verfehle und sogar gefährde 161 . Stanges Verständnis des Antinomiekapitels und seiner Neufassung des antinomischen Problems, in vielem auch der Kritik an der Lehre vom höchsten Gut und der Postulate, ist wenig später August MESSER gefolgt 162 . Als zusätzliches Indiz dafür, daß nach Kants Auffassimg die Antinomie in dem Gegensatz der beiden Sätze der Disjunktion liege, nennt er Kants Formulierung: »die Antinomie in Verbindung der Sittlichkeit mit Glückseligkeit nach einem allgemeinen Gesetze« (KpV A 207) und beruft sich auf Kuno Fischer als weiteren Gewährsmann für dieses Textverständnis163. In Messers Fassung der revidierten Antinomie kommt besser als bei Stange der kontradiktorische Gegensatz der beiden Sätze zum Ausdruck: »Die Thesis würde lauten: die praktische Vernunft gebietet die Verwirklichung des höchsten Gutes, setzt es also als möglich voraus. Die Antithesis: das höchste Gut erscheint als unmöglich, weil die in ihm geforderte Verbindung von Tugend und Glückseligkeit weder analytisch noch synthetisch sich herstellen läßt« 164 . Kritik an der Kantischen Darstellung der Antinomie übt auch Otto LEMPP: »Die Komplikation, die Kant dieser Antinomie durch die Aufstellung zweier Gesichtspunkte gibt, verwischt nur den springenden
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phie der Neuzeit, Leipzig 31911, S. 239) und A. Schweitzer (Die Religionsphilosophie Kant's, S. 150 ff.), die er aber nicht nennt, bestreitet er, daß man die Freiheit trotz einschlägiger Stellen bei Kant (z. B. KpV A 238 f.) überhaupt als Postulat bezeichnen dürfe: C. Stange, Die Ethik Kants, S. 117; hier ist dann nur noch von zwei Antinomien der praktischen Vernunft die Rede (ebd. S. 118 f.; vgl. auch oben S. 52 Anm. 131). Kritik an der Anwendimg des Postulatsbegriffs auf die Freiheit hatte Stange schon früher geübt: C. Stange, Einleitung in die Ethik, I. Bd., S. 160 ff. Zur Verteidigung Kants vgl. A. Messer, Kants Ethik, S. 92-95. C. Stange, Einleitung in die Ethik, I. Bd., S. 151 ff., vgl. ders., Die Ethik Kants, S. 117-129. A. Messer, Kants Ethik, S. 87-89, zur Kritik der Kantischen Lehre des höchsten Gutes und der Postulate s. ebd. S. 242-271. Α. Messer, Kants Ethik, S. 88. Zu K. Fischer siehe oben S. 15 Anm. 16. A. Messer, Kants Ethik, S. 88, Hervorhebung von mir. Später (1929) nennt er ohne Umschweife nur noch diese Version der Antinomie, die er 1904 noch deutlich von der durch den Kantischen Text nahegelegten unterschieden hatte: A. Messer, Kommentar zu Kants ethischen und religionsphilosophischen Hauptschriften, Leipzig 1929, S. 95.
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3 Die Antinomie der praktischen Vernunft in der Literatur
Punkt der Antinomie«165. Der »springende Punkt« besteht für ihn in der gleichen Problemstellung wie bei Stange und Messer; ebenso wie diese kritisiert er sie, weil sie auf falschen Voraussetzungen beruhe166; »mit seinem Begriff vom höchsten Gut als der Übereinstimmung von Tugend und Glück« bezahle Kant »noch der eudämonistischen Ethik der Aufklärung seinen Tribut ...; er steht hier noch nicht auf der Höhe der sittlichen Anschauimg, die er in seiner Bestimmung vom Wesen des sittlichen Handelns bereits erreicht hatte«167. Von Messer führt eine direkte Linie zu Lewis White BECK und seinem vor allem im anglo-amerikanischen Raum einflußreichen Kommentar zur Kritik der praktischen Vernunft. Auch Beck unterstellt, daß Kant das Verhältnis der zwei Möglichkeiten der synthetischen Verbindung von Tugend und Glückseligkeit als Antinomie verstanden habe, und verdeutlicht die Kantische Version auf folgende Weise: »thesis - the desire for happiness must be the necessary and sufficient ground of or motive to morality; antithesis - the maxim of virtue must be the necessary and sufficient condition of happiness«, fügt aber in einer Anmerkimg vorsichtigerweise hinzu: »Note that the identification of these two antinomic propositions as thesis and antithesis is not made by Kant himself« 168 . Beck weist mit logisch versiertem Blick klarer als Stange und Messer auf die formalen Defizite dieser Kant unterstellten Antinomie hin: 165
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O. Lempp, Das Problem der Theodicee in der Philosophie und Literatur des 18. Jahrhunderts bis auf Kant und Schiller, Leipzig 1910, S. 305 Anm. 2. Mit den »zwei Gesichtspunkten« ist wohl die Disjunktion der beiden Weisen der synthetischen Verbindung von Tugend und Glückseligkeit gemeint. O. Lempp, Das Problem der Theodicee, S. 305 und 310-312. Ob Lempp in seinem Verständnis der Antinomie schon von Stange und Messer beeinflußt ist oder ob es sich um eine eigenständige Interpretationsleistung handelt, ist schwer zu entscheiden; Lempp beruft sich jedenfalls nicht auf sie. - Wahrscheinlich ist ein Einfluß Messers bei Kingeling (s. oben S. 45 f.), in dessen Wiedergabe des antinomischen Problems ebenfalls Kritik an der Darstellungsweise Kants anklingt (wenn auch sehr knapp und in den Einzelheiten undeutlich): W. Kingeling, Die Antinomien in Kants drei Kritiken, S. 140. Kingeling bezieht sich zwar in seiner Interpretation nicht direkt auf Messer, führt ihn aber in seinem Literaturverzeichnis auf (ebd. S. 218). O. Lempp, Das Problem der Theodicee, S. 312. L. W.Beck, A Commentary on Kant's Critique of Practical Reason, Chicago I960, S. 246; deutsche Übersetzung: L.W. Beck, Kants "Kritik der praktischen Vernunft". Ein Kommentar. Ins Deutsche übersetzt von K.-H. Ilting, München 21985, S. 228 f. und S. 300 Anm. 21.
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Thesis und Antithesis bilden keinen kontradiktorischen Gegensatz, beide Seiten sind nicht, wie in der Kritik der reinen Vernunft (A 421/Β 429) gefordert, unabhängig voneinander beglaubigt, und während in der ersten Kritik die Thesis in der noumenalen und die Antithesis in der phänomenalen Welt gilt, gilt hier die Thesis überhaupt nicht: »The whole antinomy is devised and artificial«169. An Stelle der Kantischen Version schlägt er zwei Formulierungen vor, die die Bedingungen einer Antinomie erfüllen und auch besser die Absichten Kants wiedergeben: »I. THESIS: The maxim of virtue must be the cause of happiness. ANTITHESIS: The maxim of virtue is not the efficient cause of happiness«, und eine in Anlehnung an Messer konzipierte, die den Vorzug habe, daß sie das höchste Gut im Zentrum der Aufmerksamkeit lasse: »II. THESIS: The summum bonum is possible. ... ANTITHESIS: The summum bonum is not possible«170. In beiden Fassungen handelt es sich nach Beck um eine »wirkliche« Antinomie, da die Sätze kontradiktorisch und nicht nur konträr sind; jeder Satz formuliere ein nach Kant unvermeidliches moralisches bzw. theoretisches Vernunftinteresse. Zudem zeige die Auflösung dieser Antinomie die von Kant beanspruchte Parallele mit der Freiheitsantinomie in der ersten Kritik, sofern beide Sätze wahr sein können: die Thesis vermittelst einer intelligiblen Welt, die Antithesis »in einer Natur, die bloß Objekt der Sinne ist« (KpVA 207) 171 . Wie für Stange, Messer und Lempp sind auch für Beck mit der korrigierten Fassung noch nicht gravierende Einwände gegen inhaltliche Voraussetzungen der Antinomie der praktischen Vernunft und ihr zentrales Thema, die Idee des höchsten Gutes, ausgeräumt. Von der zentralen Bedeutung, die einige Interpreten (wie ζ. B. v. Hartmann, Kingeling oder Schaeffler) der Dialektik der praktischen Vernunft für das Verständnis der Ethik Kants oder sogar für das kritische System insgesamt zuerkennen, bleibt bei Beck nur noch »really quite a poor thing«, völlig ungeeignet, die große historische und systematische Last zu tragen, die
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L. W. Beck, A Commentary, S. 247 (dt. S. 229). L. W. Beck, A Commentary, S. 247 f. (dt. S. 229 f. und S. 300 Anm. 25), Hervorhebungen im Original. L. W. Beck, A Commentary, S. 248 (dt. S. 230).
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3 Die Antinomie der praktischen Vernunft in der Literatur
Kant ihr in Entsprechung zu den Antinomien der theoretischen Vernunft zuweist 172 . Becks Kritik hat geradezu eine Flut von Publikationen zur Verteidigung der Kantischen Lehre vom höchsten Gut ausgelöst. Dabei verschiebt sich aber zuweilen die Thematik nicht unwesentlich. In der ausführlichen Rezension des Beckschen Kommentars von George A. SCHRÄDER, der auf das Problem des Textverständnisses nicht eingeht und Becks - vom Sachproblem unterschiedene - Lesart der Kantischen Version der Antinomie gar nicht mehr erwähnt, geschieht dies gleich in zweifacher Hinsicht 173 : Erstens versteht Schräder das höchste Gut nicht mehr nur als Harmonie von Tugend und Glückseligkeit, sondern vor allem als die Realisierung einer sittlichen Ordnung in der Welt (»objective state of affairs«). Im Unterschied zu einer Reihe anderer Autoren (z. B. Kaulbach und Delekat) identifiziert Schräder aber nicht einfach beide Bedeutungen oder läßt sie undeutlich ineinander verschwimmen; es ist auch schon eine gewisse Konzession an Beck und seine Kritik an Kant, wenn Schräder eine genuine Dialektik der praktischen Vernunft nur in der zweiten Bedeutung des höchsten Gutes (qua Realisierung der Sittlichkeit in der Welt) entdecken kann; für ihn stellt die mangelnde Koinzidenz von Tugend und Glückseligkeit noch kein wirkliches Problem für die praktische Vernunft dar 174 . Zweitens dreht sich für ihn die Dialektik der praktischen Vernunft nicht um Möglichkeit und Unmöglichkeit des höchsten Gutes überhaupt, sondern spezifischer um das Streben nach dem praktisch Unbedingten und der Endlichkeit der menschlichen Freiheit und des menschlichen Wollens, die das sittliche Streben, gemessen an seinem Einfluß in der Welt, vergeblich erscheinen läßt; auch hier modifiziert Schräder bewußt die Kantische Problemstellung 175 .
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L. W. Beck, A Commentary, S. 246 (dt. S. 228). G. A. Schräder, Basic Problems of Philosophical Ethics, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 46 (1964), S. 102-117, bes. S. 113 ff. G. A. Schräder, Basic Problems of Philosophical Ethics, S. 114 f. G. A. Schräder, Basic Problems of Philosophical Ethics, S. 116.
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Auf Beck bezieht sich auch Yirmiahu YOVEL. Er meint, daß »the careless formulation of the antinomy gave the impression that it is built as follows: thesis - "happiness cannot constitute the cause of virtue"; antithesis - "virtue cannot constitute the cause of happiness"« 176 . Nach ihm vermittelt also der Kantische Text den Eindruck, als ob sich in der Antinomie die negierten Sätze der Disjunktion gegenüberstünden 177 ; daß er mit dieser Variante von der Textinterpretation Becks abweicht, auf den er sich beruft, bemerkt Yovel nicht (jedenfalls vermerkt er es nicht). Er behauptet nicht so definitiv wie die anderen in diesem Abschnitt genannten Autoren, daß die durch die unachtsame Formulierung nahegelegte Leseweise der Antinomie auch tatsächlich Kants Aussageintention entspricht. Deutlich wird dies vor allem bei der Einführung und Kommentierung der korrigierten Fassung der Antinomie: »The real antinomy which Kant has in mind is however this: thesis - "the Highest Good is not possible (since we do not see how either of its heterogeneous constituents can cause, or be synthetized with, the other)"; antithesis - "the Highest Good is possible (since it is a duty and duty implies possibility)". What seems there to be the whole antinomy is only the proof of the thesis in the actual antinomy« 178 . Yovel weist al-
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Y. Yovel, The God of Kant, in: Scripta Hierosolymitana, Vol. XX. Further Studies in Philosophy, hrsg. v. O. Segal, Jerusalem 1968, S. 88-123, hier S. 96 Anm. 8. Diese Version findet sich schon bei K. Vorländer: »Die Antinomie der praktischen Vernunft noch einmal deutlich formuliert: die Glückseligkeit darf nicht das Motiv zur Tugend und die Tugend kann nicht a priori Ursache der Glückseligkeit sein« (K. Vorländer, Einleitung zu: I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Hamburg 1974 [Philosophische Bibliothek Bd. 38, unveränderter Nachdruck der 9. Auflage von 1929]); auch G. Deleuze bietet diese Version an, s. oben S. 19 Anm. 26. Bei Vorländer und Deleuze fehlt aber im Unterschied zu Yovel jeder Hinweis, daß dies keine Antinomie in irgendeinem qualifizierten Sinne sein kann. - Daß weder Tugend noch Glückseligkeit Ursache bei der Realisierung des höchsten Gutes sein können, scheint auch für Peter Müller das antinomische Problem auszumachen; seine Wiedergabe bleibt aber sehr vage und unpräzise, es fehlt auch jede kritische Text- und Sachdiskussion zur Antinomie der praktischen Vernunft: P. Müller, Transzendentale Kritik und moralische Teleologie. Eine Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Transformationen der Transzendentalphilosophie im Hinblick auf Kant, Würzburg 1983, S. 432 f., vgl. 429 f. Y. Yovel, The God of Kant, S. 96 Anm. 8, Hervorhebung von mir. Im Haupttext vertauscht Yovel nicht nur Thesis und Antithesis, sondern spezifiziert beide auch: Thesis »the Highest Good is possible through human action«, Antithesis - »according to the nature of ourfaculties of knowledge we are unable to conceive of the Highest Good as possible« (ebd. S. 101, Hervorhebung im Original; vgl. schon S. 96). Durch den Bezug auf die menschlichen Handlungsmöglichkeiten und unsere Erkenntnisvermögen verlieren die Sätze
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3 Die Antinomie der praktischen Vernunft in der Literatur
so dem, was sich zunächst als Antinomie darzustellen scheint (die beiden Sätzen der Disjunktion bzw. ihre Negationen), eine argumentative Funktion innerhalb der Begründung der »wirklichen« Antinomie zu (ganz ähnlich, wie dies schon E. v. Hartmann und F. Delekat getan haben, ohne daß sie allerdings die Stolpersteine einer scheinbaren Antinomie erwähnen, vgl. oben S. 42 f. und 46 f.). Michael ALBRECHT, der bislang am umfassendsten die Sekundärliteratur zur Antinomie der praktischen Vernunft gesichtet und ausgewertet hat, folgt im wesentlichen der Interpretationslinie, wie sie von Stange, Messer und Beck abgesteckt wurde. Auch für ihn ist es keine Frage, daß Kant die Alternative: »Es muß also entweder die Begierde nach Glückseligkeit die Bewegursache zu Maximen der Tugend, oder die Maxime der Tugend muß die wirkende Ursache der Glückseligkeit sein« als »Antinomie der praktischen Vernunft« bezeichnet hat und diese Disjunktion ihren unmittelbaren Wortlaut darstellt179. Er glaubt deshalb nur den Kantischen Sinn dieser Sätze zu verdeutlichen, wenn er den ersten Satz der Disjunktion als »Thesis« und den zweiten als »Antithesis« bezeichnet, auch wenn Kant selbst, wie Albrecht ebenso wie Beck festhält, diese Begriffe im Antinomiekapitel nicht verwendet180. Darm aber wiederholt und präzisiert er die entscheidenden Einwände gegen eine solche Antinomie, die sich von dem Antinomiebegriff aus ergeben, den Kant in der Kritik der reinen Vernunft zugrunde legt und der nach seiner Intention auch in der Kritik der praktischen Vernunft maßgeblich bleiben soll: Schon oberflächlich betrachtet falle auf, »daß eine auch äußerlich deutliche Gegenüberstellung beider Behauptungen sowie der Beweisführungen für beide Behauptungen, wie dies in der Kritik der reinen Vernunft geschieht, hier nicht zu finden ist«181. Wichtiger ist der Einwand, daß die beiden Behauptungen sich nicht strikt widersprechen, sich also nicht kontradiktorisch zueinander verhalten. Dem schon von
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wieder ihren streng antinomisch-kontradiktorischen Charakter, wie Yovel selber bemerkt: »since the antithesis is not the negation of the thesis but only a suspension of judgement in regard to its content« (ebd. S. 101 Anm. 15). M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 95 und 184, vgl. zum folgenden insgesamt S. 95-107 und S. 183-189. M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 95 f., vgl. S. 184. M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 184, Hervorhebung im Original.
Typ 7: Kritik an Kants Darstellung der Antinomie und Entwicklung einer Alternative
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Stange genannten Grund, daß der Begriff der Ursache in beiden Sätzen der Disjunktion nicht derselbe ist (da im ersten Satz von Bewegursache, im zweiten von wirkender Ursache die Rede ist), fügt Albrecht einen weiteren hinzu: Wo der erste Satz von Begierde nach Glückseligkeit spricht, redet der zweite nur von Glückseligkeit, eine terminologische Differenzierung, die durch den jeweiligen Sinn der Sätze erfordert ist 182 . Zudem sind die beiden Sätze nicht von der gleichen Art und Berechtigung. Die »Thesis«, daß die Begierde nach Glückseligkeit die Bewegursache zu Maximen der Tugend sei, stellt, so Albrecht, im Kern eine moralphilosophische Behauptung auf, die die Gegenposition zu Kants eigener Moralphilosophie ausdrückt. Sie ist »schlechterdings falsch« (KpVA 204, 206); »es gibt keinen Aspekt, Vinter dem im vorliegenden Zusammenhang die Thesis erlaubt oder gar erforderlich wäre (wie die einzelnen Thesen und Antithesen der Antinomie in der Kritik der reinen Vernunft)«. Sie wirkt »wie eine gewollte, sachlich nicht begründete Ausformung des Verhältnisses zwischen Tugend und Glückseligkeit«, und da sie für Kant »nichts weiter als falsche Moralphilosophie ist«, kann es auch keinen Streit zwischen ihr und einer anderen Behauptung geben, so wie zwischen den Thesen und Antithesen der ersten Kritik163. Die Behauptimg der »Antithesis«, daß die Maxime der Tugend die wirkende Ursache der Glückseligkeit sei, ist dagegen nicht unmittelbar moralphilosophischer Natur, sondern sie enthält nach Albrecht »eine aus der Idee des höchsten Gutes folgerichtig abgeleitete Aussage über die Wirklichkeit«184, und in ihr lasse sich in der Tat ein dialektischer Sachverhalt entdecken: Die Erfahrungswelt »soll sich in der Art auf das moralische Verhalten beziehen, daß diesem ein genau "proportionierter" äußerer Zustand des Befindens notwendig folgt«; dabei werde die Vernunftidee des höchsten Gutes, die nicht auf Erfahrung beruhe, sondern a priori feststehe, auf die Welt der Erscheinungen bezogen, »ohne daß die Bedingungen beachtet werden, unter denen Aussagen über Erscheinungen möglich sind«. Damit aber liege »hier einer jener "Vernunftschlüsse" auf ein Unbedingtes vor, "die keine empirischen Prämis182 183 184
M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 96 f. und 184. M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 186, vgl. S. 96,104 f., 184 f., 187. M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 186, vgl. S. 97.
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3 Die Antinomie der praktischen Vernunft in der Literatur
sen enthalten, und vermittelst deren wir von etwas, das wir kennen, auf etwas anderes schließen, wovon wir doch keinen Begriff haben, und dem wir gleichwohl, durch einen unvermeidlichen Schein, objektive Realität geben," und solche Schlüsse nennt Kant in der Kritik der reinen 185 Vernunft (A 339/B 397) dialektische Schlüsse« . Sachlich begründet sei nur eine solche Dialektik, die sich allein in der »Antithesis« niederschlage; die von Kant aufgestellte Antinomie als Widerstreit zwischen »Thesis« und »Antithesis« genüge dagegen bei weitem nicht den Maßstäben, die Kant zufolge anzulegen seien186. Für Albrecht ist es daher unvermeidlich, von einer »Inkongruenz« zwischen Sprachgebrauch (»Antinomie«) und Sachverhalt zu sprechen187; eine Interpretation der Dialektik sei auf eigene ergänzende Überlegungen zum Thema angewiesen188, dazu müsse man sich erst einmal vom irreführenden unmittelbaren Wortlaut und Textsinn lösen. Diesen Unterschied zwischen der bei Kant vorliegenden Antinomie und dem Sachproblem dürfe ein »moderner Bearbeiter« nicht verschweigen, wie eine kritische Bemerkung Albrechts an die Adresse Hans Blumenbergs lautet, der ohne Umweg über die Textdiskussion sich direkt dem »Sachproblem« zuwendet189. Auch Albrecht sieht die Möglichkeit, daß sich das dialektische Sachproblem unschwer in Form einer Antinomie ausdrücken ließe, die »in enger Nachbarschaft zu der Antithetik der Kritik der reinen Ver190 nunft« stünde , so wie das Stange, Messer und Beck in ihren Revisionen der Antinomie vorgeschlagen haben; und er meint sogar, daß die Schwierigkeiten der Textinterpretation »nicht zuletzt daher zu rühren« scheinen, »daß die in der Tat vorhandene Verwandtschaft der Probleme sich nicht in einer entsprechend parallel formulierten Antithetik niederschlägt« 191 . Aber anders als etwa Yovel beharrt er darauf, daß Kant selbst nun einmal eine andere Antinomie aufgestellt und, so muß man Albrecht wohl verstehen, auch gemeint habe; die Nachbesserungsversuche bleiben für ihn »im Rahmen einer Textinterpretation ... Speku185 186 187 188 189 190 191
M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 101-103., vgl. S. 120,186, Hervorhebung im Original. M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 186 f., vgl. S. 95,101,105-107. M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 105 f., vgl. S. 41. M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 95. M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 107 Anm. 329. M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 104 Anm. 322, vgl. S. 109 und 111. M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 106 Anm. 328, vgl. S. 105 Anm. 325 und S. 186.
Typ 8: Rehabilitierung der Disjunktion als Antinomie der praktischen Vernunft
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lation«, »da das Quellenmaterial zu der Frage, warum Kant die "Antinomie der praktischen Vernunft" nicht auf diese Weise aufstellte, nichts hergibt« 192 . Die Frage, worin bei Kant die Antinomie der praktischen Vernunft besteht, erfordert nach Albrecht also eine sehr differenzierte Antwort.
3.9 Typ 8: Ein Versuch zur Rehabilitierung der Disjunktion als Antinomie der praktischen Vernunft Die Autoren der 7. Gruppe ziehen eine klare Trennungslinie zwischen einer Antinomie, wie sie vom Text suggeriert wird und nach Ansicht der meisten Autoren wohl auch von Kant gemeint ist, und einer (wenigstens der Form nach) »wirklichen« Antinomie oder Dialektik, und sie üben deutlich Kritik an der Kantischen Darstellung der Antinomie der praktischen Vernunft. Alle Bedenken, die gegen die Disjunktion in ihrer Funktion als Antinomie geltend gemacht wurden, finden sich auch in der Arbeit von Victoria S. WIKE; aber sie möchte gegen die Kritik, wie sie insbesondere von L.W. Beck formuliert wurde (vgl. oben S. 66 f.), zeigen, daß man die Disjunktion sehr wohl als Antinomie verstehen könne. Keiner eigenen Diskussion bedarf es auch für Wike, daß Kant unter der Antinomie der praktischen Vernunft jene Gegenüberstellung der beiden Weisen der synthetisch-kausalen Verknüpfung verstanden hat: »Kant states the practical antinomy concisely: "the desire for happiness must be the motive to maxims of virtue, or the maxim of virtue
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M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 104 Anm. 322, vgl. S. 187. - Eine Reihe von Autoren hat inzwischen Albrechts Lesart des Antinomiekapitels und seine Interpretation des von der Kantischen Darstellung abgehobenen dialektischen Sachproblems übernommen, so z. B. H. Huber, Die Gottesidee bei Immanuel Kant, in: Theologie und Philosophie 55 (1980), S. 1-43 und S. 230-249, hier S. 29-43; H. Hoping, Freiheit im Widerspruch. Eine Untersuchung zur Erbsündenlehre im Ausgang von Immanuel Kant, Innsbruck-Wien 1990, S. 170; G. B. Sala, Kant und die Frage nach Gott. Gottesbeweise und Gottesbeweiskritik in den Schriften Kants, Berlin · New York 1990, S. 401-411; ders., Wohlverhalten und Wohlergehen. Der moralische Gottesbeweis in den Schriften Kants, in: Theologie und Philosophie 68 (1993), S. 182-207, hier S. 194 Anm. 16; R. Wimmer, Kants kritische Religionsphilosophie, S. 62-66.
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3 Die Antinomie der praktischen Vernunft in der Literatur
must be the efficient cause of happiness"«193. Auch sie weist von Anfang an darauf hin, daß diese Antinomie auffällig von der Struktur der Antinomien der theoretischen Vernunft (und auch der ästhetischen und teleologischen Urteilskraft) abweicht. Wie Beck und Albrecht (dessen Arbeit sie allerdings nicht berücksichtigt) macht sie deutlich, daß die beiden Sätze der Disjunktion sich nicht strikt, d. h. kontradiktorisch widersprechen194. Die Liste der Gründe gegen einen kontradiktorischen Gegensatz der Sätze bereichert sie sogar um weitere Nuancen: Kant rede im ersten Satz von der Begierde nach Glückseligkeit als Ursache und im zweiten von der Maxime der Tugend als Ursache; es sei aber zweifelhaft, ob Begierde und Maxime in einer analogen Weise Ursache sein könnten195. Außerdem vermisse man die für die Thesen und Antithesen der ersten Kritik (mit Ausnahme der Thesis der vierten Antinomie196) charakteristischen apagogischen Beweise 197 . Berücksichtige man alle diese strukturellen Unterschiede, so fehle in formaler Hinsicht überhaupt jeder Konflikt zwischen den Sätzen der Disjunktion198. Denn logisch spreche nichts dagegen, daß beide Sätze wahr sein können199. Die Urteile sind also von ihrer formalen Struktur her nicht einmal konträr. Auch daß mindestens einer wahr sein muß und nicht beide falsch sein können, ergibt sich nur aus der vorausgesetzten Bedingung, unter der die Disjunktion steht, daß nämlich zwischen Tugend und Glückseligkeit eine Kausalrelation bestehen soll; nur unter dieser Bedingung ist die Disjunktion vollständig200. Kant tue deshalb nur gut daran, wenn er die bei193
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V. S. Wike, Kant's Antinomies of Reason. Their Origin and Their Resolution, Washington 1982, S. 122, vgl. S. 8,16, 26,117,126,132. Diese Arbeit ist identisch mit: V. A. Shanower, Kant's Antinomies of Reason. Their Origin and Their Resolution, Diss. The Pennsylvania State University 1979 (mit anderer Seitenzählung und mit einem zusätzlichen Abstract versehen, S. iii-v). Vgl. bes. V. S. Wike, Kant's Antinomies of Reason, S. χ, 1,16 f., 126 ff., 129,154 f. V. S. Wike, Kant's Antinomies of Reason, S. 131 f. Die vierte Antinomie nimmt auch hinsichtlich anderer Merkmale eine Sonderstellung ein, Thesis und Antithesis sind ζ. B. nicht streng kontradiktorisch, die Größer-Kleiner-Relationen zwischen kosmologischer Idee und Verstandesbegriff sind in Thesis und Antithesis vertauscht (KrVA 486 ff./B 514 ff.), vgl. V. S. Wike, Kant's Antinomies of Reason, S. 22 f., 53-62, 91-93. V. S. Wike, Kant's Antinomies of Reason, S. x, 26 ff. V. S. Wike, Kant's Antinomies of Reason, S. 130,132. V. S. Wike, Kant's Antinomies of Reason, S. 127 f. V. S. Wike, Kant's Antinomies of Reason, S. 26,127-129. Die beiden Sätze für sich lassen also formallogisch alle denkbaren Kombinationen der Wahrheitswerte zu.
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den Behauptungen (»assertions«) der praktischen Antinomie nur Sätze (»propositions«) nenne und nicht auch Thesis und Antithesis wie die Behauptungen der theoretischen Antinomien201. Anders als Beck und Albrecht verzichtet Wike bewußt darauf, durch eine antithetische Strukturierung (vermeintliche) Kantische Intentionen und Ansprüche zu verdeutlichen. Obwohl Wike auf diese Weise eher noch schärfer hervorhebt, daß es sich bei der Disjunktion nicht um eine Antinomie im strengen Sinne handelt, legt man die Kriterien der Kritik der reinen Vernunft zugrunde, versucht sie auf der anderen Seite, der so verstandenen Antinomie eine sachliche Bedeutung zu geben, die sie den theoretischen Antinomien in wichtigen Hinsichten vergleichbar macht. Albrecht hatte in seiner Kritik der Kantischen Darstellung der Antinomie bemerkt, daß es »verständlich« sei, »wenn in der zeitgenössischen Auseinandersetzung mit Kants Gedankengang die Thesis [sc. der erste Satz der Disjunktion] völlig übergangen wird« 202 . Nun aber sollen beide Sätze der Disjunktion qua Antinomie wieder einen funktionalen Wert erhalten. Die praktische Antinomie hat nach Wike ihren begrifflichen Ursprung in derselben Zweideutigkeit des Begriffs des Unbedingten, die auch schon bei den theoretischen Antinomien eine entscheidende Rolle spielte. In den Thesen der theoretischen Antinomien werde das Unbedingte jeweils als das höchste Glied einer Reihe gedacht, dem alle anderen Glieder untergeordnet seien und das selbst unter keiner weiteren Bedingung mehr stehe, in den Antithesen dagegen als die gegebene unendliche Reihe als Ganze, wobei alle einzelnen Glieder bedingt seien203. Die 201 202 203
V. S. Wike, Kant's Antinomies of Reason, S. 16 f. M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 107 Anm. 329. V. S. Wike, Kant's Antinomies of Reason, S. 47-53 (die vierte Antinomie fällt auch hier aus dem Schema, vgl. ebd. S. 56 und 61; s. auch oben S. 74 Anm. 196). Wike macht hier Ausführungen Kants in Kr VA 417 f./B 445 f. zum Leitgedanken ihrer Interpretation, ohne den möglichen Status der zwei »Definitionen« des Unbedingten hinreichend zu klären; erläuterungsbedürftig wäre natürlich gerade unter Kantischen Prämissen der Ort des Begriffs des Unbedingten im Sinne einer gegebenen unendlichen Reihe, in dem alle einzelnen Glieder bedingt sind. Handelt es sich hier um eine reine Vernunftidee des Unbedingten? Wike erweckt den Eindruck (oder vermeidet ihn jedenfalls nicht), als ob die Antinomien schon dadurch entstünden, daß zwei gleichermaßen mögliche Definitionen des Unbedingten als reine Vernunftbegriffe im Widerstreit miteinander stehen, und nicht erst dadurch, daß die Vemunftidee des Unbedingten auf Erscheinungen angewandt wird, wie es bei Kant der Fall ist (vgl. Kr VA 416 f./B 443 f). Problematisch ist auch die Behauptimg
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Zweideutigkeit im Begriff des Unbedingten findet nach Wike eine exakte Entsprechung in einer Zweideutigkeit im Begriffe des Höchsten, von der Kant in der Kritik der praktischen Vernunft spreche: Hier könne das Höchste nämlich »das Oberste (supremum) oder auch das Vollendete (consummatum) bedeuten. Das erstere ist diejenige Bedingung, die selbst unbedingt, d. i. keiner anderen untergeordnet ist (originarium); das zweite dasjenige Ganze, das kein Teil eines noch größeren Ganzen von derselben Art ist (perfectissimum)« (KpVA 198) 204 . Wike sieht nun, daß die Zweideutigkeit im Begriff des Höchsten die Antinomie der praktischen Vernunft nicht in derselben direkten Weise wie die theoretischen Antinomien strukturiert, in dem Sinne, daß der eine Satz der Disjunktion die erste Bedeutung und der andere Satz die zweite Bedeutung des Höchsten repräsentierte205. Dennoch meint sie, daß es auch in der Kritik der praktischen Vernunft die Zweideutigkeit in der Idee des Unbedingten sei, »which is the motivating force behind the conflicts of reason with itself« 206 , »the antinomy, which concerns the connection between virtue and happiness, is made necessary by the ambiguity in the concept of the highest good«207, und zwar über folgende beiden Schritte: (1) Zunächst werde die Zweideutigkeit aufgelöst, indem gezeigt werde, daß das höchste Gut für ein endliches vernünftiges Wesen das vollendete Gut als Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit sei, die Tugend aber zugleich die oberste Bedingung sei (KpVA 198 f.). Kant verknüpfe so in der Kritik der praktischen Vernunft die beiden Definitionen des Unbedingten, die sich in der ersten Kritik wechselseitig ausschlossen. Die Auflösung der dritten und vierten theoretischen Antinomie ha-
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Wikes, daß die Zweideutigkeit im Begriff des Unbedingten ihrerseits aus der Schwierigkeit der Vernunft herrühre, klar zwischen der absoluten Totalität (nach Wike eine Kategorie, wohl mit Blick auf die Kategorie der Allheit; Kant selbst spricht in diesem Zusammenhang von der »Idee der absoluten Totalität«, Kr VA 416 ff./B 443 ff., Hervorhebung von mir) und der Idee des Unbedingten zu unterscheiden (ebd. S. 48 f., vgl. S. 113 f.). Vgl. V. S. Wike, Kant's Antinomies of Reason, S. 117 ff. V. S. Wike, Kant's Antinomies of Reason, S. x, 120-124.; vgl. zum folgenden insgesamt S. 112-126. V. S. Wike, Kant's Antinomies of Reason, S. 125 f.; vgl. S. 117 f.: Kant »implies that a confusion about the idea of the unconditioned lies at the base of the practical antinomy«, ferner S.x, 11, 162. V. S. Wike, Kant's Antinomies of Reason, S. 121, vgl. S. 162.
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be schon gezeigt, daß beide Sätze und damit die ihnen zugrundeliegenden Definitionen des Unbedingten wahr sein können, indem man sie getrennten Bereichen, der noumenalen und phänomenalen Welt, zuweise 208 ; nun aber bildeten beide Definitionen im »Gegenstand des Begehrungsvermögens vernünftiger endlicher Wesen« sogar eine Einheit209: »The task of the practical reason, understood as a continuation of the task of theoretical reason, is to reconcile these two definitions of the unconditioned«210. Der praktischen Antinomie liege daher ein konkreterer Begriff des Unbedingten zugrunde, so daß man sie als »a more highly evolved antinomy« betrachten könne, die einen Fortschritt gegenüber den theoretischen Antinomien darstelle, auf denen sie gleichwohl aufbaue211. (2) Die Bestimmung des höchsten Gutes als Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit führe nun beim Versuch, diese Verbindung näher zu bestimmen, zur praktischen Antinomie: »The antinomy arises as an attempt to determine precisely what type of synthetic connection is possible between virtue and happiness«212. Das Ziel der Antinomie sei es daher, »to discover what type of causal relationship links virtue and happiness. Thus, the two propositions in the antinomy assert a causal connection between virtue and happiness«213. In den beiden Sätzen der 208 Wenn Wike in diesem Zusammenhang auch die vierte Antinomie nennt (Kant's Antinomies of Reason, S. 133), übersieht sie, daß nach ihren eigenen Feststellungen hier die Zuordnung der beiden Definitionen des Unbedingten zu Thesis und Antithesis nicht möglich ist, vgl. oben S. 75 f. Anm. 203. Ungeklärt bleibt bei Wike auch, in welchem Sinne die Auflösung der Freiheitsantinomie die Antithesis, die ja ihre Gültigkeit allein in der Anwendung auf die durchgängig bedingte Erscheinungswelt hat, als eine Definition des Unbedingten wahr machen kann (vgl. auch Kant's Antinomies of Reason, S. 100). 209 V. S. Wike, Kant's Antinomies of Reason, S. 124 f., 132-134. 2 1 0 V. S. Wike, Kant's Antinomies of Reason, S. 134, vgl. S. 119,121,124,133. 211 V. S. Wike, Kant's Antinomies of Reason, S. 132 f., vgl. S. 99,105 212 V. S. Wike, Kant's Antinomies of Reason, S. 140, vgl. S. 121. 213 V. S. Wike, Kant's Antinomies of Reason, S. 126, vgl. S. 26,121,125,140, 165. An einigen Stellen beschreibt Wike die Funktion der Antinomie etwas anders: »The purpose of the antinomy in the second Critique is to establish the practical possibility of the highest good. Kant states that the maxims of virtue and the maxims of happiness jointly make possible the highest good. The point of the antinomy is to discover what relationship between these maxims provides a principle for practical reason and insures the concept of the highest good. ... Therefore, the assertions of the practical antinomy contain principles about the relationship between maxims. ... The principles that propose a relationship between the maxims of virtue and happiness have the express purpose of revealing how the maxim of virtue has objective reality, and consequently how a practical principle can be
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Antinomie gehe es also um eine adäquate Definition des höchsten Gutes214. Auch wenn man Wikes mehrfachen Hinweis beachtet, daß es sich hier im Unterschied zu den theoretischen Antinomien nur um einen sehr indirekten Zusammenhang zwischen Zweideutigkeit und Antinomie handeln kann 215 , ist ihre Rekonstruktion aus mehreren Gründen wenig plausibel: (1) Die von Wike behauptete »exakte Entsprechung« der beiden Bedeutungen des Höchsten zu den beiden »Definitionen« des Unbedingten in der ersten Kritik216 besteht nicht, wenn man die Begriffe genau nimmt. In der Kritik der reinen Vernunft wurde das Unbedingte, das nach Wike dem vollendeten Gut entsprechen soll, als gegebene unendliche Reihe gedacht, in der alle Glieder ohne Ausnahme bedingt sind und nur die Reihe als ganze unbedingt ist (vgl. KrVA 417/B 445). Bei der Frage nach dem höchsten Gut spielt aber das Problem unendlicher Reihen und ihrer Synthesis keine erkennbare Rolle; auch sind hier nicht alle Glieder bedingt, vielmehr ist die Tugend das »oberste Gut«, das »weiter keine Bedingung über sich hat« (KpVA 199). Eine gewisse Vergleichbarkeit liegt allein in der Idee (oder nach Wike: der Kategorie) der Totalität; als reiner Vernunftbegriff impliziert sie aber weder die Unend-
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constitutive of experience« (ebd. S. 8, Hervorhebungen von mir). Die falsche Definition des höchsten Gutes als Verknüpfung von Maximen der Tugend mit Maximen der Glückseligkeit und die daraus folgende falsche Bestimmung der Antinomie (»The antinomy has to do with a relationship between the maxims of virtue and happiness«, ebd. S. 117) ersetzt Wike an anderen Stellen durch korrekte Angaben. Vgl. V. S. Wike, Kant's Antinomies of Reason, S. 25 f., 114,117,121,125,140. Vgl. V. S. Wike, Kant's Antinomies of Reason, S. 112,119 ff. Wikes Formulierungen sind aber teilweise widersprüchlich, vgl. z. B. »Thus, the structure of the practical antinomy, as a conflict between two statements of causal connection, can be seen to directly follow from the ambiguity present in the concept of the highest good« (ebd. S. 123) mit »The practical antinomy owes its structure not directly to the ambiguity between two types of the highest good but to reason's attempt to explicate the nature of the adequate sense of the highest good« (ebd. S. 124), oder: »... the ambiguity in the object of practical reason is not structurally analogous to the ambiguity in the object of theoretical reason« (ebd. S. 120), im Schlußkapitel heißt es dagegen ziemlich unvermittelt: »In a sense then, the ambiguity which grounds the theoretical antinomies can be used in an analogous way as a mode of explaining the origin of the practical antinomy« (ebd. S. 162, alle Hervorhebungen von mir). V. S. Wike, Kant's Antinomies of Reason, S. 115: »It is also evident that these two senses of the highest good are exact correlates to the two senses of the unconditioned in the first Critique«.
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lichkeit der Reihe noch die durchgängige Bedingtheit ihrer Glieder, und der Ausgang von der Idee der Totalität lag beiden »Definitionen« des Unbedingten in der ersten Kritik zugrunde 2 1 7 . Man kann daher auch nicht davon sprechen, daß Kant die beiden »Definitionen« im Begriff des höchsten Gutes miteinander verbinde; sie schließen sich nach wie vor wechselseitig aus: Entweder sind alle Glieder bedingt, dann kann es kein unbedingtes Erstes geben, oder es gibt ein solches, dann sind nicht alle Glieder bedingt. Die von Wike beanspruchten »präzisen Vergleiche« zwischen den Antinomien der ersten und zweiten Kritik und ihre Schlußfolgerungen daraus bezüglich der zentralen Rolle der Mehrdeutigkeit der Grundbegriffe bei der Entstehung der Antinomien 218 sind also nicht zu halten. (2) In eins mit der Auflösung der Zweideutigkeit im Begriff des Höchsten, die, wie Wike selbst mit Nachdruck betont, schon vor der Antinomie erfolgt 2 1 9 , wird auch schon ganz eindeutig geklärt, daß im höchsten Gut allein die Tugend die oberste Bedingung sein kann, wie »in der Analytik bewiesen worden« ist, und daß diesem sittlichen Prioritätsverhältnis gemäß auch allein die Tugend die Ursache der Glückseligkeit sein kann und nicht umgekehrt (vgl. KpVA 198-200). Anders als bei den Antinomien in der Kritik der reinen Vernunft, die »einen natürlichen und unvermeidlichen Schein bei sich« führen (KrV A 422/Β 449), veranlaßt die mangelnde Achtsamkeit auf die Zweideutigkeit im Begriff des Höchsten auch nur »unnötige Streitigkeiten« ( K p V A 198, Hervorhebung von mir). Wike selbst bemerkt: »In a sense then, the ambiguity in the concept of the highest good is the result of an error rather than indicative of an unresolvable confusion« 220 . Auch unter diesem Gesichtspunkt ergibt sich also für eine Interpretation keine tragfähige Parallele. Noch vor Aufstellung und Auflösimg der Antinomie der praktischen Vernunft ist das höchste Gut begrifflich adäquat bestimmt; es besteht in dieser Hinsicht kein Klärungsbedarf mehr. Nach den eindeu-
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Vgl. JÖ-VA416 ff./B 443 ff.; s. auch oben S. 75 f. Anm. 203. V. S. Wike, Kant's Antinomies of Reason, S. 166: »this investigation showed that precise comparisons can be drawn among the antinomies and that certain conclusions follow from those comparisons«. Vgl. V. S. Wike, Kant's Antinomies of Reason, S. x, 118-121,124 f. V. S. Wike, Kant's Antinomies of Reason, S. 119.
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tigen Definitionen ist nicht mehr einzusehen, wie sich auch nur indirekt in der Antinomie auf problemhaltige Weise die beiden Bedeutungen des höchsten Gutes widerspiegeln, wie Wike behauptet221. Wenn die Disjunktion der kausalen Verknüpfungsweisen von Tugend und Glückseligkeit im Antinomiekapitel einen argumentativen Wert hat, dann kann er jedenfalls nicht darin bestehen, daß sie eine noch offene Alternative bei der »Bestimmung des Begriffs vom höchsten Gut« formuliert. (3) Um die Anwendimg des Antinomiebegriffs auch auf die Disjunktion zu rechtfertigen, ist Wike gezwungen, wesentliche Merkmale des Antinomiebegriffs der ersten Kritik (wie den kontradiktorischen Widerstreit und Beweise für beide Sätze) aufzugeben. Sie selbst betont immer wieder die strukturelle Einzigartigkeit (»structural uniqueness«) der Antinomie der praktischen Vernunft222. Statt aber daraus wie L.W. Beck die naheliegende Konsequenz zu ziehen, daß eine Antinome in irgendeinem relevanten Sinne hier nicht vorliegt223, meint sie, Kant behaupte nicht, daß die theoretischen Antinomien auch den Maßstab für die praktische Antinomie abgäben; Beck versäume es seinerseits, in Kantischen Begriffen verständlich zu machen, warum die praktische Antinomie überhaupt eine Antinomie genannt werde224. Wike selbst gelingt dies aber auch nur, indem sie den Antinomiebegriff sehr weit, bis an die Grenze bloß noch äquivoker Bedeutungen faßt. Die Besonderheit der praktischen Antinomie spiegelt sich für Wike auch in ihrer Auflösung wider. Im Vergleich der theoretischen und praktischen Antinomien gibt es ebenfalls mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten225, Wike spricht sogar von einer »complete dissimilarity between the resolutions of the two types of antinomies«226. In der Darstellung der Auflösimg geht sie wiederum eigene Wege. Aufgelöst werde die praktische Antinomie in zwei Schritten: Die erste Lösung bestehe darin, daß Kant beide Sätze für falsch erkläre 227 ; die Auflösung 221 222 223 224 225
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V. S. Wike, Kant's Antinomies of Reason, S. 125. Vgl. ζ. Β. V. S. Wike, Kant's Antinomies of Reason, S. 33 f., 122,129. Vgl. L. W. Beck, A Commentary, S. 246 (dt. S. 229). V. S. Wike, Kant's Antinomies of Reason, S. 155. V. S. Wike, Kant's Antinomies of Reason, S. 156, zur Auflösung der praktischen Antinomie vgl. insgesamt S. 31-33,139-158. V. S. Wike, Kant's Antinomies of Reason, S. 112. V. S. Wike, Kant's Antinomies of Reason, S. 31,141-144,148 f., 157.
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beginnt für Wike damit schon im Antinomiekapitel (KpVA 204 f.), nicht erst in dem Abschnitt, der im Titel die »kritische Aufhebung« ankündigt (Kp V A 205 ff.) 228 . Dieser erste Schritt stimme zwar in gewisser Weise mit der Aufhebung der mathematischen Antinomien überein, sofern sich auch hier beide Behauptungen als falsch erwiesen229, aber beide Antinomientypen und ihre Aufhebungen seien nicht wirklich strukturell analog, da bei der praktischen Antinomie die apagogischen Beweise für beide Seiten fehlten230. Leider versäumt es Wike zu sagen, in welchem Sinne dieses »initial solving of the antinomy by showing both sides to be impossible« 231 überhaupt eine Auflösung sein kann. Denn diese Lösung beinhaltet entweder zuviel oder zuwenig: Zuviel, sofern bei dieser Form der »Antinomie«, deren Sätze weder kontradiktorisch noch konträr sind, anders als bei dem kontradiktorischen Widerstreit der theoretischen Antinomien formal überhaupt kein Konflikt vorliegt, der aufgelöst werden müßte. Zuwenig, sofern diese »Auflösung« dem praktischen Interesse, das die Vernunft an der Möglichkeit des höchsten Gutes hat, nicht gerecht wird; denn wenn beide Weisen der synthetischen Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit unmöglich sind, bedeutet das, daß das höchste Gut nicht möglich ist, dessen Verwirklichung das moralische Gesetz doch zur Pflicht macht. Das zweite Problem sieht nun auch Wike 232 , und in diesem Zusammenhang entdeckt sie eine weitere Antinomie, oder, wie sie es nennt, »an antinomy within an antinomy«233. Sie unterscheide sich von der ersten dadurch, daß die Möglichkeit des höchsten Gutes nun als gegeben (wahr) behauptet werde, die in der ersten Antinomie nur hypothetisch angenommen worden sei 234 . Erst diese modifizierte Version der praktischen Antinomie, »which Kant apparently considers to be the "real"
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V. S. Wike, Kant's Antinomies of Reason, S. 142. V. S. Wike, Kant's Antinomies of Reason, S. 31,141,144. V. S. Wike, Kant's Antinomies of Reason, S. 31-34. V. S. Wike, Kant's Antinomies of Reason, S. 142. V. S. Wike, Kant's Antinomies of Reason, S. 140 ff. V. S. Wike, Kant's Antinomies of Reason, S. 144, vgl. S. χ. V. S. Wike, Kant's Antinomies of Reason, S. 143 f. Nach Wike behauptet Kant im Antinomiekapitel noch nicht die Möglichkeit des höchsten Guts.
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practical antinomy« 235 , werde auf die Weise aufgelöst, die Kant in der »kritischen Aufhebung« beschreibe: »Der erste von den zwei Sätzen, daß das Bestreben nach Glückseligkeit einen Grund tugendhafter Gesinnung hervorbringe, ist schlechterdings falsch; der zweite aber, daß Tugendgesinnung notwendig Glückseligkeit hervorbringe, ist nicht schlechterdings, sondern ... nur bedingterweise falsch« (KpVA 206, Hervorhebungen im Original), und indem der zweite Satz möglicherweise wahr ist, entspreche diese Lösimg auch dem Interesse der praktischen Vernunft am höchsten Gut. Wike nutzt nicht (und sieht nicht?) wie Beck (dessen Kommentar sie benutzt!) und andere die Möglichkeit, dem »eigentlichen« Konflikt der zweiten Antinomie (zwischen der Behauptung der Unmöglichkeit des höchsten Gutes und seiner praktisch geforderten Möglichkeit) eine antithetische Struktur zu geben, die auch von der Form her den Kriterien einer Antinomie genügt und in gewisser Parallele zu den theoretischen Antinomien der Kritik der reinen Vernunft steht. Sie setzt sich auch nicht mit Becks Neufassung der Antinomie auseinander; sie weist nur seine Kritik an Kant zurück. Das ist zunächst etwas überraschend, weil ihre eigenen Analysen auf eine antithetische Form hinauszulaufen schienen 236 . Aber sie hat sich den Weg durch ihr Verständnis der Auflösimg der Antinomie versperrt; denn sie hätte sonst den merkwürdigen Umstand zu erklären gehabt, daß eine Antinomie, die allen formalen Kriterien einer »wirklichen« Antinomie genügt, als Resultat der Auflösung einer anderen »Antinomie« entsteht, ein Umstand, der allerdings auch hätte Anlaß sein können, ihre großzügige Verwendung des Antinomiebegriffs noch einmal zu überdenken. Weil Wike die von Beck und anderen vorgeschlagene »wirkliche« Antinomie nicht in Betracht zieht, hat sie später ähnlich wie V. Delbos (siehe oben S. 17) die größten Schwierigkeiten, die von Kant behauptete Parallele der Auflösung der Antinomie
235 236
V. S. Wike, Kant's Antinomies of Reason, S. 144. So hält sie als Ergebnis der ersten Auflösung fest, die sie in formaler Notation rekonstruiert hatte: » ~ C« (wobei »C« für »concept of the highest good« steht), und setzt dem das kontradiktorische »Yet, C« entgegen; aber für Wike ist das »Yet, C« erst das Ergebnis der zweiten (»kritischen«) Außebung, in der die theoretische Vernunft die Möglichkeit des höchsten Gutes einräumt, nicht die notwendige Hypothesis der praktischen Vernunft (V. S. Wike, Kant's Antinomies of Reason, S. 143 f., vgl. auch schon S. 26).
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der praktischen Vernunft mit derjenigen der Freiheitsantinomie (KpV A 205 f.) zu verifizieren237. Sie muß Kant sogar verdächtigen, daß er die Beziehungen zwischen den Auflösungen der theoretischen und praktischen Antinomien zu stark vereinfache 238 . Denn gerade die Parallele, die sich, wie L.W. Beck gezeigt hat, für die korrigierte Fassung der Antinomie relativ problemlos ergibt 239 , muß Wike entschieden bestreiten: daß beide Sätze der Antinomie durch die Unterscheidung von intelligibler und phänomenaler Welt wahr sein können 240 ; sie beschränkt die Übereinstimmung allein auf das gemeinsame Thema der Freiheit241. Wikes Absicht, gegen alle Einwände die Disjunktion als praktische Antinomie zu rehabilitieren, die »präzise Vergleiche« mit den theoretischen Antinomien erlaubt, muß im wesentlichen als gescheitert gelten. Ihre These, daß die Antinomien der ersten und zweiten Kritik in einer analogen Zweideutigkeit des Unbedingten ihren Ursprung haben, läßt sich nicht halten, und die von ihr betonten zahlreichen Besonderheiten der praktischen Antinomie und ihrer Auflösung sind eher geeignet, die Vermutung zu stützen, daß die ganze Antinomie der praktischen Vernunft ein ausgesprochen künstliches Erzeugnis sei, hineingezwängt in das kritische System, um seiner Architektonik zu genügen, als daß sie einen solchen Verdacht zerstreuen könnten242.
3.10
Typ 9: Eine andere Lesart des Antinomiekapitels
Von Beginn der Kantrezeption an gibt es eine Lesart, die dem Kantischen Text direkt und wie selbstverständlich das als antinomisches Problem entnimmt, was die Autoren der 7. Gruppe nur als Korrektur des Textverständnisses, wie es von Kant selbst nahegelegt scheint, gelten
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242
V. S. Wike, Kant's Antinomies of Reason, S. 150 ff. V. S. Wike, Kant's Antinomies of Reason, S. 151. L. W. Beck, A Commentary, S. 248 (dt. S. 230), vgl. oben S. 67. V. S. Wike, Kant's Antinomies of Reason, S. 151-155. V. S. Wike, Kant's Antinomies of Reason, S. 155 f. Wike bezieht sich hier auf KpV A 205, wonach mit der Möglichkeit des höchsten Gutes auch die Gültigkeit des moralischen Gesetzes auf dem Spiel steht; das moralische Gesetz ist aber der Erkenntnisgrund der objektiven Realität der Freiheit (vgl. KpVA4 f.). So das Urteil des Rezensenten A. Broadie, in: Kant-Studien 75 (1984), S. 107 f., hier S. 108.
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3 Die Antinomie der praktischen Vernunft in der Literatur
ließen. Auffallend häufig findet sich diese Lesart in den ersten zehn Jahren nach dem Erscheinen der Kritik der praktischen Vernunft (1788). So stößt man z. B. bei Karl Heinrich HEYDENREICH (1794) auf eine Auslegung der Antinomie der praktischen Vernunft, die wie eine vorweggenommene Widerlegung dessen klingt, was Wike noch zum Problem der Dialektik machen zu können glaubt: »In der reinen praktischen Vernunft selbst findet kein Widerstreit Statt; sie ist über ihr Gesetz vollkommen mit sich einig. Eben so wenig ist sie daher unentschieden, worinn sie das höchste Gut setzen solle; sie muss vielmehr ihrer Natur nach, Tugend und Glückseligkeit in Harmonie, für das höchste und vollendete Gut aller vernünftig endlichen Wesen erklären. Nur dann geräth sie in Widerstreit, wenn es darauf ankommt, die Möglichkeit der Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit zu begreifen; in Widerstreit, wiefern sie auf der einen Seite das höchste Gut anzuerkennen gezwungen ist, auf der andern, wegen der anscheinenden Unmöglichkeit desselben in Gefahr ist, es aufgeben zu müssen«243, wobei die Aufgabe des höchsten Gutes zur Folge hätte, daß »auch das ganze moralische Gesetz für ungültig« erklärt werden müßte244. Dieser Widerstreit zwischen der geforderten Möglichkeit und der behaupteten Unmöglichkeit des höchsten Gutes entsteht nach Heydenreich, wie er an anderer Stelle präzisiert, zwischen der »moralische[n] Vernunft, im Bewustseyn ihres Gesetzes, und ... [der] theoretische[n], welche den Endzweck eines einem solchen Gesetze untergeordneten endlichen Wesens zu ergründen, gedrungen ist«, ist also für ihn trotz entsprechender Formulierungen Kants (vgl. KpV A 196 und 207) kein Widerstreit der praktischen Vernunft mit sich selbst245. 243
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K. H. Heydenreich, Propaedeutick der Moralphilosophie nach Grundsätzen der reinen Vernunft. 3 Teile, Leipzig 1794,3. Teil S. 15 f., vgl. S. 36 und 2. Teil S. 190 f. K. H. Heydenreich, Propaedeutick der Moralphilosophie, 2. Teil S. 190. K. H. Heydenreich, Propaedeutick der Moralphilosophie, 2. Teil S. 202. In diesem Sinne hatte schon 1792 Johann Gottlieb Fichte in seinem Versuch einer Critik aller Offenbarung von einem »Widerspruch zwischen theoretischer und practischer Vernunft« gesprochen, ohne aber explizit den Bezug zur Dialektik und Antinomie der praktischen Vernunft herzustellen: Johann Gottlieb Fichte-Gesamtausgabe Abt. I, Bd. 1, hrsg. von R. Lauth und H. Jacob unter Mitwirkung von M. Zahn und R. Schottky, Stuttgart-Bad Cannstatt 1964, S. 27 f. - Ohne wirkliche Anhaltspunkte im Text ist der Eindruck M. Albrechts (Kants Antinomie, S. 102 Anm. 317), bei Heydenreich scheine es fast so, als handle es sich bei dem Widerstreit nicht um eine Dialektik der Vernunft, sondern um einen »Streit mit einem Gegner (wie z. B. der Sinnlichkeit...)«, so daß Heydenreich mit seinem Verständnis der Antinomie nur längst geklärte Fragestellungen der Analytik der Kritik der praktischen Vernunft
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Andere Autoren aus dieser Zeit machen die argumentative Struktur des Kantischen Textes noch transparenter und verdeutlichen den antinomischen Sachverhalt durch die antithetische Gegenüberstellung von Thesis und Antithesis. Lazarus BENDAVID (1796) ζ. B. referiert zunächst unter der Überschrift »Thesis« Kants Begründungen dafür, daß das höchste Gut (1) als das größte Ganze seiner Art (und nicht nur als oberste Bedingung einer Reihe) und (2) in dieser Bedeutung als synthetisch-kausale (und nicht als analytische) Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit gedacht werden muß246 (vgl. KpV A 198 ff.), und führt dann die Disjunktion in folgender Weise ein: »und zwar ist entweder die Maxime der Tugend der Grund zu unserm Hoffen nach Glückseligkeit: wir erwarten Glückseligkeit, wenn wir tugendhaft sind, oder dieses Hoffen ist der Grund zur Maxime der Tugend: wir wollen tugendhaft seyn, weil wir Glückseligkeit zu erlangen hoffen. Einer von beyden Fällen muß richtig seyn, wofern das höchste Gut, als der Gegenstand des practischen Gesetzes, der ihm Objectivität verschafft, wirklich das höchste Gut, und jenes Gesetz nicht objectlos seyn soll. Dieß macht die Thesis der Antinomie der practischen Vernunft aus«247. Zum Widerstreit der Vernunft mit sich selbst kommt es dadurch, daß die Vernunft »glaubt im Stande zu seyn zeigen zu können, daß weder Tugend n o t wendige Ursache der Glückseligkeit, noch diese nothwendige Ursache
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aufgriffe. Albrecht sind gerade bei der Wiedergabe von Autoren dieses 9. Typs einige Ungenauigkeiten unterlaufen; so ist es ζ. B. auch unrichtig, daß sich Fichte im Versuch einer Critik aller Offenbarung nicht des Begriffs »höchstes Gut« bediene (M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 45), vgl. dagegen Johann Gottlieb Fichte-Gesamtausgabe Abt. I, Bd. 1, S. 19 f., 21,23 und 153. S. auch unten S. 86 Anm. 249, S. 89 Anm. 261 und S. 203 Anm. 276. L. Bendavid, Vorlesungen über die Critik der practischen Vernunft. (Nebst einer Rede über den Zweck der critischen Philosophie, und doppeltem Register), Wien 1796 (Nachdruck Brüssel 1974, Aetas Kantiana 28 [ohne die »Rede«]), S. 69-72. L. Bendavid, Vorlesungen über die Critik der practischen Vernunft, S. 72, Hervorhebungen im Original. - Im Vergleich mit der Kantischen Fassung der Disjunktion gibt Bendavid dem ersten Teilsatz (bei Kant entspricht ihm der zweite) eine stärker subjektiv-psychologische Wendung (die Maxime der Tugend ist der Grund zu unserem Hoffen nach Glückseligkeit), ohne daß hier aber eine sachlich bedeutsame Differenz bestehen muß; der von Kant formulierte objektive Zusammenhang (die Maxime der Tugend ist die wirkende Ursache der Glückseligkeit) bildet die Voraussetzung für eine begründete subjektive Hoffnung auf Glückseligkeit. Kant selbst verwendet übrigens gelegentlich solch subjektive Termini; so spricht er z. B. von einer »Verbindung zwischen dem Bewußtsein der Sittlichkeit und der Erwartung einer ihr proportionierten Glückseligkeit« (KpVA 214, Hervorhebungen von mir).
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der Tugend sey, und daher beyde Begriffe nicht, nach dem Satze der Causalität, in dem Begriffe des höchsten Guts verbunden werden können. Dieß ist die Antithesis der Antinomie der practischen Vernunft« 248 . Hier fungieren die beiden Sätze der Disjunktion nicht als Thesis und Antithesis, die logische Beziehung zwischen Antinomie und Disjunktion ist ein wenig verwickelter, wie Bendavid expliziter auch als spätere Autoren festhält: Die Thesis (die Forderung der Möglichkeit des höchsten Gutes) impliziert, daß (mindestens) einer der beiden Sätzen der Disjunktion wahr sein (können) muß; die Antithesis (die Behauptung der Unmöglichkeit des höchsten Gutes) resultiert daraus, daß keiner der beiden Sätze wahr sein kann (oder zu können scheint)249. Und so geben im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts eine Reihe von Kant-Kommentatoren als Thema der Dialektik/Antinomie der praktischen Vernunft ausschließlich jenen Widerstreit zwischen der von der Vernunft geforderten Möglichkeit des höchsten Gutes und der behaupteten Unmöglichkeit an: ein anonymer Autor (1794) 250 , Ambrosius Bethmann BERNHARDI (1797) 251 , Konrad Friedrich VON SCHMIDT-PHISELDEK (1798) 252 ; Eingang fand diese Version der Antinomie auch schon L. Bendavid, Vorlesungen über die Critik der practischen Vernunft, S. 72 f., vgl. S. 74, Hervorhebungen im Original. 249 Wenn M. Albrecht (Kants Antinomie, S. 96 Anm. 302) der Interpretation Bendavids entgegenhält, daß der Unterschied zwischen Thesis und Antithesis nicht darin bestehe, »daß einmal Tugend und Glückseligkeit als kausal verbunden gedacht werden, das andere Mal nicht«, so übersieht er einmal, daß Bendavid diesen Unterschied ganz offensichtlich nicht auf die beiden Sätze der Disjunktion bezieht, also nicht die Antinomie, die Kant formuliert, mit der Disjunktion identifiziert, und zum anderen, daß dieser Widerspruch zwischen der geforderten kausalen Verbindung von Tugend und Glückseligkeit und der Behauptung ihrer Unmöglichkeit sich im Kern mit dem deckt, was Albrecht selbst als das eigentliche dialektische Sachproblem rekonstruiert. 2 5 0 Anonymus, Ueber das Studium der Kantischen Philosophie und ihren Werth zur Berichtigung der Urtheile des höhern Publikums über dieselbe, Frankfurt am Main 1794 (Nachdruck Brüssel 1968, Aetas Kantiana 314), S. 74 f. 2 5 1 Α. Β. Bernhardi, Gemeinfassliche Darstellung der Kantischen Lehren über Sittlichkeit, Freyheit, Gottheit und Unsterblichkeit, Π. Theil, Freyberg 1797 (Nachdruck Brüssel 1969, Aetas Kantiana 35), S. 447-452. Die einschlägigen termini technici (wie Dialektik, Antinomie etc.) fehlen zwar bei Bernhardi, aber es ist von einem Widerstreit der Vernunft mit sich selbst die Rede (S. 451 f.). 2 5 2 K. F. v. Schmidt-Phiseldek, Criticae rationis practicae expositio systematica, Altonae 1798 (2. Bd. der Philosophiae criticae secundum Kantium expositio systematica), S. 215-217. Bei dieser Exposition handelt es sich weitgehend um eine (ins Lateinische) übersetzende, paraphrasierende Wiedergabe des Kantischen Textes; durch eine Paragraphen-Einteilung (»§. 1. Thesis«, » §. 2. Antithesis«) erhält aber das antinomische Problem über den Original248
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früh in wichtige Lexika zur Kantischen Philosophie, in das »Enzyklopädische Wörterbuch« von George Samuel Albert MELLIN (1797)253, in das »Wörterbuch zum leichtern Gebrauch der Kantischen Schriften« von Carl Christian Erhard SCHMID ( 4 1798) 254 und auch in die »Elements of the Critical Philosophy« (1798) des aus Deutschland stammenden Anthony Florian Madinger WILLICH, der mit seiner Veröffentlichung zur Verbreitung und zum Verständnis der Kritischen Philosophie Kants in England beitragen wollte255. Im einzelnen unterscheiden sich die Interpreten in der Ausführlichkeit, mit der sie die Argumente Kants referieren, immer aber besteht das Problem darin, daß zur Möglichkeit des höchsten Gutes Tugend und Glückseligkeit auf irgendeine Weise synthetisch-kausal verknüpft sein müßten, eine solche notwendige Verbindung beider aber auf keine Weise möglich zu sein scheint. Die meisten Autoren beziehen auch die Konsequenz, daß die Unmöglichkeit des höchsten Gutes die Gültigkeit des moralischen Gesetzes, das die Ver-
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text hinaus eine deutlichere Struktur. Daß v. Schmidt-Phiseldek zwischen Antinomie und Disjunktion unterscheidet, ergibt sich auch aus folgender Formulierung: »Primam earum propositionum, quas in thesi antinomiae exhibuimus, scilicet in studio felicitatis esse principium determinane moralitatis, falsam esse omni respectu patet« (ebd. S. 218), die Disjunktion als ganze wird also der Thesis zugeordnet. G. S. A. Mellin, Enzyklopädisches Wörterbuch der kritischen Philosophie. 6 Bde, Züllichau (später Jena) und Leipzig 1797-1804 (Nachdrucke Brüssel 1968, Aetas Kantiana 175; Aalen 1970/71), Bd. 1, S. 294 f. C. Ch. E. Schmid, Wörterbuch zum leichtem Gebrauch der Kantischen Schriften nebst einer Abhandlung, Jena 41798 (Nachdrucke Brüssel 1974, Aetas Kantiana 236; hrsg. von N. Hinske, Darmstadt 21980), S. 66. A. F. M. Willich, Elements of the Critical Philosophy, London 1798, S. 141. Willich hat den Eintrag aus dem Schmidschen »Wörterbuch« einfach übernommen und wortgetreu ins Englische übertragen, ohne allerdings seinen Gewährsmann zu nennen (Schmid wird aber an anderen Stellen erwähnt, vgl. ebd. S. 9 u. 54 Anm.). Das gesamte »Glossary« (S. 139-183) scheint aus Auszügen des Schmidschen Lexikons zu bestehen, ein weiterer Hinweis auf die Bedeutung dieses Wörterbuchs für die frühe Kantrezeption, die N. Hinske beschrieben hat (s. Einleitung zu C. Ch. E. Schmid, Wörterbuch, Darmstadt 21980, S. ΧΠ u. XVn ff.). In seiner Arbeit über die erste Phase der Rezeption der Kantischen Philosophie in England urteilt G. Micheli über Willichs »Elements«: »The work is of little value. There is very little of Willich and heterogeneous texts by German authors, Kantiane such as Stäudlin and Johann Schulz but also anti-Kantians such as Eberhard and Weishaupt... Probably the intention of the work was only commercial«: G. Micheli, The early reception of Kant's thought in England 1785-1805, in: G. MacDonald Ross und T. McWalter (Hrsg.), Kant and his influence, Bristol 1990, S. 202-314, hier S. 281. Daß Willich in seinem Glossary völlig von Schmid abhängig ist, ist offensichtlich auch dem außerordentlich kenntnisreichen Micheli entgangen.
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wirklichung gebietet, tangieren würde, in die Problemstellung mit ein (vgl. den Schluß des Antinomiekapitels, KpV A 205). Die Disjunktion wird meist gar nicht mehr erwähnt, und wo dies doch geschieht (wie bei Meilin und v. Schmidt-Phiseldek), dann stets in jener Zuordnung zur Antinomie, wie sie Bendavid von den genannten Autoren wohl am klarsten ausformuliert hat. - Die Übereinstimmimg bezieht sich hier allein auf die Angabe des antinomischen Problems; in anderen Aspekten (z. B. was der genaue Sinn des notwendigen Zusammenhangs von Tugend und Glückseligkeit ist und worin der Grund der Vernunft besteht, einen derartigen Zusammenhang zu fordern) differieren die Auslegungen z. T. wieder erheblich. Trotz ihrer relativ großen Verbreitung in der frühen Kantliteratur ist diese Lesart des Antinomiekapitels nicht wirklich traditionsbildend geworden; es gibt keinen Wirkungszusammenhang mit nachweisbaren Abhängigkeiten, so wie das bei der 7. Gruppe der Fall war. Schon im 19. Jahrhundert taucht diese Version nur noch vereinzelt auf: Man findet sie z. B. in der mehrfach aufgelegten »Geschichte der Philosophie« von Albert SCHWEGLER (zuerst 1847), der dem Problem eine klare antithetische Strukturierung gibt 256 , und nicht ganz so deutlich in den Einzelheiten ausgeführt bei Erich ADICKES (1887), der die Antinomie für überflüssig hält (da Kant vermöge seines Postulats der Unsterblichkeit alle Schwierigkeiten auflösen könne) 257 , und bei Max WENTSCHER (1900), der Kants Problemstellung und Auflösimg der Antinomie verteidigen und ihn gegen die Vereinnahmung als »Vater des Pessimismus« durch E. v. Hartmann in Schutz nehmen möchte (dabei aber alles Empirische und sinnlich Bedingte aus dem Kantischen Glückseligkeitsbegriff eliminiert und Glückseligkeit auf Selbstzufriedenheit im Kantischen
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A. Schwegler, Geschichte der Philosophie, in: Neue Encyklopädie der Wissenschaften und Künste für die deutsche Nation, 4. Band, Stuttgart 1847, S. 150. Unter dem Titel »Geschichte der Philosophie im Umriß. Ein Leitfaden zur Übersicht« erschien dieses Werk 1848 als selbständige Publikation und erreichte in kurzer Zeit eine hohe Auflagenzahl (1887 bereits die 14. Auflage). Die Darstellung der Antinomie der praktischen Vernunft blieb bei allen Verbesserungen und Ergänzungen unverändert (vgl. z. B. 14. Auflage S. 246 f.). E. Adickes, Kants Systematik als systembildender Factor, S. 149 f. Merkwürdigerweise nennt Adickes hier nur das Unsterblichkeitspostulat, nicht auch das Gottespostulat. Zu Adickes s. auch oben S. 58 f.
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Sinne reduziert)258, aber auch an abgelegenen Stellen wie der lateinischen Philosophiegeschichte von Leandros Jos. STANKE (1841) 259 . Verschoben haben sich die Akzente des Problems in der eigenwilligen Wiedergabe bei Ernst MARCUS (1899), Amtsrichter und erklärter »Selbstdenker« aus Essen: »Die dialektische Antinomie lautet: Thesis. Das Gesetz muss für das Glücksopfer ein Äquivalent geben nach seinem eigensten Princip. Antithesis. Es gewährt aber kein natürliches Äquivalent für das geopferte Naturglück« 260 ; in der Semantik von »Glücksopfer« und »Äquivalent« klingt hier ein Sinn- und Begründungskontext für die Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit im höchsten Gut an, der bei Kant eher in ein anderes Umfeld (das des »dilemma practicum«, s. unten Kap. 6.2 und 6.3) gehört261. Nicht viel anders ist die Situation im 20. Jahrhundert. Auch hier findet sich die alternative Lesart des Textes eher nur sporadisch und isoliert, ohne erkennbare Auslegungstradition. Man trifft sie unterschiedlich präzise und explizit ausformuliert in den verschiedensten Kontexten an: bei Félix SARTIAUX262 (1917), einem erbitterten Kantgegner, für den die Dialektik der praktischen Vernunft und die Ethikotheologie nur eine Art Mythos sind, eine rationalistische Ummäntelimg
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M. Wentscher, War Kant Pessimist?, in Kant-Studien 4 (1900), S. 32-49 und 190-201, hier S. 45 ff. L. J. Stanke, Compendium historiae philosophiae, Wien 1841, S. 189: »Haec est Antinomia rationis practicae, quae conjunctionem virtutis et feliátatis exposcit, ejusque impossibilitatem perspicit«. E. Marcus, Die exakte Aufdeckung des Fundaments der Sittlichkeit und Religion und Die Konstruktion der Welt aus den Elementen des Kant. Eine Erhebung der Kritik der reinen und der praktischen Vernunft zum Range der Naturwissenschaft, Leipzig 1899, S. 134 (Hervorhebung im Original), vgl. insgesamt S. 125-135. Grundlos ist aber die Kritik Albrechts, Marcus beschränke die Antinomie der praktischen Vernunft auf das Problem der Selbstzufriedenheit (Kants Antinomie, S. 106 Anm. 328). Marcus prangert die Verkennung des Unterschiedes von »ethischer Zufriedenheit« und »Naturglück« geradezu als Vergehen gegen das Sittengesetz selbst an: »Es ist ein, wenn nicht vorsätzlicher, so doch fahrlässiger Frevel gegen die nüchterne und einfache Hoheit des Gesetzes, diesen Gegensatz zu verwischen« (E. Marcus, Die exakte Aufdeckung, S. 134); die ethische Zufriedenheit im Bewußtsein der sittlichen Würdigkeit kann gerade »kein Äquivalent für das mir auferlegte Glücksopfer, d. h. kein Glück sein«, das liefe auf einen »unverhüllten Unsinn« hinaus (ebd. S. 133, Hervorhebung im Original). F. Sartiaux, Morale Kantienne et Morale humaine, Paris 1917, S. 91: »Nous tombons alors dans une antinomie: d'une part le bonheur et la vertu sont conçus comme nécessairement unis, d'autre part cette union est impossible.«
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der religiösen lutherisch-pietistischen Bedürfnisse Kants 263 (wie er überhaupt in der Ethik Kants nur einen Ausdruck der preußisch-germanischen, militaristischen Mentalität sehen kann, die für ihn in der Barbarei der Deutschen im 1. Weltkrieg ihr wahres Gesicht zeigt 264 ); in knapp referierenden Gesamtdarstellungen wie der Philosophiegeschichte von Sofia VANNI ROVIGHI (1976) 265 oder in zurückhaltend abwägenden Einzelstudien wie der von Julian YOUNG (1984)266. Aber auch Hans BLUMENBERG (1954) und Allen W. WOOD (1970), die Kantische Motive aus der Dialektik der praktischen Vernunft aufgreifen, um sie für religiös-theologische Fragen der Gegenwart fruchtbar zu machen, legen ih263 264
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Vgl. F. Sartiaux, Morale Kantienne et Morale humaine, bes. S. 96 ff. Vgl. F. Sartiaux, Morale Kantienne et Morale humaine. Préface S. V-Vn (datiert vom 17.4.1916) und Introduction S. 1-22. Schon der Titel versteht sich als Kampfansage: Die historisch-genetische Analyse der Kantischen Ethik (vgl. ebd. S. 4 und 9) dient allein dem Ziel einer massiven Ausgrenzung der Ethik Kants aus der griechisch-römisch-humanistisch geprägten Zivilisation des Abendlandes: »Quoique formé tout entier de notions communes, le moralisme kantien est isolé dans la tradition de l'humanité; kantisme et humanisme s'opposent et sont inconciliables« ( S. 10), »la morale de Kant, malgré ses prétentions à la nécessité et à l'universalité, est un type accompli de morale prussienne, un produit bien authentique du sol et de la nation où elle s'est développée« (S. 13). Vgl. auch das Schlußkapitel »Kant et la guerre européenne« S. 418-433. Wesentlich mit provoziert ist das Urteil über Kant durch den Aufruf "An die Kulturwelt!" von 93 Vertretern der deutschen Wissenschaft und Kunst (1914), in dem ein Gegensatz von deutscher Kultur und deutschem Militarismus, der im Ausland zugunsten Deutschlands unterstellt wurde, energisch bestritten wurde; der »preußische Feldwebel als der personifizierte kategorische Imperativ Kants« entsprach durchaus deutschem Selbstverständnis (vgl. B. vom Brocke, "Wissenschaft und Militarismus". Der Aufruf der 93 "An die Kulturwelt!" und der Zusammenbruch der internationalen Gelehrtenrepublik im Ersten Weltkrieg, in: W. M. Calder ΠΙ, H. Flashar, Th. Lindken (Hrsg.), Wilamowitz nach 50 Jahren, Darmstadt 1985, S. 649719, hier S. 699). S. Vanni Rovighi, Storia della filosofia moderna. Dalla rivoluzione scientifica a Hegel, Brescia 1976, S. 671: »Nessuno è più degno di felicità dell'uomo virtuoso, eppure l'uomo moralmente buono non è necessariamente felice. Ecco l'antinomia«; diese Formulierung ist freilich mehr als andere ihrerseits noch präzisionsbedürftig, wenn es sich hier wirklich um ein antinomisches Problem handeln soll. J. Young, Schopenhauer's Critique of Kantian Ethics, S. 210 f. Young gibt der Antinomie folgende Form: »that we have (a) a rational commitment to try to promote the summum bonum but that (b) it cannot be rational to act for the sake of a certain end unless you have reason to believe the obtaining of that end to be possible. So that, in the absence of belief in God, one is involved in the antinomy that promotion of the summum bonum is both rational and irrational«; Young bezieht sich hier allerdings nicht auf die Kritik der praktischen Vernunft, sondern auf die Kritik der Urteilskraft; seine Wiedergabe unterlegt zudem dem Kantischen Argument für den Theismus die Logik des »absurdum practicum«, also des Vorgängerproblems der Antinomie der praktischen Vernunft, ähnlich wie dies A. W. Wood explizit tut.
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ren Ausführungen, wo sie sich auf das Antinomiekapitel beziehen, unmittelbar diese Lesart zugrunde. Für BLUMENBERG besteht das Problem in dem Gegensatz zwischen der Nötigung der Vernunft, im letzten Objekt unseres Willens die sittliche Bestimmung des Menschen (die Tugend) mit seinem »unausschlagbaren Naturzweck« (der Glückseligkeit) zu vereinigen, einerseits und der »Indifferenz von physischer und moralischer Welt gegeneinander«, die für eine solche Verbindung »keine Wahrscheinlichkeit, geschweige denn Sicherheit« bietet, andererseits 267 . Mit Blick auf den Schluß des Antinomiekapitels - die Unmöglichkeit des Objekts unseres Willens würde bedeuten, daß das moralische Gesetz selbst, mit dem dieses Objekt unzertrennlich zusammenhängt, »phantastisch und auf leere eingebildete Zwecke gestellt« wäre - spricht Blumenberg etwas mißverständlich auch von einem »Widerstreit zwischen dem Gesetz der praktischen Vernunft und ihrem notwendigen Objekt«268. Für WOOD erweckt der Text sogar den Eindruck, als hielte Kant den Widerspruch zwischen der Wahrheit des moralischen Gesetzes, die in der Analytik der Kritik der praktischen Vernunft bewiesen wurde, und seiner Falschheit, die aus der Unmöglichkeit des Endzwecks der praktischen Vernunft folgen würde, für das eigentliche Thema der Antinomie. Kant sei, so Wood, hier anscheinend bestrebt, die Antinomie der praktischen Vernunft nach der Form der theoretischen Antinomien der ersten Kritik zu modeln. Dies sei aber eher irreführend, denn berücksichtige man die zahlreichen einschlägigen Passagen bei Kant, so werde deutlich, daß es Kant nicht um einen logischen Widerspruch zwischen theoretischen Urteilen gehe, sondern um einen Konflikt zwischen einer moralischen Verpflichtung und (scheinbaren) rationalen Gründen, sich nicht auf diese Verpflichtung einzulassen 269 . Wo Wood in diesem Zusammenhang näher auf das Antinomiekapitel eingeht, nennt er als Pro-
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H. Blumenberg, Kant und die Frage nach dem "gnädigen Gott", S. 559. Ebd. Diese Antinomie von Gesetz und Objekt steht also in keinem engeren sachlichen Zusammenhang mit jener Dialektik von transzendentalem moralischem Prinzip der Freiheit und objektivierender Fixierung seines Inhalts, wie sie sich bei P. Heintel und F. Kaulbach findet (vgl. oben S. 20 und 32 f.). - Blumenberg weitet dann aber, ähnlich wie später Schaeffler und Wood, die Problemstellung auf rechtfertigungs- und gnadentheologische Fragen aus, s. oben S. 52 f. Anm. 133. A.W. Wood, Kant's Moral Religion, S. 25 ff., bes. 26-28, und S. 104 Anm.
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blem die vom moralischen Gesetz geforderte systematische kausale Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit und das Fehlen einer solchen Beziehung in der Natur, mit der Konsequenz, daß die Verpflichtung, dem Sittengesetz zu gehorchen, aufgehoben würde 270 . Wood vermengt allerdings die Ausführungen zur Dialektik in der Kritik der praktischen Vernunft mit Aspekten aus früheren Problemkonstellationen, dem »absurdum practicum« und der »natürlichen Dialektik«, wie er überhaupt die Entwicklungen und Verschiebungen in der Kantischen Lehre vom höchsten Gut ignoriert. Er vergibt so die Chancen einer präziseren Charakterisierung des antinomischen Problems in der zweiten Kritik, die sich gerade aus dem Wechsel der Problemstellungen und dem Spiel ihrer Differenzen ergeben 271 . Wenn aber Albrecht behauptet, daß Wood die Kantische Antinomie gar nicht behandle und nur Textstücke daraus verwerte 272 , dann wird nur der ohne Bedenken zustimmen können, für den feststeht, daß die Antinomie im Kantischen Sinne mit der Disjunktion identisch ist; die Disjunktion spielt in der Tat bei Wood (ebenso wie bei Blumenberg und anderen Autoren) keine Rolle mehr. Bei einigen Interpreten dreht sich das antinomische Problem zwar auch um die Möglichkeit des höchsten Gutes, aber es erhält, wie schon z. B. bei Stange, Yovel und Schräder 273 , eine stärker anthropologische Wendimg dadurch, daß es nicht um die (ontologische oder kosmologische) Möglichkeit oder Unmöglichkeit des höchsten Gutes überhaupt geht, sondern um die Forderung der praktischen Vernunft, das höchste Gut zu verwirklichen, und die Unzulänglichkeit des Menschen als eines endlichen Vernunftwesens, dieser Forderung zu entsprechen, so schon relativ früh bei Christian Wilhelm SNELL (1790/91) 2 7 4 und Christian Frie270
A.W. W o o d , Kant's Moral Religion, S. 124 ff., bes. S. 128-130. - N a c h W o o d gibt es noch eine weitere Antinomie der praktischen Vernunft, die die gleiche Struktur hat: Sie folgt aus der (scheinbaren) Unmöglichkeit der v o m Menschen verlangten moralischen Vollkommenheit als der obersten Bedingung des höchsten Gutes (ebd. S. 104-116). S. auch oben S. 51 f. (bes. A n m . 131).
271
Siehe oben S. 2 4 f. u n d unten S. 322 f.
272
M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 106 A n m . 328.
273
Siehe oben S. 6 3 A n m . 154, S. 6 8 u n d S. 69 f. A n m . 178.
274
Ch. W. Snell, Ueber d e n Begrif v o n d e m Guten überhaupt und v o n d e m höchsten Gute insbesondere, in: Neues philosophisches Magazin, hrsg. v o n J. H. Abicht und F. G. Born, 2. Band, Leipzig 1 7 9 0 / 9 1 , S. 466-495, hier S. 4 9 4 f. Snell bezieht sich allerdings nicht explizit auf die Antinomie der zweiten Kritik; er redet nur davon, daß die Vernunft ohne die Po-
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drich MICHAELIS (1797) 275 , und in neuerer Zeit u. a. bei John R. SILBER 276 (1959), Gerald W. BARNES (1970/71) 277 , Thomas BAUMEISTER (1976) 278 , Michael ALBRECHT (1978) 279 , Gerhard KRÄMLING (1986) 280 und Reiner WIMMER (1990)281. Hinter den gleichlautenden Angaben zur Problemstellung verbergen sich auch hier wichtige Differenzen des Verständnisses und der Bewertung: Barnes und Krämling ζ. B., die hier für eine ganze Reihe von Autoren stehen, interpretieren das höchste Gut als kollektiv-gesellschaftliche Aufgabe der Menschheit, die in einem historischen Prozeß zu realisieren sei, und sehen in diesem geschichtlichpraktischen Bezug die philosophische Relevanz der Kantischen Lehre vom höchsten Gut; für Baumeister erweist sich dagegen gerade beim Versuch einer solchen praktischen Konkretisierung Kants Idee des höchsten Gut als praktisch sinnlos und leer282. Die in der 9. Gruppe zusammengefaßten Interpretationen stimmen zwar in manchem mit dem Verständnis der Antinomie überein, wie es die Autoren der 7. Gruppe in kritischer Abhebimg vom Kantischen Text entwickeln, aber es fehlt jeder Hinweis auf eine mögliche Inkongruenz von Kantischem Sprachgebrauch und Sachverhalt im Antinomiekapitel der Kritik der praktischen Vernunft, wie sie die Interpreten der 7. Gruppe behaupten. Sie erörtern und prüfen deshalb auch nicht explizit, ob und wie sich ihr Verständnis der Antinomie mit dem Kantischen Wortlaut vereinbaren läßt. Angesichts der von Anfang an divergierenden Lesarten
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stillate »mit sich selbst im Widerstreite« sei; er geht außerdem noch von der später korrigierten Triebfederlehre der Kritik der reinen Vernunft aus, so daß bei ihm die antinomische Fragestellung und die Problemkonstellation des »dilemma practicum« konfundiert sind. Ch. F. Michaelis, Ueber die sittliche Natur, Bd. 2, S. 42. J. R. Silber, Kant's Conception of the Highest Good as Immanent and Transcendent, in: Philosophical Review 68 (1959), S. 469-492, bes. S. 472 ff. (dt. Immanenz und Transzendenz des höchsten Gutes bei Kant, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 18 (1964), S. 386-407, bes. S. 388 ff.). G. W. Bames, In Defense of Kant's Doctrine of the Highest Good, in: The Philosophical Forum 2 (1970/71), S. 446-458, bes. S. 446-450. Th. Baumeister, Hegels frühe Kritik an Kants Ethik, Heidelberg 1976 (Heidelberger Forschungen 16. Heft), bes. S. 22 und 25. M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 120-123. G. Krämling, Die systembildende Rolle, S. 64, und ders., Das höchste Gut als mögliche Welt, S. 278. R. Wimmer, Kants kritische Religionsphilosophie, S. 43,64,73 f. Vgl. Th. Baumeister, Hegels frühe Kritik an Kants Ethik, S. 22 ff.
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und Interpretationen des Textes bedeutet das ein Defizit an methodischer Absicherung des Textverständnisses.
3.11 Resümee des Literaturüberblicks Der Gang durch die Sekundärliteratur und der Versuch zur Typisierung der Antworten haben, denke ich, deutlich gemacht, wie disparat die Auffassungen sind, was das Problem der Antinomie in Kants Kritik der praktischen Vernunft ist. Die genannten Themen seien hier noch einmal in etwas anderer Abfolge und ohne Berücksichtigung von Nuancen in den Einzelheiten aufgeführt (berücksichtigt sind nur solche Themen, die mit dem Antinomiekapitel der Kritik der praktischen Vernunft in einen engeren Zusammenhang gebracht wurden). Als Antinomie oder Dialektik der praktischen Vernunft wurden interpretiert: (1) der Gegensatz von analytischer und synthetischer Verbindung von Tugend und Glückseligkeit, (2) der Gegensatz der beiden Formen einer synthetischen Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit; (3) der Widerstreit zwischen der Begierde nach Glückseligkeit und der Tugendmaxime, (4) das Verhältnis von Pflicht- und Glückseligkeitsethik, (5) der Antagonismus von Sittlichkeit und Glückserfahrung, (6) der Konflikt zwischen der Pflicht, das Glücksstreben einzuschränken, und der Pflicht, als moralischer Mensch auch das eigene Glück zu wollen; (7) das Verhältnis von Form und Materie des sittlichen Willens, (8) das Verhältnis von transzendentaler Freiheit und gegenständlicher Fixierung; (9) das Subreptionsproblem der praktischen Selbsterkenntnis; (10) der Gegensatz zwischen reiner praktischer Vernunft und den natürlichen oder geschichtlichen Realisierungsbedingungen; (11) der Widerspruch zwischen praktisch geforderter Möglichkeit des höchsten Gutes und seiner Unmöglichkeit sowie (12) der Widerspruch zwischen der Wahrheit und Falschheit des moralischen Gesetzes.
Resümee des Literaturüberblicks
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Die Disjunktion (Satz 4 des Antinomiekapitels) formuliert dabei für die Interpreten teils den Kern der Antinomie, teils erhält sie eine untergeordnete Funktion bei der Entwicklung der Antinomie, teils spielt sie gar keine explizite Rolle. In der Literatur findet sich nicht nur eine allgemein gehaltene Kritik an der Kantischen Antinomienlehre; einige Autoren tragen auch eine stattliche Anzahl von Gründen zusammen, warum die Disjunktion nicht Kants Kriterien für eine Antinomie genügt. Dennoch halten sie die Disjunktion für die von Kant gemeinte Antinomie der praktischen Vernunft. Auf die Diskrepanz haben sie in der Hauptsache auf zweierlei Weise reagiert: (1) Entweder wurde versucht, trotz der formalen Defizite die Disjunktion von der inhaltlichen Seite her als Antinomie plausibel zu machen, weil sie ihren Ursprung in derselben Zweideutigkeit im Begriff des Unbedingten wie die Antinomien der ersten Kritik habe - eine Parallele, die kaum trägt, wie schon deutlich gemacht werden konnte; (2) oder man hat in kritischer Abhebung von der Kantischen Version der Antinomie, die man mit der Disjunktion der beiden Möglichkeiten der Verknüpfimg von Tugend und Glückseligkeit identifiziert, einen anderen Sachverhalt in den Ausführungen Kants vorgeschlagen, der sich zumindest formal besser zur Darstellung als Antinomie (oder als Dialektik) eigne: die von der praktischen Vernunft geforderte Möglichkeit des höchsten Gutes, die nicht einlösbar ist (Thema 11). Für andere Autoren ergibt sich offensichtlich dies als das antinomische Problem direkt aus dem Kantischen Text, ohne Umweg über die Korrektur einer irreführenden Darstellung. Entscheidende Klarheit ließ sich in der Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur noch nicht gewinnen. An die schlichte Ausgangsfrage, in welchem Sachverhalt nach Kant die Antinomie der praktischen Vernunft besteht, haben sich weitere Fragen angehängt, auf die immer wieder in Form von etwas umständlichen Vorgriffen und Ausweitungen der Fragestellung eingegangen werden mußte. Auch wenn schon manches aussortiert werden konnte, ist das Fragenpaket um einiges gewichtiger geworden. Die Variationsbreite der Antworten ist bemerkenswert, wenn man bedenkt, daß es sich um eine erhebliche Streuung auf schmalem Raum
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3 Die Antinomie der praktischen Vernunft in der Literatur
handelt. Es ging noch nicht primär um bewertende Urteile zur Kantischen Antinomie der praktischen Vernunft, sondern darum, was nach Meinung der Interpreten das von Kant gemeinte und beschriebene antinomische Problem in der Kritik der praktischen Vernunft ist. Bei Bedarf könnte man leicht mit einem noch feineren begrifflichen Analyseraster weiter zwischen den Interpretationen differenzieren (ohnehin ließe sich die Sammlung mit weiteren Raritäten und Spezialitäten anreichern283), so daß am Ende nur noch mehr oder weniger ähnliche monadische Systeme und Strategien des Zugriffs auf den Text stehen. Man braucht dazu keinen metaphysischen Begriff der Individualität zu bemühen, die Unterschiede lassen sich in beschreibbaren Räumen der Streuung bestimmt angeben. Die Abstände vergrößern sich noch weiter, wenn man die Frage auch nur ein wenig ausweitet und nach dem Sinn und Grund der Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit fragt, wie Kant sie in der Idee des höchsten Gutes denkt. Hinter Auskünften, die, bedingt durch die enge Fragestellung, noch weitgehend identisch klingen, werden dann Differenzen in anderen, wichtigeren Aspekten sichtbar. Die Dokumentation wirft zugleich Schlaglichter auf den faktischen Vorgang der Rezeption und Interpretation eines historischen Textes der Philosophie. Obwohl von Anfang an der Text zur Antinomie der praktischen Vernunft verschieden verstanden worden ist und im 20. Jahrhundert die Liste der Themen noch einmal beträchtlich angewachsen ist (siehe Kap. 3.3 bis 3.5), hat es bisher in der Literatur keine Kontroverse und keinen Streit um die »richtige« Auslegung des Textes gegeben. Alternative Lesarten des Textes und Vorschläge zur sachlichen Neufassung des Problems werden nicht berücksichtigt und diskutiert; die einzige mir bekannte (und zugleich wichtige) Ausnahme bildet die Arbeit von Michael Albrecht, der allerdings die Auseinandersetzung mit der Literatur zum größten Teil in die Anmerkungen abdrängt, wo sie oft zu punktuell ausfällt.
283
So liegt nach G. U. Brastberger (1792) die Antinomie der praktischen Vernunft in dem Widerspruch der Vernunft, »die haben will, daß alles Wirkliche ein wirkliches Ding in der Vorstellung und doch auch ein wirkliches Ding an sich seye« (Untersuchungen über Kants Kritik der practischen Vernunft, S. 176); er versetzt die ganze Fragestellung in den Kontext einer Idealismus-Problematik Berkeleyschen Typs.
Resümee des Literaturüberblicks
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In den stark divergierenden Angaben der Interpreten verraten sich objektiv Unsicherheiten und Schwierigkeiten im Verständnis des Antinomiekapitels. Subjektiv werden sie aber nicht erfahren, jedenfalls sind sie nicht so auffällig, daß sie thematisiert würden. Es läßt sich auch keiner der Interpreten, auch Albrecht nicht, durch andere Lesarten des Textes in seinem Verständnis, was Kant unter der Antinomie der praktischen Vernunft verstanden hat, erkennbar irritieren, so daß ein verstärktes Bedürfnis der methodischen Absicherung des eigenen Textverständnisses die Folge wäre. Um die Unsicherheiten offenzulegen, bedurfte es einer eigenen Aufbereitimg des Materials, indem bewußt der »Umweg« über die oft genug befremdliche Positivität der Interpretationen gewählt wurde und der Kantische Text aus der subjektiven Vertrautheit der einzelnen hermeneutischen Verstehenssituation herausgelöst wurde. Manche Eigenheiten der Rezeption eines Textes erschließen sich weniger in der Immanenz des einzelnen Verstehensvollzuges, sondern eher von »außen«, in der Beschreibung der Streuungsmuster von Ensembles disparater Deutungen, deren Positivität sich nicht in der Sinnkohärenz eines einfachen Erzählschemas auffangen läßt. Der Kantische Text korrespondiert in dieser Darstellung nicht mehr einer einzelnen überschaubaren Problemerzählung, sondern erscheint als dichtes Feld, in dem sich diverse Deutungs- und Verstehensansprüche kreuzen. Das soll nicht heißen, daß die Frage, was denn im Antinomiekapitel der Kritik der praktischen Vernunft steht, als gegenstandslos oder als im Ansatz verfehlt anzusehen wäre. Im Gegenteil: Der umfangreiche Überblick sollte deutlich machen, daß angesichts der Gemengelage in der Interpretationsliteratur ein Bedarf an elementarer Klärimg besteht und aus der Divergenz der Deutungen eine offene Kontroverse werden muß. Die Frage, was bei Kant selbst im Text steht, greift dabei allerdings zu kurz; vorsichtiger wäre zu fragen, wieweit sich mit Blick auf Alternativen in der Sekundärliteratur aus dem Text hinreichend sicher eruieren läßt, was Kant im Antinomiekapitel der Sache nach ausgeführt hat. Die differenzierte Kenntnis der unterschiedlichsten Deutungen schärft zugleich methodisch den Blick; sie sensibilisiert gezielt für mögliche Verzerrungen der Kantischen Fragestellung durch vorgegebene Problemkontexte, denen die Kantische Antinomie der praktischen Vernunft oft allzu schnell und glatt akkomodiert wird; sie sensibilisiert auch für Lesegewohnheiten, wie sie in einigen Traditionen der Kantexegese eingeübt
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3 Die Antinomie der praktischen Vernunft in der Literatur
wurden. Die Auslegungsgeschichte macht den Rückgang auf den »Text selbst« erforderlich und ermöglicht zugleich ein gezielteres Fragen nach dem Text in seiner historisch-positiven Eigenart. Was ich hier versuchen möchte, hat etwas von einem Experiment: in einem Einzelfall die Probe aufs Exempel zu machen, wieweit sich aus der Bestimmtheit des Textes entscheiden läßt, was die Intention Kants in der Sache war und wie, gemessen daran, die diversen Deutungsansprüche zu bewerten sind, sofern sie Aussagen historischer Art über den Text enthalten. Die Interpretation des Kantischen Textes muß jetzt eine elaborierte Form annehmen. Wenn Albrecht gegen die Interpretation Blumenbergs einwendet, daß man von einem modernen Bearbeiter erwarten sollte, »daß er den Unterschied zwischen der [bei Kant] vorliegenden "Antinomie der praktischen Vernunft" und dem Sachproblem nicht verschweigt« 2 8 4 , so ist die Frage, ob diese Diskrepanz tatsächlich besteht und die Kritik an Blumenberg berechtigt ist, vorerst noch zurückzustellen, aber die distanziert-analytische Einstellung zum Text, die darin zum Ausdruck kommt, bleibt maßgeblich. In einer minuziösen Satz-für-Satz-Analyse möchte ich dem Argumentationsduktus Kants im Antinomiekapitel folgen und das Problem, das er entfaltet, in dem durch die Auslegungsgeschichte vorgezeichneten Problemraum lokalisieren. Von besonderem Interesse ist dabei die Frage, welchen Stellenwert und welche argumentative Funktion in Kants Text jene Disjunktion der beiden Möglichkeiten der synthetischen Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit hat, die viele Autoren in das Zentrum ihrer Interpretation rücken und die deswegen hier auch als Einteilungsgesichtspunkt bei der Typisierung der Deutungen diente.
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M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 107 Anm. 329. Vgl. oben S. 72.
4 Analyse und Interpretation des Textes zur Antinomie der praktischen Vernunft Kant stellt dem Abschnitt, der - nach der Ankündigung in der Überschrift - die Darstellung der Antinomie der praktischen Vernunft enthält (KpVA 204 f.), einige einleitende Ausführungen und Begriffsklärungen voran. Sie handeln in noch sehr allgemeiner Weise vom systematischen Ort und der Funktion »einer Dialektik der reinen praktischen Vernunft überhaupt« und bestimmen näher den Begriff des höchsten Gutes. Von dieser Definition wird bei der Entwicklung der Antinomie Gebrauch gemacht; und jeder Vorschlag, wie das Antinomiekapitel zu lesen und worin nach Aussage des Textes der antinomische Sachverhalt zu sehen sei, muß sich mit der allgemeinen Bedeutung auseinandersetzen, die Kant der Dialektik der reinen praktischen Vernunft zuschreibt. Deshalb sollen vor der detaillierten Analyse der zentralen Textpassage (Kap. 4.3) diese Vorgaben resümiert werden (Kap. 4.1 und 4.2). Wichtige sachliche und entwicklungsgeschichtliche Voraussetzungen, die in Kants Lehre vom höchsten Gut und in die antinomische Form seiner Problematisierung eingehen, kommen allerdings hier und auch bei der Analyse des Antinomiekapitels, von wenigen Hinweisen und Bemerkungen abgesehen, noch nicht zur Sprache; das soll später erfolgen (Kap. 6). Beabsichtigt ist zunächst eine textnahe Rekonstruktion und Kommentierung der Argumentation Kants.
4.1 Allgemeine Exposition des Problems (KpVA 192-197) Dafür, daß die praktische Vernunft überhaupt so etwas wie eine Dialektik hat, gibt Kant gleich zu Beginn des ersten Hauptstücks der Dialektik eine sehr allgemeine Begründimg (KpV A 192 f.): Als reine Vernunft sucht die praktische Vernunft ebenso wie die theoretische die absolute Totalität der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten. Die theoretische Vernunft verwickelte sich dabei in einen Widerstreit mit sich selbst, weil sie die Totalität der Bedingungen samt dem Unbeding-
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4 Analyse und Interpretation des Textes zur Antinomie der praktischen Vernunft
ten in der Welt der empirisch gegebenen Reihe des Bedingten und der Bedingungen suchte, die sie als Dinge an sich selbst betrachtete und nicht als das, als was sie die Kritik bestimmt: »bloß als Erscheinungen« 1 . Der praktischen Vernunft soll es »um nichts besser« gehen: Sie sucht zu dem »Praktisch-Bedingten« »ebenfalls das Unbedingte«, die »unbedingte Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft, unter dem Namen des höchsten Guts« 2 . Das höchste Gut gilt hier als Gegenstand der reinen praktischen Vernunft, weil seine Verwirklichung (oder wenigstens Beförderung) sittliche Pflicht ist 3 . Diese Funktionsbestimmung ist neu; in der Kritik der reinen Vernunft würde man eine solche Aussage vergebens suchen; dort ist das höchste Gut noch ganz ein Objekt der künftigen Welt, das zu erhoffen ist, und wird sowohl der theoretischen wie der praktischen Vernunft zugeordnet (KrVA 804 ff./Β 832 ff.)4. 1
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Vgl. die ganz ähnliche allgemeine Charakterisierung der Dialektik in der Kritik der reinen Vernunft A 506 f./Β 534 f. KpVA 194, Hervorhebungen im Original. KpVA 196 f., vgl. A 203-205,207 u. ö. Zum höchsten Gut als Objekt der reinen praktischen Vernunft in der zweiten Kritik vgl. unten S. 222-226, S. 309 ff. - Verfehlt ist die Einschätzung A. Hägerströms (Kants Ethik, S. 535 f.), die Pflicht, das höchste Gut zu realisieren, sei »der Rest des alten Standpunkts« der Kritik der reinen Vernunft. Geradezu verwunderlich ist die Behauptung Krämlings, »daß Kant das höchste Gut in der "Kritik der praktischen Vernunft" nicht unter dem Gesichtspunkt eines bestimmten, in der Sinnenwelt zu realisierenden Endzweckes der Vernunft« behandle (G. Krämling, Die systembildende Rolle, S. 69, vgl. 64, und ders., Das höchste Gut als mögliche Welt, S. 279 und 283). Krämling verkehrt die Verhältnisse in ihr genaues Gegenteil, wenn er zur ersten Kritik feststellt, sie beziehe sich »auf eine Konzeption vom höchsten Gut..., die sich an dessen immanenter Bedeutung orientiert und die Forderung nach der Realisierung der praktischen Idee in der empirischen Welt zum Ausgangspunkt der Überlegungen macht« (Das höchste Gut als mögliche Welt, S. 281, Hervorhebung im Original), und zur zweiten Kritik meint: Die »Vermittlung« der »Unhintergehbarkeit des menschlichen Glücksstrebens mit der Reinheit des Sittengesetzes [werde] ... nur in der Idee gedacht, ohne daß dabei die Möglichkeit eines Übergangs von der Idee zur Wirklichkeit in Anschlag gebracht« werde; »die Einführung der praktischen Vernunftpostulate, die Interpretation des höchsten Gutes als eines glaubend oder hoffend zu erwartenden jenseitigen Zustandes, hebt jede immanent-teleologische Bedeutung dieser praktischen Idee geradezu auf« (Die systembildende Rolle, S. 65; vgl. Das höchste Gut als mögliche Welt, S. 279, hier ist die Behauptung allerdings etwas abgeschwächt). Tatsächlich apostrophiert Kant in der Kritik der reinen Vernunft das höchste Gut stets als »künftige Welt« (vgl. A 811/B 839, A 828-830/B 856-858). Das Postulat der Seelenunsterblichkeit ist hier wegen der Jenseitigkeit des höchsten Gutes notwendig, es wird nicht wie in der Kritik der praktischen Vernunft aus der Unendlichkeit der sittlichen Aufgabe abgeleitet. Die Pflicht, die Sinnenwelt der Idee der moralischen Welt »so viel als möglich gemäß zu ma-
Allgemeine Exposition des Problems (KpVA 192-197)
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Konkreteres erfahren wir zunächst nur über das »Praktisch-Bedingte« dieser Totalität, das den Ausgangspunkt der Suche bildet: es ist das, »was auf Neigungen und Naturbedürfnis beruht«; der Inbegriff dafür ist, wie sich aus anderen Stellen der Kritik der praktischen Vernunft ergibt, die Glückseligkeit (vgl. vor allem KpVA 45, 107 f.). Kants Formulierungen lassen auch schon erkennen, daß das Unbedingte, um das es in der Dialektik der reinen Vernunft geht, nicht mehr nur das unbedingte moralische Prinzip des reinen Willens ist, das schon Hauptthema der Analytik war und dort abschließend behandelt wurde5. Sonst aber bleibt das dialektische Problem der reinen praktischen Vernunft hier noch ohne Konturen; von ihm heißt es nur, es entstehe »im Punkte der Bestimmung des Begriffs vom höchsten Gute«6. Für seine Auflösung stellt Kant dieselbe »wohltätigste Wirkung« in Aussicht, die auch schon die Antinomien der spekulativen Vernunft hatten: »dadurch daß die aufrichtig angestellten und nicht verhehlten Widersprüche der reinen praktischen Vernunft mit ihr selbst zur vollständigen Kritik ihres eigenen Vermögens nötigen« (KpVA 196, vgl. A 193). Die Art des Bedingungszusammenhangs in der unbedingten Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft und der genaue Grund, warum sich die Vernunft auch in ihrem praktischen Gebrauch in Widersprüche verwickelt, bleiben im ersten Hauptstück der Dialektik noch im dunkeln. Der Status dieser Ausführungen ist unklar. Man könnte sie einfach als vorweggenommenes Resümee für den Leser verstehen; dann ließe sich an dieser Stelle noch wenig dazu sagen, man müßte den Vortrag in der Sache abwarten. Kants allgemeine Problemaufrisse haben aber nur sel-
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chen« (KrVA808/B 836), umfaßt nicht die Aufgabe der Realisierung des höchsten Gutes, wie Krämling meint (Das höchste Gut als mögliche Welt, S. 281); die Idee des höchsten Gutes antwortet hier auf die sich an das Praktische anschließende Frage: »wie, wenn ich mich nun so verhalte, daß ich der Glückseligkeit nicht unwürdig sei, darf ich auch hoffen, ihrer dadurch teilhaftig werden zu können?« (KrVA809/B 837). Mit Recht hebt deshalb M. Albrecht (Kants Antinomie, S. 56-72) gegenüber manchem Mißverständnis in der Sekundärliteratur hervor, daß die Dialektik mit dem Thema des Unbedingten als unbedingter Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft eine eigene Fragestellung verfolgt, die noch nicht mit der Angabe des absoluten moralischen Prinzips und auch nicht durch Kants Ausführungen zum »Begriffe eines Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft« in der Analytik (KpVA100-119) erledigt ist. KpVA 196, Hervorhebung im Original; dieselbe Formulierung kehrt in der Überschrift zum zweiten Hauptstück der Dialektik wieder: KpVA 198.
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ten eine rein darstellungstechnische Funktion als »advance organizers« für den Leser; in aller Regel hat die Architektonik des Textes dem Anspruch nach auch eine sachlich-systematische Fundierung in der Struktur des Gegenstandes. So allem Anschein nach auch hier: Kant versucht die Unvermeidbarkeit des dialektischen Widerspruchs aus der Struktur der praktischen Vernunft qua reiner Vernunft sozusagen metatheoretisch abzuleiten, noch bevor er das spezifische Problem der Dialektik der praktischen Vernunft entfaltet7. Einzulösen und nachzuvollziehen wäre ein solcher Anspruch aber nur, wenn schon die allgemeine Struktur der praktischen Vernunft erkennbar einen Kernwiderspruch der reinen Vernunft enthielte, der in der Antinomie nur noch unter den besonderen Bedingungen der praktischen Vernunft expliziert werden müßte. Kant sagt zwar hier nicht mit letzter Ausdrücklichkeit, daß auch die Dialektik der praktischen Vernunft ihren Grund in derselben »unvermeidlichen« und »natürlichen« Täuschung hat, Gegenstände der Erfahrungswelt für Dinge an sich selbst zu halten, wie sie der Dialektik der spekulativen Vernunft zugrunde lag, aber die behauptete Strukturgleichheit zwischen beiden Formen des Vernunftgebrauchs soll sich wohl auch darauf erstrecken8. Wie es allerdings geschehen kann, daß auch die praktische Vernunft bei der Suche nach der imbedingten Totalität ihres Gegenstandes wieder Erscheinungen als Dinge an sich selbst ansieht, ist nach dem, was Kant im ersten Hauptstück expliziert, noch gar nicht abzusehen. Im Gegenteil: es erscheint auf der Ebene der allgemeinen Explikation des Problems eher unplausibel, daß die praktische Vernunft noch einmal derselben Täuschung wie die theoretische unterliegen soll; denn die praktische Philosophie Kants nimmt das Ergebnis der Kritik der reinen Ver7
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Vgl. auch M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 41 f. und 55. Albrecht geht allerdings nicht näher auf die Probleme ein, die sich aus diesem Anspruch ergeben. Vgl. auch die Formulierung in der Einleitung der Kritik der praktischen Vernunft (A 31), wo Kant mit Berufung darauf, daß »es immer noch reine Vernunft ist, deren Erkenntnis hier dem praktischen Gebrauche zum Grunde liegt«, die parallele Einteilung der beiden Kritiken begründet und die Dialektik der praktischen Vernunft »als Darstellung und Auflösung des Scheins in Urteilen der praktischen Vernunft« charakterisiert. In einer Anmerkung der Kritik der Urteilskraft gibt Kant sogar ausdrücklich die »sehr natürliche!.] Voraussetzung, die Gegenstände der Sinne für die Dinge an sich selbst zu halten«, als gemeinsamen Grund der Antinomien der theoretischen und praktischen Vernunft sowie der ästhetischen Urteilskraft an (KU Β 243 f.). Vgl. auch oben S. 9 f.
Allgemeine Exposition des Problems (KpVA 192-197)
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nunft und ihre kritische Unterscheidung von Erscheinungen und Dingen an sich selbst für ihren Zentralbegriff, die transzendentale Freiheit, bereits in Anspruch, wie Kant gleich zu Beginn der Vorrede (KpVA 4 ff., mit direktem Bezug auf die Freiheitsantinomie und ihre Auflösimg) und der Einleitung der zweiten Kritik (KpVA 30) deutlich macht. Sollte die reine praktische Vernunft wieder »unvermeidlich« und »natürlicherweise« jene fundamentale Unterscheidung vergessen, der sie in der Philosophie Kants ihre Möglichkeit verdankt? Auf eine weitere Parallele zwischen der Dialektik der theoretischen und praktischen Vernunft, die Kant durch seine allgemeine Darstellung zumindest insinuiert, möchte ich hier zunächst nur aufmerksam machen: Ausgangspunkt der Suche der Vernunft nach der absoluten Totalität der Bedingungen soll in beiden Formen des Vernunftgebrauchs ein gegebenes Bedingtes sein (KpVA 192). Für die reine praktische Vernunft konkretisiert heißt das, sie beginnt ihre Suche bei »dem Praktisch-Bedingten (was auf Neigungen und Naturbedürfnis beruht)« (KpV A 194) und fordert als reine Vernunft dazu die unbedingte Totalität der Bedingungen. Diese Angabe steht ganz in Entsprechving zu der Art und Weise, wie Kant in der Kritik der reinen Vernunft die dialektischen Vernunftschlüsse im allgemeinen und die kosmologischen Schlüsse im besonderen charakterisiert (vgl. Kr VA 338 ff./Β 396 ff.). Danach müßte man erwarten, daß Kant in der Kritik der praktischen Vernunft, von dem natürlichen Bedürfnis nach Glück ausgehend, nach der unbedingten Totalität der Bedingungen in der Idee des höchsten Gutes fragt. Die Prüfung, ob sich in Kants Ausführungen tatsächlich eine solche Parallele zwischen den beiden Vernunftvermögen findet, soll später erfolgen, wenn die Problemstellung in der Antinomie der praktischen Vernunft geklärt ist (vgl. vor allem Kap. 5.2). Um den sich hier abzeichnenden Schwierigkeiten aus dem Wege zu gehen, könnte man vielleicht daran denken, daß der Standpunkt, auf dem sich die reine praktische Vernunft in eine Dialektik verstrickt, gar nicht die Ethik ist, wie Kant sie zuvor in der Analytik der Kritik der praktischen Vernunft entwickelt hat, sondern der Standpunkt einer »vorkritischen« Moralphilosophie, und daß die angehängte Dialektik noch einmal eindringlich die Notwendigkeit einer kritischen Absicherung der Ethik vor Augen führen soll. Eine ähnliche Funktion hatten ja auch die Antinomien in der Kritik der reinen Vernunft: Noch vor der Darstel-
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lung der kosmologischen Dialektik begründet Kant in der Ästhetik und Analytik den transzendentalen Idealismus, der nach seinem Verständnis den entscheidenden »Schlüssel« zur Auflösung der antinomischen Widersprüche enthält (vgl. Kr VA 490 ff./ Β 518 ff.) und der sie »im Prinzip« auch schon vermeidbar macht, noch ehe sie im Text inszeniert werden. Die Dialektik der spekulativen Vernunft zeigt zwar nach Kant, daß der transzendentale Idealismus für das Verstehen des Zustandekommens von Problemen der alten Metaphysik und für ihre Lösimg unentbehrlich ist, und insofern stellt sie noch einmal ein Argument für den transzendentalen Idealismus dar; aber zu seiner Begründung trägt sie nichts mehr bei9. Die Vermutung, daß in der Dialektik der praktischen
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Das ist jedenfalls Kants Auffassung. P. Krausser hat dagegen mit Berufung auf die Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft (B XVI-XVIII, so wie die Fußnoten zu Β XVÏÏI-XIX und XXI) gemeint, daß auch nach Kant die Antinomienlehre eine notwendige Ergänzung des Arguments für den transzendentalen Idealismus sei, das sonst unvollständig bliebe: On the antinomies and the appendix to the dialectic in Kant's critique and philosophy of science, in: Synthese 77 (1988), S. 375-401, hier S. 376-379, S. 398 f. Anm. 5. Krausser übersieht aber, daß das Gedankenexperiment in jener Vorrede eine eigenständige propädeutische Funktion hat und nicht der Logik des Beweises in der Kritik selbst entspricht. Dort führt Kant keine Hypothese ein, über die erst die Antinomienlehre eine endgültige Entscheidung erlaubt, sondern er beansprucht, schon in der transzendentalen Ästhetik und Analytik einen apodiktischen Beweis für den transzendentalen Idealismus zu liefern (vgl. auch W. Malzkom, Kants Kosmologie-Kritik, Berlin · New York 1999, S. 101 und 114). Kant selbst hat diesen Unterschied in einer Anmerkung der Vorrede, die Krausser völlig übergeht, klar markiert: »Ich stelle in dieser Vorrede die in der Kritik vorgetragene, jener Hypothese [sc. des Kopernikus] analogische, Umänderung der Denkart auch nur als Hypothese auf, ob sie gleich in der Abhandlung selbst aus der Beschaffenheit unserer Vorstellungen von Raum und Zeit und den Elementarbegriffen des Verstandes, nicht hypothetisch, sondern apodiktisch bewiesen wird, um nur die ersten Versuche einer solchen Umänderung, welche allemal hypothetisch sind, bemerklich zu machen« (KrV Β XXII Anm., Hervorhebungen von mir). Vgl. auch Kants Versicherung Refi. Nr. 5962 (AA XVm, S. 403): »Dadurch wird die idealitaet des Raums und der Zeit indirect bewiesen, weil Wiedersprüche mit sich selbst aus dem Gegentheil folgen. Aber ich habe sie auch direct bewiesen ... «; femer KrVA46/B 63, A 490 f. /B 518 f.; Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik, AA XX, S. 290 f. Kant hat diesen Hinweis wohl für wichtig gehalten; denn es dürfte ihm kaum entgangen sein, daß das Gedankenexperiment der Vorrede nur einen indirekten, apagogischen Beweis enthält (aus den Widersprüchen der realistischen Position wird auf die Wahrheit des transzendentalen Idealismus geschlossen); transzendentale Beweis sind aber direkt oder »ostensiv« zu führen {KrVA789/B 817, vgl. A 794/B 822). Indirekte Verfahren haben in der Philosophie ihren Ort bestenfalls in einer Propädeutik oder einer nachträglichen Darstellimg, wenn direkte Beweise schon vorliegen (vgl. auch unten S. 170 f. Anm. 190). Es kann keine Rede davon sein, daß Kant für den transzendentalen Idealismus auch in der Kritik der reinen Vernunft »höchstens in pragmatischer Weise« argumentiere (so J. Freudiger, Kants Begründimg der praktischen Philosophie, S. 104). -
Allgemeine Exposition des Problems (KpVA 192-197)
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Vernunft nun ebenso der vernünftige Schein in widersprüchlichen Urteilen einer vorkritischen Moralphilosophie aus mißverstandenen Vernunftprinzipien erklärt und aufgelöst werden soll, könnte sich auch darauf stützen, daß Kant wenig später bei der Erörterung der stoischen und epikureischen Position vom »dialektischen Geiste« früherer Zeiten spricht, der zu einer falschen Begriffsbestimmung des höchsten Gutes verleitet hat ( K p V A 201) 10 , und daß er sich nach der »kritischen Aufhebung der Antinomie« gleich wieder auf diese Positionen bezieht (KpV A 207 f.). Schließlich könnte man darauf verweisen, daß auch die »natürliche Dialektik« von Pflicht und Glückseligkeit in der Grundlegung (AA IV, S. 405) ihren Ort in der »gemeinen sittlichen Vernunfterkenntniß« hatte und es ihre Funktion war, die Notwendigkeit des Übergangs zu einer philosophisch reflektierten Ethik zu begründen (vgl. oben S. 22). Aber ein solcher Erklärungsversuch stößt im Text der Kritik der praktischen Vernunft schnell auf seine Grenzen. Kant beruft sich bei der Begriffsexplikation der unbedingten Totalität des Gegenstandes der prakDavon unberührt ist die Möglichkeit, den Antinomien anders als Kant einen höheren systematischen Stellenwert einzuräumen, wenn man Kants direkte Beweise für den transzendentalen Idealismus als nicht ausreichend ansieht (vorausgesetzt, man hält die Antinomienlehre der ersten Kritik für stichhaltig; kritisch dazu mit guten Gründen: W. Malzkom, Kants Kosmologie-Kritik). Die Argumente in der transzendentalen Ästhetik wurden schon früh als unzureichend beurteilt. Vor allem A. Trendelenburg hat einen Einwand in die Diskussion eingeführt, der auch heute noch die Kantinterpreten beschäftigt: Aus der Apriorität und Subjektivität von Raum und Zeit lasse sich ihre transzendentale Idealität nicht, wie Kant das wolle, zwingend ableiten, da Raum und Zeit zugleich subjektive und objektive Formen sein könnten. Gegen diese Kritik (und ihre Neuformulierung durch P. Guyer) hat M. Baum einen Versuch zur Verteidigung Kants unternommen, indem er sich auf die in der Raumanschauimg liegende Totalität und deren Differenz zum diskursiven Begriff bezieht (M. Baum, Dinge an sich und Raum bei Kant, in: G. Funke (Hrsg.), Akten des 7. Internationalen Kant-Kongresses Mainz 1990, Bd. Π.1, Bonn 1991, S. 63-72). Aber auch der Schluß aus dem Ganzheitscharakter ist nicht zwingend, da sich mit parallelen Argumenten auch die Vernunftbegriffe (Ideen) von den diskursiven Begriffen abgrenzen lassen; Ideen aber sind für Kant durchaus mögliche Begriffe von Dingen an sich. Baum erklärt zu rasch Bedingungen diskursiver Begriffe zu Bedingungen von Dingen an sich; zur Diskursivität als Merkmal der endlichen Erkenntnis vgl. unten S. 341 ff. Ergiebiger scheint es mir, den normativen, aber nicht kritisch begründeten Gehalt des Kantischen Begriffs vom Ding an sich herauszuarbeiten, an dem gemessen Gegenstände der Erfahrung als Erscheinungen zu qualifizieren sind; auch der indirekte Schluß aus den Antinomien auf die transzendentale Idealität von Raum und Zeit hängt von einem solch ontologischen Begriff ab; vgl. unten S. 219 f. Anm. 7 und S. 367 f. Anm. 16. 10
Siehe unten S. 114.
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4 Analyse und Interpretation des Textes zur Antinomie der praktischen Vernunft
tischen Vernunft mehrere Male direkt auf die Analytik. Noch im ersten Hauptstück der Dialektik stellt er klar, daß das höchste Gut nicht als Bestimmungsgrund des reinen Willens mißverstanden werden dürfe 11 (oder nur unter der Bedingung auch Bestimmungsgrund sein könne, daß allein »das in diesem Begriffe schon eingeschlossene und mitgedachte moralische Gesetz und kein anderer Gegenstand« den Willen bestimmt), weil, wie aus der Analytik zu ersehen sei12, alle Ableitung des obersten praktischen Prinzips aus einem vorausgesetzten Objekt »jederzeit Heteronomie herbeibringen und das moralische Prinzip verdrängen würde«. Kant ist hier geradezu pedantisch bemüht, auch nur der »kleinste[n] Mißdeutung« sittlicher Prinzipien vorzubeugen, da sie die Gesinnungen verfälsche, und er achtet von Anfang an darauf, daß der Begriff des Objekts der praktischen Vernunft »in der vollkommensten Harmonie« mit »dem Prinzip der Autonomie« des reinen Willens steht (KpV A 196 f., vgl. A 194 und A 233 f.). Auch bei der folgenden Begriffsbestimmung des höchsten Gutes (siehe Kap. 4.2), die schließlich zur Antinomie der praktischen Vernunft führt, und sogar im Antinomiekapitel selbst bezieht er sich in der Argumentation mehrmals auf fundamentale Ergebnisse der Analytik (KpV A 198, 202, 203, 204). Die Explikation der unbedingten Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft und ihres Problems erfolgt offensichtlich von vorneherein auf dem Boden der Kantischen Ethik. Hier deutet sich im Vergleich zur Kritik der reinen Vernunft schon eine erste Besonderheit der systematischen Beziehung von Analytik und Dialektik an, die Kant selbst nirgendwo thematisiert. Die allgemeine Problemexposition im ersten Hauptstück der Dialektik ist also nicht ohne Schwierigkeiten; es ist beim jetzigen Stand der Sachexplikation nicht recht zu sehen, wie und auf welchem Standpunkt sich die reine Vernunft in ihrem praktischen Gebrauch, verführt durch einen »natürlichen Schein«, in unvermeidliche Widersprüche verwikkeln soll 13 . Wenn Kant hier tatsächlich so etwas wie eine allgemeine
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Vgl. auch KpVA234 und Refi. Nr. 6107 (AA XVffl, S. 455). Kant bezieht sich hier vor allem auf KpVA100 ff. Ganz abgesehen ist hier noch von den Schwierigkeiten, die sich aus der systematischen Orts- und Funktionsbestimmung der Dialektik in der Kritik der reinen Vernunft für eine Antinomie der reinen praktischen Vernunft ergeben, s. dazu oben S. 24 und unten S. 280 f.
Bestimmung des Begriffs vom höchsten Gut (KpVA 198-203)
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(metatheoretische) Begründung der Dialektik der praktischen Vernunft aus »reiner Vernunft« intendiert haben sollte, wie man zumindest den ersten Satz des ersten Hauptstücks (KpVA 192) verstehen kann, dann ist sie nicht nachvollziehbar. Dies legt die Vermutung nahe, daß, sofern es Kant überhaupt gelingt, eine Antinomie der praktischen Vernunft zu entwickeln, erst die weitere Spezifizierung des Begriffs der unbedingten praktischen Totalität im zweiten Hauptstück der Dialektik die problemhaltigen Bestimmungsstücke dafür liefert.
4.2 Bestimmung des Begriffs vom höchsten Gut (KpVA 198-203) Drei Schritte lassen sich bei der begrifflichen Bestimmung des höchsten Gutes als der unbedingten Totalität des Gegenstandes der praktischen Vernunft genauer erkennen: (1) Zunächst klärt Kant eine »Zweideutigkeit« im Begriff des Höchsten: Das Höchste kann einmal die oberste, unbedingte Bedingimg sein, die »keiner anderen untergeordnet ist« (supremum, originarium), dann aber auch das vollendete Ganze, »das kein Teil eines noch größeren Ganzen von derselben Art ist« (consummatum, perfectissimum). Das höchste Gut im Sinne der obersten praktischen Bedingung kann nach der Analytik nur die Tugend sein14, und gemäß dieser Bedingimg kann, was immer uns »wünschenswert scheinen mag, mithin auch alle[.] unsere[.] Bewerbung um Glückseligkeit« nur in der strikten Unterordnung unter die Tugendmaxime moralischen Wert und Bestand haben. Mit dieser Verhältnisbestimmung von Tugend und Glückseligkeit ist aber der »Gegenstand des Begehrungsvermögens vernünftiger endlicher Wesen« noch nicht vollständig bestimmt; denn dazu gehört nach Kant nicht nur, daß alles Verlangen nach Glückseligkeit strikt der Tugendmaxime untergeordnet wird, sondern ebenso, daß auch Glückseligkeit »ganz genau in 14
In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (AA IV, S. 396, vgl. 401) ist es der »an sich selbst gute[.] Wille«, den Kant im Sinne der obersten Bedingung als das höchste Gut bezeichnet. Eine sachlich bedeutsame Differenz zur Kritik der praktischen Vernunft ist aber in dieser Verschiebving kaum zu erkennen, denn Tugend bezeichnet bei Kant ja nichts anderes als die sittliche Qualität des an sich guten Willens; vom guten Willen heißt es in der Grundlegung (ebenso wie von der Tugend in der Kritik der praktischen Vernunfl), daß er das höchste, aber »nicht das einzige und das ganze« Gut sei (AA IV, S. 396).
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Proportion der Sittlichkeit (als Wert der Person und deren Würdigkeit, glücklich zu sein)« realisiert wird. Erst Tugend und Glückseligkeit zusammen bilden das ganze und vollendete Gute 15 , das für Kant gleichermaßen das höchste Gut »in einer Person« wie »das höchste Gut einer möglichen Welt« ist (KpV A 198 f.). - Alle Mißverständnisse aus der Zweideutigkeit im Begriff des Höchsten haben ihren Grund allein in einer subjektiven Unachtsamkeit, und alle Streitigkeiten, die daraus entstehen können, sind »unnötig« (KpVA 198)16. Die Zweideutigkeit ist also noch nicht Ursache irgendeiner »unvermeidlichen«, in der »Natur« der Vernunft begründeten Täuschung, wie sie für die transzendentale Dialektik charakteristisch ist 17 . Kants Bestimmung des höchsten Gutes als Proportionszusammenhang von Tugend und Glückseligkeit läßt schon klarer als die Andeutung im ersten Hauptstück erkennen, in welchem Sinne das Thema der Dialektik über sittliche Prioritätsverhältnisse hinausgeht, wie sie in der Analytik untersucht wurden. Der Proportionszusammenhang erfordert aber auch zusätzliche Begründungen, und zwar zunächst moralisch-praktischer Art. Denn im moralischen Gebot, alles Streben nach Glückseligkeit an die Bedingung der Vereinbarkeit mit dem moralischen Gesetz zu knüpfen, ist nicht analytisch die praktische Zielsetzung enthalten, daß der Handelnde (nur) im Maße seiner Tugendhaftigkeit glücklich werden soll. Kants Argumentation dafür, daß dies so sein soll, ist knapp und dennoch ein wenig verwickelt: Nicht nur »in den parteiischen Augen 15
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»Dasjenige Ganze, das kein Teil eines noch größeren Ganzen von derselben Art ist (perfectissimum)«, ist bei Kant keine Umschreibung der Glückseligkeit, wie dies R. Wimmer (Kants kritische Religionsphilosophie, S. 27) annimmt, sondern des höchsten Gutes als Verbindung von Tugend und Glückseligkeit. Der Text in KpV A198 ist eindeutig: So wie das originarium dem supremum zugeordnet wird, so ist das perfectissimum eine Erläuterung des consummatum, das zuvor schon als »das Vollendete« (!) bezeichnet wurde und das auch Wimmer korrekt als Verbindung von Tugend und Glückseligkeit interpretiert. Es bleibt offen, ob Kant hier an bestimmte historische Positionen und ihre Auseinandersetzungen gedacht hat; auch eine ähnliche Passage in der Kritik der reinen Vernunft (A 813 f . / B 841 f.) und einschlägige Reflexionen (vgl. Refi. Nr. 7241, AA XIX, S. 292; Refi. Nr. 7313, AA XIX, S. 310) geben keine weiteren Aufschlüsse. Vgl. auch KrVA296 f . / B 353, w o Kant den »transzendentalen Schein« vom bloß »logischen Schein« dadurch abgrenzt, daß letzterer »lediglich aus einem Mangel der Achtsamkeit auf die logische Regel« entspringt; »sobald daher diese auf den [jeweils] vorliegenden Fall geschärft wird, so verschwindet er gänzlich«. - Daß die Antinomie der praktischen Vernunft in der Zweideutigkeit ihren begrifflichen Ursprung habe, hatte V. S. Wike behauptet, s. dazu oben S. 75-80.
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der Person, die sich selbst zum Zwecke macht, sondern selbst im Urteile einer unparteiischen Vernunft, die jene überhaupt in der Welt als Zweck an sich betrachtet«, werde Glückseligkeit im »Gegenstand des Begehrungsvermögens vernünftiger endlicher Wesen« erfordert; »denn der Glückseligkeit bedürftig, ihrer auch würdig, dennoch aber derselben nicht teilhaftig zu sein, kann mit dem vollkommenen Wollen eines vernünftigen Wesens, welches zugleich alle Gewalt hätte, wenn wir uns auch nur ein solches zum Versuche denken, gar nicht zusammen bestehen« (KpVA 198 f.). Wenn Kant sich hier auf den Standpunkt einer »unparteüschen Vernunft« stellt, dann bedeutet das nicht, daß er eine göttliche Perspektive einzunehmen beansprucht (was angesichts seiner restriktiven Erkenntnistheorie befremden müßte) oder daß er, wie gelegentlich in der älteren und neueren Literatur behauptet wird, bei der Bestimmung des Begriffs des höchsten Gutes den Begriff oder gar die Existenz Gottes bereits voraussetzt18. Das Motiv der interesselosen, unparteüschen und zugleich allmächtigen Vernunft, Kants Abwandlung des »desinterested observer« der englischen Philosophie19, dient hier als hypothetische Vorstellung; sie soll vor allem deutlich machen, daß das Urteil, das dem Tugendhaften Glückseligkeit zuerkennt, selbst nicht von sinnlichen
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Für J. H. von Kirchmann (Erläuterungen zu Kant's Kritik der praktischen Vernunft, S. 54) enthält deshalb Kants Argumentation einen »groben (Zirkelschluss«, wenn er später die Existenz Gottes um der Möglichkeit ebendieses höchsten Gutes willen postuliert, bei dessen Definition das Dasein Gottes schon vorausgesetzt wurde. Der Vorwurf des Zirkels wurde mehrfach wiederholt, so u. a. von C. Stange, Einleitung in die Ethik, I. Bd., S. 153 f.; ders., Die Ethik Kants, S. 98-101 u. 126 f., und St. G. Smith, Worthiness to be Happy and Kant's Concept of the Highest Good, S. 188 f. Weitere Nachweise bei M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 70 Anm. 229. - Von diesem Zirkeleinwand ist ein anderer, sachlich begründeter zu unterscheiden, der gegen eine frühere Ethik-Begründung Kants erhoben wurde und das Verhältnis von moralischer Verpflichtimg und Triebfederlehre einerseits und moralisch begründetem Glauben andererseits betraf. Er spielte schon in der frühen Kritik an Kant eine Rolle; Kant selbst hat ihn später formuliert und in seiner revidierten Prinzipienlehre der Ethik vermieden (s. unten S. 306 f.). Es ist auch dieser Zirkelvorwurf, den G. U. Brastberger (Ueber den Grund unsers Glaubens an Gott, und unserer Erkenntniß von ihm, Stuttgart 1802, S. 58 ff.) breit auswälzt (ohne allerdings Kants spätere Korrektur zur Kenntnis zu nehmen), und nicht, wie Albrecht (Kants Antinomie, S. 70 Anm. 229) meint, die (angebliche) petitio principii bei der Begründung der Notwendigkeit des Zusammenhangs von Tugend und Glückseligkeit im höchsten Gut. Vgl. L.W. Beck, A Commentary, S. 275 (dt. S. 253). S. auch Refi. Nr. 6864 (AA XIX, S. 185), wo Kant sich auf den »Unpartheyische[n] richter« in »Smiths system« bezieht.
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Neigungen und Bedürfnissen bestimmt ist (und damit ein bloß subjektiver, »eigenliebiger« Wunsch wäre), sondern ein Urteil der reinen praktischen Vernunft ist 20 . Es widerspräche der Würde des Menschen als Zwecks an sich, die er gerade durch seine moralisch autonome Vernunft besitzt 21 , wenn er aufgrund seiner endlichen Natur als glücksbedürftiges Wesen existierte, ohne daß diesem Bedürfnis entsprochen würde, sofern er seiner moralischen Bestimmung gemäß handelt. Das ist hier Kants ganzes Argument für die notwendige Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit, das er offenbar für ausreichend gehalten hat 22 . (2) Am Leitfaden grundlegender Einteilungen seiner Philosophie präzisiert Kant nun begrifflich den Zusammenhang von Tugend und Glückseligkeit: Eine jede notwendige Verknüpfung von Bestimmungen ist als Grund-Folge-Beziehung zu denken, und diese kann entweder analytisch oder synthetisch sein. In einer analytischen Einheit zweier Bestimmungen würde die eine Bestimmung rein logisch nach dem Gesetz der Identität aus der anderen abgeleitet werden können; das vernünftige Streben nach Tugend und nach Glückseligkeit wären dann zwei »ganz identische Handlungen«, denen dieselbe Maxime zugrunde liegen könnte (KpV A 199 f.). In dieser Weise haben nach Kant die Stoiker und Epikureer das höchste Gut verstanden 23 ; sie schieden sich allerdings dadurch »in un20
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Vgl. vor allem die Argumentation in der Religionsschrift (AA VI, S. 5 f.), die zeigen soll, daß »dieses Urtheil ganz parteilos, gleich als von einem Fremden gefällt« ist. Dieses »uneigennützige« Urteil der Vernunft ist dann die Grundlage für das Gottespostulat; vgl. KpV A 223 f., 235; Refi. Nr. 6454 (AA X V m , S. 724 f.), Refi. Nr. 7059 (AA XIX, S. 237 f.), Refi. Nr. 7242 (AA XIX, S. 293); KrVA813/B 841. - Schon früh (1794) hat K. H. Heydenreich (Propaedeutick der Moralphilosophie, 2. Teil, S. 185 f.) festgehalten, daß der Gedanke der notwendigen Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit bei Kant »nicht etwa schon das Daseyn eines heiligen und weisen Welturhebers« voraussetzt, sondern als Norm in der Vernunft liegt; vgl. ferner L.W.Beck, A Commentary, S. 275 Anm. 38 (dt. S. 306 Anm. 38) und M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 70 Anm. 229. Vgl. dazu etwa Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 428 ff. Das Argument mag, wie gesagt, knapp sein und kaum mehr als den Appell an unterstellte gemeinsame Überzeugungen enthalten. Die Behauptung, daß Kant seit der Kritik der praktischen Vernunft den sachlichen Zusammenhang von Sittengesetz und Glückseligkeit einfach durch ein »ad hoc-Gebot« der Verwirklichimg des höchsten Gutes ersetzt habe (so G. B. Sala, Wohlverhalten und Wohlergehen I, S. 196 f. und 203; vgl. ders., Kant und die Frage nach Gott, S. 418), wird Kant aber nicht gerecht. Daß Kant hier von den ethischen Idealen der Alten nur das stoische und epikureische erwähnt und nicht auch das Ideal der Einfalt des Diogenes oder das »mystische« Piatons wie sonst bei anderer Gelegenheit (vgl. schon die Refi. Nr. 6584, AA XIX, S. 95, aus den Jahren 1764-68), mag damit zusammenhängen, daß nach Kants Verständnis die kynische
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endliche Weiten von einander«, daß die Stoiker die Tugend als Grundbegriff wählten und die Glückseligkeit mit dem Bewußtsein der eigenen Tugendhaftigkeit identifizierten, während die Epikureer die Glückseligkeit für den elementaren Begriff hielten und Tugend für sie nur im Bewußtsein der »auf Glückseligkeit führenden Maxime«, »im vernünftigen Gebrauche der Mittel zu derselben« bestand ( K p V A 200-202). Beide Formen einer analytischen Einheit sind für Kant unangemessen, da es in der Idee des höchsten Gutes um einen Zusammenhang »zwischen äußerst ungleichartigen Begriffen« gehe (KpVA 201). Maximen der Tugend und der Glückseligkeit sind so wenig identisch, daß sie, wie ausgiebig in der Analytik erörtert, vielmehr »einander in demselben Subjekte gar sehr einschränken und Abbruch tun« (KpVA 202). Das Streben nach Glückseligkeit und das nach Tugend sind daher zwei verschiedene Handlungen: Wer Maximen der Tugend folgt, kann dies nicht in dem Bewußtsein tun, daß er damit ipso facto auch sein Glück verwirklicht, und wer der Glückseligkeit, und sei es auch mit vernünftigen Mitteln, nachstrebt, handelt nicht ebendadurch schon tugendhaft (vgl. KpVA 203)24. Kant besteht hier gegenüber Stoa und Epikur auf einem empirischen Begriff des sinnlich bedingten Glücks, der die Glückserfahrung nicht durch die Unterscheidung von »echter«, »wahrer« Glückseligkeit und bloß scheinbarem, sinnlichem Glück schon vorweg moralisch normiert und zensiert25. Insbesondere gegenüber der Stoa beharrt er auf der Erfahrung der Differenz: Der Mensch ist »ein abhängiges Wesen: Er fühlt die
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und platonische Lehre das höchste Gut als bereits »physisch oder hyperphysisch« vorhanden betrachteten, wobei nur die Hindernisse zu beseitigen waren, während die epikureische und stoische Philosophie den Ursprung des höchsten Gutes »als künstlich«, als »die Wirkung von erworbenen und durch Nachdenken gefundenen Grundsätzen« ansahen (Refi. Nr. 6874, AA XIX, S. 188), also mit Kants Lehre in der Kritik der praktischen Vernunft darin übereinkommen, daß das höchste Gut aktiv durch sittliches Handeln nach selbst hervorgebrachten Maximen zu realisieren ist. Vgl. K. Düsing, Das Problem des höchsten Gutes in Kants praktischer Philosophie, S. 9. Zu kurz greift die Begründung G. Krämlings, wenn er meint, die Verbindung könne »nicht als analytische gedacht werden, da die praktische Vernunft sonst heteronom würde« (Die systembildende Rolle, S. 64 Anm. 58; Das höchste Gut als mögliche Welt, S. 278 Anm. 18). Das ist nur die Folge der epikureischen Version der analytischen Verbindung von Tugend und Glückseligkeit, nicht aber der Position der Stoiker, denen Kant bescheinigt, daß sie »ihr oberstes praktisches Prinzip ... ganz richtig gewählt« haben (KpVA 228). Im Kontext einer früheren Ethikbegründung hatte Kant selbst allerdings eine Unterscheidung dieser Art erwogen: »Das Gute des Lebens oder die Glückseeligkeit: entweder wie sie erscheint, oder wie sie ist« (Refi. Nr. 7202, AA XIX, S. 278).
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Uebel und Trübsale wohl, wenn er gleich sich der größten Tugend bewußt ist. ... Bin ich noch so tugendhaft, so kann ich doch dadurch dem Uebel nicht entweichen. Der Mensch ... braucht mehr zu seiner Zufriedenheit als Tugend«26. Alle innere Selbstzufriedenheit, die er durch Moralität hervorbringen kann27, kann ihn als endliches, bedürftiges Wesen nicht völlig unempfindlich machen gegen sein empirisches Befinden: »die Gottheit ist unabhängig von allen äußern Umständen; der Mensch hingegen nicht. Der Mensch ist vermögend beym Bewußtsein seines Werths vieles zu entbehren; indem er in sich selbst einen Besitz findet; aber dieser Selbstbesitz ist nicht Glükseeligkeit«28. Wenn die Stoiker im bloßen »Bewußtsein der sittlichen Denkungsart« schon das Glück zu finden glaubten, hätten sie eigentlich »durch die Stimme ihrer eigenen Natur hinreichend ... widerlegt werden können« ( K p V A 229). Beide antiken Schulen tragen für ihn »Scheu«, »sich in den realen Unterschied tief einzulassen« (KpV A 201) 29 . Bei spezifisch verschiedenen 26
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So die Vorlesungsnachschrift Moral Mrongovius II, AA XXIX.1.1, S. 600, vgl. S. 602,640 und 624: »Des Tugendhaften Trost ist die Kürze des Lebens und kann man die wohl glüklich nennen die da wünschen daß ihr Leben kurz sei«. Vgl. KpVA45 und 212-214. Moral Mrongovius II, AA XXIX.1.1, S. 624, vgl. S. 620. Vgl. Religionslehre Pölitz, AA XXVni.2.2, S. 1090. In den Vorlesungen reichert Kant die Differenz von Tugend und Glück mit weiteren psychologischen Beobachtungen an: Gerade wer sich um das Gute bemüht, fühlt besonders »den Schmerz diesen Lebens, indem er denkt, er ist tugendhaft, und doch geht es ihm schlecht, wäre er nicht tugendhaft, so könnte er es ehr ertragen, weil er es verdient hätte« (Moralphilosophie Collins, AA XXVn.l, S. 302 (Parallelstellen Moral Mrongovius, AA XXVΠ.2.2, S. 1448 f., und Ethik Menzer, S. 94). Vgl. auch unten S. 157 f. Anm. 142. - Mehr als Scheu, nämlich theologische Befangenheit muß man Interpreten attestieren, wenn sie wie G. B. Sala den Kantischen Glückseligkeitsbegriff mit aller Gewalt wieder in die Bahnen eines thomistischen beatitudo-Begriffs zurückbiegen wollen, die empirische Glückseligkeit durch eine »transzendente Glückseligkeit«, verstanden als Vervollkommnung des Wesens des Menschen, ersetzen und Kants Rede von Gott als der »Ursache aller Glückseligkeit in der Welt« (KrVA 810/B 838) und von einem in der Welt möglichen höchsten Gut (z. B. Religionsschrift, AA VI, S. 6 Anm.) als »irreführende Vorstellung« abtun, die Kant an anderer Stelle »überwunden« habe, wenn er das höchste Gut in das »künftige Leben« versetze: G. B. Sala, Wohlverhalten und Wohlergehen I, bes. S. 188-190,197,199 und 203-205, Wohlverhalten und Wohlergehen Π, S. 378-384; vgl. ders., Kant und die Frage nach Gott, S. 373 Anm. 5, 380, 387, 408 Anm. 15.; ders., Der moralische Gottesbeweis: Entwicklung und Spannungen in der Kantischen Fassimg, in: G. Funke (Hrsg.), Akten des 7. Internationalen Kant-Kongresses Mainz 1990, Bd. Π.2, Bonn 1991, S. 295-304, hier S. 297. Wenn Sala den Glückseligkeitsbegriff vom Naturbegriff abtrennen will und meint, es gehe beim moralischen Gottesbeweis Kant letztlich »einzig und allein« »um Gott als Ursache der transzendenten Glückseligkeit«, nicht der Natur (Wohlverhalten und Wohlergehen I, S. 195 Anm. 17 und Wohlver-
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Elementen aber muß der Zusammenhang als notwendige synthetisch-reale Verknüpfung gedacht werden, die nicht allein durch eine logische Begriffsanalyse erkennbar ist30. Auch diese wichtige Klärung des Begriffs vom höchsten Gut erfolgt noch ganz im Rahmen der Begriffsexplikation und gehört noch nicht zur Exposition des antinomischen Problems. Weder der Gegensatz von analytischer und synthetischer Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit noch der Gegensatz der beiden analytischen Verbindungsweisen, wie er in der Kantischen Darstellung dem Streit zwischen Stoikern und Epikur zugrunde liegt, qualifizieren sich so, wie Kant sie charakterisiert, für einen dialektischen Widerstreit von Positionen. Verfehlt sind deshalb Deutungen (wie die von F. Kaulbach, A. Philonenko, R. Brandt u. a.), die die Antinomie der praktischen Vernunft auf den Streit zwischen stoischer und epikureischer Position oder auf den Gegensatz von analytischer und synthetischer Verbindung zwischen Tugend und Glückseligkeit
halten und Wohlergehen Π, S. 383), übersieht er das zentrale Problem der Vermittlung gerade in der späteren Systemkonzeption, wo die Urteilskraft die Kluft zwischen dem Natur- und Freiheitsbegriff, zwischen der Gesetzgebung des Verstandes und der der praktischen Vernunft mit ihrem Endzweck überbrücken soll (vgl. KU Β LUI ff.). Wer auf Stichworte wie »Autonomie« und »Formalität des moralischen Gesetzes« überwiegend mit theologischen Ressentiments reagiert und unter dem Motto »ens et bonum convertuntur« die Glückseligkeit wieder »aus dem Wesen der Sittlichkeit selbst« (Sala, Wohlverhalten und Wohlergehen I, S. 196; Wohlverhalten und Wohlergehen Π, S. 389-391; ders., Kant und die Frage nach Gott, S. 394 f., 405) ableiten will, unterschätzt erheblich das verschärfte Differenzbewußtsein und die gestiegenen Ansprüche an die Begründung »wesentlicher Zusammenhänge«, übrigens auch die Ansprüche an die terminologische Präzision. Der Gedanke eines Sittengesetzes, das verpflichtet, ohne dabei gleich zu drohen oder etwas zu verheißen (vgl. Religionsschrift, AA VI, S. 49), ist auch Indiz einer Kultivierung der moralischen Denkungsart, unabhängig davon, was man sonst von diesem Sittengesetz halten mag. Wenn man freilich allen »Sinn« und »Wert« moralischen Handelns an den Zweck verausgabt, der dadurch »letztlich« bewirkt wird (»wo kein Zweck, da ist auch kein Sinn«: Sala, Wohlverhalten und Wohlergehen Π, S. 393, vgl. Wohlverhalten und Wohlergehen I, S. 185), wird man an solcher Verfeinerung hier und jetzt nicht viel Schätzenswertes entdecken können. 30
Die Verknüpfung (nexus) stellt schon eine spezifische Form von synthetischer Verbindung überhaupt (conjunctio) dar. Diese ist nach Kant nämlich entweder eine Zusammensetzung (compositio), die Gleichartiges, »was nicht notwendig zueinander gehört«, miteinander verbindet (wie in der Geometrie), oder eine Verknüpfung (nexus), d. i. »Synthesis des Mannigfaltigen, sofern es notwendig zueinander gehört«, wobei das Mannigfaltige auch ungleichartig sein kann wie das Sinnliche und Übersinnliche (KrVB 201 Anm., vgl. auch unten S. 233 Anm. 47). Eine solche Unterscheidimg zeichnet sich schon in der Refi. Nr. 5182 (AA XVIII, S. 111) ab, die Adickes in die 70er Jahre verlegt.
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beziehen 31 . Die Versuche einer analytischen »Koalition« der Begriffe, gleich in welcher Form, sind für Kant angesichts ihrer Heterogenität schlicht verfehlt. Ihr historisches Auftreten ist nicht Ausdruck einer Vernunftdialektik. Für die falsche Begriffsbestimmung des höchsten Gutes bei Stoikern und Epikureern hat Kant nur ein »Bedauern« übrig; »die Scharfsinnigkeit dieser Männer« sei »unglücklich angewandt« gewesen (so sehr man bewundern müsse, daß sie in ihrem Rahmen alle Denkmöglichkeiten durchspielten) (KpVA 201). Und wenn er ihren Fehler, logisch-analytisch »Identität zu ergrübeln«, wo reale Unterschiede bestehen, halbwegs damit historisch entschuldigt, daß dies »dem dialektischen Geiste ihrer Zeiten angemessen« gewesen sei (ebd.), so ist hier der Dialektikbegriff nicht im genuin Kantischen Sinne der (unvermeidlichen) transzendentalen Vernunftdialektik verwendet, wie sie den zweiten Teil der transzendentalen Logik bildet, sondern in dem älteren und weiteren Sinne einer logischen Dialektik, die in die Einteilung der allgemeinen (formalen) Logik gehört. Dialektisch in diesem Sinne ist ein Gebrauch der Logik, der allein mittels logischer Formen und formaler Subtilitäten wahre Erkenntnis von Gegenständen zu erlangen beansprucht (oder als »ars sophistica, disputatoria« 32 bewußt vortäuscht), ohne daß ihr ein realer Gehalt entspricht, der nur in der inhaltlichen Übereinstimmung mit den Objekten bestehen kann; die »allgemeine Logik, die bloß ein Kanon zur Beurteilung ist, [wird hier] gleichsam wie ein Organon zur wirklichen Hervorbringimg wenigstens zum Blendwerk von objektiven Behauptungen gebraucht, und mithin in der Tat dadurch gemißbraucht« 3 3 . Die logische Dialektik hat es nicht »mit einer natürlichen und unvermeidlichen Illusion zu tun«, sondern mit vermeidbaren Fehlern bei der Befolgung von Grundsätzen »oder mit einem gekünstelten Scheine, in Nachahmimg derselben« (KrVA 298/Β 354). Es ist ganz im Rahmen dieser »logischen Dialektik« gedacht und formuliert, wenn Kant Stoa und Epikur vorwirft, daß sie »den realen Unterschied« von
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Vgl. oben S. 26-31. Logik, AA DC, S. 16, vgl. J&VA61/B 85 f. KrVA61/B 85, Hervorhebungen im Original. Zu Kants Unterscheidung von »logischer« und »transzendentaler« Dialektik vgl. auch KrV A 57-64/Β 82-88, A 296-298/B 353-355, A 333/B 390; zur Einteilung der Logik in Analytik und Dialektik s. femer Logik, AA IX, S. 16 f., 20.
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Tugend und Glückseligkeit »in Wortstreit zu verwandeln« suchen »und ihn lieber als Uneinigkeit in bloßen Formalien« behandeln (KpV A 201) 34 . (3) Im letzten Schritt bestimmt Kant die notwendige synthetischreale Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit durch eine Kategorie.
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Diesen Vorwurf erhebt Kant auch gegen Zeitgenossen: »Auch jetzt [werden] bisweilen subtile Köpfe verleitet, wesentliche und nie zu vereinigende Unterschiede in Prinzipien dadurch aufzuheben, daß man sie in Wortstreit zu verwandeln sucht und so dem Scheine nach Einheit des Begriffs bloß unter verschiedenen Benennungen erkünstelt« (KpVA 201). Kant dürfte hier vor allem an Moses Mendelssohn gedacht haben, den er zwei Jahre zuvor (1786) wegen dessen erklärter Maxime heftig angegriffen hatte, »alle Streitigkeiten der philosophischen Schulen für bloße Wortstreitigkeiten zu erklären, oder doch wenigstens ursprünglich von Wortstreitigkeiten herzuleiten«: Einige Bemerkungen zu Ludwig Heinrich Jakob's Prüfung der Mendelssohn'sehen Morgenstunden, AA V E , S. 152. Kant attakkierte insbesondere Mendelssohns Versuch, »den alten Streit über Freiheit und Naturnotwendigkeit in Bestimmungen des Willens ... auf bloßen Wortstreit zurück zu führen, weil das Wort müssen in zweierlei verschiedener Bedeutung (theils bloß objectiver, theils subjectiver) gebraucht wird« (vgl. auch die Anspielung KrVΒ ΧΧΧΠ). Kant beharrt geradezu trotzig auf der »ganz entgegengesetzten Meinung«, »daß in Dingen, worüber man, vornehmlich in der Philosophie, eine geraume Zeit hindurch gestritten hat, niemals eine Wortstreitigkeit zum Grunde gelegen habe, sondern immer eine wahrhafte Streitigkeit über Sachen« (Einige Bemerkungen, AA VIH, S. 152, Hervorhebungen von mir). In der Entschlossenheit, Mendelssohns Methode rundweg jede Berechtigung abzusprechen, versteigt er sich sogar zu der Behauptung, daß es »am Ende eben so wenig wahre Homonyma als Synonyma giebt«, da »es doch gar nicht lange währen [kann], bis die, so sich im Gebrauche desselben [sc. Wortes] anfangs veruneinigt haben, den Mißverstand bemerken und sich an deren Statt anderer bedienen« (AA Vm, S. 152). Der kritische Philosoph verrät hier nicht, worauf sich seine Zuversicht gründet; sie ist auch nicht seine Überzeugung geblieben. In der Anthropologie äußert er sich eher skeptisch zur Möglichkeit, eine eineindeutige Entsprechung von Sprachgebrauch und Begriffen herzustellen: Ein »Mangel des Bezeichnungsvermögens« oder der »fehlerhafte!·] Gebrauch desselben« bedinge es - und zwar »vornehmlich in Sachen der Vernunft« - , »daß Menschen, die der Sprache nach einig sind, in Begriffen himmelweit von einander abstehen; welches nur zufälligerweise, wenn ein jeder nach dem seinigen handelt, offenbar wird« (AA ΥΠ, S. 193, Hervorhebungen von mir). Die kompromißlose Härte, mit der sich Kant gegen Mendelssohn wendete, wird vor diesem Hintergrund noch auffälliger und verlangt eine Erklärung: Wenn Mendelssohns Verfahren, mit den vergleichsweise einfachen und eleganten Mitteln der Sprachanalyse die Ursachen für die philosophischen Streitfragen aufzudecken und zu beheben, erfolgreich wäre, dann bedeutete dies eine direkte Konkurrenz für Kants Unternehmen, die die Unentbehrlichkeit des viel aufwendigeren und mühsameren Geschäftes der Transzendentalphilosophie in Frage stellte. Es mußte sich schon um »eine[n] wichtige[n], durch dogmatische Metaphysik niemals zu entscheidende[n] Streit«, nicht bloß um Wortstreit handeln (Einige Bemerkungen, AA Vm, S. 153, vgl. Prolegomena, AA IV, S. 339 f.), damit allein die umfassende Kritik der Vernunft die Lösung enthalten konnte. Man kann vermuten, daß Kant auch von der modernen rein sprachanalytischen Behandlung wichtiger Fragen der Philosophie wenig erwartet hätte.
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Die logische Urteilsform für eine Grund-Folge-Relation ist das hypothetische Urteil 35 ; das Bedingungsverhältnis im höchsten Gut könnte ohne Ansprüche an eine präzise Formalisierung etwa durch das Verhältnis folgender beider Sätze wiedergegeben werden: Wenn einer tugendhaft ist, so ist [wird] er auch im Maße seiner Tugendhaftigkeit glücklich. Diese Relation wird nach der Kantischen Kategorienlehre durch den Begriff der Kausalität als reales synthetisches Verhältnis gedacht, in dem die »Tugend die Glückseligkeit als etwas von dem Bewußtsein der ersteren Unterschiedenes, wie die Ursache eine Wirkung«, hervorbringt (KpV A 200)36. Die beiden anderen Relationskategorien, in denen ebenfalls Synthesen in objektiv-realer Bedeutung gedacht werden, zieht Kant aus naheliegenden Gründen hier erst gar nicht in Betracht: Die Substanz-Akzidens-Kategorie und das ihr entsprechende kategorische Urteil (nach dem Muster: der Tugendhafte ist [wird] glücklich) brächten in der Form nicht die Notwendigkeit der Verknüpfung (»nach einem allgemeinen Gesetze«, vgl. KpV A 207) zum Ausdruck; und die Kategorie der Gemeinschaft (der wechselseitigen Beeinflussung) entspräche nicht der moralisch geforderten Priorität der Tugend, die in keiner Hinsicht dem Glückseligkeitsstreben nachgeordnet oder auch nur gleichgeordnet werden darf. In einer Reflexion aus der 2. Hälfte der 70er Jahre, also der Zeit der Entstehung der Kritik der reinen Vernunft, bestimmt Kant allerdings auch einmal das Verhältnis von Freiheit und Glückseligkeit durch den Begriff der Gemeinschaft: »In der Verstandeswelt ist das substratum: in35
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Vgl. ¿OVA 73/Β 98, mit einem Beispiel, das auch inhaltlich eine gewisse Nähe zum Thema hat: »wenn eine vollkommene Gerechtigkeit da ist, so wird der beharrlich Böse bestraft«; Logik, AAIX, S. 105 (§ 25). Reichlich dubios ist die Behauptung R. Langthalers, »daß die in der Idee des "höchsten Guts" gedachte "synthetische Vereinigung" von Moralität und Glückseligkeit gewiß keine solche von "Grund" und "Folge" sein« könne, weil dies nicht mit dem sittlich-praktischen Charakter und Rang des höchsten Gutes vereinbar wäre: Kants Ethik als "System der Zwecke", S. 378. Vermutlich richten sich die Vorbehalte nicht gegen die Denkform des hypothetischen Urteils (daß moralische Inhalte in diese logische Form gegossen werden können, belegt Kants Beispiel in KrVA 73/B 98, s. vorangehende Anm.), sondern gegen die kausale Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit; und hier übersieht Langthaler, daß die Kategorie der Kausalität bei Kant nichts als die Form hinzutut, um die Regelhaftigkeit eines Zusammenhangs, hier »der genauen Übereinstimmung der Glückseligkeit mit der Sittlichkeit« (KpVA 225, Langthaler selbst verweist darauf, allerdings mit fehlerhafter Stellenangabe), als realen, objektiven Zusammenhang zu denken.
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telligentz, die Handlung und Ursache: Freyheit, die Gemeinschaft: Glückseligkeit aus Freyheit, das Urwesen: eine Intelligentz durch idee, die form: moralitaet, der nexus: ein nexus der Zweke. Diese Verstandeswelt liegt schon itzt der Sinnenwelt zum Grunde und ist das wahre selbstständige« 37 . Offensichtlich orientiert sich Kant hier schon an dem Schema der Relationskategorien; über den genauen Gesichtspunkt dieser Zuordnung bleiben aber nur Vermutungen. Vielleicht hat die Vorstellung eines durch Ideen der höchsten Intelligenz begründeten nexus finalis der Verstandeswelt, einer zweckmäßigen Koordination von Teilen zu einem harmonischen Ganzen den Ausschlag gegeben, also mehr die Vorstellung einer ideal vermittelten Entsprechung nach Leibnizschem Vorbild38 als die einer realen Wechselwirkung von Freiheit und Glück (von der sich auch schwer sagen ließe, was sie Vinter Kantischen Prämissen genau bedeuten würde). Man wird in dieser Bestimmung wohl eher einen noch tastenden Versuch der begrifflichen Fixierung des Verhältnisses von Tugend und Glückseligkeit sehen müssen und entsprechend zurückhaltend mit Deutungen sein. In anderen Reflexionen, die teilweise aus etwa derselben Zeit stammen, findet sich nämlich schon die vertrautere Bestimmung des höchsten Gutes durch den Kausalitätsbegriff. Interessant ist hier die Reflexion Nr. 6888, da sie zum einen ebenfalls eine Zuordnung entlang der Relationskategorien vornimmt und zum anderen sowohl den Begriff der Kausalität wie den der Gemeinschaft mit dem höchsten Gut in Zusammenhang bringt: »Substantz. Pflicht gegen ... sich selbst. [/] Caussalitaet. Allgemeine Glückseeligkeit. [/] Commercium. Gemeinschaftliche Willkühr«39. Die (allgemeine) Glückseligkeit
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Refl. Nr. 5086 (AA XVm, S. 83). In einer sehr frühen Rezension (1788) der Kritik der praktischen Vernunft schlägt A. W. Rehberg listig Kant ein solches Verständnis seines höchsten Gutes vor: Er bestreitet zunächst die zentrale These der Analytik der Kritik der praktischen Vernunft, reine Vernunft könne in der Sinnenwelt praktisch im Sinne einer effizienten Ursache sein, und meint dann, »das höchste Gut [könne] auch durch die Categorie der Gemeinschaft gedacht werden«, als Idee einer besten Welt, in der »alle Triebfedern des Willens mit den objectiven Gesetzen vollkommen harmoniren müßten« - in der Absicht, das Ganze gegen Kant zu wenden und seine Lehre vom höchsten Gut unglaubwürdig zu machen, da doch mit der »Idee von einer besten Welt... die wirkliche den schrecklichsten Contrast macht«: A. W. Rehberg, Rezension der Kritik der praktischen Vernunft, Spalte 359 (Schulz S. 252 f.). Vgl. auch E. G. Schulz, Rehbergs Opposition gegen Kants Ethik, S. 139 ff. Refl. Nr. 6888 (AA XIX, S. 193).
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wird also unter dem Gesichtspunkt der Kausalität bestimmt, und zwar, wie man ergänzen darf, als Folge40, ihre Ursache aber durch den Begriff der Gemeinschaft gedacht, und zwar als Übereinstimmung der freien Willkür aller Menschen gemäß dem moralischen Gesetz41. Aus dem Kantischen Arsenal der Relationsbegriffe ist es allein die Kausalitätskategorie, die das praktische Bedingungsverhältnis angemessen in die Form einer notwendigen, einseitig gerichteten, realen synthetischen Verbindung übersetzt. Im Hinblick auf die Interpretation des Antinomiekapitels ist es bemerkenswert, daß Kant hier, wo er zum ersten Mal bei der Begriffsdefinition des höchsten Gutes von der Kausalbeziehung zwischen Tugend und Glückseligkeit spricht, nur jene Möglichkeit der Verknüpfung nennt, die dem zuvor mehrmals eingeschärften sittlichen Bedingungsverhältnis der Relate entspricht: die Tugend als Ursache bringt die Glückseligkeit als Wirkung hervor (KpV A 200) 42 . Von einer möglichen Umkehrung der Kausalrichtung, die später im Antinomiekapitel eine Rolle spielt, ist hier mit keinem Wort die Rede. Die Bestimmung des höchsten Gutes als synthetisch-kausaler Verknüpfung der real unterschiedenen Elemente Tugend und Glückseligkeit macht nach Kant deutlich, daß ein größerer Begründungs- und Rechtfertigungsbedarf besteht, als dies die »bisherigen Koalitionsversuche« vermuten ließen. Bei einer analytischen Grund-Folge-Beziehung von Tugend und Glückseligkeit würde es genügen zu zeigen, daß der Grundbe-
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Vgl. z. B. Refi. Nr. 6910 (AA XIX, S. 203); Refi. Nr. 7200 (AA XIX, S. 274); Refi. Nr. 7205 (AA XIX, S. 284); KrVA809/B 837 u. ö. Vgl. Refi. Nr. 7199 (AA XIX, S. 273): »Causalitaet. Die Beschaffenheit der (reinen) Freyheit, dadurch sie sich selbst die Ursache der Glückseeligkeit ist; sie ist aber die Ursache der Glückseeligkeit durch die Uebereinstimmung allgemeiner Willkühr«. Zur Erläuterung sei hier hinzugefügt, daß Kant an allen hier genannten früheren Stellen noch von einem Konzept des höchsten Gutes ausgeht, nach dem eine der sittlichen Würdigkeit entsprechende Glückseligkeit schon natürlicherweise die Folge wäre, wenn alle Menschen moralisch handelten. Die ideale moralische Ordnung einer »Glückseligkeit aus Freyheit« gehört zwar der Verstandeswelt an (vgl. auch Refi. Nr. 6907, AA XIX, S. 202), diese aber liegt, wie die zitierte Refi. Nr. 5086 sagt, schon jetzt der Sinnenwelt zugrunde, und Kant hat in der Tat angenommen, daß diese Idee auch in der Welt verwirklicht werden könnte, wenn die Menschen moralisch vereint an ihrem Glück arbeiteten. Dieses Motiv bleibt für Kant noch bis in die Lehre vom höchsten Gut in der Kritik der reinen Vernunft hinein von grundlegender Bedeutung. Vgl. ausführlicher dazu unten S. 152-155. Auch M. Albrecht hält dies fest: Kants Antinomie, S. 91 f.
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griff wirklich oder real-möglich ist, um sicher zu sein, daß das höchste Gut kein bloßes Gedankending ist; die anderen Bestimmungen ließen sich nach dem Widerspruchsprinzip daraus ableiten 43 . Bei synthetischen Urteilen, bei einzelnen (empirischen) ebenso wie bei allgemeinen (apriorischen), bedarf aber die Synthesis der Elemente einer eigenen Begründung44. In bezug auf das höchste Gut heißt das, daß nicht nur moralisch-praktisch gezeigt werden muß, warum der Tugendhafte glücklich werden soll (vgl. oben S. 108-110), sondern auch in einer theoretischen Reflexion, wie er es werden kann. Dieser Frage gibt Kant in der Kritik der praktischen Vernunft eine Wendimg und Bedeutung, die an die Grundfrage der Kritik der reinen Vernunft erinnert. Dort lautete die schwere, »allgemeine Aufgabe der reinen Vernunft«, »auf die alles ankommt« und die man sich doch vorher nicht »in Gedanken kommen ließ«: »Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?«*5. Nun heißt die bisher »unaufgelöste Frage«: »Wie ist das höchste Gut praktisch möglich?«, mit der Erklärung, daß sie deshalb »eine[.] schwer zu lösende[.] Aufgabe« sei, weil »Glückseligkeit und Sittlichkeit zwei spezifisch ganz verschiedene Elemente des höchsten Guts sind und ihre Verbindung also nicht analytisch erkannt werden könne ..., sondern eine Synthesis der Begriffe sei« ( K p V A 203, Hervorhebungen im Original). Kant glaubt also, mittels der Unterscheidung von analytischen und synthetischen Urteilen auch in der Lehre vom höchsten Gut einen Begründungsmangel aufgedeckt zu haben, der den Philosophen bislang verborgen geblieben ist46. Daß Kant hier eine Parallele zur entscheidenden Fragestellung der Kritik der reinen Vernunft vor Augen gehabt hat, zeigt auch die Art der Untersuchung, die er zur Lösung für erforderlich hält. Die Erklärung, 43 44 45 46
Vgl. JÖVA150-153/B 189-193. Vgl. KrVÀ154-158/B 193-197; A 6-10/B 10-14. KrVΒ19; Prolegomena, AAIV, S. 276 (§ 5), Hervorhebung im Original. Auch das moralische Gesetz selbst ist nach Kant ein »synthetisch-praktischer Satz a priori« und bedarf als solcher einer Rechtfertigung, vgl. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten AA IV, S. 420,440,444 f., 447 und 454; KpVA 56 f.; Refi. Nr. 7316 (AA XIX, S. 314 f.) u. ö. Anders als sonst bei den synthetischen Urteilen a priori besteht diese (metaethische) Rechtfertigung aber seit der Kritik der praktischen Vernunft nicht mehr in einer Deduktion des moralischen Prinzips, wie sie Kant noch in der Grundlegung versucht hatte, sondern bekanntlich in der Lehre vom unableitbaren Faktum der sittlichen Verpflichtung (vgl. bes. KpVA 55 f. und 80-82).
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wie sich die apriorischen Formen notwendiger synthetischer Verbindungen auf Gegenstände beziehen können, trug in der Kritik der reinen Vernunft den Titel »transzendentale Deduktion« (vgl. KrV A 84 ff./Β 116 ff.); und eine ebensolche ist für Kant auch zum Nachweis der Möglichkeit des höchsten Gutes nötig: Die Synthesis im höchsten Gut sei »a priori, mithin praktisch notwendig, folglich nicht ... aus der Erfahrung abgeleitet«, die Bedingungen ihrer Möglichkeit können daher nicht auf empirischen Prinzipien beruhen, sondern »lediglich auf Erkenntnisgründen a priori« (KpVA 203). Auf den ersten Blick scheint hier in der Tat eine weitgehende Entsprechung zu bestehen; und so meinte auch H. J. de Vleeschauwer, daß es sich hier nur um einen besonderen Fall der allgemeinen kritischen Frage handele: Wie ist ein synthetisches Urteil a priori möglich? 47 Denn in beiden Fällen wird eine Erklärung verlangt, wie Begriffe notwendiger synthetischer Verbindungen, die keinen empirischen Ursprung in der Gegenstandserkenntnis haben, eine objektive Bedeutung, d. h. eine Beziehlang auf einen Gegenstand haben können. Bei einem genaueren Vergleich zeigen sich aber zwei wichtige Unterschiede: (1) In der transzendentalen Deduktion der Kategorien war das Problem zu lösen, wie sich allgemeine apriorische Formen synthetischer Verbindungen überhaupt (ζ. B. das allgemeine Gesetz der Kausalität noch vor jeder inhaltlichen Spezifikation) auf Gegenstände beziehen können. In der Kritik der praktischen Vernunft geht es dagegen um eine inhaltlich bestimmte Verknüpfung, die von Tugend und Glückseligkeit. (2) Die Aufgabe in der ersten Kritik war anspruchsvoller, weil dort gezeigt werden sollte, wie die in den Kategorien gedachten notwendigen Synthesen eine objektive, reale Gültigkeit in unserer Erkenntnis der empirisch gegebenen Gegenstände haben können. Das Problem in der zweiten Kritik ist elementarer, insofern hier erklärt werden soll, wie eine reale notwendige Verbindung, die von der praktischen Vernunft gefordert wird, überhaupt als ontologisch möglich gedacht werden kann. Das bedeutet, daß nicht verlangt ist, die Erklärung der Möglichkeit des höchsten Gutes in irgendeiner Form konkreter Gegenstandserkenntnis 47
H. J. de Vleeschauwer, La Déduction transcendentale dans l'œuvre de Kant. Tome troisième, S. 330 Anm. 4.
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einzulösen. Andererseits ist aber auch aus der Kantischen Philosophie keine allgemeine Regel ableitbar, nach der die praktische Möglichkeit dessen, was moralisch notwendig ist und »durch Freiheit des Willens« hervorgebracht werden soll, allein transzendental aus allgemeinen apriorischen Erkenntnisprinzipien begriffen werden und nicht (auch) auf empirischen Prinzipien beruhen kann. Gegen eine solche Regel ließe sich mit Kants eigener Tugendlehre in der Metaphysik der Sitten argumentieren: Ganz ähnlich wie das höchste Gut charakterisiert Kant dort die »eigene Vollkommenheit« und die »fremde Glückseligkeit« als a priori notwendige Zwecke der reinen praktischen Vernunft48, die durch einen »Act der Freiheit des handelnden Subjects« hervorgebracht werden sollen 49 . Die Möglichkeit ihrer Verwirklichung beruht aber keineswegs ausschließlich oder vornehmlich auf Erkenntnisgründen a priori, sondern verlangt, wie besonders deutlich im Fall der fremden Glückseligkeit wird, vor allem Erfahrungswissen (einschließlich der empirisch gewonnenen, pragmatisch-hypothetischen Imperative der Klugheit50), Situationserkenntnis und eine praktische Urteilskraft (samt einer stets fragmentarischen Kasuistik zu ihrer Übung), um angesichts des Spielraums, den die weiten Tugendpflichten gewähren und der durch kein Vernunftprinzip vollständig zu bestimmen ist, zu entscheiden, »wie eine Maxime in besonderen Fällen anzuwenden sei«51. Diese Zwecke mögen zwar durch die reine praktische Vernunft vorgeschrieben sein, es wäre aber kurzschlüssig, wenn man - in einer vermeintlichen Parallele zur theoretischen Philosophie Kants (wo die Erkennbarkeit der objektiven Gültigkeit notwendiger synthetischer Verknüpfungen an eine apriorische Gesetzgebimg des Verstandes gebunden ist) - behaupten wollte, daß sie deswegen allein nach apriorischen Prinzipien der reinen Vernunft als möglich gedacht werden können. Wenn Kant mit der Feststellung schließt: »Es ist a priori (moralisch) notwendig, das höchste Gut durch Freiheit des Willens hervorzubringen; es muß also auch die Bedingung der Möglichkeit desselben lediglich auf Erkenntnisgründen a priori beruhen« ( K p V A 203, Hervorhe48 49 50 51
Die Metaphysik der Sitten, AA VI, S. 379 ff., bes. S. 380 f., 384 f., 396. Die Metaphysik der Sitten, AA VI, S. 380 und 384 f., Hervorhebung im Original. Vgl. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 414 ff. Die Metaphysik der Sitten, AA VI, S. 411, vgl. 390-394.
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bung im Original), dann ist sein Argument in dieser allgemeinen Form nicht stichhaltig. Wie schon bei der allgemeinen Exposition der Dialektik der reinen praktischen Vernunft zeigt sich auch hier eine gewisse Tendenz Kants, Begründungen, die - wenn überhaupt - erst mit Blick auf die spezifischen Inhalte und Umstände ihre Schlüssigkeit gewinnen, eine zu generelle Fassung zu geben. Wenn sich herausstellen sollte, daß die Möglichkeit des höchsten Gutes tatsächlich nur in einem Rückgang auf Erkenntnisprinzipien a priori verständlich gemacht werden kann, dann müssen die Gründe dafür in der besonderen Problematik der synthetischen Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit liegen. Einen - freilich eher versteckten und noch vagen - Hinweis darauf könnte der Text hier schon enthalten, wenn man die »äußerste« Ungleichartigkeit von Tugend und Glückseligkeit, auf der Kant so mit Nachdruck gegenüber Stoa und Epikur besteht52, nicht nur als Argument für den synthetischen Charakter ihrer Verknüpfung im Sinne der Nicht-Analytizität versteht (was sicherlich der primäre Sinn ist), sondern auch als Anspielung darauf, daß im höchsten Gut Elemente aus verschiedenartigen Bereichen, der noumenalen und phänomenalen Welt, miteinander verbunden werden sollen. Es gibt jedenfalls bei Kant eine Verwendimg des Begriffs des »Ungleichartigen«, die bevorzugt diese Differenz meint (vgl. dazu unten S. 233). Die Möglichkeit einer Verknüpfung von derart Ungleichartigem kann in der Kritischen Philosophie in der Tat nicht mehr nach empirischen Prinzipien verstanden werden. Zunächst aber ist festzuhalten: Kants Begriffsbestimmungen und allgemeine Ausführungen zur Dialektik der reinen praktischen Vernunft enthalten noch keine eindeutigen Hinweise auf die genaue Problemstellung. Der Text erlaubt nur die Zurückweisimg einiger Mißverständnisse, so der Behauptung, daß die Zweideutigkeit im Begriff des Höchsten den Ansatzpunkt der Dialektik bilde oder daß die Antinomie sich auf den Gegensatz zwischen stoischer und epikureischer Bestimmung der Einheit von Tugend und Glückseligkeit oder jenen zwischen analytischer und synthetischer Verknüpfimg beziehe. Nur soviel scheint bislang festzustehen: Zur Antinomie der praktischen Vernunft kommt es bei der Be52
KpVA201 f. Vgl. auch KpVA 203: Glückseligkeit und Sittlichkeit als »zwei spezifisch ganz verschiedene Elemente des höchsten Guts«.
»Die Antinomie der praktischen Vernunft« (KpVA 204 f.)
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antwortung der noch immer »unaufgelöste[n] Aufgabe«: »Wie ist das höchste Gut praktisch möglich?« Das Interesse richtet sich jetzt ganz auf das Antinomiekapitel; es muß endlich die entscheidenden Aufschlüsse geben. Angesichts der verwirrenden Vielfalt der Interpretationen ist es allerdings noch eine offene Frage, wieweit sich überhaupt mit einiger Sicherheit ein bestimmtes Problem mit klaren Konturen textlich ausweisen läßt.
4.3
»Die Antinomie
der praktischen
Vernunft«
(KpVA 204 f.)
4.3.1 Eine These der praktischen Vernunft ... Das Antinomiekapitel knüpft unmittelbar an die Begriffsbestimmung des höchsten Gutes an, die Kant zuvor entwickelt hatte; alle entscheidenden Definitionsstücke resümiert er in den ersten Sätzen noch einmal. Es ist jetzt genauer darauf zu achten, in welchem Sinne und zu welchem Zweck dies geschieht. Satz (l) 53 konstatiert: Im höchsten Gut, das wir durch unseren Willen wirklich machen sollen, werden Tugend und Glückseligkeit »als notwendig verbunden gedacht«. Daß bei Kant die Rede vom höchsten Gut als einem Objekt, das durch unseren Willen wirklich werden soll, überraschen kann, wurde schon gesagt (vgl. oben S. 100 f.). Im dunkeln liegt auch noch, worauf sich eine solche Pflicht zur Hervorbringung des höchsten Gutes gründet. Ist sie mit dem moralischen Gesetz, der Pflicht zur Tugend identisch, wie ζ. B. KpVA 196 nahelegt54? Aber wie läßt sie sich daraus ableiten? Enthält sie nicht doch mehr und anderes?55 Darauf ist zurückzukommen. 53 54
55
Zur Numerierung der Sätze siehe oben S. 6. »Das moralische Gesetz muß allein als der Grund angesehen werden, jenes [sc. das höchste Gut] und dessen Bewirkung oder Beförderung sich zum Objekte zu machen.« Selbst wenn man der Ansicht ist, daß das formale moralische Gesetz allein eine solche Pflicht nicht begründen kann, folgt daraus noch keineswegs, es sei »a limine ausgeschlossen, daß das höchste Gut Objekt (Gesamtobjekt oder letztes Objekt) eines dem moralischen Gesetz gemäßen Willens sein kann«, wie G. B. Sala kurzschlüssig behauptet: Wohlverhalten und Wohlergehen Π, S. 375 (Hervorhebung von mir). Es folgt daraus nur, daß noch zusätzliche vermittelnde Bedingungen erforderlich sind. Kant selbst hat später in der Religionsschrift einen Versuch gemacht, sie zu bestimmen; vgl. unten S. 274.
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4 Analyse und Interpretation des Textes zur Antinomie der praktischen Vernunft
Zunächst aber möchte ich der Argumentation Kants im Antinomiekapitel folgen. Die Notwendigkeit der Verbindimg von Tugend und Glückseligkeit im praktischen Objekt formuliert Kant in einer Weise, die erläuterungsbedürftig ist. Denn hier scheint nicht nur eine Abhängigkeit der Glückseligkeit von der Tugend, sondern zum ersten Mal auch ein umgekehrtes Bedingungsverhältnis zum Ausdruck zu kommen, das leicht in direkten Konflikt mit den Resultaten der Analytik, insbesondere mit der Unabhängigkeit des sittlichen Prinzips von aller Rücksicht auf Glückseligkeit, geraten kann. Wenn Kant schreibt, daß »das eine durch eine praktische Vernunft nicht angenommen werden kann, ohne daß das andere auch zu ihm56 gehöre«, dann meint das ja nicht nur, daß das Glück an die Bedingung der Tugendhaftigkeit gebunden wird, sondern auch, daß Tugend nicht angenommen werden kann, ohne daß Glückseligkeit zu ihr gehört. Logisch läßt sich dieser Zusammenhang als Implikation (oder in Kants Terminologie: als hypothetisches Urteil) zweier negierter Sätze verstehen: Wenn Glückseligkeit nicht zur Tugend gehört, kann auch Tugend nicht angenommen werden. Die logische Implikation läßt noch offen, wie diese »Abhängigkeit« der Tugend von der Glückseligkeit zu interpretieren ist. Mit Blick darauf, daß Maximen der Tugend durch das moralische Gesetz als Faktum der reinen praktischen Vernunft imbedingt geboten sind, könnte man zunächst von ihr einen Gebrauch machen, der besser durch ihre Kontraposition wiedergegeben wird: Wenn Tugend durch praktische Vernunft angenommen wird, dann gehört auch Glückseligkeit zur Tugend. Die Implikation besagt dann nicht, daß ich mich erst vergewissern muß, daß zur Tugend auch Glückseligkeit gehört, um berechtigt zu sein, Tugend anzunehmen (was im offenen Widerspruch zur Begründung der Ethik in der Analytik stünde), sondern umgekehrt: Weil Tugend durch das Gesetz der reinen praktischen Vernunft nicht nur als möglich angenommen wird, sondern kategorisch geboten ist, habe ich einen Vernunftgrund, auch die praktische Möglichkeit einer der Tugend proportionierten Glückseligkeit anzunehmen, mit anderen Worten: die praktische Möglichkeit des 56
Es ist nicht ganz eindeutig, worauf sich »ihm« bezieht: auf »das eine« oder - wohl weniger wahrscheinlich - auf das »höchste praktische Gut« im Hauptsatz. Sachlich ist die Differenz zwischen beiden Lesarten unerheblich.
»Die Antinomie der praktischen Vernunft« (KpVA204 f.)
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höchsten Gutes. Die »praktische Möglichkeit« 57 impliziert dabei die theoretische Bedingung, daß es ontologisch zumindest nicht unmöglich ist, das höchste Gut durch moralisches Wollen und Handeln zu realisieren. Nur um es gleich mit Kants Worten aus der Kritik der Urteilskraft zu wiederholen: »Es soll damit ... nicht gesagt werden: es ist zur Sittlichkeit notwendig, die Glückseligkeit aller vernünftigen Weltwesen gemäß ihrer Moralität anzunehmen, sondern: es ist durch sie notwendig«58. Ein Grund dafür, daß Kant die negativen Formulierungen gewählt hat, mag sein, daß sie bei logischer Äquivalenz sprachlich stärker die Enge des Zusammenhangs hervorheben: das eine nicht ohne das andere. In dieser Wendung wird aber auch deutlich: Selbst wenn man nicht vergißt, daß sich die sittliche Einsicht aus einer eigenen, von theoretischen Erkenntnissen unabhängigen Quelle speist, so beinhaltet die Implikation doch soviel an Abhängigkeit der Tugend von der Glückseligkeit, daß die Unmöglichkeit einer der Tugend proportionierten Glückseligkeit auch die Möglichkeit von Tugend nicht untangiert lassen kann, um es fürs erste sehr vorsichtig und zurückhaltend auszudrücken. Über den für die Kantische Pflichtethik heiklen Punkt, wie und in welchem Sinne die Unmöglichkeit einer Verbindimg von Tugend und Glückseligkeit auch die Möglichkeit von Tugend in Frage stellen kann, erfährt der Leser hier noch nichts. Kant kommt aber am Ende des Antinomiekapitels auf die Implikation (in etwas anderer Gestalt) zurück. 57
58
Vgl. zu diesem Ausdruck die Formulierung in KpVA 207: Das höchste Gut »ist praktisch möglich«; ferner KpVA257. KU Β 424 Anm., Hervorhebungen im Original. - Klar hat auch A. Hägerström diesen Zusammenhang wiedergegeben: »Es wird nur gesagt, dass das Sittengesetz bei uns einen Glauben an die Realität des Zweckes [sc. des höchsten Gutes] hervorruft, und dass dieser Glaube wegen der Giltigkeit des Sittengesetzes an und für sich auch Giltigkeit haben muss. Es ist das nur ein Schluss von der Realität des Grundes auf die der Folge, wobei die Realität der Folge nur insoweit die des Grundes bedingt, als, wenn die Folge nicht Realität hätte, auch für den Grund nicht Realität angenommen werden könnte, nicht aber so, dass die Folge irgendwie dem Grunde Realität gäbe«: Kants Ethik, S. 537, Hervorhebung im Original; vgl. auch J. Gottschick, Kant's Beweis für das Dasein Gottes, S. 25. - Hägerström meint allerdings, daß Kant diese Position eindeutig erst in der Kritik der Urteilskraft vertrete; in der Dialektik der Kritik der praktischen Vernunft fänden sich dagegen noch Reste eines älteren Standpunktes (ebd. S. 535 f.). Kants Ausführungen zum höchsten Gut in der zweiten Kritik bieten aber bisher keine Anhaltspunkte, der Behauptung der notwendigen Verbindung von Tugend und Glückseligkeit eine andere Wendimg zu geben als diejenige, die mit der Grundlegung einer autonomen Ethik in der Analytik verträglich ist, auf die Kant sich ja auch immer wieder beruft.
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4 Analyse und Interpretation des Textes zur Antinomie der praktischen Vernunft
Natürlich reicht alle praktische Gewißheit einer absoluten Verpflichtung nicht aus, um aus einem deontischen Satz auf die Wahrheit einer mit diesem Satz verbundenen theoretischen (ontologischen) Annahme formal gültig zu schließen. Kant selbst hat ein deutliches Bewußtsein davon, daß es sich bei diesem Übergang um eine μετάβασις εις αλλο γένος handelt, der in einem logisch strengen Beweis mit objektivem, theoretischem Erkenntnisanspruch nicht erlaubt ist59; denn die Gewißheit einer praktisch postulierten Möglichkeit ist »gar nicht theoretisch, mithin auch nicht apodiktisch, d. i. in Ansehimg des Objekts erkannte Notwendigkeit« (KpVA 22 f. Anm.). Schließen kann man aber sofern man die Prämissen Kants teilt - , daß die praktische Vernunft (subjektiv-) notwendig eine ontologische Voraussetzimg macht: Wir sollen das höchste Gut wirklich machen, also müssen wir es auch als ontologisch möglich betrachten60. Oder mit dem einschlägigen Kantischen Begriff, der auch terminologisch den involvierten Akt vom theoretischen Wissen abgrenzt: Wir müssen seine Möglichkeit aus praktischen Gründen postulieren. Kant gebraucht den Begriff des Postulats nicht nur in bezug auf Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, sondern auch in bezug auf die Möglichkeit des höchsten Gutes (KpVA 226, vgl. auch KU Β 459 f., 474), und zwar durchaus in Übereinstimmung mit seiner allgemeinen Definition des Postulats der reinen praktischen Vernunft: »worunter ich einen theoretischen, als solchen aber nicht erweislichen Satz verstehe, sofern er einem a priori unbedingt geltenden praktischen Gesetze unzertrennlich anhängt«61. 59
60
61
Vgl. Refi. Nr. 6280 (AA XVIII, S. 546 f.); Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik, AA XX, S. 299 f.: hier spricht Kant von der »Täuschung«, die der sittliche Endzweck dadurch bewirken kann, daß man seine moralische Notwendigkeit für die theoretische Erkenntnis seiner Existenz hält. Die Möglichkeit des höchsten Gutes wird hier also nicht nur hypothetisch angenommen, wie V. S. Wike meint (Kant's Antinomies of Reason, S. 143 f., vgl. oben S. 81), sondern ist wie selbstverständlich als direktes Implikat in der Feststellung gleich des ersten Satzes mitgesetzt, daß wir das höchste Gut verwirklichen sollen. Vgl. KpVA 225: »wir sollen das höchste Gut (welches also doch möglich sein muß) zu befördern suchen« (Hervorhebung im Original); KpVA 226: »Nun war es Pflicht für uns, das höchste Gut zu befördern, mithin nicht allein Befugnis, sondern auch mit der Pflicht als Bedürfnis verbundene Notwendigkeit, die Möglichkeit dieses höchsten Guts vorauszusetzen«; ferner KpVA 226 f., 257,259 Anm. KpVA 220, Hervorhebungen im Original. Zum Kantischen Postulatbegriff und zu seiner Problematik s. L.W. Beck, A Commentary, S. 259 ff. (dt. S. 239 ff.).
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Man kann diese »notwendige Hypothesis« (wie eine Kantische Umschreibung für das Postulat lautet62) der Möglichkeit des höchsten Gutes, die unmittelbar in der sittlichen Aufgabe seiner Verwirklichung liegt, als eine These der praktischen Vernunft bezeichnen. Ob man sie auch als die Thesis der Antinomie der praktischen Vernunft ansehen kann, das hängt vor allem davon ab, was sich als Antithesis aus dem Text entwickeln läßt.
4.3.2 ... und ihre Bestreitung 4.3.2.1 Die ersten Schritte Mit einem »Nun« wendet sich Kant der praktisch notwendigen Verbindung von Tugend und Glückseligkeit erneut zu und rekapituliert die Bestimmungsstücke dieser Verbindung, jetzt aber nicht mehr in der Absicht, eine adäquate Definition des höchsten Gutes zu geben, sondern, wie von Satz zu Satz deutlicher wird, zum Zwecke einer systematischen Prüfung, ob das, was reine praktische Vernunft fordert, möglich ist. Kant beginnt mit der für seine kritische Philosophie grundlegenden Disjunktion (Satz 2): Die Verbindung von Tugend und Glückseligkeit muß »wie jede Verbindung überhaupt« entweder analytisch oder synthetisch sein. Soll überhaupt eine notwendige Verbindimg von Tugend und Glückseligkeit möglich sein, dann muß diese Disjunktion wahr sein, denn sie stellt die elementarste Einteilung von Verbindungsmöglichkeiten dar. Eine analytische Verbindung scheidet gleich aus, sie widerspräche der Begriffsbestimmung des höchsten Gutes, wie sie kurz vorher (in der Auseinandersetzung mit der stoischen und der epikureischen Definition) entwickelt worden ist; also »muß sie synthetisch« sein (Satz 3). Es fällt auf, daß Kant hier anders als vorher den synthetischen Charakter der Verbindung nicht mehr inhaltlich begründet, sondern offensichtlich indirekt (apagogisch) nach dem modus tollendo ponens »erschließt«: Da die Disjunktion »analytische oder synthetische Verbindimg« für Kant 62
KpVA23 Anm.
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vollständig ist, folgt (unter der Voraussetzung einer Verbindung überhaupt), daß sie synthetisch sein muß, wenn sie nicht analytisch ist. Ein erstes Indiz dafür, daß Kant um eine gewisse methodische, auch logische Strenge seiner Argumentation bemüht ist. Die synthetische Verbindung von Tugend und Glückseligkeit wird nun wie zuvor kategorial bestimmt: Sie muß »als Verknüpfung der Ursache mit der Wirkung gedacht werden«. Aber anders als zuvor rekurriert Kant zur Begründimg auf die praktische Situation der Verwirklichung: »weil sie [die Verknüpfung] ein praktisches Gut, d. i. was durch Handlung möglich ist, betrifft« (Satz 3). Inwiefern dies ein Argument für die kausale Beziehung von Tugend und Glückseligkeit sein soll, bleibt allerdings unklar. Es scheint, als wolle Kant hier die Kausalitätsform der Verbindung aus dem allgemeinen Umstand ableiten, daß der Wille, sofern er auf die Realisierung eines Zwecks gerichtet ist (und nicht nur eine formale Qualität seiner Maxime intendiert), allgemein unter der Kausalitätsform steht und wir in diesem Sinne auch das höchste Gut als Effekt unserer Handlungen erwarten müssen. Dieser Rekurs träfe aber nicht das Besondere der Verbindung im höchsten Gut; denn hier geht es um eine interne synthetische Relation im Objekt selbst, das wir verwirklichen sollen, und nicht (bloß) darum, daß eine Absicht vermittelt über synthetisch-kausale Verknüpfungen ihr Objekt realisiert. Es gibt in der Literatur allerdings Auslegungen des höchsten Gutes, in denen das Verhältnis von Tugend und Glückseligkeit mit dem von moralischer Handlungsabsicht und ihrer gelungenen Realisierung in der Welt identifiziert wird 63 . Bei dieser Gleichsetzung entfällt natürlich der Einwand; denn in der Synthesis des »Objekts« spiegelt sich dann nur die Struktur der praktischen Realisierung der Intention wider. Aber solange gegen die Reduktion von Tugend und Glückseligkeit auf das Verhältnis von moralischer Absicht und ihrer Verwirklichung Bedenken bestehen, wird man beide Synthesen unterscheiden müssen. Kant selbst hat ja auch in seiner Exposition des Begriffs des höchsten Gutes den kausalen Charakter der Verbindving von Tugend und Glückseligkeit spezifischer begründet: Mittels der Kausalitätskategorie wird das praktisch geforderte Grund-Folge-Verhältnis 63
So z. B. J. Gottschick, Kant's Beweis für das Dasein Gottes, S. 15.
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der real unterschiedenen Relate Tugend und Glückseligkeit als ein objektives Verhältnis gedacht (vgl. oben S. 115 f.). Wenn aber die synthetische Verbindung von Tugend und Glückseligkeit als ein Kausalitätsverhältnis gedacht werden muß, so daß das eine die Ursache des anderen ist, dann sind durch Umkehrung der Kausalrichtung prinzipiell zwei (und zwar nur zwei) Fälle möglich: Entweder ist die Glückseligkeit die Ursache der Tugend, oder die Tugend ist die Ursache der Glückseligkeit. Wenn überhaupt eine synthetische Verbindung beider bestehen soll, dann muß diese logische Disjunktion der kausalen Verknüpfungsweisen wahr sein. Wir sind damit in einer ersten Annäherung bei jenem Satz (4) des Antinomiekapitels angelangt, der von vielen Interpreten als das Kernstück der Antinomie der praktischen Vernunft angesehen wird (vgl. oben Kap. 3.2 und 3.3). Ich möchte deshalb auf diesen Satz und seine Funktion im Kontext der Ausführungen Kants näher eingehen.
4.3.2.2 Die Disjunktion der Verknüpfungsmöglichkeiten von Tugend und Glückseligkeit Nach dem Kantischen Wortlaut formuliert der Satz (4) von seiner logischen Form her ohne jeden Zweifel nicht mehr, aber auch nicht weniger als eine Disjunktion: »Es muß also entweder ... oder ...«. Diese Disjunktion steht ihrerseits unter der Voraussetzimg, daß das höchste Gut als eine synthetische Verbindung von Tugend und Glückseligkeit existieren soll und daher auch möglich sein muß. Formallogisch handelt es sich um einen hypothetisch-disjunktiven Satz, um einen Satz also, »dessen consequens ein disjunctives Urtheil ist«64 (p —> q ν r). Der Satz besagt dann, daß unter der genannten Voraussetzung (mindestens) einer von beiden Sätzen wahr sein (können) muß, also von den beiden denkmöglichen Fällen einer kausalen synthetischen Verknüpfung einer wirklich sein (können) muß 65 . Entscheidend ist, daß Kant hier keinen 64 65
Logik, AAIX, S. 130 (§ 79). Vgl. auch Kants Charakterisierung der disjunktiven Urteile: Logik, AA IX, S. 106-108, bes. S. 107 (§ 29): »Der eigentümliche Character aller disjunctiven Urtheile ... besteht darin: daß die Glieder der Disjunction insgesammt problematische Urtheile sind, von denen
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der einzelnen Sätze, weder beide zusammen noch überhaupt einen bestimmten, sondern nur ihre disjunktive Verbindung ableitet. Wenn man wie Kant in der Kritik der reinen Vernunft unter einer Antinomie zwei kontradiktorisch entgegengesetzte »Lehrsätze« versteht, »deren jeder nicht allein an sich selbst ohne Widerspruch ist, sondern sogar in der Natur der Vernunft Bedingungen seiner Notwendigkeit antrifft, nur daß unglücklicherweise der Gegensatz ebenso gültige und notwendige Gründe der Behauptimg auf seiner Seite hat« 66 , dann haben wir es hier ebensowenig mit einer Antinomie zu tun wie zuvor bei der Disjunktion von analytischer und synthetischer Verbindimg. Es fehlt nicht nur jeder Ansatz zu einem Beweis der einzelnen Sätze durch »gültige und notwendige Gründe« 67 , Kant behauptet sie als einzelne hier auch nicht und nennt sie nicht Behauptungen, schon gar nicht Thesis und Antithesis 6 8 . An der einzigen Stelle, an der sich Kant qualifizierend
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nichts anders gedacht wird, als daß sie, wie Theile der Sphäre einer Erkenntniß, jedes des andern Ergänzung zum Ganzen (complementum ad totum), zusammengenommen, der Sphäre des ersten gleich seien. Und hieraus folgt: daß in Einem dieser problematischen Urtheile die Wahrheit enthalten sein« muß. Kants Definition der Disjunktion verwendet das ausschließende »oder«, so daß man nicht nur von der Falschheit aller anderen Urteile auf die Wahrheit des verbleibenden Urteils, sondern auch von der Wahrheit eines Urteils auf die Falschheit aller anderen schließen kann (vgl. auch KrVA 73 f./B 98 f.). Ob das Kantische Argument es erfordert, daß man die Disjunktion in diesem strengen Sinne liest, wie das V. S. Wike behauptet (Kant's Antinomies of Reason, S. 127 ff.), soll vorerst offenbleiben. Wichtig ist jedenfalls, soviel läßt sich aus der bisherigen Argumentation schon absehen, die Implikation, daß »einer von beyden Fällen ... richtig seyn« muß, wie es L. Bendavid formulierte (s. oben S. 85), also nicht beide falsch sein dürfen, wenn das höchste Gut möglich sein soll. JÖ-VA421/B 449, vgl. Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik, AA XX, S. 263. Daß Beweisführungen für beide Sätze fehlen, halten einige Autoren ausdrücklich fest, so L.W. Beck, A Commentary, S. 247 (dt. S. 229): »... each does not have an independent warrant«; V. S. Wike, Kant's Antinomies of Reason, S. x, 26 ff.: es fehlen die für die Thesen und Antithesen der ersten Kritik typischen apagogischen Beweise. Auch Albrecht fällt auf, »daß eine auch äußerlich deutliche Gegenüberstellung beider Behauptungen sowie der Beweisführungen für beide Behauptungen, wie dies in der Kritik der reinen Vernunft geschieht, hier nicht zu finden ist« (Kants Antinomie, S. 184, Hervorhebung im Original) und »die Thesis [nach Albrecht der erste Satz der Disjunktion]... schon als bloße Behauptung ohne jeden Halt ist« (ebd. S. 185 f.). Wichtiger aber als das Fehlen von Beweisen ist die Beobachtimg, daß Kant hier keinen der einzelnen Sätze für sich behauptet und begründet. - Daß Beweise für Thesis und Antithesis unwesentlich seien, bereits für die Antinomien der ersten Kritik, hatte K. Nitzschke gemeint: Das Antinomienproblem, S. 144; s. oben S. 16. Auch darauf wird in der Literatur zuweilen ausdrücklich aufmerksam gemacht: L. W. Beck, A Commentary, S. 246 Anm. 21 (dt. S. 300 Anm. 21): »Note that the identification of
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auf die Disjunktion und ihre Glieder bezieht, spricht er nur von den »zwei Sätzen« (KpVA 206). Gegen die verbreitete Auffassung, die Disjunktion der beiden Verknüpfungsweisen von Tugend und Glückseligkeit sei von Kant als Antinomie verstanden und dargestellt worden, sprechen also bisher alle Indizien im Text: - Der Kantische Wortlaut für sich enthält nicht mehr als eine logische Disjunktion; auf sie stößt Kant, als er systematisch alle Denkmöglichkeiten einer Verbindung von Tugend und Glückseligkeit, von der allgemeinsten Einteilung bis zu den spezifischen, durchgeht und prüft. - Eine Antinomie im Sinne der Behauptimg beider Einzelsätze der Disjunktion paßt überhaupt nicht in den Argumentationszusammenhang, soweit er schon zu erkennen ist; sie wäre an dieser Stelle sachlich völlig unmotiviert; es fehlt nicht nur jede Spur eines Versuches der Begründung der einzelnen Sätze (der Aufstellung der Disjunktion folgt vielmehr sothese two antinomic propositions as thesis and antithesis is not made by Kant himself and is a matter of dispute« (die Qualifizierung der Sätze als »antinomic« sagt allerdings auch schon mehr, als der Text enthält); M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 95 f.; H. Huber, Die Gottesidee bei Immanuel Kant, S. 35 Anm. 70 (mit direktem Bezug auf Albrecht) und V. S. Wike, Kant's Antinomies of Reason, S. 16 f. Beck, Albrecht und Huber glauben dennoch, daß sie durch die Identifikation mit Thesis und Antithesis der Antinomie das Kantische Verständnis der Sätze verdeutlichen. Auch G. B. Sala (Kant und die Frage nach Gott, S. 408) nimmt dies offensichtlich an, während Wike mit Rücksicht auf die Unterschiede zu den Thesen und Antithesen der ersten Kritik vorsichtiger ist (vgl. oben S. 74 f.). Noch einen Schritt weiter geht Sala in einem späteren Beitrag (Wohlverhalten und Wohlergehen I, S. 194 Anm. 16): »Der Versuch [sc. die Sätze der Disjunktion als Antinomie zu verstehen] gilt aber als gescheitert und wird im folgenden von Kant beiseite geschoben«; das würde bedeuten, daß Kant noch bei der Niederschrift das Unhaltbare seines Versuchs bemerkt und dennoch seine Ausführungen dazu unverändert im publizierten Text stehengelassen hätte. - Es spricht für die Zuverlässigkeit der Kommentierung H. J. de Vleeschauwers, daß er die Disjunktion immer nur »alternative«, nie »Antinomie« nennt: La Déduction transcendentale dans l'œuvre de Kant. Tome troisième, S. 331 f. Leider enthält die Darstellung über die korrekte Textparaphrase hinaus keine problematisierende oder klärende Text- und Sachdiskussion; der Leser erfährt nicht, worin genau für de Vleeschauwer die Antinomie besteht. Ohne Anhaltspunkte ist die Behauptung M. Albrechts, daß nach Ansicht de Vleeschauwers die Kantische Antinomie mit der Disjunktion identisch und »in der vorliegenden Form auch für ihn keine "veritable antinomie"« sei (Kants Antinomie, S. 105 Anm. 327). Daß die Antinomie der praktischen Vernunft keine »veritable antinomie« ist (La Déduction transcendentale, S. 331 f.), bedeutet für de Vleeschauwer, daß sie auflösbar ist, und nicht, daß sie »in der vorliegenden Form« anders als die Antinomien der theoretischen Vernunft keine »richtige« Antinomie ist. In demselben Sinne hatte er auch schon kurz vorher von der Freiheitsantinomie gesagt, daß sie keine »veritable antinomie« sei (ebd. S. 331).
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fort ihre schrittweise Widerlegung 69 ); es ist aus dem Text nicht einmal im Ansatz zu erkennen, aus welchem Grunde und zu welchem übergeordneten Zweck Kant für beide Sätze argumentieren sollte, deren ersten er zudem gleich als »schlechterdings unmöglich« bezeichnet (KpV A 204, vgl. 206). Zu diesen Argumenten aus der Textanalyse kommen alle jene sachlichen Einwände, auf die schon mehrfach Bezug genommen wurde und die in der Literatur insbesondere von C. Stange, L.W. Beck, M. Albrecht und V. S. Wike gegen die Gleichsetzimg der Disjunktion mit einer Antinomie in einem strengeren Sinne geltend gemacht wurden 70 (eine Gleichsetzung, die die Autoren gleichwohl Kant vinterstellen): Die Sätze der Disjunktion sind nicht, wie es der Antinomiebegriff der Kritik der reinen Vernunft erfordert, logisch kontradiktorisch entgegengesetzt; durch Umkehrung der Kausalrichtung erhält man grundsätzlich keine kontradiktorischen Sätze 71 . Die Sätze formulieren die beiden Möglichkeiten einer notwendigen, allgemeingültigen Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit. Logisch kann man sie daher als allgemeine Urteile betrachten. Der erste Satz sagt daher: (1.1) »Alle Begierde nach Glückseligkeit ist die Bewegursache zu Maximen der Tugend«; die kontradiktorische Gegenbehauptung dazu ist: (1.2) »Nicht: Alle Begierde nach Glückseligkeit ist die Bewegursache zu Maximen der Tugend«, was neben der Umkehrung der Kausalrelation auch bedeuten kann, daß wenigstens zwischen einigen Begierden nach Glückseligkeit und der Tugend nicht dieses Kausalverhältnis (einer Bewegursache) oder überhaupt kein Kausalverhältnis besteht 72 , und das letzte wiederum kann heißen, daß entweder die Verbindung zwischen ihnen analytisch ist (unter der
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70 71 72
Zu dem Versuch, die Widerlegung des einen Satzes der Disjunktion zu einem apagogischen Beweis für den anderen zu nutzen, s. unten S. 170 f. Zu den Nachweisen im einzelnen vgl. oben S. 61, 66 f., 70 f. und 74 Dies hebt besonders V. S. Wike hervor: Kant's Antinomies of Reason, S. 16 f. und 126 ff. Wenn es nur für einige Begierden nach Glückseligkeit eine Kausalbeziehung mit der Tugend gäbe, für andere dagegen nicht, dann würde es der streng deterministische Kantische Begriff der Ursache (als einer allgemeinen, notwendigen Synthesis) erforderlich machen, daß man mehrere spezifische Arten der Begierde nach Glückseligkeit hinreichend deutlich unterscheiden könnte.
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Voraussetzung, daß das Kausalverhältnis die einzig mögliche synthetische Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit ist) oder daß es gar keine notwendige Verbindung zwischen ihnen gibt. Entsprechend läßt sich für den zweiten Satz der Disjunktion argumentieren. Die Sätze der Disjunktion enthalten mehr, als zur Kontradiktion erfordert wird, und daher ist es logisch möglich, daß beide Sätze falsch sind. Das ist nur ein anderer Ausdruck dafür, daß die Disjunktion als ganze schon unter einer Bedingung steht: daß zwischen Tugend und Glückseligkeit eine synthetisch-kausale Verbindung bestehen soll; beide Sätze können falsch sein, wenn diese Voraussetzung falsch ist. Anders ausgedrückt: Beide Sätze können falsch sein, weil die disjunktive Einteilving nicht »analytisch« vollständig ist (nach der Form: a ν ~a) 7 3 . Kant ist im Zusammenhang mit der Auflösimg der mathematischen Antinomien in der Kritik der reinen Vernunft auf solche logischen Beziehungen näher eingegangen 74 . Dort standen sich scheinbar kontradiktorische Behauptungen (wie »die Welt ist unendlich« und »die Welt ist endlich«) gegenüber; die gemeinsame »unstatthafte Bedingimg«, die verständlich macht, daß beide Sätze falsch sein können, daß nämlich 73
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»Analytische Opposition« (KrVA 504/B 532) meint bei Kant eine Entgegensetzung von kontradiktorischen Urteilen und nicht, wie W. Malzkorn (Kants Kosmologie-Kritik, S. 96) glaubt, auch von konträren. Dies ergibt sich eindeutig aus Kants Erklärung: Die »analytische Opposition« ist »Entgegensetzung ... des Widerspruchs« (KrVA504/B 532); Widerspruch ist bei Kant aber (im Unterschied zu Widerstreit oder Entgegensetzung) gleichbedeutend mit Kontradiktion. Die »analytische Opposition« hängt eng zusammen mit der »analytischen« oder »logischen« Einteilung, die eine Dichotomie von kontradiktorisch entgegengesetzten Gliedern besagt und nach dem Widerspruchssatz vollständig ist: »quodlibet ens est A aut non A« (KU Β LVn Anm.; vgl. auch Logik § 111 Anm. und § 113 Anm. 1, AAIX, S. 147). KrVA502 ff./B 530 ff. - Nach W. Malzkom (Kants Kosmologie-Kritik, S. 95) hat Kant die hier gegebene Erklärung der »dialektischen Opposition«, daß die Sätze mehr als zum Widerspruch erfordert sagen und deshalb beide falsch sein können (KrVA 502-504/Β 530532), auf alle Antinomien bezogen. In der Tat spricht Kant hier noch allgemein über die Antinomien. Dennoch scheint es mir mit Blick auf die wenig später nachgeholte Differenzierung zwischen der Lösung der mathematischen und der dynamischen Antinomien (KrV A 528-532/B 556-560) eher unwahrscheinlich, daß Kant die Erklärung zunächst ernsthaft auch als gültig für die dynamischen Antinomien angesehen hat, deren Sätze ja, wie wir erfahren, beide wahr sein können (KrVA531 f./B 559 f.). Die »Revisionsbedürftigkeit der Kantischen Erklärung der dialektischen Opposition« (so Malzkom ebd. S. 95 Anm. 27) wäre zu offensichtlich, als daß Kant hier nicht selbst für Abhilfe gesorgt hätte, zumal er noch einmal ausdrücklich auf die zunächst gegebene, unvollständige Erklärung zurückkommt (KrVA528/B 556), die frühere Textpassage also nicht aus den Augen verloren hat.
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die Welt als ein an sich existierendes und bestimmtes Ganzes gilt, war hier erst noch zu finden75. Mit einer solchen »dialektischen Opposition« (KrVA 504/B 532), also einer scheinbar logisch-kontradiktorischen Entgegensetzung, haben wir es aber bei der Disjunktion der beiden Weisen einer kausalen Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit nicht zu tun; die besondere Bedingung, Vinter der die Einteilung steht, liegt offen auf der Hand. Man wird sich auch nicht auf eine unvermeidbare »natürliche Illusion« der Vernunft berufen können, aufgrund derer man die Spezifikationen der synthetischen Verbindung von Tugend und Glückseligkeit für eine analytisch vollständige Einteilung halten müßte. Die Sätze der Disjunktion verhalten sich aber nicht nur nicht kontradiktorisch zueinander, sie stellen auch nicht die genaue wechselseitige Umkehrving der Kausalbeziehving dar; d. h. sie schließen sich nicht einmal konträr aus76. Die direkte Umkehrving des ersten Satzes (2.1) »Die Begierde nach Glückseligkeit ist die Bewegursache zu Maximen der Tugend« würde lauten: 75
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Vgl. auch KrVA 791-793/B 819-821; Refi. Nr. 4956 (AA XVm, S. 41), Refi. Nr. 5817 (AA X V m , S. 362), Refi. Nr. 5829 (AA XVm, S. 365), Refi. Nr. 5964 (AA XVm, S. 405 f.), Refi. Nr. 6337 (AA XVm, S. 657); Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik, AA XX, S. 291 und 328 u.ö. - In den Prolegomena und in der Kritik der Urteilskraft nennt Kant einen anderen Grund: beide Behauptungen sind falsch, weil ihnen ein sich selbst widersprechender Begriff (in Analogie zum Begriff eines »viereckichten Cirkels«) zugrunde liegt: AA IV, S. 340 f. (§ 52 b), vgl. S. 342 f. (§§ 52 c-53), KU Β 238 f. Die Voraussetzung einer für sich existierenden Sinnen- oder Erscheinungswelt ist hier also nicht nur wie in der Kritik der reinen Vernunft falsch, sondern schon in sich widersprüchlich. Vgl. dazu und zu den Schwierigkeiten, die sich daraus für die Antinomienlehre Kants ergeben: J. E. Llewelyn, Dialectical and Analytical Opposites, in: Kant-Studien 55 (1964), S. 171-174; W. H. Walsh, The Structure of Kant's Antinomies, in: P. Laberge, F. Duchesneau, Β. E. Morrisey (Hrsg.), Actes du Congrès d'Ottawa sur Kant dans les traditions anglo-américaine et continentale tenu du 10 au 14 octobre 1974, Ottawa 1976, S. 77-93. - Einen Hinweis darauf, wie Kant sich das Verhältnis der verschiedenen Auflösungen gedacht hat, enthält möglicherweise die Refi. Nr. 5962 (AA XVm, S. 401-405): Daß beide Sätze falsch sein können, weil sie mehr enthalten, als zur Kontradiktion erfordert wird, »ist die logische auflosung der antinomie«; die Einsicht dagegen, daß beide Sätze falsch sind, weil sie eine unmögliche, widersprüchliche Bedingung enthalten, bezeichnet er als »die transscendentale auflosung der antinomie« (AA XVIII, S. 404, Hervorhebungen von mir). E. Adickes hat diese Reflexion in den Zeitraum 1785-89 gesetzt; es ist also chronologisch durchaus möglich, daß sich Kant hier gezielt um eine Verknüpfung der voneinander abweichenden Lösungsansätze bemüht. Ich umgehe hier die nicht einfache Frage, ob die direkte Umkehrung der Kausalrichtung logisch notwendig zu konträren Sätzen führt; die Antwort hängt davon ab, wie man die Kausalrelation genauer formalisiert und sie z. B. von der Wechselwirkung abgrenzt.
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(2.2) »Die Maxime der Tugend ist die Bewegursache zur Begierde nach Glückseligkeit« ; und die direkte Umkehrung des zweiten Satzes (3.1) »Die Maxime der Tugend ist die wirkende Ursache der Glückseligkeit« müßte heißen: (3.2) »Die Glückseligkeit ist die wirkende Ursache der Maxime der Tugend«. Es ist offensichtlich, daß die Sätze nicht denselben Ursachenbegriff verwenden: Wo der erste Satz von »Bewegursache« spricht, redet der zweite von »wirkender Ursache« 77 . Aber auch die Relate der Kausalbeziehung sind nicht identisch: Im ersten Satz ist von »Begierde nach Glückseligkeit« die Rede, im zweiten von »Glückseligkeit«78. V. S. Wike sieht zudem eine mögliche Differenz darin, daß Ursache im ersten Satz die Begierde nach Glückseligkeit ist, im zweiten dagegen die Maxime der Tugend; daß aber Begierde und Maxime in einer analogen Weise Ursache seien, sei zumindest nicht sicher79. Beide Sätze können daher von ihrer formalen Struktur her nicht nur gleichzeitig falsch, sondern auch gleichzeitig wahr sein; logisch besteht zwischen ihnen überhaupt kein Konflikt80. Das läßt sich sagen, auch ohne daß man in einer inhaltlichen Konkretisierung zeigt, wie die Koexistenz der in den Sätzen ausgesagten Sachverhalte in einer logischmöglichen Welt (die damit noch keine ethisch-mögliche sein muß) aus-
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Vgl. C. Stange, Einleitung in die Ethik, I. Bd., S. 112; ders., Die Ethik Kants, S. 106 f.; M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 96 f. und 184; V. S. Wike, Kant's Antinomies of Reason, S. 17, 130 f. Darauf weisen besonders M. Albrecht (Kants Antinomie, S. 96 f. und S. 184) und V. S. Wike (Kant's Antinomies of Reason, S. 132) hin. V. S. Wike, Kant's Antinomies of Reason, S. 131 f. Man könnte versuchen, dieses Bedenken dadurch auszuräumen, daß man für »Begierde nach Glückseligkeit« »Maximen der Glückseligkeit« substituiert, mit der Begründung, daß wohl nicht von der Begierde nach Glückseligkeit allgemein die Rede ist, sofern sie als Glücksbedürfnis natürlicherweise in jedem Menschen als endlichem Wesen vorhanden ist, sondern von der Begierde nach Glückseligkeit, sofern sie praktisch Einflufi auf die Willensbestimmung und das Handeln gewinnt, was bei Kant bekanntlich nur über Maximen geschehen kann. Solche Überlegungen sind aber für den weiteren Fortgang der Argumentation unerheblich. Vgl. V. S. Wike, Kant's Antinomies of Reason, S. 17,127 ff. - Einen frühen, aber leider in sich nicht sehr klaren Hinweis auf die Vereinbarkeit beider Sätze gibt G. U. Brastberger, Untersuchungen über Kants Kritik der practischen Vernunft (1792), S. 197 f.
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sehen könnte. Eine solche Deutung findet sich bei C. Stange, der meint, daß der erste Satz, wenn er überhaupt einen Sinn haben soll, den zweiten sogar impliziere; denn die Begierde nach Glückseligkeit könne nur dann die Bewegursache zu Maximen der Tugend sein, wenn in der Tat die Tugend die Wirkursache der Glückseligkeit sei; das synthetische Verhältnis von Tugend und Glückseligkeit werde dabei freilich aufgehoben, die Tugend sei nur noch ein Mittel zur Erreichimg der Glückseligkeit (was natürlich der Begründung der Ethik in der Analytik widerspreche) 81 . Wie dem auch sei: allein aufgrund ihrer formalen Eigenschaften taugt die Disjunktion wenig als Grundlage für einen antinomischen Gegensatz 8 2 . Diese Feststellung ist mit Blick auf die oft sorglose und leichtfertige Identifikation beider in der Literatur um so nötiger, je weniger sie als Kritik an die Adresse Kants verstanden werden kann. Wenn die Disjunktion im Kantischen Text nicht die Funktion einer Antinomie hat und sie sich dafür formal auch gar nicht eignet: was ist dann ihre wirkliche Funktion und was sind die Anforderungen, denen sie genügen muß, um sie zu erfüllen? Hat sie überhaupt eine Funktion? C. Stange hielt sie für »gänzlich überflüssigf.] und durchaus irreführend[.]«83; O. Lempp meinte, sie verwische »nur den springenden Punkt der Antinomie«84; und M. Albrecht schloß aus dem Umstand, daß es keinen Aspekt gebe, »unter dem im vorliegenden Zusammenhang die Thesis [nach Albrecht der erste Satz der Disjunktion] erlaubt oder gar erforderlich wäre (wie die einzelnen Thesen und Antithesen der Antino-
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Vgl. C. Stange, Einleitung in die Ethik, I. Bd., S. 112; ders., Die Ethik Kants, S. 106 f. Diese Interpretation hat A. Messer mit Bezug auf Stange wiederholt: Im ersten Satz »sei von Tugend überhaupt nicht mehr die Rede ..., sondern lediglich von Klugheit« (Kants Ethik, S. 87 Anm. 1.). Vgl. auch oben S. 61 f. Erwähnt werden muß aber eine Ausnahme: In der Religionsschrifl formuliert Kant eine »Antinomie der menschlichen Vernunft mit ihr selbst« (AA VI, S. 116-118), deren widerstreitende Sätze sich nur dadurch unterscheiden, daß ein Prioritätsverhältnis (zwischen »reinem Religionsglauben« und »Kirchenglauben«) umgekehrt wird; die Sätze bilden also keinen kontradiktorischen Gegensatz, auch nicht dialektisch-scheinbar. Hier ist eindeutig ein strengerer Antinomiebegriff verlassen. Im Unterschied zur Disjunktion der beiden Verknüpfungsweisen von Tugend und Glückseligkeit handelt es sich aber hier um die direkte Umkehrung der Prioritätsrelation, so daß sich beide Sätze konträr ausschließen, also nicht beide wahr sein können, es sei denn, man deutet sie um, wie Kant das in der Auflösung tut. Vgl. oben S. 11 Anm. 16 und S. 49 Anm. 120. C. Stange, Einleitung in die Ethik, I. Bd., S. 112. O. Lempp, Das Problem der Theodicee, S. 305 Anm. 2.
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mie in der Kritik der reinen Vernunft)«85, daß sie »völlig unbeachtet bleiben« könne 86 . Sie wirke »wie eine gewollte, sachlich nicht begründete Ausformung des Verhältnisses zwischen Tugend und Glückseligkeit« 87 , und daher sei der Verdacht naheliegend, »aus der Frage der ursächlichen Verbindung zwischen Tugend und Glückseligkeit sei, mehr oder weniger schematisch, auch die in der Thesis ausgedrückte Möglichkeit herausgezogen worden«88. Für Albrecht ist es daher »verständlich, wenn in der zeitgenössischen Auseinandersetzung mit Kants Gedankengang die Thesis völlig übergangen wird«89. In den Ausführungen zur Antinomie der praktischen Vernunft ließ sich aber sehr wohl ein argumentationsstrategischer Ort und Stellenwert der Disjunktion erkennen: In Satz (1) wiederholt Kant die These von der praktisch geforderten notwendigen Verbindung zwischen Tugend und Glückseligkeit. Von Satz (2) an mustert er sämtliche Formen durch, die Möglichkeit einer solchen Verbindimg zu denken. Dem Antinomiekapitel hatte er die Feststellung vorausgeschickt, »die Frage: wie ist das höchste Gut praktisch möglich? [sei] noch immer unerachtet aller bisherigen Koalitionsversuche eine unaufgelöste Aufgabe« (KpVA 203). Mit dem Wie ist aber auch das Ob überhaupt der Möglichkeit noch fraglich. Es ist daher verständlich, wenn Kant der Prüfung der Denkmöglichkeiten des höchsten Gutes eine methodisch strengere Form gibt, auch um den Preis von Wiederholungen. Um sicherzugehen, daß er die ganze Sphäre der denkbaren Formen von Verbindungen erfaßt und auslotet, argumentiert er entlang grundlegender Einteilungen und Begriffsbestimmungen. Er beginnt seine Untersuchung mit der elementarsten Disjunktion von Verbindungen überhaupt und engt dann den Bereich durch Ausschluß von Möglichkeiten und durch weitere Spezifikation der verbleibenden Einteilungsglieder ein. Bei diesem systematischen Ausmessen der gesamten Sphäre von Verbindungsmöglichkeiten muß auch die analytische Verbindung noch einmal erwähnt werden, auch wenn längst klar ist, daß diese Möglichkeit schon aus definitorischen Gründen nicht in Be-
85 86 87 88 89
M. M. M. M. M.
Albrecht, Albrecht, Albrecht, Albrecht, Albrecht,
Kants Antinomie, Kants Antinomie, Kants Antinomie, Kants Antinomie, Kants Antinomie,
S. 186; vgl. auch oben S. 71. S. 106 Anm. 328. S. 186. S. 187. S. 107 Anm. 329.
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tracht kommt, da nach den Begriffsfestlegungen das höchste Gut als synthetisch-kausale Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit zu denken ist. Im Zuge dieses »schematischen« Prüfverfahrens muß nun ebenso die gesamte Sphäre der Möglichkeiten der synthetisch-kausalen Verknüpfungsweisen durchmustert werden. Die Darstellung dieser spezifischen Sphäre der Denkmöglichkeiten ist die Aufgabe der Disjunktion. Wenn Kants Argumentation die Frage beantworten soll, ob und wie das höchste Gut praktisch möglich ist, dann ist von der Disjunktion vor allem zu fordern, daß sie eine vollständige Einteilung der Sphäre der theoretisch-(denk-)möglichen kausalen Verknüpfungsweisen von Tugend und Glückseligkeit enthält; diese Bedingung ist insbesondere dann notwendig, wenn man von einem eventuell negativen Ergebnis der Suche nach der Möglichkeit des höchsten Gutes auf dessen Unmöglichkeit schließen will. Nicht verlangt ist dagegen eine logisch-analytische Vollständigkeit von der Form: a ν ~a (auch wenn dies nach Kant die Form aller »wahren« analytischen Einteilungen ist90); sie wäre für den Zweck der Untersuchung zu weit gefaßt. Bei dieser »Logik« des Prüfverfahrens kann es nicht mehr überraschen oder verwundern, daß Kant auch eine Möglichkeit der Kausalverknüpfung von Tugend und Glückseligkeit aufführt, die vorher, als es bloß u m die definitorische Festlegung des Begriffs des höchsten Gutes ging, noch unerwähnt blieb (vgl. oben S. 118). Daß diese Möglichkeit durch Umkehrung der Kausalrelation »mehr oder weniger schematisch« »aus der Frage der ursächlichen Verbindung zwischen Tugend und Glückseligkeit« herausgezogen wird, wie Albrecht moniert, kann jetzt keine Kritik an Kant mehr bedeuten; denn das schematische Konstruieren und Entwerfen von Denkmöglichkeiten aus grundlegenden Unterscheidungen soll jene Vollständigkeit sichern, die Kant für seine Argumentation benötigt. Für das Aufstellen der Disjunktion der Denkmöglichkeiten ist es ohne Belang, daß sich bei der anschließenden Prüfung der erste Satz, gemessen »am moralischen Maßstab«, als »schlechterdings unmöglich« und »falsch« erweist; wichtig ist allein, daß die zwei Sätze die beiden einzigen theoretischen Denkmöglichkeiten einer synthetisch-kausalen
90
Vgl. Logik, AAIX, S. 130 (§ 77), S. 147 (§ 113); KU Β LVn Anm. u. ö.
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Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit formulieren, und in dieser Funktion sind beide Sätze »gleichberechtigt«91. Daß nach Kant Einteilungen in diesem Sinne eine argumentationsstrategische Funktion haben können, geht klar aus seinen Ausführungen zum disjunktiven Urteil in der Kritik der reinen Vernunft hervor: »So ist das Urteil: die Welt ist durch blinden Zufall da, in dem disjunktiven Urteil nur von problematischer Bedeutung, nämlich, daß jemand diesen Satz etwa auf einen Augenblick annehmen möge, und dient doch, (wie die Verzeichnung des falschen Weges, Vinter der Zahl aller derer, die man nehmen kann,) den wahren zu finden. Der problematische Satz ist also derjenige, der nur logische Möglichkeit (die nicht objektiv ist) ausdrückt, d. i. eine freie Wahl einen solchen Satz gelten zu lassen, eine bloß willkürliche Aufnehmung desselben in den Verstand«92. Ausdrücklich heißt es: »Daher können solche Urteile auch offenbar falsch sein, und doch, problematisch genommen, Bedingungen der Erkenntnis der Wahrheit sein« ( K r V A 75/B 100). In der Rechtslehre sagt Kant sogar, daß in einer vollständigen Einteilung auch solche Begriffe ihren Platz haben müssen, von denen man später zeigt, daß sie »an sich widersprechend« seien »und aus diesem Platze« wegfallen93. Es ist also nicht einmal erforderlich, daß die Glieder einer Einteilung Denkmöglichkeiten im engeren Sinne der »logischen Möglichkeit« sind, die an die begriffliche Widerspruchsfreiheit gebunden ist 94 . Deshalb verlangt man auch ent91
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Darin ist K. Nitzschke Recht zu geben; diese Gleichberechtigung reicht aber nicht, um das Verhältnis der Sätze für antinomisch zu halten, wie das Nitzschke tut: Das Antinomienproblem, S. 144; vgl. oben S. 16. KrVA 75/B 100 f., Hervorhebungen von mir. Ziel der Argumentation im Antinomiekapitel ist es freilich nicht, die »wahre« Form der Verbindung von Tugend und Glückseligkeit zu finden, sondern durch ein Ausschlußverfahren zu zeigen, daß es diese Form nicht gibt. Die Metaphysik der Sitten, AA VI, S. 357, Hervorhebung von mir. Generell zu dem Verfahren der Erwägung von Alternativen bei Kant s. W. Loh, Alternativen und Irrtum in der Kritischen Philosophie Kants, in: Kant-Studien 82 (1991), S. 81-95, bes. S. 81-86. Loh meint allerdings (mir scheint: etwas zu pauschal), daß Kant die Anforderungen an ein solches Verfahren, sofern es die Geltungsbedingung für die Gewißheit von Lösungen eines Entscheidungsproblems darstellt, nicht genügend erforscht habe (ebd. S. 82 f.). Vgl. etwa KrVA596 Anm./B 624 Anm. und A 602/B 630. Wenn hier in bezug auf die Disjunktion weiter von »Denkmöglichkeiten« die Rede, dann ist dieser Terminus also in allerweitester Bedeutung gebraucht, die der Kantischen »Einteilung in das Mögliche und Unmögliche« noch vorausliegt und etwa seinem obersten »Begriff von einem Gegenstande überhaupt (problematisch genommen, und unausgemacht, ob er Etwas oder Nichts sei)« entspricht (KrVA 290/Β 346). Es geht deshalb zu weit, bei der Erwägung der Denk-
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schieden zu viel, wenn man erwartet, daß die Sätze unserer Disjunktion über die Darstellung von Denkalternativen hinaus in jedem Fall eine nachvollziehbare reale Bedeutung oder Darstellungsfunktion haben, wie das C. Stange und A. Messer in ihrer Interpretation unterstellten, als sie meinten, der erste Satz impliziere notwendig den zweiten, wenn man bei den Sätzen überhaupt etwas zu denken versuche (vgl. oben S. 136), oder wie das M. Albrecht annahm, der eine mögliche Funktion des ersten Satzes darin sah, daß er »die Eigenart« »der traditionellen Ethik von Epikur bis Crusius« heraushebe und gegen die Kantische Ethik abgrenze95. Nicht so glatt ist die Frage zu beantworten, ob sich nicht die Sätze der Disjunktion wenigstens konträr ausschließen müßten, so daß sie nicht beide gleichzeitig wahr sein können, wie es auch Kants allgemeiner Definition des disjunktiven Urteils entspricht96. Es ist zwar kein zwingender logischer Grund für eine solche formale Eigenschaft der Sätze zu erkennen, aber daß die Sätze nicht konträr sind, war aus dem Umstand abgeleitet worden, daß sie nicht die wechselseitige Umkehrung voneinander darstellen; sie verwenden weder denselben Ursachenbegriff noch exakt dieselben Relate. Kant ist offensichtlich bei dem »Herausziehen« der Möglichkeiten einer ursächlichen Verbindung von Tugend und Glückseligkeit weniger »schematisch« verfahren, als man das um der Vollständigkeit willen hätte wünschen können. Denn die »schematische« Umkehrung führte auf weitere Möglichkeiten, die Kant nicht nennt (Satz 2.2 und 3.2, vgl. oben S. 135); die vollständige Permutation der von Kant genannten zwei Relationen (Bewegursache; wirkende Ursache) und drei Relate (Begierde nach Glückseligkeit; Glückseligkeit; Maximen der Tugend) ergibt insgesamt sogar acht Möglichkeiten einer Verbindung zwischen Tugend und Glückseligkeit bzw. Begierde nach Glückseligkeit, von denen sich nur zwei bei Kant finden. Das bedarf einer Erläuterung, da es scheinen könnte, als sei die Disjunktion selbst in der entscheidenden besonderen Hinsicht nicht vollständig.
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möglichkeiten des höchsten Gutes schon von »Deduktionsversuchen« zu sprechen (so H. Hoping, Freiheit im Widerspruch, S. 170). M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 186. Zur Kritik s. unten Kap. 4.3.2.3. Vgl. oben S. 129 f. Anm. 65.
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Tugend und Glückseligkeit sind zwei real unterschiedene, »äußerst ungleichartige« Elemente des höchsten Gutes (KpVA 201). Auf der Ebene von Maximen sind Tugend und Glückseligkeit nicht miteinander zu vereinbaren, weil diese »einander in demselben Subjekte gar sehr einschränken und Abbruch tun« (KpVA 202). Handelnd kann man daher immer nur eines der Elemente als oberste Maxime seines Willens wählen und muß das andere als (wie auch immer vermittelte) Folge erwarten; insofern schließen sich die beiden Möglichkeiten des höchsten Gutes »praktisch« aus (jedenfalls sofern hier von Tugend im Kantischen Sinne die Rede ist, vgl. dazu unten S. 147) 97 . Wählt der Handelnde als primäres Ziel seines praktischen Wirkens die Glückseligkeit, dann ist der Bestimmungsgrund seines Willens die natürliche Begierde nach Glückseligkeit. Die Glückseligkeit als real erfahrener, erfüllter Zustand liegt nicht in seiner Macht; sie ist ein »Ideal der Einbildungskraft« 98 , »eine bloße Idee eines Zustandes«, die er als vernünftiges endliches Wesen nicht erreichen kann, allein deswegen schon, weil er sich keinen allgemeinen und festen Begriff von ihr machen kann". In dieser Version des Zusammenhangs von Tugend und Glückseligkeit muß er also erwarten können, daß allein seine Begierde und sein Streben nach Glückseligkeit ihn zu Maximen der Tugend veranlassen. Da die Begierde nach Glückseligkeit eine Willensbestimmung (Maximen der Tugend) als Wirkung hervorbringen soll, ist sie als Bewegursache zu qualifizieren. Anders stellt sich die Situation dar, wenn die Tugendmaxime den praktischen Ausgangspunkt der Verwirklichung des höchsten Gutes bildet. Zwischen Tugendmaxime und dem, was sie intendiert, Sittlichkeit, muß nicht auf gleiche Weise differenziert werden wie zwischen Begierde nach Glückseligkeit und ihrer Erfüllung: »Dem kategorischen Gebote der Sittlichkeit Genüge zu leisten, ist in jedes Gewalt zu aller Zeit«;
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98 99
Das »praktische« Ausschließungsverhältnis kommt deutlicher noch in der Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik, AA XX, S. 306 f., zum Ausdruck. Dies ist die einzige mir bekannte Stelle außerhalb der Kritik der praktischen Vernunft, in der die Alternative der Möglichkeiten einer synthetischen Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit noch einmal eine Rolle spielt. Vgl. dazu unten S. 200-202. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 418. KU Β 388 f., Hervorhebimg im Original. Vgl. I. Kant's Menschenkunde (hrsg. von Starke), S. 262 f.; Danziger Rationaltheologie, AA XXVHI.2.2, S. 1233; Refi. Nr. 6092, AA XVIII, S. 448; Refi. Nr. 6206, AA XVffl, S. 490 u. ö.
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bei der Glückseligkeit kommt es »auch auf die Kräfte und das physische Vermögen [an], einen begehrten Gegenstand wirklich zu machen«, bei der Sittlichkeit »nur auf die Maxime..., die echt und rein sein muß« (KpV A 64 f.). Die Tugendmaxime soll auch nicht die Begierde nach Glückseligkeit bewirken, die natürlicherweise schon gegeben ist (vgl. KpV A 45), sondern Glückseligkeit selbst als einen realen erfìillten Zustand; die Tugendmaxime kann deshalb näher als wirkende Ursache bestimmt werden. M. Albrecht meinte, die Qualifizierung der Tugend als wirkende Ursache der Glückseligkeit impliziere auch, daß sie »noch andere Ursachen zu[lasse] (Tugend ist nur die conditio sine qua non), während ... die Glückseligkeit als "Bewegursache" die conditio per quam "zu Maximen der Tugend"« darstelle 100 . Diese Differenzierung zwischen notwendiger und hinreichender Bedingung läßt sich aber nicht an den beiden Ursachenbegriffen allein festmachen und ergibt sich auch sonst nicht aus dem Antinomiekapitel. Wenn Albrecht die Tugend als conditio sine qua non bestimmt, dann hat er vielleicht das moralische Prioritätsverhältnis im Auge, das hinter den Kausalrelationen steht, um die es hier geht (vgl. oben S. 107, 116, 118), möglicherweise denkt er auch schon an die Auflösung der Antinomie, die in der Tat eine Erweiterung unseres Begriffs eines kausalen Zusammenhangs von Tugend und Glückseligkeit verlangt; ein Vorgriff auf die Auflösimg wäre aber hier, wo nicht einmal das Problem entwickelt ist, nicht sehr sinnvoll. Kant hat also bei der Aufstellung der beiden Denkmöglichkeiten einer synthetischen Verbindung von Tugend und Glückseligkeit die Kausalrelationen und die Relate mit Blick auf die jeweilige praktische Situation und ihre semantischen Implikate (die aber noch nicht nach moralischen Kriterien zensiert sind und auch noch keinen bestimmten Welt- oder Naturbegriff voraussetzen) spezifisch abgewandelt und konkretisiert. Durch diese Restriktionen lassen sich zwanglos alle Abweichungen zwischen den Sätzen der Disjunktion erklären; alle weiteren Möglichkeiten, die sich »schematisch« durch Permutation der von Kant verwendeten Begriffe »herausziehen« lassen, scheiden durch den Bezug auf die Situation aus. Die Disjunktion ist auf eine plausible Weise vollständig. 100
M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 184.
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Es ist das auffälligste Versäumnis insbesondere der neueren Interpretationsliteratur zur Antinomie in der Kritik der praktischen Vernunft, daß sie nicht auf die Einbindving der Disjunktion in den Kantischen Argumentationszusammenhang geachtet hat. Es gibt eine merkwürdige Neigving, die argumentative Phrasierung des Textes zu zerstören und die Disjunktion herausgelöst aus ihrer funktionalen Verflechtving zu deuten und zu bewerten, selbst dann, wenn man sieht, daß sie der Bedeutung sachlich in keiner Weise gerecht wird, die man ihr in dieser falschen Absolutsetzung aufbürdet. Einige Autoren (C. Stange, M. Albrecht, V. S. Wike 101 ) kommen zwar auf die Besonderheiten der Sätze zu sprechen und versuchen sie - wenigstens im Ansatz - auch zu erklären, aber jene logische Bedingung der Disjunktion, auf die es im Kantischen Argumentationszusammenhang entscheidend ankommt, daß sie nämlich die Sphäre der denkmöglichen synthetisch-kausalen Verbindungen zwischen Tugend und Glückseligkeit vollständig repräsentiert und daß wenigstens eine dieser Verbindungen möglich sein muß, soll überhaupt eine synthetische Verbindung von Tugend und Glückseligkeit möglich sein, wurde bezeichnenderweise bislang nicht thematisiert und näher untersucht. Zu welchen logischen Verrenkungen das Versäumnis, die genaue argumentative Funktion der beiden Sätze zu bestimmen, im Einzelfall führt, sei am Beispiel der Interpretation von V. S. Wike demonstriert: Sie selbst stellt in allen Einzelheiten sehr klar heraus, daß die Sätze der Disjunktion weder kontradiktorisch noch konträr sind; dennoch meint sie: »Kant's belief is that the disjunction in the practical antinomy reveals a similar [im Vergleich zu den theoretischen Antinomien] type of contradiction between two mutually exclusive propositions«, und sie glaubt, diesen Anspruch gegen die Kritik L.W. Becks durch die Einführung des »principle of excluded middle«, das nach Kant für alle Disjunktionen gelte, verteidigen zu können: »... with the addition of the principle of excluded middle, Kant is able to show that of the two mutually exclusive propositions, one (but only one) is true«102. Die Einführung des »Principe des ausschließenden Dritten« ist aber nicht nur im 101
102
C. Stange, Einleitung in die Ethik, I. Bd., S. 111 f.; ders., Die Ethik Kants, S. 106 f.; M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 96 f. und S. 184; V. S. Wike, Kant's Antinomies of Reason, S. χ, 1,16 f., 126 ff., 154 f. V. S. Wike, Kant's Antinomies of Reason, S. 129, vgl. insgesamt 127-129.
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Hinblick auf die tatsächliche Funktion der Disjunktion überflüssig, sondern auch ausgesprochen willkürlich und sachlich ohne Berechtigving, was im übrigen aus Wikes eigenen Analysen klar hervorgeht. Daß in einem disjunktiven Urteil die Glieder kontradiktorisch entgegengesetzt sind, ist die Bedingung, daß man nach dem »Grundsatz des ausschließenden Dritten« von der Wahrheit eines Gliedes auf die Falschheit des anderen oder umgekehrt schließen kann103; man kann nicht aus Sätzen, die offensichtlich weder kontradiktorisch noch konträr sind, allein durch Berufung auf dieses formale Prinzip »a type of contradiction«104 herauszaubern, wie Wike das will. Gegenüber allen Versuchen, aus der Disjunktion einen Widerspruch oder einen Konflikt der praktischen Vernunft herauszulesen, bleibt festzuhalten: Das Antinomiekapitel bis einschließlich zur Disjunktion formuliert weder eine Antinomie noch sonst ein Problem; es entwickelt und spezifiziert die Denkmöglichkeiten einer notwendigen Verbindung von Tugend und Glückseligkeit, wie sie Satz (1) als Forderimg der praktischen Vernunft behauptet. Die Explikation von Möglichkeiten ist mit der Aufstellung der Disjunktion abgeschlossen. Kant wendet sich jetzt der Untersuchung und Bewertung der einzelnen Sätze zu.
4.3.2.3 Die absolute Falschheit des ersten Satzes der Disjunktion Die erste Denkmöglichkeit (»die Begierde nach Glückseligkeit ist die Bewegursache zu Maximen der Tugend«) läuft auf eine moralphilosophische Position hinaus, die in direktem Widerspruch zu Kants ethischer Prinzipienlehre steht; sie muß daher aus moralisch-praktischen Gründen definitiv verworfen werden (Satz 5): »Das erste ist schlechterdings unmöglich: weil (wie in der Analytik bewiesen worden) Maximen, die den Bestimmungsgrund des Willens in dem Verlangen nach seiner Glückseligkeit setzen, gar nicht moralisch sind und keine Tugend gründen können.«
103 104
Vgl. Logik, AAIX, S. 130 (§ 78). V. S. Wike, Kant's Antinomies of Reason, S. 127.
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Der primäre Zweck beider Sätze der Disjunktion ist die Repräsentation von Denkmöglichkeiten einer synthetisch-kausalen Verbindung von Tugend und Glückseligkeit im höchsten Gut; durch diese Aufgabe ist, wie im einzelnen gezeigt, ihr Vorkommen im Text hinreichend aufgeklärt u n d gerechtfertigt. Daß dabei auch eine moralphilosophische Aussage resultiert, geschieht sozusagen unter der Hand. Dieser Umstand ist wichtig, wenn man den möglichen Sinn und die Falschheit des ersten Satzes genauer untersuchen will. Unzutreffend ist die Auffassung, der erste Satz formuliere die moralphilosophische Position der Epikureer; dieses Verständnis, dem man in der Literatur immer wieder begegnet, hatte schon M. Albrecht mit allem Nachdruck zurückgewiesen (vgl. oben S. 28 f.): Epikur wie Stoa denken nach Kant den Zusammenhang von Tugend und Glückseligkeit als analytische Verbindung; die aber hat die Untersuchimg schon ausgeschlossen. Albrecht selbst geht aber mit seiner Deutung noch weiter: Er meint, der erste Satz formuliere »jenen "eudämonistischen" Standpunkt, den Kant als den verborgenen gemeinsamen Nenner der verschiedenen Moralphilosophien« 1 0 5 , »der traditionellen Ethik von Epikur bis Crusius« 106 , zuvor herausgearbeitet hatte; »um deren Eigenart herauszuheben und gegen die Kantische Ethik abzugrenzen«, könnte der erste Satz der Disjunktion »eine Funktion haben« 107 . Auch dies kann aus mehreren Gründen nicht richtig sein. Kant beansprucht zwar in der Kritik der praktischen Vernunft zu zeigen, daß alle Ethiken vor ihm Gebrauch von materialen Prinzipien machten und daß sie deswegen letztlich alle auf das »Epikurische[.] Prinzip der Glückseligkeitslehre« hinauslaufen, ausdrücklich auch die Vollkommenheitsethik der Stoiker und Wolffs (KpVA 68-71)108. Aber es ist doch zweifel105 106 107 108
M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 96 Anm. 303, vgl. S. 133. M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 186. Ebd. Diese Reduktion fällt in der Kritik der praktischen Vernunft radikaler aus als in vergleichbaren Einteilungen vorher. In der Grundlegung (AA IV, S. 441-444) gelten zwar auch alle ethischen Prinzipien außer Kants eigenem formalen Prinzip als heteronom, aber das Prinzip der Vollkommenheit wird hier noch nicht unter das Prinzip der Glückseligkeit subsumiert. Überhaupt hat sich die Reduktion aller vorkritischen Moralphilosophie auf das epikureische Glückseligkeitsprinzip in mehreren Schritten vollzogen; so fehlt ζ. B. in Vorlesungsnachschriften auch noch die Zuordnung des Prinzips des moralischen Gefühls zu dem der Glückseligkeit, wie sie Kant in der Grundlegung (AA IV, S. 442 Anm.) explizit vor-
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haft, ob Kant den gemeinsamen, oft latenten Bezug auf das eudämonistische Prinzip auf eine solch hedonistisch klingende Formel gebracht hätte, über die für ihn das Urteil nur lauten kann, daß sie ethisch schlechterdings falsch ist. Immerhin bescheinigt er den Stoikern auch noch in der Kritik der praktischen Vernunft, daß sie anders als die Epikureer »ihr oberstes praktisches Prinzip, nämlich die Tugend, als Bedingimg des höchsten Guts ganz richtig gewählt« haben (KpV A 228); ihr Fehler in der Bestimmung des summum bonum war es, daß sie den Glücksbegriff entsinnlichten, indem sie die Glückseligkeit allein im Bewußtsein der Tugend suchten (vgl. oben S. 111 f.). Zu dieser Position steht die Aussage des ersten Satzes der Disjunktion in diametralem Gegensatz; die Stoiker dürften deshalb auch für Kant kaum durch diese Formel repräsentiert werden. Bei aller Reduktion differenziert Kant in der Bewertung durchaus noch zwischen offen und latent eudämonistischen Ethiken. Es bleibt aber bei ihm eine m. E. nicht aufgelöste Spannung zwischen dieser differenzierenden Beurteilung und der Feststellung, daß auch in die rationale stoische Vollkommenheitsethik »unvermeidlich« empirische Bedingungen eingehen (KpV A 112 f.), so daß auch sie letztlich unter das epikureische Glückseligkeitsprinzip fällt. Es gibt noch einen wichtigeren und allgemeineren Grund gegen die Interpretation Albrechts. Er übersieht, daß derselbe Einwand, den er genimmt und begründet; vgl. z. B. Praktische Philosophie Powalski, AA XXVII. 1, S. 106-108, 118 f.; Ethik Meitzer, S. 14-17 (weitgehend identisch mit Moralphilosophie Collins, AA XXVn.1, S. 252-254, und Moral Mrongovius, AA XXVII. 2. 2, S. 1404-1406). Die rigorose Reduktion in der Kritik der praktischen Vernunft ist zwar nach der Semantik der Begriffe, wie Kant sie vor allem in den Lehrsätzen I bis ΠΙ der Analytik (KpVA 38-49) festlegt, durchaus konsequent; aber die Anwendimg auf das historische Material läßt sie und die in ihr implizierte Psychologie des Begehrens zugleich fragwürdig erscheinen. Man kann daher D. Henrich nur zustimmen, wenn er schreibt: »Eine auch nur flüchtige Kenntnis von Wolffs Ethik macht es ... ganz unmöglich, sie für eine Theorie zu halten, die Moralität aus Selbstliebe erklären will.... Für eine Theorie, die Sittlichkeit auf Selbstliebe reduziert, fehlen bei Wolff alle psychologischen Grundlagen«: Über Kants früheste Ethik. Versuch einer Rekonstruktion, in: Kant-Studien 54 (1963), S. 404-431, hier S. 423 f., vgl. 428. J. Schmucker hatte dagegen Kants Urteil übernommen: Die Ethik Wolffs habe utilitaristischen, hypothetischen und eudämonistischen Charakter: Die Ursprünge der Ethik Kants, S. 39, vgl. 358. Kritik an der generellen Subsumtion der materialen praktischen Prinzipien unter das »Prinzip der Selbstliebe oder eigenen Glückseligkeit« (KpV A 40) hatte von Aristoteles her schon F. A. Trendelenburg geübt: Der Widerstreit zwischen Kant und Aristoteles in der Ethik, in: Historische Beiträge zur Philosophie, Band ΙΠ, Berlin 1867, S. 171-214, hier S. 182 ff.
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gen einen historischen Rückbezug des ersten Satzes der Disjunktion bei anderen Autoren erhebt, auch seine eigene Interpretation ausschließt. Um es zu wiederholen: Der Satz formuliert eine Denkmöglichkeit der synthetisch-kausalen Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit, und das bedeutet, daß Kant hier weder eine stoische noch eine offen eudämonistische Ethik wie diejenige der Epikureer meinen kann, da beide nach seiner Auffassung diese Verknüpfung analytisch denken109. Damit die Verbindung von Tugend und Glückseligkeit als synthetische bestimmt werden kann, müssen die Relate als real verschiedene Bestimmungen vorausgesetzt werden; und nichts spricht dagegen, hier Tugend in dem Sinne, wie Kant sie versteht, einzusetzen; alle Ausführungen Kants zur Dialektik der praktischen Vernunft gingen bisher vom Tugendbegriff der Analytik aus (vgl. oben S. 105 f.) 110 . Der Satz sagt dann: Die Begierde nach Glückseligkeit ist die Bewegursache zu Maximen echter moralischer Gesinnung in Kantischer Bedeutung. Es ist offensichtlich, daß der Satz in diesem Sinne nicht nur eine »falsche Moralphilosophie« impliziert 111 , sondern daß der in ihm ausgedrückte Sachverhalt auch »schlechterdings unmöglich« ist, weil er in sich widersprüchlich ist; denn im Kantischen Begriff der Tugend ist natürlich das Verlangen nach Glück als Grund moralischer Gesinnung ausdrücklich negiert 112 . Kant drückt sich in der Widerlegung übrigens bemerkenswert differenziert aus; man wird den Wortlaut wohl nicht allzusehr strapazieren, wenn man ihn auf folgende Weise kommentiert: Maximen, die den Bestimmungsgrund des Willens in dem Verlangen nach Glückseligkeit setzen, sind »gar nicht moralisch«, d. h. sie sind für sich noch keine moralischen Maximen - möglicherweise eine Anspielung auf eine Glückseligkeitsethik epikureischen Typs; und - dies ist das eigentliche 109
110
111 112
Albrecht selbst hat dies oft und klar genug betont: Kants Antinomie, S. 38, 90 Anm. 285, 106 Anm. 328. Der Lapsus ist um so verblüffender, als Albrecht seine These von der Funktion des Satzes und die Einsicht, die ihr entgegensteht, auch in engster Nachbarschaft formuliert hat, vgl. S. 133 Haupttext mit Anm. 392. Anders M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 96 Anm. 303: Kant verwende »den Begriff der Tugend ... hier von vornherein in einem unerlaubten Sinne«. M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 186, vgl. S. 96,104 f. Die Widersprüchlichkeit wird in einer späteren Formulierung noch deutlicher, wenn bei der Aufhebung der Antinomie nicht nur von Tugend, sondern von »tugendhafter Gesinnung« die Rede ist (KpVA 206). Mit Blick auf diese Stelle spricht dann auch Albrecht von der »innere[n] Widersprüchlichkeit« des Satzes: Kants Antinomie, S. 97 Anm. 304.
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Thema des Satzes - sie können »keine Tugend gründen«, d. h. sie können auch nicht auf irgendeine Weise synthetisch-kausal Tugendmaximen hervorbringen. Man kann mit Albrecht den ersten Satz der Disjunktion als Ausdruck einer Glückseligkeitsethik werten 113 , dann aber einer solchen, die mit den Spezifikationen, zu denen der genaue Sinn des Satzes nötigt (Tugend und Glückseligkeit als real unterschiedene Elemente mitsamt daraus resultierender innerer Widersprüchlichkeit des Satzes), wohl noch von niemandem explizit vertreten worden ist, auch nicht von einem der zahlreichen gröberen oder feinsinnigeren Neo-Epikureer des 18. Jahrhunderts 114 . Der Satz läßt sich daher kaum auf historische Positionen beziehen; es gibt auch keine Gründe anzunehmen, daß Kant dies beabsichtigt hat. Der Satz ist und bleibt in erster Linie ein Konstrukt der Kantischen Argumentationsstrategie, das darin aber eine wohldefinierte Funktion hat.
4.3.2.4 Die Falschheit des zweiten Satzes der Disjunktion Satz (6) bestreitet auch die zweite Möglichkeit einer synthetischkausalen Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit. Kants Begründung ist allgemein und prinzipiell: Daß Tugend die Ursache der Glückseligkeit ist, ist »auch unmöglich«, »weil alle praktische Verknüpfung der
113 114
Vgl. M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 96 Anm. 303. Dort trifft man freilich auf Formulierungen, die entfernt an den ersten Satz der Disjunktion erinnern können, so wenn Christian Garve schreibt: »In der Succession unsrer Ideen, ist demnach der Fortschritt von Glückseligkeit zur Tugend weit natürlicher als der umgekehrte, nach welchem der Begriff von Tugend uns erst auf den von Glückseligkeit führen soll.... Aus der Glückseligkeit, im allgemeinsten Sinne des Worts, entspringen die Motive zu jedem Bestreben, - also auch zur Befolgung des moralischen Gesetzes« (Versuche über verschiedene Gegenstände aus der Moral, der Litteratur und dem gesellschaftlichen Leben. Erster Theil, Breslau 1792, S. 114). Aber dieser »Fortschritt« von der Glückseligkeit zur Tugend meint bei Garve gerade nicht eine synthetische Verknüpfung real unterschiedener Elemente: »Ich für mein Theil gestehe, daß ich diese Theilung der Ideen [sc. des Sittengesetzes und der Glückseligkeit] mit meinem Kopfe sehr wohl begreife, daß ich aber diese Theilung der Wünsche und Bestrebungen in meinem Herzen nicht finde« (ebd. S. 112). In seiner Antwort auf Garves »Einwürfe« drängt deshalb Kant auf die Notwendigkeit ebendieser Teilung auch für das »Herz«: Über den Gemeinspruch, AA V E , S. 278-289, bes. S. 284 ff.
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Ursachen und der Wirkungen in der Welt, als Erfolg der Willensbestimmung, sich nicht nach moralischen Gesinnungen des Willens, sondern der Kenntnis der Naturgesetze und dem physischen Vermögen, sie zu seinen Absichten zu gebrauchen, richtet, folglich keine notwendige und zum höchsten Gut zureichende Verknüpfung der Glückseligkeit mit der Tugend in der Welt durch die pünklichste Beobachtung der moralischen Gesetze erwartet werden kann«115. Die Tugend als moralische Qualität der Gesinnung ist bei Kant dadurch definiert, daß im obersten praktischen Bestimmungsgrund von allen empirischen Zwecken und Folgen der Handlungen abgesehen wird und allein eine formale Eigenschaft der Maxime (ihre Tauglichkeit als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung) den Willen bestimmt; nur durch die Abstraktion von allen bestimmten Inhalten und empirischen Rücksichten läßt sich nach Kant eine absolute sittliche Verpflichtung durch reine praktische Vernunft als möglich denken. Diese kritische Grundlegung allgemeingültiger moralischer Verpflichtung ist um den Preis erkauft, daß die moralische Qualität von Gesinnungen in keinerlei erkennbarer allgemeiner Beziehung mehr zu faktischen empirischen Zuständen in der Welt steht. Gesinnungen, moralische wie nicht-moralische, können nur in dem Maße in der Welt wirksam werden, wie der Handelnde über die Kenntnis von spezifischen empirischen Gesetzmäßigkeiten verfügt und in der Lage ist, sie in Form von Zweck-Mittel-Beziehungen zu nutzen. Kant macht zwar den Erwerb und die Kultivierung solcher Kenntnisse und Fertigkeiten unter dem Titel der sittlich gebotenen Zwecke der eigenen Vollkommenheit und der fremden Glückseligkeit zur Pflicht 116 , aber diese Fähigkeiten definieren grundsätzlich nicht die moralische Qualität einer Willensbestimmung. Glückseligkeit ist ein Fall eines empirischen »Zustand[es] eines vernünftigen Wesens in der Welt« (KpVA 224, vgl. A 45); auch für sie ist daher nicht zu erkennen, wie sie allein durch eine formale Eigenschaft von Maximen (oder durch das Wollen einer solchen Eigenschaft) notwendig bewirkt werden könnte.
U5 Vgl a u c h ¿¡e teilweise ganz ähnlichen Formulierungen in: Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee, AA VIH, S. 262. 116 Vgl. Die Metaphysik der Sitten, AA VI, S. 385 ff.
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Der Einwand ist in dieser Form unter Kantischen Prämissen stichhaltig. Angesichts der verschiedensten Deutungen in der Literatur, worin das eigentliche Problem der Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit besteht, möchte ich aber noch etwas schärfer und spezifischer die Schwierigkeit der Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit umreißen und von anderen praktischen Vermittlungsproblemen abgrenzen. Die im zweiten Satz der Disjunktion formulierte Form der Verknüpfung genügt (anders als analytische Formen) den definitorischen Bestimmungen des höchsten Gutes, wie Kant sie zuvor festgelegt hat; und anders als die erste Form der synthetischen Verbindung ist sie in sich ohne Widerspruch und entspricht auch dem moralisch gebotenen Prioritätsverhältnis von Tugend und Glückseligkeit. Der Einwand gegen sie ist in seinem Kern nicht ethischer Natur 117 ; er betrifft das Verhältnis von Moralität und (empirischer) Welt. In der Widerlegung des zweiten Satzes der Disjunktion geht Kant also über das bloße Aufnehmen und Geltendmachen bereits geklärter Begriffsbestimmungen hinaus und führt neue Gesichtspunkte ein. Der »reale Unterschied« von Tugend und Glückseligkeit, von dem Kant spricht ( K p V A 201), ist »tiefer« als die Differenz von Handlungsabsicht und ihrer Realisierung unter kontingenten empirischen Bedingungen. Auch derjenige, dessen oberste Maxime das Streben nach Glück ist, kann die Erfüllung seiner Wünsche nur dann als Erfolg seiner Willensbestimmung betrachten, wenn er über eine angemessene (und sei es auch nur implizite) Kenntnis von gesetzmäßigen Bedingungszusammenhängen verfügt, die er für seinen Zweck effektiv einzusetzen vermag; auch er ist mit Umständen konfrontiert, die er in aller Regel nicht vollständig durchschaut und ganz in seiner Gewalt hat, so daß Kant sogar sagen kann: »Der empirisch-bedingten Vorschrift der Glückseligkeit« Genüge zu leisten, ist »nur selten, und bei weitem nicht, auch nur in Ansehung einer einzigen Absicht, für jedermann möglich« 118 . Auch hier 117
118
Falsch ist daher die Behauptung B. Bauchs, daß beide Formen der synthetischen Verbindung von Tugend und Glückseligkeit »durch die ersten und elementarsten Bestimmungen der praktischen Philosophie ausgeschlossen« seien: Immanuel Kant, S. 337. KpVA 64 f. Vgl. Refi. Nr. 7242 (AA XIX, S. 293) und das Resümee in Über den Gemeinspruch (AA Vm, S. 287): »Der Wille also nach der Maxime der Glückseligkeit schwankt zwischen seinen Triebfedern, was er beschließen solle; denn er sieht auf den Erfolg, und der ist sehr ungewiß; es erfordert einen guten Kopf, um sich aus dem Gedränge von Gründen und
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existiert kein a priori notwendiger und garantierter Zusammenhang zwischen dem Willen und den beabsichtigten Wirkungen in der Welt. Aber der so bestimmte Wille bezieht sich intentional auf seinen Zweck (das Glück) und die Mittel zur Realisierung; die Rücksicht, ob das Erstrebte auch physisch möglich ist, ist hier ein wesentliches Kriterium bei der Willensbildung (vgl. KpVA 65, 101), so sehr man sich dabei in seinem Urteil auch irren und täuschen mag. Anders der moralisch bestimmte Wille: Der gute Wille will zunächst und vor allem eine bestimmte Form seiner Maxime (ihre Universalisierbarkeit) und suspendiert auf der Ebene des obersten Bestimmungsgrundes jede Rücksicht auf Zwecke in der Welt und jedes Räsonnement, ob und wie sie mittels empirisch erkennbarer Zweck-Mittel-Beziehungen verwirklicht werden können. Dieses Wollen ist in der Terminologie Kants ein rein noumenaler Akt der Freiheit, dessen Gelingen von keinen empirisch-kontingenten Bedingungen abhängig ist. Deshalb gilt hier: »Dem kategorischen Gebote der Sittlichkeit Genüge zu leisten, ist in jedes Gewalt zu aller Zeit« 119 . Auch wo sich der moralische Wille erweitert und sich inhaltliche Zwecke setzt 120 , ist seine moralische Qualität völlig unabhängig vom faktischen Erfolg: »Die Erfüllung der Pflicht besteht in der Form des ernstlichen Willens, nicht in den Mittelursachen des Gelingens« (KU Β 426; vgl. KpVA 78 f.). Daraus ergibt sich ein ganz anderes Vermittlungsproblem. Die Schwierigkeit besteht nicht mehr nur darin, daß der Handelnde immer nur über unvollständige empirische Erkenntnisse und begrenzte physische Möglichkeiten, Handlungsabsichten zu realisieren, verfügt. P. Guyer greift zu kurz, wenn er das Problem so umschreibt: »Die Tugend hat nicht immer ihre beabsichtigte Wirkung, weil unsere besten AbsichGegengründen herauszuwickeln und sich in der Zusammenrechnung nicht zu betrügen«. 119 KpVA 64, vgl. KU Β 461 Anm. Die Einfachheit des moralisch Gebotenen im Unterschied zu dem, was die Regel der Klugheit erfordert (»vasta astutia et sagacitas consectaria«), hatte Kant schon in den Bemerkungen in den »Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen« (1764/65) betont (Rischmüller S. 115 f.; AA XX, S. 155 f.). 120 yjj e z g ¿¡g eigene Vollkommenheit und fremde Glückseligkeit in der Metaphysik der Sitten (AA VI, S. 385 ff.) oder die Errichtung eines ethischen Gemeinwesens (des höchsten gemeinschaftlichen Guts) in der Religionsschrift (AA VI, S. 93 ff.) oder den ewigen Frieden (das höchste politische Gut) in der Friedensschrift (AA Vin, S. 343 ff.); die inhaltliche Konkretisierung der sittlichen Aufgabe fällt je nach Kontext bei Kant anders aus.
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ten nicht immer die beabsichtigten Handlungen hervorbringen und auch weil unsere besten Handlungen nicht immer die beabsichtigten Wirkungen hervorbringen« 121 . Die Frage lautet hier vielmehr: Wie kann das Wollen einer rein formalen Qualität, für die das Abstrahieren von der physischen Möglichkeit und allen faktischen empirischen Folgen konstitutiv ist, notwendig bestimmte Zustände in der Welt zur Folge haben? Diese Fragestellung setzt nicht bei besonderen Erfahrungen in der Welt an, etwa bei einer faktischen Disharmonie von Sittlichkeit und Glückseligkeit122 oder einem Antagonismus der Reinheit der Gesinnung und effektiver Weltgestaltung, der Verkehrving der besten Absichten in die schlimmsten Wirkungen unter den Bedingungen der Macht in der Welt (Schaeffler, s. oben S. 53), oder bei einem Gegensatz von göttlichem Gesetz und vom Bösen beherrschter Welt (Delekat, s. oben S. 47). Die Schwierigkeit ergibt sich schon aus den Elementarbegriffen der Ethik Kants, insbesondere aus dem Konzept einer Willensbestimmung aus »reiner« praktischer Vernunft und der völligen Unabhängigkeit der moralischen Qualität des guten Willens von Bedingungen und Zuständen der empirisch-sinnlichen Welt. Das Problem ist, jedenfalls in der Kritik der praktischen Vernunft, eine unmittelbare Folge allein schon der spezifischen Verschiedenheit der Moral- und Naturbegriffe bei Kant: Die Glückseligkeit »ist, nach Begriffen von einer Naturordnung überhaupt, mit der Befolgung desselben [sc. des moralischen Gesetzes] nicht notwendig verbunden«123. Bemerkenswert ist allerdings in diesem Zusammenhang eine Verschiebung der Problemstellung: Kant thematisiert im Antinomiekapitel 121
122
123
P. Guyer, In praktischer Absicht: Kants Begriff der Postulate der reinen praktischen Vernunft, S. 7. An anderen - zeitlich früheren wie späteren - Stellen bezieht sich Kant allerdings auch auf die Erfahrung und den faktischen »Lauf der Dinge«, der zeige, daß Tugend keineswegs immer mit Wohlbefinden verknüpft sei; vgl. ζ. B. Natürliche Theologie Volcbmnn, AA XXVm.2.2, S. 1153 und 1182 f.; KU Β 427 f.; Refi. Nr. 8104 (AA XIX, S. 646). Weitere Belegstellen bei M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 74-80. Markant sind auch folgende Stellen aus dem Opus postumum, die bei Albrecht nicht erwähnt sind: »Wollten wir aus der Erfahrung uns einen Begriff von Gott als einem Machthabenden machen so würde alle Moralität desselben wegfallen u. nur despotie bleiben« (AA ΧΧΠ, S. 412); ein »despot« wäre der Weltschöpfer, sofern er, wie es scheint, »gar keine Rücksicht auf die Glückseeligkeit« genommen hat (AA ΧΧΠ, S. 34). S. auch unten S. 289 f., bes. Anm. 19. KpVA231, Hervorhebung von mir.
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der Kritik der praktischen Vernunft die menschliche Glückseligkeit allein in ihrer physisch-naturkausalen Abhängigkeit; entscheidend ist die »Kenntnis der Naturgesetze« und das »physische[.] Vermögen, sie zu seinen Absichten zu gebrauchen« (KpVA 205). Das war in der Kritik der reinen Vernunft, in den Reflexionen und in den Vorlesungen über Moralphilosophie noch anders; dort rollte Kant das Problem von der sozialen Bedingtheit des Glücks her auf: Wenn nur jedermann täte, was er tun soll, könnten die Menschen selbst »Urheber ihrer eigenen und zugleich anderer dauerhafter Wohlfahrt sein« 124 . Das moralische Gesetz verstand Kant hier vor allem als Regel einer »Einstimmigkeit« unter den Menschen, die ganz natürlicherweise ihr Glück zur Folge hätte 125 ; die Abhängigkeit von der Natur, wie sie in Krankheit, Unglücksfällen und Naturkatastrophen erfahren wird, spielte nur am Rande eine Rolle. »Gott will die Glükseeligkeit aller Menschen, und zwar durch Menschen, und wenn nur alle Menschen zusammen einstimmig wollten ihre Glückseeligkeit befördern, so könnte man in Novoya Zemlya ein Paradies machen« 126 ; »das gröste und mehreste Elend des Menschen beruht mehr auf dem Unrecht der Menschen als auf dem Unglück«127, heißt es sogar in einer Ethik-Vorlesung. Die ideale Ordnung der »moralischen Welt« hat zwar ihren Ort in der intelligiblen oder Verstandeswelt 128 , aber sie liegt, wie Kant in der Reflexion Nr. 5086 formuliert, »schon itzt der Sinnenwelt zum Grunde und ist das wahre selbstständige«129; sie würde auch in der Welt Gestalt annehmen, wenn die Menschen nur entschieden genug das Sittengesetz zur Regel ihres Zusammenlebens
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Kr VA809 f./B 837 f., vgl. A 316/B 373. Vgl. Refi. Nr. 1171 (AA XV, S. 518), Refi. Nr. 6794 (AA XIX, S. 163), Refi. Nr. 6857 (AA XIX, S. 181), Refi. Nr. 6892 (AA XIX, S. 195), Refi. Nr. 7196 (AA XIX, S. 270), Refi. Nr. 7204 (AA XIX, S. 283) u. ö. Moralphilosophie Collins, AA XXVn.l, S. 285 f. (Parallelstellen Moral Mrongovius, AA XXVII. 2. 2, S. 1435, und Ethik Menzer, S. 66). Ähnlich auch Refi. Nr. 1427 (AA XV, S. 623): »Alle Übel in der Welt kommen dem Menschen von Menschen; und wenn die Menschen auf einmal gut wären, so würde Grönland vor sie ein paradles seyn«. Um die Bedeutung der ethisch-sozialen Bedingungen hervorzuheben, wählt Kant also Regionen, die sich aufgrund ihrer geographischen Lage und Beschaffenheit nicht gerade als Paradies empfehlen. Moralphilosophie Collins, AA XXVII.l, S. 415 (Parallelstellen Moral Mrongovius, AA XXVn.2.2, S. 1539, und Ethik Menzer, S. 245). Vgl. z. B. KrVA808/B 836, A 811/B 839; Refi. Nr. 6907 (AA XIX, S. 202). AA XVm, S. 83; vgl. auch oben S. 118 Aiun. 41.
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machten. Wenn Kant in der Kritik der reinen Vernunft argumentiert, »weder aus der Natur der Dinge der Welt, noch der Kausalität der Handlungen selbst und ihrem Verhältnisse zur Sittlichkeit [sei] bestimmt, wie sich ihre Folgen zur Glückseligkeit verhalten werden« (KrV A 810/B 838), dann liegt hier das Problem trotz der ähnlich klingenden Begründung noch nicht wie in der zweiten Kritik in einer allgemeinen Kluft von moralisch notwendigem Zweck und Natur 130 . Die Schwierigkeit ergibt sich hier daraus, daß die Menschen, wodurch auch immer bedingt, nicht moralisch vereint an der Verwirklichung einer gerechten Welt arbeiten und durch die ethisch-soziale Unordnung verhindern, daß die an sich bestehende Zuordnung von Tugend und Glückseligkeit auch in der Sinnenwelt wirklich werden kann; erst dadurch bleibt »dieses System der sich selbst lohnenden Moralität« »nur eine Idee« der reinen Vernunft131. Neben den sozial-ethischen Bedingungen der Glückseligkeit tritt zwar auch immer wieder ihre Abhängigkeit von der empirischen Natur ins Blickfeld, die eher eine pragmatische Klugheit und Geschicklichkeit als moralische Prinzipien erfordert132; zu einem Problem wird das Verhältnis von Moral und Natur aber erst sekundär dadurch, daß die soziale Bedingung des höchsten Gutes faktisch nicht einlösbar erscheint und daher eine besondere Vermittlung der Tugend des einzelnen mit seinem Glück notwendig wird. Die prinzipielle spezifische Verschiedenheit der Moral- und Naturbegriffe ist in der ersten Kritik noch nicht das beherrschende Thema der Lehre vom höchsten Gut. Der soziale Aspekt besitzt in der Kritik der reinen Vernunft noch eine ähnliche Prävalenz wie in einer Reflexion der frühen 70er Jahre. Auch hier unterscheidet Kant zwischen der physischen und der sozialen Bedingtheit des Glücks: »In dieser Welt kann ich nur nach den Gesetzen der Sinnlichkeit glükseelig werden; und darnach dependire ich von den mechanischen Gesetzen und der sinnlichen Willkühr der Menschen«; in einem Klammerzusatz hält er dann aber die soziale Bedingung für die entscheidende: »Die letztere [sc. die sinnliche Willkür der Menschen]
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Dies unterstellt ζ. Β. V. Rossvaer, Kant's Moral Philosophy, S. 139. KrVA 809 f./B 837 f., Hervorhebung von mir. Vgl. ζ. B. Refi. Nr. 6889 (AA XIX, S. 194), Refi. Nr. 6907 (AA XIX, S. 202), Refi. Nr. 7205 (AA XIX, S. 284).
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könnte einstimmig seyn, und denn würde ich auch nach verdienst glücklich seyn« 133 . Die kräftigen utopischen Unterstellungen in bezug auf die Natur, die hier noch in die Argumentation eingehen, werden später im Zusammenhang wichtiger Verschiebungen des gesamten Begriffsgefüges der Kantischen Ethik transformiert, und ihre Geltung wird an die subjektiven Prinzipien einer moralischen Teleologie gebunden. In einer Passage der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, die sonst in vielem noch sehr an die Ausführungen der Kritik der reinen Vernunft erinnert, ist z. B. die allgemeine Befolgung des kategorischen Imperativs nur noch die hinreichende Bedingimg für das Zustandekommen des »Reiches der Zwecke«, neben die nun, wie es scheint, deutlicher die Natur als eigenständige Bedingung einer der Moralität angemessenen Glückseligkeit tritt134. Das Motiv des höchsten Gutes als sittlicher Vereinigung der Menschen, das in der Kritik der praktischen Vernunft (ebenso wie in der Kritik der Urteilskraft) ausgeblendet bleibt, greift Kant vor allem wieder in der Religionsschrift auf und modifiziert es weiter unter dem Titel eines »ethischen gemeinen Wesens«. Hier fehlt nicht nur die Erwartung, daß in der sittlichen Gemeinschaft die jedem angemessene Glückseligkeit »natürlicherweise« schon von selbst folge, sondern es ist auch deutlich die Zuversicht geschwunden, daß die Verwirklichung der moralischen Bedingung eine durch Menschen allein mögliche Aufgabe ist (wenn sie nur wollten)135. Merkwürdigerweise hat Kant die sozialen und die physisch-naturkausalen Aspekte des höchsten Gutes m. W. immer separat, nie in unmittelbarem Zusammenhang ausführlicher abgehandelt136. Von dem Theorem, das aus dem moralischen Gesetz im Grunde zugleich die wahre pragmatische Klugheitsregel der Erlangung der Glückseligkeit machte, bleiben später nur noch abgeschwächte Versionen. So
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Refi. Nr. 4277 (AA XVII, S. 493), Hervorhebung von mir. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 438 f. Vgl. Religionsschrift, AA VI, S. 96 ff. Es verläßt daher die Bahnen einer textbezogenen Auslegung, wenn R. Brandt das Problem des höchsten Gutes in der Dialektik der zweiten Kritik mit der Aufgabe einer sittlichen Vereinigung in Verbindung bringt: »Die reine praktische Vernunft muss die civitas Dei gewissermaßen aus sich erzeugen, aus der isolierten mentalen Gegebenheit zur kollektiven Wirklichkeit kommen lassen«: R. Brandt, Der kategorische Imperativ - »phantastisch« und »an sich falsch«, in: Information Philosophie 19.3 (1991), S. 14-20, hier S. 18.
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in den Vorarbeiten zur Rechtslehre, wenn Kant meint, bei unserer »Unwissenheit« verfahren wir im Hinblick auf die allgemeine Glückseligkeit immer noch »am sichersten«, »wenn wir die Tugendpflicht zum Grundsatze machen«, besser jedenfalls, wie es hier komparativisch heißt, »als nach jeder anderen Regel« 137 ; oder in der Friedensschrift, wo Kant schreibt, die Moral habe »in Ansehung ihrer Grundsätze des öffentlichen Rechts« das »Eigenthümliche[.] an sich«, »daß, je weniger sie das Verhalten von dem vorgesetzten Zweck, dem beabsichtigten, es sei physischem oder sittlichem, Vortheil, abhängig macht, desto mehr sie dennoch zu diesem im Allgemeinen zusammenstimmt« 138 . Auf dem Hintergrund früherer starker Formulierungen ist ein Vorbehalt Kants unüberhörbar: Dafür, daß auch jeder einzelne nach seiner Würdigkeit seinen Zweck erreicht, man hier also auch, wie es früher noch hieß, »vom allgemeinen zum besondern ableiten« dürfe 139 , will sich Kant anscheinend nicht mehr verbürgen 140 . 137
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AA ΧΧΙΠ, S. 340. - Nach H. A. Pistorius sollte man sittlich handeln, weil unsere Klugheit und berechnende Voraussicht beschränkt sind und nicht zureichen, »mir mein wahres Beste zuverlässig zu entdecken«; für ihn bestand kein Zweifel, daß Klugheit und Tugend im Grunde »einerley« sind: H. A. Pistorius, Rezension der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Allgemeine deutsche Bibliothek 66 (1786), S. 447-463, hier S. 459 (zitiert nach: A. Landau (Hrsg.), Rezensionen zur Kantischen Philosophie, Bd. I. 1781-87, Bebra 1991, S. 354-376, hier S. 364). In modernen Reprisen, die sich auf solche Gewißheit nicht mehr stützen wollen oder können, erhält dieses Motiv eine Dramatisierung ins Existenzialistische, so bei H. Lübbe: »Die Unterwerfung unter die Forderung des moralischen Gesetzes ist ein dezisionistischer Akt in der existentiellen Notsituation der Ungewißheit und Unsicherheit des Weges zum Ziel des höchsten Gutes«, in dieser Lage sei »der Pragmatismiis der moralischen Forderung« gerade »ihr Rigorismus«: H. Lübbe, Dezisionismus in der Moraltheorie Kants, in: ders., Theorie und Entscheidung. Studien zum Primat der praktischen Vernunft, Freiburg 1971, S. 144-158, hier S. 156 f. und 157 (zuerst erschienen in: H. Barion (Hrsg.), Epirrhosis. Festgabe für Carl Schmitt, Berlin 1968, Bd. 2, S. 567-578). AA VIH, S. 378, Hervorhebung von mir. Vgl. auch Die Metaphysik der Sitten, AA VI, S. 216: die Vernunft kann »sich, auf Erfahrungszeugnisse fußend, von der Befolgung ihrer Gebote, vornehmlich wenn Klugheit dazu kommt, im Durchschnitte größere Vortheile, als von ihrer Übertretung wahrscheinlich versprechen« (Hervorhebungen von mir). Definitiver klangen noch die Formulierungen in der Vorlesungsnachschrift Naturrecht Feyerabend aus dem Sommersemester 1784: »Alle väterlichen Gesetze sind nichts nütze. Wo bloß Gesetze der Freiheit sind, da wird die größte Wohlfahrt befördert werden. ... Justifia [sc. fiat] pereat mundus d: i: ich bekümmere mich gar nicht um die Glückseligkeit. Aber deswegen wird die Welt denn gar nicht vergehen; sondern noch desto mehr erhalten werden« (AA XXVII.2.2, S. 1334). So in der Refi. Nr. 7204 (AA XIX, S. 283). S. Anderson-Gold gewichtet daher die Aspekte gegen den Problemdruck bei Kant, wenn er die Seite der Naturbedingtheit des menschlichen Glücks zugunsten der sozialen Di-
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Zurück zum Antinomiekapitel der Kritik der praktischen Vernunft. Kuno Fischer gab Kants Argument gegen die Verbindung von Tugend und Glückseligkeit folgende Wendung: Die Glückseligkeit ist eine sinnlichempirische Erscheinung, und nach den Erkenntnisprinzipien des reinen Verstandes müssen ihre Ursachen selbst empirisch sein; die Tugend aber ist kein Erfahrungsobjekt und deshalb auch keine mögliche Ursache der Glückseligkeit 141 . Diese ist als allein durch Naturursachen determiniert zu denken; es gibt keinen legitimen Grund, in die Erklärung menschlichen Glücks intelligible Bedingungen und Ursachen wie die moralische Gesinnung einzuführen142. Fischer bezieht sich also auf elemen-
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mension ganz beiseite schiebt: The Good Disposition and the Highest Good (The Social Dimensions of Moral Life), in: G. Funke (Hrsg.), Akten des 7. Internationalen Kant-Kongresses Mainz 1990, Band Π.2, Bonn 1991, S. 229-236, bes. S. 234 ff. Es ist gerade die spätere Entwicklung, die Kant veranlaßt, die Frage nach dem Verhältnis von Natur- und Freiheitsbegriff noch einmal grundsätzlicher zu stellen, wie die Dialektik der Kritik der praktischen Vernunft und die Kritik der Urteilskraft mit dem Programm der Verknüpfung der Gesetzgebungen des Verstandes und der Vernunft zeigen. K. Fischer, Geschichte der neuem Philosophie, IV. Bd.: Immanuel Kant und seine Lehre, 2. Theil, Heidelberg 31889, S. 116. Angesichts der Naturabhängigkeit des Glücks ist folgende Erläuterimg M. Albrechts wenig plausibel (Kants Antinomie, S. 104 Anm. 321): »Wenn die Kritik an der Antithesis [= 2. Satz der Disjunktion] recht hat und eine der Tugend proportionierte Glückseligkeit ("nach einem bloßen Naturgange") unmöglich ist, so darf durchaus nicht auf die Möglichkeit einer der Tugend nicht proportionierten Glückseligkeit geschlossen werden, und der Text bietet in der Tat keinen Anhalt für diese Möglichkeit (vgl. z. B. [KpV] A 209)«. Gerade für den späten Kant ist der primäre Befund seiner theoretischen und praktischen Philosophie die Unabhängigkeit der Glückserfahrung von der Moral: Nur für den schon Rechtschaffenen gilt, daß er »sich nicht glücklich finden [kann], wenn er sich nicht zuvor seiner Rechtschaffenheit bewußt ist«, wie sich gerade aus der von Albrecht zitierten Stelle KpVA209 ergibt; nur in einem Zirkelschluß kann gefolgert werden, daß Tugendhaftigkeit als Glückswürdigkeit eine notwendige Bedingung des Glücks ist, vgl. auch KpVA67 f.; Die Metaphysik der Sitten, AA VI, S. 377 f.; Über das Meßlingen, AA VIE, S. 261; Über den Gemeinspruch, AA VIE, S. 283 Arun.; Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie, AA Vm, S. 396 Anm.; Refi. Nr. 3314 (AA XVI, S. 774 f.). Besonders deutlich die späte Refi. Nr. 7314 (AA XIX, S. 311): »Wenn ihm das Wohlbefinden aus physischer Empfindung genug ist, so kan er glücklich seyn, ohne sich im mindesten um die Übereinstimung seines Verhaltens mit der Moral zu bekümmern, davon er nur den äußeren Schein oder die Beobachtung nach dem Buchstaben, als eine von den Regeln der Klugheit, benutzt aber ohne die Gesinung, derselben irgend einen inneren Werth zuzugestehen«. Vgl. auch Moral Mrongovius II, AA XXIX.1.1, S. 623 (der Lasterhafte »ist oft im vollen Genuß der Glükseeligkeit«) und Opus postumum, AA XXI, S. 446. Zeitgenossen haben gerade diese Trennung von Moral und Glückserfahrung attackiert: Der Lasterhafte könne »nie wahrhaftig glüklich und der Tugendhafte nie wahrhaftig elend werden ... Nur in Pöbelsinn kann ein Lasterhafter klug und glüklich heißen: in der Sprache und
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tare Prinzipien der Kantischen Erkenntnistheorie. Dennoch trifft der Einwand in dieser Form nicht spezifisch genug den Kern der Schwierigkeit und ist sogar geeignet, auf eine falsche Fährte zu führen. So meinen (oder unterstellen indirekt) einige Interpreten, es gehe bei dem Problem des höchsten Gutes auch noch darum, ob und wie sittlich bestimmte Freiheit als intelligible Ursache überhaupt Wirkungen in der Erscheinungswelt zeitigen kann und wie Naturkausalität und Kausalität durch menschliche Freiheit in der Welt zusammen bestehen können. Sie verstehen die Kantische Unterscheidimg von Noumena und Phainomena so, als handele es sich um völlig separate Welten, zwischen denen in keiner Form ein Realzusammenhang möglich ist 143 .
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nach den Grundsäzen des Weisen ist er keins ... Das kantische Räsonnement beruhet auf Misbegrif«, so der Kirchenrat G. A. Tittel, Erläuterungen der theoretischen und praktischen Philosophie nach Herrn Feders Ordnung: Moral, Frankfurt am Main 21791, S. 537 f. In früheren Reflexionen bis in die erste Hälfte der 80er Jahre hatte allerdings auch Kant die Moralität und die Selbstzufriedenheit, die sie gewährt, als »allgemein zur Glückseeligkeit nothwendig« betrachtet (Refi. Nr. 7202, AA XIX, S. 279). J. G. Fichte ist den umgekehrten Weg gegangen; nachdem er 1792 im Versuch einer Critik aller Offenbarung noch die Kantische Differenz von Tugend und Glück übernommen hatte, deklamiert er 1794, das höchste Gut habe nicht zwei Teile, es sei »völlig einfach«: »nur das macht glückseelig, was gut ist. Ohne Sittlichkeit ist keine Glückseeligkeit möglich« (Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten, in: Johann Gottlieb Fichte-Gesamtausgabe, Abt. I, Bd. 3, S. 2368, hier S. 31 f.). So heißt es in G. S. A. Mellins Enzyklopädischem Wörterbuch der kritischen Philosophie von 1797 (Bd. 1, S. 294) lapidar: »Aber die Tugend kann auch nicht die wirkende Ursache der Glückseligkeit seyn, weil die Tugend keine Naturursache ist, und also keine Naturwirkung hervorbringen kann«. Schon vorher (1793) gab J. G. Fichte es als authentische Lehre Kants aus, daß weder die Natur eine Kausalität auf die Freiheit noch die Freiheit eine Kausalität in der Natur habe; eine Übereinstimmimg sei nur »gleichsam in einer vorherbestimmten Harmonie der Bestimmungen durch Freyheit mit denen durch's Naturgesetz« möglich. Fichte sieht zwar, daß dem zweiten Teil seiner Behauptung der Kantische Wortlaut entgegensteht, meint aber, »die in mehrern Stellen seiner Schriften vorkommende Aeußerung, daß die Freyheit eine Causalität in der Sinnenwelt haben müsse, [sei] nur ein vorläufig, und bis zur nähern Bestimmung aufgestellter Satz«: J. G. Fichte, Rezension von L. Creuzer, Skeptische Betrachtungen über die Freyheit des Willens mit Hinsicht auf die neuesten Theorien über dieselbe, in: Johann Gottlieb Fichte-Gesamtausgabe, Abt. I, Bd. 2, S. 1-14, hier S. 11. - Nach Ch. Garve gibt es bei Kant freie Handlungen nur in der übersinnlichen Welt; für ihn ist es daher ein ungelöstes Problem Kants, daß der Mensch Freiheit nur in einer Welt hat, in der es für ihn nichts zu handeln gibt, während er in der Sinnenwelt, in der allein er Pflichten zu beachten hat, unfrei ist: Ch. Garve, Uebersicht der vornehmsten Principien der Sittenlehre, S. 218, vgl. 217 f., 234 Anm., 360 ff. bes. S. 363 f. - Ähnlich wie Fichte und Garve argumentiert auch noch U. Anacker; nach ihm hält sich die Moralität »in einer kognitiv-begrifflichen Sphäre, so daß ihre Befolgung in den empirischen Zuständen meines Lebens nichts ändert - jedenfalls nicht in dem Sinne än-
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Es ist zwar nach Kant unbegreiflich, wie es real möglich ist, daß die Freiheit als intelligibles Vermögen »eine Reihe von Begebenheiten von selbst« 144 anfängt, so daß »ihre Wirkungen erscheinen « und »in der Reihe der empirischen Bedingungen angetroffen werden« 145 . Allein diese Form der Freiheit aber, die »intelligibel nach ihrer Handlung, als eines Dinges an sich selbst, und ... sensibel, nach den Wirkungen derselben, als einer Erscheinimg in der Sinnenwelt«146 ist, ist für uns von praktischer Bedeutung: die »dynamischen Gesetze« »einer intelligiblen Ordnung« sollen die »Kausalität ... in der Sinnen weit bestimmen« 147 . Das in sittlichen Imperativen enthaltene unbedingte Sollen (oder Unterlassen) bestimmter Handlungen in der Welt setzt für Kant zwingend voraus, »daß die Vernunft in Beziehung auf sie Kausalität haben könne; denn, ohne das, würde sie nicht von ihren Ideen Wirkungen in der Erfahrung erwarten« 1 4 8 . Daß die Wirkung einer intelligiblen Kausalität in der Sinnen-
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dert, daß solche Änderungen als Wirkung der Moralität anzusehen wären«; Gott muß daher postuliert werden, damit dem Willen überhaupt etwas als Wirkung in der Welt der Erscheinungen entspreche: U. Anacker, Hoffnung - Kants Versuch, die Idee der Gerechtigkeit zu denken, in: Philosophisches Jahrbuch 88 (1981), S. 257-263, hier S. 258 und 262. Ε. M. Miller (1928) gestand Kants Rede von der Wirkung der noumenalen Kausalität in der Sinnenwelt nur eine symbolische Bedeutung (in einer Typik der praktischen Urteilskraft) zu; die Prinzipien der Moral haben nach ihm nur einen Bezug auf die intelligible Welt: Moral Law and the Highest Good, S. 105 und 103. - Für Schaeffler bildet das Verhältnis der freien, von der natürlichen Kausalordnung unabhängigen Tat und ihrer geforderten physischen Wirkung bei Kant sogar einen Widerspruch: Religionsphilosophie, S. 81 f., vgl. 171 f. - Während die genannten Interpreten die völlige Trennung von Freiheit und Erscheinungswelt als Kants Lehrmeinung ausgeben, bestehen andere Autoren (so schon 1788 A. W. Rehberg, s. oben S. 117 Anm. 38) gegen Kant auf einer solchen Trennung, den sie dafür tadeln, daß er behauptet, die reine Vernunft solle und könne in der Erscheinungswelt praktisch sein. Í&VA554/B 582, vgl. A 533 f./B 561 f., A 552/B 580. JÖVA537/B 565, Hervorhebung von mir. KrVA53S/B 566, Hervorhebungen im Original; vgl. KrVA539/B 567, A 545 f./B 573 f., A 554/B 582. KpV A 72. Nach KU Β LIV ist es »schon in dem Begriffe einer Kausalität durch Freiheit enthalten«, daß »deren Wirkung ... in der Welt geschehen soll« (Hervorhebung von mir); vgl. auch KU Β LV Anm. Die Idee der Freiheit hat überhaupt nur Bedeutung »in dem Verhältnisse des Intellectuellen als Ursache zur Erscheinung als Wirkung« in der Zeitreihe: Prolegomena, AAIV, S. 344 Anm. (§ 53), Hervorhebungen im Original. Für rein immanente Handlungen nach einem inneren Prinzip, sei es der Materie oder sei es auch reiner Verstandeswesen wie Gott, können wir »keinen Begriff von Freiheit angemessen finden« (ebd.). KrVA548/B 576, Hervorhebung von mir. Vgl. auch die instruktive Erörterung am Beispiel einer »boshaften Lüge« Kr VA554 ff./B 582 ff., ferner KpVA175.
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weit zumindest denfcmöglich ist und mit dem Prinzip der durchgängigen naturkausalen Determination aller Erscheinungen, »von welchem es unter keinem Vorwande erlaubt ist abzugehen« 149 , widerspruchsfrei zu vereinbaren ist, beansprucht Kant, in der Auflösung der Freiheitsantinomie allgemein gezeigt zu haben 150 . Mit der Lehre von der »Achtung fürs moralische Gesetz« als sittlicher Triebfeder verfügt Kant - nach mehreren von ihm selbst verworfenen Erklärungsversuchen - auch über eine spezielle Theorie, wie das moralische Gesetz als Form einer freien intelligiblen Kausalität »unmittelbar den Willen«151 bestimmt, wie es »im Gemüte wirkt« (KpVA 128) und durch seine Wirkungen in das Gefüge der sinnlichen Neigungen eingreift, so daß nicht nur ein der Pflicht äußerlich konformes Handeln, sondern auch ein Handeln immittelbar aus Pflicht in der empirischen Welt möglich ist 152 . Wenn es in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten heißt, daß es in einer praktischen Philosophie um »Gesetze von dem« gehe, »was geschehen soll, ob es gleich niemals geschieht« 153 , dann meint dies nicht, wie man zuweilen lesen kann, daß das, was geschehen soll, niemals geschehen kann15*. Kants markante Formulierung zielt vielmehr im Ge149
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KrVA542/B 570; vgl. Prolegomena, AAIV, S. 346, und die extremen Formulierungen KrVA 549 f./B 577 f. und KpVA 177 f. Vgl. insgesamt KrVA 532-559/B 560-587. Gegen seine Kritiker versichert Kant später in der Kritik der Urteilskraft noch einmal: Die Möglichkeit, wie das Übersinnliche Grund sein kann, »die Kausalität der Naturdinge zu einer Wirkung, gemäß ihren eigenen Naturgesetzen, zugleich aber doch auch mit dem formalen Prinzip der Vernunftgesetze einhellig, zu bestimmen«, kann »zwar nicht eingesehen, aber der Vorwurf von einem vorgeblichen Widerspruch, der sich darin fände, hinreichend widerlegt werden« (KU Β LIV)· KpVA126, Hervorhebung im Original. Vgl. insgesamt KpVA 126-159. AA IV, S. 427, vgl. 407 f. und 455. Siehe auch KrVA 534/Β 562, A 548/B 576, A 550/B 578; Prolegomena, AA TV, S. 345 (§ 53); KpVA 81; Die Metaphysik der Sitten, AA VI, S. 216. In der Kritik der Urteilskraft hatte Kant etwas abweichend formuliert, »daß das, was notwendig geschehen sollte, doch öfter nicht geschieht« (B 342). So ζ. Β. H. Schweppenhausen Schopenhauers Kritik der Kantischen Moralphilosophie, in: Schopenhauer Jahrbuch 69 (1988), S. 409-416. Nach Schweppenhäuser »verdammt die Kantische Ethik sich selbst« dazu, daß die sittliche Autonomie »reine Intelligibilität, absoluter Bestimmungsgrund ohne alle wirklichen Folgen bleibt« (S. 410, vgl. 413-416); Kant selbst gestehe an solchen Stellen wie in der Grundlegung die »Ohnmacht« ein, »welche das Stigma der Kantischen praktischen Philosophie bildet« (S. 412). Schweppenhausen Interpretation opfert relevante Einzelheiten der Kantischen Ethik zu sehr dem Erzählschema einer »Dialektik der Aufklärung«, zu deren »ungewollten« Exponenten er Schopenhauer macht (vgl. S. 409), als daß sie noch ein Beitrag zu einem historischen Verständnis der Moralphilosophie Kants und ihrer Kritik durch Schopenhauer wäre. - Noch weniger ist
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genteil auf die (praktisch notwendig zu postulierende) reale kontrafaktische Möglichkeit, etwas zu tun, auch wenn es bislang nicht getan wurde 1 5 5 . Es wird daher der besonderen Problemstellung der Dialektik der praktischen Vernunft auch nicht gerecht, wenn man ζ. B. wie L. Brunschvicg die Beziehung zwischen den beiden Büchern der Kritik der praktischen Vernunft auf die allzu griffige Formel bringt, in der Analytik gehe es um »Vantithèse radicale de la nature et de liberté, tandis que celle-ci [sc. die Dialektik] suggère leur synthèse dans l'idée du souverain bien« 1 5 6 . Schon die Analytik setzt um der Möglichkeit sittlicher Handlungen willen ein Mindestmaß an zweckmäßiger Zuordnimg von Freiheit und sinnlicher Natur des Menschen voraus 157 . Man mag vielleicht gute
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freilich gewonnen, wenn man mit vagen Anleihen bei einer dialektischen Terminologie die Bruchstellen Kantischer Unterscheidungen verschleift, wie dies Langthaler tut, wenn er meint, Kant verstehe »ganz offenkundig ... die Handlung als die immer schon "aufgehobene" Synthesis von "phänomenaler" und "noumenaler" Welt«, »diese ... ("in actu" natürlich immer schon aufgehobene Synthesis von intelligiblem und empirischem Charakter [sei] erst die eigentliche Wirklichkeit des Handelns« (R. Langthaler, Kants Ethik als "System der Zwecke", S. 242 f.). Wenn es schon nicht ohne »Synthesis« und »Aufheben« geht: wäre dann nicht eher an eine (die phänomenale und noumenale Welt) aufliebende Synthesis als an eine »aufgehobene« zu denken? In der Kritik der reinen Vernunft fährt Kant unmittelbar nach einer ähnlichen Formulierung fort: »Bisweilen aber finden wir, oder glauben wenigstens zu finden, daß die Ideen der Vernunft wirklich Kausalität in Ansehung der Handlungen des Menschen, als Erscheinungen, bewiesen haben, und daß sie darum geschehen sind, nicht weil sie durch empirische Ursachen, nein, sondern weil sie durch Gründe der Vernunft bestimmt waren« (KrV A550/B 578). Vom stoischen Ideal, dem Kant immerhin bescheinigte, daß es »das richtigste reine ideal der Sitten« sei, hat er einmal in kritischer Absicht gesagt: »Es ist richtig, daß man so verfahren soll, aber falsch, daß man iemals so verfahren wird«. Dies war ein Defizit, das für Kant damals eine Ergänzung durch die Lehre Epikurs erforderlich machte, da sie in der Frage der Motivation mehr Rücksicht auf die menschliche Natur nehme: Refi. Nr. 6607 (AA XIX, S. 106 f.). Vgl. auch oben S. 28 Anm. 55. L. Brunschvicg, L'idée critique et le système Kantien, S. 195, Hervorhebungen von mir. Und zwar eine Zuordnimg, für die Kant wegen des realen Einflusses der reinen praktischen Vernunft auf die Sinnlichkeit noch ohne teleologische Prinzipien und Maximen auskommt, wie seine Lehre von der Achtung als moralischer Triebfeder zeigt. Eine Zweckmäßigkeit braucht man hier deswegen noch nicht zu postulieren, weil sich nach Kant die Vernunft ganz einseitig bestimmend Respekt verschaffen und die sinnlichen Neigungen »unbedenklich überwiegen« können muß (Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie, AA VÓI, S. 402). Anders als Leibniz muß Kant also nicht um des Handelns in der Welt willen von Anfang an eine Teleologie von ideeller und reeller Ordnung voraussetzen. Schwierig wird es allerdings, wenn man die Grenzlinie angeben soll, von der ab eine Teleologie notwendig wird. Denn auch das Gelingen elementarer sittlicher Handlungen (wie z. B. Nicht-Lügen), von denen Kant annimmt, daß sie auch unter ganz widrigen Umständen stets in unserer Gewalt sind (vgl. die Beispiele KpV A 54
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Gründe haben, Kants Erklärung der Denkmöglichkeit einer intelligiblen Ursache sensibler Wirkungen für nicht nachvollziehbar zu halten 158 , festzuhalten ist aber, daß es für Kant in der Dialektik der Kritik der praktischen Vernunft kein zu lösendes Problem mehr war, wie es denkmöglich ist, daß aus sittlicher Gesinnung freie sittliche Handlungen in der Welt hervorgehen. Problem ist hier vielmehr, wie die sittliche Gesinnung und die durch sie bedingten Handlungen zuverlässig Ursache bestimmter Zustände und Verhältnisse in der Welt sein können. Das Problem
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und Religionsschrift, AA VI, S. 49 Anm.), ist an eine Reihe empirisch-kontingenter Voraussetzungen u. a. physiologischer Art gebunden (so an einen intakten menschlichen Organismus), die die reine praktische Vernunft nicht selbst schafft. Kant muß hier also stillschweigend Anleihen bei einer durchschnittlich funktionierenden organismischen Normalität machen. Andererseits ist Kant begründungstheoretisch auf eine teleologiefreie Grundlegung seiner Ethik angewiesen; sie muß sozusagen schon Boden unter den Füßen haben, damit auf der Basis einer absolut verpflichtenden Moral (und dazu gehört auch die Beantwortung der Frage, wie reine Vernunft in der sinnlich-empirischen Welt praktisch wirksam werden kann) zirkelfrei eine Moralteleologie und -theologie begründet werden kann. - In jedem Fall ist aber mit dem Problem der Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit ein Vermittlungsproblem von neuer Mächtigkeit gegeben, das Anforderungen stellt, die weit über die faktisch gegebenen Normalbedingungen für einfache sittliche Handlungen hinausgehen. Leider geht K. Düsing in seiner ansonsten gründlichen Studie zur »Teleologie in Kants Weltbegriff« (Bonn 1968) auf diese diffizilen Fragen nicht ein. Auch M. Forschners Hinweis, der Begriff des Gefühls der Achtung für das Sittengesetz habe »seinen erkenntnistheoretischen Stellenwert im Rahmen der Theorie der reflektierenden Urteilskraft«, ist viel zu knapp, um hier etwas zu klären: M. Forschner, Gesetz und Freiheit. Zum Problem der Autonomie bei I. Kant, München und Salzburg 1974, S. 272. So z. B. W. Kingeling, Die Antinomien in Kants drei Kritiken, S. 139 ff. Kingeling sieht zwar, daß Kants Lösungsversuch der 3. Antinomie in der Kritik der reinen Vernunft der Intention nach auf eine (wenigstens mögliche) Wirkung der Freiheit auch in der Reihe der Erscheinungen hinausläuft, er hält aber die Lösung nicht für überzeugend und glaubt sich berechtigt, in der Sache bei Kant von einer »Unvereinbarkeit von sittlicher Welt und Sinnenwelt oder von Wollen und Vollbringen« (S. 42) zu sprechen; die sittliche Maxime scheint nicht nur nicht »mit etwas Gutem belohnt werden zu können«, sondern auch nicht selbst »etwas Gutes wirken« zu können (S. 142). R. C. S. Walker gar hielt das Problem, wie wir in der räumlich-zeitlichen Welt aus einem noumenalen Grund handeln können, für »so obviously insoluble that it is difficult to see how Kant can have thought otherwise, even temporarily«: R. C. S. Walker, Achtung in the Grundlegung, in: O. Höffe (Hrsg.), Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Ein kooperativer Kommentar, Frankfurt am Main 1989, S. 97-116, hier S. 99. Eine detaillierte Erörterung der Probleme der Kantischen Verhältnisbestimmung beider Kausalitäten findet sich bei L.W. Beck, A Commentary, S. 176-208 (dt. S. 169-196); vgl. auch ders., Five Concepts of Freedom in Kant, in: J. T. J. Srzednicki (Hrsg.), Stephan Körner - Philosophical Analysis and Reconstruction. Contributions to Philosophy, Dordrecht · Boston • Lancaster 1987, S. 35-51, bes. S. 42 f. S. ferner W. Malzkorn, Kants Kosmologie-Kritik, S. 287-302.
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entsteht dadurch, daß sittliche Handlungen des Menschen in der Welt sinnliche Erscheinungen einer Kausalität sind, die zwar einen intelligiblen Bestimmungsgrund hat und insofern »von allem Naturgesetze frei ist« {KpVA 206), deren weitere Folgen und Wirkungen in der Welt aber - wie die aller menschlicher Handlungen - unter Naturbedingungen stehen (KrVA 548/B 576) und nicht durch die moralische Qualität ihres ersten Bestimmungsgrundes bestimmt werden159. Das Problem der Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit läßt sich über die von Kant in der Kritik der praktischen Vernunft genannten Aspekte hinaus noch weiter verschärfen. Kant nennt zwar (erst relativ spät, vgl. oben S. 100) das höchste Gut wiederholt Gegenstand und Zweck der praktischen Vernunft, den wir nach Kräften befördern sollen 160 ; aber die Verknüpfimg von Tugend und Glückseligkeit, zentraler Inhalt des vollendeten Gutes, kann nicht Inhalt und Gegenstand einer Handlungsintention im engeren Sinne sein, denn sie fügt sich nicht dem Schema von Handlungsabsicht und Realisierung ein: Ich kann zwar allgemein wollen und wünschen, daß eine tugendhafte Gesinnung irgendwie ein ihr proportioniertes Glück hervorbringt (was immer das heißen mag), aber ich kann es nicht als unmittelbaren Zweck meiner Handlungen beabsichtigen, den Proportionszusammenhang von Tugend und Glückseligkeit gezielt durch einzelne Akte selbst herzustellen oder zu befördern in dem Sinne, wie es unmittelbar intendierter sittlicher Zweck von Handlungen sein kann, zum Wohlbefinden anderer Menschen beizutragen. Kant wird zwar in der Literatur gelegentlich so verstanden, als sei die praktische Realisierung dieser Verknüpfung sittliche Aufgabe des Menschen 161 ; aber dafür wäre Voraussetzung, daß wir auch die wirkliche moralische Gesinnung des einzelnen authentisch beurteilen können; die aber ist nach der Erkenntnistheorie Kants eine verborgene intelligible Qualität, die nur der »Herzenskündiger« offenbaren kann, wie Kant vor 159
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In diesem Sinne nennt Kant die menschliche »Kausalität der Freiheit (der reinen und praktischen Vernunft)« auch die Kausalität einer der Sinnenwelt »untergeordneten Naturursache (des Subjekts als Mensch, folglich als Erscheinung betrachtet), von deren Bestimmung das Intelligibele, welches unter der Freiheit gedacht wird, auf eine übrigens ... unerklärliche Art den Grund enthält« (KU Β LV Anm., Hervorhebung im Original). Vgl. auch fCrVA562/B 589, KpV MS f. Vgl. KpVA2Q7, 214 f., 219 f., 224-226,233,257; KU Β 425 f. u. ö. So ζ. B. J. R. Silber, The Importance of the Highest Good in Kant's Ethics, S. 183.
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allem in der Religionsschrift162 ausführt. Außerdem würde das direkte Anstreben eines erfahrbaren festen Zusammenhangs von Tugend und Glück mit dem Bemühen um eine echte moralische Gesinnung kollidieren, die völlig uneigennützig sein muß, wenn sie rein sein soll; allein eine solche Absicht wäre schon eine Bedrohung für die oberste Bedingung des höchsten Gutes, die Tugend, und liefe Gefahr, sich selbst moralisch zu vereiteln: »Wenn die Tugenden der Menschen immer auf der Stelle mit einem gleichen Maß von Glückseligkeit belohnt würden, so würde die Moralität sich in eine Regel der Klugheit verwandeln« 163 . Denn der Glückseligkeit würdig ist der Handelnde ja nur dann, wenn im obersten Bestimmungsgrund seines Willens jede (direkte) Rücksicht und Absicht auf Glückseligkeit fehlt (was ja nicht bedeutet, daß er auf Glück ganz verzichten müßte 164 ). Ein weiterer Grund gegen die menschliche »Machbarkeit« des höchsten Gutes ergibt sich aus religiös-theologischen Aspekten dieser Idee bei Kant: Der sittlich Handelnde tut bei aller Anstrengung nur seine Pflicht; vor Gott kann er sich durch seine Tugend kein Verdienst erwerben, das einen Anspruch auf Belohnimg begründete. Die Glückseligkeit des Tugendhaften ist daher keine Angelegenheit der göttlichen Gerechtigkeit, sondern ein Werk der göttlichen Güte, stets »unverdiente Gnade« 165 . Damit verträgt sich nur schwer die Intention, die Verknüpfimg von Tugend und Glückseligkeit selbst aktiv bewirken zu wollen (auch wenn sich beides nicht strikt widersprechen und ausschließen muß). In seiner ganzen Schärfe lautet also das durch das höchste Gut aufgegebene Problem: Wie kann die moralische Gesinnung und das durch sie motivierte Handeln notwendig eine Folge (die ihr proportionierte 162
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Vgl. etwa Religionsschrift, AA VI, S. 66 ff. Siehe auch KrVA 540/B 568, A 551/B 579 Anm.; KpVA222 f. und Das Ende aller Dinge, AA VIE, S. 329 f.: schon das Urteil über die eigene moralische Qualität bleibt unsicher. Danziger Rationaltheologie, AA XXVm.2.2, S. 1290; vgl. auch Refi. Nr. 6102 (AA XVm, S. 454) und das hypothetische Szenario KpVA 263-266. Vgl. KpVA166. In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (AA IV, S. 399) heißt es sogar: »Seine eigene Glückseligkeit sichern, ist Pflicht (wenigstens indirect)«; siehe ferner Die Metaphysik der Sitten, AA VI, S. 388; Über den Gemeinspruch, AA Vm, S. 281. Vgl. dazu V. S. Wike, Kant on the indirect duty to pursue happiness, in: G. Funke (Hrsg.), Akten des 7. Internationalen Kant-Kongresses Mainz 1990, Band Π.1, Bonn 1991, S. 599-611. Danziger Rationaltheologie, AA XXVm.2.2, S. 1293. Weitere Belege bei M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 80-83.
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Glückseligkeit) haben, die um der Reinheit ebendieser Gesinnung willen nicht einmal wie andere moralische Zwecke direkt als Ziel einzelner Handlungen intendiert werden kann 166 ? Um dies zu begreifen, fehlen uns in allen entscheidenden Hinsichten die notwendigen Voraussetzungen: Praktische Wirkungen kommen für uns nur dann einigermaßen zuverlässig zustande, wenn wir empirische Gesetzmäßigkeiten nach Kräften zu unseren Absichten nutzen können; hier fehlt es aber nicht nur an den erforderlichen physischen Mitteln, um zwischen einer rein formalen (»noumenalen«) Qualität des Willens und empirischen Zuständen in der Welt eine feste Zuordnung herzustellen, sondern schon an der moralischpraktischen Möglichkeit entsprechender Handlungsabsichten. Wer fragt, was er tun kann, um das höchste Gut zu verwirklichen oder wenigstens wirksam zu befördern, wird immer wieder nur auf die oberste Bedingung des höchsten Gutes, die reine moralische Gesinnung in allem Handeln, verwiesen, ohne daß dadurch im mindesten verständlich würde, wie eine notwendige Verknüpfung mit der Glückseligkeit zustande kommen kann: Im Hinblick auf das höchste Gut haben wir »nichts zu thun, als dafür zu sorgen, daß wir bessere Menschen werden«, notierte sich Kant auf einem losen Blatt in seinem Handexemplar der Kritik der praktischen Vernunft167. Anders als die erste Form der synthetischen Verknüpfimg von Tugend und Glückseligkeit, die gegen ethische Prinzipien verstößt und in sich sogar widersprüchlich ist, ist die zweite unmöglich in dem Sinne, daß jede theoretische Erklärung ihrer Möglichkeit fehlt. Der Nachweis dieser Fehlanzeige stützt sich auf einen Erfahrungsbegriff der theoretischen Vernunft, dem gemäß die Glückseligkeit in keinem notwendigen Zusammenhang mit der sittlichen Qualität des Willens steht; wenn es Entsprechungen von Tugend und Glückseligkeit gibt, sind sie für uns immer
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Vgl. auch M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 185: »Wie aber auf ein Handeln, das gar nicht Rücksicht auf die Glückseligkeit nimmt, Glückseligkeit folgen kann, wo diese doch von der Natur abhängig ist - darin liegt die Schwierigkeit«. G. Lehmann, Kants Bemerkungen im Handexemplar der Kritik der praktischen Vernunft, in: Kant-Studien 72 (1981), S. 132-139, hier S. 138.
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4 Analyse und Interpretation des Textes zur Antinomie der praktischen Vernunft
nur zufällig166. Bei dem Erfahrungsbegriff kann es sich aber nicht mehr um das »Prinzipium des reinen Empirismus« handeln, das in der ersten Kritik der Reihe der Antithesen zugrunde lag 169 , wie Albrecht meint 170 , sondern nur noch um einen weniger dogmatischen Empirismus, der die Freiheit nicht mehr prinzipiell ausschließt. Denn, wie ausführlich erörtert (vgl. oben S. 157-163), ist es für Kant in der Dialektik der Kritik der praktischen Vernunft kein Thema mehr, ob Naturkausalität und sittliche Freiheit in der Welt zusammen bestehen können, da mit dem moralischen Gesetz auch die Freiheit vorausgesetzt ist. Nicht unwichtig ist auch der Hinweis, daß die Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit nicht förmlich diesem abgeschwächten Erfahrungsbegriff in seiner allgemeinen Form widerspricht; sie könnte nur zum faktischen Lauf der Dinge und ihren besonderen empirischen Gesetzen im Widerspruch stehen 171 . Kants Argumentation im Antinomiekapitel hat nur gezeigt, daß wir keinen Begriff der Möglichkeit einer solchen Verknüpfung haben, da unser Begriff eines kausalen Zusammenhangs dafür nicht ausreicht 172 . Daß Kant den ersten Satz der Disjunktion (wegen des Widerspruchs) als »schlechterdings unmöglich«, den zweiten nur als »unmöglich« bezeichnet, läßt sich daher verständlich machen, ohne daß man auf die Aufhebung der Antinomie vorgreift. In der beschriebenen umfassenden Weise stellt sich das Problem nur für das höchste Gut als Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit. Sittlich-praktische Inhalte wie die eigene Vollkommenheit und fremde
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Vgl. KpVA207; Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik, AA XX, S. 336: »Nun ist die Harmonie der Glückseeligkeit in der Welt mit der Würdigkeit glücklich zu seyn (wen sich eine solche beständig eräugnen soll) eine zufällige Folge der Begebenheiten in der Welt«. Vgl. KrVA465 ff./B 493 ff. M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 104, bes. Anm. 322. Vgl. K. Düsing, Die Teleologie in Kants Weltbegriff, S. 107. S. auch oben S. 152 Anm. 122. Es ist daher zumindest ungenau formuliert, wenn V. S. Wike schreibt, daß diese Verbindung falsch sei »because if it were true it would contradict the laws of the sensible world« (Kant's Antinomies of Reason, S. 143), da unbestimmt bleibt, ob es die allgemeinen Formen der Gesetzmäßigkeit oder spezifische Gesetze des faktischen Weltverlaufs sind, denen die Verbindung widerspricht. Darin liegt ein Unterschied zu älteren Fassungen des Problems. In Träume eines Geistersehers (1766) beispielsweise hatte Kant zum »Widerspruch der moralischen und physischen Verhältnisse der Menschen« definitiv erklärt: »Alle Moralität der Handlungen kann nach der Ordnung der Natur niemals ihre vollständige Wirkimg in dem leiblichen Leben des Menschen haben« (AA Π, S. 335 f., Hervorhebung von mir).
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Glückseligkeit oder auch der ewige Friede können zumindest als Ziel eigens darauf gerichteter, einzelner Handlungen direkt ins Auge gefaßt werden. Selbst die sittliche Pflicht zur Errichtung eines ethischen Gemeinwesens enthält, sosehr sie wegen der Ungewißheit, ob das, was verlangt ist, »auch in unserer Gewalt stehe«, »der Art und dem Princip nach von allen andern unterschieden« ist 173 , doch einige konkrete Handlungsperspektiven über den allgemeinen moralischen Appell hinaus, stets seine Pflicht zu tun 174 . Aber auch bei diesen Zwecken bleibt die prinzipielle Kluft, daß zwischen der moralischen Qualität des menschlichen Willens und dem Erfolg seiner Anstrengungen kein fester, kausaler Zusammenhang besteht; und da das Gelingen sittlicher Intentionen in der Welt auch einen Aspekt der menschlichen Glückseligkeit ausmacht 175 , ist das Problem, das mit der Idee des höchsten Gutes gegeben ist, auch von allgemeinerem Interesse für die Ethik Kants. In der Beschreibung des Problems habe ich mit Bedacht eine anthropologische Engführung vermieden, die immer wieder in der Literatur anzutreffen ist 176 : Der Einwand gegen die zweite Weise einer synthetischen Verbindung von Tugend und Glückseligkeit zielt nicht allein und nicht einmal primär darauf, daß der Mensch als endliches Vernunftwesen nicht imstande ist, das höchste Gut durch eigene Kräfte zu verwirklichen, sondern darauf, daß die Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit überhaupt unmöglich zu sein scheint und wir dieses Ziel »sogar mit Beihilfe der größten Naturkenntnis« (KpVA 264) nicht erreichen. Besonders deutlich kommt dies in Formulierungen der Kritik der Urteilskraft zum Ausdruck, die den Kern des Problems rekapitulieren: Wir fühlen »uns ... und die gesamte Natur ihn [sc. den höchsten Zweck] zu erreichen unvermögend« 177 ; die Ausführbarkeit des Endzwecks sehen wir theoretisch »weder von seiten unseres eigenen physischen Vermögens noch der 173 174 175
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Religionsschrift, AA VI, S. 98, vgl. 97. Vgl. vor allem Religionsschrift, AA VI, S. 100 ff. Vgl. die Definition KpVA224. - In seiner ganzen beschriebenen Differenziertheit stellt sich das Problem aber nur dann, wenn man beides nicht einfach miteinander identifiziert; versteht man unter der Glückseligkeit »eben nichts als die Verwirklichung der sittlichen Zwecke« (J. Gottschick, Kant's Beweis für das Dasein Gottes, S. 15), entfallen natürlich die Einwände gegen die Möglichkeit von Handlungsintentionen, die sich direkt auf die Verwirklichung des höchsten Gutes beziehen. Vgl. oben S. 92 f. KU Β 417, Hervorhebung von mir.
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Mitwirkung der Natur« ein 178 ; von ihr können wir nur »hin und wieder einen zufälligen Beitritt« erwarten (KU Β 427). Auch in der Preisschrift, in der als Problem genannt wird, daß der moralische Endzweck »nicht völlig in unsrer Gewalt« ist 1 7 9 und »über unser Vermögen hinausliegt« 180 , ist es nicht allein das Unvermögen des Menschen zur Realisierung des höchsten Gutes, was in theoretischer Rücksicht die Schwierigkeit ausmacht, sondern ebenso das Vermissen »der Ergänzung seines Unvermögens« 181 . Das Problem hat also einen kosmologischen Bezug 182 ; eine anthropologische Dimension erhält es allein dadurch, daß es die Erkenntnisbedingungen unserer theoretischen Vernunft sind, an denen ein Begriff von der Möglichkeit des höchsten Gutes scheitert 183 . Kant hat aber gute Gründe, diesen Aspekt hier noch nicht hervorzuheben.
4.3.2.5 Die Falschheit der Disjunktion Beide Sätze der Disjunktion sind falsch. Die logische Konsequenz ist klar: Wenn alle Glieder falsch sind, ist die Disjunktion als ganze falsch, damit aber auch die Bedingung, unter der sie steht. Da die Disjunktion (zwar nicht logisch-analytisch, aber doch) mit Blick auf die praktische Situation auf plausible Weise vollständig ist und die gesam-
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KU Β 461 Anm., Hervorhebung von mir; vgl. auch die Formulierung KU Β 434: »... Hindernis aus dem Unvermögen ... nach dem bloßen Naturbegriffe von der Welt«. Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik, AA XX, S. 294, vgl. 306 f. Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik, AA XX, S. 305. Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik, AA XX, S. 307, Hervorhebimg von mir, vgl. AA XX, S. 301. Klar ist auch die späte Refi. Nr. 8100 (aus den Jahren 1793/94): »Wenn das höchste Gut dem moralischen Antheil nach aus der Freyheit entspringen soll, so haben wir keinen Grund es von der Gottlichen Schöpfung und auch nicht von uns selbst zu erwarten nach theoretischen Principien« (AA XIX, S. 643). - H. Hoping (Freiheit im Widerspruch, S. 173 Anm. 635) betont zwar zu Recht gegen G. A. Rauche, die Schwierigkeit bestehe nicht darin, daß »sich die menschliche sittliche Kraft als zu schwach erweist«; er selbst beschreibt das Problem aber wiederum in anthropologischer Rücksicht: Wir können »das höchste Gut, welches notwendiger Gegenstand unserer Hoffnung ist, in seinem empirischen Element (Glückseligkeit) nicht aus eigener Kraft hervorbringen« (Hervorhebungen von mir). Schon in einer Reflexion (Nr. 6590, AA XIX, S. 98) wahrscheinlich aus der 2. Hälfte der 60er Jahre stellte Kant fest: »Wen der rechtschaffene Man unglüklich und der lasterhafte glüklich ist, so ist der Mensch nicht unvollkomen, sondern die Ordnung der Natur«. Vgl. Y. Yovel, The God of Kant, S. 96 f.
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te »Sphäre« der möglichen synthetisch-kausalen Verbindungen von Tugend und Glückseligkeit repräsentiert, bedeutet der Schluß aus der Argumentation der Sätze (2) bis (6) inhaltlich: Eine notwendige synthetische Verbindimg von Tugend und Glückseligkeit ist nicht möglich; daher ist auch das höchste Gut, das durch diese Verbindimg definiert ist, unmöglich. Kant hält dieses Ergebnis nicht in einem eigenen Satz fest, aber es ist explizit in den beiden folgenden Sätzen (7) und (8), in denen er aus diesem Resultat eine weitere Konsequenz ableitet, enthalten und sachlich vorausgesetzt184. Die Logik der Argumentation beruht auf dem Syllogismus des »Dilemma«: Der Obersatz ist ein hypothetischer Satz, dessen consequens disjunktiv ist (vgl. oben S. 129); »der Untersatz bejaht, daß das consequens (per omnia membra) falsch ist, und der Schlußsatz bejaht, daß das antecedens falsch sei« 185 . In formaler Notation hat er folgende Gestalt: (1) ρ (2) ~q
q ν r186 Λ ~R
= ~(q ν r )
(3) ~p Zweck dieses Syllogismus ist, so G. F. Meier in seiner »Vernunftlehre«, allein die Widerlegung, »wenn man sich von der Unrichtigkeit ei-
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Satz (7): »Unmöglichkeit des ersteren« (sc. des höchsten Gutes); Satz (8): »ist also das höchste Gut nach praktischen Regeln unmöglich«. Logik, AA IX, S. 130 (§ 79); vgl. auch G. F. Meier, Auszug aus der Vernunftlehre, Halle 1752. S. 108 f. (§ 397) (wiederabgedruckt in AA XVI, S. 750). - Von den vier Dilemma-Figuren (zwei konstruktiven und zwei destruktiven), die sich unterscheiden lassen, berücksichtigen Meier und Kant nur eine der destruktiven Figuren. Zu den diversen Dilemma-Schlüssen s. A. Menne, Einführung in die formale Logik, Darmstadt 1985, S. 38 (übrigens mit einem Fehler bei der hier einschlägigen Figur 3.6654: Ρ Λ q Λ .r —» Ρ Ν q. —» Ρ ist zu korrigieren in: Ρ Λ q Λ .r -» Ρ Ν q. - » r). Die Disjunktion kann zwei oder mehr Glieder umfassen; entscheidend ist, daß sie vollständig ist. Dies betonte auch G. F. Meier in seiner Vernunftlehre (Halle 1752, S. 589 f., § 425). Die Vernunftlehre diente Kant in seinen Vorlesungen zunächst als Logik-Kompendium, bis sie vermutlich im WS 1756/57 durch Meiers Auszug aus der Vernunftlehre abgelöst wurde, der dann über 40 Jahre ununterbrochen die Textgrundlage bildete. Vgl. dazu E. Conrad, Kants Logikvorlesungen als neuer Schlüssel zur Architektonik der Kritik der reinen Vernunft, Stuttgart-Bad Cannstatt 1994, bes. S. 65 ff., sowie N. Hinske und H. Schay, Einleitung zu: N. Hinske, Kant-Index, Band 1: Stellenindex und Konkordanz zu George Friedrich Meier, "Auszug aus der Vernunftlehre", Stuttgart-Bad Cannstatt 1986, S. IXXLn, hier S. IX.
170
4 Analyse und Interpretation des Textes zur Antinomie der praktischen Vernunft
ner Sache oder eines Urtheils überzeugen will« 1 8 7 . Das Dilemma schließt formal durchaus korrekt. Aber die »Alten«, namentlich die Skeptiker und Sophisten, hätten diese Figur, so Kant, oft rein polemisch verwendet, indem sie in einem Kunstgriff »Sätze nicht geradezu« widerlegten, »sondern nur Schwierigkeiten« zeigten und die Unbegreiflichkeit oder Schwierigkeit eines Sachverhalts für seine Unmöglichkeit ausgaben; ihr Gebrauch des Dilemma habe daher »etwas Täuschendes« und »vieles Verfängliche an sich« gehabt 1 8 8 . Wenn Kant in diesem Zusammenhang auch von Dialektik gesprochen haben sollte, was eine Nachschrift der Logikvorlesimg Kants vermuten läßt 189 , dann wird man dies aber auf den dialektischen Mißbrauch der formalen
Logik
(vgl. oben S. 114) beziehen müssen. Das Dilemma ist jedenfalls nicht die logische Struktur der indirekten apagogischen Beweise in der transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft. Die Disjunktionen, von denen die apagogischen Beweise dort ausgehen, sind - nach Kant wenigstens einem notwendigen Scheine nach - analytisch vollständig und ihre Glieder kontradiktorisch entgegengesetzt; nur so kann man apagogisch nach dem modus tollendo ponens von der Verneinung eines Gliedes auf die Bejahung des anderen schließen 190 . Diese Möglichkeit apagogi-
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190
G. F. Meier, Vernunftlehre, S. 589 (§ 425). Logik, AAIX, S. 130 f. (§ 79); der Text der Anmerkung ist bis auf minimale Abweichungen in der Satzstellung identisch mit Logik Pölitz, AA XXIV.1.2, S. 593 f. Vgl. femer Logik Blomberg, AA XXIV.1.1, S. 286 (§ 397) und Logik Busolt, AA XXIV.1.2, S. 678. - Die kritischen Bemerkungen zum Gebrauch des Dilemma fehlen noch bei G. F. Meier; er hatte vor allem die »grosse Deutlichkeit« dieses Vemunftschlusses hervorgehoben: Vernunftlehre, S. 589 (§425). »Das Dilemma wird sonst auch Cornutum genannt, weil man dadurch den anderen refutiret, und ihm auch zu gleich alle weege abschneidet, er mag nemlich gehen, welchen er will, so ist er gefangen, und dahero wird auch dieses Dilemma sehr in der Dialectic genutzet Deßentwegen nahmen es auch die Sceptici gar sehr gern«: Logik Blomberg, AA XXIV.1.1, S. 286 (§ 397); vgl. auch unten S. 301-303. Der eminent polemisch-strategische Wert des Dilemma klingt auch bei G. F. Meier an, es fehlt aber der historische Rückbezug, der das Dilemma zwielichtig erscheinen läßt: »Man kan etwas schon widerlegen, wenn man aus ihm auch nur eine Sache herleitet, die ungereimt ist. Ein Dilemma treibt diese Widerlegung noch gewaltiger. Es treibt den Gegner aus einer Ungereimtheit in die andere, und es greift denselben so stark an, daß, wenn er einem Streiche ausweichen will, er sich dem andern bloß stelt«: Vernunftlehre, S. 590 (§ 425). Vgl. Logik, A AIX, S. 71. - Die kritische Auflösung der mathematischen Antinomien zeigt dann freilich, daß den dialektischen Gegenbehauptungen stillschweigend eine gemeinsame Bedingung zugrunde lag: daß die Welt der Erscheinungen »ein an sich existierendes Ganzes ist«. Interessant ist der Hinweis Kants, daß sich aus dieser Einsicht ein indirekter
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scher Beweise bietet die Disjunktion der beiden synthetischen Verknüpfungsweisen von Tugend und Glückseligkeit von vornherein nicht, da sie selbst nur das consequens eines hypothetischen Satzes ist und unter dem qualifizierenden, einschränkenden Konditional einer besonderen Sphäre steht (vgl. oben S. 133)191. Man kann »q ν r« auch nicht mit der Begründung abtrennen, daß das antecedens »p« (»das höchste Gut ist möglich«) eine »notwendige Hypothesis« der praktischen Vernunft sei; das wäre ein unerlaubter Übergang von einem praktischen Satz (oder dem Implikat eines solchen Satzes) zu einer theoretischen Behauptung (vgl. oben S. 126). Der Text zur Antinomie der praktischen Vernunft enthält auch nicht den geringsten Anhaltspunkt dafür, daß Kant von der Disjunktion und der Falschheit ihrer Glieder in irgendeiner Weise einen apagogischen Gebrauch zu machen beabsichtigte, also die Widerlegung des ersten Gliedes als Beweis für die Richtigkeit des zweites Gliedes oder umgekehrt verstanden hätte. An die Zurückweisung des ersten Satzes schließt sich unmittelbar die des zweiten Satzes an; Kants Argumentation zielt offensichtlich direkt auf die Widerlegung der Disjunktion als ganzer und die Bestreitung ihrer Bedingung nach dem modus tollendo tollens 192 . Eine Parallele zu den dialektischen Beweisen in der Kritik der reinen Vernunft besteht allenfalls darin, daß Kant die Unmöglichkeit des höchsten Gutes mittels eines indirekten Vernunftschlusses be-
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Beweis für die transzendentale Idealität der Erscheinungswelt führen ließe (»wenn jemand etwa an dem direkten Beweise in der transzendentalen Ästhetik nicht genug hätte«) (KrVA 506 f./B 534 f.), und zwar mittels derselben Schlußfigur des Dilemma, von der Kant im Antinomiekapitel der Kritik der praktischen Vernunft Gebrauch macht; vgl. unten S. 243 Anm. 67. Da die Disjunktion auf plausible Weise vollständig ist (vgl. oben S. 142), kann man also nur schließen, daß unter der Voraussetzung, daß überhaupt eine synthetische Verbindung zwischen Tugend und Glückseligkeit besteht, gilt, daß die Maxime der Tugend die Wirkursache der Glückseligkeit ist, sofern die Glückseligkeit nicht die Bewegursache zu Maximen der Tugend ist. In diesem harmlosen Sinne hatte Kant vorher von der Einteilung der Verbindungen in analytische und synthetische einen apagogischen Gebrauch gemacht (vgl. oben S. 127 f.). Daß Kant im Antinomiekapitel der Kritik der praktischen Vernunft den modus tollens nur in diesem Sinne verwendet und apagogische Beweise nach dem Modus tollendo ponens für die Sätze der Disjunktion fehlen, betont V. S. Wike: Kant's Antinomies of Reason, S. χ, 2628,31-34; vgl. auch die formalisierte Wiedergabe der Argumentation Kants ebd. S. 143.
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weist, der wie alle indirekten Beweise in der Philosophie Kants nicht im besten Rufe steht. Dies verdient allerdings festgehalten zu werden. Kuno Fischer ist m. W. der einzige Kantinterpret, der die Situation, die durch die Falschheit der beiden Sätze entsteht, auch terminologisch mit dem Dilemma in Verbindung bringt: »Von jenen beiden Sätzen kann zunächst keiner bejaht werden, sie erscheinen beide unmöglich: darin besteht das Dilemma der praktischen Vernunft« 193 . Die Antinomie der praktischen Vernunft besteht für Fischer überraschenderweise aber schon in dem bloßen Sachverhalt, daß »der Begriff des höchsten Gutes ... auf zwei Fällen« beruht, »die sich zu einander wie Thesis und Antithesis verhalten« 194 . Ein Sachproblem wird daher bei ihm eher mit dem Terminus »Dilemma« als mit dem der »Antinomie« bezeichnet, was auch deshalb unglücklich ist, weil »dilemma practicum« bei Kant die Bezeichnung für das in wichtigen Aspekten inhaltlich und formal anders gelagerte Vorläuferproblem der Antinomie der praktischen Vernunft ist (s. unten Kap. 6.2 und 6.3). Es ist zwar unschwer zu erkennen, daß die Negation der beiden Sätze der Disjunktion in der Folge zu einem Problem führt, aber die Konjunktion der beiden negierten Sätze stellt für sich natürlich auch keine Antinomie dar, wie dies K. Vorländer und G. Deleuze unterstellt hatten 195 . Da die Sätze nicht kontradiktorisch sind, können beide ohne jeden logischen Konflikt falsch sein. Selbst die vorsichtigere Behauptimg Y. Yovels, daß Kants sorglose Formulierimg zumindest den Eindruck erwecke, daß die Antinomie in dem Verhältnis der negierten Sätze bestehe 196 , läßt sich nicht aus dem Text belegen; Kants Ausführungen mögen knapp und gedrängt sein, aber die logische Struktur der Argumentation läßt sich hinreichend sicher und eindeutig aus ihnen eruieren.
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K. Fischer, Geschichte der neuern Philosophie, IV. Bd., Heidelberg 31889, S. 117, Hervorhebung im Original. Ebd. Das Verhältnis von Antinomie und Dilemma bleibt aber bei Fischer unklar; in einer Formulierung der 1. Auflage seiner Geschichte der neuern Philosophie (TV. Bd., Mannheim I860, S. 169), die später fehlt, scheint er beide Ausdrücke synonym zu gebrauchen: »Wie kann diese Antinomie, dieses Dilemma gelöst werden?« S. oben S. 19 Anm. 26 und S. 69 Anm. 177. S. oben S. 69.
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Abwegig ist schließlich die Ansicht V. S. Wikes, daß der Nachweis der Falschheit der beiden Sätze der Disjunktion schon die Auflösung einer (ersten) praktischen Antinomie sei 197 , und zwar schon deshalb, weil noch gar kein Problem formuliert ist, das gelöst werden müßte. Ein Konflikt entsteht im Gegenteil erst dadurch, daß beide Sätze der Disjunktion für falsch erklärt werden müssen 198 . Damit ist auch klar, daß alle Versuche von vornherein verfehlt sind, die Falschheit der beiden Sätze der Disjunktion in irgendeine nähere scheinbare199 oder echte 200 Parallele mit der Falschheit der dialektischen Behauptungen der mathematischen Antinomien der ersten Kritik zu setzen, und zwar nicht allein aus dem Grund, weil die Sätze der Disjunktion nicht die Rolle von dialektischen Behauptungen spielen, sondern auch deshalb, weil Wahrheitswerte von Sätzen vor der kritischen Auflösung der Antinomie (im Falle der Antinomie der praktischen Vernunft) mit solchen nach der Auflösimg aus der Perspektive des transzendentalen Idealismus (im Falle der mathematischen Antinomien) miteinander verglichen würden201.
4.3.3 Ein Konflikt innerhalb der Vernunft 4.3.3.1 ... die Möglichkeit des höchsten Gutes betreffend Das Ziel und die argumentative Funktion der Sätze (2) bis (6) des Antinomiekapitels sind nun hinreichend transparent: In ihnen expliziert Kant zunächst anhand von Disjunktionen, was der Fall sein müßte, Vgl. oben S. 80 f. - Auch wenn Wikes Interpretation inakzeptabel ist, so ist sie doch zumindest ein Versuch, eine Frage zu beantworten, die andere Interpreten nicht einmal als Problem ihres Textverständnisses erkennen: Wenn die Disjunktion der synthetischen Verknüpfungsweisen von Tugend und Glückseligkeit schon den Kern der Antinomie der praktischen Vernunft darstellt: welche Funktion und welchen Sinn kann dann noch im Antinomiekapitel der Nachweis der Falschheit der beiden Sätze der Disjunktion haben? 1 9 8 »The difficulty is that we must reject both assertions«: V. Rossvaer, Kant's Moral Philosophy, S. 162. Rossvaer sei hier stellvertretend für eine Reihe von Interpreten genannt, die dies mehr oder weniger deutlich ausgesprochen haben. 1 9 9 Vgl. M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 104. 200 Ygi γ g wike, Kant's Antinomies of Reason, S. 144: »This first step [sc. der Nachweis, daß beide Sätze falsch sind] is identical to the resolution of the mathematical antinomies of theoretical reason«; vgl. auch oben S. 81. 2 0 1 Darauf weist auch M. Albrecht hin: Kants Antinomie, S. 104. 197
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wenn das höchste Gut möglich ist, van dann zu zeigen, daß keiner der Fälle gegeben ist. Die Ausführungen haben den Nachweis zum Zweck, daß das höchste Gut nicht möglich ist, weil eine notwendige Verbindung von Tugend und Glückseligkeit auf keine Weise möglich ist. Dieser Schluß steht offensichtlich in einem Konflikt mit der Behauptung in Satz (1), daß »in dem höchsten für uns praktischen, d. i. durch unseren Willen wirklich zu machenden Gute ... Tugend und Glückseligkeit als notwendig verbunden gedacht« werden müssen. Der Konflikt läßt sich leicht in eine explizite kontradiktorische Form bringen: (1.1) Das höchste Gut ist möglich (im Sinne einer »notwendigen Hypothesis« der praktischen Vernunft 202 ) (p). (1.2) Das höchste Gut ist nicht möglich (~p). Für beide Sätze lassen sich bei Kant notwendige Interessen und Gründe der Vernunft geltend machen: Behauptung (1.1) stützt sich in letzter Instanz auf das Gebot der praktischen Vernunft, das höchste Gut zu befördern; die Gegenbehauptung (1.2) basiert an entscheidender Stelle (bei der Widerlegung des 2. Satzes der Disjunktion) auf Prinzipien der theoretischen Vernunft (s. oben S. 165 f.). Wenn eine Antinomie der Vernunft sich in der Antithetik zweier kontradiktorischer Sätze darstellt, »deren jeder nicht allein an sich selbst ohne Widerspruch ist, sondern sogar in der Natur der Vernunft Bedingungen seiner Notwendigkeit antrifft, nur daß unglücklicherweise der Gegensatz ebenso gültige und notwendige Gründe der Behauptung auf seiner Seite hat« 203 , dann kann man hier mit gutem Grund von einer Vernunftantinomie sprechen und die Sätze (1.1) und (1.2) als ihre Thesis bzw. Antithesis ansehen 204 . 202 203 204
Vgl. oben S. 127. KrVA421/B 449; vgl. Prolegomena, AAIV, S. 340 f. (§ 52 b). Daß dies nach Kantischen Kriterien eine »wirkliche Antinomie« ist, hält auch L.W. Beck fest: A Commentary, S. 248, dt. S. 230; vgl. oben S. 67. M. Albrecht verweist für eine solche Antithetik auf »die in der Tat vorhandene Verwandtschaft der Probleme« und »enge[.] Nachbarschaft zu der Antithetik der Kritik der reinen Vernunft« und bedauert nur, daß Kant selbst nicht »ein stärkeres Streben nach "Symmetrie" in bezug auf die "Antinomie der praktischen Vernunft" an den Tag« gelegt und die Dialektik zu einer entsprechenden Antithetik ausformuliert hat: M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 104 Anm. 322, S. 106 Anm. 328 und S. 187, vgl. oben S. 72. Wenn dagegen G. B. Sala, der sich im übrigen auf Albrechts Interpretation der Antinomie der praktischen Vernunft stützt, meint, daß es sich hier nur »um eine Dialektik im Sinne eines Mißverhältnisses von rationaler Forderimg und tatsäch-
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Eine solche antithetische Zuspitzung des Problems liegt also ganz auf der Linie der bisher analysierten Argumentation; alle erforderlichen sachlichen Elemente sind zumindest in der Form von logisch-trivialen Implikationen im Text präsent. Diese Version der Antinomie deckt sich auch mit einer Lesart des Antinomiekapitels, die sich in der etwa zweihundertjährigen Auslegungsgeschichte immer wieder findet (s. Kap. 3.10). Es war auch nicht nötig, das Ergebnis dem Text gegen einen irreführenden oder mißverständlichen Wortlaut, der in eine andere Richtung drängte, durch eigene ergänzende oder korrigierende Überlegungen abzuringen, wie dies C. Stange, A. Messer, L.W. Beck und M. Albrecht meinten (s. Kap. 3.8). Wir haben es hier vielmehr mit dem ersten Problem überhaupt zu tun, das sich zuverlässig aus dem Antinomiekapitel eruieren läßt. Es ist, wie es aussieht, das Problem, das Kant selbst im Sinn gehabt hat. Dennoch ist in einer sorgfältigen Textinterpretation eine gewisse Zurückhaltung geboten. Denn es bleibt ein Defizit: Es fehlt in Kants Darstellung die letzte explizite Eindeutigkeit einer solchen Antithetik. Es fällt vor allem auf, daß Kant den Schluß aus der Argumentation der Sätze (2) bis (6) des Antinomiekapitels (»das höchste Gut ist unmöglich«) nicht in einem eigenen Satz pointiert für sich herausstellt, wie es seiner Bedeutung als Antithesis einer Antinomie entspräche, sondern ohne erkennbare Zäsur sofort mit dem Ergebnis weiter argumentiert. Der Argumentationsbogen schließt hier offensichtlich noch nicht. Es läßt sich zwar jetzt schon sagen, daß das Problem, das Kant im Antinomiekapitel entwickelt, eng mit dem Konflikt um die Möglichkeit des höchsten Gutes zusammenhängen muß; aber es hat den Anschein, daß Kant das Problem nicht primär unter diesem Aspekt der Möglichkeit oder Unmöglichkeit des höchsten Gutes akzentuiert. Es ist deshalb ratsam, den Ausführungen erst bis zum Ende des Antinomiekapitels zu folgen, um dann eine Entscheidung darüber zu versuchen, was Kant wohl als das antinomische Problem der praktischen Vernunft beschreiben wollte. licher Erfüllung« handele, und ausdrücklich verneint, daß wir es mit einer »Antinomie im strengen Sinne zweier einander widersprechender Gesetze« oder auch nur »zweier einander widersprechender Sätze« zu tun haben (G. B. Sala, Kant und die Frage nach Gott, S. 403, Hervorhebungen im Original), dann ist seine Charakterisierung des Sachproblems offensichtlich unangemessen.
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4 Analyse und Interpretador! des Textes zur Antinomie der praktischen Vernunft
4.3.3.2 ... die Gültigkeit des moralischen Gesetzes betreffend Satz (7) des Antinomiekapitels ist ein wenig komplex: »Da nun die Beförderung des höchsten Guts, welches diese Verknüpfung in seinem Begriffe enthält, ein a priori notwendiges Objekt unseres Willens ist und mit dem moralischen Gesetz unzertrennlich zusammenhängt, so muß die Unmöglichkeit des ersteren auch die Falschheit des zweiten beweisen.« Der Satz besteht grammatisch aus einem Kausalsatz und einem Hauptsatz, der eine Folge wiederum in Form einer Folgebeziehung formuliert. Der Kausalsatz resümiert drei Sachverhalte: (1) In einem Relativsatz wird die elementare Begriffsbestimmung aufgenommen: Das höchste Gut enthält in seinem Begriff die Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit, wobei jetzt die Schlußfolgerung mitschwingt: das höchste Gut ist unmöglich, weil die verlangte Verknüpfung nicht möglich ist. (2) Die Beförderung des höchsten Gutes ist ein a priori notwendiges Objekt unseres Willens. (3) Die Beförderung des höchsten Gutes hängt unzertrennlich mit dem moralischen Gesetz zusammen. Die Sätze (2) und (3) sind zwei eng zusammenhängende, fundamentale Theoreme der Kantischen Lehre vom höchsten Gut in der Kritik der praktischen Vernunft, die zwar schon einige Male mit angeklungen (vgl. KpVA 194, 196 und 203), aber nicht wirklich begründet worden sind. In der Begriffsbestimmung des summum bonum perfectissimum als synthetischer Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit sind sie noch nicht enthalten; in früheren Ethik-Konzepten Kants fehlen sie ganz. Sie markieren eine wichtige Funktionsverschiebung im Begriff des höchsten Gutes, auch wenn Kant sie mehr beiläufig einführt, so daß die Unterschiede zur Lehre vom höchsten Gut in der ersten Kritik oft gar nicht bemerkt wurden. Während Kant gleich mit diesen Theoremen wie mit für sich selbstverständlichen Prämissen argumentiert, kann der Leser erst aus dem Gebrauch hier und an späteren Stellen entnehmen, wie sich Kant die notwendigen Zusammenhänge von Objekt der praktischen Vernunft, höchstem Gut und moralischem Gesetz in der Kritik der praktischen Vernunft dachte. Diese Stellen sollen hier schon zur Erläuterung mit herangezogen werden.
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Danach ergibt sich: Das höchste Gut fungiert als Objekt und Endzweck »der praktischen Aufgabe der reinen Vernunft« (KpV A 225), die uns durch das moralische Gesetz zur Pflicht gemacht wird 205 ; das höchste Gut ist insofern notwendiges Objekt der praktischen Vernunft. Eine andere Formulierungsreihe bestimmt den subjektiven Bezugspunkt und Geltungsgrund des höchsten Gutes nicht ganz einheitlich (Hervorhebungen im folgenden von mir): Nach KpV A 219 ist die Bewirkung des höchsten Gutes »das notwendige Objekt eines durchs moralische Gesetz bestimmbaren Willens«; KpV A 224 sagt ähnlich wie das Antinomiekapitel, das höchste Gut sei als »Objekt unseres Willens mit der moralischen Gesetzgebung der reinen Vernunft notwendig verbunden«; spezifischer ist die Formulierung in KpV A 239: »die durch die Achtung fürs moralische Gesetz notwendige Absicht auf das höchste Gut«. Es dürfte aber kaum strittig sein, daß der Geltungsgrund dafür, daß das höchste Gut notwendiges Objekt des Willens ist, bei Kant das moralische Gesetz ist; Bezugspunkt des höchsten Gutes ist daher der durchs moralische Gesetz bestimmte, nicht nur bestimmbare Wille. Die Angabe in KpV A 219 ist also unterbestimmt, adäquater formuliert die Refi. Nr. 6107: »Das höchste Gut ist ... das obiect eines durchs moralische Gesetz bestirnten Willens«; nur durch das moralische Gesetz und die ihm gemäße Gesinnung »wird das höchste Gut obiect des Willens«206. Das kann allerdings nicht bedeuten, daß das Theorem, daß das höchste Gut das notwendige Objekt der praktischen Vernunft ist, nur für den in seiner Geltung einsehbar ist und Gültigkeit gewinnt, der tatsächlich moralisch gesinnt ist. In Entsprechung zu dem berühmten Kantischen Argument gegen den ontologischen Gottesbeweis müßte man dagegen einwenden: Wie die Existenz so ist auch der wirkliche Vollzug eines moralischen Willensaktes als solcher keine realitätshaltige Bestimmung, durch die eine Erkenntnis inhaltlich erweitert werden könnte. Das Theorem sagt nur: Das höchste Gut bildet das notwendige Objekt für den Willen, sofern er als durch das moralische Gesetz bestimmt gedacht wird207.
205
206 207
Vgl. die einschlägigen Formulierungen KpV A 214 f., 219 f., 225 f., 233, 242, 257, 259 Anm. und 262. AA XVin, S. 455, Hervorhebung von mir; vgl. auch KpVA5 f., 207 und 240. Entsprechendes gilt auch für das Kantische Gottespostulat. O. Höffe insistiert gegen W. Weischedel zu Recht darauf, daß die Gültigkeit des Arguments unabhängig davon ist, ob
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4 Analyse und Interpretation des Textes zur Antinomie der praktischen Vernunft
An einigen Stellen der Kritik der praktischen Vernunft drückt sich Kant allerdings etwas anders aus. Dort spricht er nicht von der Pflicht, sondern von einem »sich auf ein Gesetz gründende[n] moralische[n]
jemand moralisch handelt oder nicht: O. Höffe, Immanuel Kant, S. 248; ähnlich auch M. Kuehn, Kant's Transcendental Deduction of God's Existence as a Postulate of Pure Practical Reason, in: Kant-Studien 76 (1985), S. 152-169, hier S. 159. Ob das moralische Gesetz die Verwirklichung des höchsten Gutes gebietet und ob die Möglichkeit dieses Zweckes allein unter der Voraussetzung eines moralischen Weltschöpfers gedacht werden kann, dessen Existenz daher zu postulieren ist, dies zu beurteilen, kann nicht allein das Privileg dessen sein, der sich zur moralischen Existenz entschlossen hat. Vielleicht wird nur derjenige, der sich im Kantischen Sinne sittlich bemüht, die Argumente für sich so in Kraft setzen und kultivieren, daß daraus so etwas wie ein »Vemunftglaube«, eine feste subjektive Überzeugung entsteht. In der Kritik der reinen Vernunft, vereinzelt auch später noch (so Was heißt: Sich im Denken orientieren?, AA VIH, S. 141), finden sich jedenfalls auch stärker subjektivistische Wendungen, die diesen Aspekt besonders betonen, etwa wenn Kant den »Vemunftglaube[n] auf die Voraussetzung moralischer Gesinnungen gründet« (KrV A829/B 857). Vor allem mit Bezug auf diese Stelle hat R. Langthaler versucht, Weischedel gegen die Kritik Höffes zu verteidigen (R. Langthaler, Kants Ethik als "System der Zwecke", S. 317). Genaugenommen ist aber auch für die »moralische Gewißheit«, die Kant für sein Gottespostulat reklamiert, die sittliche Gesinnung keine notwendige Bedingung; dazu reicht es, daß jemand anerkennt, daß es eine unbedingte Verpflichtung durch das moralische Gesetz gibt (im Sinne eines wahren Normsatzes), und der Überzeugung ist, daß dies Gesetz die Verwirklichung des höchsten Gutes fordert, das ohne die Existenz Gottes nicht als möglich gedacht werden kann. Ob er auch die von ihm prinzipiell anerkannte Norm tatsächlich zur obersten Maxime seines Willens macht, ist für die Nachvollziehbarkeit der Gründe unerheblich. Dies ist auch gegen Wood zu betonen, der meinte: »I can be required to accept the postulates only so long as I view myself as seeking to obey the moral law« (Kant's Moral Religion, S. 143). Die quasi-existenzialistischen Anklänge werden bei Kant später auch deutlich schwächer; das läßt sich gerade an den Stellen demonstrieren, die Langthaler als weitere Belege für seine Interpretation genannt hatte: Das Gottespostulat ist vor allem eine Frage, ob jemand in moralischen Sachen »konsequent denken will«; das moralische Argument wird dann zwar nie wie ein theoretischer Beweis objektiv-gültig zeigen können, daß ein Gott sei, aber es kann doch auch einem Skeptiker beweisen, daß »er die Annehmung dieses Satzes unter die Maximen seiner praktischen Vernunft aufnehmen müsse« (KU Β 425 Anm.). Das gilt auch dann, wenn man berücksichtigt, daß Kant später die Gültigkeit des moralischen Gottesbeweises auf die besonderen Bedingungen unserer Vernunft einschränkt hat (s. dazu unten bes. S. 340 ff.). Wenn Kant den moralischen Beweis als ein »argumentum κατ' ανθρωπον« bezeichnet, dann heißt das für ihn ausdrücklich: »gültig für Menschen, als vernünftige Weltwesen überhaupt, und nicht blos für dieses oder jenes Menschen zufällig angenommene Denkungsart« (Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik, AA XX, S. 306, Hervorhebung von mir; vgl. KU Β 446 f.); die Wahl von praktischen Maximen muß »aber der Freiheit wegen für sich als zufällig angesehen werden« (Religionsschrift, AA VI, S. 32). Die modem-subjektivistisch anmutenden Wendungen in der Kritik der reinen Vernunft verdanken sich einer Ethikkonzeption, die Kant später gerade wegen der engen wechselseitigen Abhängigkeit von sittlicher Verbindlichkeit und Postulat als untauglich für eine Begründung der Ethik verworfen hat. Vgl. dazu unten Kap. 6.5.
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Wunsch«206 und einem »Bedürfnis der reinen praktischen Vernunft auf einer Pflicht gegründet, etwas (das höchste Gut) zum Gegenstande meines Willens zu machen, um es nach allen meinen Kräften zu befördern«209. Allein auf ein solches Bedürfnis der reinen Vernunft kann sich auch das Postulat des Daseins Gottes stützen, und von ihm sagt Kant, daß es nur eine subjektive moralische Notwendigkeit für sich in Anspruch nehmen kann, keine objektive, d. h. die Annahme der Existenz Gottes ist nicht »selbst Pflicht« (KpVA 226, vgl. A 6) 210 . M. Albrecht hat auf diese Stellen hingewiesen211 und als Möglichkeit ventiliert, »diesen Zitaten angesichts ihres "Stellenwertes" innerhalb der "Postulatenlehre" eine Schlüsselfunktion für die ähnlichen Belegstellen« zuzusprechen und »die Wendung "Pflicht, das höchste Gut zu befördern", fast als eine Art abgekürzten Ausdruck dieses Gedankens« zu betrachten; das höchste Gut wäre dann weniger Objekt des moralischen Handelns, sondern eher Gegenstand »einer auf die Richhmg dieses Handelns nachträglich reflektierenden Überlegung ("Wunsch")«212. Diesem Vorschlag Albrechts steht der eindeutige Wortlaut zu vieler »starker« Formulierungen Kants entgegen, die (leider, möchte man sagen) wenig Spielraum für »eine nuanciertere Interpretation«213 lassen. So hatte es nur kurz vor einer jener zitierten Stellen geheißen: »Das moralische Gesetz gebietet, das höchste mögliche Gut in einer Welt mir zum letzten Gegenstande alles Verhaltens zu machen«214. Eine weitere Stelle konstatiert ausdrücklich: »Das Gebot, das höchste Gut zu beför208 209 210
211 212 213 214
KpVA235, Hervorhebung von mir; vgl. auch KpVA207. KpVA257, Hervorhebung von mir; vgl. KpV A 6 f. Das Befremdliche in der Begriffskombination »Bedürfnis der reinen Vernunft« dürfte sich auch für Kant nur allmählich verloren haben. In einer Reflexion (Nr. 4571, AA XVII, S. 598), vermutlich aus dem Jahre 1772, standen die beiden Begriffe noch in einem Gegensatz: »Die idee der höchsten Vollkommenheit und eines Allgemeinen und unmittelbaren Regierers ist nöthig aus Bedürfnis, aber nicht nothwendig aus Vernunft«. Kant sieht sich auch immer wieder zu Erläuterungen veranlaßt. In einer Anmerkung zu der Formulierung »gefühltes Bedürfniß der Vernunft« in Was heißt: Sich im Denken orientieren? aus dem Jahre 1786 stellt er gleich klar: »Die Vernunft fühlt nicht; sie sieht ihren Mangel ein und wirkt durch den Erkenntnißtrieb das Gefühl des Bedürfnisses« (AA VIH, S. 139 Anm.), ein Gedanke, den er dann in einer Anmerkung der Kritik der praktischen Vernunft (A 256 f. Anm.) noch weiter entfaltet. M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 160 f. Ebd. M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 161. KpVA233, Hervorhebung von mir.
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dem, ist objektiv (in der praktischen Vernunft) ... gegründet« 215 , dies ist aber die Kantische Umschreibung für Pflicht 216 . Wichtiger vielleicht noch: In unmittelbarer Nähe der zentralen Passage zur Modalität des Gottespostulates findet sich ein Satz, der beide Aspekte, den der Pflicht und den des Bedürfnisses, miteinander in differenzierter Weise verbindet; er scheint mir besser für eine »Schlüsselfunktion« geeignet: »Nun war es Pflicht für uns, das höchste Gut zu befördern, mithin nicht allein Befugnis, sondern auch mit der Pflicht als Bedürfnis verbundene Notwendigkeit, die Möglichkeit dieses höchsten Guts vorauszusetzen« (KpVA 226). Nur die Voraussetzung der Möglichkeit des höchsten Gutes ist hier ein subjektiv notwendiges Bedürfnis; ebenso wie beim Gottespostulat gilt natürlich auch hier, daß diese Voraussetzung nicht »selbst Pflicht« ist; »denn es kann gar keine Pflicht geben, die Existenz eines Dinges anzunehmen (weil dieses bloß den theoretischen Gebrauch der Vernunft angeht)« 217 . Auch die Möglichkeit des höchsten Gutes ist daher ein Gegenstand des Postulierens (vgl. oben S. 126). Die Beförderung des höchsten Gutes ist dagegen Pflicht. Dies wird gerade in der Abgrenzung von dem, was nicht Pflicht ist (der Vernunftglaube218), noch einmal KpVA 262, Hervorhebung von mir. Vgl. z. B. KpVA57; Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 439: »Die objective Notwendigkeit einer Handlung aus Verbindlichkeit heißt Pflicht«. 2 1 7 KpVA 226. Vgl. auch Die Metaphysik der Sitten, AA VI, S. 354: es kann nicht zur Pflicht gemacht werden, die Ausführbarkeit eines moralisch gebotenen Zwecks anzunehmen; denn diese Annahme ist »ein bloß theoretisches und dazu noch problematisches Urtheil«, und »dazu (etwas zu glauben) giebts keine Verbindlichheit«. 218 Wenn Kant sagt, daß die Möglichkeit des höchsten Gutes und seiner Bedingungen, der Ideen von Gott und Unsterblichkeit, angenommen werden »kann und muß« (so schon in der Vorrede KpVA 6), dann meint dieses Müssen kein praktisches Sollen: »Es sollte fast scheinen, als ob dieser Vernunftglaube hier selbst als Gebot angekündigt werde, nämlich das höchste Gut für möglich anzunehmen. Ein Glaube aber, der geboten wird, ist ein Unding« (KpVA 260, Hervorhebung im Original); vgl. auch Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik, AA XX, S. 298: das moralisch-praktische credo »verstattet also keinen Imperativ (kein crede)«; ferner KU Β 458 Anm., Β 463; Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie, AA VŒ, S. 397 Anm.; Vorarbeiten zur Religionsphilosophie, AA XXm, S. 109; Refi. Nr. 8101 (AA XIX, S. 643). Auch die »Religionsp/Zichf«, die Kant gleichwohl kennt, nämlich alle unsere Pflichten als Gebote Gottes anzusehen, verlangt ausdrücklich nicht, »ein solches höchste Wesen außer sich als wirklich anzunehmen«, sie berechtigt nicht einmal dazu: Die Metaphysik der Sitten, AA VI, S. 439, vgl. 438-440, 443 f., 487; Vorarbeiten zur Tugendlehre, AA XXIII, S. 401 f.; Refi. Nr. 8104 (AA XIX, S. 646 f.). Das »Ansehen als« zielt nicht auf ein Außenverhältnis, sondern auf eine Binnendifferenz des Subjekts, das in sich eine Instanz absoluter Verpflichtung erfährt: »Der categorische Imperativ ist irgend von Jemand ausgesprochen, der Gewalt hat: nicht über sich selbst, 215
216
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klar ausgesprochen: »Zur Pflicht gehört hier nur die Bearbeitung zu Hervorbringung und Beförderung des höchsten Guts in der Welt...« (KpV A 226). Entscheidend ist hier aber in jedem Fall: Der a priori notwendige Bezug auf das höchste Gut folgt - wie auch immer - aus der absoluten Verbindlichkeit des moralischen Gesetzes und ist nicht deren theoretische Bedingimg (vgl. oben S. 125, bes. Anm. 58). Insbesondere geht es hier nicht mehr wie noch in der Kritik der reinen Vernunft darum, daß unter der Voraussetzimg des höchsten Gutes »der allgemeine Pflichtbegriff allererst "Halt und Festigkeit," d. i. einen sicheren Grund und die erforderliche Stärke einer Triebfeder«, sondern darum, daß er »an jenem Ideal der reinen Vernunft auch ein Object bekomme« 2 1 9 . Die Absicht auf das höchste Gut ist »durch die Achtung fürs moralische Gesetz« notwendig (KpVA 239), das höchste Gut ist also Objekt eines sittlich bestimmten Willens, der schon über eine hinreichende Triebfeder (»die Achtung fürs moralische Gesetz«) verfügt. Aus diesen Theoremen läßt sich der Umkehrschluß ableiten, den Kant im Hauptteil von Satz (7) formuliert: Ist das notwendige Objekt der praktischen Vernunft unmöglich, so muß das moralische Gesetz falsch sein, da es etwas zur Pflicht macht, was wegen seiner Unmög-
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denn da kann das Subject nachlassen oder vergeben, sondern von einem Gebieter in mir selbst« (Refi. Nr. 7319, AA XIX, S. 315 f.). Kants Gegner registrierten aufmerksam, daß er protestierte, als Anhänger (wie L. H. Jakob) eine Glaubenspflicht (ein »Basedowscher Ausdruck«) billigten, s. J. G. H. Feder, Ueber die Kantische Moraltheologie, in: Philosophische Bibliothek 3 (1790), S. 13-66, hier S. 62 f. Anm. Man sollte also denken, daß Kants Position eindeutig ist. Um so erstaunter ist man, wenn man aus einer neueren Arbeit, die sich sehr textnah gibt, erfährt, nach Kant berechtige uns die praktische Vernunft nicht nur, sondern sie befehle uns geradezu unerbittlich (»inexorably commands us«) zu glauben, daß die Postulate wahr seien; der Vernunftglaube sei daher Pflicht: R. J. Sullivan, Immanuel Kant's moral theory, S. 142, vgl. S. 224 und 227. - In der ersten Kritik, in der die Postulate noch Bedingungen der Gültigkeit des moralischen Gesetzes sind, hatte Kant allerdings auch einmal von einer »Verbindlichkeit« der Voraussetzung eines höchsten Wesens und von der »Pflicht zu wählen« gesprochen: KrVA589/B 617, vgl. auch Refi. Nr. 5645 (AA XVm, S. 291 f.) und Religionslehre Pölitz, AA XXVm.2.2, S. 1119: »mit fester Überzeugung zu glauben, [ist] eine angelegentliche Pflicht«. Über den Gemeinspruch, AA vm, S. 279, Hervorhebungen im Original, vgl. auch S. 280 f. und Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie, AA Vm, S. 397 Anm. Schon 1786, zwei Jahre vor dem Erscheinen der Kritik der praktischen Vernunft, hatte Kant in seiner Schrift Was heißt: Sich im Denken orientieren? das höchste Gut unzweideutig aus der Theorie der sittlichen Verpflichtung und Triebfeder eliminiert: AA Vm, S. 139.
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lichkeit nicht zur Pflicht gemacht werden kann. Stillschweigend vorausgesetzt ist bei dieser Ableitung natürlich das Theorem »Impossibilium nulla obligatio est«, das sich bei Kant gelegentlich in Form des Grundsatzes »Ultra posse nemo obligatur« findet220, die Umkehrung der (stärkeren) Formel »du kannst, denn du sollst«. Daß das ethisch Gebotene physisch möglich sein muß, hat Kant für eine Tautologie gehalten 221 ; »einem Zwecke, der für nichts als Hirngespinst erkannt wird, nachzugehen, kann die Vernunft nicht gebieten«222. 220 221 222
Vgl. z. B. Friedensschrift, AA Vm, S. 370. Vgl. Anthropologie, AA VU, S. 148. KU Β 464; vgl. auch KU Β 462 Anm. und Über den Gemeinspruch, AA Vm, S. 276 f. - In der modernen deontischen Logik gilt das Theorem »Sollen setzt Können voraus« als elementare Bedingung eines vernünftigen, d. h. realisierbaren Normensystems, vgl. F. v. Kutschera, Einführung in die Logik der Normen, Werte und Entscheidungen, Freiburg/ München 1973, S. 69 f. Es bildet wohl eine unverzichtbare Voraussetzung einer »rationalen« Theorie sittlicher Verpflichtung; wer diesen Grundsatz, für sich im allgemeinen genommen, bestreitet, zieht sich jedenfalls den Vorwurf des Irrationalismus zu. Eine andere Frage ist es, ob die tatsächliche, immer auch sozial bedingte Verwendung der Begriffe »Sollen« und »Können« in konkreten Situationen immer diesem rein rationalen Standard folgt und ob nicht Abweichungen davon sogar Funktionen bei der Regulation von Handlungen übernehmen können. So wird, um nur einen Aspekt zu nennen, gelegentlich argumentiert, daß über das aktuelle Können hinausgehende sittliche Imperative notwendig seien, um die Einschätzung dessen, was man kann, nicht auf einem faktischen status quo festzuschreiben. Leider werden dabei aber nicht immer die Lösungsansätze bei Kant selbst hinreichend berücksichtigt; vgl. etwa W. O. Doescher, Kant's Postulate of Practical Freedom, in: G. T. Whitney u. D. F. Bowers (Hrsg.), The Heritage of Kant, Princeton 1939, S. 197-225, und St. M. Brown, Does Ought Imply Can?, in: Ethics 60 (1950), S. 275-284. Zur Kritik siehe J. R. Silber, Kant's Conception of the Highest Good as Immanent and Transcendent, bes. S. 475 ff. (dt. S. 391 ff.); Doescher und Brown unterstellen allerdings keineswegs, daß »nach Kant der Mensch fähig sein [müsse], alles zu tun, wozu er verpflichtet sei - sogar wenn es theoretisch unmöglich ist«, wie Silber behauptet (ebd. S. 476, dt. S. 391 f., Hervorhebung von mir); beide Autoren heben vielmehr ihre These von der Theorie Kants ab. - Heftig bestritten wurde der Kantische Grundsatz vor allem in der protestantischen Theologie. C. Stange ζ. B. argumentierte: »Die Formel: "du kannst, denn du sollst" wird ... widerlegt durch die andere Formel: "du sollst, auch wenn du nicht kannst". Die moralische Verpflichtung ist unabhängig von dem moralischen Vermögen und bleibt bestehen, auch wenn das moralische Vermögen nicht vorhanden ist« (C. Stange, Einleitung in die Ethik, I. Bd. S. 187, vgl. auch Π. Bd.: Grundlinien der Ethik, Leipzig 1901, S. 289); Stange will auch die sittliche Verantwortlichkeit nicht mehr an die Handlungsfreiheit des Subjekts binden (ebd. I. Bd., S. 179 ff.). Die Akzeptanz einer solchen Beschreibung des moralischen Bewußtseins ist aber ohne entsprechende theologisch-religiöse Hintergrundüberzeugungen (insbesondere von der restlosen Korrumpierung der menschlichen Natur durch einen Sündenfall) schwer denkbar; vgl. auch W. O. Doescher, Kant's Postulate of Practical Freedom, S. 204 f. Auch die Konfrontation Kant - Luther bei R. M. White ("Ought" implies "Can": Kant and Luther, a contrast, in: G. MacDonald Ross und T. McWalter (Hrsg.), Kant and his influence, Bristol 1990, S. 1-72) steht noch zu sehr unter
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In Satz (8), dem letzten Satz des Antinomiekapitels, wiederholt und bekräftigt Kant die Schlußfolgerung: »Ist also das höchste Gut nach praktischen Regeln unmöglich, so muß auch das moralische Gesetz, welches gebietet, dasselbe zu befördern, phantastisch und auf leere eingebildete Zwecke gestellt, mithin an sich falsch sein.« Wenn es hier heißt, für den Fall der praktischen Unmöglichkeit des höchsten Gutes sei das moralische Gesetz »phantastisch und auf leere eingebildete Zwecke gestellt«, und deutlicher noch an einer späteren Stelle, wir müßten in einem solchen Falle »dem Objekte eines Begriffes« nachstreben, »welcher im Grunde leer und ohne Objekt wäre« (KpVA 257), so lassen sich diese Charakterisierungen begrifflich genau fassen: »Leerer Begriff ohne Gegenstand« ist die Kantische Definition des Nichts als ens rationis223. Die Refi. Nr. 6280, von E. Adickes auf die Jahre 1785-88 datiert, stellt den Bezug auch terminologisch her: Ohne Verknüpfung des objektiven Prinzips des guten Willens mit dem subjektiven der Glückseligkeit korrespondierte »dem System der Vernunft (und Freyheit) ... kein System der Natur, und so würde der moralische Begrif ein blosses ens rationis betreffen, das in Nichts zerginge« (AA XVIII, S. 547). Nach der Umschreibung in der Kritik der reinen Vernunft (A 290 f./B 347) ist ein ens rationis dadurch bestimmt, daß dem Begriff »keine anzugebende Anschauimg korrespondiert« und daher der gedachte Gegenstand »nicht unter die Möglichkeiten gezählt werden« kann. Der Begriff selbst ist aber ohne Widerspruch und daher denkmöglich (sonst
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theologischen Voreingenommenheiten, als daß sie wirklich instruktiv ausfiele. C. von Flothow hatte schon 1894 die Zumutung einiger Autoren zurückgewiesen, Kant hätte eigentlich »eine Antinomie derart, wie: "Du sollst, aber du kannst nicht"« in seine Philosophie aufnehmen sollen (s. oben S. 50 f. Anm. 126). Vgl. KrVA290-292/B 347-349. Vgl. auch die Refi. Nr. 5552 (AA XVm, S. 219), bei der es sich um eine Vorarbeit zur Kritik der reinen Vernunft handeln dürfte. Den vierfachen Sinn von »Nichts« hat Kant auch in einer anderen Reihenfolge und in teilweise abweichender Terminologie abgehandelt, in der dem ens rationis der conceptus inanis entspricht, vgl. Refi. Nr. 5156 (AA XVm, S. 105) und Ergänzungen II, Metaphysik Arnoldt (K3) (AA XXIX. 1.2, S. 961 f.); die Auflistung dort ist dem Ursprünge nach wohl älter, auch wenn sie sich noch in der relativ späten Vorlesungsnachschrift Metaphysik Arnoldt (K3) (WS 1794/95) findet; die Anordnung und die Auslegung der Bedeutungen von Nichts erfolgen jedenfalls noch nicht am Leitfaden der Kategorientafel, wie dies in der Kritik der reinen Vernunft ausdrücklich geschieht (KrVA 290/B 346). - Der Verweis auf Kants Bestimmimg des ens rationis in der Kritik der reinen Vernunft und in den Reflexionen scheint mir ergiebiger als der Hinweis auf KU Β XXIV Anm., der sich bei Albrecht (Kants Antinomie, S. 164 Anm. 523) findet.
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handelte es sich um ein »nihil negativum«), und man kann den gedachten Gegenstand auch nicht definitiv für unmöglich ausgeben. Das ens rationis ist zwar ein bloßes »Gedankending«, aber deswegen noch nicht notwendig ein »Unding«224. Dies entspricht dem Ergebnis der Analyse des zweiten Satzes der Disjunktion: Die Idee des höchsten Gutes, in der Tugend die Ursache der Glückseligkeit ist, ist in sich logisch und ethisch möglich, sie ist also kein Unding225; aber es fehlt uns jeder Begriff davon, wie diese Idee in
224
Die kritische Erkenntnistheorie erlaubt Kant hier eine Differenzierung der Begriffe, die der Schulmetaphysik unbekannt war. Für A. G. Baumgarten ist das ens rationis nur eine spezielle Form des non ens, des Undings, nämlich ein non ens, das gleichwohl ein ens zu sein scheint: Metaphysica, Halle · Magdeburg 1757, S. 17 (§ 62), abgedruckt in: AA XVII, S. 40. Für Kant ist dagegen das ens rationis keine Form des Undings, sondern als Gedankending davon spezifisch unterschieden: KrVA292/B 348 f.; vgl. auch Refi. Nr. 5552 (AA XVm, S. 219) und Nr. 5724 (AA XVm, S. 336). Der Hintergrund ist natürlich, daß Kants Restriktion der objektiven Gültigkeit unserer Erkenntnis auf Phainomena auch impliziert, daß das Fehlen des Kriteriums der objektiven Realität unserer Begriffe, das Fehlen der Anschauung, wie dies bei Noumena der Fall ist, noch kein definitives Kriterium ihrer Unmöglichkeit überhaupt sein kann. Es kann etwas nach unseren Erkenntnisbedingungen ein »non ens«, ein Unding sein und doch unter anderen Bedingungen ein »ens«. Kant hat zwar gemeint, daß dieser Anhang zur transzendentalen Analytik »an sich von nicht sonderlicher Erheblichkeit« sei und bestenfalls »zur Vollständigkeit des Systems erforderlich scheinen dürfte« (KrVA290/B 346); daß er aber auch hier bewußt und gezielt die Begriffe der Schulmetaphysik modifiziert, zeigt die Refi. Nr. 5724: seine eigene abweichende Einteilung des »non ens« notierte sich Kant in seinem Handexemplar von Baumgartens Metaphysica direkt neben dem einschlägigen Paragraphen 62 zum »non ens«. - Die Reflexionen zeigen allerdings auch, daß Kant das Verhältnis der verschiedenen Bedeutungen von »Nichts« nicht immer in derselben Weise bestimmt hat. Während er sonst das ens imaginarium und das ens rationis koordiniert, subsumiert er in der Refi. Nr. 5724, von Adickes auf die Jahre 1783-84 datiert, das ens imaginarium, »dessen Existenz selber nur ein Gedanke ist (also nicht ausser den Gedanken existiren kan)«, unter die entia rationis. Dies paßt aber auch hier kaum zu der Erläuterung, die Kant zum ens rationis gibt: »die Möglichkeit des obiects ist unausgemacht«; denn Paradebeispiele für das ens imaginarium sind bei Kant Raum und Zeit (vgl. KrVA291/B 347); die Möglichkeit von Raum und Zeit als realen Objekten ist aber bei Kant keineswegs »unausgemacht«, sondern wird von ihm in der transzendentalen Ästhetik definitiv bestritten, und die transzendentale Dialektik beansprucht sogar zu zeigen, daß die Begriffe von Raum und Zeit, in gegenständlicher, substantieller Bedeutung genommen, notwendig zu antinomischen Widersprüchen führen. Die Reflexionen Nr. 5552 und Nr. 5725 (AA XVIII, S. 336) bezeichnen auch das »nihil privativum« als »Unding« bzw. »non ens«, was in einer dinglich-substantiellen Denkweise nicht ohne Berechtigung ist; die Kritik der reinen Vernunft scheint dagegen den Begriff des Undings allein dem »nihil negativum« vorzubehalten, dessen Begriff bereits widersprüchlich ist und »sich selbst aufhebt« (A 292/B 348 f.).
225
Auch wenn die Unerreichbarkeit des höchsten Gutes in Vorlesungsnachschriften manchmal so ausgedrückt wird, z. B. Metaphysik K2, AA XXVm.2.1, S. 792.
»Die Antinomie der praktischen Vernunft« (KpVA 204 f.)
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unserer Welt eine objektive Realität haben könnte (vgl. Kap. 4.3.2.4, bes. S. 165 f.). Als ens rationis, als leerer Begriff ohne Gegenstand, muß zunächst das höchste Gut angesehen werden (vgl. KpVA 257). Aber nach der Aussage von Satz (8) muß auch das moralische Gesetz als ens rationis betrachtet werden. Das moralische Gesetz ist zwar kein Begriff von einem Gegenstand, wie dies theoretische Begriffe sind; aber nach den Theoremen des Satzes (7) bezieht es sich praktisch notwendig auf einen Zweck, und dieser Zweck ist ohne objektive Realität, hat keinen Ort in der Wirklichkeit226. Daß das moralische Gesetz ein bloßes Gedankending ist, meint aber nicht nur, daß ihm in theoretischer Hinsicht objektive Realität fehlt, sondern daß man ihm selbst die praktische objektive Gültigkeit absprechen muß: das moralische Gesetz muß auch »an sich falsch sein«. »An sich falsch« kann auch hier nicht bedeuten: in sich begrifflich unmöglich oder widersprüchlich im Sinne des »nihil negativum« (was gleichbedeutend wäre mit: in keiner möglichen Welt gültig), sondern: ungültig in einer Welt, in der der Zweck nicht möglich ist, dessen Beförderimg das moralische Gesetz zur Pflicht macht227. An anderen Stellen der Kritik der praktischen Vernunft nennt Kant auch Folgen, die die Unmöglichkeit des höchsten Gutes für die subjekti-
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»Leerer Begriff« zielt also hier nicht - jedenfalls nicht primär - darauf, daß das moralische Gesetz im Falle der Unmöglichkeit des höchsten Gutes »rein formal« (»purely formal«), ohne inhaltliche Bestimmung bliebe, wie M.-B. Zeldin meint (The Summum Bonum, the Moral Law, and the Existence of God, in: Kant-Studien 62 (1971), S. 43-54, hier S. 51), sondern darauf, daß ihm ein realer Gehalt und die objektive Gültigkeit fehlt. Auch ein phantasievoll inhaltlich angereicherter Begriff kann in diesem Sinne ein leerer Begriff sein. - Synonyme Begriffe für »ens rationis« sind bei Kant »Hirngespinst« und »Chimäre«, auch »Phantast« gehört in dieses Umfeld; vgl. dazu die Nachweise bei M. Albrecht, Kants Antinomie, vor allem S. 152 f. Vgl. auch M.-B. Zeldin, The Summum Bonum, the Moral Law, and the Existence of God, S. 51; Κ. Diising, Das Problem des höchsten Gutes in Kants praktischer Philosophie, S. 16 Anm. 44. - Allerdings ließe sich auch eine weiterreichende Konsequenz für die Gültigkeit des moralischen Gesetzes ableiten, wenn man eine zusätzliche These Kants als Prämisse hinzunimmt. Nach Kant »erklärt die Vernunft« das Prinzip der Sittlichkeit »zu einem Gesetze für alle vernünftigen Wesen«: »Es schränkt sich also nicht bloß auf Menschen ein, sondern geht auf alle endlichen Wesen, die Vernunft und Willen haben, ja schließt sogar das unendliche Wesen, als oberste Intelligenz, mit ein« (KpVA 56 f.). Sofern man die absolute Gültigkeit des moralischen Gesetzes auch als universale Gültigkeit für alle Vernunftwesen interpretiert, könnte seine Falschheit in unserer Welt auch die absolute Gültigkeit in anderen möglichen Welten nicht unberührt lassen.
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4 Analyse und Interpretation des Textes zur Antinomie der praktischen Vernunft
ve Sittlichkeit hat. Satz (1) des Antinomiekapitels implizierte noch etwas lapidar folgenden Zusammenhang: Ohne der Tugend proportionierte Glückseligkeit kann auch Tugend nicht angenommen werden (s. oben S. 124 f.). In KpVA 207 heißt es rückblickend schon etwas spezifischer, daß mit der Möglichkeit des höchsten Gutes den Maximen eines moralisch bestimmten Willens die »objektive Realität« genommen wird, da sich diese Maximen »ihrer Materie nach« auf das höchste Gut beziehen. Dies meint nicht nur in einem relativ unproblematischen Sinne, daß einer speziellen Maxime, nämlich derjenigen, das höchste Gut zu befördern, die objektive Realität genommen wird. Die Pflicht, das höchste Gut nach Kräften zu realisieren, ist bei Kant keine besondere Pflicht neben anderen, sondern der Inbegriff aller Pflichten und sittlichen Bestrebungen ihrem objektiven Gehalt nach betrachtet. Alle sittlichen Maximen beziehen sich in letzter Bedeutung »ihrer Materie nach« auf das höchste Gut, jede Erfüllung einer Pflicht ist als ein Beitrag zu seiner Verwirklichung zu verstehen. Diese Funktion des höchsten Gutes als Inbegriff und »Beziehungspunkt der Vereinigung aller Zwecke« 228 entwickelt Kant erst später in größerer Deutlichkeit (vor allem in der Religionsschrift und in Über den Gemeinspruch), aber in der Definition des höchsten Gutes als »Idee« und »Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft« (KpVA 194) ist diese Bedeutung schon enthalten 229 . Deshalb ist in KpVA 207 durchaus impliziert, daß im Falle der Unmöglichkeit des höchsten Gutes alle sittlichen Maximen und damit Tugend überhaupt ihre objektive Realität verlieren. Was es allerdings heißen kann, daß sich alle sittlichen Maximen »ihrer Materie nach« auf das höchste Gut beziehen, ist bei Kant alles andere als klar. Eine weitere Textstelle konfrontiert mit demselben Problem (KpVA 257): Wenn es Pflicht ist, das höchste Gut zu befördern, dann ist eine
228 229
Religionsschrift, AA VI, S. 5. Vgl. auch KpVA 233: »Das moralische Gesetz gebietet, das höchste mögliche Gut in einer Welt mir zum letzten Gegenstande alles Verhaltens zu machen« (Hervorhebungen von mir). Wenig hilfreich ist daher die übereilte Auskunft G. B. Salas, die Pflicht, das höchste Gut zu befördern, sei ein besonderes, partikuläres Gebot: G. B. Sala, Kant und die Frage nach Gott, S. 418 f; vgl. ders., Der moralische Gottesbeweis: Entwicklung und Spannungen in der Kantischen Fassung, S. 300; ders., Wohlverhalten und Wohlergehen I, S. 195 f.; angemessener ist dort (S. 200) die Charakterisierung der Pflicht als eines »einzelnen, allumfassenden (!) Gebotes«.
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dieser Pflicht angemessene Gesinnung subjektiv nur möglich, wenn man die Möglichkeit des höchsten Gutes voraussetzen kann (oder genauer: solange man nicht von der Unmöglichkeit ausgehen muß). Bezogen auf eine einzelne Pflicht, wäre diese Feststellung ohne weiteres plausibel. Aber auch die dem moralischen Gesetz »angemessene und durch dasselbe auch notwendige Gesinnung, das praktisch mögliche höchste Gut zu befördern«, meint bei Kant keine besondere Gesinnung neben anderen, sondern den Inbegriff aller sittlichen Gesinnung, soweit sie einen realen Gehalt in der Welt intendiert 230 . Deshalb lautet auch hier die entscheidende Frage: Steht und fällt mit der objektiven Realität der Totalität des Objekts der praktischen Vernunft wirklich die subjektive Möglichkeit tugendhafter Gesinnungen überhaupt und damit auch die praktische Möglichkeit sittlicher Maximen mit spezifischen Zwecken (wie der eigenen Vollkommenheit und fremden Glückseligkeit)?231.
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Schwer entscheidbar ist, ob Kants vorsichtigere Formulierung, die sittliche Gesinnung setze »doch wenigstens« die Möglichkeit des höchsten Gutes voraus, wirklich, wie dies M. Albrecht annimmt, bedeutet, daß nicht mehr auf die Falschheit des moralischen Gesetzes geschlossen werden soll (M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 166 Anm. 529). Für diese Auffassung könnte sprechen, daß Kant wenig später nur noch für den Fall, daß man die Möglichkeit »des ersten Stücks des höchsten Guts«, der Sittlichkeit, bezweifelt, die harte Konsequenz ausspricht, daß dies »ebensoviel« sei, »als das moralische Gesetz selbst in Zweifel zu ziehen« (KpVA 260). Aber selbst wenn Kant hier in der Tat die radikale Formulierung im Antinomiekapitel wieder abschwächen sollte, ließe sich dieser Schluß unter den Kantischen Prämissen natürlich immer noch, wenn auch vermittelt, ziehen: Das moralische Gesetz fordert notwendig die Gesinnung, das höchste Gut zu befördern; wenn diese wegen der Unmöglichkeit des höchsten Gutes nicht zustande kommen kann, muß das moralische Gesetz »falsch« sein, da es die Gesinnung fordert, etwas, was unmöglich ist, hervorzubringen. Einen sehr engen Zusammenhang zwischen »Object der Handlung« und Pflicht stellt Kant in dem Entwurf seiner Antwort auf die Quaestio Stolpiana »An dentur officia ad quae obligari hominem demonstran non possit nisi posita iirimortalitate?« her: »Von dem, der das künftige Leben leugnet, kan niemals die obligation zu irgend einer Handlung bewiesen werden, nicht weil es an Bewegungsgründen fehlt, sondern weil das Object der Handlung, nämlich das in Unendliche sich erweiternde Gute, nach diesen Grundsätzen auf diese Art bloße Chimäre seyn würde«; alle Pflichten könne man nur als »willensbestimmend« ansehen, wenn man »zugleich die Hofnung der Unsterblichkeit damit« verbinde, auch wenn sie nicht dadurch erst verbindlich würden, daß man »die Seelenunsterblichkeit voraussetzt« (G. Lehmann, Kants Bemerkungen im Handexemplar der Kritik der praktischen Vernunft, S. 138). Mit dem »Object der Handlung« ist hier aber wohl nicht das höchste Gut als Verbindung von Tugend und Glückseligkeit gemeint, sondern allein der unendliche Progressus in der Tugend. Dafür spricht jedenfalls, daß es in der Kritik der praktischen Vernunft allein der geforderte unendliche sittliche Fortschritt ist, der das Postulat der Unsterblichkeit der Seele in einer künftigen Welt notwendig macht.
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4 Analyse und Interpretation des Textes zur Antinomie der praktischen Vernunft
Zweifel daran, daß mit der Unmöglichkeit des Objekts der praktischen Vernunft tatsächlich die Möglichkeit der Moral insgesamt bedroht ist, nährt Kant selbst: Die moralischen Gesetze »gebieten unbedingt, ohne Rücksicht auf Zwecke (als die Materie des Wollens)« (KU Β 425); »sie nöthigen sogar davon gänzlich zu abstrahiren, wenn es auf eine besondre Handlung ankommt«232. Die Annahme von Gott und damit der Möglichkeit des höchsten Gutes »ist nicht nothwendig, um eine Pflicht zu erfüllen in einzelnen Handlungen, aber um auf das object der erweiterten moralischen Gesinnung, das höchste Gut, hinzuwirken, ohne welches die moralische Gesinung zwar Triebfedern der Handlung hat (aus der form der Sittlichkeit), aber keinen Endzwek (in Ansehung der Materie, d. i. der objecte der Vernünftigen Willkühr)«233. Ausdrücklich versichert Kant, daß auch ohne den Glauben an die Unsterblichkeit und das Dasein Gottes das moralische Gesetz »eben so wohl [seinen] mächtigen Einflus auf den Willen haben« würde 234 . Die Unmöglichkeit des höchsten Gutes hätte also nur einen begrenzten Effekt auf die Moral; sie beträfe nicht die »Pflichten und Rechte der Menschen«, sondern eben den Endzweck235. Dieser Endzweck ist dann doch mehr als ein bloßer Inbegriff aller Zwecke, der die Zahl der Pflichten nicht vermehrt 236 , und sein Zusammenhang mit dem moralischen Gesetz weniger stringent, als dies die Rede vom höchsten Gut als dem notwendigen Objekt des moralisch bestimmten Willens glauben machen will. Das Kernstück des höchsten Gutes, die Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit, läßt sich, wie angedeutet, nur sehr eingeschränkt als Zweck von menschlichen Handlungsabsichten im engeren Sinne verstehen 237 . Überhaupt könnte die Beförderung eines solchen Zwecks nur soweit, als er »in unserem Vermögen ist«, Pflicht sein, »der Ausschlag, den diese Bemühung hat, mag sein, welcher er wolle«; ihn ernsthaft zu wollen, wäre schon die Erfüllung der Pflicht, nicht erst das Gelingen (KU Β 426). Kant
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Auffällig ist aber, daß hier viel direkter als in der zweiten Kritik die Möglichkeit eines sich unendlich erweiternden Guten conditio sine qua non der sittlichen Verbindlichkeit ist. Religionsschrift, AA VI, S. 7 Anm. Refi. Nr. 6451 (AA XVm, S. 723 f.). Refi. Nr. 6432 (AA XVm, S. 714). Refi. Nr. 8097 (AA XIX, S. 641). Vgl. Religionsschrift, AA VI, S. 5. Vgl. oben S. 163 ff.
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selbst nennt das höchste Gut später »das object der erweiterten moralischen Gesinnung«238, was impliziert, daß noch etwas (synthetisch?) hinzukommt. Er hat dies allerdings nie mit befriedigender Deutlichkeit entwickelt, dieses Mehr und seine Beziehimg zum moralischen Gesetz bleibt einigermaßen vage. Interpreten haben versucht, sich hier mit der These zu helfen, daß das höchste Gut so etwas wie einen Sinnhorizont für das moralische Handeln bilde239, dessen (konstitutive?) Funktion für die menschliche Praxis aber eher noch erläuterungsbedürftiger ist240. Bei allen noch offenen Fragen ist aber eines klar, was im Hinblick auf die Diskussion der beiden letzten Sätze des Antinomiekapitels in der Sekundärliteratur von Bedeutung ist: Alle Folgen, die Kant aus der Unmöglichkeit des höchsten Gutes für die Gültigkeit des moralischen Gesetzes und die subjektive Möglichkeit der Sittlichkeit ableitet, haben ihren Grund einzig und allein darin, daß das höchste Objekt, der Zweck aller praktischen Bestrebungen ohne objektive Realität ist. In der Kritik der praktischen Vernunft ist keine Stelle mehr zu finden, an der Kant dem moralischen Gesetz und der Tugend deswegen die objektive Realität abspricht, weil es ohne der Tugend proportionierte Glückseligkeit für den Menschen in seiner sinnlich-vernünftigen Doppelnatur keine »Triebfeder des Vorsatzes und der Ausübung« sittlicher Maximen gäbe und deshalb das moralische Gesetz in unserer Welt ohne Geltung wäre. Die Hoffnung auf das höchste Gut schafft nicht die sittliche Triebfeder, sondern die Unmöglichkeit des höchsten Gutes würde allenfalls die schon existierende Triebfeder, die in der Achtung fürs moralische Gesetz besteht, in ihrer Wirkung beeinträchtigen. Um es noch einmal zu wiederholen, ausschlaggebend ist hier allein folgender Zusammenhang: Ohne die Möglichkeit des höchsten Gutes hätte der Mensch die Pflicht, auf einen Gegenstand hinzuwirken, der ein bloßes Gedankending wäre; eine solche Pflicht aber wäre »phantastisch« und der sittliche Wille »ein leerer Wille ohne Object«, wie Kant in der Preisschrift, seine Formel vom »ens rationis« variierend, sagt241.
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Refi. Nr. 6451 (AA XVIII, S. 724), datiert auf 1790-95, Hervorhebung von mir. Vgl. auch Über den Gemeinspruch (1793), AA Vm, S. 280 Anm. S. dazu M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 163 f. Anm. 522 und 524. Vgl. auch unten S. 310 f. Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik, AA XX, S. 342.
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4 Analyse und Interpretation des Textes zur Antinomie der praktischen Vernunft
Damit hängt eine weitere Besonderheit der Problemsituation in der Dialektik der Kritik der praktischen Vernunft zusammen. Selbst wenn man alle Konsequenzen, die Kant aus der Unmöglichkeit des höchsten Gutes für die Gültigkeit des moralischen Gesetzes ableitet, für begründet hält, kann dies nicht bedeuten, daß damit die sittliche Verpflichtung durch das moralische Gesetz einfach aufgehoben und hinfällig wäre. Nach der ethischen Prinzipienlehre der Kritik der praktischen Vernunft gründet die absolute sittliche Verbindlichkeit in einem »Faktum der Vernunft« (vgl. KpVA 55 ff.), das von allen theoretischen »Voraussetzungen ganz unabhängig^.]« und »für sich selbst apodiktisch gewiß[..]« ist ( K p V A 257); der Grund aller Verbindlichkeit beruht »lediglich auf der Autonomie der Vernunft selbst« ( K p V A 226). Dies war Kants Antwort auf die Frage nach dem Grund der Verbindlichkeit des Sittengesetzes, zu der er sich nach mehreren gescheiterten Versuchen, die Verbindlichkeit aus anderen Bedingungen zu deduzieren, durchgerungen hatte 242 . Mit der »Achtimg fürs moralische Gesetz« als einzig legitimer sittlicher Triebfeder verfügt die praktische Vernunft auch über ein völlig autonomes, von allen theoretischen Annahmen unabhängiges »principium executionis« der Pflicht. Das moralische Gesetz »ist sofern keiner anderweitigen Unterstützimg durch theoretische Meinung von der inneren Beschaffenheit der Dinge ... bedürftig, um uns auf das Vollkommenste zu imbedingt gesetzmäßigen Handlungen zu verbinden« (KpVA 257). Diese Aussagenreihe läßt sich noch weiter zuspitzen. Kant hat in der Analytik der Kritik der praktischen Vernunft mit größtem Nachdruck dafür argumentiert, daß ein unbedingt verpflichtendes praktisches Gesetz nur möglich ist, wenn es sich allein auf das Wollen der Form von Maximen bezieht und von aller Materie, von den Objekten des Wollens u n d ihrer physischen Möglichkeit völlig abstrahiert (vgl. vor allem KpVA 35-53, 78 f.). Ein Gesetz der reinen praktischen Vernunft ist nur möglich, wenn es ohne alle Rücksicht auf Zwecke gebietet; dies gilt gerade »wenn es auf eine besondre Handlung ankommt«, wie es später in der Religionsschrift (AA VI, S. 7 Anm.) heißt. Die Faktizität und Unmittelbarkeit der sittlichen Einsicht, die Autonomie der reinen praktischen Vernunft machen die Pflicht und ihre Erfüllbarkeit im einzelnen 242
Siehe vor allem D. Henrich, Der Begriff der sittlichen Einsicht, S. 98-110.
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Fall prinzipiell invariant gegenüber dem Gegebensein oder Nicht-Gegebensein irgendwelcher theoretisch-ontologischer Bedingungen. Wenn das höchste Gut unmöglich ist und deswegen die Maximen des moralisch bestimmten Willens »ihrer Materie nach«, in ihrer Totalität genommen, ohne objektive Realität sind, dann kann und darf dies die Verbindlichkeit des moralischen Gesetzes nicht mehr an der Wurzel treffen243. Man hat diese Ergebnisse der Analytik immer wieder gegen die Dialektik der praktischen Vernunft und insbesondere gegen die beiden letzten Sätze des Antinomiekapitels ausgespielt: Kant falle hier in einen überholten, letztlich eudämonistischen Standpunkt der Ethik zurück und gebe die Autonomie der praktischen Vernunft wieder preis, indem er die Verbindlichkeit des moralischen Gesetzes erneut von theoretischen Voraussetzungen abhängig mache 244 . In scharfer Form hat W. Jaeschke diesen Vorwurf noch einmal erneuert und insbesondere den Schluß des Antinomiekapitels als Beleg dafür gesehen, daß Kant entgegen der Grundlegung der Ethik in der Analytik die Gültigkeit des Sittengesetzes wieder an ontologische Bedingungen knüpfe; da das höchste Gut allein unter der Voraussetzimg des Gottesgedankens denkbar sei, bleibe »die Geltung des Sittengesetzes ebenfalls an diesen gebunden«; Kant sei auch in seinen späteren Schriften nicht wirklich der »Alternative zwischen der Aufnahme des Gottesgedankens und dem Scheitern der Ethik« entronnen, der Gottesgedanke bleibe konstitutiv für die Verbindlichkeit der ethischen Forderungen und die innere Konsistenz der praktischen Vernunft245. Dies sei die Folge davon, daß Kant nie den an sich »grundlosen« Anspruch aufgegeben habe, in der Idee der Vernunft seien Tugend und Glückseligkeit »unlösbar vereint«246. Von theologisch interessierter Seite sah man dagegen in der Dialektik der praktischen 243
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Das hebt auch M. Albrecht hervor: Kants Antinomie, S. 162 f. Sein Versuch, die Schlußsätze des Antinomiekapitels in Beziehung zur Analytik zu setzen (ebd. S. 160-166), weicht im übrigen aber von dem im folgenden entwickelten Vorschlag ab. Nach der Kritik insbesondere von A. Schopenhauer und H. Cohen war es vor allem der Kommentar von L.W. Beck, durch den dieser Einwand in der neueren Diskussion wieder an Gewicht gewonnen hat: A Commentary, bes. S. 242 ff. (dt. S. 225 ff.). M. Albrecht hat die Auseinandersetzung ausführlicher referiert: Kants Antinomie, S. 152-165, s. auch S. 46, bes. Anm. 152. W. Jaeschke, Die Vernunft in der Religion. Studien zur Grundlegung der Religionsphilosophie Hegels, Stuttgart-Bad Cannstatt 1986, S. 66, vgl. S. 74-77. W. Jaeschke, Die Vernunft in der Religion, S. 48.
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4 Analyse und Interpretation des Textes zur Antinomie der praktischen Vernunft
Vernunft eher so etwas wie eine glückliche Inkonsequenz, ein Walten »der Logik der Sache«, von der »Kant malgré lui ... überwältigt« 247 werde, eine »Überführung des Philosophen durch die Logik der Sache« 248 ; denn hier zeige sich, daß das Projekt einer autonomen, rein formalistischen Ethik illusorisch bleibe; wenn Kant die moralische Existenz des Menschen nicht »einer endgültigen und unwiderruflichen Nichtigkeit« 249 ausliefern wolle, indem moralische wie unmoralische Handlungen »letztlich auf dasselbe alles nivellierende Nichts hinausgehen« 250 , müsse er »trotz der gegenteiligen Logik seiner Theorie des Sittlichen« 251 die Gültigkeit des Sittengesetzes an einen inhaltlichen Sinn, an eine letzte »Einheit von Sein und Sollen« binden, wie sie in der Idee des höchsten Gutes und der Bedingung ihrer Realität, der Existenz Gottes, zum Ausdruck komme252. Wer in den Schlußsätzen des Antinomiekapitels nichts als Rückfall oder (sei es bedauerliche, sei es glückliche) Inkonsequenz entdecken kann, übersieht aber möglicherweise eine Pointe, die in der von Kant gewählten Form des Problems liegen könnte: Kant beabsichtigt, so kündigt er im Titel des Abschnitts an, ein Problem der praktischen Vernunft in Form einer Antinomie zu entwickeln. Das könnte bedeuten: Wenn er argumentiert, das moralische Gesetz sei »an sich falsch«, sofern das höchste Gut unmöglich ist, so vergißt er nicht einfach die Resultate der Analytik oder schwächt sie insgeheim wieder ab. Im Gegenteil: der Einwand, das moralische Gesetz sei absolut gültig, unabhängig davon, ob theoretische Bedingungen erfüllt sind oder nicht, wäre geradezu stets mitzuhören als der unvermeidliche Einspruch der reinen praktischen Vernunft. Ohne diesen Einspruch, ohne die wie selbstverständliche Unterstellung, das moralische Gesetz bleibe in jedem Fall absolut verpflichtend, bedeutete die Feststellung am Ende des Antino247
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G. B. Sala, Kant und die Frage nach Gott, S. 444 Anm. 14. Vgl. zum folgenden auch ders., Der moralische Gottesbeweis: Entwicklung und Spannungen in der Kantischen Fassung, S. 299,302-304.; ders., Wohlverhalten und Wohlergehen I, S. 195,197,205 ff.; Wohlverhalten und Wohlergehen Π, S. 381 f. und 391 ff. G. B. Sala, Der moralische Gottesbeweis: Entwicklung und Spannungen in der Kantischen Fassung, S. 302. G. B. Sala, Kant und die Frage nach Gott, S. 445, vgl. 396. G. B. Sala, Kant und die Frage nach Gott, S. 405, vgl. 421. G. B. Sala, Kant und die Frage nach Gott, S. 419 Anm. 27. G. B. Sala, Kant und die Frage nach Gott, S. 421, vgl. 445.
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miekapitels ja auch kein wirkliches Problem. Wer sich wie Kant im Fall der Unmöglichkeit des höchsten Gutes nicht einfach mit der Falschheit des moralischen Gesetzes wie mit einem neutralen Sachverhalt abfinden kann, zeigt ebendamit, daß er eine Geltung des moralischen Gesetzes schon vor und unabhängig von solchen ontologischen Bedingungen anerkannt hat. Daß er am moralischen Gesetz unter allen Umständen festhält, ist nach Kant sogar ein Testfall echter moralischer Gesinnung253. Daraus könnte man die Vermutung ableiten, daß es hier gerade auf den Konflikt ankomme, d. h. auf die gleichzeitige Behauptung beider Sachverhalte: (0.1) Das moralische Gesetz ist unbedingt gültig. (0.2) Das moralische Gesetz ist nicht unbedingt gültig (»an sich falsch«). Ebenso wie bei dem ersten Konflikt um die Möglichkeit des höchsten Gutes (s. oben S. 174) handelte es sich um einen kontradiktorischen Widerstreit zweier Sätze, hier allerdings zweier Normsätze (im Sinne von Behauptungen über die Geltung von Normen254). Für beide Sätze liegen bei Kant Argumente vor, die auf »gültige und notwendige Gründe« der Vernunft rekurrieren. Für die Behauptung (0.1) ist dies ohne weiteres klar: Das moralische Gesetz ist das autonome Gesetz der reinen praktischen Vernunft. Die Gegenbehauptung (0.2) stützt sich auf den Nachweis der Unmöglichkeit des höchsten Gutes, bei dem Gebrauch von Prinzipien der theoretischen Vernunft gemacht wurde (s. oben S. 165 f.). Darüber hinaus sind weitere Theoreme vorausgesetzt, so vor allem, daß das höchste Gut notwendiges Objekt unseres Willens ist, dessen Beförderung das moralische Gesetz uns zur Pflicht macht (s. oben S. 176 ff.). Für diese Prämissen fehlen zwar förmliche Begründungen, aber es kann kein Zweifel daran bestehen, daß Kant sie als a priori notwendige Implikate der reinen praktischen Vernunft verstanden wissen wollte; desgleichen kann das formale Theorem »Impossibilium nulla obligatio est« als
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254
Wer sich von der Verpflichtung durch das moralische Gesetz »frei glaubte«, wenn er sich davon überreden könnte, daß kein Gott existiert und das höchste Gut unmöglich ist, mit dessen innerer moralischer Gesinnung kann es »nur schlecht bestellt sein« (KU Β 426 f.). Vgl. dazu F. v. Kutschera, Einführung in die Logik der Normen, Werte und Entscheidungen, S. 11 ff.
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elementare Regel einer rationalen Moralphilosophie gelten, auch wenn Kant selbst es nicht explizit als solche einführt und begründet. Nicht minder wichtig ist der Hinweis, daß die Theoreme zum höchsten Gut zwar Erweiterungen gegenüber der Grundlegung der ethischen Prinzipienlehre in der Analytik darstellen, aber konsistent mit ihr sind in dem Sinne, daß sie für sich nicht in einem offenen Widerspruch zum moralischen Gesetz stehen. Kant legt von Anfang an größten Wert darauf, daß seine Theorie vom höchsten Gut »in der vollkommensten Harmonie« mit »dem Prinzip der Autonomie« des reinen Willens steht (KpVA 197; vgl. oben S. 105 f.), und auch in der weiteren Explikation ist ihm ein offener Verstoß gegen dieses Prinzip nicht nachzuweisen. Man kann zwar die Erweiterungen - vor allem mit Blick auf die Konsequenzen, die Kant daraus ableitet - für problematisch und imbegründet halten, aber der Vorwurf, daß die Ethik durch die Hereinnahme der Glückseligkeit in den Gegenstand der praktischen Vernunft eo ipso wieder eudämonistisch und heteronom werde 255 , ist unbegründet. Wer diesen Vorwurf erhebt, macht seinerseits Voraussetzungen (ζ. B. anthropologischer Art), die Kant nicht akzeptieren muß. Auch die Gegenbehauptung (0.2) läßt sich also mit einiger argumentativer Stringenz aus Kantischen Prämissen und Vernunftprinzipien ableiten256.
255
So behauptete A. Döring, daß nach der »echte[n] unverfälschten[n] Ansicht Kants« der Begriff des höchsten Guts in der Ethik zwangsläufig eine »Heteronomie des Sittengesetzes« begründe; schon die Bestimmung der »Tugend als Glückseligkeitswürdigkeit« laufe »der ganzen Denkrichtung der Analytik schnurstracks zuwider«: A. Döring, Kants Lehre vom höchsten Gut, in Kant-Studien 4 (1900), S. 94-101, hier S. 98 f.
256
A. W. Wood ist m. W. bislang der einzige, der die Antinomie der praktischen Vernunft explizit als Widerspruch zwischen den Behauptungen der Wahrheit und der Falschheit des moralischen Gesetzes interpretiert hat: A. W. Wood, Kant's Moral Religion, S. 27 f. und S. 104 Anm.; erwähnt auch bei M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 106 Anm. 328. Wood meint aber, daß Kant sich zu dieser Darstellung durch seinen Versuch habe verleiten lassen, die Antinomie der praktischen Vernunft den theoretischen Antinomien der ersten Kritik anzugleichen; diese Form werde der Eigenart des Sachproblems nicht gerecht (vgl. oben S. 91).
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4.3.4 Die Antinomie der praktischen Vernunft: Versuch einer Entscheidung Die Entscheidung darüber, ob Kant selbst den Konflikt um die Möglichkeit des höchsten Gutes als Antinomie verstanden hat, hatte ich zurückgestellt, weil der Text eine derartige Antithetik nicht explizit formuliert (vgl. oben S. 175). Aus den beiden Schlußsätzen des Antinomiekapitels ließ sich ein zweiter Konflikt (um die Gültigkeit des moralischen Gesetzes) entwickeln, der ebenfalls den formalen Bedingungen einer Antinomie im Kantischen Sinne genügte. Kann man nun mit mehr Recht behaupten, daß dies der Widerspruch ist, den Kant eigentlich als die Antinomie der praktischen Vernunft formulieren wollte? Darauf lautet die klare Antwort: Nein, eher im Gegenteil! Der Text ist im Hinblick auf eine solche Antinomie noch elliptischer. Auffällig ist zunächst, daß das Antinomiekapitel in keiner Weise explizit die Thesis (0.1) ins Spiel bringt, also hier jeder direkte Hinweis auf die unbedingte, von allen theoretischen Bedingungen unabhängige Gültigkeit des moralischen Gesetzes fehlt. Es scheint eher so, als solle der Hinweis auf die drohende Falschheit des moralischen Gesetzes vor allem dem Konflikt um die Möglichkeit des höchsten Gutes mehr Nachdruck und Gewicht geben. Dafür, daß dieser Konsequenz hier noch einmal die kategorische Selbstgewißheit der reinen praktischen Vernunft entgegengesetzt werden soll, fehlt jede textliche Stütze. Gegen die Vermutung, daß die Gültigkeit des moralischen Gesetzes das zentrale Thema der Antinomie bildet, spricht aber vor allem die allgemeine Ortsbestimmimg »einer Dialektik der reinen praktischen Vernunft überhaupt« in den einleitenden Erörterungen zum zweiten Buch der Kritik der praktischen Vernunft (KpV A 192 ff., vgl. Kap. 4.1). Dort hatte Kant die Dialektik der praktischen Vernunft in Entsprechung zur Dialektik der ersten Kritik gesetzt, sofern sich die Vernunft bei beiden Formen ihres Gebrauchs in einen Widerstreit verwickelt, wenn sie die unbedingte, absolute Totalität des Gegenstandes zu bestimmen sucht. Die unbedingte Totalität des Gegenstandes der praktischen Vernunft ist aber bei Kant unzweideutig das höchste Gut (vgl. KpV A 194). An zwei Stellen hatte er darüber hinaus eine »Dialektik der reinen praktischen
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Vernunft im Punkte der Bestimmung des Begriffs vom höchsten Gute«257 bzw. eine »Dialektik der reinen Vernunft in Bestimmung des Begriffs vom höchsten Gut« 258 angekündigt; und die einleitenden Erörterungen kulminierten in der Frage: Wie ist das höchste Gut als synthetische Verbindung verschiedenartiger Elemente möglich (KpV A 203)? In der »kritischen Aufhebung der Antinomie« spricht Kant rückblickend von jener »Antinomie in Verbindung der Sittlichkeit mit Glückseligkeit« (KpVA 207). Von einem Widerstreit, die Gültigkeit des moralischen Gesetzes betreffend, ist dagegen weder direkt noch indirekt die Rede. Allerdings ist es nicht ohne Interesse zu sehen, daß in der Kritik der praktischen Vernunft die Unmöglichkeit des höchsten Gutes einen Vernunftkonflikt bezüglich der Gültigkeit des moralischen Gesetzes zur Folge hätte, der sich, ausformuliert, als antinomischer Widerspruch darstellen läßt. Was aber die von Kant anvisierte Antinomie der praktischen Vernunft angeht, so erlauben die Angaben, denke ich, eine hinreichend sichere Eingrenzimg des Themas der Antinomie der praktischen Vernunft auf das höchste Gut und seine Möglichkeit. Was hier Problem sein kann und was nicht, wurde ausgiebig in der Text- und Argumentationsanalyse erörtert. Angesichts der etwas elliptischen Darstellung Kants ist es zwar immer noch ein Schritt über den Wortlaut des Textes hinaus, aber doch einer auf einem inzwischen gut abgesicherten Terrain, wenn ich nun das Fazit der Untersuchungen ziehe: Sofern Kant überhaupt in KpV A 204 f. für eine Antinomie in einem qualifizierten Sinne argumentiert, dann kann sie nur in dem Konflikt bestehen, daß einerseits das höchste Gut aus Gründen der praktischen 257 258
KpV A196, Hervorhebung im Original. KpV A198, Überschrift zum zweiten Hauptstück. Wenn man diese Formulierung für sich nimmt, könnte man versucht sein zu meinen, die Dialektik solle in einem Streit alternativer Definitionen des höchsten Gutes bestehen, und darin eine Anspielung auf die Disjunktion der beiden Verknüpfungsmöglichkeiten von Tugend und Glückseligkeit im höchsten Gut sehen, wie Wike dies getan hat (s. oben S. 76-80). Dagegen spricht aber schon der Umstand (um es noch einmal zu wiederholen), daß Kant sofort im Anschluß an diese Formulierung alle rein begrifflichen Fragen und Mehrdeutigkeiten in bezug auf das höchste Gut definitiv klärt und auf der Grundlage dieser Festlegungen als entscheidende, »noch immer ... unaufgelöste Aufgabe« die Frage nennt: »Wie ist das höchste Gut praktisch möglich?« (KpVA202 f.). Dialektik in »Bestimmung des Begriffs vom höchsten Gut« meint dann nicht einen Streit inhaltlich verschiedener Begriffsbestimmungen des höchsten Gutes, sondern einen Streit um die modale Bestimmung dieses Begriffs, d. h. um seine Möglichkeit.
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Vernunft möglich sein muß und daß es andererseits unmöglich ist. Dies ist der einzige Konflikt, das höchste Gut und insbesondere die Verbindung von Tugend und Glückseligkeit betreffend, für den sich im Antinomiekapitel eine Argumentation findet. Alle anderen Vorschläge, insbesondere jene, die die Antinomie in der einen oder anderen Weise auf die Disjunktion der beiden Verknüpfungsweisen von Tugend und Glückseligkeit beziehen, können sich weder auf den Wortlaut noch auf irgendeinen Sachgehalt der Kantischen Ausführungen berufen. Um die wichtigsten Einwände in Thesenform zu wiederholen: Diese Interpretationen übersehen in aller Regel ein Doppeltes: Erstens enthält die Disjunktion, so wie Kant sie als Satz (4) in der Form q ν r in die Argumentation einführt, für sich noch in keiner Weise einen Konflikt, und es deutet auch nichts darauf hin, daß Kant dies unterstellt hat. Zweitens gehört die Behauptung der Disjunktion als ganzer auf eine Seite des Konflikts (als Implikation der Thesis), dessen andere Seite aus ihrer Negation resultiert. Was das Kernproblem der Antinomie der praktischen Vernunft angeht, läßt also eine genaue Textanalyse des Antinomiekapitels kaum noch Spielraum. Auch wo Kant später in der Kritik der praktischen Vernunft und der Kritik der Urteilskraft noch einmal auf ein Problem des höchsten Gutes zu sprechen kommt, besteht es, wo es deutlichere Umrisse erhält, stets in jenem Konflikt der praktisch geforderten Möglichkeit des höchsten Gutes und der Behauptimg seiner Unmöglichkeit. Inwieweit Kants Darstellung der »Kritischen Aufhebung der Antinomie der praktischen Vernunft« (KpVA 205 ff.) diese Interpretation bestätigt, bedarf allerdings einer eigenen Erörterung, da auch hier der Text für gegensätzliche Interpretationen in Anspruch genommen wird (s. Kap. 7). In der Kritik der praktischen Vernunft resümiert Kant das Problem des höchsten Gutes am ausführlichsten im Abschnitt zum Postulat des Daseins Gottes: Einerseits muß das höchste Gut möglich sein, weil wir es »zu befördern suchen« sollen (KpV A 225); die Voraussetzung der Möglichkeit des höchsten Gutes ist daher »mit der Pflicht als Bedürfnis verbundene Notwendigkeit« (KpVA 226, vgl. A 259 Anm.). Andererseits liegt »in dem moralischen Gesetze nicht der mindeste Grund zu einem notwendigen Zusammenhang zwischen Sittlichkeit und der ihr proportionierten Glückseligkeit«, denn das moralische Gesetz gebietet »als ein Gesetz der Freiheit durch Bestimmungsgründe, die von der Natur und der Übereinstimmving derselben zu unserem Begehrungsvermögen ... ganz
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unabhängig sein sollen« (KpVA 224). Diese Formulierungen belegen noch einmal, daß es sich bei der Verbindung von Tugend und Glückseligkeit für Kant um ein elementares Vermittlungsproblem handelt, das unmittelbare Folge seines Begriffs einer sittlichen Willensbestimmung ist, in der jede Rücksicht auf empirische Umstände negiert sein muß (vgl. oben S. 151 f.). Es finden sich hier allerdings auch Wendungen, die die Schwierigkeit der Verknüpfving von Tugend und Glückseligkeit vor allem auf die Endlichkeit der menschlichen Vermögen zurückführen und damit die oben als zu eng zurückgewiesene anthropologische Akzentuierung (s. oben S. 167 f.) zu beinhalten scheinen. So sagt Kant, der Grund des Vermittlungsproblems liege darin, daß »das handelnde vernünftige Wesen in der Welt ... doch nicht zugleich Ursache der Welt und der Natur« ist und daher die Glückseligkeit »mit seinen praktischen Grundsätzen aus eigenen Kräften nicht durchgängig einstimmig machen kann« 259 . Das ist aber bestenfalls eine notwendige, keineswegs eine hinreichende Bedingung des Problems, und wenn Kant im folgenden schließt, daß wir »das Dasein einer von der Natur unterschiedenen Ursache der gesamten Natur, welche den Grund ... der genauen Übereinstimmung der Glückseligkeit mit der Sittlichkeit« enthält, postulieren müssen 260 , dann ist auch hier stillschweigend zu ergänzen, daß wir prinzipiell nicht einsehen, wie »nach Begriffen von einer Naturordnimg überhaupt« ( K p V A 231), sei es durch unser eigenes Vermögen, sei es durch andere natürliche Ursachen, das höchste Gut möglich sein könnte. Daß es allgemein um den Begriff der Möglichkeit des höchsten Gutes geht und nicht allein um unsere physischen und praktischen Wirkmöglichkeiten, ist in aller Deutlichkeit in der Kritik der Urteilskraft ausgesprochen: »... die Absicht, den Endzweck aller vernünftigen Wesen (Glückseligkeit, soweit sie einstimmig mit der Pflicht möglich ist) zu befördern, ist doch ... durch das Gesetz der Pflicht auferlegt. Aber die spekulative Vernunft sieht die Ausführbarkeit derselben (weder von Seiten unseres eigenen physischen Vermögens noch der Mitwirkimg der
259
KpVA 224 f., Hervorhebung von mir; ähnlich auch Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie, AA VIE, S. 397 Anm.: das höchste Gut ist »durch meine Kräfte allein« nicht ausführbar, es ist »nicht immer oder ganz in der Gewalt des Menschen«. 260 KpVA225, Hervorhebung von mir.
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Natur) gar nicht ein« 261 . Hier wird auch expliziter als in der Kritik der praktischen Vernunft gesagt, daß es sich bei dem Problem der Möglichkeit des höchsten Gutes um einen Konflikt zwischen praktischer und spekulativer (theoretischer) Vernunft handelt. Nicht minder deutlich ist auch folgende Stelle: »Diese zwei Erfordernisse [sc. Tugend und Glückseligkeit] des uns durch das moralische Gesetz aufgegebenen Endzwecks können wir aber, nach allen unseren Vernunftvermögen, als durch bloße Naturursachen verknüpft und der Idee des gedachten Endzwecks angemessen unmöglich uns vorstellen. Also stimmt der Begriff von der praktischen Notwendigkeit eines solchen Zwecks durch die Anwendung unserer Kräfte nicht mit dem theoretischen Begriffe von der physischen Möglichkeit der Bewirkung desselben zusammen, wenn wir mit unserer Freiheit keine andere Kausalität (eines Mittels) als die der Natur verknüpfen« 262 . Diese Angaben decken sich mit dem Ergebnis unserer Problemanalyse (vgl. vor allem S. 165 und 173 f.). Daß Kant selbst den Konflikt in diesem Sinne näher bestimmt, ist insofern von besonderem Interesse, als diese spezifizierenden Zusätze in einem auffälligen Kontrast zu einer Formulierungsreihe in der Kritik der praktischen Vernunft stehen; dort ist die Rede von einer »Dialektik der reinen praktischen Vernunft« 263 und, eindeutiger noch, um die Parallele zum theoretischen Vernunftgebrauch hervorzuheben, von »Widersprüche [n] der reinen praktischen Vernunft mit ihr selbst«264. Auf diese Unstimmigkeiten werde ich beim Vergleich der Struktur der Dialektik der praktischen Vernunft mit derjenigen der theoretischen Vernunft noch einmal zurückkommen (Kap. 5). Die große sachliche Nähe (wenn nicht gar Identität) dieser Darstellungen des Problems des höchsten Gutes in der Kritik der Urteilskraft zu (bzw. mit) dem Ergebnis der Analyse des Antinomiekapitels läßt sich kaum bestreiten. So findet es auch M. Albrecht »in der Tat bemerkenswert«, wenn Kant an einer weiteren Stelle den Konflikt so resümiert: 261 262
263 264
KU Β 461 Anm., vgl. auch KU Β 417. S. oben S. 167 f. KU Β 424, Hervorhebungen im Original. Vgl. auch die handschriftliche Notiz in Kants Handexemplar der Kritik der praktischen Vernunft·. Ohne Gott wäre das höchste Gut »eine leere Idee ..., welches der Moralischen Gesinnung Einwürfe von Seiten der Speculation entgegen stellen würde«: Kant-Studien 72 (1981), S. 137 f., Hervorhebung von mir. KpVA114,192,196,214. KpVA 196, Hervorhebung von mir; auffällig ist hier auch der Plural »Widersprüche«. Vgl. ferner KpVA 207: »Widerstreit!.] einer praktischen Vernunft mit sich selbst«.
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»Ein als Pflicht aufgegebener Endzweck ... und eine Natur ohne allen Endzweck ..., in welcher gleichwohl jener Zweck wirklich werden soll, [stehen] im Widerspruche« (KU Β 439); denn diese Stelle zeige, so Albrecht, »nicht nur, daß Kant - das Verständnis des höchsten Gutes als Endzweck vorausgesetzt ... - dasselbe Sachproblem, das er in der Kritik der praktischen Vernunft im Rahmen einer "Antinomie" darstellte, hier ohne die Verwendung dieses Begriffs erörtert ..., sondern auch die Möglichkeit, die Dialektik der reinen praktischen Vernunft in zwei sich widersprechenden Sätzen zu formulieren - mithin ein gewisses Recht, auch im Blick auf die Kritik der praktischen Vernunft eine solche Antithetik nachträglich darzustellen« 265 . Es bedarf vermutlich keines besonderen Hinweises mehr, daß die Alternative der beiden Weisen der Verküpfung von Tugend und Glückseligkeit, die so viele Interpreten für den thematischen Kern der Antinomie gehalten haben, in späteren Wiedergaben des Problems des höchsten Gutes keine Rolle mehr spielt; sie taucht m. W. nicht mehr auf 266 - mit einer aufschlußreichen Ausnahme in der Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik: In einem einzigen Satz wird dort sowohl das Problem wie seine Lösimg entwickelt, in einer vergleichsweise dichten und zugleich detaillierten Weise 267 . Die syntaktische Gliederung dieses Sat265
266
267
M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 105 Anm. 325. Albrecht stimmt hier Y. Yovel zu, der in KU Β 439 einen präziseren Ausdruck der Antinomie sieht als in den einschlägigen Passagen der Kritik der praktischen Vernunft (The God of Kant, S. 96). Gerade mit Bezug auf KU Β 439 hatte D. Lenfers festgestellt: »Die praktische Vernunft mit dem Sittengesetz und dem Endzweck steht gegen die theoretische Vernunft und die ihren Begriffen gemäße Natur«; er charakterisierte den Gegensatz »als ein Auseinanderklaffen von praktischer und theoretischer Vernunft« (D. Lenfers, Kants Weg von der Teleologie zur Theologie. Interpretationen zu Kants Kritik der Urteilskraft, Diss. Köln 1965, S. 109 und 111). Lenfers bringt allerdings diese Stelle nicht in Zusammenhang mit der Antinomie in der Kritik der praktischen Vernunft. Die Erörterung, welche Funktion die Disjunktion in Kants Darstellung der Auflösung der Antinomie (KpVA 205 ff.) spielt, stelle ich auch hier zunächst zurück; s. dazu unten S. 328 f. AA XX, S. 306 f.: »Obgleich nun der Mensch in theoretisch-dogmatischer Rücksicht die Möglichkeit des Endzweckes, darnach er streben soll, den er aber nicht ganz in seiner Gewalt hat, sich gar nicht begreiflich machen kann, indem, wenn er dessen Beförderung in Ansehung des Physischen einer solchen Teleologie zum Grunde legt, er die Moralität, welche doch das Vornehmste in diesem Endzweck ist, aufhebt; gründet er aber alles, worin er den Endzweck setzt, aufs Moralische, er bey der Verbindung mit dem Physischen, was gleichwohl vom Begriffe des höchsten Gutes, als seinem Endzweck, nicht getrennt werden kann, die Ergänzung seines Unvermögens zur Darstellung desselben ver-
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zes mit der komplexen hierarchischen Ordnung von Haupt- und Nebensätzen läßt hier formal stärker das argumentative Gefüge von Beweisziel und Beweisgründen transparent werden; die argumentative Funktion und Einbettung der Alternative in den Zusammenhang kann so markanter und gewissermaßen plastischer als im Antinomiekapitel der Kritik der praktischen Vernunft hervortreten. Auch in diesem späten Resümee liegt das Problem darin, daß der Mensch nach einem Endzweck »streben soll, den er aber nicht ganz in seiner Gewalt hat«; auch hier wird schnell deutlich, daß nicht die Endlichkeit des menschlichen physischen Vermögens, sondern der fehlende Begriff von der Möglichkeit des gebotenen Endzwecks überhaupt in »theoretisch-dogmatischer Rücksicht« die eigentliche Schwierigkeit ausmacht. In dem anschließenden, mit »indem« eingeleiteten Nebensatz begründet Kant die These der mangelnden »Begreiflichkeit«; in den zwei Sachverhalten, die Kant dabei zur Sprache bringt, wird man unschwer die beiden Weisen der Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit wiedererkennen 268 , wie sie die Disjunktion im Antinomiekapitel der Kritik der praktischen Vernunft - übrigens in derselben Abfolge - formulierte. Beide Verknüpfungsformen werden hier aber sofort zurückgewiesen, im wesentlichen mit denselben Gründen wie in der Kritik der praktischen Vernunft269; die beiden negierten Sachverhalte zusammen (logisch gesprochen also ihre Konjunktion) bilden das Argument für die Behauptung, daß der Mensch die Möglichkeit des höchsten Gutes »sich
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mißt: so bleibt ihm doch ein praktisch-dogmatisches Prinzip des Überschrittes zu diesem Ideal der Weltvollkommenheit übrig, nämlich unerachtet des Einwurfes, den der Lauf der Welt als Erscheinung gegen jenen Fortschritt in den Weg legt, doch in ihr, als Object an sich selbst, eine solche moralisch-teleologische Verknüpfung, die auf den Endzweck als das übersinnliche Ziel seiner praktischen Vernunft, das höchste Gut, nach einer für ihn unbegreiflichen Ordnung der Natur hinausgeht, anzunehmen.« Daß hier nur vom »Physischen« und nicht ausdrücklich auch von Glückseligkeit die Rede ist, sollte kein Einwand gegen eine Entsprechung sein; an anderer Stelle der Preisschrift findet sich auch die Formel vom höchsten Gut (oder Endzweck) als »einer der Sittlichkeit angemessenen Glückseligkeit in der Welt«: AA XX, S. 295, vgl. S. 294. Für die erste Verknüpfungsform ist das offensichtlich: sie verstößt gegen das Kantische Moralprinzip; bei der zweiten ist der Zusammenhang weniger explizit, läßt sich aber leicht herstellen, wenn man ζ. B. hinzufügt: der Mensch vermißt die Ergänzung seines Unvermögens durch einen Naturmechanismus, der die Sittlichkeit mit einer ihr proportionierten Glückseligkeit allgemein und notwendig verbindet.
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gar nicht begreiflich machen kann« 270 . Die zwei Möglichkeiten der Verknüpfung haben hier nur, sofern sie bestritten werden, einen Ort und eine Funktion, und zwar in der Begründung der These der Unmöglichkeit des höchsten Gutes; das ist inhaltlich offensichtlich und wird durch die grammatische Zuordnimg der beiden Sätze, die in einen Nebensatz eingebettet sind, zu dem übergeordneten Satz, der die These enthält, formal unterstrichen. Auch wenn die Abfolge der Elemente in der Preisschrift etwas anders arrangiert ist 271 , so decken sich doch die Problemstellung und die Logik der Argumentation in den entscheidenden Details auffällig mit Kants Ausführungen in der Kritik der praktischen Vernunft, wie sie hier nachgezeichnet wurden. Berücksichtigt man, daß uns nicht mehr die Kantische Originalfassung der Preisschrift vorliegt, sondern nur die Überarbeitung von Fr. Th. Rink, die nicht frei von eigenmächtigen, wohl auch entstellenden Eingriffen ist 272 , dann stellt sich allerdings die Frage, welcher Text für welchen als Kriterium der Interpretation und Beurteilung dienen kann: die zitierte Stelle in der Preisschrift als Beleg für die Richtigkeit der Analyse des Antinomiekapitels der Kritik der praktischen Vernunft oder das Antinomiekapitel (in der hier vorgelegten Deutung) als Indiz dafür, daß aus den verlorengegangenen Kantischen Originalen jedenfalls dieser Abschnitt inhaltlich weitgehend unbeschadet in die »Rinksche Kompilation« (G. Lehmann 273 ) gelangt ist. Wie auch die Antwort ausfallen mag, festzuhalten ist in jedem Fall: Das, was die Frage »wie ist das höchste Gut praktisch möglich?« zu einer »noch immer ... unaufgelöstefn]«, »schwer zu lösenden Aufgabe« macht ( K p V A 203), ist auch in späteren Reprisen nie der Umstand, daß verschiedene Kandidaten von Verknüpfungsmöglichkeiten miteinander im Streit liegen und bei der Bestimmung der Idee des höchsten Gutes mit Vernunftgründen gegeneinander konkurrieren. Stets lautet die Frage 270
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272 273
Für die Schlüssigkeit des Arguments ist natürlich auch hier vorauszusetzen, daß die Sphäre der Begriffe einer synthetischen Verbindung von Tugend und Glückseligkeit durch diese beiden Formen vollständig beschrieben wird und es nach ihrem Ausschluß keine weiteren Möglichkeiten mehr gibt. So wird die Behauptung hier der Begründung vorangestellt und steht nicht wie in der Kritik der praktischen Vernunft als conclusio erst am Ende der logischen Kette. Gerade dies erleichtert hier die Identifikation von Beweisziel und Beweisgründen und ihre eindeutige Zuordnung. Vgl. dazu das abfällige und unwillige Urteil des Herausgebers G. Lehmann: AA XX, S. 479. Ebd.
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grundsätzlicher: Wie ist das höchste Gut überhaupt möglich? oder: Ist es überhaupt möglich? Die Auskünfte der diversen Textstellen sind in dieser Hinsicht eindeutig und einhellig; die sachliche Übereinstimmung mit dem Ergebnis der Interpretation des Antinomiekapitels der Kritik der praktischen Vernunft bewährt sich gerade dort, wo das Problem des höchsten Gutes noch einmal in Details zur Sprache kommt. Es bleibt allerdings auffällig, daß Kant nach der Kritik der praktischen Vernunft nie mehr diesen Konflikt, wenn er auf ihn bestimmter zu sprechen kommt, als »Antinomie« oder »Dialektik« der praktischen Vernunft bezeichnet; dagegen verwendet er auch später immer wieder die einschlägigen Termini, wenn er von den kosmologischen Widersprüchen der theoretischen Vernunft handelt 274 . Dennoch wäre es voreilig, daraus zu schließen, »daß beide Begriffe in diesem Zusammenhang ausschließlich in der Kritik der praktischen Vernunft Verwendung finden«, »das ausschließliche Eigentum der Kritik der praktischen Vernunft« seien und in Verbindung mit dem höchsten Gut schon nicht mehr in der Kritik der Urteilskraft gebraucht würden, wie Albrecht meint 275 . Er übersieht eine Stelle in der dritten Kritik (KU Β 243 f.), auf die oben schon bei der Problemexposition näher eingegangen wurde 2 7 6 . Die Antinomie der praktischen Vernunft kommt hier zwar nur sehr unspezifisch zur Sprache, aber man kann dem systematischen Grundriß einer allgemeinen An-
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Vgl. ζ. B. Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik, AA XX, S. 288-292. M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 84, vgl. 187. G. B. Sala wiederholt diese These und meint sogar, daß die Lehre vom höchsten Gut in der Kritik der praktischen Vernunft »bald durch eine andere, und zwar angemessenere Deutung des höchsten Gutes abgelöst« wurde: G. B. Sala, Kant und die Frage nach Gott, S. 403. Wenn H. Huber mit Berufung auf Albrecht (Kants Antinomie, S. 187) behauptet, daß Kant »den Begriff der Antinomie nie "auf die Problematik des höchsten Gutes ... angewendet"« habe, dann liegt ein doppelter Irrtum vor, in bezug auf Kant und auf Albrecht: H. Huber, Die Gottesidee bei Immanuel Kant, S. 36, Hervorhebung von mir. Vgl. oben S. 9 f. - G. S. A. Mellin leitet seine Darstellung der Antinomien in der Kantischen Philosophie mit der Feststellung ein: »Kant lehrt, daß es dreierlei Arten von Antinomien der reinen Vernunft gebe, nach den drei verschiedenen Erkenntnißvermögen: dem Verstände, der Urtheilskraft, und der Vernunft« (Encyklopädisches Wörterbuch der kritischen Philosophie, Bd. 1, S. 288). Das ist nicht einfach epigonaler Systematisierungseifer, wie Albrecht anzunehmen scheint (Kants Antinomie, S. 14 Anm. 7), sondern fast wörtliche Paraphrase von KU Β 243! Über die Skizze bei Kant hinaus reichert Mellin seine Darstellung um die Antinomien der teleologischen Urteilskraft und aus der Rechtslehre an und spricht dann wenig später etwas unvermittelt von »fünf Arten« von Antinomien (ebd. S. 289).
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tinomienlehre immerhin entnehmen, daß der inhaltliche Bezugspunkt der Antinomie das höchste Gut ist, denn es dürfte kaum zweifelhaft sein, daß unter dem Objekt, das »die an sich selbst gesetzgebende!·] Vernunft« gemäß den apriorischen Prinzipien ihres praktischen Gebrauchs in einem unbedingten Urteil bestimmt (KU Β 244), das höchste Gut zu verstehen ist. - Danach finden sich auch m. W. keine Spuren mehr, daß Kant das Problem des höchsten Gutes als Dialektik ausgelegt hat. Dieses Schicksal teilt die Antinomie der praktischen Vernunft mit den Antinomien der ästhetischen und teleologischen Urteilskraft und den zahlreichen weiteren Antinomien in Kants späteren Werken. Hier handelt es sich meist u m kaum mehr als momentane dialektische Stilisierungen u n d Zuspitzungen eines Themas; selbst wo Kant es später wieder aufgreift, zeigt er wenig Neigung und Interesse, dies erneut in den Begriffen seiner Dialektik zu tun und den von dieser Problemgestalt vorgezeichneten Verweisungen und thematischen Anschlußmöglichkeiten zu folgen 277 - wohl ein Indiz dafür, daß Kant selbst diesen Antinomien und Dialektiken nie wirklich die Bedeutung eingeräumt hat, die die transzendentale Dialektik seiner ersten Kritik für ihn gehabt hat.
4.3.5 Varianten der Antinomie der praktischen Vernunft Varianten der Antinomie der praktischen Vernunft, das kann nun nicht mehr heißen: alternative Problemstellungen. Was noch bleibt, ist allein ein vergleichsweise unbedeutender Spielraum für die begriffliche Ebene, auf der man das Thema der Antinomie ansiedeln kann. Variationen ergeben sich hier dadurch, daß man für den Begriff des höchsten Gutes spezifischere oder allgemeinere Konzepte einsetzt und auf diese Weise zugleich jeweils unterschiedliche Aspekte des Problems mit ins Spiel bringt. Am unteren Ende der Allgemeinheit stehen sehr detaillierte Formulierungen, in denen der Begriff des höchsten Gutes durch die Disjunktion der synthetischen Verknüpfungsmöglichkeiten seiner Elemente ersetzt 277
Exemplarisch ließe sich dies für die Antinomie in der Religionsschrift zeigen; vgl. dazu die Nachweise in: B. Milz, Dialektik der Vernunft in ihrem praktischen Gebrauch und Religionsphilosophie bei Kant, S. 491 Anm. 42.
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ist, etwa in der Form, wie dies schon 1796 L. Bendavid tat 278 . Diese Fassung hat den Vorteil, daß sie noch einmal die Einbettung der so vielfach mißverstandenen Disjunktion in die logische Struktur der Kantischen Argumentation verdeutlicht: (2.1) Thesis: Die Begierde nach Glückseligkeit ist die Bewegursache zu Maximen der Tugend, oder die Maxime der Tugend ist die wirkende Ursache der Glückseligkeit:
(q ν
r). (2.2) Antithesis: Die Begierde nach Glückseligkeit ist nicht die Bewegursache zu Maximen der Tugend, und die Maxime der Tugend ist nicht die wirkende Ursache der Glückseligkeit: (~q a ~r = ~(q ν r)). Eine häufiger anzutreffende Variante 279 erhält man auf dieser Spezifikationsebene dadurch, daß man den ersten Satz der Disjunktion (»Die Begierde nach Glückseligkeit ist die Bewegursache zu Maximen der Tugend«) gleich ausschließt, weil er mit den Prinzipien der Kantischen Ethik unvereinbar ist und damit als schlechterdings falsch gilt (vgl. Kap. 4.3.2.3), und sich auf den zweiten Satz beschränkt: (3.1) Thesis: Die Maxime der Tugend ist die wirkende Ursache der Glückseligkeit (r). (3.2) Antithesis: Die Maxime der Tugend nicht ist die wirkende Ursache der Glückseligkeit (~r). Unter der Voraussetzung von ~q sind die Sätze (2.1) und (3.1) sowie (2.2) und (3.2) äquivalent. Am oberen Ende der Reihe rangieren Versionen, in denen das Thema der Antinomie so allgemein gefaßt ist, daß die von Kant beanspruchte Parallele zum Gegenstand der Dialektik der theoretischen Vernunft (vgl. KpVA 192-194) mit anklingen kann: (4.1) Thesis: Die unbedingte Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft ist möglich.
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279
L. Bendavid, Vorlesungen über die Critik der practíschen Vernunft, S. 72 f.; vgl. oben S. 85 f. Ζ. B. bei C. Stange, Die Ethik Kants, S. 105 (vgl. oben S. 62 f.) und L.W. Beck, A Commentary, S. 247, dt. S. 229 (vgl. oben S. 67); auch nach M. Albrecht ist allein für den zweiten Satz eine Dialektik auszumachen, s. unten S. 227 f.
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4 Analyse und Interpretation des Textes zur Antinomie der praktischen Vernunft
(4.2) Antithesis: Die unbedingte Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft ist nicht möglich. Die logische Äquivalenz des oberen und unteren Endes der Allgemeinheitsskala ist gegeben, wenn man annimmt, daß (1) der Begriff der unbedingten Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft durch einen und nur einen Gegenstand, das höchste Gut, realisiert ist, und (2) nicht nur ρ q ν r, sondern ebenso q v r - > ρ gilt, die Disjunktion also nicht nur eine notwendige, sondern auch eine hinreichende Bedingung für die Möglichkeit des höchsten Gutes formuliert: Wenn eine der beiden Weisen einer synthetischen Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit realisiert (oder realisierbar) ist, dann ist dieser Gegenstand möglich. Außer diesen (und noch weiteren möglichen280) Abwandlungen, die relativ einfach ineinander zu überführen sind, gibt es in der Literatur Darstellungen der Antinomie, die stärker interpretierend sind. W. Kingeling bringt sie ζ. B. in die Form: »Gute Gesinnungen können belohnt werden, und sie können es nicht«281; nach E. Marcus lautet »die dialektische Antinomie ... : Thesis. Das Gesetz muss für das Glücksopfer ein Äquivalent geben nach seinem eigensten Princip. Antithesis. Es gewährt aber kein natürliches Äquivalent für das geopferte Naturglück«282. Die Rede von der Glückseligkeit als Belohnung der Tugend oder gar die Forderung nach einem Ausgleich für sittlich abverlangte Glücksopfer legen die Kantische Formel von einer Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit in jeweils spezifischen Kontexten aus, reichern sie damit semantisch an oder deuten sie gar um. Dies gilt a fortiori für Interpretationen, in denen die Schwierigkeit der Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit nur Anzeige eines allgemeineren Problems der Kantischen Ethik ist, das der Verbindung von Form und Inhalt des moralischen Wollens oder der Vermittlung von reiner praktischer Vernunft und Wirklichkeit.
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So könnte man ζ. B. zwischen den Begriff des höchsten Gutes und der Disjunktion den Begriff der notwendigen synthetischen Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit einschieben; in der Kritik der Urteilskraft nennt Kant das höchste Gut bevorzugt den Endzweck (zur Gleichsetzung siehe KU Β 423 f., vgl. auch schon KpVA233). W. Kingeling, Die Antinomien in Kants drei Kritiken, S. 140; vgl. oben S. 45. E. Marcus, Die exakte Aufdeckung des Fundaments der Sittlichkeit und Religion, S. 134; vgl. oben S. 89.
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Über die Äquivalenz oder auch nur Adäquatheit solcher Auslegungen kann nicht mehr rein formallogisch entschieden werden. Ich habe schon darauf hingewiesen, daß Zusätze zur Thesis, das höchste Gut müsse durch menschliche Anstrengung möglich sein, oder zur Antithesis, die Möglichkeit des höchsten Gutes scheitere an der Endlichkeit des menschlichen physischen Vermögens, weil der Mensch nicht Herr der Natur ist, überflüssig und irreführend sind, weil sie das Problem, das sich allgemein in bezug auf das Verhältnis von Tugend und Natur stellt, ohne Not auf menschliches Unvermögen verkürzen (vgl. oben S. 69 f. Anm. 178 und S. 167 f.). Es ist müßig, weil sachlich wenig ergiebig, darüber zu spekulieren, welche Fassung Kant selbst der Antinomie gegeben hätte, wenn er sie zu einer antithetischen Gegenüberstellung zweier Sätze ausgestaltet hätte. Der Text des Antinomiekapitels legt eher eine allgemeinere Version des Problems nahe, die sich auf das höchste Gut bezieht und nicht etwa den zweiten Satz der Disjunktion in den Mittelpunkt stellt. Auch wo Kant später auf die Fragestellung der Antinomie anspielt, wählt er eher generelle Ebenen der Thematisierung und spricht bevorzugt vom höchsten Gut oder vom Endzweck; die Akzentuierung des höchsten Gutes als unbedingte Totalität in ausdrücklicher Parallele zu den Ideen der theoretischen Vernunft scheint allerdings eine Spezialität der Kritik der praktischen Vernunft geblieben zu sein283. Vielleicht ebenso müßig, aber von mehr Interesse ist die Frage, was Kant wohl bewogen haben mag, die Antinomie der praktischen Vernunft in einer auffallend verkürzten Form zu präsentieren. Eine psychologisierende Erklärung könnte argwöhnen, daß sich in der Nachlässigkeit der Darstellung eine Unsicherheit verrät, eine innere Ambivalenz, als habe Kant selbst insgeheim ein Gespür dafür gehabt, daß er die Wichtigkeit der Antinomie der praktischen Vernunft weit übertreibe (wie ihm ein späterer Kommentator bescheinigen wird 284 ), eine Skepsis, ob die Antinomie wirklich aus dem Stoff ist, aus 283 284
Vgl. M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 85 Anm. 267. »Kant gives a quite exaggerated importance to the antinomy that he believes he finds. He goes so far as to say that the exposure of the "self-contradictions of the pure practical reason" compels us to undertake a critique of it assigning a role to this antinomy that...
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dem große philosophische Entdeckungen gemacht sind, wie sie ihm nach seiner Überzeugung mit den kosmologischen Antinomien der theoretischen Vernunft geglückt waren. Daher das unentschiedene Nebeneinander von pedantisch-schulmäßiger Argumentation, die auch längst geklärte Sachverhalte noch einmal umständlich mit einbezieht, und merkwürdiger Scheu, dem Konflikt den letzten Schliff zu geben und den Widerspruch auch in seiner ganzen formalen Schärfe ins Licht zu stellen, als wollte er nicht durch die Zuspitzung die kritische Haltung des Lesers provozieren. Die Zaghaftigkeit bildet einen seltsamen Kontrast zum Selbstbewußtsein, mit dem Kant in der Kritik der reinen Vernunft und in den Prolegomena den kritischen Leser zur Prüfimg der Antinomien und ihrer Beweise geradezu drängt, deren Richtigkeit persönlich zu verantworten er sich »anheischig« macht 285 . In der Kritik der praktischen Vernunft versteckt er dagegen das Problem hinter einer unklaren und mißverständlichen Oberfläche und läßt seine definitive Gestalt auf eine eigentümliche Weise in der Schwebe. Er beschwört die Unvermeidlichkeit der Antinomie der praktischen Vernunft und preist sie ebenso wie die der theoretischen Vernunft als »wohltätigste Verirrung«, »in die die menschliche Vernunft je hat geraten können« (KpV A 193, vgl. A 196); wenn er aber das Problem endlich nennen soll, schreibt ein geheimer Zweifel mit und dementiert in der Form der Darstellung seinen Anspruch. Und wie um auch diesen Eindruck wieder zu verwischen, verschiebt er schließlich den Aspekt und dramatisiert das Problem an einer unpassenden Stelle, indem er mit der Falschheit des moralischen Gesetzes droht, dessen absolute Verbindlichkeit er in der Analytik eben erst festgeschrieben hatte. Wer dies für zuviel Fischen in trüben Gründen hält und es vorzieht, auch mit Vermutungen dichter an der Oberfläche der Texte zu bleiben, der könnte sprachpragmatisch erklären: Kant hat die vorliegende Form der Darstellung der Antinomie aus dem einfachen Grunde gewählt, weil
285
the theoretical antinomy actually had in the birth of the first [sc. critique]. This is no doubt a mere façon de parler, and when we examine the antinomy we shall find that it is really quite a poor thing, wholly unable to carry this great historical and systematic burden. We shall find, regrettably, that Kant's usual high-quality workmanship is not much in evidence in the discussion of the antinomy«: L.W. Beck, A Commentary, S. 245 f. (dt. S. 228). Vgl. etwa Prolegomena, AAIV, S. 341 Anm. (§ 52 b), s. auch S. 340 (§ 52).
»Die Antinomie der praktischen Vernunft« (KpVA204 f.)
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er sie für geeignet, jedenfalls für ausreichend hielt, um seinem Leser zu sagen, worin die Antinomie der praktischen Vernunft besteht. Die genauere Analyse zeigt ja auch, daß der Text materialiter wenig Spielraum bei der Entscheidung läßt, was als Problem beschrieben wird. Zudem bewegt sich die Argumentation des Antinomiekapitels weitgehend im Rahmen vertrauter Vorgaben der kritischen Philosophie; Problemstellung wie Begründung haben nur geringen Überraschungswert und stellen keine besonders hohen Anforderungen an die geistigen Fähigkeiten des Lesers. Was an formaler Ausdrücklichkeit oder Vollständigkeit fehlt, ist, so sollte man erwarten, ihm schnell in Form von logisch naheliegenden Implikationen oder Folgerungen präsent. Wo ein Sachverhalt »im Grunde« so offensichtlich ist, da empfiehlt es sich geradezu, das Schulmäßige in der Form etwas zurücktreten lassen: Ein damals vielbenutztes Lehrbuch der Logik, das noch nicht reinlich logische und sprachlich-rhetorische Figuren voneinander schied, pries jedenfalls für solche Fälle das Stilmittel des »versteckten Vernunftschlusses« (ratiocinium crypticum) an, »um die logische Kunst zu verbergen, und die Pedanterei zu vermeiden«286. In der Tat trifft die Umschreibung des »ver-
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G. F. Meier, Auszug aus der Vernunftlehre, S. 109 (§ 399), zitiert nach dem Wiederabdruck in AA XVI, S. 752. Noch ausführlicher war Meier in seiner Vernunftlehre (S. 592, § 427): »Allein wenn man allemal, so ofte man vor sich selbst, oder auch im Vortrage schließt, förmlich schliessen wolte, so würde daraus nicht nur eine ekelhafte und unnütze Weitläufigkeit und Langsamkeit entstehen, sondern es würde auch ungemein pedantisch herauskommen, wenn man einen jedweden Vernunftschluß mit einem logischen Amtsgesichte vortragen wolte, welches in alle gehörige Falten gelegt worden. Es giebt eine Kunst, die Kunst zu verbergen, und dadurch vermeidet man eben alles gezwungene Wesen, und den Schein der Künsteleyen. ... Wir widerrathen demnach, allemal förmlich zu schliessen, und preisen die versteckten Vernunftschlüsse an«. Zur Bedeutung dieser Vorlagen s. oben S. 169 Anm. 186. Dafür, daß Kant sich diese Empfehlung zu eigen gemacht hat, könnte die Logiknachschrift Blomberg (AA XXIV.1.1, S. 286, § 399) sprechen, die zum ratiocinium crypticum notiert: »Man sagt in einem solchen Syllogismo immer weniger, als man willkührlich dencket, und das ist das sogenannte dissimuliren, welches sehr oft heilsam, und billich ist«. - Das Auseinanderfallen von logischer Ausdrücklichkeit und Sprachgefühl war auch noch Gottlob Frege, dem Begründer der modernen Logik, eine Beobachtung wert: Ein »lückenloser Fortgang« des Schließens, dessen Darstellung die Logik anstrebt, kommt »in der Sprache fast nicht vor«; er widerstrebt »dem Sprachgefühle ..., weil er mit einer unerträglichen Weitschweifigkeit verbunden wäre. Die logischen Verhältnisse werden durch die Sprache fast immer nur angedeutet, dem Errathen überlassen, nicht eigentlich ausgedrückt« (Ueber die wissenschaftliche Berechtigimg einer Begriffsschrift (zuerst 1882), in: G. Frege, Begriffsschrift und andere Aufsätze, hrsg. von I. Angelelli, Hüdesheim · Zürich · New York 1988, S. 106-114, hier S. 109.
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4 Analyse und Interpretation des Textes zur Antinomie der praktischen Vernunft
steckten Vernunftschlusses« ziemlich genau die Situation, mit der der Text des Antinomiekapitels konfrontiert: »Ein versteckter Schluß ist ein solcher, der der Materie nach alles enthält, wo die Form aber nicht recht ausgedrukt ist, obgleich gedacht wird« 287 . Daß auffallend viele Zeitgenossen Kants das Sachproblem der Antinomie der praktischen Vernunft relativ sicher und ohne erkennbare Irritation identifiziert haben (vgl. oben Kap. 3 . 1 0 ) , könnte dann seinen Grund darin haben, daß ihr sprachliches und logisches Ohr noch besser auf den Kantischen Gebrauch der Sprache eingestimmt war, um ohne Mühe die »kryptische« Ausdrucksweise im Sinne des Autors zu entziffern. Auch dies bleiben natürlich Ad-hoc-Erklärungen mit geringem überprüfbaren Gehalt. Was auch immer Kants Absichten und Annahmen gewesen sein mögen: offenkundig ist, daß er die tatsächliche Vermittlungsleistung seines Textes erheblich überschätzt hat; daran läßt die über zweihundertjährige Geschichte der diversesten Auslegungen und, wie sich nun mit einiger Bestimmtheit sagen läßt, Mißverständnisse des Antinomiekapitels keinen Zweifel. Es ist nicht ohne Ironie, wenn Kants kleiner Luxus einer formal verkürzten Darstellung nun durch einen ungleich höheren Aufwand an expliziter Verdeutlichung und Analyse bezahlt werden muß, um seine Mitteilungsintention heute einigermaßen sicher einzulösen.
4.4 Resümee der Textinterpretation In der Überschrift zum I. Abschnitt, II. Buch, 2. Hauptstück seiner Kritik der praktischen Vernunft, kündigt Kant eine »Antinomie der praktischen Vernunft« an. Diese Ankündigung löst er im Text ein. Achtet 287
Logik Pölitz, AA XXIV.1.2, S. 594; vgl. auch Logik Busolt, AA XXIV.1.2, S. 678: »Jedes Ratiocinium ist entweder Formale oder crypticum, ein versteckter Vemunftschluß. ... Ein Ratiocinium formale ist das, was Schulgerecht ist. Im Verstände ist jedes Ratiocinium formale, in den Worten nicht immer«. Genauer gesagt besteht in unserem Fall das ratiocinium crypticum in einem »verstümmelten Vemunftschluß« (enthymema), bei dem der Schlußsatz weggelassen ist, wie in dem Beispiel: »Alle Menschen haben Fehler, und ich bin auch ein Mensch«: G. F. Meier, Vernunftlehre, S. 593 (§ 428); vgl. ders., Auszug aus der Vernunftlehre, S. 109 (§ 400, AA XVI, S. 752). Abweichend von Meier sprechen die Logiken Pölitz und Busolt von einem Enthymema nur bei Schlüssen, bei denen eine der Prämissen fehlt.
Resümee der Textinterpretation
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man auf den genauen Argumentationsduktus und auf die Einbettung der Sätze in den Argumentationszusammenhang, dann läßt sich dem Text des Antinomiekapitels alles in allem nur ein dialektischer Konflikt der Vernunft entnehmen: der Widerspruch zwischen der (praktisch) notwendig vorausgesetzten Möglichkeit und der (theoretisch) behaupteten Unmöglichkeit des höchsten Gutes. Der Sache nach ließe sich zwar aus den vorgetragenen Argumenten auch ein zweiter, abgeleiteter Konflikt der Vernunft entwickeln, der die Gültigkeit des moralischen Gesetzes betrifft; zuvor aber hatte Kant schon als Ort der Dialektik die »Bestimmung des Begriffs vom höchsten Gut« genannt, das er in Entsprechung zu den dialektischen Ideen der theoretischen Vernunft als imbedingte Totalität konzipiert. Andere Probleme, deren Darstellung Kant beim Niederschreiben des Antinomiekapitels beabsichtigt haben könnte, lassen sich nicht erkennen. Der Vernunftstreit um die Möglichkeit des höchsten Gutes läßt sich ohne Schwierigkeit in eine explizite Antithetik zweier kontradiktorischer Sätze überführen, die Kants Kriterien einer Antinomie der Vernunft in der ersten Kritik genügt. Kant selbst hat auf diese formgerechte Darstellung der Antinomie verzichtet; über die Gründe bleiben nur Vermutungen. Unter Kantischen Voraussetzungen (von denen freilich einige entscheidende von Anfang an Gegenstand der Kritik waren und die, auch gemessen an Kantischen Standards, nicht immer hinreichend begründet sind) ist der Text im Hinblick auf die Darstellung dieser Antinomie inhaltlich in sich schlüssig und kohärent. Bezogen auf diesen Darstellungszweck sind auch alle Sätze funktional; kein Teil muß als »überflüssig« oder »irreführend« aus der Rekonstruktion der Argumentation Kants ausgeschlossen werden, was andere Deutungen nicht immer vermeiden können. Gerade diese zwanglos rekonstruierbare logische Verkettung der Sätze zerreißen alle jene Interpretationen, die Kant unterstellen, er habe die Disjunktion der beiden Verknüpfungsweisen von Tugend und Glückseligkeit als Antinomie der praktischen Vernunft ausgegeben. Dieser Lesart widerspricht der unmittelbare Textsinn; sie isoliert die Disjunktion aus dem Textzusammenhang, bürdet ihr eine Funktion auf, die sie nicht erfüllen kann, und übersieht die genau eruierbare tatsächliche Funktion beider Sätze der Disjunktion in Kants Argumentation. Man kann der Darstellung Kants auch nicht eine »Inkongruenz« von
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4 Analyse und Interpretation des Textes zur Antinomie der praktischen Vernunft
unmittelbarer Textaussage und in seiner Philosophie begründbarem Sachverhalt anlasten, wie das einige Kantinterpreten getan haben. Bedauern kann man allenfalls mit Blick auf die Folgen die elliptische oder - in der Terminologie der damaligen Schullogik - »kryptische« Form, die auf die letzte Ausdrücklichkeit in der Darstellung von (auf der Hand liegenden) Konklusionen verzichtet. Hat man sich einmal verdeutlicht, wie wenig interpretatorischen Spielraum der Text läßt, dann wird es zu einem seinerseits erklärungsbedürftigen Phänomen, wie man die Alternative der Verknüpfungsweisen von Tugend und Glückseligkeit, die in den Ausführungen Kants logisch nie mehr als den Wert einer Disjunktion hat, in den Rang einer Antinomie erheben konnte oder auch nur Kant unterstellen konnte, er habe dies getan. Vermutlich gibt es für dieses Mißverständnis vielfältige Gründe. Ich nenne zwei, die mir prima facie plausibel scheinen: (1) Die Ankündigung einer »Antinomie der praktischen Vernunft« läßt erwarten, daß man mit einem Problem in Form einer expliziten antithetischen Gegenüberstellung zweier Sätze konfrontiert wird, wie man sie aus der ersten Kritik und anderen Werken Kants kennt. Eine solche Parallele bietet der Text in seiner Oberfläche nicht. In einer starren Erwartung hielt man sich an das, was halbwegs in das Suchschema einer Antithetik von Thesis und Antithesis paßte: die Disjunktion der beiden Verknüpfungsweisen von Tugend und Glückseligkeit, wobei als tertium comparationis ausreichen mußte, daß jeder Antinomie die Disjunktion zweier Sachverhalte zugrunde liegt. Nichts kann aber mitunter so verführerisch und hartnäckig sein wie ein simples Erwartungsschema, mit dem man Erfolg zu haben meint; jedenfalls beharrte man auf dieser Lesart des Textes auch dann noch, als man ihre sachliche Unhaltbarkeit klar erkannte und sich genötigt sah, Kant für seine irreführende Darstellung zu tadeln. (2) Daß man in dieser Frage inzwischen nur die Version einer respektablen Tradition der Kantexegese zu wiederholen brauchte, sorgte dann für weitere Entlastung des Urteils und verschaffte die nötige Sicherheit, so daß der markante Fehlgriff auf den Text sich habitualisieren und zu einer fraglosen Selbstverständlichkeit bei der Lektüre des Antinomiekapitels absinken konnte. Die Antinomie der praktischen Vernunft scheint so weniger ein Beispiel für Kants »Liebe zur architektoni-
Resümee der Textinterpretation
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sehen Symmetrie« (A. Schopenhauer) als vielmehr für den rigiden Hang seiner Interpreten zu sein, den Text gegen den argumentativen Zug seines Wortlauts im Sinne einer oberflächlichen, äußerlichen Symmetrie zu den Antinomien der ersten Kritik zu lesen. Man darf sicher sein, Kant wäre nicht nur verwundert, sondern entsetzt gewesen, hätte er zur Kenntnis nehmen müssen, daß man ihm zutraute, er verwechsle die Disjunktion, jenes »ziemlich armselige und unscheinbare Ding« (L.W. Beck), mit einer Antinomie der praktischen Vernunft. Die Textanalyse des Antinomiekapitels sollte etwas von einem Experiment haben: zu prüfen, wie bestimmt oder unbestimmt angesichts des Angebots diversester Interpretationen in der Literatur der Sach- und Problemgehalt ist, den Kants Text zur Sprache bringt. Dazu läßt sich nun sagen: Schöpft man die artikulierte Bestimmtheit in dem Maße aus, wie dies hier praktiziert wurde, dann bleiben Unbestimmtheiten nur in engen Grenzen. Alternativen der Antinomie ergeben sich allein daraus, daß der Begriff des höchsten Gutes durch andere, generelle oder spezifischere Begriffe ersetzt wird. Alle Interpretationen, die darüber hinausgehen und etwa zeigen wollen, was bei dem Problem der Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit »eigentlich« auf dem Spiel steht, müssen durch das Nadelöhr des Primärtextes zur Antinomie der praktischen Vernunft und sich als Auslegungen der Kantischen Fragestellung bewähren, gegebenenfalls in einer kritischen sachlichen Auseinandersetzung damit. Es ist leicht zu sehen, daß ein großer Teil der in der Literatur vertretenen Deutungen der Antinomie, gegen die schon verschiedene sachliche Bedenken sprachen, auch nicht den nötigen Zuschnitt hat, um den textlichen Engpaß zu nehmen: so die Deutung der Antinomie als Konflikt zwischen Tugendmaxime und Begierde nach Glückseligkeit, als Streit zwischen Pflicht- und Glücksethik, als Antagonismus von Sittlichkeit und Glückserfahrung oder als Konflikt von Pflichten, um nur einige prominentere aus der Sammlung zu nennen (vgl. Kap. 3.6 und 3.11).
5 Ursprung und Struktur der Antinomie der praktischen Vernunft In der Textanalyse des Antinomiekapitels ließ sich mit hinreichender Sicherheit klären, welches Problem sich Kants Intention wie dem Sachgehalt seiner Argumente nach (was sich freilich nicht trennen ließ) hinter dem Titel einer »Antinomie der praktischen Vernunft« verbirgt. Angesichts der widersprüchlichen Angaben in der einschlägigen Kant-Literatur ist dies schon ein erstes wichtiges Ergebnis. Wichtig für eine sachliche Beurteilung der Antinomie der praktischen Vernunft ist die Aufklärung des Ursprungs und der Struktur des Problems. Kant hat die Dialektik der praktischen Vernunft in Entsprechimg zu jener der theoretischen Vernunft gesetzt. Ich gehe diesem Anspruch nach, um so die inhaltlichen und formalen Besonderheiten der Problemkonstellation in der Kritik der praktischen Vernunft deutlicher hervortreten zu lassen.
5.1 Parallelität der Dialektik von reiner theoretischer und reiner praktischer Vernunft? Die Behauptimg, daß man den Streit um die Möglichkeit des höchsten Gutes als Antinomie der Vernunft im Sinne der ersten Kritik bezeichnen könne, orientierte sich vor allem an zwei Kriterien: (1) Es muß sich u m den Widerstreit zweier kontradiktorischer Urteile handeln, und (2) für beide Urteile gibt es notwendige Vernunftbedingungen ihrer Gültigkeit (vgl. oben S. 174). In den allgemeinen einleitenden Ausführungen zur Dialektik der praktischen Vernunft (vor allem KpV A 192196) scheint Kant eine noch weiterreichende Entsprechung zu den Antinomien der Kritik der reinen Vernunft im Auge gehabt zu haben: Wie die spekulative Vernunft gehe auch die »reine praktische Vernunft« von einem gegebenen Bedingten aus und suche dazu das Unbedingte in Gestalt der unbedingten Totalität ihres Gegenstandes. Dabei erliege sie derselben »sehr natürlichen Voraussetzung, die Gegenstände der Sinne für die Dinge an sich selbst zu halten« (KU Β 243, vgl. oben S. 102), und suche
Parallelität der Dialektik von reiner theoretischer und reiner praktischer Vernunft?
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die absolute Totalität in der Reihe des Bedingten und der Bedingungen, wo sie jedoch niemals zu finden sei. Wegen dieser unvermeidlichen Täuschung entgehe auch sie nicht einem »dialektischen Vernunftschluß«, den Kant in der Kritik der reinen Vernunft (A 339/Β 397) so beschrieben hatte: Er enthält keine empirischen Prämissen1; durch ihn schließen »wir von etwas, das wir kennen, auf etwas anderes wovon wir doch keinen Begriff haben, und dem wir gleichwohl, durch einen unvermeidlichen Schein, objektive Realität geben«. »Die aufrichtig angestellten und nicht verhehlten Widersprüche der reinen praktischen Vernunft mit ihr selbst« nötigen daher auch die Vernunft in ihrem praktischen Gebrauch »zur vollständigen Kritik ihres eigenen Vermögens« (KpV A 196), wobei Kritik hier wie in der Kritik der reinen Vernunft »Einschränkung des Vernunftgebrauchs« bedeuten müßte. Ganz im Sinne der starken Parallele, also eines dialektischen Fehlschlusses auch der reinen praktischen Vernunft, hat dann auch M. Albrecht die Dialektik in der Kritik der praktischen Vernunft interpretiert2: Diejenige »Schlußart, die in der Kritik der reinen Vernunft der Antinomie zugrunde lag«, gelte für die zweite Kritik als »die dialektische Schlußart überhaupt«3. Etwas anders hatte L.W. Beck die Verhältnisse beurteilt. Auch er folgte Kant darin, daß die Vernunft bei der Suche nach dem Unbedingten im Sinne der Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft einer dialektischen Täuschung erliege, meinte aber, daß die Suche nach unbedingten Bedingungen eine Funktion der theoretischen Vernunft sei, auch wenn sie sich dabei auf »praktische Data« beziehe; die reine praktische Vernunft als solche habe keine Dialektik und erzeuge keinen dialektischen Schein: »The illusions are theoretical illusions about morality, not moral illusions«4. In der Tat 1
2 3 4
Bei den Antinomien, der »zweite[n] Klasse der vernünftelnden Schlüsse« (KrVA 3 4 0 / B 398), die hier das Vergleichsstück bildet, heißt dies: Er enthält eine nicht-empirische (Vernunft-)Prämisse, nämlich den Obersatz: »Wenn das Bedingte gegeben ist, so ist auch die ganze Reihe aller Bedingungen desselben gegeben« (KrVA497/B 525, vgl. KrVA 307 f./B 364, A 409/B 436). Vgl. dazu unten S. 218. Vgl. M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 95-107, bes. 101-103, ferner S. 167,180 und 187 f. M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 102 Anm. 318. L.W. Beck, A Commentary, S. 241 (dt. S. 224), Hervorhebungen im Original. In einem unaufgelösten Kontrast, um nicht zu sagen: Widerspruch, scheint mir dazu Becks Behauptimg zu stehen, die Dialektik in der Kritik der praktischen Vernunft sei ein Konflikt zwischen den Ideen der reinen praktischen Vernunft; deshalb sei eine negative, einschränkende
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5 Ursprung und Struktur der Antinomie der praktischen Vernunft
scheint ja das Erschließen von unbedingten Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten eher ein Akt der erkennenden Vernunft zu sein. Es ist also genauer zu prüfen, welcher Art der Gebrauch der Vernunft bei der Suche nach der unbedingten Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft ist und in welchem Sinne dabei eine Dialektik im Spiel ist. Es gibt gute Gründe, dabei Kants eigene Deutung der Dialektik der praktischen Vernunft nicht unbesehen zu übernehmen. Schon bei der allgemeinen Problemexposition zeigte sich, daß die bean-
Kritik auch der reinen praktischen Vernunft, nicht nur der empirisch praktischen, erforderlich (ebd. S. 44, dt. S. 54, vgl. auch S. 46, dt. S. 56). - Mit dem Begriff der dialektischen Täuschung geht L.W. Beck überhaupt etwas großzügig um; neben der genannten entdeckt er in der Kritik der praktischen Vernunft mindestens noch zwei weitere Täuschungen (ebd. S. 241 f., dt. S. 224 f.): (1) eine Täuschung »arising from hope based upon performance of duty«, die das Hauptproblem in der Dialektik der praktischen Vernunft bilde, und (2) »the illusion that there is a necessary conflict between theoretical und practical reason and that the first Critique forbade him to do what he does in the second«, wobei Beck aber nicht das Antinomiekapitel im Blick hat, sondern den Konflikt der Interessen der theoretischen und praktischen Vernunft, wie Kant ihn im Anschluß an die »Kritische Auflösung der Antinomie der praktischen Vernunft« beschreibt (KpVA 215-219). (Ad 1) Daß Beck die Hoffnungen, wie sie in den Postulaten der praktischen Vernunft zum Ausdruck kommen, mit den dialektischen Täuschungen in Zusammenhang bringt, ist einigermaßen befremdlich, da die Postulatenlehre gemeinhin zur Aufhebung der Dialektik in einen direkten oder indirekten Bezug gesetzt wird. Beck bleibt hier auch nähere Erklärungen seiner Interpretation schuldig; sie steht aber vermutlich im Zusammenhang mit seiner (ebenfalls nicht näher belegten) These, daß Kant mit seiner Antinomie im Begriff des höchsten Gutes zeigen wolle, daß er in der Postulatenlehre keine spekulativen Ansprüche erhebe; die Antinomie sei auch als eine Antwort auf einen entsprechenden Einwand H. A. Pistorius' zu verstehen (ebd. S. 16, dt. 26 f.; zu Pistorius s. unten S. 233 f. Anm. 48 und S. 376 Anm. 32). (Ad 2) Ein Konflikt von Interessen der theoretischen und praktischen Vernunft ist kein dialektischer Widerstreit. Wenn Kant das Problem auf der subjektiven Ebene von Interessen erörtert, dann ist die Aufhebung des antinomischen Widerspruchs, in dem ein objektiver Sachverhalt (die Möglichkeit des höchsten Gutes) aus Vernunftgründen zugleich postuliert und bestritten wurde, bereits vorausgesetzt. Kant selbst macht dies in KpVA 216 hinreichend deutlich: Die Widerspruchsfreiheit der Prinzipien und Behauptungen der Vernunft »macht keinen Teil ihres Interesses aus, sondern ist die Bedingung, überhaupt Vernunft zu haben«; diese elementare Forderung ist also hier als erfüllt vorauszusetzen. Daher lautet die Frage hier auch, »welches Interesse das oberste sei (nicht, welches weichen müßte, denn eines widerstreitet dem anderen nicht notwendig [wie es antinomische Behauptungen tun])« (KpVA216 f.). Die Zurückführung des Konfliktes von theoretischer und praktischer Vernunft auf subjektive Gründe und Interessen bedeutet ja schon die Relativierung von Behauptungen und Prinzipien. Von einem »Widerstreit der Vernunft mit ihr selbst« spricht Kant hier auch nur hypothetisch: Er entstünde, wenn das Interesse der theoretischen Vernunft nicht dem der praktischen Vernunft untergeordnet würde (KpVA 219); und es ist nicht zu sehen, was nach der Aufhebung der Antinomie dieser Unterordnung noch im Weg stünde.
Die Suche der reinen praktischen Vernunft nach dem Unbedingten
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spruchte Parallele zu den Antinomien der theoretischen Vernunft etwas prima facie Unplausibles hat: Mit dem moralischen Gesetz, das die Beförderung des höchsten Gutes zur Pflicht macht, ist auch dessen Korrelat, die Freiheit, vorausgesetzt, »und zwar in derjenigen absoluten Bedeutung genommen, worin die spekulative Vernunft beim Gebrauche des Begriffs der Kausalität sie bedurfte, um sich wider die Antinomie zu retten« (KpV A 4). Die Dialektik in der zweiten Kritik setzt damit die kritische Grundunterscheidung der Dinge an sich selbst und Erscheinungen voraus, die den Schlüssel zur Auflösung der Antinomien enthält (vgl. KrVA 490 ff./B 518 ff.). Es ist nicht zu erkennen, wie es unter diesen Umständen noch einmal zu einer dialektischen Täuschung von derselben Art kommen könnte (vgl. oben S. 102 f.). Diese Bedenken erhalten weitere Nahrung, wenn man sieht, daß Kants eigene »Metatheorie« zur Dialektik der Vernunft in ihrem praktischen Gebrauch keine adäquate Beschreibung dessen ist, was er der Sache nach ausführt.
5.2 Die Suche der reinen praktischen Vernunft nach dem Unbedingten Nach Kants Beschreibimg in KpV A 192-194 beginnt die praktische Vernunft ihre Suche nach der unbedingten Totalität ihres Gegenstandes bei dem Praktisch-Bedingten, bei dem, »was auf Neigungen und Naturbedürfnis beruht« (KpVA194) und als Bedingtes sinnlich-empirisch gegeben ist, und sucht dazu die Totalität der Bedingungen. So war Kant tatsächlich im Beweis der Thesis der Freiheitsantinomie verfahren: Das gegebene Bedingte ist, so das Argument, nur dann hinreichend kausal bestimmt denkbar, wenn eine Kausalität durch Freiheit angenommen wird, die absolut spontan zu wirken anfängt. Eine erschlossene unbedingte Ursache scheint zur vollständigen Erklärung der Ereignisse in der Welt notwendig zu sein5, sie liegt sozusagen in der direkten gedanklichen Verlängerung der empirischen Welt. Der Titel für alles, »was auf Neigungen und Naturbedürfnis beruht«, ist bei Kant das Glück oder die Glückseligkeit (vgl. oben S. 101). In Analogie zur Freiheitsantinomie müßte man also erwarten, daß Kant, 5
Vgl. KrVA444-446/B 472-474.
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5 Ursprung und Struktur der Antinomie der praktischen Vernunft
von dem natürlichen, empirischen Bedürfnis nach Glück ausgehend, die unbedingte Totalität der Bedingungen »unter dem Namen des höchsten Guts« dialektisch erschließt. Ist das der Fall? Das »Unbedingte« oder die »Totalität« meint im Bereich der praktischen Vernunft natürlich nicht (jedenfalls nicht primär) ontologische Bedingung im Sinne regressiver oder progressiver Kausalketten von Ursachen und Wirkungen, sondern axiologische Geltungsbedingungen des moralischen Wertes und der moralisch legitimierten Realität. Das ist nicht nur die Frage nach der obersten Bedingung (supremum, originarium) »aller unserer Bewerbung um Glückseligkeit« (KpV A 198), sondern vor allem die nach der moralischen Welt, in der die Erfüllung des Glücksstrebens gemäß einer allgemeinen Bedingung sittlich gerechtfertigt und auch nach einer allgemeinen Regel gewährt wird (consummatum, perfectissimum, vgl. oben S. 107 f.). Geben wir nun dieser praktisch-unbedingten Totalität nach Kant »durch einen unvermeidlichen Schein« objektive Realität? Oder spezifischer gefragt: Halten wir die Totalität für moralisch verbindlich, indem wir die Sphäre bedingter Werte und Zwecke in einem dialektischen Vernunftschluß auf eine Welt unbedingter Geltung und Zwecke hin überschreiten? Man tut gut daran, sich klarzumachen, was eine strenge Parallele zur Dialektik der theoretischen Vernunft bedeuten würde. Nach Kant lag den kosmologischen Antinomien in der ersten Kritik folgender dialektischer Syllogismus zugrunde6: Obersatz:
Untersatz: Schlußsatz:
Wenn das Bedingte gegeben ist, so ist auch die Totalität der Bedingungen desselben, mithin das Unbedingte gegeben. Nun sind uns Gegenstände der Sinne als bedingt gegeben. Also ist auch die Totalität der Bedingungen dazu, mithin das Unbedingte gegeben.
In Analogie dazu hätte ein dialektischer Vernunftschluß der praktischen Vernunft folgende Gestalt:
6
Vgl. KrVA497/B 525, ferner Kr VA307 f./B 364, A 409/B 436.
Die Suche der reinen praktischen Vernunft nach dem Unbedingten
Obersatz:
Untersatz: Schlußsatz:
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Wenn das Praktisch-Bedingte gegeben ist, so ist auch die Totalität der Bedingungen desselben, mithin das Praktisch-Unbedingte gegeben. Nun ist uns das Bedürfnis nach Glück als praktisch-bedingt gegeben. Also ist auch die Totalität der Bedingungen dazu, mithin das Praktisch-Unbedingte gegeben.
Den Obersatz des theoretischen Vernunftschlusses hatte Kant in bezug auf Dinge an sich selbst ausdrücklich als gültig angesehen; darin lag ja der Schein einer Berechtigung der kosmologischen Schlüsse; dialektisch wird der Schluß erst in der Anwendung auf Erfahrungsgegenstände7. Der Obersatz des »praktischen« Vernunftschlusses ist dagegen 7
Vgl. KrVΒ XX, A 498 ff./Β 526 ff., femer Refi. Nr. 5553 (AA XVm, S. 223), Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik, AA XX, S. 290. - An anderen Stellen nimmt Kant dem Schluß »vom Zufälligen auf eine Ursache« jede Anwendungsmöglichkeit außerhalb der Sinnenwelt: als rein »transzendentaler Grundsatz« habe er »nicht einmal einen Sinn«, »gar keine Bedeutung und kein Merkmal seines Gebrauchs« (KrV A609/B 637). Daß aber die Gültigkeit des Obersatzes in bezug auf Dinge an sich selbst unangetastet bleibt, ist Voraussetzung dafür, daß Kant aus den Antinomien den Schluß ziehen kann, daß die Erfahrungsgegenstände in Raum und Zeit nur Erscheinungen sind, nicht Dinge an sich selbst, bei denen die Totalität ihrer Bedingungen stets gegeben ist (vgl. dazu oben S. 104 Anm. 9 und unten S. 243 Anm. 67). Folgt man dieser Aussagenlinie, dann muß man in einer Umkehrung der bekannteren Wendung von der Restriktion unserer Erkenntnis sagen, Kritik bestehe bei Kant darin, die Gültigkeit allgemeiner ontologischer Sätze (wie des Schlusses vom Bedingten auf das Unbedingte) auf Dinge an sich selbst zu restringieren und ihm jede Anwendungsmöglichkeit auf Gegenstände unserer Erkenntnis zu nehmen. Kant erklärt den Syllogismus nicht deswegen für falsch, weil der Obersatz ungültig wäre, sondern weil das Bedingte in Ober- und Untersatz in verschiedener Bedeutung vorkommt und daher der Obersatz nicht auf den Untersatz angewendet werden darf; Bedingtes in empirischer Bedeutung ist möglich, auch ohne daß die vollständige Reihe seiner Bedingungen gegeben ist (vgl. KrV A 497 ff./B 526 ff.). - Einen förmlichen Beweis des Obersatzes hat Kant m. W. nicht geführt. Er würde natürlich sofort mit folgendem Problem konfrontieren: In der Kritik der reinen Vernunft sagt Kant, dieser Grundsatz sei »offenbar synthetisch; denn das Bedingte bezieht sich analytisch zwar auf irgendeine Bedingung, aber nicht aufs Unbedingte« (KrVA 308/B 364, vgl. A 247/B 303, A 498/B 526). Wie aber ein synthetisches Prinzip von Dingen an sich selbst begründet werden könnte, ist nach der Kritik nicht mehr zu sehen, die es als unmöglich betrachtet, »von Dingen an sich selbst etwas durch den reinen Verstand synthetisch« zu sagen (KrVA276/B 332, vgl. A 259/B 314 f.). In der Kritik der praktischen Vernunft betrachtet Kant es dagegen als einen »analytische[n] Grundsatz der reinen spekulativen Vernunft«, daß es »zu aller Reihe der Bedingungen notwendig etwas Unbedingtes, mithin auch eine sich gänzlich von selbst bestimmende Kausalität geben« muß (KpVA 83 f.). Analytisch wahr wäre der Satz, wenn seine Negation einen Widerspruch implizierte (vgl. KrVA150-153/B 189-193), und das wieder-
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in der Kantischen Philosophie schon vom Typ her unbekannt. Ein solches Theorem hätte einen enormen Wert für die praktische Philosophie Kants; denn mit seiner Hilfe könnte man die Existenz von praktisch Unbedingtem deduzieren;
die Lehre vom Faktum der unbedingten Ver-
pflichtung wäre dann überflüssig8. Aber der Schluß vom Praktisch-Bedingten zum Praktisch-Unbedingten ist nicht gültig, wie sich leicht zeigen läßt: Praktisch-unbedingt ist bei Kant dasjenige, was unter allen um ist alles andere als offensichtlich. In der Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik aus den frühen 90er Jahren zählt Kant einerseits die »Totalität der aufsteigenden Reihe« samt dem Unbedingten zu den »synthetischen Bedingungen (principia) der Möglichkeit der Dinge« (AA XX, S. 287), besteht aber gleichzeitig darauf, daß »eine Totalität... der Bedingungen, in einer Reihe von lauter Bedingtem« »ein Widerspruch« sei (AA XX, S. 290, vgl. S. 287 und S. 288 Anm.), was bedeutet, daß sie analytisch die Vorstellung eines ersten Unbedingten enthält. Die Aussagen Kants müssen sich hier aber nicht zwangsläufig widersprechen; möglicherweise hat Kant gemeint, daß zwar die Idee der Totalität der Bedingungen synthetisch zu der Vorstellung eines Bedingten hinzukomme, diese Idee der Totalität der Bedingungen aber analytisch die Vorstellung eines ersten Unbedingten impliziere. Schwer zu sehen ist allerdings, ob und wie folgende diversen Aussagen Kants miteinander vereinbar sind: (1) Das Prinzip »Wenn das Bedingte gegeben ist, so ist auch die Totalität der Bedingungen desselben, mithin das Unbedingte gegeben« ist ein in bezug auf Dinge an sich gültiger synthetischer Satz (vgl. KrVΒ XX, A 498 ff./Β 526 ff. u. ö.); (2) das Bedingte bezieht sich analytisch auf irgendeine Bedingung (KrV A 308/B 364); (3) der Grundsatz der Kausalität ist ein synthetisches Prinzip (und zwar noch ohne Rücksicht auf die Totalität der Bedingungsreihe), das nur in bezug auf mögliche Erfahrung in der Sinnenwelt eine objektive Bedeutung hat (KrVA609/B 637 in Übereinstimmung mit dem, was Kant KrV A154 ff./B 193 ff. zur Möglichkeit synthetischer Urteile a priori sagt). Deutlicher, als Kant dies tut, muß man wohl zwischen rein semantischen und realen Relationen unterscheiden: Es liegt im Begriff der Ursache (der Bedingung), daß sie auf eine Wirkung (ein Bedingtes) bezogen ist und umgekehrt; insofern ist analytisch (semantisch) das eine im anderen enthalten. Davon unterschieden ist die Frage, wie ich ein reales Ereignis A, in dessen Begriff das Ursachesein (noch) nicht analytisch liegt, als Ursache bestimmen kann, so daß ein anderes reales Ereignis Β die Wirkung davon ist. Genauer gesprochen ist dann nicht die Verknüpfung von Ursache und Wirkung synthetisch, sondern die Bestimmung »Ursache von Β sein« kommt zum Begriff von A synthetisch hinzu. Vgl. zu dieser Differenzierung schon Kants frühe Schrift (1763): Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen (AA Π, S. 202 f.), wo zwar nicht terminologisch, aber doch der Sache nach von synthetischen und analytischen Urteilen die Rede ist. 8
Der Schluß würde zwar nur beweisen, daß es so etwas wie ein Praktisch-Unbedingtes gibt, es aber noch nicht näher bestimmen. Welche Form ein praktisch-unbedingtes Gesetz haben müßte, falls es ein solches gibt, begründet Kant in der Kritik der praktischen Vernunft aber schon vor der Faktumlehre und unabhängig von ihr (vgl. KpVA. 35-52, §§ 1-6). Wüßte man, daß es ein Praktisch-Unbedingtes gibt, würde man also auch seinen Inhalt kennen. Vgl. auch Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 440: Daß das »Princip der Autonomie das alleinige Princip der Moral sei, läßt sich durch bloße Zergliederung der Begriffe der Sittlichkeit gar wohl darthun«, nicht aber seine Geltung als kategorisch gebietender Imperativ (vgl. ebd. S. 445).
Die Suche der reinen praktischen Vernunft nach dem Unbedingten
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Umständen gut und dem alle anderen Werte, die »auf Neigungen und Naturbedürfnis« beruhen, untergeordnet sind. Daraus ergibt sich aber nicht, daß die »niedrigeren« Werte in ihrer erfahrenen Werthaftigkeit durch das Praktisch-Unbedingte (die Tugend) bedingt sind und es voraussetzen; sie implizieren auch keine praktisch-unbedingte Totalität von Werten, wie sie im höchsten Gut Kants gedacht wird9. Wer die Tugend zur notwendigen Bedingung der faktischen Glückserfahrung macht, argumentiert nach Kant zirkulär10. Es ist bei Kant auch nirgendwo die Rede davon, daß wir aufgrund eines dialektischen Scheins das PraktischBedingte durch das Praktisch-Unbedingte bedingt denken müssen. Wo Kant konkreter von der Sache handelt, nimmt seine Argumentation von Anfang an einen signifikant anderen Gang. Von besonderem Interesse ist hier die Prozedur bei der Begriffsbestimmung des höchsten Gutes: Kant sucht nicht zu einem gegebenen Bedingten, was auch immer es sei, die Totalität seiner Bedingungen; es fehlt hier überhaupt die für das dialektische Schließen charakteristische Bewegung von »unten« nach »oben«, vom Bedingten zur Bedingung. Er statuiert vielmehr gleich vom Standpunkt der reinen praktischen Vernunft aus absolute Geltungen und Zwecksetzungen. Was das Praktisch-Unbedingte und Höchste im Sinne der obersten einschränkenden Bedingung des Glücksstrebens angeht, so verweist Kant auf die Analytik der Kritik der praktischen Vernunft: Oberstes Gut kann nur die Tugend sein (KpV A 198), und diese imbedingte Bedingimg liegt bekanntlich nicht in einer vermeintlich natürlichen Verlängerung dessen, »was auf Neigungen und Naturbedürfnis beruht«, sondern wird in
9
10
Vgl. A. Hägerström, Kants Ethik, S. 549 f. - Aristoteles hat ein Argument als Schluß formuliert, das in der einen oder anderen Form vielen Vollkommenheitsphilosophien und -theologien zugrunde liegt: »Allgemein nämlich gilt: Wo es ein Besseres gibt, da gibt es auch ein Bestes. Da nun von dem Seienden eines besser als das andere ist, gibt es also auch ein Bestes. Dies wäre dann das Göttliche« (Über die Philosophie, Fragment 16, in: W. D. Ross (Hrsg.), Aristotelis Fragmenta Selecta, Oxford 1955, S. 84); dabei gilt, daß dieses göttlich Beste allem anderen Guten vorangeht. Problem des Arguments ist, nicht nur aus Kantischer Sicht, die Unbestimmtheit oder Mehrdeutigkeit des Begriffs des Guten. Versteht man darunter wie Kant primär das Moralisch-Gute, ist das aristotelische Argument jedenfalls ungültig: Der moralisch geforderten Unterordnung aller Werte unter das Moralisch-Gute entspricht keine erkennbare reale Abhängigkeit der Werte von einem Guten oder Besten. Das macht ja das Problem des höchsten Gutes bei Kant aus. Vgl. oben S. 157 Anm. 142.
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5 Ursprung und Struktur der Antinomie der praktischen Vernunft
schärfster Abgrenzving davon eingeführt. Die Notwendigkeit der Tugend basiert auf dem moralischen Gesetz, und dieses Praktisch-Unbedingte ist nach Kant als Faktum der praktischen Vernunft unmittelbar gegebeni11; sie braucht nicht erst im Ausgang von empirisch-sinnlich Gegebenem erschlossen zu werden: »Dieser Grundsatz aber bedarf keines Suchens und keiner Erfindving; er ist längst in aller Menschen Vernunft gewesen und ihrem Wesen einverleibt« (KpV A 188). Auch M. Albrecht hebt hervor, daß sich die Vernunft »im Rahmen der Fragestellung der "Analytik" ... in keine dialektischen Schlüsse« verwickelt 12 und sich dieses Praktisch-Unbedingte »von den Formen des Unbedingten im theoretischen Gebrauch grundlegend unterscheidet«13. Aber auch die Suche nach dem Praktisch-Unbedingten im Sinne der Totalität des höchsten Gutes hat anders, als Albrecht meint 14 , nicht wirklich eine strukturelle Ähnlichkeit mit der Suche der theoretischen Vernunft. Die Notwendigkeit der Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit verdankt sich nicht der wirklichen oder vermeintlichen Notwendigkeit eines Vernunftschlusses. Aus dem, »was auf Neigungen und Naturbedürfnis beruht«, läßt sich in keiner Weise schließen, daß es nur in Proportion zur Tugend verwirklicht ist oder sein soll. Wenn eine solche Totalität bei Kant gefordert ist, dann nur aufgrund von genuinen Vorgaben und Wertsetzungen der moralisch-praktischen Vernunft, weil es etwa der Würde des Menschen als Zwecks an sich widerspräche, die ihm als moralisch-autonomem Subjekt zukommt, wenn er als glücksbedürftiges Wesen nicht auch im Maße seiner Tugendhaftigkeit Anteil am Glück hätte (KpVA199, vgl. oben S. 109 f.), Wertsetzungen, die Kant nie als Schluß aus gegebenem Praktisch-Bedingten auf Unbedingtes dargestellt hat. Kants tatsächliche Argumentation für die Idee des höchsten Gutes entspricht also nicht, wie er behauptet, der Suche der theoretischen 11
12 13
"
Vgl. auch die Formulierung in den einführenden Erörterungen zur Dialektik der reinen praktischen Vernunft: Das Unbedingte »als Bestimmungsgrund des Willens« ist »(im moralischen Gesetze) gegeben« (KpVA194, Hervorhebung von mir). Zu den unterschiedlichen Ausgangspunkten der Dialektik in der ersten und zweiten Kritik vgl. auch K. Nitzschke, Das Antinomienproblem, S. 144. M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 56 f. M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 180 Anm. 611. Ebd.
Die Suche der reinen praktischen Vernunft nach dem Unbedingten
223
Vernunft nach der absoluten Totalität der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten. Das Praktisch-Unbedingte ist entweder in Gestalt des moralischen Gesetzes schon a priori gegeben und muß nicht erst gesucht werden, oder es ist die Idee einer moralischen Welt, die die Vernunft aus autonomer praktischer Kompetenz entwirft und nicht als Bedingimg zu einem gegebenen Bedingten erschließt. Es fehlen daher auch bei der Begründung des Praktisch-Unbedingten alle Elemente eines indirekten Beweises, die für den Schluß auf das Unbedingte in der ersten Kritik charakteristisch waren. Gegen L.W. Beck 15 gilt deshalb, daß die Suche nach der unbedingten Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft keine Tätigkeit der schließend-erkennenden theoretischen Vernunft ist, sondern eher einem genuin praktischen Diskurs angehört, mit einem eigenen, direkten Ausgriff auf das Unbedingte. Es ist bei Kant allerdings nicht immer einfach, einen Begriff oder eine Idee eindeutig und ausschließlich der theoretischen oder praktischen Vernunft zuzuordnen. In KrVA 633/B 661 erklärt er zwar relativ eindeutig »die theoretische Erkenntnis durch eine solche ..., wodurch ich erkenne, was da ist, die praktische aber, dadurch ich mir vorstelle, was da sein soll. Diesem nach ist der theoretische Gebrauch der Vernunft derjenige, durch den ich a priori (als notwendig) erkenne, daß etwas sei; der praktische aber, durch den a priori erkannt wird, was geschehen solle«16. Bezeichnenderweise gibt es gerade bei der Idee des höchsten Gutes Probleme, da Kant selbst hier nicht einheitlich verfahren ist. In der ersten Kritik heißt es ausdrücklich, die Annahme, »daß jedermann die Glückseligkeit in demselben Maße zu hoffen Ursache habe, als er sich derselben in seinem Verhalten würdig gemacht hat, und daß also das System der Sittlichkeit mit dem der Glückseligkeit unzertrennlich, aber nur in der Idee der reinen Vernunft verbunden sei«, sei »notwendig ... nach der Vernunft, in ihrem theoretischen Gebrauch«17. In der 15 16 17
L.W. Beck, A Commentary, S. 241 (dt. S. 224). Hervorhebungen im Original; vgl. auch KrVA 840/Β 868. KrVA809/B 837, Hervorhebung im Original. In KrVA805/B 833 heißt es noch etwas differenzierter: »Die dritte Frage, nämlich: wenn ich nun tue, was ich soll, was darf ich alsdann hoffen? ist praktisch und theoretisch zugleich, so, daß das Praktische nur als ein Leitfaden zur Beantwortung der theoretischen, und, wenn diese hoch geht, spekulativen Frage führt«. Zur Unterscheidung von theoretischer und spekulativer Erkenntnis s. KrVA 634 f./B 662 f.
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5 Ursprung und Struktur der Antinomie der praktischen Vernunft
Kritik der praktischen Vernunft bestimmt Kant ebenso unmißverständlich das höchste Gut als notwendiges Objekt der praktischen Vernunft, als Inbegriff dessen, was durch unseren Willen wirklich werden soll. Dieser auffallende Wechsel ist aber weniger ein Indiz für ein Schwanken und eine Unsicherheit Kants bei der Zuordnung des höchsten Gutes, sondern Folge der Revision der ethischen Prinzipienlehre: In der Ethik, wie sie für die erste Kritik maßgeblich ist, ist das höchste Gut die ontologische Bedingung, deren Existenz (und nicht nur Möglichkeit) vorauszusetzen ist, damit das (an sich schon verbindliche) Sittengesetz auch für den Menschen als sinnlich-vernünftiges Wesen unzweideutig gilt und eine Triebfeder erhält. Dort implizierte die Verbindlichkeit der moralischen Gesetze den Schluß von einem Bedingten auf dessen Bedingung: Daß etwas geschehen solle, war zwar auch hier »tingezweifelt gewiß, aber doch nur bedingt«; erst indem man von dem schlechterdings notwendigen Bedingten (dem moralischen Gesetz) auf die Bedingungen (die Existenz Gottes und die Seelenunsterblichkeit) schloß und so die Hoffnung auf eine der Tugend proportionierte Glückseligkeit begründete, konnte das Sittengesetz seine volle sittliche Verbindlichkeit gewinnen (KrVA 633 f./B 661 f.)18. Diesen Schluß setzte Kant dort auch ausdrücklich in Entsprechung zum kosmologischen Schluß auf eine erste Ursache: »Denn alles Hoffen geht auf Glückseligkeit, und ist in Absicht auf das Praktische und das Sittengesetz eben dasselbe, was das Wissen und das Naturgesetz in Ansehung der theoretischen Erkenntnis der Dinge ist. Jenes läuft zuletzt auf den Schluß hinaus, daß etwas sei (was den letzten möglichen Zweck [sc. das höchste Gut] bestimmt), weil etwas geschehen soll; dieses, daß etwas sei (was als oberste Ursache wirkt), weil etwas geschieht«19. Dort hätte in der Tat die Parallele zum kosmologischen Schluß Grund für die Vermutung sein können, daß auch die Idee des höchsten Gutes - wie gesagt: hier ein Gegenstand der Vernunft in ihrem theoretischen Gebrauch - sich einem dialektischen Vernunftschluß verdanke. Kant selbst hat das in der Kritik der reinen Vernunft nicht so gesehen.
18
19
Vgl. unten Kap. 6.2. Zu den immanenten Schwierigkeiten dieser Ethik-Begründung s. Kap. 6.5. KrVASQ5 f./B 833 f., Hervorhebungen im Original.
Die Suche der reinen praktischen Vernunft nach dem Unbedingten
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Mit der Lehre vom Faktum des moralischen Gesetzes und der Achtung als einziger moralisch legitimer Triebfeder sucht Kant in der Kritik der praktischen Vernunft die Gültigkeit des moralischen Gesetzes ganz unabhängig von zuvor zu postulierenden ontologischen Prämissen zu machen 20 . Das höchste Gut ist nicht mehr als Bedingung der praktischen Verbindlichkeit vorausgesetzt, sondern der Endzweck, der durch das »für sich selbst apodiktisch gewisse[.]«21 moralische Gesetz zum letzten Ziel aller sittlichen Anstrengungen gemacht ist; die Notwendigkeit der Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit und der Realisierung dieses Objekts, so zumindest die Intention, folgt nun aus der autonomen praktischen Vernunft. Das höchste Gut wird daher als »die unbedingte Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft« ( K p V A 194) definiert 2 2 . Dies muß nicht ausschließen, daß im höchsten Gut auch die Gültigkeit theoretischer Erkenntnisse vorausgesetzt ist, damit es ein plausibler Endzweck der sittlichen Anstrengung von Menschen ist; zu denken wäre vor allem an die anthropologische Aussage, daß der Mensch aufgrund seines Wesens notwendig nach Glück strebt 23 . Man 20 21 22
23
Vgl. die markante Formulierung KpVA257. Ebd. E. Förster gab folgende Erklärung für die neue Zuordnung des höchsten Gutes: »Da Kant hier [sc. in der Kritik der praktischen Vernunft ] aber das höchste Gut in einem jenseitigen Leben ansiedelt, entzieht er es zugleich dem Zustandsbereich [Zuständigkeitsbereich?] der theoretischen Vernunft«: "Was darf ich hoffen?". Zum Problem der Vereinbarkeit von theoretischer und praktischer Vernunft bei Immanuel Kant, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 46.2 (1992), S. 168-185, hier S. 170. Diese Erklärung überzeugt aus einem doppelten Grunde nicht: Erstens ist hier der Fall nicht gegeben. Es ist zumindest sehr zweifelhaft, ob Kant in der zweiten Kritik das höchste Gut eindeutig in einem Jenseits ansiedelt; in KpVA207 ζ. B. spricht er von dem notwendigen Zusammenhang der Tugend »als Ursache mit der Glückseligkeit als Wirkung in der Sinnenwelt« (Hervorhebung von mir). Zweitens ist der Zusammenhang, den Förster hier ad hoc konstruiert, nicht gültig. Denn da, wo Kant das höchste Gut tatsächlich eindeutig und ausschließlich einer »künftigen Welt« vorbehält, in der ersten Kritik (vgl. A 811/B 839, A 828-830/B 856-858), hatte er die Hoffnung auf eine »andere Welt« als »notwendig ... nach der Vernunft, in ihrem theoretischen Gebrauch« betrachtet (KrVA809/B 837, Hervorhebung im Original). Dies ist nach Kantischem Selbstverständnis wohl nicht, wie A. Hägerström meinte, »eine Einsicht, die in der reinen theoretischen Vernunft ... gegründet ist«: Kants Ethik, S. 498, vgl. 499-501 und 549; Hervorhebung von mir. In gewisser Weise erkennt dies auch Hägerström an, wenn er hinzufügt, »reine theoretische Vernunft« sei »hier in weiterem Sinne genommen«; es bleibt aber bei ihm zu vage, was darunter zu verstehen ist. - Der Status der anthropologischen Aussage ist bei Kant ungeklärt. Nach KpVA 45 scheint das menschliche Verlangen nach Glück aus dem Begriff eines »vernünftigen, aber endlichen« und daher bedürftigen Wesens zu folgen; die Frage wäre also, welchen Status dieser Begriff
226
5 Ursprung und Struktur der Antinomie der praktischen Vernunft
kann auch im Zweifel darüber sein, ob Termini wie »Totalität«, »synthetische und analytische Verbindung«, »kausale Verknüpfung« etc. theoretische oder praktische Begriffe sind oder wie überhaupt rationale Argumentation in diesem Zusammenhang zu bewerten ist24. Entscheidend für eine Zuordnung scheint mir aber, daß von diesen Begriffen in bezug auf das höchste Gut kein theoietisch-erkennender Gebrauch gemacht wird, sondern sie allein der begrifflichen Spezifizierung praktisch-autonom fundierter Geltungen dienen. Wenn man daher mit Albrecht gegen Beck die Idee des höchsten Gutes in der Kritik der praktischen Vernunft für eine genuin praktische Idee hält 2 5 , dann muß man zugleich gegen Albrecht betonen, daß die von Kant behauptete Parallele zur Suche der reinen theoretischen Vernunft nach dem Unbedingten nicht zu halten ist. Daß das höchste Gut eine Idee der reinen praktischen Vernunft ist, kommt gerade darin zum Ausdruck, daß hier das Unbedingte, gleich in welcher Form, nicht erschlos-
24
25
und die Feststellung, daß der Mensch ein solches Wesen sei, haben. Vgl. auch M. Forschner, Reine Morallehre und Anthropologie. Kritische Überlegungen zum Begriff eines a priori gültigen allgemeinen praktischen Gesetzes bei Kant, in: Kants Ethik heute. Neue Hefte für Philosophie, hrsg. von R. Bubner, K. Cramer und R. Wiehl, Heft 22, Göttingen 1983, S. 25-44, hier S. 30 Anm. 15. Überhaupt ist hier von der Frage abgesehen, ob Kants Begründung des höchsten Gutes schlüssig ist; es geht nur um die Klärung, welchem Typ die Aussagen über das höchste Gut nach Kants Darstellung in der Kritik der praktischen Vernunft zuzuordnen sind, unabhängig davon, ob man die Begründung als gelungen ansieht oder nicht. Vgl. dazu die Wiedergabe der Diskussion in der Kantliteratur bei M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 167-183. Vgl. M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 177-182. Albrecht will anscheinend aber nur behaupten, daß dies Kants Meinung in der Kritik der praktischen Vernunft gewesen sei; in der sachlichen Beurteilung zeigt er sich wenig entschieden. Im Schlußkapitel hat er jedenfalls inhaltlich der Position Becks wenig entgegenzusetzen, wenn er feststellt: »Ohnehin ist die Frage schwer zu beantworten, warum es die reine praktische Vernunft ist, die hier unbedingte Totalität sucht und damit in eine Dialektik führt. An Kants Festlegung in diesem Punkt gibt es zwar nichts zu deuteln, sie liefern jedoch keine Begründung - außer der einen, daß die reine praktische Vernunft eben reine Vernunft sei« (M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 187, Hervorhebungen im Original). - Erstaunlicherweise versichert Albrecht hier nun auf einmal, »daß die Suche der reinen praktischen Vernunft nach unbedingter Totalität "unter dem Namen des höchsten Gutes" in einer Welt der Naturgesetzlichkeit ... nicht von vornherein irrig oder zumindest der "kritischen" Einschränkung bedürftig ist«; dies bezeichne »einen weiteren wichtigen Unterschied zu den Antinomien in der Kritik der reinen Vernunft« (ebd. S. 188 Anm. 623). Wie sich dieses Urteil mit seiner These vom dialektischen Schluß der praktischen Vernunft, in den sie sich »ohne jedes Zutun der theoretischen Vernunft« verwickelt (ebd. S. 171), zusammenreimt, läßt Albrecht offen. Vgl. auch unten S. 239 f.
Die Dialektik in der Antinomie der praktischen Vernunft
227
sen werden muß. Mehr noch am Detail läßt sich dies anhand der Argumentation Kants im Antinomiekapitel zeigen.
5.3 Die Dialektik in der Antinomie der praktischen Vernunft 5.3.1 Albrechts Deutung der Dialektik Auch im Antinomiekapitel wird gleich zu Beginn aus der Kompetenz der autonomen praktischen Vernunft »von oben« dekretiert: Wir sollen das höchste Gut verwirklichen, und in diesem Gut werden Tugend und Glückseligkeit als notwendig verbunden gedacht (Satz 1). Für den weiteren Gang der Argumentation scheint nun vor allem der zweite Satz der Disjunktion (»Die Maxime der Tugend muß die wirkende Ursache der Glückseligkeit sein«) besonders aufschlußreich; jedenfalls macht M. Albrecht, von dem der bisher am weitesten gediehene Versuch stammt, »dasjenige Sachproblem aufzuzeigen, das als Dialektik verstanden werden kann« 26 , diesen Satz als den eigentlichen »Ort der Dialektik« aus 27 . Auf seinen Sinn und seine Funktion im Text möchte ich daher noch einmal eingehen; die Analyse seiner Verwendung müßte Auskunft darüber geben können, worin das Dialektische in der Dialektik der Kritik der praktischen Vernunft besteht und worin nicht. Die Auseinandersetzung mit der Text- und Sachinterpretation Albrechts kann dabei zugleich als eine Art Gegenprobe für die oben erarbeitete Auslegung des Antinomiekapitels dienen. Für M. Albrecht ist der zweite Satz der Disjunktion (nach seinem Verständnis der Kantischen Darstellung: die Antithesis der Antinomie) der entscheidende Kristallisationspunkt, an dem sich die Dialektik der praktischen Vernunft niederschlägt und als »dialektischer Schluß« manifest wird 28 . In dem Satz werde »eine aus der Idee des höchsten Gutes 26 27
28
M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 101 Anm. 316. So schon die programmatische Ankündigung in der Überschrift zum einschlägigen Paragraphen: M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 95. Vgl. M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 101,105-107,185-187. Siehe dazu und zum Folgenden auch oben S. 71 f. - Albrecht macht allerdings selbst den Vorbehalt, daß sich seine Deutung des Sachproblems »nicht auf den Wortlaut des "Antinomie"-Abschnitts stützen kann« (ebd. S. 186).
228
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folgerichtig abgeleitete Aussage über die Wirklichkeit getroffen«, deren »innere Notwendigkeit ... darin begründet« sei, daß sie »aus dem "Gesetz" der reinen Vernunft, unbedingte Totalität zu suchen (und das heißt hier: nach den notwendigen Folgen tugendhaften Verhaltens zu fragen), hervorgeht« 29 . Dialektisch werde die Aussage dadurch, daß sie »die Grenzen möglicher Erfahrung«30 überschreite, indem sie eine a priori feststehende Anforderimg an die empirische Wirklichkeit formuliere und behaupte, die Erscheinungswelt solle »sich in der Art auf das moralische Verhalten beziehen, daß diesem ein genau "proportionierter" äußerer Zustand des Befindens notwendig folgt«31. Damit drücke die Aussage »den Totalitätsbegriff des höchsten Gutes in einer Weise aus, die - durch die Forderung einer "proportionierten" Glückseligkeit ein Ausgreifen auf die Welt der Erscheinungen bedeutet, ohne daß die Bedingungen beachtet werden, unter denen Aussagen über Erscheinungen möglich sind« 32 ; sie verletze, wie Albrecht an einer Stelle konkretisiert, »die Bedingungen solcher Aussagen, weil der Mensch nicht, wie sie (vor der bzw. ohne "Auflösimg") unterstellen muß, Herr der Natur und ihrer Gesetze ist. Es handelt sich also um ein "Unvermögen", das durch den a priori feststehenden Status des Menschen bedingt ist, ein "Unvermögen", das insofern "physisch" ist, als es sich auf das Verhältnis des Menschen zur Natur bezieht«33. Ein genaueres Hinsehen macht schnell klar, daß das, was Albrecht beschreibt, kein »dialektischer Vernunftschluß« ist, wie Kant ihn in der Kritik der reinen Vernunft erläutert und wie er auch der praktischen Vernunft nicht erspart bleiben soll. Unter dem Druck der faktisch anders verlaufenden Argumentation Kants kehrt sich auch bei Albrecht unversehens die Perspektive um: Hatte Kant in KpVA 194 gesagt, daß die Vernunft in ihrem praktischen Gebrauch vom gegebenen »PraktischBedingten (was auf Neigungen und Naturbedürfnis beruht)« ausgehend nach dem Unbedingten fragt, so besteht nach Albrecht das »"Gesetz" der reinen Vernunft, unbedingte Totalität zu suchen«, darin, »nach den 29 30 31 32 33
M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 186. Ebd. M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 101 f. M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 102 f., vgl. S. 109. M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 120 f.
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notwendigen Folgen tugendhaften Verhaltens zu fragen« 34 . Das heißt aber: Nicht mehr das Unbedingte, die Idee (die hier schon a priori feststeht 35 ), sondern das Bedingte, »die Folgen« werden nun gesucht, und diese Ableitung von Folgen aus einem Unbedingten ist offensichtlich kein Beispiel für einen dialektischen Vernunftschluß, vermittelst dessen wir »von etwas, das wir kennen [hier das gegebene Bedingte in der Erscheinung], auf etwas anderes schließen [das Unbedingte oder die gegebene Totalität der Bedingungen], wovon wir doch keinen Begriff haben, und dem wir gleichwohl, durch einen unvermeidlichen Schein, objektive Realität geben« 36 . Beim dialektischen Schließen steht das Unbedingte, die Idee, nicht a priori fest, sondern ist gerade das »dialektisch« Erschlossene 37 . Typisch für die Dialektik in diesem Sinne ist nicht ein »Ausgreifen auf die Welt der Erscheinungen« im Namen einer Idee 38 , sondern ein »Ausgreifen« auf das Unbedingte und die Totalität der »Gründe a parte priori« ( K r V A 332/Β 389) von der Erfahrung aus. Ausdrücklich heißt es dazu in der ersten Kritik: »Man sieht leicht, daß die reine Vernunft nichts anderes zur Absicht habe, als die absolute Totalität der Synthesis auf der Seite der Bedingungen, (es sei der Inhärenz, oder der Dependenz, oder der Konkurrenz,) und daß sie mit der absoluten Vollständigkeit von Seiten des Bedingten nichts zu schaffen habe. ... Auf solche Weise dienen die transzendentalen Ideen nur zum Aufsteigen in der Reihe der Bedingungen, bis zum Unbedingten, d. i. zu den Prinzipien. In Ansehung des Hinabgehens zum Bedingten aber, gibt es zwar einen weit erstreckten logischen Gebrauch, den unsere Vernunft von den Verstandesgesetzen macht, aber gar keinen transzendentalen, und, wenn wir uns von der absoluten Totalität einer solchen Synthesis (des progressus) eine Idee machen, ζ. B. von der ganzen Reihe aller künftigen Weltveränderungen, so ist dieses ein Gedankending (ens rationis), welches nur
34 35 36 37
38
M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 186, Hervorhebung von mir. M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 101. KrVA339/Β 397. Vgl. KrVA 339/Β 397: »Nun beruht wenigstens die transzendentale (subjektive) Realität der reinen Vernunftbegriffe darauf, daß wir durch einen notwendigen Vernunftschluß auf solche Ideen gebracht werden«, Hervorhebung von mir. Vgl. auch KrVA310/B 366: »Begriffe aus reiner Vernunft« (Ideen) sind nicht wie die Verstandesbegriffe »bloß reflektierte, sondern geschlossene Begriffe«. M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 102.
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5 Ursprung und Struktur der Antinomie der praktischen Vernunft
willkürlich gedacht, und nicht durch die Vernunft notwendig vorausgesetzt wird« 39 . Nach der Begriffsregelung der Kritik der reinen Vernunft impliziert also der Fortgang von einer Bedingung zur Totalität ihrer Folgen in der Welt keinen transzendentalen Vernunftgebrauch; deshalb kann es dabei trivialerweise auch nicht zu einem transzendental-dialektischen Mißbrauch der reinen Vernunft kommen. Man könnte einwenden, die Verhältnisse lägen in der zweiten Kritik anders, da es in der Idee des höchsten Gutes nicht um Folgen gehe, die nach Verstandesgesetzen abgeleitet werden, sondern um solche, die von der praktischen Vernunft gefordert werden 40 . Gerade dieser Unterschied verdeutlicht aber noch einmal, daß »sachlich eine Parallele zur Dialektik der Kritik der reinen Vernunft«, wie Albrecht sie mit Kant reklamiert 41 , in entscheidenden Hinsichten nicht gegeben ist. Wer den Progreß von der Idee zu den Folgen für einen dialektischen Vernunftschluß hält, muß erstens sagen, in welchem Sinne hier überhaupt ein Vernunftschluß vorliegt, und zweitens, inwiefern dieser Schluß dialektisch ist. Nach dem Dialektikbegriff der ersten Kritik ist jedenfalls nicht einzusehen, wie der Satz »Die Maxime der Tugend muß die wirkende Ursache der Glückseligkeit sein« ein dialektischer Schluß sein oder sich einem solchen verdanken kann. Albrechts Deutung des dialektischen Sachverhalts läßt sich also nicht halten. Der Blick auf den tatsächlichen Kantischen Argumentationsgang verhilft hier eher zu einer adäquaten Charakterisierung der Problemstellung.
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41
KrVA 336 f . / B 393 f., alle Hervorhebungen im Original. Ähnlich eindeutig auch Kr V A 4 1 1 / 6 438: »Die kosmologischen Ideen also beschäftigen sich mit der Totalität der regressiven Synthesis, und gehen in antecedentia, nicht in consequentia. Wenn dieses letztere geschieht, so ist es ein willkürliches und nicht notwendiges Problem der reinen Vernunft, weil wir zur vollständigen Begreiflichkeit dessen, was in der Erscheinung gegeben ist, wohl der Gründe, nicht aber der Folgen bedürfen«; vgl. insgesamt KrVA409-411/B 436438, femer KrVA331 f./B 388 f., Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik, AA XX, S. 287. Darauf insistiert R. Langthaler (Kants Ethik als "System der Zwecke", S. 280-284); er wiederholt aber nur umständlich die Sachlage bei Kant, statt sie zu analysieren. M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 103; vgl. auch S. 103 Anm. 319: »Die Dialektik [sc. der praktischen Vernunft] dürfte ... gerade darin zu sehen sein, daß der Schluß auf die Welt der Erscheinungen notwendig ist - wie auch in der Antinomie der Kritik der reinen Vernunft«.
Die Dialektik in der Antinomie der praktischen Vernunft
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5.3.2 Die Verbindung von Noumenalem und Phänomenalem in der Idee des höchsten Gutes Auch Albrecht hatte eingeräumt, daß Kant selbst den zweiten Satz der Disjunktion nicht als eine dialektische Behauptung bezeichnet hat 4 2 . Man kann dem Text noch mehr entnehmen: Eine solche Qualifikation hätte auch kaum auf der Linie der Argumentation gelegen. Der Satz ließe sich zwar unter Kantischen Prämissen leicht als »eine aus der Idee des höchsten Gutes folgerichtig abgeleitete Aussage über die Wirklichkeit« darstellen; aber von mehr Interesse ist die Beobachtung, daß Kant ihn im Antinomiekapitel nicht als einen solchen - etwa vor dem ersten Satz der Disjunktion - auszeichnet. »Abgeleitet« wird nicht ein einzelner Sachverhalt, sondern eine Disjunktion von Sachverhalten. Ableitung meint hier nicht mehr als eine schrittweise Spezifizierung des Begriffs der Verbindung von Tugend und Glückseligkeit entlang allgemeinster Unterscheidungen, von der Einteilung einer »Verbindung überhaupt« in synthetische und analytische bis zu den Möglichkeiten einer kausalen Verknüpfung der beiden Relate, wobei Kant im wesentlichen die Definitionsstücke von KpV A 199 f. wieder aufnimmt. Dabei wird der zweite Satz der Disjunktion ebenso »schematisch« - anders als bei Albrecht verbindet sich damit kein Tadel, der Ausdruck verweist nur auf ein methodisches Vorgehen - »aus der Frage der ursächlichen Verbindung zwischen Tugend und Glückseligkeit ... herausgezogen« wie der erste Satz 43 . Dieser erste Satz macht zudem deutlich, daß der Spezifikationsrahmen hier noch sehr weit gesteckt ist: das abgeleitete Resultat kann sogar eine Möglichkeit der Verbindung von Tugend und Glückseligkeit umfassen, die man als in sich inkonsistent betrachten kann (vgl. oben S. 138 f. und 147). Die Begriffe, die Kant zur Spezifizierung verwendet, implizieren noch keinen bestimmten Wirklichkeitsbegriff. Dies soll für den Begriff der kausalen Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit etwas genauer ausgeführt werden; denn es könnte scheinen, daß mittels des Kausalitätsbegriffs eine Erweiterung über die Erfahrungswelt hinaus beabsich-
42 43
Vgl.obenS.227Anm.28. Vgl. M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 187. Vgl. auch oben S. 137-139.
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tigt würde, die in Parallele zum dialektischen Gebrauch der Kausalitätskategorie im kosmologischen Beweis der dritten Antinomie der Kritik der reinen Vernunft steht. Die moralische Gesinnung ist eine Wirkung der Freiheit und als solche kein Gegenstand der Erfahrimg, sie gehört der intelligiblen Ordnung an; das Glück, mit dem die moralische Gesinnung verknüpft werden soll, ist dagegen ein sinnlich-empirischer Zustand in der Erscheinungswelt. Eine solche Verknüpfving von Noumenalem und Phänomenalem läßt sich, so scheint es, nicht mit dem kritisch restringierten Kausalitätsbegriff vereinbaren, der den Gebrauch dieser Kategorie auf Erfahrungsgegenstände einschränkt und Ursache und Wirkimg als zeitlich sukzessives Geschehen auslegt. Die geforderte Verbindung überschreitet also die Grenzen möglicher Erfahrung. Der Verdacht liegt daher nahe, daß ihr Begriff einen dialektischen Mißbrauch des Kausalitätsbegriffs involviert. Anders aber als bei der Verwendung dieses Begriffs in der spekulativen Kosmologie steht hier von vorneherein fest, daß es sich bei Tugend und Glückseligkeit um zwei »äußerst ungleichartige«44 und »spezifisch ganz verschiedene Elemente«45 handelt. Das meint nicht nur (auch wenn das der primäre Sinn ist), daß ihre Einheit nicht als analytische zu denken ist, wie dies nach Kant Stoa und Epikur unterstellt haben, sondern auch, daß die Elemente verschiedenen »Welten« zugeordnet sind. Der Hinweis auf die spezifische Verschiedenheit gehört hier nicht wie in der ersten Kritik in die Auflösung des Problems, sondern macht einen wesentlichen Teil des Problemgehaltes aus. Sie folgt direkt aus der strikten Scheidung von empirischen und rein rationalen Prinzipien der Ethik in der Analytik, deren Resultate Kant, wie mehrfach betont, durchgängig in der Dialektik voraussetzt und auf die er sich kurz vor dem Antinomiekapitel noch einmal bezieht (KpVA 202). N u n hat Kant in der Kritik der praktischen Vernunft wiederholt gro-
ßen Wert auf den Nachweis gelegt, daß reine Verstandesbegriffe schon als bloße intellektuelle Regeln, als logische Funktionen einer Synthesis, in denen noch von allen sinnlichen Bedingungen abstrahiert ist, »ein Objekt überhaupt« zu denken erlauben, »auf welche Art es uns auch immer
44 45
KpVA 201, vgl. A 202. KpVA203.
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gegeben werden tnag«i6. In dieser allgemeinen Bedeutung ermöglicht es die Kausalitätskategorie ausdrücklich auch, so Ungleichartiges wie Sinnliches und Übersinnliches miteinander zu verknüpfen 47 . Kant hat auf diesem möglichen Gebrauch reiner Verstandesbegriffe mit Nachdruck bestanden, um dem Vorwurf der »Inkonsequenz« zu begegnen, er spreche »dem übersinnlichen Gebrauche der Kategorien in der Spekulation objektive Realität« ab und gestehe »ihnen doch in Ansehung der Objekte der reinen praktischen Vernunft diese Realität« zu 48 . Die »rei46
47
48
KpVA246, Hervorhebung im Original. Vgl. auch KpVA 8-11, 86 f., 94-99, 115 f., 245 und 254 f.; ferner KrVB428 f., 431; Prolegomena, AA IV, S. 358; Refi. Nr. 5962 (AA XVffl, S. 401 f.). Refi. Nr. 6331 (AA XVm, S. 651); Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik, AA XX, S. 272 und 280; Vorarbeiten zur Rechtslehre, AA ΧΧΙΠ, S. 261; Opus postumum, AA XXI, S. 420 f. Vgl. KpVA 185-190. Schon in den Prolegomena (AA IV, S. 343) und in der 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft (B 201 f. Anm.) hatte Kant darauf hingewiesen, daß sich der Kausalbegriff (wie alle dynamischen Kategorien im Unterschied zu den mathematischen) dazu eignet, Ungleichartiges zu verbinden. Daß damit vor allem die Verknüpfung von Sinnlichem und Übersinnlichem gemeint ist, geht u. a. eindeutig aus der Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik (AA XX, S. 292) hervor. Vgl. auch oben S. 113 Anm. 30. KpVA8, vgl. A 9 f., KU Β 479. Diesen Vorwurf hatte Η. A. Pistorius erhoben in der Rezension von: J. Schultz, Erläuterungen über des Herrn Prof. Kant Critik der reinen Vernunft, in: Allgemeine deutsche Bibliothek 66 (786), S. 92-123, hier S. 110 ff. (wiederabgedruckt in: A. Landau, Rezensionen zur Kantischen Philosophie, Bd. I. 1781-87, Bebra 1991, S. 326352, hier S. 341 ff.). S. dazu L.W. Beck, A Commentary, S. 58 f. (dt. S. 66 f.); F. C. Beiser, The Fate of Reason. German Philosophy from Kant to Fichte, Harvard University Press 1987, S. 191 f., und ausführlicher E. G. Schulz, Rehbergs Opposition gegen Kants Ethik, S. 110-117 und 174. - Einige sehr restriktive Formulierungen Kants mußten freilich Anlaß zu einer solchen Kritik geben, z. B. KrVA 679/B 707: die Begriffe »von Realität, Substanz, Kausalität usw.« haben »auf etwas, das von der Sinnenwelt ganz unterschieden ist, nicht die mindeste Anwendung«; Prolegomena, AA IV, S. 316 (§ 34): durch die reinen Verstandesbegriffe kann »außer dem Felde der Erfahrung gar nichts gedacht werden« (Hervorhebungen von mir). Vgl. auch JCrVA286-288/B 342-345, A 609/B 637; Prolegomena, AA IV, S. 315 (§ 32), S. 332 (§ 45); etwas differenzierter KrVA696/B 724: die Kategorien haben außer ihrer Anwendung auf Objekte möglicher Erfahrung »gar keinen Sinn«, sie sind dann »bloß Titel zu Begriffen, die man einräumen, dadurch man aber auch nichts verstehen kann«; ähnlich auch KrVA 253: »Ein reiner Gebrauch der Kategorie ist zwar möglich, d. i. ohne Widerspruch, aber hat gar keine objektive Gültigkeit«. Ein mehr metaphysisches (parmenideisches) Motiv ist im Spiel, wenn Kant die Nicht-Anwendbarkeit der Kausalitätskategorie auf Noumena so begründet: »In der intelligiblen Welt geschieht und verändert sich nichts, und da fällt die regel der causalverbindung weg« (Refi. Nr. 5612, AA XVm, S. 254). Kant hat erst nach den Prolegomena, wohl in Reaktion auf den Einwand Pistorius', das Denkpotential der Verstandesbegriffe besonders hervorgehoben. Die spätere Akzentuierung der Differenz von Erkennen und Denken (JCrVB XXVI Anm.) mit der Betonung, der bloße Gedanke vom Objekt auch ohne Anschauung könne »übrigens noch immer seine wahren und nützlichen Folgen auf den Vernunftgebrauch des Subjekts haben« (KrVΒ 166 Anm.), bedeutet jedenfalls implizit die Zurücknahme früherer extremer Formulierun-
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ne« Kategorie ist zwar theoretisch »leer« und »unbestimmt«, sie enthält gerade den Gedanken eines notwendigen Zusammenhangs zweier real unterschiedener Relate der Form, daß ich vom Dasein des einen Relais auf das des anderen schließen kann; über die Art der Kausalität ist darin theoretisch noch nichts weiter festgelegt, auch noch nicht, was als Ursache und was als Wirkung zu bestimmen ist 49 . Aber ein solcher Begriff ist »immer doch möglich« (KpV A 98); im Falle der sittlich bestimmten Freiheit, die Wirkungen in der Erfahrungswelt haben soll 50 , hatte Kant ihm sogar objektive Realität zuerkannt (vgl. KpV A187-190), nachdem er zuvor in der Vorrede zur 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft eingeräumt hatte, daß man auch auf praktische »Erkenntnisquellen« zurückgreifen kann, um einem bloß gedachten, nicht erkannten Gegenstand als objektiv gültig anzusehen51.
49
50 51
gen. Die Unterscheidung von Denken und Erkennen findet sich aber schon in der 1. Auflage der Kritik der reinen Vernunft, vgl. die Stellennachweise bei E. Adickes, Kant und das Ding an sich, Berlin 1924, S. 63-65. Auch als Kant schon für eine Klarstellung gesorgt hatte, wiederholten seine Gegner den Vorwurf eines unzulässigen Gebrauchs der Kategorien, so der Oberkonsistorialrat und Oberhofprediger W. F. Schaeffer, Inconsequenzen und auffallende Widersprüche in der Kantischen Philosophie, besonders in der Critik der reinen Vernunft, Dessau 1792, S. 193,237 und 250. KrVA243/B 301. Kant denkt wohl daran, daß sich die Abfolge der Sätze des hypothetischen Urteils, aus dem die Kausalitätskategorie gewonnen wird, durch Kontraposition umkehren läßt, ohne daß davon der Wahrheitswert berührt wird; logisch ist also nicht festgelegt, welcher Satz und damit welcher Inhalt als Antecedens und welcher als Consequens zu gelten hat. Vgl. auch KrVΒ128 f., wo sich Kant auf die Umkehrbarkeit von Subjekt und Prädikat im kategorischen Urteil bezieht. Vgl. oben S. 158-160. KrVB XXVI Anm.; vgl. auch Über eine Entdeckung, AA VIH, S. 225. In dieser allgemeinen Form kann Kants Erklärimg der Möglichkeit, Kategorien auch auf nicht-empirische Inhalte anzuwenden, eine gewisse Plausibilität für sich beanspruchen, und dies mag für unsere Zwecke reichen. Nur unzureichend rekonstruiert A. Gunkel Kants Erklärung, inwiefern sich Kategorien auch auf Übersinnliches beziehen können: Spontaneität und moralische Autonomie. Kants Philosophie der Freiheit, Bern und Stuttgart 1989, S. 136 f. - Untersucht man die Beziehungen zwischen logischen Urteilsfunktionen, reinen und schematisierten Kategorien im einzelnen, wird man mit einer Reihe von Problemen konfrontiert; vgl. dazu die sorgfältige Studie von B. Thöle, Kant und das Problem der Gesetzmäßigkeit der Natur, Berlin · New York 1991, bes. S. 100 ff. Unverständlich bleibt mir aber der Einwand von G. Prauss, die Anwendung der Kategorien auf Dinge an sich sei problematischer, als Kant dies darstelle, weil die unschematisierten Kategorien sich alle ununterscheidbar »auf die Einheit der Apperzeption reduzieren«; ihre eigentümliche Bedeutung erhielten Kategorien und Urteilsformen erst durch die verschiedenen Weisen der Schematisierung in Raum und Zeit: G. Prauss, Kant und das Problem der Dinge an sich, Bonn 1974 (31989), S. 146 f. Anm. 81: Rein formal lassen sich doch ζ. B. das kategorische Urteil (nach Kant ein Verhältnis zweier Begriffe) und das hypothetische Urteil (ein Verhältnis
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Auch für die Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit reicht ein unbestimmter, allgemeiner Begriff von Kausalität aus; denn anders als in den kosmologischen Beweisen der ersten Kritik wird hier der Kausalitätsbegriff nicht dazu benötigt irgendeine Notwendigkeit mittels eines Syllogismus in einer theoretischen Erkenntnis zu erschließen und ihre Geltung zu begründen, sondern allein dazu, die Notwendigkeit einer realen Verbindung, die die praktische Vernunft aus autonomer Kompetenz fordert, allgemein zu denken. Aus praktischen Erwägungen ergibt sich hier auch die nötige Bestimmtheit, was als Ursache und was als Wirkung anzusehen ist (vgl. oben S. 116-118). Alles, was Kant aus der Idee des höchsten Gutes »ableitet«, ist also nichts anderes als eine Explikation und Spezifikation dieser praktischen Idee mit begrifflichen Mitteln, die für sich ontologisch noch weitgehend indifferent sind, insbesondere gegenüber der Unterscheidung von noumenaler und phänomenaler Welt. Mit ihrem Gebrauch ist kein Erkenntnisanspruch verbunden. Es ist ja auch nicht zu sehen, wie in der reinen praktischen Vernunft als solcher bei Kant spezifische Festlegungen darüber liegen sollten, wie ihre Forderungen ontologisch realisierbar sind; sie enthält nur die notwendige Hypothesis, daß das höchste Gut möglich ist. Die Befugnis der praktischen Vernunft kann sich höchstens darauf erstrecken, daß sie bestimmte denkbare Realisierungsweisen verwirft, weil sie unmoralisch sind (wie dies mit der ersten Form der Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit geschieht). Daß aber alle Wirkungen in der Welt, auch solche einer Kausalität aus Freiheit, allein nach Regeln des Naturmechanismus zustande kommen, ist kein Gesetz der praktischen Vernunft. Und wie gar, so fragt man sich, sollte die praktische Vernunft zu der notwendigen Unterstellung gelangen, daß der Mensch »Herr der Natur und ihrer Gesetze« sei, wie das ihr Albrecht
zweier Urteile, vgl. KrVA 7 3 / Β 98) unterscheiden, noch vor jeder zeitlichen oder räumlichen Bestimmung; ebenso lassen sich reine Kategorien definitorisch voneinander abgrenzen: Substanz ist das, was »nur als Subjekt, nicht als bloße Bestimmung anderer Dinge existieren« kann (KrVB288, vgl. Β 149, A 242 f./B 300 f. u. ö.); die »reine« Kausalität ist dagegen der Begriff »eines Verhältnisses von Etwas zu etwas Anderem im Dasein, nach welchem, wenn ich das erstere setze, das andere auch bestimmt und nothwendig gesetzt wird« (Über eine Entdeckung, AA Vm, S. 225).
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zuschreibt 52 ? Wenn es in KpVA 75 - Albrecht bezieht sich auf diese Stelle 53 - heißt, daß »reine Vernunft, wenn sie mit dem ihr angemessenen physischen Vermögen begleitet wäre, das höchste Gut hervorbringen würde«, dann impliziert dieses Urteil natürlich genausowenig die Existenz einer so ausgestatteten praktischen Vernunft (sei es unsere Vernunft oder die eines anderen Wesens), wie in Kants Begründung der notwendigen Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit (KpV A 199) die Existenz Gottes schon vorausgesetzt ist, wenn er die Verknüpfung damit begründet, daß »der Glückseligkeit bedürftig, ihrer auch würdig, dennoch aber derselben nicht teilhaftig zu sein, ... mit dem vollkommenen Wollen eines vernünftigen Wesens, welches zugleich alle Gewalt hätte, wenn wir uns auch nur ein solches zum Versuche denken, gar nicht zusammen bestehen« kann 54 . In beiden Fällen handelt es sich um dieselbe Funktion derselben (rein hypothetisch gebrauchten) Idee. Die Unterstellung, der Mensch sei Herr der Natur und ihrer Gesetze, könnte sich bestenfalls mittelbar aus reiner praktischer Vernunft ergeben, dann nämlich, wenn gezeigt würde, daß das unbedingte Gebot der praktischen Vernunft, das höchste Gut zu verwirklichen, nur unter dieser Bedingung physisch realisierbar wäre (eine Behauptung allerdings, die, verglichen mit der Kantischen Problemstellung, eine Verengimg der Perspektiven bedeutete 55 ). Über physische Realisierungsmöglichkeiten kann aber bei Kant allein die erkennende theoretische Vernunft entscheiden 56 ; von der Richtigkeit ihres Urteils hinge deshalb die Berechtigung der Unterstellung ab. Außerdem hätte sie das Mißliche, daß sie offenbar 52
53 54
55
56
M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 120. Gemeint sind natürlich nicht nur die allgemeinen Formen der Gesetzmäßigkeit, die nach Kant der Verstand der Natur vorschreibt, sondern die spezifischen Gesetze. - Was für Albrecht hier einen Aspekt der dialektischen Täuschung ausmacht, hatte er vorher gegen Ch. F. Michaelis bestritten: Es scheine »nicht notwendig aus dem Begriff der Dialektik hervorzugehen«, daß man das höchste Gut »durch bloße menschliche Kräfte für erreichbar« halte (ebd. S. 103 Anm. 319; Albrecht bezieht sich hier auf Michaelis, Ueber die sittliche Natur, Bd. 2, S. 42). M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 121. Daß dieses Argument nicht die Existenz Gottes impliziert, stellt Albrecht selbst ausdrücklich fest: Kants Antinomie, S. 70 Anm. 229. Vgl. auch oben S. 109 f. Vgl. oben S. 167 f. Realisierbar ist das höchste Gut, wenn die Natur eine entsprechende Zweckmäßigkeit aufweist, ob nun der Mensch oder etwas anderes der Grund dafür ist. Vgl. KpV A 78 f.: Ob der Wille seine Objekte verwirklichen kann, »bleibt den theoretischen Prinzipien der Vernunft zu beurteilen überlassen«; ferner Die Metaphysik der Sitten, AA VI, S. 354.
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falsch wäre (der Mensch ist nicht Herr der Natur); ein Gebot aber, das mit einer unerfüllten Bedingung seiner Befolgung notwendig verbunden wäre - und dies nach Albrecht sogar praktisch immanent! - , müßte sich nach dem Grundsatz »ultra posse nemo obligatur« selbst in seiner Geltung unmittelbar aufheben, so daß sich das Problem von selbst erledigte. Man kann nun argumentieren: Wenn die Bestimmung des höchsten Gutes und die begriffliche Explikation der »notwendigen Hypothesis der praktischen Vernunft«, daß das höchste Gut möglich ist (die Thesis der Antinomie, vgl. oben S. 174), einen »dialektischen Vernunftschluß« implizierte, dann wäre dies gleichbedeutend damit, daß sich die Forderung der praktischen Vernunft, das höchste Gut zu verwirklichen, schon bei dem Versuch, sie auch nur zu denken, als dialektisch erwiese. Das heißt aber: dieses Gebot als solches schlösse schon eine Dialektik ein; sein sittlicher Anspruch müßte folglich irgendwie zurückgenommen oder revidiert werden. Wenn tatsächlich eine Antinomie schon »im Gedanken der Verbindimg von Tugend und Glückseligkeit« enthalten wäre, wie K. Reich meinte57, dann hätte das für das Konzept einer autonomen praktischen Vernunft fatale Konsequenzen. Kant mußte größtes Interesse daran haben, daß die Verhältnisse anders liegen und L.W. Beck mit seiner These Recht hat, die reine praktische Vernunft sei, für sich genommen, nicht dialektisch.
5.3.3 Der empiristische »Mißverstand« Der erste Satz der Disjunktion ist definitiv falsch, er ist mit dem Kantischen Tugendbegriff unvereinbar (Satz 5). Nim erst richtet sich die ganze Aufmerksamkeit auf den zweiten Satz der Disjunktion; erst jetzt auch geht Kant über die Explikation allgemeiner Denkmöglichkeiten des höchsten Gutes hinaus und bezieht sich in seiner Argumentation auf einen spezifischeren Wirklichkeitsbegriff. Und hier ist für eine adäquate Beschreibung dessen, was Kant wirklich tut, der Umstand wich57
K. Reich, Kant und die Ethik der Griechen, S. 46, Hervorhebung von mir. Für Reich bedeutet das, daß Kants höchstes Gut, das »Reich der Gnaden«, »nur der Gegenstand eines Mythos« sein kann, in dem Sinne, wie auch Piaton Mythen verwendet habe (ebd.).
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tig, daß die mögliche reale (objektive) Bedeutung des zweiten Satzes der Disjunktion gleich im Rahmen eines theoretischen
Erfahrungsbegriffs
von Natur ausgelegt und beurteilt wird, mit dem Resultat, daß auch der zweite Satz als falsch anzusehen ist (Satz 6). Erst damit ist in der Argumentation Kants ein Konflikt umrissen - bezeichnenderweise nicht dadurch, daß dialektisch »die Grenzen möglicher Erfahrung« überschritten werden, wie Albrecht dies wollte58, sondern indem im Gegenteil an entscheidender Stelle die Bedingungen beachtet werden, unter denen Aussagen über Erscheinungen möglich sind: Die Wirkungen moralischer Gesinnung in der Welt hängen von den Naturgesetzen und der Fähigkeit ab, sie für die eigenen Zwecke zu gebrauchen, und auf diese Weise kommt kein notwendiger Zusammenhang zwischen Tugend und Glückseligkeit zustande. Es ist diese empiristische Auslegung des Satzes, auf die sich die Behauptimg der Antithesis stützt, das höchste Gut sei nicht möglich. Läge der Grund der Dialektik der praktischen Vernunft darin, daß sie wie die theoretische Vernunft in einem dialektischen Schluß unbefugterweise die Grenzen der Erscheinungswelt überschritte, dann müßte man in Entsprechimg zur ersten Kritik eine mögliche Auflösung der Dialektik in einer kritischen Grenzziehung und Einschränkung des praktischen Vernunftgebrauchs suchen, so wie das Kant in KpVA 196 auch nahezulegen scheint. Es wäre daher eigentlich konsequent gewesen, wenn Albrecht Kants Rekurs auf den Erfahrungsbegriff der Natur und die daraus resultierende Falschheit des zweiten Satzes der Disjunktion als einen Aspekt der kritischen Aufhebung der Antinomie betrachtet hätte (wie dies später V. S. Wike tut, vgl. oben S. 80 f.). Genau das weist Albrecht aber ausdrücklich zurück: Suche »man nach Parallelen in der Kritik der reinen Vernunft«, so werde »die "Falschheit" ... nicht vom Standpunkt der kritischen Auflösung der Einzelantinomien in der Kritik der reinen Vernunft aus behauptet ..., sondern aus derjenigen Sicht, die dort der Reihe der Antithesen zugrunde liegt«: der des »Principium[s] des reinen Empirismus« ( K r V A 466/B 494)59. Wer daraus folgert, daß Albrecht damit auch einen Anteil der theoretischen Vernunft am Zu58 59
M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 186 und 102 f. M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 104 mit Anm. 322; vgl. auch S. 111.
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Standekommen der Dialektik der praktischen Vernunft einräumt, sieht sich allerdings wiederum getäuscht: Albrecht beharrt darauf, daß »sich die reine praktische Vernunft ohne jedes Zutun der theoretischen Vernunft« in die Dialektik verwickle 60 , und bestreitet, daß an der »Erwägung« der Gewißheit der Unmöglichkeit des höchsten Gutes nach Kant die theoretische Vernunft beteiligt sei, »jedenfalls« gebe »es dafür keine Anhaltspunkte« 61 . Damit wird aber völlig unverständlich, welche Funktion und welchen Ort in der Kantischen Argumentation das Prinzip des Empirismus - hier ohne Zweifel ein Prinzip der theoretischen Vernunft - und die auf ihm basierende Ablehnung des Satzes »die Tugend ist die Wirkursache der Glückseligkeit« haben könnten: Die Negation dieses Satzes gehört in Albrechts Auslegung weder zu den dialektischen Behauptungen (besagt sie doch gerade das Gegenteil dessen, was für ihn hier den dialektischen Vernunftschluß ausmacht: die Überschreitung der Grenzen möglicher Erfahrimg), noch gehört sie zur Auflösimg der Dialektik. Endgültig in eine Sackgasse gerät die Interpretation, wenn Albrecht - gegen die Logik seiner Deutung des Sachproblems - der »Suche der reinen praktischen Vernunft nach unbedingter Totalität« attestiert, daß sie nicht »fehlerhaft« und auch keiner »"kritischen" Einschränkung bedürftig« sei62: Wie kann, so fragt man sich, überhaupt noch eine Dialektik der Vernunft zustande kommen, wenn die praktische Vernunft von einer fehlerhaften Suche nach dem Unbeding60 61
62
M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 171. M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 175. - Wie wenig in der Sache hilfreich die Angaben Albrechts sind, zeigt sich auch, wenn er hier nun wiederum konzediert, daß sich »andererseits ... manche Schwierigkeiten aufzulösen [scheinen], wenn man diese Überlegung ... der theoretischen Vernunft zuschreibt« (ebd. S. 176, ähnlich auch S. 178). Daß es für diese Zuschreibung durchaus Anhaltspunkte bei Kant gibt, und zwar nicht nur in der Sache, sondern auch in seinen Formulierungen, wurde oben S. 198-202 ausführlicher dokumentiert. - Wenn J. Schmucker, gegen den Albrecht sich hier wendet, von einem »theoretisch einsichtige[n] wesentliche[n] Zusammenhang« zwischen der Unmöglichkeit des summum bonum und der Fragwürdigkeit des Sittengesetz spricht (J. Schmucker, Die primären Quellen des Gottesglaubens, Freiburg · Basel · Wien 1967, S. 170), dann ist allerdings eine Differenzierung erforderlich: Ein Prinzip der theoretischen Vernunft geht allein in Kants Argument für die Unmöglichkeit des höchsten Gutes ein; dem Schluß auf die Falschheit des moralischen Gesetzes liegt dagegen ein Theorem (»impossibilium nulla obligatio«) zugrunde, das man wohl eher zu einer deontischen Logik rechnen würde (vgl. oben S. 182). M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 188 Anm. 623 und S. 103 Anm. 319. Vgl. oben S. 226 Anm. 25.
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ten freigesprochen und die theoretische Vernunft ganz aus der Dialektik herausgehalten werden soll? Albrecht verkennt, daß so, wie Kant die Antinomie darstellt und auflöst, allein die empiristische Argumentation gegen den zweiten Satz der Disjunktion einen »Fehler« enthalten kann. Man kann fürs erste die Probe auf die Richtigkeit dieser Behauptung relativ schnell von hinten, von der Aufhebung der Antinomie her, machen. Auch ohne hier schon auf Einzelheiten einzugehen (s. dazu Kap. 7), ist offensichtlich: Nicht in der Kritik und Einschränkung eines »überfliegenden« praktischen Vernunftgebrauchs sucht Kant die Lösung; alle Bemühungen richten sich darauf, den Vernunftgebrauch über empiristische Restriktionen hinaus zu erweitern und die Legitimität der Erweiterimg in einer kritischen Philosophie zu begründen. Die Auflösung soll zeigen, daß »es nicht unmöglich [ist], daß die Sittlichkeit der Gesinnung einen ... notwendigen Zusammenhang als Ursache mit der Glückseligkeit als Wirkung in der Sinnen weit habe« ( K p V A 207, Hervorhebung von mir). Bei Kant ist es allein die Behauptung der Unmöglichkeit des höchsten Gutes, also die Antithesis, die sich als korrekturbedürftig (und -fähig) erweist. In welchem genaueren Sinne aber ist die Antithesis (»das höchste Gut ist nicht möglich«) ein dialektischer Satz? Der Empirismus, der der Argumentation im Antinomiekapitel zugrunde liegt, ist - gegen Albrecht - nicht mehr der »reine Empirismus« der ersten Kritik (vgl. oben S. 166); denn mit dem moralischen Gesetz ist auch die Freiheit zugestanden, die im »reinen Empirismus« negiert ist. Damit stellt sich aber die Frage nach dem dialektischen Charakter der Antithesis noch dringlicher und gibt Gelegenheit, schon früher geäußerte Bedenken gegen eine Dialektik der praktischen Vernunft aufzugreifen 63 : Die gemeinsame Wurzel aller Vernunftdialektik ist nach Kant der »unvermeidliche Schein«, Erscheinungen für Dinge an sich selbst zu halten 64 ; Kants prak63 64
Vgl. oben S. 102 f. und 216 f. Vgl. KpVA 192 f.; Prolegomena, AAIV, S. 347 (§ 54); KU Β 243. Im Brief an Ch. Garve vom 7. 8.1783 gibt Kant zwei Erklärungen für die dialektischen Widersprüche: Sie entstehen einmal, wenn »man Erscheinungen vor Dinge an sich selbst [nimmt] und ..., als von solchen, in der Reihe der Bedingungen das Schlechthin-unbedingte« verlangt; zum andern, wenn man »umgekehrt das, was als Ding an sich selbst von irgend etwas in der Welt die Bedingung enthalten kan, vor Erscheinung« nimmt, wie dies ζ. B. bei der Freiheit geschehe (AA X, S. 336-343, hier S. 341 Anm.). Das Verhältnis der beiden Erklärungen bleibt un-
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tische Philosophie setzt aber voraus, daß dieser transzendentale Schein in einer Kritik der reinen theoretischen Vernunft bereits aufgedeckt (wenn auch nicht endgültig aufgehoben) ist und die dialektischen Trugschlüsse durchschaut sind. Nun ist aber ebenso unbestreitbar, daß auch dann, wenn man eine Kausalität aus Freiheit einräumt, noch ein elementares Vermittlungsproblem bleibt, wie die freien Handlungen aus sittlicher Gesinnung eine ihr entsprechende Glückseligkeit notwendig zur Folge haben können (vgl. oben Kap. 4.3.2.4). Die Auflösung der Antinomien in der ersten Kritik macht offensichtlich die Problemstellung des Antinomiekapitels nicht überflüssig (jedenfalls nicht auf eine triviale Weise). Im Gegenteil: Gerade indem man auf dem rein noumenalen Charakter moralischer Gesinnung insistiert, schafft man schon rein begrifflich jene Kluft, die es unbegreiflich erscheinen läßt, wie dem sittlichen Willen, in dessen oberstem Bestimmungsgrund von allen faktischen, empirischen Folgen abstrahiert ist, bestimmte Zustände in der Welt (die Glückseligkeit) notwendig, d. h. nach einer allgemeinen Regel, entsprechen können. Das Problem ist eine direkte Folge der strikten Kantischen Scheidung von Moral- und Naturprinzipien und ihrer Zuweisung zu getrennten Geltungsbereichen 65 . Die Auflösung der Antinomie der praktischen Vernunft muß (falls sie möglich ist) daher auch mehr enthalten als nur die bloße Wiederholung der kritischen Unterscheidimg von noumenaler und
65
klar. Es scheint fast so, als beziehe Kant die erste Formel auf die mathematischen, die zweite auf die dynamischen Antinomien. Dazu wäre zu sagen: Die zweite Formel ist aus Kantischer Sicht in der Tat charakteristisch für die 3. und 4. Antinomie, sie umschreibt das empiristische Mißverständnis von Dingen an sich selbst (der Freiheit und eines notwendigen Wesens); die erste Formel hat dagegen keinen exklusiven Bezug auf die beiden ersten Antinomien. Kant selbst verwendet sie ja auch häufiger als Generalformel für alle vier kosmologischen Antinomien. Ein Problem der Vermittlung von Tugend und Glückseligkeit stellt sich offen oder verdeckt für jede Ethik, deren oberstes Handlungsprinzip sich nicht unmittelbar auf das Glück der Menschen bezieht, es aber für eine wesentliche Bestimmung hält. Die Fragestellung ist nicht an die Kantische Zwei-Welten-Lehre in ihrer spezifisch kritischen Form gebunden. Bei Kant selbst gibt es Fassungen des Problems, die nicht unter den Bedingungen der Transzendentalphilosophie und ihres Naturbegriffs stehen; vgl. oben S. 152-155. Durch Kants Zuordnung der Moral- und Erfahrungsprinzipien zu verschiedenen Gesetzgebungsbereichen der Vernunft und des Verstandes gewinnt das Problem aber ohne Zweifel an Schärfe und Prägnanz.
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phänomenaler Welt in der Bedeutung, wie sie zur Auflösung der kosmologischen Antinomien gebraucht wurde 66 . Wenn es gelänge zu zeigen, daß sich bei der Frage nach der Möglichkeit des höchsten Gutes erneut ein dialektischer Schein einstellt, dann wäre dies schon eine vergleichsweise spannende Angelegenheit. Darin wäre nicht nur an einem Fall exemplifiziert, daß die Dialektik auch nach der Aufdeckimg ihres »Blendwerks« »nicht aufhören wird«, die Vernunft »unablässig in augenblickliche Verirrungen zu stoßen«, gegen die sie sich immer wieder neu zur Wehr setzten muß, damit die Dialektik »nicht betrüge« (KrVA 297 f./B 353-355), die Pointe läge darin, daß sich der dialektische Schein auf eine neue Weise einstellt und sich sogar an jene Unterscheidimg heftet, die als Mittel zu seiner Vermeidung gedacht war: die Unterscheidung von Noumena und Phainomena. Wir hätten es dann bei der Antinomie der praktischen Vernunft nicht wie in der Kritik der reinen Vernunft allein mit einer Dialektik der unaufgeklärten, »natürlichen« Vernunft zu tun, die außerhalb des Bezirks der Transzendentalphilosophie entstünde; ein dialektischer Schein hätte sich auch auf kritischem Terrain eingenistet. Ein solches Übergreifen der Dialektik würde allerdings mit dem Verständnis der Transzendentalphilosophie in der ersten Kritik kollidieren, in der sie als umfassende Analyse aller Vernunftdialektik gedacht war, die selbst frei von Dialektik sein sollte 67 . 66 67
Dies betont auch M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 109-111. Eine »Redogmatisierung« transzendentalphilosophischer Ergebnisse, und zwar eine von Kant bewußt in Szene gesetzte, sah P. Baumanns schon in der Kritik der reinen Vernunft am Werk: P. Baumanns, Kants mathematische Antinomien, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 12.3 (1987), S. 23-40, hier S. 32. Anlaß für diese These ist die Beobachtung, daß Kants Beweise für Thesis und Antithesis der kosmologischen Antinomien teilweise schon von transzendentalphilosophischen Erkenntnissen Gebrauch machen; insbesondere die Thesis der ersten Antinomie und die Antithesis der zweiten »zeigen sich transzendentalphilosophisch imprägniert« (ebd. S. 30). Während die meisten Kantinterpreten dies als unzulässiges Einschleusen transzendental-idealistischer Ansätze in das Beweisverfahren kritisieren, meint Baumanns, daß »die "Beweise", die Kant im Namen der spekulativen Kosmologie der "Thesis" und "Antithesis" beigibt, auf die Transzendentale Ästhetik und Analytik zurückgreifen« »(je nach Notwendigkeit)« (ebd. S. 27) dürfen, und rechtfertigt das mit dem Hinweis, Kant sei es nicht so sehr um eine »immanente Kritik der historisch bekannten Metaphysik« gegangen als vielmehr um das »Überwechseln vom transzendentalphilosophischen Unendlichkeitsbegriff der "möglichen Erfahrung" zu aktualer Unendlichkeit«, das charakteristisch für die Denkweise der spekulativen Kosmologie sei (ebd. S. 34). Mit einer solchen Apologie seiner Beweise dürfte Kant aber kaum gedient sein,
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bringt sie ihn doch an anderer Stelle in noch ärgere Verlegenheit: Ein »kritischer und doktrinaler Nutzen« der Antinomienlehre sollte darin liegen, daß sich aus ihr ein indirekter Beweis der transzendentalen Idealität der Erscheinungen gewinnen läßt. Kant hat genau angegeben, wie er zu führen sei: »Der Beweis würde in diesem Dilemma bestehen. Wenn die Welt ein an sich existierendes Ganzes ist: so ist sie entweder endlich, oder unendlich. Nun ist das erstere sowohl als das zweite falsch (laut der oben angeführten Beweise der Antithesis, einer-, und der Thesis andererseits). Also ist es auch falsch, daß die Welt (der Inbegriff aller Erscheinungen) ein an sich existierendes Ganzes sei« (KrVA 506 f./B 534 f., vgl. A 793/B 821 und oben S. 170 f. Anm. 190). Es dürfte klar sein, daß man auf diese Weise nur dann gültig auf die transzendentale Idealität der Erscheinungen schließen und die Einsicht der Analytik »unwidersprechlich« bestätigen kann (Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik, AA XX, S. 291), wenn die Beweise für die Falschheit der Sätze der Disjunktion ohne genuin transzendental-idealistische Prämissen auskommen, also ohne solche Voraussetzungen, durch die sich die Position Kants von einer realistischen spezifisch unterscheidet. Wenn man hingegen wie Baumanns die Lizenz erteilt, daß sich der Nachweis der Falschheit der Unendlichkeit der Welt »auf eindeutig transzendentalphilosophische Untersuchungsergebnisse« stützen darf, und sogar betont, daß es »in der Tat... nur bei diesen Zusatzannahmen [vor allem der Gleichsetzung von Erkenntnis mit sukzessiver Synthesis] zu einer logischen Unstimmigkeit zwischen Jetztpunkt und abgelaufener Ewigkeit« kommt (Kants mathematische Antinomien, S. 27 f.), dann ist ein solches Argument im Rahmen der von Kant angegebenen Schlußfigur des Dilemma prinzipiell wertlos. Der Realist, der die Welt als »ein an sich existierendes Ganzes« betrachtet, das vor allem Regressus seiner Totalität nach gegeben ist, wird ja gerade jenes »eindeutig transzendentalphilosophische« Ergebnis, daß »sich die gegenwartsbedingende Vergangenheit in Konstruktion und nicht Re-Konstruktion enthüllt« (ebd. S. 28), bestreiten und darauf hinweisen, daß nicht seine Position widersprüchlich, sondern die Argumentation des Gegners zirkulär sei. Man wird daher wohl eher Kants Intention gerecht, wenn man seine Beweise in den Antinomien an den Anforderungen eines gültigen Schlusses auf die transzendentale Idealität der Erscheinungen mißt, als wenn man argumentative Schwächen Kants dadurch zu rechtfertigen sucht, daß man ihnen Absicht und Methode unterstellt. Denn auch in sich besitzt die Deutung Baumanns nicht die »Evidenz«, die sie beansprucht (ebd. S. 30). Sie argumentiert in hohem Maße mit Ad-hoc-Annahmen und -Zurechtlegungen; um die Beliebigkeit, die dabei droht, einzuschränken, sucht Baumanns nach einer allgemeinen »Grundlage«, die die »Asymmetrie« erklären soll, warum man in einigen Fällen (den Beweisen der Thesis der 1. Antinomie und der Antithesis der 2. Antinomie) »auf transzendental-philosophische Reflexionsergebnisse« zurückgreifen darf und muß und in anderen Fällen darauf verzichten kann (ebd. S. 30). Er findet diese Grundlage darin, daß »der raumzeitlichen Unendlichkeit und der substantiellen Endlichkeit ein Prius innerhalb des kosmologischen Denkens« zukomme »(im Sinne von Initialstandpunkten oder Normalstandpunkten, natürlichen theseis)«, »ohne daß sie darum eine theoretische Priorität beanspruchen dürften« (ebd. S. 31). Der Hinweis auf besonders hartnäckige »natürliche Tendenzen« des kosmologischen Denkens, die nur mit direkter transzendentalphilosophischer Intervention überwunden werden können, ist historisch unausgewiesen (und damit vage genug) und argumentativ mehr als zweifelhaft. Vor allem aber deckt er sich nicht mit Kants eigenen Angaben, der meinte, daß generell die Thesen (also auch die These der raumzeitlichen Endlichkeit!) neben dem praktischen und spekulativen Interesse »auch den Vorzug der Popularität« auf ihrer Seite hätten, »der gewiß nicht den kleinsten Teil ihrer Empfehlung« für den gemeinen Verstand ausmache (KrVA466 f./B 494 f., Hervorhebung im Original, vgl. A 472-474/B 500-502); auch das architektonische
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Aber sehen wir genauer zu, wie Kant selbst die dialektische Täuschung erklärt; denn gelegentlich berücksichtigt er nicht nur dort, wo er direkt von der Sache handelt, sondern auch in »metatheoretischen« Beschreibungen des Problems die Besonderheiten der Dialektik der praktischen Vernunft erstaunlich genau, auch wenn er nirgends Interesse zeigt, sie in ihrer Differenz zur Dialektik der spekulativen Vernunft hervorzuheben, und ihm mehr an der Parallele der beiden Formen des Vernunftgebrauchs liegt. Besonders aufschlußreich erscheint mir eine Wendung im Kapitel zur Aufhebung der Antinomie, die bisher in der Deutung der Dialektik zu wenig beachtet wurde. Dort charakterisiert Kant rückblickend den Grund der Schwierigkeit: Sie beruhe auf dem »Mißverstande«, daß »man das Verhältnis zwischen Erscheinungen für ein Verhältnis der Dinge an sich selbst zu diesen Erscheinungen hielt« (KpV A 207). Die Täuschung besteht also in einer Verwechslung, und es empfiehlt sich, ihre Struktur und ihren Bezug auf die Antinomie der praktischen Vernunft mit analytischen Mitteln genauer zu explizieren. In einer ersten Annäherimg könnte man sie allgemeiner so beschreiben: (1)
Ein Verhältnis v, das in Wirklichkeit ein Verhältnis v1 (hier: ein Verhältnis zwischen Erscheinungen) ist, wird für ein Verhältnis v2 (hier: ein Verhältnis der Dinge an sich selbst zu Erscheinungen) gehalten.
Schon in dieser Form ist leicht zu sehen, daß sich die Täuschung hier nicht mit der dialektischen Täuschung in der ersten Kritik deckt: Dort wurde das, was in Wirklichkeit nur ein Verhältnis zwischen Erscheinungen ist (ζ. B. das Verhältnis von Ursache und Wirkung in der Erfahrung), für ein Verhältnis von Dingen an sich selbst zu Dingen an sich selbst (und nicht zu Erscheinungen) gehalten. Außerdem operiert die Vernunft, die sich so täuschen läßt, wohl kaum schon mit der Kantischen Differenz von Ding an sich selbst und Erscheinimg. Wer ein Verhältnis zwischen Erscheinungen für ein Verhältnis der Dinge an sich selbst zu Erscheinungen hält, für den muß die kritische Unterscheidung Interesse der Vernunft führe »eine natürliche Empfehlung für die Behauptungen der Thesis bei sich« (KrVA475/B 503), ohne daß Kant daraus besondere Zugeständnisse an ihre Beweise oder Widerlegungen ableitete.
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schon irgendwie thematisch sein. Da, wo Kant die alte Formel aus der Kritik der reinen Vernunft unmodifiziert wiederholt (wie Kp VA 192 f. und KU Β 243), wird er also seiner eigenen genaueren Problembeschreibung nicht gerecht. Sonst aber ist die Erklärung des Mißverstandes zunächst nur bedingt hilfreich, da die Täuschung verschiedene Bedeutungen annehmen kann, je nachdem, wie das Objekt der Täuschung bestimmt wird. Thema ist ohne Zweifel die Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit im höchsten Gut. Man könnte daher versucht sein, die Formel direkt auf dieses Verhältnis zu beziehen und sie wie folgt aufzulösen: (1.1) Die Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit, die in Wirklichkeit ein Verhältnis zwischen Erscheinungen ist, wird für ein Verhältnis der Dinge an sich selbst zu Erscheinungen gehalten. Diese Täuschung stünde bei allem Unterschied noch in Analogie zur Erklärung des dialektischen Scheins in der ersten Kritik, da durch sie die Erscheinungswelt unzulässigerweise überschritten wäre. Aber dieser direkte Bezug auf Tugend und Glückseligkeit macht offensichtlich keinen Sinn: Der Zusammenhang von Tugend und Glückseligkeit ist nach der Begriffsbestimmung Kants in Wirklichkeit ein Verhältnis von Noumenalem zu Phänomenalem und wird nicht aufgrund eines »Mißverstandes« dafür gehalten. Daß sich die Erklärung der Täuschimg nicht auf diese Weise unmittelbar auf die Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit beziehen läßt, ist noch einmal ein Indiz dafür, daß das Konzept des höchsten Gutes als solches nicht dialektisch im Sinne einer unzulässigen Grenzüberschreitung ist. Die Erklärung des Mißverstandes kann nur einen vermittelten Bezug auf die Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit haben. Unmittelbarer Gegenstand der Täuschimg ist der Kausalbegriff, der in der Argumentation gegen die Möglichkeit des höchsten Gutes verwendet wurde (Satz 6 des Antinomiekapitels). Darauf angewendet besagt die Erklärimg: (1.2) Ein Kausalbegriff k, der in Wirklichkeit nur der Kausalbegriff eines Verhältnisses zwischen Erscheinungen ist, wird für den Kausalbegriff eines Verhältnisses der Dinge an sich selbst zu Erscheinungen gehalten.
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Mittels des Kausalbegriffs können Verhältnisse gedacht und kategorial bestimmt werden, so daß sich der Mißverstand auch auf Urteile über einzelne Verhältnisse ν (wie die Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit) erstreckt, nach dem Schema: (2)
Ein Verhältnis ν wird mittels eines Kausalbegriffs k bestimmt, der in Wirklichkeit ein Kausalbegriff von Vj (hier: eines Verhältnisses zwischen Erscheinungen) ist, aber für den Kausalbegriff von v2 (hier: eines Verhältnisses der Dinge an sich selbst zu Erscheinungen) gehalten wird.
Die Explikation des Mißverstandes muß aber noch um eine weitere Variable ergänzt werden: um w, die Bestimmung dessen, was ν in Wirklichkeit ist (jedenfalls für die Kantische Philosophie), wobei im vorliegenden Fall nur die Werte »Verhältnis zwischen Erscheinungen« und »Verhältnis der Dinge an sich selbst zu Erscheinungen«, also v1 und v2, interessieren. Die Täuschimg hat dann die allgemeine Form: (3)
Ein Verhältnis v, das in Wirklichkeit ein w ist, wird mittels eines Kausalbegriffs k interpretiert, der in Wirklichkeit ein Begriff von v,(hier: eines Verhältnisses zwischen Erscheinungen) ist, aber für den Kausalbegriff von v2 (hier: eines Verhältnisses der Dinge an sich selbst zu Erscheinungen) gehalten wird.
Die Täuschung bekommt je nachdem, ob ν in Wirklichkeit ein oder ein v2 ist, einen ganz verschiedenen, im vorliegenden Fall sogar entgegengesetzten Sinn68. Wenn man für ν die Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit und für k den in der Argumentation des Antinomiekapitels verwendeten Kausalbegriff einsetzt, erhält man für die Gleichsetzung von w mit Vj von der Sache her wieder den Fall 1.1, also eine angeblich unbefugte Überschreitung der Erscheinungswelt im Begriff des höchsten Gutes. Die folgende Interpretation scheidet daher ebenfalls aus:
68
Man könnte bei dem Verhältnis ν auch zwischen dem unterscheiden, was es in Wirklichkeit ist, und dem, wofür es gehalten wird. Da aber die Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit ein Verhältnis von Dingen an sich selbst zu Erscheinungen ist und auch dafür gehalten wird, verzichte ich in dieser Hinsicht auf eine Differenzierung.
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(3.1) Die Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit, die in Wirklichkeit ein Verhältnis zwischen Erscheinungen ist, wird mittels eines Kausalbegriffs interpretiert, der zwar tatsächlich der Kausalbegriff eines Verhältnisses zwischen Erscheinungen ist, aber für den Kausalbegriff eines Verhältnisses der Dinge an sich selbst zu Erscheinungen gehalten wird. Allein bei Gleichsetzung von w mit v2 resultiert die Struktur einer Täuschung, die, angewendet auf Kants Argumentation im Antinomiekapitel, einen Sinn ergibt: (3.2) Die Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit, die in Wirklichkeit ein Verhältnis von Dingen an sich selbst zu Erscheinungen ist, wird mittels eines Kausalbegriffs interpretiert, der in Wirklichkeit der Kausalbegriff eines Verhältnisses zwischen Erscheinungen ist, aber für den Kausalbegriff eines Verhältnisses der Dinge an sich selbst zu Erscheinungen gehalten wird. Nach der Kantischen Kategorienlehre ist der Begriff eines Verhältnisses zwischen Erscheinungen ein spezifischerer Begriff als derjenige, durch den die Verknüpfung von Dingen an sich selbst gedacht wird. Der letztere enthält nur die logische Funktion zu einer Synthesis, die allgemeinste, unbestimmte Verstandesform, ein Objekt überhaupt zu denken (vgl. oben S. 232-234). Der Begriff eines Verhältnisses zwischen Erscheinungen ist dagegen eine in der transzendentalen Einbildungskraft schematisierte Verstandesregel, er enthält also zusätzlich eine zeitliche Bestimmung des Verhältnisses der Relate (vgl. KrVA 137 ff./B 176 ff.). Er ist daher der engere Begriff; Grundsätze, die unter Zeitbedingungen gültig sind, sind es nicht notwendig auch unter anderen Bedingungen; wovon es andererseits im Geltungsbereich schematisierter Kategorien keinen Begriff der Möglichkeit gibt, das kann gleichwohl unter anderen Bedingungen möglich sein. Wer ein Verhältnis von Dingen an sich selbst zu Erscheinungen mit einem Begriff beurteilt, der auf Verhältnisse zwischen Erscheinungen zugeschnitten ist, überschreitet nicht die Grenzen möglicher Erfahrung, sondern läuft Gefahr, ihre spezifischen Bedingungen empiristisch-kurzschlüssig für Bedingungen der Wirklichkeit über-
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haupt zu halten und »das, was blos von Erscheinungen gilt, über Dinge an sich selbst auszudehnen«69. Kants Formel des Mißverstandes erklärt, in welcher Verwechslung strukturell die Täuschung besteht. Was sie aber im vorliegenden Fall genau bedeutet, ist immer noch nicht hinreichend klar. Vor allem sagt die Formel nicht, wie eine derartige Täuschung auf dem Boden der Resultate der Kritik der reinen Vernunft noch möglich ist. Um dem Kantischen Argument auch hier die größtmögliche Plausibilität zu verschaffen, ist es zweckmäßig, sich zu vergegenwärtigen, wie sich für ihn die Verhältnisse nach der Auflösung der Freiheitsantinomie in der ersten Kritik darstellten, auf deren Resultate er sich in der »Kritischen Aufhebung der Antinomie der praktischen Vernunft« beruft. Die Auflösimg der Freiheitsantinomie hatte für ihn gezeigt, daß sich Kausalität aus Freiheit im Sinne absoluter Spontaneität und durchgängige Naturkausalität widerspruchsfrei miteinander vereinbaren lassen. In summarischer Darstellung lautet Kants Lösung: Es ist möglich, sich den Menschen als eine Naturursache mit einem intelligiblen Bestimmungsgrund zu denken, d. h. als eine Ursache in der Welt, die einerseits als »substantia phaenomenon« (KrVA 561/B 589) »ein Glied der Naturkette« (KrVA 544/B 572) ist und deren Wirkungen als erfahrbare Ereignisse »in der Reihe der empirischen Bedingungen angetroffen werden« (KrVA 537/B 565), deren Wirkungen andererseits im Hinblick auf die kontrafaktische Forderimg des Sittengesetzes wenigstens teilweise so angesehen werden können, als ob sie unter einer ungleichartigen (intelligiblen) Bedingung stehen, die zwar selbst nicht Teil der Reihe ist, durch die aber die sinnliche Bedingung einer Reihe von empirischen Wirkungen in der Welt neu anfängt (ohne daß dadurch die sinnliche
69
Prolegomena, AA IV, S. 347. In der Dissertation von 1770 bestand in einem solchen Fehlschluß das eigentliche »Vitium subreptionis metaphysicum«: in der Übertragung von Bedingungen der sinnlichen Erkenntnis auf das Wesen der Dinge selbst, so daü falsche Einschränkungen bei Aussagen über die intelligible Welt die Folge sind (vgl. De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis, §§ 1 und 24 ff., AA Π, S. 389 und 411 ff.). Kritik im Sinne der Einschränkung der Erkenntnis auf Phainomena und des Verbotes der Grenzüberschreitung durch die theoretische Vernunft wird erst im Laufe der 70er Jahre zu dem beherrschenden Kantischen Motiv. Oft wird übersehen, daß auch später noch für Kant Kritik eine wechselseitige Einschränkung von Verstand und Sinnlichkeit bedeutet, vgl. KrVA256/B 312 und unten S. 364-366.
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Bedingung der naturkausalen Erklärung entzogen würde)70. Eine solche empirische Wirkung sei ζ. B., daß jemand auch unter widrigen Umständen die Wahrheit sagt (man denke etwa an Kants Beispiel in Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen71):
Diese in der Sinnenwelt
beobachtbare sittliche Handlung kann in praktischer Hinsicht so betrachtet werden, als gehe sie aus der Freiheit als einem intelligiblen Vermögen des Menschen hervor. Die Beziehung des intelligiblen Bestimmungsgrundes zur sensiblen Handlung ist kein möglicher Gegenstand der Erfahrimg; die durch den freien Anfang verursachten Wirkungen in der Welt sind aber als nach naturmechanischen Grundsätzen bedingt zu denken, sie können auch »durch andere Erscheinungen bestimmt werden« (KrV A 537/B 565). Die Folgen einer sittlichen Handlung stehen daher ganz unter dem Gesetz der Naturkausalität72. So wird nach Kant denkbar, daß die menschliche Freiheit Wirkungen in der Welt zeitigt; so resultiert aber auch, wie das Beispiel des absoluten Lügenverbots besonders drastisch zeigt, das Problem der Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit, da nicht abzusehen ist, wie ein notwendiger Zusammenhang zwischen der sittlichen Gesinnung und den daraus folgenden Handlungen einerseits und bestimmten Zuständen in der Welt andererseits zustande kommen kann, wenn die Folgen, die eine sittliche Handlung in unserer Welt faktisch nach sich zieht oder ziehen kann, prinzipiell entscheidungsirrelevant sind. Nun sagt Kant (wenn man der hier vorgeschlagenen Deutung seiner Erklärimg des Mißverstandes folgt), das Problem der Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit rühre daher, daß man das Verhältnis mit einem Kausalbegriff zu verstehen suche, der sich auf Verhältnisse zwischen Erscheinungen beziehe, aber für den Begriff des Verhältnisses der Dinge an sich selbst zu Erscheinungen gehalten werde. Eine andere, et70
71 72
Vgl. vor allem KrV A 530 f./B 558 f., A 552/B 580. S. insgesamt KrVA530-562/B 558-590, ferner KrVA685/B 713, Prolegomena, AA IV, S. 345 f. (§ 53), KpVA 83 ff., 206, KU Β LV Anm. Siehe auch oben S. 157-161. AA Vm, S. 423-430. Vgl. Refi. Nr. 5975 (AA XVm, S. 412): Freiheit ist das Vermögen, »frey vom Mechanism der Natur« und doch »wirksam nach dem Mechanism der Natur« zu sein. In der Kritik der praktischen Vernunft (A 86) sagt Kant sogar, daß »die Kausalität in Ansehung der Handlungen des Willens in der Sinnenwelt ... auf bestimmte Weise« zu erkennen, also die Kenntnis empirischer Ursache-Wirkungsverhältnisse, notwendige Bedingung dafür ist, daß die praktische Vernunft eine »Tat« hervorbringen kann.
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was konkretere Formulierung sagt, die verlangte Verknüpfung sei nur dann unmöglich, wenn man die Tugendgesinnving als »Form der Kausalität in der Sinnenwelt« betrachte (KpVA 206). Was kann das nun genauer heißen? Der Begriff der Wirkungen freier Handlungen, den Kant in der Auflösung der Freiheitsantinomie verwendet, ist ohne Zweifel ein Kausalbegriff von Verhältnissen zwischen Erscheinungen: durch die sittliche Handlung beginnt »die sinnliche Bedingung einer empirischen Reihe von Wirkungen« ( K r V A 552/B 580), und diese Zusammenhänge stehen unter den Bedingungen der Erfahrving. Es folgt unmittelbar aus Kants Auflösung der Freiheitsantinomie, daß man diese Grundsätze der Erfahrung durchaus heranziehen darf, wenn man das Verhältnis intelligibler Bestimmungsgründe, die dem Bereich der Dinge an sich selbst zuzuordnen sind, zu den möglichen Folgen in der Welt denken will73; und wenn man in diesem Sinne das Verhältnis zwischen Erscheinungen auch als ein Verhältnis zwischen Dingen an sich selbst (der Tugendgesinnving des intelligiblen Charakters) zu Erscheinungen (den Folgen in der Welt) ansieht, dann kann das nicht einfach falsch oder unangemessen sein, bleibt man doch ganz innerhalb der kritischen Vorgaben der Auflösung des dialektischen Scheins der Kritik der reinen Vernunft. Darin steckt jedenfalls kein »transzendentaler Kategorienfehler«, wie er den kosmologischen Antinomien zugrunde lag, indem Dinge an sich selbst zeitlich bestimmt gedacht oder auf Erscheinungen Vernunftschlüsse angewendet wurden, die ihre Geltung allein in bezug auf Dinge an sich selbst haben. Daß ein Verhältnis zwischen Erscheinungen hier auch für ein Verhältnis von Dingen an sich selbst zu Erscheinungen gehalten wird, scheint daher so »natürlich«, daß es eher ein Problem zu sein scheint anzugeben, in welchem Sinne darin eine Täuschving oder ein »Mißverstand« hegen kann. Der Mißverstand in der Argumentation gegen die Möglichkeit des höchsten Gutes besteht darin, daß der erfahrungsorientierte Begriff der Wirkungen sittlicher Handlungen, der, wie gezeigt, als solcher durchaus möglich und legitim ist, als der allein mögliche, als der ganze und 73
Womit man ja nicht zu erkennen beansprucht, wie aus dem intelligiblen Grund die als frei gedachte sittliche Handlung in der Sinnenwelt hervorgeht.
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adäquate Begriff des Verhältnisses von Dingen an sich selbst zu Erscheinungen gilt. Empirismus in dem weniger rigorosen Sinne meint dann also die These, daß »wir mit unserer Freiheit keine andere Kausalität (eines Mittels) als die der Natur verknüpfen« können (KU Β 424). Nur unter dieser stillschweigenden Voraussetzung beweist das Argument, daß wir keinen Begriff von der Möglichkeit des höchsten Gutes haben. Kant selbst bezeichnet den Mißverstand nicht als empiristisch, u n d in gewisser Hinsicht ist diese Qualifikation auch nicht unproblematisch. Denn sie könnte zu der Annahme verleiten, nach den Kantischen Einteilungen müßte es zu dieser empiristischen Verabsolutierung als Gegenstück auch die rationalistische Verabsolutierung geben. Dabei würde man aber übersehen, daß das, was hier abgeschwächter Empirismus genannt wird, schon die Verbindung von rationalistischen u n d empiristischen Prinzipien (Wirkung der Freiheit in der Sinnenwelt) darstellt und deswegen ebenso gut als abgeschwächter Rationalismus angesehen werden könnte, wenn der Kontext eine solche Akzentuierung erfordert. Es sei noch einmal betont: Die Unterstellung eines empirischen Begriffs der Wirkung der Tugend ist nicht nur transzendentalphilosophisch möglich, sondern kann für sich sogar eine gewisse Rationalität beanspruchen; denn von anderen als sensiblen Wirkungen in der Welt, die nach naturmechanischen Grundsätzen der Verknüpfung von Erscheinungen aus sittlich-freien Handlungen folgen, war im Zusammenhang mit der Auflösung der Freiheitsantinomie nie die Rede. Dafür gab es keinen Bedarf; jeder Begriff von Wirkzusammenhängen jenseits der Erfahrimg hätte deshalb als willkürlich und beliebig angesehen werden müssen. Es geht also durchaus u m ein berechtigtes Interesse - jedenfalls im Sinne einer kritischen Vernunft - , wenn die theoretische Vernunft auch im Hinblick auf moralisches Handeln in der Welt nicht voreilig den Boden der Erfahrungswirklichkeit (im Sinne des abgeschwächten Empirismus) verläßt. Aber so vernünftig es sein mag, nicht ohne Not Begriffe zu erdichten, so wenig zwingend ist es nach der Kritischen Philosophie, den Begriff der empirisch erkennbaren Wirkung sittlichen Handelns als den einzig möglichen anzusehen. Denn mit dem Begriff der Noumena ist ein Feld von Denkmöglichkeiten des Nicht-Sinnlichen anvisiert, aus dem nur das als unmöglich ausscheidet, was nach den Kriterien der theoretischen Vernunft in sich widersprüchlich oder nach den Kriterien der prakti-
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sehen Vernunft unmoralisch ist; und vor diesem ebenso weiten wie unbestimmten Hintergrund kann sich ein empirischer Wirkungsbegriff als ein empiristisch verkürzter Begriff erweisen. Es ist dieser »Kurzschluß« der Verabsolutierung eines empirischen Konzepts der Wirkung der Tugend in der Welt, der den Kern des Mißverstandes ausmacht. Was die formale Seite des Mißverstandes angeht, so ist es nicht ohne Interesse zu sehen, daß Kant in der Logik die Schlußfigur des indirekten Beweisens, von der er in der Argumentation gegen die Möglichkeit des höchsten Gutes Gebrauch macht (vgl. oben S. 169 f.), den Syllogismus des »Dilemma«, als besonders anfällig für Fehlschlüsse auf die Unmöglichkeit einer Sache beschrieben hatte; besonders die Alten hätten mit dem Dilemma (logisch-)dialektisch argumentiert, indem sie Sätze nicht direkt widerlegten, sondern im Grunde nur Schwierigkeiten zeigten und (sich) dadurch täuschten, daß sie die Schwierigkeiten beim Begreifen einer Sache für ihre Unmöglichkeit hielten 74 . Man mag die Übereinstimmung für einen Zufall halten oder sie einer inneren Affinität zuschreiben: imbestreitbar ist, daß diese Beschreibung sich auch auf den (transzendental-)dialektischen Mißverstand im Antinomiekapitel der Kritik der praktischen Vernunft beziehen läßt. Wie die kosmologischen Beweise stützt sich der Mißverstand auf ein indirektes Beweisverfahren; es fehlt hier aber der für jene typische apagogische Gebrauch des modus tollendo ponens (vgl. oben S. 170 f.).
5.3.4 Die antithetische Form der Dialektik Das empiristisch verkürzte Verständnis eines möglichen Zusammenhangs von Tugend und Glückseligkeit macht noch nicht den ganzen dialektischen Gehalt in d e r Kritik
der praktischen
Vernunft
aus; d e r be-
schriebene Mißverstand allein würde nämlich noch nicht zu einer Antinomie führen. Die antinomische, oder genauer: die antithetische Struktur der Problemkonstellation und ihre Bedingungen sind daher für sich genauer zu untersuchen.
74
Logik, AA DC, S. 130 f. (§ 79).
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Durch den »Mißverstand« in der Argumentation für die Unmöglichkeit des höchsten Gutes verliert zwar das Argument seine Beweiskraft, aber die Behauptung wird durch die Täuschung nicht notwendigerweise falsch. Die reine theoretische Vernunft, auch die kritisch über ihre Möglichkeiten und Grenzen aufgeklärte, verfügt über kein immanentes Kriterium mehr, das eine definitive Entscheidung über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit des höchsten Gutes erlaubte. Sie kann zwar noch einsehen, daß sie möglicherweise den Begriff empirischer Wirkzusammenhänge unzulässigerweise verabsolutiert; aber innerhalb ihres Bereiches zwingt sie nichts, von ihrem »Vorurteil« abzugehen, den empiristischen Begriff der Wirkungen sittlicher Handlungen in der Welt für den adäquaten zu halten. Sie täuscht sich zwar, wenn sie ihr Argument gegen die Möglichkeit des höchsten Gutes für universal gültig hält; ob sie aber auch in dem Sinne einer Täuschung unterliegt, daß ihre Behauptimg tatsächlich falsch ist, bleibt für die theoretische Vernunft, die reine wie die empirische, unentscheidbar. Daß für einen Satz kein gültiger Beweis vorliegt, ist ja noch kein hinreichender Grund, ihn für falsch zu halten. Nach den Einsichten der bloß theoretischen Vernunft kann die Behauptung der Unmöglichkeit des höchsten Gutes wahr sein, und zwar genau in dem Sinne und der Bedeutung, wie sie gemeint ist75. Der Mißverstand allein ist also allenfalls der Grund für eine Dialektik, die eine Entsprechimg zum Paralogismus der rationalen Seelenlehre der ersten Kritik hätte: Auch dort bezog sich die Kritik nur auf die Gültigkeit der Beweise; sie richtete sich ausdrücklich nicht gegen »einen Fehler im Inhalte« (KrVA 397 f., vgl. A 341/B 399). Die Sätze der rationalen Psychologie blieben durch die Aufdeckung des dialektischen Scheins in ihrem »Werte oder Unwerte unangetastet«; die Kritik zeigte »nur, daß die Behauptung grundlos, nicht, daß sie unrichtig sei« (KrVA 388); aus praktischer Sicht bestand sogar ein Interesse an ihrer Wahrheit (vgl. KrVA 365 f. und Β 431 f.). Die »Absicht« der Dialektik der praktischen Vernunft erstreckt sich aber auf mehr als nur einen »kritischen Einwurf« gegen die Gültigkeit 75
Die Thesen und die Antithesen der dynamischen Klasse der kosmologischen Antinomien (3. und 4. Antinomie der Kritik der reinen Vernunft) waren dagegen nur dann möglicherweise wahr, wenn man ihre Bedeutung, d. h. ihre möglichen Gegenstandsbereiche, gegenüber der ursprünglichen Intention spezifizierte.
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eines Beweises76, sie zielt auch auf eine Orientierung und Korrektur in der Sache. Eine Anzeige dafür, daß nicht nur ein Beweis ungültig ist, sondern auch falsche Sätze und Voraussetzungen im Spiel sind, ist der Widerspruch: »Der Widerstreit der ... Sätze entdeckt aber, daß in der Voraussetzung eine Falschheit liege« (KrV A 507/B 535). Die Widersprüche waren es, die die reine theoretische Vernunft »vor dem Schlummer einer eingebildeten Überzeugung« bewahrten, »den ein bloß einseitiger Schein hervorbringt«; darin lag nach Kant die besondere Bedeutung der Antinomien der rationalen Kosmologie für den Weg der kritischen Selbsterkenntnis der Vernunft77. Die Antinomie der praktischen Vernunft hat zumindest insofern eine vergleichbare Funktion, als auch sie nicht nur Indiz formaler Ungültigkeit, sondern auch eines »Fehlers im Inhalte« ist. Die Parallele zu den kosmologischen Antinomien verdeckt allerdings leicht, daß der Antithetik, dem Widerspruch zweier Sätze, in der Dialektik der praktischen Vernunft ein anderer Stellenwert zukommt als in der Kritik der reinen Vernunft. Hier zeigt ein Vergleich erneut, daß die Dialektik der praktischen Vernunft eine strukturell andere Form hat, die u. a. damit zusammenhängt, daß sie die Einsichten des transzendentalen Idealismus der ersten Kritik bereits voraussetzt. In zwei Hinsichten ergeben sich bedeutsame Differenzen: (1) Der kontradiktorische Gegensatz von Thesis und Antithesis in den kosmologischen Antinomien war (für Kant jedenfalls) Ausdruck eines inneren Widerspruchs, einer inhaltlich falschen Voraussetzung in den Prämissen der Beweise. Gegenstände der Sinne für Dinge an sich selbst zu halten und in dieser Meinung von gegebenen Erscheinungen auf die absolute Totalität ihrer Bedingungen zu schließen, das war ein in sich ungültiges Verfahren, das nicht nur zu unbegründeten, sondern auch zu falschen Behauptungen führt. Der »Widerstreit der Vernunft mit 76 77
Zur Einteilung der Einwürfe in dogmatische, kritische und skeptische s. KrVA 388 f. KrV A 406-408/B 433-435. Rückblickend bemerkt Kant: »Es ist aber merkwürdig, daß der transzendentale Paralogismus einen bloß einseitigen Schein, in Ansehung der Idee von dem Subjekte unseres Denkens, bewirkte, und zur Behauptung des Gegenteils sich nicht der mindeste Schein aus Vernunftbegriffen vorfinden will« (KrVA406/B 433). Auf die wichtige Funktion des »Widerstreits der Vernunft mit sich selbst« für die Entdeckung der dialektischen Täuschung verweist Kant auch in der Einleitung zur Dialektik der praktischen Vernunft KpVA193. Vgl. ferner Prolegomena, AAIV, S. 340 f. (§ 52 b).
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sich selbst« war der interne Hinweis darauf, daß etwas nicht mit ihren Prämissen stimmen konnte; die Antinomien zwangen die theoretische Vernunft immanent, von der Voraussetzung abzugehen, daß in der Erfahrung Dinge an sich selbst gegeben sind, denn aus ihrer Prämisse ließen sich ein Satz wie sein Gegen-Satz nach Prinzipien der theoretischen Vernunft ableiten, und eine solche Prämisse ist notwendig falsch. (2) In d e r Systematik der Kritik der reinen Vernunft
exemplifiziert
und konkretisiert die Dialektik im wesentlichen nur die allgemeinen transzendentalphilosophischen Einsichten für die Bereiche der spezifischen Metaphysik, in denen Erkenntnis in Form von synthetischen Urteilen a priori beansprucht wurde. Daß die Gegenstände unserer Erkenntnis keine Dinge an sich selbst sind und daß daher jede Spekulation, die sie für Dinge an sich selbst nimmt und darauf ihre Schlüsse stützt, in die Irre führen muß, das ergab sich schon hinreichend eindeutig aus der Begründung des transzendentalen Idealismus in der Ästhetik und Analytik. Die transzendentale Dialektik erschöpft sich zwar nicht in einer bloßen Illustration von Resultaten der Ästhetik und Analytik; sie bietet eine Analyse des Ursprungs und der Funktion der Vernunftideen, und die Analyse der dialektischen Vernunftschlüsse fördert im einzelnen manch neuen Gesichtspunkt zutage, der nicht einfach aus transzendentalphilosophischen Prämissen »deduziert« werden kann. Dennoch spielen die Ergebnisse, die Wahrheit und Falschheit der Sätze, ganz im Rahmen des transzendentalen Idealismus und seiner elementaren Determinationsmöglichkeiten; von ihrer ganzen Anlage her ist die Dialektik kein Ort neuer Gründe oder Gesichtspunkte für Urteile in der Sache. Ganz am Ende der transzendentalen Dialektik bemerkt Kant, daß wir nach den Einsichten der transzendentalen Analytik eigentlich »der mühsamen Abhörung aller dialektischen Zeugen, die eine transzendente Vernunft zum Behuf ihrer Anmaßungen auftreten läßt, [hätten] überhoben sein können; denn wir wußten es schon zum voraus mit völliger Gewißheit, daß alles Vorgeben derselben zwar vielleicht ehrlich gemeint, aber schlechterdings nichtig sein müsse«; es war allein die Hartnäckigkeit des dialektischen Scheins, die eine ausführliche Untersuchung »der spekulativen Vernunft bis zu ihren ersten Quellen« notwendig machte (KrVA 702-704/B 730-732). Dies gilt natürlich auch für die Antinomien. Die kosmologischen Widersprüche haben zwar für die Entwicklungsgeschichte der Kritischen
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Philosophie eine herausragende Bedeutung, aber ihnen kommt in der Kritik der reinen Vernunft bei der Begründung des transzendentalen Idealismus keine tragende oder gar unverzichtbare systematische Rolle mehr zu; ihr Erkenntniswert (im Rahmen eines apagogischen Beweises) ist bestenfalls propädeutischer Art: »Die Antinomie der reinen Vernunft führt also unvermeidlich auf jene Beschränkung unsrer Erkenntniß zurück, und was in der Analytik vorher a priori dogmatisch bewiesen worden war, wird hier in der Dialektik gleichsam durch ein Experiment der Vernunft, das sie an ihrem eignen Vermögen anstellt, unwidersprechlich bestätigt«78. Bei der Antinomie der praktischen Vernunft liegen die Verhältnisse signifikant anders: (Ad 1) Eine Entscheidung über Falschheit oder Wahrheit der Behauptimg der Unmöglichkeit des höchsten Gutes ist, wie gezeigt, nicht mehr allein mit den theoretischen Mitteln des transzendentalen Idealismus möglich. Sie muß sich auf externe Gründe stützen und hat daher für die bloß theoretische Vernunft faktischen Charakter. Der Widerspruch von Thesis und Antithesis ist hier nicht Ausdruck innerer Inkonsistenz der Argumentation oder (transzendentalphilosophisch) unstatthafter Prämissen, die beiden Seiten zugrunde liegen; der Widerspruch ist Ort der Konfrontation der theoretischen Vernunft mit einem Satz ganz anderer, nicht mehr theoretischer Herkunft der Geltung. Daher fehlt auch der direkte (negative) Bezug und die spiegelbildliche Entsprechung der Beweise für Thesis und Antithesis, wie sie bei den kosmologischen Antinomien durch die Anwendimg der apagogischen Methode auf beiden Seiten gegeben war. (Ad 2) Ein externer Grund, die Verabsolutierung des Begriffs der empirischen Wirkungen sittlicher Handlungen für tatsächlich falsch und inadäquat zu halten, taucht in der Darstellung Kants erst im Konflikt mit der praktischen Vernunft und ihrer »notwendigen Hypothesis« der Möglichkeit des höchsten Gutes auf, also in der Antinomie der praktischen Vernunft. Die Dialektik ist daher ein originärer Ort, an dem neue Entscheidungsgründe in schwebende Verfahren eingeführt werden. Die
78
Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik, AA XX, S. 290 f.; vgl. auch oben S. 104 Anm. 9 und S. 242 f. Anm. 67.
Die Dialektik in der Antinomie der praktischen Vernunft
257
Erörterungen haben hier einen Spielraum, in dem noch nicht alle inhaltlichen Resultate durch transzendentalphilosophische Grundeinsichten determiniert sind und in dem sich daher etwas entscheiden kann, was nach der Anlage des Systems der Kritischen Philosophie bis dahin offenbleiben mußte oder sogar falsch beurteilt wurde. Auch wenn Kant die antithetische Struktur der »Antinomie der praktischen Vernunft« nicht in letzter Deutlichkeit ausgestaltet hat, kommt ihr eine besondere und in gewisser Hinsicht sogar singuläre Bedeutung zu: Die »Suche« der praktischen Vernunft nach der unbedingten Totalität ihres Gegenstandes ist als solche nicht dialektisch. Die theoretische Vernunft argumentiert zwar gegen die Möglichkeit des höchsten Gutes empiristisch-kurzschlüssig und damit formal ungültig; es läßt sich aber mit den theoretischen Mitteln des transzendentalen Idealismus nicht mehr immanent entscheiden, ob ihre Behauptung auch materialiter falsch ist. Der ganze dialektische Problemgehalt läßt sich weder allein aus der theoretischen noch allein aus der praktischen Vernunft entwickeln; er zeigt sich erst in der Konfrontation der beiden Vernunftvermögen. Die Antithetik der beiden Sätze »Das höchste Gut ist möglich« und »Das höchste Gut ist nicht möglich« ist daher nicht nur wie bei den kosmologischen Antinomien Anzeige einer inhaltlichen Falschheit, sondern auch Ausdruck dieser Konfrontation von praktischer und theoretischer Vernunft und ihrer verschiedenartigen, voneinander unabhängigen Geltungsgründe. Die Antithetik ist also weit mehr als nur eine nachträgliche Form der Darstellung der Dialektik79, für die diese Form ohne besondere sachliche Bedeutung wäre. Man kann nicht einen einzelnen Satz allein als den »Ort der Dialektik« ausmachen, so wie dies Albrecht mit dem zweiten Satz der Disjunktion versucht hat80. Erst im Gegen-Satz zweier Behauptungen, also in der Antithetik, wird hier ein Problem manifest. Denn anders als in der ersten Kritik läßt sich die Antithetik nicht als Explikation eines allgemeinen inneren Kernwiderspruchs oder Grundirrtums eines Vernunftvermögens verstehen. In der Kritik der praktischen Vernunft bleibt die Antithetik die irreduzible Anzeige des Problems; der faktische Charakter kann nicht dadurch aufge-
79 80
So M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 105 Anm. 325; s. oben S. 200. M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 95, vgl. oben S. 227 f.
258
5 Ursprung und Struktur der Antinomie der praktischen Vernunft
hoben werden, daß man die sachliche Falschheit, die hier im Spiele ist, durch eine kritische Untersuchung der subjektiven Erkenntnisbedingungen sozusagen an der Wurzel erkennen und packen könnte, so daß der Antithetik eine bloß propädeutische Funktion bliebe. Das hat allerdings eine wichtige Konsequenz, die man gegen Kant w e n d e n m u ß : W e n n er in d e r Einleitung
der Kritik der praktischen
Vernunft
die Entsprechung der Einteilung der zweiten Kritik zu jener der ersten damit begründet, daß »es immer noch reine Vernunft ist, deren Erkenntnis hier dem praktischen Gebrauche zum Grunde liegt« (KpV A 31), und wenn er in diesem Sinne später anscheinend auch so etwas wie eine allgemeine Erklärung der »Dialektik der reinen praktischen Vernunft« 81 zu geben beansprucht, dann ist nicht zu sehen, wie ein solcher Anspruch eingelöst werden könnte: Es gibt in der Kantischen Philosophie keine allgemeine Struktur oder Eigenschaft der Vernunft qua reiner Vernunft, die erklären würde, warum es eine »Antinomie der praktischen Vernunft« gibt oder gar geben muß; der Problemgehalt, der sich hier zeigt, läßt sich nicht aus »tieferliegenden« Vernunftprinzipien hinreichend spezifisch verständlich machen. Die Standarderklärungen der Dialektik und der Antinomien, daß nämlich die Vernunft das Unbedingte in der »Reihe des Bedingten und der Bedingungen« sucht (KpV A 192), »die Gegenstände der Sinne für die Dinge an sich selbst« (KU Β 243) oder Dinge an sich für Erscheinungen hält 82 , stellen keine adäquaten Beschreibungen des Problems dar, wie die detaillierte Analyse des empiristischen Mißverstandes gezeigt hat (vgl. Kap. 5.3.3). Es scheint allerdings eine Formel zu geben, die die Antinomien der theoretischen und der praktischen Vernunft auf einen gemeinsamen Ursprung zurückführt. In der Refi. Nr. 6418 sagt Kant: »Alle Antinomien kommen daher, weil man das Unbedingte in der Sinnenwelt sucht« 83 . Kann man nicht auch von der Idee des höchsten Gutes sagen, der Grund der Schwierigkeit liege darin, daß man den Zusammenhang von Tugend und Glückseligkeit in der Sinnenwelt suche, insofern ein empiristischer 81
82 83
KpVA192: »Die reine Vernunft hat jederzeit ihre Dialektik, man mag sie in ihrem spekulativen oder praktischen Gebrauche betrachten«. Vgl. insgesamt KpVA192-197, ferner KU Β 243 f. sowie oben Kap. 4.1. Brief an Ch. Garve vom 7. 8.1783, AA X, S. 341 Anm. Refi. Nr. 6418 (AA XVIII, S. 710).
Die Dialektik in der Antinomie der praktischen Vernunft
259
Begriff der Wirkungen der Tugend in der Welt verabsolutiert und »Tugendgesinnung« allein als eine »Form der Kausalität in der Sinnenwelt betrachtet« werde, wie Kant es in der »kritischen Auflösung der Antinomie der praktischen Vernunft« ausdrückt ( K p V A 206)? Man kann das einräumen, aber man darf dann nicht übersehen: Der entscheidende gemeinsame Umstand, der die Ideen der theoretischen Vernunft dialektisch machte, bestand darin, daß man Erfahrungsgegenstände für Dinge an sich selbst ansah und in dieser Bedeutung auf die gegebene vollständige Reihe der Bedingungen und das Unbedingte schloßt. Dazu fehlt in der Kritik der praktischen Vernunft jede Entsprechung: (1) Tugend und Glückseligkeit werden als das angesehen, was sie sind: das eine als Noumenon und das andere als empirisch bedingte Erscheinung in der Welt, in ihrer Verknüpfung besteht ja die Schwierigkeit; und (2) einen Schluß vom Bedingten auf das Unbedingte enthält die Argumentation nicht. Zwar impliziert auch der Beweis der Unmöglichkeit des höchsten Gutes eine »Totalisierung«, insofern unterstellt wird, der empiristische Begriff von Wirkungen der Tugend in der Welt sei der einzig realmögliche. Aber dieses »Absolutsetzen« von Wirkungsverhältnissen in der Erscheinungswelt ist nicht identisch mit der Verwechslung von Erscheinungen mit Dingen an sich selbst, jedenfalls nicht in der kritischen Bedeutung, in der diese Termini bislang in der Transzendentalphilosophie verwendet wurden; anders als in den Beweisen der Freiheitsantinomie ist die Verwendung des empiristischen Kausalbegriffs im Antinomiekapitel der zweiten Kritik durchaus verträglich mit den Grundeinsichten der Transzendentalphilosophie (vgl. oben S. 250 f.). Das heißt aber: Wenn man Kants Feststellung, alle Antinomien hätten ihren Grund darin, daß man das Unbedingte in der Sinnenwelt suche, auch auf die Antinomie der praktischen Vernunft beziehen will, so verschiebt man nicht unerheblich die Bedeutungen, insbesondere die des Begriffs der Sinnenwelt (aber auch, wie die Auflösung der Antinomie zeigt, als Folge davon die Bedeutung des Korrelatbegriffs der Verstandeswelt und des Unbedingten): »Sinnenwelt« hat im Zusammenhang mit 84
Man kann bezweifeln, ob diese »Erklärung« wirklich schon so etwas wie den dialektischen Widerspruch der kosmologischen Antinomien in nuce enthält; in jedem Fall ist damit aber das allgemeine Verfahren näher bezeichnet, dessen Anwendung bei Kant zu Antinomien führt (sei es direkt, sei es erst unter zusätzlichen Bedingungen).
260
5 Ursprung und Struktur der Antinomie der praktischen Vernunft
der Antinomie der praktischen Vernunft nicht mehr den unkritisch-realistischen Sinn eines »Dinges an sich selbst« wie bei den kosmologischen Antinomien, sondern wird in jener Bedeutung von Erscheinungswelt gebraucht, die sich aus der Auflösimg der Dialektik der reinen spekulativen Vernunft ergab 85 . Aus diesem Begriff ist gerade jene Bedeutimg eliminiert, die das dialektische πρώτον ψευδός der kosmologischen Antinomien enthielt. Daß es eine Antinomie der praktischen Vernunft gibt, kann also auch durch diese Formel nicht eingesehen werden, bevor das Problem in seiner inhaltlichen Spezifität entwickelt ist; sie beschreibt bestenfalls nachträglich Entsprechungen mit einem Begriff der Sinnenwelt, der in seiner allgemeinen Bedeutung, die hinsichtlich der Alternative »Ding an sich selbst oder Erscheinung« noch imbestimmt ist, keinen zureichenden sachlichen Erklärungswert mehr hat. Es gibt in der Kritischen Philosophie auch nicht so etwas wie allgemeine generierende oder transformierende Regeln, die die verschiedenen spezifischen Bedeutungen von Sinnenwelt ineinander überführen und gewährleisten, daß bei allen Abwandlungen die entscheidenden Bedingungen für das Zustandekommen von Antinomien erhalten bleiben. Vor dem Hintergrund der vorangehenden Systemteile der Kritischen Philosophie (Kritik der theoretischen Vernunft und Analytik der praktischen Vernunft) erhält die Antinomie der praktischen Vernunft aus einem doppelten Grunde etwas Kontingentes: (1) Da die Dialektik der praktischen Vernunft anders, als es Kant anscheinend intendierte, nicht aus einem allgemeineren Begriff einer Vernunftdialektik verständlich gemacht werden kann, muß eine Antinomie der praktischen Vernunft, falls es sie denn gibt, stärker als die kosmologischen Widersprüche von spezifischen Voraussetzungen und Umständen abhängen. Das bedeutet nicht notwendig, daß erst die speziellen Inhalte »Tugend« und »Glückseligkeit« oder die Verbindung dieser speziellen Inhalte das Problem verursachen; entscheidender Umstand ist eine bestimmte Ordnung, eine
85
Das Argument gegen die Möglichkeit des höchsten Gutes behielte a fortiori bei einem Verständnis der Sinnenwelt als Realität an sich seine Gültigkeit; insofern könnte man sagen, daß es gegenüber der Unterscheidung »Ding an sich - Erscheinung« invariant ist. Die Tugend müßte dann aber ihre spezifisch Kantische Bedeutung einbüßen: Sie könnte nicht mehr als eine Wirkung der Freiheit verstanden werden.
Die Dialektik in der Antinomie der praktischen Vernunft
261
feste Zuordnung von Noumenalem und Phänomenalem, die mit der verlangten Zweckmäßigkeit strukturell über die Totalitätsbegriffe der reinen spekulativen Vernunft hinausgeht. (2) Die Beweise für Thesis und Antithesis sind inhaltlich und logisch völlig voneinander unabhängig; anders als in den Beweisen zu den kosmologischen Sätzen gibt es keine gemeinsame dialektische Annahme, die beiden Seiten zugrunde liegt. Damit es zu einer Antinomie der praktischen Vernunft kommen kann, ist also eine »zweckmäßige« Konfrontation voneinander unabhängiger Argumente erforderlich, und nur der wird Kants Argument für eine Antinomie der praktischen Vernunft übernehmen können, der die Notwendigkeit aller dieser einzelnen heterogenen Voraussetzungen anerkennt. Der Vergleich mit dem Vorgängerproblem der Antinomie, dem »dilemma practicum«, wird zudem zeigen, daß durchaus eigenständige Entwicklungsstränge der theoretischen und praktischen Philosophie Kants zusammenkommen mußten, damit die Antinomie möglich wurde (vgl. unten Kap. 6.6); die Kritik der reinen Vernunft schloß eine Dialektik der praktischen Vernunft noch geradezu aus (vgl. vintén Kap. 5.4.2). Die Problemkonstellation ist so wenig aus einem einheitlichen Prinzip der Vernunft als notwendig einzusehen, daß derjenige, der sich zu einer Akzeptanz all jener Prämissen in der Lage sähe, angesichts so viel kontingenter Ordnung geradezu überrascht und verwundert sein müßte: Daß auch die praktische Vernunft unter ihren ganz anderen Bedingungen und Umständen eine Dialektik hat, ist nicht weniger erstaunlich als jene »genaue Eintreffung der wichtigsten Sätze der praktischen Vernunft« mit den Untersuchungen der ersten Kritik, die Kant schon am Ende der Analytik der Kritik der praktischen Vernunft so »in Verwunderung« setzte (KpV A 190 f.). Für den freilich, der sich von der Notwendigkeit der Voraussetzungen nicht überzeugen kann, verdanken sich solche Parallelen eher einer Kantischen Vorliebe für »architektonische Symmetrien«; sie wirken konstruiert, wie sehr auch der Autor das »auf keinerlei Weise« Gesuchte derartiger Übereinstimmungen zwischen den Systemteilen betonen mag (KpVA 190). Wie das Urteil hier auch ausfallen mag - eine Entsprechving existiert in jedem Fall, auf die Kant selbst offensichtlich nicht geachtet hat: Zweckmäßigkeit kontingenter Verhältnisse ist nicht allein ein Problem des Objekts der praktischen Vernunft, der Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit, sondern kennzeichnet auch die argumentativen Bedingun-
262
5 Ursprung und Struktur der Antinomie der praktischen Vernunft
gen für eine Dialektik der praktischen Vernunft: Es ist ein für die Selbsterkenntnis der Vernunft kontingentes Verhältnis ihrer praktischen und theoretischen Prinzipien, das es ermöglicht, daß das höchste Gut in Form einer Antithetik zu einem Problem wird.
5.3.5 Resümee und Schlußfolgerungen Anders als es Kants eigene Einordnungen vermuten lassen, hat die Antinomie der praktischen Vernunft von den Voraussetzungen und der Struktur des Problems her eine eigentümliche Gestalt, durch die sie sich deutlich von den kosmologischen Antinomien der spekulativen Vernunft abhebt. Die Übereinstimmungen erschöpfen sich darin, daß es Ideen einer unbedingten Totalität sind, die die Vernunft in eine Dialektik verstricken, und in beiden Fällen ein Widerspruch zweier kontradiktorischer Urteile vorliegt, für die Kant notwendige Vernunftbedingungen ihrer Gültigkeit reklamiert; eine Entsprechung kann man auch darin sehen, daß die Thesen ein praktisches Interesse und die Antithesen ein empiristisches Interesse der theoretischen Vernunft für sich geltend machen können 86 (mit dem Unterschied allerdings, daß in der Antinomie der praktischen Vernunft sich die Thesis nicht nur auf ein praktisches Interesse, sondern auf praktische Geltungsgründe stützt). Hinter der Oberflächenähnlichkeit verbergen sich sehr unterschiedliche »Tiefenstrukturen« des Problems. Schon die Ausgangssituation ist eine signifikant andere: Die Antinomie der praktischen Vernunft setzt Kants Lehre des transzendentalen Idealismus, der der »Schlüssel zu Auflösung der kosmologischen Dialektik« ( K r V A 490/B 518) war, voraus. In der Argumentation für die Antinomie der praktischen Vernunft fehlt daher das Pendant zur Suche nach dem Unbedingten im Sinne eines dialektischen Erschließens der Totalität der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten. Die praktischen Begriffe des Unbedingten (des moralischen Gesetzes) und der unbedingten Totalität (des höchsten Gutes) sind in sich frei von einer täuschenden Dialektik und von Widersprüchen. Insofern kann man in einem genaueren Sinne nicht wie Kant 86
Für die kosmologischen Antinomien vgl. 1GVA466-470/B 494-498.
Die Dialektik in der Antinomie der praktischen Vernunft
263
von einer Dialektik oder Antinomie der praktischen Vernunft87 oder gar von »Widersprüche[n] der reinen praktischen Vernunft mit ihr selbst«88 sprechen (worauf schon 1794 K.-H. Heydenreich bestanden hatte89). Die theoretische Vernunft wiederum sucht hier nicht mehr in eigenem Auftrag und Interesse nach dem Unbedingten, sondern erteilt sozusagen auf eine Anfrage der praktischen Vernunft die Auskunft, daß sie auf ihrem Gebiet kein Wie der Möglichkeit der verlangten notwendigen Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit sehe. In diesem Konflikt der beiden Vernunftvermögen besteht das Problem. Wenn im folgenden dennoch weiter die Bezeichnung »Antinomie der praktischen Vernunft« verwendet wird, dann nur in einem Sinne, der keine strenge sachliche Parallele zur Bildung des Terminus »Antinomie der theoretischen Vernunft« impliziert. Den weiteren Gebrauch kann man nicht nur pragmatisch damit rechtfertigen, daß dies nun einmal der von Kant verwendete Ausdruck ist, sondern auch inhaltlich mit dem Hinweis, daß der Gegenstand, auf den sich Thesis und Antithesis beziehen, die Idee der unbedingten Totalität der reinen praktischen Vernunft ist (KpVA 194)90, es also um ein Problem geht, das sich erst in der praktischen Philosophie oder in dessen engerem Umfeld stellt, jedenfalls nicht aus einer Fragestellung der theoretischen Vernunft hervorgeht. Daß die Antinomie der praktischen Vernunft aus dem Rahmen der Dialektik der theoretischen Vernunft fällt, wird daran erkennbar, daß sie nicht durch Kants allgemeine Erklärungen der Vernunftdialektik adäquat beschrieben wird. Die Dialektik bestätigt hier nicht mehr wie in der ersten Kritik eine Einsicht, die vorher in einer Analytik der Vernunftvermögen »a priori dogmatisch bewiesen worden« wäre 91 ; die Falschheit »im Inhalte«, für die der kontradiktorische Widerstreit steht, ist nicht aus anderen Prinzipien oder Erkenntnissen der Transzendentalphilosophie ableitbar; die Antithetik bleibt hier die einzige Anzeige einer sachlich falschen Voraussetzung. Sie behält damit im Rah87 88 89
90 91
Vgl. J^VA 114,192,196,204-206,214. KpVA 196, vgl. auch A 207. S. oben S. 84. Moderne Interpreten reden dagegen gerne und unbekümmert vom »Selbstwiderspruch reiner praktischer Vernunft«, so H. Hoping, Freiheit im Widerspruch, S. 170; vgl. auch unten S. 349 f. Vgl. auch oben Kap. 5.2, bes. S. 222-227. Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik, AA XX, S. 291.
264
5 Ursprung und Struktur der Antinomie der praktischen Vernunft
men der Kantischen Philosophie etwas unaufhebbar Faktisches; sie verdankt sich einer kontingenten Konstellation von Kantischen Prinzipien der praktischen und theoretischen Vernunft (die als einzelne durchaus für sich notwendig sein können, über deren Gültigkeit und Berechtigung also mit dieser Feststellung allein noch nichts entschieden ist). Thesis und Antithesis stützen sich auf Argumente, die voneinander unabhängig sind und auch eine unterschiedliche formale Struktur besitzen: Während die Thesis (»das höchste Gut ist möglich«) direkt aus Kantischen Prämissen und Theoremen abgeleitet wird, wird die Antithesis (»das höchste Gut ist nicht möglich«) in einem indirekten Verfahren bewiesen. Es gibt keinen übergeordneten Vernunftbegriff, aus dem sich die Konfrontation von praktischer und theoretischer Vernunft in der Antinomie der praktischen Vernunft als notwendig begreifen ließe; auch entwicklungsgeschichtlich stammen die erforderlichen Voraussetzungen der Antithetik nicht aus einem Guß (vgl. unten Kap. 6.5 und 6.6). All dies ist ein Indiz dafür, daß die Antinomie der praktischen Vernunft einen anderen Ort und eine andere Funktion im Kantischen System hat als die Widersprüche der spekulativen Vernunft. Letztere waren nach Kant das unvermeidliche Schicksal einer spekulativ-dogmatischen Metaphysik; sie gehören in die Vorgeschichte der Kritik der reinen Vernunft, waren das treibende Movens, das eine kritische Untersuchung erzwang, die ein für alle Mal »die Quelle der Irrtümer« verstopfen sollte (KrVΒ XXXI). Die Antinomie der praktischen Vernunft ist dagegen auf dem Terrain der Kritischen Philosophie selbst angesiedelt; sie gehört in ihre innere Geschichte und Entwicklung, in einem Sinne, der allerdings noch genauer zu klären ist (s. unten Kap. 8). Das Material des Problems, die Frage nach dem Zusammenhang von Tugend und Glückseligkeit, ist älter als die Kantische Ethik, aber erst innerhalb der Philosophie Kants und auf ihren praktischen wie theoretischen Grundlagen ist es möglich, das Problem in Form einer Vernunftantinomie darzustellen. Deutlich wurde dies bisher an der Eigenart des empiristischen »Mißverstandes«: Ein Verhältnis zwischen Erscheinungen kann nur der in der analysierten Weise für das Verhältnis der Dinge an sich selbst zu diesen Erscheinungen halten (KpV A 207), der schon mit den Grundbegriffen der Transzendentalphilosophie bewußt umzugehen weiß. Wir haben es hier eben nicht mit einer »ganz natürlichein] Antithetik« zu tun, »auf die keiner zu grübeln und künstlich Schlingen
Die Aufgabe einer Kritik der praktischen Vernunft
265
zu legen braucht«, »in welche die Vernunft von selbst und ... unvermeidlich gerät«92, sondern mit einem hochkünstlichen und kontingenten Produkt, das erst auf dem speziellen Boden des Kantischen Systems und hier auch erst in einer bestimmten Phase der ethischen Reflexion Kants gedeihen konnte (was übrigens systematisch bedeutet, daß sich aus dieser Antinomie kein weiteres unabhängiges Argument für die Notwendigkeit und Gültigkeit des transzendentalen Idealismus zum Zwecke einer Propädeutik der Transzendentalphilosophie gewinnen läßt93). Kants Antinomie der praktischen Vernunft ist ein Novum in der Philosophiegeschichte, ohne direkte historische Vorbilder oder Vorlagen. M. Albrecht hat daher - trotz der Verwechslung der Antinomie mit der Disjunktion der beiden Verknüpfungsformen von Tugend und Glückseligkeit - aus systematischen, nicht nur faktischen Gründen Recht, wenn er als Resultat seiner historischen Recherchen festhält, daß »der Gegensatz zwischen "Thesis" und "Antithesis" der "Antinomie der praktischen Vernunft" so ausschließlich der Kritik der praktischen Vernunft eigen [ist], daß es vergeblich sein dürfte, nach Vorlagen für diese Antithetik suchen zu wollen«94.
5.4 Die Aufgabe einer Kritik der praktischen Vernunft Durch seine falsche Parallelisierung der Dialektik von theoretischer und praktischer Vernunft provoziert Kant auch ein Mißverständnis, was die Aufgabe einer Kritik der praktischen Vernunft angeht. Die Interpreten stolpern regelmäßig auch über diesen Fallstrick.
5.4.1 Braucht die reine praktische Vernunft eine Kritik? Wenn man wie Kant die Antinomie der praktischen Vernunft in eine enge Entsprechung zu den Antinomien der theoretischen Vernunft setzt, dann ist es nur konsequent, wenn man auch der Kritik eine parallele Auf92 93 94
KrVA407/B 433 f., Hervorhebung von mir.
Vgl. oben S. 104 Anm. 9. M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 133.
266
5 Ursprung und Struktur der Antinomie der praktischen Vernunft
gäbe zuweist. Kritik der reinen theoretischen Vernunft bedeutete vor allem zweierlei: (1) im negativen Sinne die Zurückweisung der Erkenntnisansprüche der spekulativen Metaphysik und (2) im positiven Sinne, gegen den Skeptizismus gewendet, eine transzendentalphilosophische Grundlegung der synthetischen Urteile a priori in der Mathematik und den Naturwissenschaften 95 . Die Kritik schränkte den Gebrauch der reinen theoretischen Vernunft auf den Bereich der Erscheinungen ein, wies ihm aber zugleich für die Erfahrungswissenschaften eine fundierende Funktion zu. Indem die Kritik diese unmittelbaren Funktionen erfüllte, übernahm sie, ohne daß dem eine direkte Absicht zugrunde lag (so jedenfalls Kant KpVA 194), eine dritte Aufgabe: ein Feld des Übersinnlichen für metaphysische Optionen freizuhalten, die sich aus der praktischen Philosophie ergeben96. Es ist vor allem die negative Funktion der Kritik, die Einschränkung des Gebrauchs der reinen Vernunft also, die durch die Antinomien der Vernunft notwendig wird. Eine negative Kritik scheint Kant auch für die reine praktische Vernunft vorzusehen, wenn er meint, daß es »der Vernunft in ihrem praktischen Gebrauche ... um nichts besser« gehe (KpVA 194) und »die aufrichtig angestellten und nicht verhehlten Widersprüche der reinen praktischen Vernunft mit ihr selbst zur vollständigen Kritik ihres eigenen Vermögens nötigen« ( K p V A 196), ganz so, wie zuvor die spekulative Vernunft durch den »Widerstreit mit sich selbst« zu einer »vollständigen Kritik des ganzen reinen Vernunftvermögens« gezwungen wurde (KpVA 193); die Parallelisierung reicht hier bis in den Wortlaut. Schon in der Einleitung der Kritik der praktischen Vernunft hatte Kant die Dialektik der praktischen Vernunft »als Darstellung und Auflösung des Scheins in Urteilen der praktischen Vernunft« angekündigt und in eine direkte Entsprechung zur Kritik der spekulativen Vernunft gesetzt, mit der Begründung, daß »es immer noch reine Vernunft ist, deren Erkenntnis hier dem praktischen Gebrauche zum Grunde liegt« (KpVA 31).
95 96
Ich folge hier im wesentlichen L.W. Beck, A Commentary, S. 44 f. (dt. S. 54). Kant selbst nimmt die Zuordnimg des negativen und positiven »Nutzens« der Kritik etwas anders vor: In KrVΒ XXIV f. sieht er in der Funktion, den praktischen Gebrauch der reinen Vernunft zu ermöglichen, den positiven Nutzen und in den übrigen Aufgaben, die an dieser Stelle nicht deutlicher unterschieden werden, den negativen.
267
Die Aufgabe einer Kritik der praktischen Vernunft
Daß aber auch bei der Funktion der Kritik die Parallele nicht weit trägt, bestätigt gegen seine Absicht ein Interpret, der paraphrasierend verschiedene Aussagen Kants zur Dialektik der praktischen Vernunft miteinander verbindet, ohne ihre Unverträglichkeit zu bemerken. R. Wimmer referiert zunächst Kants These in KpVA 192, daß die zweite Kritik »auch eine Kritik der reinen praktischen Vernunft« sei, »weil, wie sich für Kant nun herausstellt, nicht nur die reine theoretische, sondern auch die reine praktische Vernunft "ihre Dialektik" hat«, und fügt dann, wohl mit Blick auf den Schluß des Antinomiekapitels (KpVA 205), hinzu: »und sich in eine Antinomie verstrickt, die ihren unbedingten Geltungsanspruch gefährdet«97. Wimmers Formulierung deutet aber schon an, daß auch für ihn alle »Kritik« hier darauf hinausläuft, den Geltungsanspruch der reinen praktischen Vernunft gegen die Gefährdimg durch die Antinomie in seiner Unbedingtheit und ungeteilten
Allgemein-
heit zu sichern (nach Wimmer vor allem durch das Gottespostulat98), und nicht darauf, ihn auf besondere Bedingungen einzuschränken, wie dies bei einer Entsprechung zur ersten Kritik zu erwarten wäre. Die Annahme, der Sache nach gebe es bei Kant eine negative Kritik auch der reinen praktischen Vernunft, scheitert an zwei grundsätzlichen Umständen: (1) Die reine praktische Vernunft hat keine negative Kritik nötig, und (2) sie verträgt prinzipiell keine derartige Kritik. (Ad 1) Man mag den Problemgehalt der Ausführungen Kants zur Dialektik und Antinomie der praktischen Vernunft wenden, wie man will, die Antinomie für sachlich begründet halten oder auch nicht: in den Teilen der Argumentation, die der praktischen Vernunft zugeordnet werden können und in die Thesis münden (»das höchste Gut ist möglich«), ist keine Dialektik auszumachen. Ein »Mißverstand« steckt allein in dem (Dilemma-) Schluß auf die Unmöglichkeit des höchsten Gutes, und der ist eindeutig einem empiristischen Prinzip der theoretischen Vernunft anzulasten. Auch Albrecht, der Kants Redeweise von der Dialektik der reinen praktischen Vernunft zum Nennwert übernimmt, ist nicht in der Lage, einen dialektischen Sachgehalt der praktischen Vernunft anzugeben; er sieht sich im Gegenteil gezwungen, gegen seine eigenen 97 98
R. Wimmer, Kants kritische Religionsphilosophie, S. 25, Hervorhebung im Original. Ebd.
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5 Ursprung und Struktur der Antinomie der praktischen Vernunft
»sachliche[n] Überlegungen« 99 zuzugestehen: »Will man die divergierenden Äußerungen Kants um jeden Preis auf einen Nenner bringen, dann dürfte in der Tat einiges dafür sprechen, der Ablehnung einer Kritik der reinen praktischen Vernunft den Vorrang einzuräumen und die Möglichkeit einer Dialektik zu verneinen bzw. sie im theoretischen Vernunftgebrauch anzusiedeln« 100 . (Ad 2) Die praktische Vernunft gebietet mit einer absoluten Verbindlichkeit, die keine Einschränkung duldet. Kant nennt das Bewußtsein des moralischen Gesetzes ein »Faktum der reinen Vernunft« (KpV A 55 f.), um damit - auch gegen eigene frühere Deduktionsversuche gerichtet - die unableitbare Unmittelbarkeit und Unbedingtheit der Gewißheit praktischer Geltung zu betonen, eine absolute, universale Geltung, zu der es kein Pendant in der reinen theoretischen Vernunft gibt. Jeder Versuch, diese Geltung einzuschränken, auf Bereiche zu begrenzen oder anderen Interessen unterzuordnen 101 , würde unvermeidlich mit dem Absolutheitsanspruch des moralischen Gesetzes kollidieren. Eine Antithetik der reinen praktischen Vernunft im Sinne eines Widerspruchs innerhalb ihrer moralischen Gesetzgebung könnte daher auch nicht durch eine »negative« Kritik, durch Einschränkung des Geltungsbereiches ihrer Urteile nach skeptischer Methode, aufgelöst werden; sie wäre unaufhebbar. Eine solche Antithetik wäre für Kant wohl noch fataler als der Skeptizismus auf theoretischem Gebiet, sie stünde für eine abgrundtiefe Zerrissenheit der praktischen Orientierung überhaupt. Da Kant zufolge der Mensch unentrinnbar unter dem unbedingten Anspruch des moralischen Gesetzes steht, wäre der Widerstreit nicht damit beendet, daß man das Konzept einer Gesetzgebung aus reiner praktischer Vernunft mit Hinweis auf seine innere Widersprüchlichkeit für ein »nihil negativum« erklärte, für ein Nichts, das schon deswegen »gegenstandslos« wäre, weil sich der Begriff selbst widerspricht (vgl. KrV A 291 f./B 348). Es bliebe der unaufhörliche Wechsel von absolut verbindlichem moralischem Anspruch und seiner ständigen Annullierung. Kant selbst 99 100
101
M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 95. M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 178, Hervorhebung im Original; vgl. auch oben S. 226 Anm. 25 und S. 238 f. So kann man der reinen praktischen Vernunft »gar nicht zumuten«, der spekulativen Vernunft untergeordnet zu sein (KpVA219).
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hat m. W. diese absurde Situation nirgendwo näher beschrieben, auch nicht als Negativfolie (als die sie gleichwohl im Hintergrund fungiert, denn sie ist das, was bei ihm schlechthin ausgeschlossen bleibt). Wenn man einen solchen Widerspruch »dialektisch« nennen wollte, dann wäre das nur möglich in einem Sinne von Dialektik, der nicht mehr Kantisch wäre. Direkt und uneingeschränkt läßt sich das Argument für die Dialektikfreiheit nur auf das moralische Gesetz selbst anwenden, und in dieser Hinsicht hat Kant dem Argument auch in vollem Umfang Rechnung getragen. Dabei argumentiert er allerdings etwas anders: Er beruft sich nicht darauf, daß sich die reine praktische Vernunft als absolut gebietende oberste Instanz keine Dialektik und Antinomie leisten kann, sondern darauf, daß sie gar nicht in Gefahr ist, dialektisch zu werden. Gleich zu Beginn der Vorrede der Kritik der praktischen Vernunft erörtert er, »warum diese Kritik nicht eine Kritik der reinen praktischen, sondern schlechthin der praktischen Vernunft überhaupt betitelt wird, obgleich der Parallelismus derselben mit der spekulativen das erstere zu erfordern scheint«. Kants Antwort lautet: Die Kritik braucht hier nicht das »reine Vermögen selbst« zu kritisieren, ihre Aufgabe ist im Gegenteil vielmehr zu zeigen, »daß es reine praktische Vernunft gebe«; denn sofern reine Vernunft überhaupt nur praktisch ist, »so beweist sie ihre und ihrer Begriffe Realität durch die Tat, und alles Vernünfteln wider die Möglichkeit, es zu sein, ist vergeblich«102. In der Einleitung (mit dem Titel »Von der Idee einer Kritik der praktischen Vernunft«) geht Kant noch etwas mehr ins Detail: Bei der Untersuchung des praktischen Gebrauchs der Vernunft wird nach den Bestimmungsgründen des Willens gefragt, und zwar unabhängig davon, ob das physische Vermögen auch ausreicht, das Gewollte zu realisieren. Sofern »es nur auf das Wollen ankommt«, ist es keine Frage, daß die Vernunft »zur Willensbestimmung zulangen« kann und in diesem Sinne »objektive Realität« hat (KpVA 29 f.). Wenn Dialektik darin besteht, daß wir auf etwas schließen, wovon wir keinen Begriff haben und dem wir dennoch, durch einen unvermeidlichen Schein irregeführt, Realität geben 103 , dann ist prakti-
102 103
KpVA3, alle Hervorhebungen im Original; vgl. auch Refi. Nr. 7201 (AA XIX, S. 275 f.). Vgl. KrVA339/B 397, s. auch oben S. 214 f.
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5 Ursprung und Struktur der Antinomie der praktischen Vernunft
sehe Vernunft im Hinblick auf die Realitätshaltigkeit ihrer
Bestim-
m u n g s g r ü n d e des Willens grundsätzlich nicht dialektikgefährdet, a u c h n i c h t als reine
p r a k t i s c h e V e r n u n f t - s o f e r n es e t w a s D e r a r t i g e s gibt;
d a s a b e r v e r b ü r g t d a s F a k t u m d e s m o r a l i s c h e n G e s e t z e s 1 0 4 . H i e r h a t die Kritik d i e A u f g a b e , die praktische
Objektivität d e r r e i n e n V e r n u n f t a n -
z u z e i g e n , a l s o n i c h t n u r ihre m ö g l i c h e Realitätshaltigkeit, s o n d e r n d i e absolute Verbindlichkeit ihres moralischen Gesetzes, u n d z u
verhin-
d e r n , d a ß sich die e m p i r i s c h b e d i n g t e V e r n u n f t in d e n G e b r a u c h d e r rein e n p r a k t i s c h e n V e r n u n f t e i n m i s c h t . N o t w e n d i g ist d a h e r » n i c h t eine Kritik d e r reinen
praktischen,
s o n d e r n n u r d e r praktischen
Vernunft über-
h a u p t « , d. h . d e r Ü b e r g r i f f e u n d A n m a ß u n g e n d e r e m p i r i s c h e n V e r n u n f t 1 0 5 . A u s d r ü c k l i c h b e t o n t K a n t : » D e n n reine V e r n u n f t , w e n n allere r s t d a r g e t a n w o r d e n , d a ß es eine s o l c h e gebe, b e d a r f keiner Kritik. Sie ist es, w e l c h e selbst die R i c h t s c h n u r z u r Kritik alles i h r e s G e b r a u c h s e n t h ä l t « (KpV
A 30). Die absolute A u t o n o m i e der reinen praktischen
V e r n u n f t , die keine I n s t a n z ü b e r sich zuläßt, die sie e i n s c h r ä n k e n k ö n n te, b e d e u t e t i m H i n b l i c k a u f d i e Kritik » g e r a d e d a s u m g e k e h r t e V e r -
104
105
Die nähere Begründung der Realitätshaltigkeit der praktischen Vernunft müßte zweigleisig verfahren: (1) Daß die empirisch bedingte Vernunft den Willen bestimmen kann, ließe sich mit Kants Ausführungen zur »praktischen Freiheit« in der Kritik der reinen Vernunft plausibel machen: Darunter versteht er die menschliche Fähigkeit, nicht nur unmittelbar auf Sinnesreize zu reagieren (arbitrium brutum), sondern sich im Handeln auch durch »Vorstellungen von dem, was ... auf entferntere Art nützlich oder schädlich ist«, leiten zu lassen (arbitrium liberum); diese Freiheit, so Kant hier, »kann durch Erfahrung bewiesen werden«, wir erkennen sie »als eine von den Naturursachen« (KrVA 802 f./B 830 f.). (2) Für die Realitätshaltigkeit der reinen praktischen Vernunft reicht dies nicht aus, nach der Lehre jedenfalls der Kritik der praktischen Vernunft wird dazu die Freiheit im »transzendentalen Verstände« verlangt, d. h. das Vermögen, sich »gänzlich unabhängig von dem Naturgesetz der Erscheinungen« allein von der Tauglichkeit zu einem allgemeinen Gesetz leiten zu lassen (KpVA 51); die Realität dieser Freiheit wird nach Kant aber durch das moralische Gesetz bewiesen (KpVA4 f.). KpVA 30 f., Hervorhebungen im Original. Kant beschreibt hier diese Funktion der Kritik mit verschiedenen, nicht ganz deckungsgleichen Formulierungen: In KpV A 31 heißt es, die Kritik habe die »Obliegenheit, die empirisch bedingte Vernunft von der Anmaßung abzuhalten, ausschließungsweise den Bestimmungsgrund des Willens allein abgeben zu wollen« (Hervorhebungen von mir). Rigoroser hatte er kurz zuvor die Aufgabe der Kritik bestimmt: Es werde dargetan, daß reine Vernunft »allein, und nicht die empirisch-beschränkte, unbedingterweise praktisch sei« (KpVA30); der empirischen Vernunft soll also nicht nur die Alleinherrschaft streitig gemacht werden, sondern sie soll durch die reine Vernunft ganz aus der obersten Ebene der praktischen Bestimmungsgründe verdrängt werden, und es ist genau dies, was Kant in der Analytik der Kritik der praktischen Vernunft beabsichtigt.
Die Aufgabe einer Kritik der praktischen Vernunft
271
hältnis von dem ..., was von der reinen Vernunft im spekulativen Gebrauche gesagt werden konnte« (KpVA 31). Mit dem Dementi eines Parallelismus der Kritik korrigiert Kant seinen eigenen früheren Sprachgebrauch in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, nach der »die Kritik der reinen praktischen Vernunft« die Grundlage zur Metaphysik der Sitten bilden sollte, »so wie zur Metaphysik die schon gelieferte Kritik der reinen speculativen Vernunft«106. Allerdings ist hier zu beachten, daß »Kritik« in diesem Kontext den anderen, positiven Sinn der Deduktion von Geltungsansprüchen hat (vgl. oben S. 266), der in der Tat der Grundfrage der ersten Kritik entspricht: Die Kritik soll zeigen, wie der kategorische Imperativ als ein synthetischer Satz a priori möglich ist 107 . Kritik in dieser Bedeutung hat Kant später, als er seine Deduktionsversuche als gescheitert ansah, nicht mehr auf die reine praktische Vernunft angewendet. Die Frage nach dem Geltungsgrund des kategorischen Imperativs war natürlich geblieben, aber seit der Kritik der praktischen Vernunft beantwortete er sie mit der Faktumlehre ( K p V A 55 f.), mit der er auf eine Rechtfertigimg des moralischen Gesetzes durch andere Gründe als es selbst und damit auf die Parallele zur Deduktion theoretischer synthetischer Urteile a priori verzichtete. Es ist sehr gut denkbar, daß Kant mit der Entscheidung gegen den Titel »Kritik der reinen praktischen Vernunft« auch bewußt den Verzicht auf eine Deduktion der sittlichen Verpflichtung aus den Bedingungen ihrer Möglichkeit zum Ausdruck bringen wollte108. Jedenfalls 106
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AAIV, S. 391. Der dritte Abschnitt dieser Schrift ist übertitelt: »Übergang von der Metaphysik der Sitten zur Kritik der reinen praktischen Vernunft« (AA IV, S. 4 4 6 ) . Wie man einem Brief von F. G. Bom an Kant vom 8.11.1786 (AA X, S. 471) und einer Notiz in der Allgemeinen Literaturzeitung vom 21.11.1786 entnehmen kann, plante Kant wohl auch zunächst, die »in der ersten Auflage enthaltene!·] Kritik der reinen speculativen Vernunft in der zweyten ... [durch] eine Kritik der reinen praktischen Vernunft« zu ergänzen (AA ΙΠ, S. 556). Zu den diversen Plänen Kants vor der Ausarbeitung der Kritik der praktischen Vernunft vgl. K. Vorländer, Einleitung zu: I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. XIV f.; L.W.Beck, A Commentary, S. 13 f. (dt. S. 24 f.).
107
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 453 f., vgl. 420, 440, 444, 447. Vgl. auch Vorarbeit zu den Prolegomena, AA ΧΧΙΠ, S. 60: »Die Frage wie ist ein categorischer Imperativ möglich« habe »eine auffallende Aehnlichkeit« mit dem Problem der Transzendentalphilosophie. L.W. Beck (A Commentary, S. 11, dt. S. 22) betont zu Recht, daß auch für eine Deduktion der synthetischen Urteile a priori der Moral der angemessene Ort eine Kritik ist. Vgl. auch R. Brandt, Der Zirkel im dritten Abschnitt von Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 179 f.
272
5 Ursprung und Struktur der Antinomie der praktischen Vernunft
hat Kritik in bezug auf praktische Vernunft später ausschließlich den Sinn der Einschränkung und Zurückweisung falscher, unbegründeter Ansprüche, die das Praktisch-Werden reiner Vernunft gefährden, und nicht den Sinn einer Begründung praktischer Geltung 109 . Kritik, gleich in welcher Funktion, steht bei Kant also nie über der praktischen Vernunft, sondern stets in ihrem Dienste, um ihr »freie Bahn« zu schaffen 110 , indem sie Widerstände und Mißverständnisse aus dem Weg räumt. Wenn F. Paulsen sich angesichts einer »Kritik der prak-
108 Ygj j Schmucker, Der Formalismus und die materialen Zweckprinzipien in der Ethik Kants, in: J. B. Lötz (Hrsg.), Kant und die Scholastik heute, Pullach bei München 1955, S. 155-205, hier S. 181; D. Henrich, Die Deduktion des Sittengesetzes. Über die Gründe der Dunkelheit des letzten Abschnitts von Kants "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten", in: A. Schwan (Hrsg.), Denken im Schatten des Nihilismus. Festschrift für Wilhelm Weischedel zum 70. Geburtstag, Darmstadt 1975, S. 55-112, hier S. 60-62. Auf diesem Hintergrund erschiene die Wahl des Titels für die zweite Kritik weniger willkürlich und zufällig, als dies L.W. Beck annimmt, der zu dem Ergebnis kommt, daß sich für beide Titel (»Kritik der praktischen Vernunft« und »Kritik der reinen praktischen Vernunft«) »gleich gute Gründe« finden lassen: A Commentary, S. 42-45 (dt. S. 52-55). 1 0 9 H. Schmitz (Was wollte Kant?, Bonn 1989, S. 107 f.) beachtet zu wenig die verschiedenen Funktionen von Kritik bei Kant. Er überdramatisiert daher einerseits die Brüche und Probleme, die durch die Revisionen in der ethischen Prinzipienlehre entstehen, andererseits zeichnet er die tatsächlichen Verschiebungen zu unpräzise nach und kommt zu fragwürdigen Erklärungen. Es ist sicherlich richtig, daß Kant zunächst glaubte, mit der Kritik der reinen Vernunft das ganze kritische Geschäft abgeschlossen zu haben. Das für sich war aber noch kein zwingender Grund, auf die Bezeichnung »Kritik der reinen praktischen Vernunft« zu verzichten, denn Kant spezifiziert im Nachhinein die erste Kritik als »Kritik der reinen speculativen Vernunft« (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 391), und diese nachträgliche Präzisierung ist möglich. Denn Kritik in der positiven wie negativen Funktion bezog sich in der ersten Kritik allein auf die theoretische Vernunft; es ging nicht um eine kritische Begründung moralischer Verpflichtung und schon gar nicht um eine Einschränkung von Anmaßungen der reinen praktischen Vernunft (übrigens auch nicht der empirisch bedingten praktischen Vernunft!). Daher konnte Kant auch 1786 beabsichtigen, die schon vorliegende Kritik der reinen (speculativen) Vernunft in der zweiten Auflage durch eine Kritik der reinen praktischen Vernunft zu erweitern (s. oben S. 271 Anm. 106). Vom Inhalt der ersten Kritik her war also noch Raum für den Titel »Kritik der reinen praktischen Vernunft«. Daß dieser nicht bleiben konnte, »weil das Buch sonst zur Thematik der schon abgeschlossenen Kritik der reinen Vernunft gehört hätte« (Was wollte Kant?, S. 107), überzeugt daher wenig, und es ist schon etwas mutwillig, wie Schmitz Kants eigener Begründung für das Fehlen der Parallele schlichtweg die Glaubwürdigkeit und Plausibilität abspricht. Schmitz übersieht den Funktionswechsel der Kritik von der Fundierung der Geltungsansprüche reiner praktischer Vernunft (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten) zu einer rein negativen Aufgabe der Einschränkung der empirisch bedingten Vernunft nach der Einführung der Faktumlehre (Kritik der praktischen Vernunft) und erörtert daher auch nicht die Gründe dafür. 110
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 456.
Die Aufgabe einer Kritik der praktischen Vernunft
273
tischen Vernunft« überrascht zeigt und meint, Kant daran erinnern zu müssen, daß die praktische Vernunft anders als die theoretische »keiner Kritik [unterliege], keiner Aburteilung ihrer Ansprüche vor einem andern Gerichtshof, sie selbst Richterin über alle menschlichen Dinge in höchster Instanz« sei und daß wir »statt einer "Kritik" ... also "Apologie" oder vielmehr "Apotheose" der praktischen Vernunft [hätten] erwarten sollen«111, dann übersieht oder vergißt er, daß Kant selbst es war, der die Differenz zur ersten Kritik am klarsten benannt und einen falschen »Parallelismus« entschieden zurückgewiesen hat. Kants Argument für die Dialektik- und Kritikfreiheit der reinen praktischen Vernunft läßt sich nicht auf das höchste Gut übertragen: Die objektive Realität dieser Idee kann die reine Vernunft keineswegs mehr »durch die Tat« beweisen; denn hier geht es nicht um subjektive Bestimmungsgründe des Willens, sondern um die realen Effekte moralischen Handelns in der Welt. Auch das Argument, daß die reine praktische Vernunft als oberste Instanz keine Einschränkung duldet, greift hier nur dann, wenn man weitere Theoreme akzeptiert, deren Gültigkeit Kant in der Kritik der praktischen Vernunft allerdings fraglos voraussetzt: Das höchste Gut ist ein »a priori notwendiges Objekt unseres Willens ... und [hängt] mit dem moralischen Gesetze unzertrennlich zusammen«, so daß die Unmöglichkeit des höchsten Gutes die Geltung des moralischen Gesetzes in Frage stellt112. Unter diesen Bedingungen ist der Streit um die Möglichkeit des höchsten Gutes nur dann beizulegen, wenn gezeigt wird, daß das höchste Gut nicht unmöglich ist, wenn also die Kritik für diese vom moralischen Gesetz unzertrennliche Idee »Platz« schafft und der dialektische »Mißverstand« allein zu Lasten der theoretisch-empiristischen Vernunft geht. Eine wegen ihrer absoluten Geltung in innere Widersprüche verstrickte reine praktische Vernunft könnten auch hier keine Kritik und keine skeptische Methode mehr retten. In der Kritik der praktischen Vernunft sind die genannten Theoreme zum Zusammenhang von höchstem Gut und moralischem Gesetz Kants letztes Wort; er hat sie hier offenbar nicht für erläuterungs- und erklä-
111 112
F. Paulsen, Immanuel Kant. Sein Leben und seine Lehre, Stuttgart 61920 (Ί898), S. 291. KpVA205; vgl. oben S. 176 ff.
274
5 Ursprung und Struktur der Antinomie der praktischen Vernunft
rungsbedürftig gehalten. An anderer Stelle, am deutlichsten in der Vorrede zur ersten Auflage der Religionsschrift (AA VI, S. 6-8 Anm.), setzt er dagegen noch einmal grundsätzlicher an. Hier spricht er klar aus, daß der notwendige Zusammenhang von moralischem Gesetz und höchstem Gut nicht analytisch, sondern synthetisch ist, und zwar nicht erst deswegen, weil im höchsten Gut Tugend und Glückseligkeit synthetisch verknüpft gedacht werden, sondern weil schon der Ausblick des Handelnden auf einen Zweck und Effekt seines Tims zum moralischen Gesetz und zum »Begriff der Pflichten in der Welt« synthetisch hinzukommt, eine Erweiterung, die ebenso wie die synthetischen Urteile a priori der reinen theoretischen Vernunft einer Rechtfertigimg bedarf: Notwendig ist sie, so argumentiert Kant hier überraschend anthropologisch, durch die »Natureigenschaft des Menschen, sich zu allen Handlungen ... außer dem Gesetz noch einen Zweck denken zu müssen«, eine Eigenschaft, die er als »eine von den unvermeidlichen Einschränkungen des Menschen und seines (vielleicht auch aller andern Weltwesen) praktischen Vernunftvermögens« bezeichnet (AA VI, S. 7 Anm.). Hier finden sich also Elemente einer neuen »Grundlegung« und Deduktion des höchsten Gutes in einem allgemeineren Rahmen, der der Argumentation für die Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit, also für den besonderen Inhalt der Zweckvorstellung, noch vorgelagert ist. Mit der Verankerung der Frage nach dem Endzweck in einer »Natureigenschaft des Menschen« sind der Möglichkeit nach auch ganz neue Auswege aus der Dialektik der praktischen Vernunft und damit auch ein etwas anderer Sinn einer »Kritik der praktischen Vernunft« gegeben. Denn die besagte Eigenschaft gehört für Kant zwar noch zum »praktischen Vernunftvermögen«, aber man wird sie wohl nicht mehr zum absolut unantastbaren Bezirk der unbedingten moralischen Gesetzgebung durch reine praktische Vernunft rechnen müssen. Man könnte deshalb diesen Geltungsgrund des synthetischen Zusammenhangs von moralischem Gesetz und höchstem Gut auf seine Tragweite hin prüfen und »die unvermeidliche Einschränkung« ihrerseits »kritisch« einschränken; ein denkbares Ergebnis wäre, daß man die Notwendigkeit der Vorstellung eines höchsten Gutes und damit auch der Pflicht, es nach Kräften zu befördern, auf besondere, subjektive Bedingungen relativierte. Auf diese Weise steckte also auch in der »notwendigen Hypothesis« der praktischen Vernunft »das höchste Gut ist möglich« ein dialektischer
Die Aufgabe einer Kritik der praktischen Vernunft
275
»Mißverstand«, und man könnte die auf der theoretischen Vernunft basierende Antithesis »das höchste Gut ist nicht möglich« aufwerten und ihr eine größere Bedeutung zuerkennen, als Kant dies in der Auflösung der Antinomie tut (s. unten Kap. 7). Ihr systematischer Stellenwert könnte sich mehr dem der Antithesen der kosmologischen Antinomien der spekulativen Vernunft annähern. Es ist müßig, solchen Auswegen aus der Dialektik der praktischen Vernunft weiter nachzusinnen: Sie liegen ganz außerhalb des Gesichtskreises Kants, der die Dialektik und die Ansätze zu einer »kritischen« Begründung des höchsten Gutes an disparaten Stellen seines Werkes behandelt und sie nie zusammengebracht hat. Es ist aber nicht nur die fehlende örtliche und zeitliche Nachbarschaft, die die Verknüpfung der Motive verhindert; es ist auch ein inhaltlicher Widerstand, der ein Suchen nach derartigen Auflösungen der Dialektik im Ansatz blockiert hätte, auch wo sie mit der unbedingten Geltung des moralischen Gesetzes vereinbar gewesen wären. Die Dialektik aufzulösen, indem man der Vorstellung eines letzten Zwecks des moralischen Handelns und damit auch der Pflicht, einen solchen Gegenstand zu befördern, nur eine begrenzte subjektive Geltung zugesteht, würde ja bedeuten, daß wir uns in dem dialektisch täuschten, was wir für unsere Pflicht halten: mit einer gewissen Unvermeidlichkeit sähen wir etwas als unsere moralische Aufgabe an, was doch nur unter einem eingeschränkten Blickwinkel so erschiene 1 1 3 . Die Pflicht, das höchste Gut nach Kräften zu befördern, läßt sich zwar von allen anderen Pflichten abgrenzen, sofern sie sich nicht auf einen besonderen Inhalt, sondern auf den »Beziehungspunkt der Vereinigung aller Zwecke«, also auf so etwas wie den Inbegriff aller Zwecke bezieht 114 , so daß die Dialektik sich auf einen wohl definierten singulären Fall (allerdings von allgemeiner Bedeutung) einschränken ließe. Dennoch bedrohte eine solche Situation die elementare Kantische Überzeugung von der Unversehrtheit der praktischen Vernunft: Die reine theoretische Vernunft hat für die Menschen ihre allge-
113
114
Zum Vergleich: Nach Kants Auflösung der Antinomie der praktischen Vernunft täuschen wir uns nicht darin, daß wir etwas irrtümlich für unsere Pflicht halten, sondern darin, daß uns als unmöglich erscheint, was Endzweck unserer Pflicht ist. Religionsschrifl, AA VI, S. 5; vgl. oben S. 186.
276
5 Ursprung und Struktur der Antinomie der praktischen Vernunft
meine Leitungsfunktion eingebüßt, da sie »ganz und gar dialektisch«115 ist und ihr Gebrauch gegen einen »natürlichen« Hang zur Grenzüberschreitung in einer gelehrten Kritik korrigiert werden muß, eine »mühsame Bestrebung« (KrVA 831/Β 859), nicht bestimmt, »um den Einfaltigen, sondern den subtilsten Vernünftlern vorgetragen zu werden« (mit dem Ziel freilich, daß auch sie sich bei den entscheidenden Fragen »zu derselben niedrigen Stufe, der alle Menschen fähig sind, herab[.]lassen«) 116 . Um so mehr übernimmt die praktische Vernunft die Aufgabe einer absolut verbindlichen, aber auch verläßlichen Orientierung für alle »Menschen ohne Unterschied« ( K r V A 831/Β 859), die völlig frei von dialektischen Irreführungen ist. »Jene himmlische Stimme« im Menschen, »die Stimme der Vernunft in Beziehung auf den Willen«, spricht »deutlich, ... unüberschreibar, selbst für den gemeinsten Menschen ... vernehmlich« (KpV A 62). »Was nach dem Prinzip der Autonomie der Willkür zu tun sei, ist für den gemeinsten Verstand ganz leicht und ohne Bedenken einzusehen« 117 ; es ist »mit der gröbsten und leserlichsten Schrift in der Seele des Menschen geschrieben«118. Die These, daß die reine praktische Vernunft klar und eindeutig zu jedem Menschen spreche, vertritt Kant seit der Kritik der praktischen Vernunft sogar noch entschiedener als in früheren Schriften. Aufschlußreich ist der Vergleich mit einer Passage in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (AA IV, S. 403-405): Auch hier ist es für ihn »nicht ohne Bewunderung an[zu]sehen, wie das praktische Beurtheilungsvermögen vor dem theoretischen im gemeinen Menschenverstände so gar viel voraus habe«; die gemeine Vernunft sei bei der moralischen Bewertung von Handlungen »beinahe noch sicherer« als der Philosoph, der sein »Urtheil ... durch eine Menge fremder, nicht zur Sache gehöriger Erwägungen leicht verwirren und von der geraden Richtung abweichend machen 115 116
117 118
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 391. Refi. Nr. 6317 (AA XVIII, S. 628). Vgl. auch KrVB XXXIV: die Kritik der Vernunft »kann niemals populär werden, hat aber auch nicht nötig, es zu sein«, Β XXXVI: die Kritik muß »schulgerecht (nicht populär) ausgeführt werden«.
KpVA64, vgl. A 49 und 156. Über den Gemeinspruch, AA VIH, S. 287. - Daß diese Zuversicht getrogen hat und Kant die Leistungsfähigkeit seines kategorischen Imperativs weit überschätzt hat, hat vor allem Ch. Schnoor (Kants Kategorischer Imperativ als Kriterium der Richtigkeit des Handelns) gezeigt; das moralische Gesetz ist keineswegs stets so eindeutig und leicht anzuwenden, wie Kant glaubte.
Die Aufgabe einer Kritik der praktischen Vernunft
277
kann« 119 . Aber der auf sich allein gestellte gemeine Menschenverstand bleibt ständig der Versuchung ausgesetzt: Die »glückliche[.] Einfalt« und die paradiesische »Unschuld« lassen »sich nicht wohl bewahren« und werden »leicht verführt« durch »ein mächtiges Gegengewicht« der sinnlichen Bedürfnisse und Neigungen. Daraus entspringe »eine natürliche Dialektik, d. i. ein Hang, wider jene strenge Gesetze der Pflicht zu vernünfteln und ihre Gültigkeit ... in Zweifel zu ziehen«, und so gerate auch die gemeine Menschenvernunft leicht in eine »Zweideutigkeit« des sittlichen Urteils, die sie »um alle ächte sittliche Grundsätze« bringen könne. Der immanente Konflikt treibe die gemeine sittliche Erkenntnis »aus ihrem Kreise« und nötige sie, »in der Philosophie Hülfe zu suchen«, »um daselbst wegen der Quelle ihres Principe und richtigen Bestimmimg desselben ... Erkundigung und deutliche Anweisung zu bekommen«. Kant selbst betont hier die Entsprechung: Wie für die theoretische Vernunft so ist auch für die praktische die Dialektik ein wichtiges Movens auf dem Wege zu ihrer Kultivierung; beide Formen des Vernunftgebrauchs finden nirgendwo »sonst, als in einer vollständigen Kritik unserer Vernunft Ruhe« 120 . - Bei dieser »natürlichen Dialektik« handelt es sich anders als bei der »Dialektik der praktischen Vernunft« der zweiten Kritik um einen internen Widerstreit auf praktischem Gebiet, allerdings nicht um eine Dialektik der reinen Vernunft, nicht einmal um einen Widerspruch, sondern um einen »antagonismus« zwischen der reinen praktischen Vernunft und dem sinnlich affizierten Willen, und insofern kommt ihr von vorneherein eine geringere Bedeutung als einem vernunftimmanenten Widerspruch zu121. Wo Kant später in der Kritik der praktischen Vernunft und anderswo auf das »Widerspiel des Prinzips der Sittlichkeit« und der eigenen Glückseligkeit zu sprechen kommt, »entspinnt« sich daraus keine Dialektik mehr; die in der Vorrede und Einleitung mit Nachdruck betonte Dialektik- und Kritikfreiheit der reinen praktischen Vernunft bedeutet
119
120 121
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 404, vgl. S. 391: »die menschliche Vernunft [kann] im Moralischen selbst beim gemeinsten Verstände leicht zu großer Richtigkeit und Ausführlichkeit gebracht werden«. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 404 f. Vgl. auch oben S. 22 f. Zur »natürlichen Dialektik« zwischen »dilemma practicum« und »Dialektik der praktischen Vernunft« s. unten S. 316-318.
278
5 Ursprung und Struktur der Antinomie der praktischen Vernunft
auch, daß er sein Konzept einer »natürlichen Dialektik« des gemeinen sittlichen Urteils wieder verworfen hat. Im Streit der Prinzipien vertraut er nun darauf, daß »die Stimme der Vernunft« »bei weitem kräftiger« 1 2 2 und »unüberschreibar« ist ( K p V A 61 f.), daß »jeder Mensch ... beim Anhören ihrer ehernen Stimme [zittert], wenn sich in ihm Neigungen regen, die ihn zum Ungehorsam gegen sie [sc. die Pflicht] versuchen« 1 2 3 . Die Vernunft selbst verweist durch die Achtung, die sie hervorbringt, alle Ansprüche der Sinnlichkeit mächtig in ihre Schranken. Die Wandlung ist schon erstaunlich: An die Stelle der durch die Sinnlichkeit gefährdeten gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnis, die ihre Intaktheit nur mit Hilfe der Philosophie bewahren oder wiedererlangen kann, tritt nun die robuste Einsicht der gemeinen Menschenvernunft, die nicht so sehr von den natürlichen Neigungen und Bedürfnissen getrübt wird, sondern von kulturellen Überwucherungen und intellektuellen Verbildungen, »den kopfverwirrenden Spekulationen der Schulen ..., die dreist genug sind, sich gegen jene himmlische Stimme taub zu machen« 1 2 4 . Kritik hat zwar in der Grundlegung wie in der Kritik der praktischen Vernunft die Aufgabe, der Stimme der reinen praktischen Vernunft gegen die Anmaßungen der empirisch-praktischen gebührend Gehör zu verschaffen. Im ersten Fall aber war Adressat der Kritik noch
122 123
124
Über den Gemeinspruch, AAVm,S. 286. Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie, AA V E , S. 402. Vgl. auch Opus postumum, AA ΧΧΠ, S. 117, und KpVA 142: Die Stimme der praktischen Vernunft macht »auch den kühnsten Frevler zittern« und nötigt ihn, »sich vor seinem [des moralischen Gesetzes] Anblicke zu verbergen« - letzteres wohl eine Anspielung auf Gen. 3,8-10. Es ist also nicht ohne Grund, wenn Schopenhauer (Preisschrift über die Grundlage der Moral, § 4, Zürcher Ausgabe, Band VI, S. 160-166) in der »imperativen Form der Kantischen Ethik« das Nachhallen eines religiös begründeten »Du sollst« vernahm. Ähnlich H. Schmitz (Was wollte Kant?, S. 357): Mit Kants These, »jede Norm sei ein Imperativ und setze also eine befehlende Instanz voraus«, sei »der Standpunkt der theonomen Ethik ... faktisch wiederhergestellt, mit der Vernunft in der Rolle Gottes«. Eine starke Verwandtschaft belegt auch Kants Formulierung in der Religionsschrift: »Die Majestät des Gesetzes (gleich dem auf Sinai) flößt Ehrfurcht ein« (AA VI, S. 23 Anm. +); vgl. ferner Refi. Nr. 7319, AA XIX, S. 315 f.). Bei den »Communitarians« geht man sogar noch weiter; A. MacIntyre etwa vermutet, daß generell »der deontologische Charakter moralischer Urteile der Schatten der Konzeption eines göttlichen Rechts« sei: Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt / New York 1987, S. 151. Vgl. auch A. Wellmer, Ethik und Dialog. Elemente des moralischen Urteils bei Kant und in der Diskursethik, Frankfurt a. M. 1986, S. 31 Anm. 1. KpVA62; vgl. auch oben S. 30 Anm. 58.
Die Aufgabe einer Kritik der praktischen Vernunft
279
die allgemeine praktische Menschenvernunft, die der Philosophie gegen die »natürliche Dialektik« bedurfte. In der Kritik der praktischen Vernunft wird sie dagegen stärker zu einer gelehrten Angelegenheit der Gebildeten mit ihren spezifischen Gefährdungen. Nötig hatten die Kritik also jetzt diejenigen, die Kant mit dieser Schrift de facto auch erreichen konnte; im Falle der Grundlegung bestand in dieser Hinsicht eine Diskrepanz 125 . »Autonomie der reinen praktischen Vernunft« bedeutete für Kant auch eine größere Selbständigkeit des gemeinen Menschenverstandes gegenüber der akademischen Wissenschaft126. Unverkennbar haben sich Rousseausche Motive noch stärker durchgesetzt; Kant selbst war freilich erst aufgrund seiner Lehre vom Faktum des moralischen Gesetzes, mit der er auf eine Deduktion der sittlichen Verpflichtung aus höheren Prinzipien verzichtete, in der Lage, dem gemeinen Menschenverstand eine unverfälschte Authentizität seines sittlichen Urteils aus eigener Kraft zuzutrauen, dem der Philosoph nichts mehr an Gründen und Einsichten hinzuzusetzen hatte, sondern das er nur durch Begriffe in seiner Reinheit festzuhalten hatte 127 . Der Primat der reinen praktischen Vernunft und insbesondere die Voreingenommenheit des Aufklärers Kant für den allgemeinen Menschenverstand, dem er in Fragen der Moral ein unverbildetes Urteil zutraute, waren zunehmend weniger mit einer dialektischen Zweideutig-
Einen »großen Grad[.] der Popularität und Angemessenheit zum gemeinen Verstände« sollte erst die Metaphysik der Sitten haben, also der materiale Teil; von ihr wollte er die Grundlegung absondern, »um das Subtile, was darin unvermeidlich ist, künftig nicht faßlichern Lehren beifügen zu dürfen« (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 391 f.). 1 2 6 In der Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik ( AA XX, S. 301) verfügt Kant, daß alles, was den Endzweck der Moral und seine Bedingungen angeht, »der gemeinen Menschenvernunft eben so begreiflich wird, als den Philosophen, und dies so sehr, daß die letztern durch die erstere sich zu orientiren genöthigt sind, damit sie sich nicht ins Überschwängliche verlaufen«. 127 vgl. KpVA 163 f. Kant reagiert damit wohl auch auf die Kritik von H. A. Pistorius, der Kants Erklärung in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, wie man Interesse an einem kategorisch gebietenden Gesetz nehmen kann, das alles vorausgehende Interesse ausschließt, für »abstruseste Metaphysik« hielt und meinte, Kants Moralprinzip sei »schlechterdings weder dem Verstände gemeiner und gewöhnlicher Menschen« noch »überhaupt denen, die nicht im speculativen Denken geübt sind, als verbindendes Gesetz einleuchtend zu machen«: H. A. Pistorius, Rezension der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 462 f. (Landau S. 366 f.). Vgl. auch F. C. Beiser, The Fate of Reason, S. 191. 125
280
5 Ursprung und Struktur der Antinomie der praktischen Vernunft
keit der sittlichen Einsicht zu vereinbaren128. Das ist der entscheidende Grund, warum der Ausweg aus der Dialektik, wie ihn vielleicht die Skizze der Lehre vom höchsten Gut in der Religionsschrift geboten hätte, für Kant nicht in Frage gekommen wäre: Auch wenn er sachlich möglich ist, so ist er mit den notwendigen Distinktionen doch schon zu anspruchsvoll, als daß er den elementaren Anforderungen an die Irritationsfreiheit und Eindeutigkeit sittlicher Forderungen für alle Menschen ohne Unterschied genügen könnte.
5.4.2 Die Aufgabe einer Kritik der Vernunft in der ersten und zweiten Kritik Wer die Kritik der reinen Vernunft genau gelesen hatte, hatte allen Grund, von einer »natürlichen Dialektik« des sittlichen Urteils in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und mehr noch von der Ankündigimg einer »Dialektik der reinen praktischen Vernunft« in der zweiten Kritik überrascht zu sein, hatte Kant doch die Dialektik auf den spekulativen Gebrauch der Vernunft begrenzt, die daher in der ersten Kritik auch vollständig und endgültig abgehandelt werden sollte129, und davon den allein »richtigen Gebrauch der reinen Vernunft« in der praktischen Philosophie abgehoben (KrVA 796 f./B 824 f.): Dieser ist nicht von einer Dialektik bedroht, denn »die Moral kann ihre Grundsätze insgesamt auch in concreto, zusamt den praktischen Folgen, wenigstens in möglichen Erfahrungen geben und dadurch den Mißverstand der Abstraktion vermeiden« (KrVA 425/B 452 f.); im Praktischen machen sogar »die Ideen die Erfahrung selbst (des Guten) allererst möglich«130. Die 128
129
130
Von hier aus mag man auch abschätzen, wie sehr der Versuch Schaefflers, bei Kant eine »fortschreitende Radikalisierung« und »kontinuierliche Verschärfung der Dialektik des praktischen Vernunftgebrauchs« auszumachen, durch die sogar die sittliche Freiheit verlorengeht (vgl. oben S. 49 ff.), den Perspektiven und Interessen Kants zuwiderläuft. Sein Bestreben war es gerade, der reinen praktischen Vernunft das Schicksal der theoretischen zu ersparen und Komplikationen, die das klare moralische Urteil der »allgemeinen Menschenvemunft« verwirrt hätten, zu vermeiden. In der Refi. Nr. 5553 (AA XVm, S. 224), nach Adickes in der Entstehungszeit der Kritik der reinen Vernunft oder kurz danach niedergeschrieben, notierte Kant: »Zum Schluß der dialectik: da£ alle dialectische Fragen völlig beanwortet werden«. JÛ-VA318/B 375, vgl. A 328/B 384 f., A 807/B 835.
Die Aufgabe einer Kritik der praktischen Vernunft
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Prinzipien und Ideen der praktischen Vernunft können daher ohne die Gefahr einer Dialektik »objektive Realität« beanspruchen (KrV A 808/B 836) 131 . In der Vorrede (KpVA3) und Einleitung (KpV A 29-31) zur Kritik der praktischen Vernunft hatte Kant zudem, wie ausgeführt, die »objektive Realität« der reinen praktischen Vernunft, die keine (negative) Kritik nötig habe, noch einmal bekräftigt, mit ähnlichen Gründen wie in der ersten Kritik. Eine Dialektik und gar »Widersprüche der reinen praktischen Vernunft mit ihr selbst«, die »zur vollständigen Kritik ihres eigenen Vermögens nötigen« (KpV A 196), konnten dazu nur in einem offenen Widerspruch stehen 132 ; eine architektonische Symmetrie der beiden Kritiken, für die gerade die Dialektik der reinen praktischen Vernunft ein Beleg sein sollte (vgl. KpV A 31, 192 ff.), war jedenfalls nur um den Preis zu haben, daß Kant sein Verständnis der Aufgabe einer Kritik der reinen Vernunft einschneidend revidiert hätte. Und wir wissen nun auch: Wer die Antinomie in der Kritik der praktischen Vernunft eingehender analysiert, hat erneut Grund, überrascht zu sein: Trotz aller anderslautenden Formulierungen trägt Kant in der Sache nichts vor, was auch nur in die Nähe einer Dialektik der reinen praktischen Vernunft käme; er rückt in der Kritik der praktischen Vernunft sogar wieder von dem Konzept einer »natürlichen Dialektik« des sittlichen Urteils ab, das sachlich noch die weitestgehenden Konzessionen an eine Dialektik der praktischen Vernunft enthielt (aber auch keine Dialektik der reinen praktischen Vernunft war). Die Parallelität der Dialektik von theoretischer und praktischer Vernunft besteht nur in den Formeln und allgemeinen Erklärungen. Hier jedenfalls gilt: Das Mißverhältnis von Ankündigung einer Dialektik der reinen praktischen Vernunft und vorgetragenem Problemgehalt ist so eklatant, daß ein gegenüber dem Inhalt verselbständigter Hang »zur ar-
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M. Albrecht (Kants Antinomie, S. 15, vgl. insgesamt S. 14-23) resümiert zutreffend: »Die Kritik der reinen Vernunft läßt implizite die Möglichkeit einer "Antinomie der praktischen Vernunft" nicht zu, und zwar vor allem aus folgenden drei Gründen: Die erste Auflage der Kritik der reinen Vernunft enthält (a) eine eigene Moralphilosophie, die keine Antinomie kennt; sie schließt (b) die Moralphilosophie aus der Transzendentalphilosophie mit Argumenten aus, die gleichzeitig die Unmöglichkeit einer "praktischen Antinomie" bedeuten; und sie scheint (c) ihrer Grundabsicht nach der Möglichkeit einer solchen Antinomie zu widersprechen«. Vgl. L.W. Beck, A Commentary, S. 240 f. (dt. S. 223 f.).
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5 Ursprung und Struktur der Antinomie der praktischen Vernunft
chitektonischen Symmetrie« (A. Schopenhauer) geradezu mit den Händen zu greifen ist. Die Neigung zu architektonischer Parallele ist hier um so bemerkenswerter, als Kant durch sie ohne Not in einen Widerspruch zur Kritik der reinen Vernunft sowie zur Vorrede und Einleitung der Kritik der praktischen Vernunft gerät; ihm selbst ist die Unvereinbarkeit wohl entgangen. Die falsche Etikettierung hatte Folgen. Das Nachsprechen der Formel von der »Dialektik der reinen praktischen Vernunft« verdeckt bis in die neueste Interpretationsliteratur die tatsächlichen Kontinuitäten und Entsprechungen: (1) Beide Kritiken stimmen in der Sache darin überein, daß der praktische Gebrauch der reinen Vernunft frei von Dialektik ist und keine Kritik nötig hat 133 . (2) In der Dialektik der zweiten Kritik gilt ebenso wie in der Analytik bezüglich der Kritik der praktischen Vernunft »gerade das umgekehrte Verhältnis von dem ..., was von der reinen Vernunft im spekulativen Gebrauche gesagt werden konnte« (KpVA 31): Kritik hat nicht den Gebrauch der reinen praktischen Vernunft einzuschränken, sondern für ihn den nötigen »Platz« zu schaffen, indem sie die »Anmaßungen« der empiristischen Vernunft zurückweist. In der Analytik war es die empirisch bedingte praktische Vernunft mit ihren materialen Prinzipien, die »kritisch« in ihre Grenzen zu verweisen war; in der Dialektik ist es ein (gemäßigter) Empirismus der theoretischen Vernunft, der »kritisch« einzuschränken ist, sofern er die Möglichkeit des höchsten Gutes bestreitet und damit die Gültigkeit des Gesetzes der reinen praktischen Vernunft in Frage stellt134. 133
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Ich selbst habe mich durch Kants Formulierungen verleiten lassen, als ich seine Rede von einer Dialektik der reinen praktischen Vernunft zum Anlaß nahm, von einer Revision im Begriff der Transzendentalphilosophie zu sprechen (B. Milz, Dialektik der Vernunft in ihrem praktischen Gebrauch und Religionsphilosophie bei Kant, S. 513 f.). Kant erweitert aber in jedem Fall den Bereich der Transzendentalphilosophie, wenn er später die Moralphilosophie als einen Teil des transzendentalphilosophischen Systems betrachtet; vgl. M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 18-22. Zur notwendigen Abschwächimg des »Prinzips des reinen Empirismus« s. oben S. 166. Bei der Zuordnung der empiristischen Prinzipien verfährt Kant nicht symmetrisch: Der Empirismus der theoretischen Vernunft gilt (ebenso wie der Dogmatismus) als Prinzip der reinen Vernunft. Auch wenn Kant dies m. W. nicht expressis verbis sagt, ist dies darin impliziert, daß (1) die kosmologischen Antinomien Widersprüche der reinen Vernunft sind und (2) der Empirismus die »Denkungsart« der Antithesen ausmacht (KrVA 465 f./B 493 f.); nur so kann auch die »Antinomie der praktischen Vernunft« eine Dialektik, wenn schon nicht der praktischen, so doch der reinen »Vernunft mit ihr selbst« (KpVA 196)
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Daß Kant in der zweiten Kritik die Kritik der praktischen Vernunft auf die empirisch-bedingte Vernunft einschränkte, konnte man bei ihm lesen. Daß diese Anwendung zugleich auch das wirklich Neue in der Verwendung des Terminus »Kritik« war - weder die erste Kritik noch die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten kennen diesen Sprachge-
brauch - , ging dagegen meist unter. Die neuen, aber irreführenden Titel einer Dialektik und Kritik der reinen praktischen Vernunft drängten sich in den Vordergrund und ließen diese Neuerung unscheinbar werden, trotz des offensichtlichen Kontrastes zu den früheren Projekten einer Kritik der reinen theoretischen und reinen praktischen Vernunft. Als Resümee läßt sich festhalten: Wenn Kant in der Einleitung der Kritik der praktischen Vernunft die Dialektik »als Darstellung und Auflö-
sung des Scheins in Urteilen der praktischen Vernunft« (KpV A 31) beschreibt, dann kann dies korrekterweise nur heißen: Die Dialektik ist die Darstellung und Auflösung des Scheins der Falschheit in Urteilen der praktischen Vernunft, nämlich des Scheins der Falschheit ihrer notwendigen Hypothesis: »das höchste Gut ist möglich«, ein Schein von Falschheit, dessen Quelle nicht die praktische Vernunft selbst ist, sondern der ein Reflex, ein Widerschein der theoretischen Vernunft auf dem Gebiet der praktischen ist.
sein. Dagegen würde es Kant aufs äußerste widerstreben, das allgemeine empiristische Prinzip aller materialen praktischen Prinzipien, das »Prinzip der Selbstliebe oder eigenen Glückseligkeit« (KpVA40), als ein Prinzip der reinen praktischen Vernunft zu betrachten, da er reine praktische Vernunft mit moralisch-praktischer Vernunft gleichsetzt. Das verursacht schon in seiner eigenen Philosophie Probleme, besonders beim Verständnis des sittlich bösen Willens, vgl. H. Schmitz, Was wollte Kant?, S. 126 ff. G. Prauss hat deshalb dafür plädiert, die »für sich selber praktische Vernunft« von der moralisch-praktischen Vernunft zu unterscheiden und auch das Streben nach Glückseligkeit als »eine Art von Autonomie« zu betrachten: G. Prauss, Kants Problem der Einheit theoretischer und praktischer Vernunft, in: Kant-Studien 72 (1981), S. 286-303, bes. S. 286 ff. und 297; vgl. auch ders., Kant über Freiheit als Autonomie, Frankfurt a. M. 1983, bes. S. 62 ff. In ähnlichem Sinne hatte schon Reinhold gegen die Identifizierung von freier Selbstbestimmung mit der Selbsttätigkeit der reinen Vernunft erst gegen die »Freunde der Kantischen Philosophie« und später (1797) auch gegen Kant selbst argumentiert. Reinhold wollte auch nicht mehr den unsittlichen Willen mit dem empirischen Willen gleichsetzen: C. L. Reinhold, Erörterung des Begriffs von der Freiheit des Willens, in: C. L. Reinhold, Briefe über die Kantische Philosophie, 2. Band (8. Brief), Leipzig 1792, S. 262-308; gekürzter Abdruck in: R. Bittner und K. Cramer (Hrsg.), Materialien zu Kants "Kritik der praktischen Vernunft", Frankfurt a. M. 1975, S. 252-274, hier S. 256 f.
6 Der entwicklungsgeschichtliche Ort der Antinomie der praktischen Vernunft Den Vergleich der Antinomie der praktischen Vernunft mit den kosmologischen Antinomien hat Kant selbst durch seine Behauptung provoziert, beide Dialektiken verdankten sich auf eine parallele Weise der Suche nach der unbedingten Totalität. Einen anderen Vergleich, der sich angeboten hätte, hat Kant dagegen nie angeregt: den mit dem schon mehrfach erwähnten »dilemma practicum«. Im Zentrum dieser Problemkonstellation stand ebenso wie in der Antinomie der praktischen Vernunft das höchste Gut; sie ergab sich aber aus einer Ethikbegründung, die in der Lehre der moralischen Verpflichtung und Triebfeder noch von anderen Voraussetzungen und Prinzipien ausging. Daß die ethische Prinzipienlehre zur Zeit des Erscheinens der Kritik der reinen Vernunft noch keineswegs »fertig« war, wie beispielsweise J. Schmucker meinte 1 , es vielmehr danach noch wichtige Veränderungen gegeben hat, hat vor allem D. Henrich gezeigt2. K. Düsing hat auf die
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J. Schmucker, Die Ursprünge der Ethik Kants, S. 387. Nach Schmucker enthalten schon die Bemerkungen in den »Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen« (1764/65) Kants »neue und endgültige Lösung der Frage nach dem Prinzip der Verbindlichkeit« (ebd. S. 240). Was hier vorliegt, sind erste Formulierungen eines rationalen Dijudikationsprinzips, keinesfalls die »endgültige« Begründung seiner Verbindlichkeit. Die weitere Entwicklung enthält auch mehr als nur die Fortführung des »bereits in der ersten Hälfte der 60er Jahre« festgelegten »Kerns« der Ethik, wie G. B. Sala mit Verweis auf Schmuckers Arbeit meint: Sala, Der moralische Gottesbeweis: Entwicklung und Spannungen in der Kantischen Fassung, S. 298. D. Henrich, Der Begriff der sittlichen Einsicht. Knapp 30 Jahre nach dieser Veröffentlichung beklagt H. Schmitz zu Recht, daß »erst wenig und ganz unzureichend beachtet worden« ist, daß Kant lange Zeit in zentralen Hinsichten eine andere Moraltheorie vertreten hat als jene Pflichtethik, die aus der Grundlegung und der Kritik der praktischen Vernunft bekannt ist: H. Schmitz, Was wollte Kant?, S. 99, vgl. 101; vgl. M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 16 f. Anm. 9. Auch in neueren Arbeiten ist diese Einsicht noch nicht selbstverständlich; G. Römpp (Kants Ethik als Philosophie des Glücks, in: G. Funke (Hrsg.), Akten des 7. Internationalen Kant-Kongresses Mainz 1990, Band Π.1, Bonn 1991, S. 563-572) z. B. referiert über Kant als Philosophen des Glücks, der die Moral als notwendige Form des Glücks verstanden habe, verbindet damit den Anspruch, diese Auffassung »in den Zusammenhang der Kantischen Moralphilosophie zu stellen« (ebd. S. 564), erkennt aber
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Folgen für die systematische Bedeutung der Idee des höchsten Gutes hingewiesen3, und auf der Basis dieser entwicklungsgeschichtlichen Erkenntnisse hat M. Albrecht zwischen den Problemstellungen des dilemma practicum und der Dialektik der praktischen Vernunft unterschieden und vor einer »unvermittelte [n] Gleichsetzung« beider gewarnt4. Dennoch fehlt bisher m. W. ein eingehender Vergleich der Voraussetzungen, Strukturen und Implikationen der beiden Problemkonstellationen. Die Möglichkeiten, die Antinomie der praktischen Vernunft vor dem Hintergrund des dilemma practicum zu charakterisieren, sind noch keineswegs ausgeschöpft5. Das ist ein bedauerliches Versäumnis. Denn nicht nur bei Autoren, die vom Wechsel in der ethischen Prinzipienlehre keine Notiz nehmen, besteht eine starke Tendenz, die verschiedenen Problemstellungen miteinander zu vermengen6 oder bewußt zu identifizieren7; auch Interpreten, die mit der Entwicklung der Kantischen Ethik vertraut sind, sind versucht, einzelne Aspekte der beiden Problemfiguren unvermittelt in Beziehung zu setzen, ohne Rücksicht auf ihren möglicherweise unter-
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nicht, daß alle wichtigen Reflexionen (Nr. 7199, 7200 und 7202), auf die er sich dabei bezieht, in den Kontext eines Versuchs gehören, Ethik zu begründen, indem der Tugend für die Glückseligkeit eine analoge Funktion zukommen sollte wie der transzendentalen Apperzeption für die Möglichkeit der Erfahrung, ein Ansatz, den Kant nach 1784 nicht weiter verfolgt hat. K. Düsing, Das Problem des höchsten Gutes in Kants praktischer Philosophie. M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 154 Anm. 474. Bezeichnend dafür ist, daß Albrecht seine Ausführungen zum dilemma practicum ganz in den Anmerkungsapparat abdrängt: Kants Antinomie, S. 153 Anm. 472, S. 154 Anm. 474, S. 159 Anm. 507, S. 165 Anm. 525. - H. Schmitz (Was wollte Kant?, S. 84 ff.) macht zwar mit Nachdruck klar, daß das dilemma practicum eine später von Kant verworfene Triebfederlehre zur Voraussetzung hat, geht aber auf die Antinomie der praktischen Vernunft, die unter den Bedingungen einer revidierten Lehre an die Stelle des praktischen Dilemma getreten ist, mit keinem Wort ein. Schon seit den Anfängen der Kant-Rezeption, so etwa Ch. W. Snell (1790/91), vgl. oben S. 92 f. Anm. 274, und C. Ch. E. Schmid, Versuch einer Moralphilosophie, Jena 4 1802 (Ί790), S. 347 ff. So erklärt A. W. Wood ausdrücklich, daß er die Bezeichnungen »Antinomie der praktischen Vernunft« und »absurdum practicum« als austauschbar betrachte, »recognizing that the latter is a more accurate expression of Kant's meaning«: Kant's Moral Religion, S. 104 Anm.; vgl. auch oben S. 24 f. und 92. R. Langthaler (Kants Ethik als "System der Zwecke", S. 337 Anm. 78), H. Hoping (Freiheit im Widerspruch, S. 172 f.) und Th. Fliethmann (Vernünftig glauben. Die Theorie der Theologie bei Georg Hermes, Würzburg 1997, S. 200-202) haben sich für ihre Argumentation auf Woods Darstellung berufen.
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schiedlichen systematischen Stellenwert. So bringen sowohl Düsing8 wie Albrecht 9 den Schlußsatz des Antinomiekapitels der Kritik der praktischen Vernunft, in dem Kant aus der Unmöglichkeit des höchsten Gutes die Falschheit des moralischen Gesetzes folgert (KpV A 205), in direkten Zusammenhang mit der älteren Moraltheorie Kants. Sala 10 , der die einschlägige Literatur kennt, erläutert Ausführungen in der Kritik der Urteilskraft (B 427 f.) zu den Folgen des Atheismus für die Moralität umstandslos mit Aussagen aus Reflexionen und Vorlesungstexten, die nach Inhalt (und auch Datierung11) eindeutig in den Problemkontext einer früheren Prinzipienlehre gehören. Bei anderen Autoren, wie z. B. J. Young, stellt sich die Frage, ob nicht ihre Wiedergabe der Antinomie der praktischen Vernunft gegen die Absicht zu sehr in die Nähe des dilemma practicum gerät12. Nur eine genauere Analyse des dilemma practicum und seiner Prämissen kann zeigen, wie groß der sachliche Abstand zur Antinomie der praktischen Vernunft ist. Auf diese Weise wird auch deutlich, daß die Antinomie nur unter bestimmten Voraussetzungen möglich war und sie einen entwicklungsgeschichtlichen Ort in der praktischen Philosophie Kants hat.
6.1 Der Dualismus von Beurteilungs- und Ausführungsprinzip Relativ konstante Elemente in der Kantischen Moralphilosophie haben die Vermengung von dilemma practicum und Antinomie der praktischen Vernunft begünstigt, indem sie einschneidende Veränderungen in der ethischen Prinzipienlehre übersehen ließen, die um 1783/84 und 8
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K. Düsing, Das Problem des höchsten Gutes in Kants praktischer Philosophie, S. 16 Arun. 44. M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 175 f. G. B. Sala, Kant und die Frage nach Gott, S. 444 f. Vgl. ders., Das Gesetz oder das Gute?, in: Gregorianum 71 (1990), S. 67-95 und 315-352, hier S. 350 f.; ders., Der moralische Gottesbeweis: Entwicklung und Spannungen in der Kantischen Fassung, S. 302; ders., Wohlverhalten und Wohlergehen I, S. 206. Mit Ausnahme der Metaphysik Volckmann, die mit dem Datum »1784/85« nicht mehr eindeutig der früheren Phase zugerechnet werden kann; für den Inhalt steht diese Zuordnung aber außer Frage. Zu Young vgl. oben S. 90 Anm. 266. Die Frage stellt sich bei Young zumindest im Hinblick auf die Form, die er der Antinomie gibt.
Der Dualismus von Beurteilungs- und Ausführungsprinzip
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noch einmal nach der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) stattgefunden haben. Ich werde zunächst kurz die gemeinsamen Voraussetzungen von praktischem Dilemma und Antinomie der praktischen Vernunft nennen, um dann die besonderen Bedingungen zu umreißen, die dem dilemma practicum zugrunde liegen. Das praktische Dilemma ist der schärfste Ausdruck einer Spannung und tiefgreifenden Ambivalenz in Kants Ethik, die schon früh darin angelegt ist, aber sich erst allmählich herauskristallisiert und deutliche Gestalt angenommen hat. Dilemma practicum wie Antinomie der praktischen Vernunft setzen voraus, daß es ein moralisches Gesetz als rationales Beurteilungsprinzip (principium diiudicationis) von Handlungen und deren Maximen gibt. Als rational konnte in den 70er und Anfang der 80er Jahre Kants Ethik gelten, weil sie über ein apriorisches moralisches Beurteilungsprinzip aus reiner Vernunft verfügte. Darauf zielt Kant, wenn er in der Kritik der reinen Vernunft sagt: »Ich nehme an, daß es wirklich reine moralische Gesetze gebe, die völlig a priori (ohne Rücksicht auf empirische Bewegungsgründe, d. i. Glückseligkeit,) das Tun und Lassen, d. i. den Gebrauch der Freiheit eines vernünftigen Wesens überhaupt, bestimmen, und daß diese Gesetze schlechterdings (nicht bloß hypothetisch unter Voraussetzung anderer empirischen Zwecke) gebieten, und also in aller Absicht notwendig sind« 13 . Die Moral als »reine Vernunftwißenschaft« 14 unterschied sich zur einen Seite von einer »theologischen Moral« ( K r V A 632 Anm./B 660 Anm.), die die Erkenntnis der moralischen Gebote von der Religion abhängig machte: Die Moral darf »keine Bedingung voraussetzen. Selbst die nicht von Gott und einer anderen Welt. Aus der Natur der Handlung muß erkannt werden, was zu thun und zu laßen ist« 15 . Zur anderen Seite setzte sich Kant dezidiert von der englisch-schottischen Moral-sense-Ethik mit ihrer These ab, daß die sittliche Einsicht auf Gefühlen beruhe, eine Position, der er selbst in den Ethikentwürfen der ersten 60er Jahre sehr weitgehende Konzessionen gemacht hatte 16 .
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KrVA807/B 835, Hervorhebung im Original; vgl. KrVA633 f./B 661 f. Metaphysik Volckmann, AA XXVm.l, S. 383. Metaphysik Mrongovius, AA XXIX.1.2, S. 777. Vgl. Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral (1762), AA Π, S. 298-300. Zu den frühen Ethikkonzepten Kants s. D. Henrich, Über Kants
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Zu einer verbindlichen Gesetzgebung gehören nach Kant zwei Stücke: neben der Erkenntnis des Gesetzes, das eine Handlung objektiv zur Pflicht macht, auch, wie Kant mit einer Metapher aus der Mechanik der Automaten sagt, eine »Triebfeder« (elater animae), »welche den Bestimmungsgrund der Willkür ... subjectiv mit der Vorstellung des Gesetzes verknüpft« 17 , so daß Menschen als sinnlich-vernünftige Wesen nach diesem Gesetz handeln können. Verbindlich ist das moralische Gesetz zunächst als allgemeine intellektuelle Beurteilungsnonn von Handlungen und deren Maximen. Damit das, was nach der praktischen Vernunft im allgemeinen notwendig ist, auch unter den Bedingungen von Menschen Geltung beanspruchen kann, ist darüber hinaus ein Ausführungsprinzip (principium executionis) nötig, das real-mögliche Motive (Triebfedern) des sittlichen Handelns ausweist. Wenn Kant in der Kritik der reinen Vernunft von reinen moralischen Gesetzen spricht, die »den Gebrauch der Freiheit eines vernünftigen Wesens überhaupt bestimmen« (KrVA 807/Β 835), dann ist es paradoxerweise dieses generalisierende »überhaupt«, in dem man bis 1783/84 eine Einschränkung oder einen Vorbehalt mitlesen muß; denn mit der Geltung für vernünftige Wesen im allgemeinen ist nicht notwendig auch schon ihre eindeutige Geltving für Menschen im besonderen gegeben. Vor der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten kannte Kant keine für alle Menschen hinreichend starke Triebfeder moralischen Handelns, die unabhängig vom menschlichen Streben nach Glück gewesen wäre. Sosehr man von einem Rationalismus des Beurteilungsprinzips sprechen kann, sosehr muß man bis einschließlich der Kritik der reinen Vernunft mit Blick auf das Ausführungsprinzip von einem Eudämonismus sprechen. Es gab in Kants praktischer Philosophie bis in die Mitte der 80er Jahre eine Dualität verschiedenartiger Prinzipien, die in einer gewissen Parallele zur Dualität von reinen Verstandesbegriffen und Sinnlichkeit in der Erkenntnistheorie stand. Der Eudämonismus hatte zur Folge, daß sowohl der Sinnlichkeit des Menschen wie der Religion, die beide im Beurteilungsprinzip strikt eliminiert waren, eine wesentliche Bedeutung in der
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früheste Ethik; ders. Hutcheson und Kant, in: Kant-Studien 49 (1957/58), S. 49-69; J. Schmucker, Die Ursprünge der Ethik Kants, bes. S. 87 ff., 125 ff.; M. Forschner, Gesetz und Freiheit, S. 76 ff. Die Metaphysik der Sitten, AA VI, S. 218, Hervorhebung im Original.
Die absurda practica
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ethischen Prinzipienlehre zukam. Die Logik der Beziehung der heterogenen Prinzipien läßt sich sehr gut an der Problemfigur der absurda practica und des dilemma practicum studieren. Dabei zeigt sich, daß der Eudämonismus keineswegs auf die Triebfeder des moralischen Handelns beschränkt blieb, sondern auch auf die Verbindlichkeit der rationalen Norm übergriff: Das höchste Gut als Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit war notwendige Voraussetzung eines für Menschen verbindlichen moralischen Gesetzes.
6.2 Die absurda
practica
Wie unentbehrlich für eine gültige Moral die Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit war, zeigt das dilemma practicum, indem es die Probe ex negativo macht: Was wäre die Folge, wenn Tugend nicht mit Glückseligkeit verbunden wäre. Das ist keine rein hypothetische Frage, denn Kant betonte damals, daß wir in einer Welt leben, in der beide offensichtlich nicht zusammenhängen. Kants Moralvorlesungen in den 70er und frühen 80er Jahren heben nicht wie später die Kluft zwischen Freiheits- und Naturfcegnj^, sondern die faktische Diskrepanz aus dem »Laufe der Dinge« hervor: »Nim zeiget uns aber Erfahrung und Vernunft ..., daß oft die ehrwürdigste Redlichkeit und Rechtschaffenheit verkannt, verachtet, verfolgt und vom Laster unter die Füße getreten wird«18; »die Stoiker haben es wahrlich sehr übertrieben, wenn sie geglaubt haben, daß hier die Tugend stets mit dem Wohlgefallen gepaaret sey. Der untrüglichste Zeuge wider sie ist die Erfahrung«19. 18 19
Religionslehre Pölitz, AA XXVm.2.2, S. 1072. Religionslehre Pölitz, AA XXVm.2.2, S. 1090, vgl. auch S. 1073; ferner Metaphysik L„ AA XXVm.l, S. 288 f.; Metaphysik Volckmann, AA XXVm.l, S. 386; Natürliche Theologie Volckmann, AA XXVm. 2.2, S. 1153 und 1182 f.; Metaphysik Mrongovius, AA XXIX.1.2, S. 775,777 u. ö. Aus der empirischen Diskrepanz folgt aber nicht, daß »das sittlich verpflichtete Subjekt ... in der Gewißheit handelt, daß es in dieser Welt sein Glück nicht machen kann«, wie G. Römpp meint: Kants Ethik als Philosophie des Glücks, S. 564, Hervorhebung von mir. Die faktische Diskrepanz ist für Kant, wie gezeigt, vor allem die Folge davon, daß sich die Menschen nicht in gemeinsamer sittlicher Anstrengung um eine gerechte Welt bemühen (s. oben S. 153 ff.). Gelegentlich findet sich auch das Bedenken, daß wir die Gesinnung und das fremde Seelenleben nicht genügend kennen, um eine wirkliche Diskrepanz von Tugend und Glück zu behaupten: Metaphysik Lv AA XXVm.l, S. 289 f. - Auch später hat
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6 Der entwicklungsgeschichtliche Ort der Antinomie der praktischen Vernunft
Wäre dies das letzte Wort, müßte sich der Mensch zwischen Moral und Glück, zwischen Sittlichkeit und Klugheit entscheiden. Beide Wahlmöglichkeiten wären aber gleichermaßen inakzeptabel: (1) Wem vor allem an seiner Glückseligkeit liegt, der muß sein Glück in der Welt mit allen Mitteln der Klugheit suchen. Das muß nicht gleich bedeuten, daß er »allen Anspruch auf Ehre, Redlichkeit und Gewißen« aufgeben und »das Gesetz der Tugend wegwerfen, verachten, alle Moral mit Füßen treten [muß], weil sie ... keine Glückseeligkeit verschaffen kann«, wie es in einer Vorlesungsnachschrift heißt 20 . Aber es hätte zur Konsequenz, »daß man moralität als die Regel ansieht mit Vorbehalt aller Ausnahmen, welche die Umstände zu unserm Vortheil rathsam machen«; alles andere »wäre pedanterie[,] peinliche Befolgung der Regeln«21. Schon der Grundsatz der »gelegenheitlichen Abweichimg« vom moralischen Gesetz ist jedoch schon unmoralisch22. Er müßte sich also entschließen, ein »Bösewicht« oder »Schelm« zu werden 23 ; und »der klügste Schelm« wäre »der Glücklichste, wenn er es nur so klug zu machen weiß, daß er nicht ertappt wird« 24 .
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sich Kant in dieser Frage auf die Erfahrung berufen (vgl. ζ. B. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AAIV, S. 442); das empirische Argument verliert aber an systematischer Bedeutung; eher vorsichtig heißt es ζ. B. in der späten Refi. Nr. 8104 (aus der Zeit 1796-1804): »Man kann, wenn man den Lauf der Welt in Erwägimg zieht, vielleicht zweifeln, ob dieses Wesen nach moralischen Gesetzen die Welt regiere, wie denn auch der Anschein es giebt, daß es den Guten und Bösen Menschen, so weit wir es einsehen können, auf Gleiche Art behandle« (AA XIX, S. 646). Entschiedener haben einige Zeitgenossen Kants auf dem beharrt, was sich ihrem »gesunden, empirischen Auge« bot: »Die Disharmonie ist wirklich«; dies zu leugnen, beleidige den gesunden theoretischen Verstand, so J. Salat, Noch ein Beitrag über die moralische Begründung der Religion, in: Philosophisches Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten, Band 8, Jena und Leipzig 1798, S. 191-279, hier S. 250-253. In demselben Band des Philosophischen Journals schrieb F. K. Forberg, eine Lobrede auf die moralische Ordnung der Welt würde zwangsläufig zu einer »Sartyre auf die Gottheit« werden; angesichts der tatsächlichen Verhältnisse sei ein Reich der Hölle ebenso wahrscheinlich zu erwarten wie das Reich Gottes: Entwickelung des Begriffs der Religion, ebd. S. 21-46, hier S. 26 und 45, vgl. auch S. 23 und 33-35. (Es war dieser Beitrag, der den »Atheismusstreit« auslöste.) Metaphysik Mrongovius, AA XXIX.1.2, S. 777. Refi. Nr. 6876 (AA XIX, S. 188 f.), Hervorhebung von mir; vgl. Refi. Nr. 7059 (AA XIX, S. 238). Vgl. Religionsschrift, AA VI, S. 32 ff. Vgl. Metaphysik L„ AA XXVHI.l, S. 320; Metaphysik Mrongovius, AA XXDC.1.2, S. 778. Metaphysik Lv AA XXVm.l, S. 288, vgl. 289.
Die absurda practica
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Aber dem sittlichen Anspruch und dem Urteil seines Gewissens kann er nicht entgehen; das moralische Gesetz liegt, so Kant, als allgemeingültige apriorische Beurteilungsnorm von Gut und Böse in seiner Vernunft. Er würde »einen Grundsaz faßen, worinn er in seinen und andrer Augen verabscheuungswürdig wird«25, indem er seine »eigene Natur und ihre ewigen moralischen Grundsätze verläugnen« und aufhören müßte, »ein vernünftiger Mensch zu seyn«26: Der Grundsatz der Glückseligkeit führt »ad absurditatem oder turpitudinem«27, zum »absurdum morale«28. Diese Seite des Problems birgt wenig Überraschendes. (2) Will er dem absurdum morale entgehen und kein Bösewicht sein, so gerät er in eine nicht weniger große Schwierigkeit, und sie ist von größerem Interesse. Wenn er sich ohne Hoffnung auf ein höchstes Gut für die Moral entscheidet, muß er auf seine Glückseligkeit verzichten und sich mit den wenigen zufälligen Glücksbrocken begnügen, die in der Welt ab und zu auch für moralisch Handelnde abfallen. Den endgültigen Verzicht auf seine Glückseligkeit kann aber niemand von ihm verlangen, auch die Moral nicht. Das »Verlangen glücklich zu seyn ist eben so nothwendig und zugleich billig«29; »kein Geschöpf kann in Ansehimg des Punktes der Glückseligkeit gleichgültig seyn; dieses ist der Natur jedes Geschöpfes gemäß«, es kann daher nicht »auf seine Glückseligkeit renunciren«30. Ist derjenige, der sein Glück sucht und dabei »Ehre und Redlichkeit in Chimaeren relegirt«31, ein Bösewicht, so ist derjenige, der eigensinnig an den Vorschriften der Tugend festhält, »ein tugendhafter Phantast«, ein »Narr« 32 , ein »Thor«33, »grillenhaft«34 - alles keine Ehrentitel, auch für Tugendhafte nicht. 25 26 27 28 29 30
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Metaphysik Volckmann, AA XXVffl.l, S. 385. Religionslehre Pölitz, AA XXVm.2.2, S. 1072, vgl. auch S. 1012 und 1083. Refi. Nr. 4256 (AA XVII, S. 484). Metaphysik L„ AA XXVIII. 1, S. 320 und 323, vgl. Refi. Nr. 5477 (AA XVm, S. 193). Refi. Nr. 5477 (AA XVm, S. 193). Metaphysik L„ AA XXVm.l, S. S. 318 f.; vgl. Praktische Philosophie Powalski, AA XXVn.l, S. 168; Danziger Rationaltheologie, AA XXVm.2.2, S. 1247. Praktische Philosophie Powalski, AA XXVH.l, S. 168. Metaphysik Mrongovius, AA XXIX.1.2, S. 777 f.; vgl. Metaphysik L„ AA XXVIII. 1, S. 320; Refi. Nr. 4256 (AA XVII, S. 485). Refi. Nr. 7059 (AA XIX, S. 238); Praktische Philosophie Powalski, AA XXVn.l, S. 168; Metaphysik L„ AA XXVm.1, S. 288 f., 304 und 320; Philosophische Enzyklopädie, AA XXIX.1.1, S. 43. Refi. Nr. 7059 (AA XIX, S. 238).
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Der Tor wählt die falschen Zwecke und verstößt damit gegen die Weisheit; der Narr wählt die falschen Mittel und verstößt gegen die Klugheit 35 . Kant hält also dem, der ohne Erwartung der Glückseligkeit sittlich handeln will, vor, daß er unvernünftig sei, weil er Weisheit bei der Bestimmung der Zwecke vermissen lasse, zumindest aber Klugheit bei der Wahl der Mittel. Daß man durch Verzicht auf seine Glückseligkeit »ein dupe (Gek) der Tugend seyn könne«, ist für Kant »ein unausstehlicher und ungereimter Gedanke«36. Wer »der moralischen Gesinung so viel Kraft beymißt, von allen Folgen zu abstrahiren und sich blos mit dem rechthandeln zu begnügen« - Kant dürfte vor allem an die Stoiker gedacht haben - , muß sich sogar den Vorwurf des »Eigendünkels« gefallen lassen: er ist ebenso »practisch ungläubig« wie derjenige, »der nicht rechtschaffen seyn will, als so fern er gewiß weiß, daß es auch seine Belohnung habe« (»Unglaube des Mistrauens«)37. Wer also meint, zugunsten der Moral auf seine Glückseligkeit verzichten oder sie dem Zufall überlassen zu können, gerät nur in eine andere praktische Absurdität: Führt der Grundsatz der Glückseligkeit »ad absurdum morale nach der Regel der Sittlichkeit«, so führt der Grundsatz der Moral »ad absurdum pragmaticum nach der Regel der Klugheit«38. Was das absurdum pragmaticum bedeutet, hat Kant klar gesagt: Moralisches Verhalten ist ohne die Verbindung von Sittlichkeit und Klugheit nicht möglich, jedenfalls nicht vernünftigerweise. Die Moral hätte keine ausreichende Triebfeder; die rein moralische Qualität der Handlungen könnte uns nicht genügend »bewegen ohne Hofnung, daß sie uns auch des Zweckes [sc. der Glückseligkeit] theilhaftig machen werde«39. Ohne diese Erfüllung achte ich »zwar meine Pflicht hoch, aber ich sehe doch nicht, was mich antreibt, dem moralischen Gesezze Gehorsam zu leisten« 40 . »In der Idee der Vernunft« wären die moralischen Verbindlichkeiten »ganz richtig, aber ohne alle Realität in Anwendung auf 35
36 37 38 39 40
Praktische Philosophie Herder, AA XXVII.l, S. 36; vgl. auch später noch Die Metaphysik der Sitten, AA VI, S. 465. Anders Das Ende aller Dinge, AA V E , S. 336: hier ist die »Thorheit« der »Gebrauch solcher Mittel«, die den Zwecken »gerade zuwider sind«. Refi. Nr. 7059 (AA XIX, S. 238). Refi. Nr. 5629 (AA XVm, S. 262). Metaphysik L„ AA XXVm.l, S. 320, vgl. S. 318. Refi. Nr. 5477 (AA XVm, S. 193). Metaphysik Volckmann, AA XXVffl.l, S. 385.
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uns selbst« (KrVA 589/B 617); es fehlten dann alle Triebfedern, »die mich bewegen könnten, ... als vernünftiger Mensch zu handeln« 41 ; es steckte dann auch eine gewisse Vernünftigkeit darin, in Konfliktsituationen gegen die Moral zu handeln. Als Vernunftregel der Dijudikation wäre das moralische Gesetz zwar gültig, »aber in Ansehung der Exekution practisch leer« 42 , es bliebe eine »Chimäre«, ein bloßes ens rationis 43 einer »Phantastische[n] Ethic«44. Neben der Maximalforderung eines Proportionszusammenhangs von Tugend und Glückseligkeit, die die Standardform darstellt, nennt Kant manchmal auch schwächere Formen der conditio sine qua non; aber selbst in der schwächsten Version gesteht er dem Glücksverlangen ein Vetorecht für die Moral zu: auch »ein gut denkender Mensch« mit Sinn für die moralische Schönheit kann der Moral nur folgen, sofern sie »nicht seinen größten Schaden zu wege« bringt 45 und er seine »gantze Glückseeligkeit dabey aufs Spiel« setzt46. Mit dem absurdum pragmaticum steht auch die Verbindlichkeit des moralischen Gesetzes für Menschen auf dem Spiel. H. Schmitz, einer der wenigen Interpreten, die etwas ausführlicher auf das dilemma practicum eingehen und sehen, daß ihm Prämissen zugrunde liegen, die Kant später revidiert hat, hatte gegen D. Henrich gerade dies bestritten: Tangiert sei »wohl kaum die verbindliche Geltung oder das Bewußtsein davon, sondern das effektive Verbinden, das eine Triebfeder voraus41
42
43 44 45 46
Religionslehre Pölitz, AA XXVm.2.2, S. 1073, Hervorhebung von mir. Vgl. dazu auch H. Schmitz, Was wollte Kant?, S. 120 f. Metaphysik L„ AA XXVm.l, S. 318, vgl. S. 317; ferner Metaphysik Volckmann, AA XXVm.l, S. 384 f.; Refi. Nr. 4268 (AA XVII, S. 488) u. ö. S. auch M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 153 Anm. 472. Zum ens rationis s. oben S. 183-185. Praktische Philosophie Poivalski, AA XXVH.l, S. 165. Refi. Nr. 6629 (AA XIX, S. 118); Hervorhebung von mir. Refi. Nr. 4109 (AA XVII, S. 419) Hervorhebung von mir. Zum Vetorecht der Sinnlichkeit s. H. Schmitz, Was wollte Kant?, S. 119. - J. G. Fichte hat später, als Kant schon wieder davon ganz abgerückt war, das Motiv eines Rechtes des Triebes zu einem Kernmotiv seiner Auslegung des höchsten Gutes gemacht. Der Trieb hat aber nicht wie bei Kant von sich aus einen unmittelbaren Anspruch, sondern das moralische Gesetz gibt ihm, soweit es mit ihm im Einklang ist, ein Recht, seine Befriedigung zu fordern; es müsse, wenn es denn ein Gesetz sei, auch »diese von ihm selbst ertheilten Rechte behaupten«, d. h. für ihre Einlösimg sorgen: Versuch einer Critik aller Offenbarung, bes. S. 20 f. und 150 f. Fichtes Darstellung enthält allerdings einen problematischen Übergang von der moralischen Erlaubtheit, dem Nicht-Unrecht-Sein einer Triebbefriedigung, zu einem Rechtsanspruch darauf.
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setzt«47. Verbindliche Geltung und effektives Verbinden, was immer der genaue Unterschied zwischen beiden sein mag, lassen sich bei Kant aber nicht so einfach trennen, wie dies Schmitz suggeriert. Das moralische Gesetz ist als Gesetz der Vernunft allgemeingültig für jeden freien Willen überhaupt und so auch gültige (Beurteilungs-) Norm für den menschlichen im besonderen48. Ohne diese allgemeine Geltung müßte sich nicht der, der sein Glück der Moral vorzieht, für einen Bösewicht halten, gäbe es also kein absurdum morale. Insofern hat Schmitz Recht, daß eine moralische Verbindlichkeit (des Urteils) auch im dilemma practicum vorausgesetzt bleibt. Als gültige rationale Beurteilungsnorm hat das moralische Gesetz aber nicht auch schon verpflichtende Kraft (»vim obligatoriam«) für den Handelnden49. Dieser etwas irritierende Umstand wird verständlicher, wenn man beachtet, daß es nicht nur um eine logisch-begriffliche Beziehung von Allgemeinem und Besonderem geht, nach der das Allgemeine das Besondere unter sich enthält, sondern daß Kant diese Verhältnisse im Rahmen seines Zwei-Welten-Modells auslegt. Das moralische Gesetz als allgemeine Vernunftregel ist das Gesetz einer intelligiblen Welt; und unter den »idealen« Bedingungen einer solchen Welt, in der von allen Hindernissen abstrahiert ist, jeder tut, was er soll, und sich so Moralität selbst lohnt (vgl. KrVA 809 f./B 837 f.), hat es auch fraglos Geltung für den Beurteilenden wie für den Handelnden; die rein intellektuellen Motive können hier den Willen bewegen, weil durch sie »zugleich alle bewegt werden«50 und so ihre Glückseligkeit bewirken. Daß das Sittengesetz ein Gesetz der intelligiblen (moralischen) Welt ist, meint bei Kant aber auch, daß es universal gültig sein soll; die intelligible Welt ist jene Welt, »deren Begrif vor iede Welt gilt«51, 47
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50 51
H. Schmitz, Was wollte Kant?, S. 98 f. Anm. 163. Schmitz bezieht sich auf D. Henrich, Der Begriff der sittlichen Einsicht, S. 106. Vgl. Refi. Nr. 6715 (AA XIX, S. 139). Vgl. Refi. Nr. 7097 (AA XIX, S. 248). Schon die Praktische Philosophie Herder aus der ersten Hälfte der 60er Jahre kennt die Differenz von Gesetz und verbindlicher Geltung: »Die leges morales haben keine vim efficacem zur obligation, denn dazu wird nicht nur die Idee und die objectiven Gründe der Vollkommenheit erfordert, sondern dazu sind auch die subjectiven Gründe nothwendig« (AA XXVn.l, S. 145). Refi. Nr. 706 (AA XV, S. 313). Refi. Nr. 4254 (AA XVII, S. 483). Vgl. auch Refi. Nr. 5103 (AA XVm, S. 88): »Die intelligible Welt hat gesetze, nach welchen ich vor jede Welt passe, nicht blos vor diese oder die Sin-
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also auch unter den besonderen Bedingungen der menschlichen Existenz. Das allerdings ist nicht so selbstverständlich wie die logisch-analytische Wahrheit, daß ein allgemeines Merkmal auch von den besonderen Begriffen gilt, die unter ihm enthalten sind52. Denn die »idealen« Geltungsbedingungen sind in unserer Welt faktisch nicht gegeben: Es handeln nicht alle moralisch, wenn ich moralisch handle. Es ist daher eine berechtigte Frage: »Warum, wenn ein Betragen allgemein genommen allein gut ist, soll ich, wenn es gleich nicht allgemein beobachtet wird, dennoch daran gebunden seyn?«53. Wenn das moralische Gesetz auch in der Handlungssituation für »das besondere subiect«, »unangesehen der Übrigen [sc. Subjekte] und selbst bey dem wiederstreit der Übrigen«, gelten soll, bedarf es eines besonderen »principium[s] der Zueignung«54, zusätzlicher Bedingungen, die den »idealen« Zusammenhang von Tugend und Glückseligkeit trotz der Unordnung in dieser Welt garantieren. Ohne diese Bedingimg würde »in unsern moralischen Gesezzen ... lauter Idealitaet seyn und keine Realitaet«55; die Moral bliebe »ein transscendenter Begrif«56, die Angelegenheit einer anderen Welt. Für uns verlöre sie »alle Gültigkeit« ( K r V A 468/B 496): Die moralischen Gesetze »des mundi intelligibilis, die doch allgemein gebietend sind, [würden] vor
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53 54 55
56
nenwelt, in welche einrichtung meiner eignen und äussern Natur oder Gesellschaft ich auch komme«. So heißt es schon in einer Reflexion aus den Jahren 1764-68: »Was in abstracto wahr ist, ist auch in concreto wahr.... Was aber in universali und abstracten notionen möglich ist, ist nicht immer in concreto möglich, weil das universale in ansehung vieler praedicate nicht bestimmt ist, deren Bestimmung in concreto angetroffen wird; daher, was dem universali nicht contradicirt, kan dem individuo oder der speciei wiederstreiten« (Nr. 6595, AA XIX, S. 100 f.). Refi. Nr. 706 (AA XV, S. 313). Ebd. Praktische Philosophie Powalski, AA XXVII.l, S. 137; ähnlich auch Moralphilosophie Collins, AA XXVn.1, S. 307 (Parallelstellen Moral Mrongovius, AA XXVn.2.2, S. 1453, und Ethik Menzer, S. 102): »Wenn ich mir vorstelle, wie schön es wäre, wenn alle Menschen rechtschaffen wären, so möchte mich ein solcher Zustand reitzen, moralisch zu seyn; allein die Moral sagt: du sollst an sich und für dich moralisch seyn, die andern mögen seyn wie sie wollen. Denn fängt das moralische Gesetz an in mir idealisch zu werden; ich soll der Idee der Moralitaet folgen, ohne irgend eine Hoffnung glücklich zu seyn, und dies ist unmöglich; folglich wäre die Moral ein Ideal, wenn kein Weesen ist, welches die Idee executirt«. Vgl. ferner Refi. Nr. 6236 (AA XVm, S. 520). Refi. Nr. 6283 (AA XVm, S. 549).
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die gegenwärtige [sc. Welt] nicht gelten und das, was allgemein wahr ist, im besonderen Falle falsch seyn« 57 . Die Differenz von an sich bestehender, allgemeiner Geltung und der Verpflichtving im Konkreten drückt Kant auch so aus: »Die moralischen Gesetze haben wohl das principium obligandi in sich, aber obligiren nicht ohne religion, weil sie nicht durch ihre Natur Verheißung der Gliikseeligkeit bey sich führen« 58 . Ein principium obligandi ist ein Verpflichtungsgrund, aus dem erst nach Abwägung mit anderen Verpflichtungsgründen eine verbindliche Pflicht, ein principium obligans, werden kann. Bedürftige zu unterstützen ist beispielsweise zunächst nicht mehr als ein Verpflichtungsgrund; Pflicht wird daraus erst dann, wenn ich die Mittel, die ich für die Hilfe Bedürftiger einsetzen kann, nicht anderen (rechtlich) schulde, also kein stärkerer Verpflichtungsgrund dem entgegensteht 5 9 . Motiva obligandi können also unzureichend sein, sie sind nur »hypothetice obligantia« 60 ; motiva obligantia sind dagegen stets zureichend 61 . Einen Widerstreit kann es nach Kant nur zwischen moralischen rationes obligandi geben, nicht zwischen rationes obligantes (Pflichten) 62 . Der Ausschluß einer Kollision von Pflichten ist an zwei wichtige Voraussetzungen gebunden: (1) Nur die Verpflichtving mit dem jeweils stärksten Grund wird zur Pflicht 63 ; (2) bei widerstreitenden rationes obligandi gibt es stets einen und nur einen Grund, der stärker als alle anderen ist; von zwei gleich starken einander widerstreitenden Gründen könnte keiner zur Pflicht werden. Die beiden absurda practica 57 58 59 60 61
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Refi. Nr. 4256 (AA XVII, S. 485). Refi. Nr. 7279 (AA XIX, S. 301). Vgl. dazu auch KpVA284. Refi. Nr. 6720 (AA XIX, S. 140). Vgl. Praktische Philosophie Powalski, AA XXVII.l, S. 114; Moralphilosophie Collins, AA XXVn.l, S. 259 (Parallelstellen Moral Mrongovius, AA XXVII.2.2, S. 1410, und Ethik Menzer, S. 23). Vgl. Refi. Nr. 6507 (AA XIX, S. 40): »Nulla est antinomia nisi legum obligandi non obligantium. Leges obligandi enuntiant obligationem, sed obligantes officium«. Vgl. auch Moralphilosophie Collins, AA XXVII.l, S. 280 (Parallelstellen Moral Mrongovius, AA XXVH.2.2, S. 1431, und Ethik Menzer, S. 59): »Die Antinomie oder Widerstreit kann bey den Gesetzen statt finden, wenn die Gesetze nur den Grund zur Obligation enunciren; wenn aber die Gesetze an sich selbst obligiren, so können sie nicht widerstreiten«. Vgl. auch Metaphysik Dohna, AA XXVDI.2.1, S. 678; Metaphysik K2, AA XXVffl.2.1, S. 774, und Die Metaphysik der Sitten, AA VI, S. 224: »Obligationes non colliduntur«. Vgl. Refi. Nr. 6701 (AA XIX, S. 135 f.): »distinguuntur motiva obligandi et obligantia; haec sunt potiora motivis aliis moralibus«.
Die absurda practica
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bedeuten aber ein Patt von Gründen, und zwar nicht von zwei moralischen Verpflichtungsgründen, sondern allgemeiner und fundamentaler: des Grundes der moralischen Verpflichtung überhaupt und eines gleich starken pragmatischen Gegengrundes, der die Sache der Glückseligkeit vertritt: »Es ist ein Grundsatz der Vernunft, daß wir nicht verlangen sollen glüklich zu seyn, wo wir derselben nicht würdig sind. Es ist auch ein anderer, daß nicht gefodert werde, sich würdig zu verhalten, wenn wir nicht hoffen könen es zu werden«64; Kant spricht sogar einmal ausdrücklich von zwei obersten praktischen Sätzen65 und ein andermal von »zwey principia des Verhaltens, tugend und Glükseeligkeit«, die beide »ursprünglich« seien66. Der moralische Grundsatz kann auf dieser Ebene nicht eo ipso den pragmatischen überwiegen oder außer Kraft setzen: »motiva sind potiora qvam stimuli, motiva moralia nicht allemal potiora qvam pragmatica«67. Wenn die Grundsätze nicht zur Deckung zu bringen sind und es - ohne höchstes Gut - zu einem Widerstreit beider kommt, folgt daraus nach der Logik von Verpflichtungsgrund und Pflicht, daß es keine moralischen rationes obligantes, also keine eindeutig verbindlichen Pflichten geben kann: Es »würden alle unsere Pflichten schwinden, weil eine Ungereimtheit im Gantzen wäre, nach welcher das Wohlbefinden nicht mit dem Wohlverhalten stimmete, und diese Ungereimtheit würde die andere entschuldigen«68.
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Refi. Nr. 5477 (AA XVm, S. 194). Refi. Nr. 4461 (AA XVII, S. 560): »Es sind 2 oberste practische Sätze. 1. Was wir thun müssen, um der Glückseeligkeit würdig zu werden. 2. Was vor Grund wir haben, practisch hinreichend zu glauben, daß man glücklich werden solle, so fern man dieser Glückseeligkeit würdig ist«. Refi. Nr. 7060 (AA XIX, S. 238). In der Ethikvorlesung hat Kant sich anscheinend etwas vorsichtiger ausgedrückt: die Glückseligkeit sei zwar »kein principium der Moralität, aber ein nothwendiges corollarium derselben« (Moralphilosophie Collins, AA XXVII.l, S. 304; Parallelstellen Moral Mrongovius, AA XXVII.2.2, S. 1450, und Ethik Menzer, S. 97). Refi. Nr. 6947 (AA XIX, S. 211). Vgl. auch Refi. Nr. 4375 (AA XVII, S. 525): »die Sittliche Regeln noch über die Glükseeligkeit zu setzen«, ist an Voraussetzungen gebunden, ohne die dieser Vorrang »ungereimt« wäre. Wenn es in Vorlesungsnachschriften heißt: »Das moralische motivum muß nicht nur vom pragmatischen unterschieden werden, sondern es kann nicht einmahl demselben entgegengesetzt werden« (Moralphilosophie Collins, AA XXVn.l, S. 259, Parallelstellen Moral Mrongovius, AA XXVH.2.2, S. 1410, und Ethik Menzer, S. 23), dann ist das damals, wie das dilemma practicum zeigt, eher als sittlicher Anspruch zu verstehen denn als gesicherte Unmöglichkeit. Refi. Nr. 6674 (AA XIX, S. 130). - Die Refi. Nr. 6720 und 6721 (AA XIX, S. 140 f.), beide 1772 oder etwas später entstanden, weichen von dieser Linie ab und enthalten schon die
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Das absurdum pragmaticum ist also kein bloßes Triebfederproblem der Moral, es geht nicht nur darum, daß »das bloße Sittengesetz trotz verbindlicher Geltung kraftlos ist« 69 , sondern es fehlte ihm die verbindliche Geltung im Konkreten. Eine der Tugend entsprechende Glückseligkeit hat auch geltungstheoretische Relevanz; sie ist, wie schon 1902 A. Hägerström zu Recht betonte, »ein konstituierendes Moment« der sittlichen Geltung 70 . Die »herrlichen Ideen der Sittlichkeit« (KrV A 813/B 841) bestehen auch ohne Verknüpfung mit der Glückseligkeit; ihre »Idealität« bildet die Norm in unseren moralischen Urteilen, die uns als vernünftigen Wesen eingeschrieben ist; aber auf ihre Schönheit allein das Handeln zu gründen, macht den Phantasten aus, der »Chimären«, »leere[n] Hirngespinste[n]« nachjagt71. Wenn unter den besonderen Bedingungen unserer Welt nicht eindeutig Geltung hätte, was im allgemeinen (in der intelligiblen Welt) verbindliche Pflicht ist, so implizierte das bei Kant nicht logisch-analytisch einen Widerspruch, also nicht eine begriffliche Unmöglichkeit. Eine solche Absurdität wäre denkmöglich, jedenfalls solange man mit der Unterscheidung von zwei Welten, von rationalem Beurteilungs- und sinnlichem Ausführungsprinzip operiert. Absurd wären dann aber nicht nur die praktischen Wahlmöglichkeiten; mehr noch verletzte der Widerstreit zweier gleich starker Gründe auf der obersten Ebene der ethischen Prinzipientheorie den Kantischen Standard von Rationalität, die Erwartving an die Konfliktfreiheit und Eindeutigkeit von Grundsätzen. Der Konflikt hätte auch eine metaphysische Dimension. Er würde die Ordnung in Frage stellen, nach der die intelligible Welt der einheitliche Grund auch unserer Welt ist. Es gäbe »eine Ungereimtheit im Gantzen«, einen beunruhigenden Bruch im Kosmos, der sich auch durch den Menschen und seine Vermögen zöge: Wie immer er sich entschiede,
69 70 71
spätere Position: »motiva moralia formae« sind im Unterschied zu den »motiva moralia materiae« »per se obligantia« (Refi. Nr. 6720), »iederzeit motiva obligantia« (Refi. Nr. 6721). Die Logik der beiden absurda practica, die eine »Ungereimtheit« gegen die andere aufrechnet, hat jedenfalls eine andere Konsequenz, und in der zitierten Refi. Nr. 7279 (s. oben S. 296), die vermutlich später (Ende der 70er oder in den 80er Jahren) entstanden ist, hat Kant dies auch klar ausgesprochen. So H. Schmitz, Was wollte Kant?, S. 102, vgl. S. 97 f. A. Hägerström, Kants Ethik, S. 528, vgl. S. 537 und 542. Vgl. KrVA811/B 839. Metaphysik L„ AA XXVm.l, S. 289 und 320; Religionslehre Pölitz, AA XXVm.2.2, S. 1075; Metaphysik Mrongovius, AA XXIX. 1.2, S. 778.
Das dilemma practicum
299
er müßte entweder seine Vernunftnatur »und ihre ewigen moralischen Grundsätze verläugnen«72 oder seine Sinnennatur vernachlässigen, deren Ansprüchen auf Glück auch eine gewisse Vernünftigkeit zukommt. Nicht der Mensch wäre unter solchen Bedingungen unvollkommen, »sondern die Ordnung der Natur«73.
6.3
Das dilemma
practicum
Das Gleichgewicht von Tugend und Glückseligkeit, die Unentbehrlichkeit auch der Glückseligkeit für die Begründung einer Ethik für Menschen bilden die Grundlage für eine besondere Form des moralischen Beweises der Existenz Gottes und der Seelenunsterblichkeit. Wenn Tugend und Glückseligkeit nicht miteinander verknüpft sind, ist der Handelnde vor die Wahl gestellt, entweder als Tugendhafter ein Narr oder als kluger Mann ein Bösewicht zu sein74. Das eine ist so absurd wie das andere. Die Disjunktion als ganze ist, so unterstellt Kant, deshalb praktisch unhaltbar (was immer das heißen mag) und damit auch die Bedingimg, unter der sie steht; Tugend und Glückseligkeit müssen also miteinander verknüpft sein. Die Erfahrung zeigt, daß eine solche Verknüpfimg nicht natürlicherweise aus dem Lauf dieser Welt zu erwarten ist, da nicht alle Menschen moralisch handeln; möglich ist sie nur, wenn man einen moralischen Welturheber und eine künftige Welt annimmt. Deshalb müssen wir sie als Bedingungen des höchsten Gutes postulieren, damit wir der praktisch-absurden Alternative entgehen. Formal betrachtet hat das Argument die Form eines Dilemma. Die absurda practica bilden dabei nur einen Argumentationsschritt, auch wenn Kant manchmal abgekürzt nur vom absurdum practicum spricht75: 72 73 74 75
Religionslehre Pölitz, AA XXVm.2.2, S. 1072, vgl. 1012 und 1083. Refi. Nr. 6590 (AA XIX, S. 98). Vgl. Refi. Nr. 4256 (AA XVII, S. 485). Z. B. Refi. Nr. 2470 (AA XVI, S. 383). Der Ausdruck »dilemma practicum« fehlt bei M. Albrecht (Kants Antinomie), er redet allein vom absurdum practicum. Zur Verwendung der Termini bei Kant läßt sich folgendes sagen: »dilemma practicum« bezeichnet die Schlußfigur; »absurdum practicum« ist der Oberbegriff zu absurdum morale und absurdum pragmaticum (vgl. z. B. Metaphysik L„ AA XXVHI.l, S. 318-320), bezeichnet aber
300
6 Der entwicklungsgeschichtliche Ort der Antinomie der praktischen Vernunft
»Nun können wir uns vorstellen ein practisches Dilemma, i. e. einen Satz, der zeigt, daß man, wenn man nicht etwas einräumt, man mag sich hinwenden wo man wolle, in lauter Ungereimtheiten gerathe. Ein practisches Dilemma ist ein solches, wo wenn ich nicht etwas voraussetze, ich mich immer in ein absurdum practicum stürze. Das ist 2erley... « 76 . Die Schritte dieses Syllogismus hat Kant m. W.nirgendwo einzelnen auseinandergelegt; daß er aber an einen regelrechten Syllogismus gedacht hat, zeigt u. a. die Formulierung »dilemmatis practici Maior« 77 . In eine schulgerechte Form gebracht könnte das Argument etwa folgende Gestalt haben: (1)
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Wenn kein Gott existiert oder es keine künftige Welt gibt, so ist der Handelnde entweder ein Bösewicht oder ein Phantast. Oder in moderner aussagenlogischer Notation: ~ ( g A k ) - > b v p, mit: ~g ν ~k = ~(g λ k) Die eine Folge ist praktisch falsch, denn sie impliziert ein absurdum morale; die andere ist auch praktisch falsch, denn sie impliziert ein absurdum pragmaticum: ~b Λ ~p = ~(b ν p)
auch die Wahl zwischen beiden absurden Situationen (wie ζ. B. Danziger Rationaltheologie, AA XXVm.2.2, S. 1291; Metaphysik Mrongovius, AA XXIX.1.2, S. S. 777) oder steht für einen der spezifischeren Begriffe (wie ζ. B. in der Refi. Nr. 5477, AA XVm, S. 193, wo wohl das absurdum pragmaticum gemeint ist). Metaphysik Mrongovius, AA XXIX.1.2, S. 777 f. Vgl. Metaphysik Volckmann, AA XXVm.l, S. 385. Vom dilemma practicum ist femer die Rede: Refi. Nr. 4255 (AA XVII, S. 484), Refi. Nr. 4886 (AA XVm, S. 19), Refi. Nr. 5477 (AA XVm, S. 194). Refi. Nr. 4910 (AA XVm, S. 26): »Wenn die Lehren vom Daseyn Gottes (der Freyheit) und einer andern Welt auf sicheren principien des practischen Gebrauchs unserer Vernunft (dilemmatis practici Maior) beruhen, so mag die metaphysic immer als ein dogmatisches principium derselben wegfallen«. Die Postulate beruhen natürlich auf dem Schluß als ganzem. Wenn Kant sich hier nur auf den Obersatz bezieht, dann vielleicht deswegen, weil er nicht nur die entscheidende Implikation enthält, sondern auch (wie in der folgenden Rekonstruktion) schon die Qualifikation der disjunktiven Glieder als absurda (Bösewicht, Phantast). Man könnte den Obersatz auch in einer Weise formulieren, die ohne Bewertimg der Alternative ist und noch unter den Prämissen der ethischen Prinzipienlehre nach 1784 gilt (freilich ohne daß sich der Schluß noch ziehen ließe, vgl. unten S. 316): Wenn kein Gott existiert oder es keine künftige Welt gibt, so muß der Handelnde sich entschließen, entweder auf die Tugend oder auf die Glückseligkeit zu verzichten. Die Refi. Nr. 4910 gibt leider keinen Hinweis auf den genauen Inhalt des Obersatzes.
Das dilemma practícum
(3)
301
Also (müssen wir annehmen): Es existiert ein Gott, und es gibt eine künftige Welt: ~ ~(g Λ k) = g Λ k 78 .
Formal ist dies jene Schlußfigur, die Kant auch im Antinomiekapitel der zweiten Kritik anwendet 79 , mit dem wichtigen Unterschied, daß er sie dort in einem dialektischen Argument gegen die Möglichkeit des höchsten Gutes einsetzt (destruktiv nach dem modus tollendo tollens, s. oben S. 171), während er hier mittels ihrer dialektikfrei für das Postulat des höchsten Gutes und seiner Bedingungen argumentiert (nach dem modus tollendo ponens). Anders als später kennzeichnet er hier auch die Eigentümlichkeiten und Besonderheiten ihrer Verwendimg: (1) Es handelt sich um ein praktisches Dilemma; der Beweis kann sich nur auf absurda practica berufen, nicht absurda logica (Widersprüche). (Kant hat zu dieser Zeit auch ein dilemma theoreticum als Beweis für das Dasein Gottes erwogen, wobei aber nur eine »absurde« Konsequenz zu erkennen ist und nicht, wie es eigentlich zu einem Dilemma gehört, eine Disjunktion von absurden Konsequenzen: Wenn wir nicht einen weisen Urheber annehmen, bleibt uns »die Ordnimg der Natur« der Möglichkeit und Wirklichkeit nach unbegreiflich 80 .) (2) Der Dilemma-Beweis für die Existenz Gottes und eine künftige Welt verfährt indirekt, apagogisch81. Die praktischen Beweisgründe und der indirekte Charakter bedeuten, daß das Argument nicht hinreicht, um die Gegenstände selbst »genetisch« 82 , d. h. aus einer »Einsicht in die Quellen« (KrVA789/B 817) und in die »Beschaffenheit der Sache« 83 zu beweisen; sie zeigen nur die
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Zur Definition des Dilemma s. Logik, AAIX, S. 130 (§ 79), vgl. oben S. 169 f. Das Argument hat eine ähnliche Struktur wie jenes Beispiel in Kants Exemplar von G. F. Meiers Vernunftlehre: »Wenn Gott die (beharrlich) Bosen nicht straft, so muß er entweder ihre Bosheit gutheißen oder nicht die macht haben zu strafen, atqvi das letztere ist falsch, also auch das erstere« (Refi. Nr. 3270, AA XVI, S. 750). In unserem Fall besteht allerdings das antecedens des Obersatzes aus einer negierten Konjunktion (oder einer Disjunktion von negierten Gliedern), da es zwei notwendige Bedingungen für das höchste Gut gibt. Vgl. oben S. 169 ff. Metaphysik L„ AA XXVm.l, S. 319 f., vgl. S. 304 und Refi. Nr. 4255 (AA XVII, S. 484). Vgl. Metaphysik L„ AA XXVm.l, S. 319 f. Refi. Nr. 4256 (AA XVII, S. 485). Logik Busolt, AA XXIV.1.2, S. 678.
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6 Der entwicklungsgeschichtliche Ort der Antinomie der praktischen Vernunft
»Nothwendigkeit etwas anzunehmen«84, die Notwendigkeit der Hypothesis der Existenz Gottes und einer anderen Welt85. Diese Umstände schränken für Kant den Wert des Arguments aber nicht ein; im Gegenteil: Gerade die apagogischen Verfahren eignen sich besonders gut, »die moralische postulata ... evident«86 zu machen, der Einsicht Nachdruck zu verleihen, »daß das moralische Gesetz, das in unsre Vernunft geschrieben ist, mit einem Glauben an Gott und eine andre Welt unzertrennlich verbunden sey«87. Denn indirekte Beweise haben generell »einen Vorzug der Evidenz« und »mehr Klarheit in der Vorstellung«, wodurch sie sich »dem Anschaulichen einer Demonstration« mehr nähern als die beste direkte Verknüpfung88. Die Überzeugung, die das dilemma practicum bewirkt, »ist nicht kleiner, sondern vielmehr sicherer im practischen Sinne«, wenn auch »von anderer Art« als im spekulativen Sinne89. Nur an einer Stelle klingt für einen Moment auch der dialektisch-sophistische Mißbrauch des Dilemma an, der diese Schlußform in Verruf gebracht hat, wenn nämlich das Argument als »syllogismu[s] cornutuls] ad absurdum practicum, vel morale vel pragmaticum« apostrophiert wird90. Ursprünglich bezeichnete der syllogismus cornutus einen besonderen Fehlschluß 91 , meint hier aber den »sophistische[n] Kunstgriff« der Alten, »einen Gegner dadurch in die Enge zu treiben, daß sie alles hersagten, wo er sich hinwenden konnte und ihm dann auch alles widerlegten«, ein Verfahren, bei dem sich leicht »etwas Täuschendes« ein-
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Refi. Nr. 4256 (AA XVII, S. 485). Vgl. Refi. Nr. 4255 (AA XVII, S. 484): »Hypothesis originaria«; Metaphysik L„ AA XXVm.l, S. 304 und 320. Refi. Nr. 5477 (AA XVm, S. 193). Metaphysik Mrongovius, AA XXIX.1.2, S. 778. 10VA790/B 818. Vgl. auch Logik Busolt, AA XXIV.1.2, S. 678: Die verneinenden Sätze des Dilemma haben »mehr Nachdruck«. Die »grosse Deutlichkeit« des Dilemma hatte auch G. F. Meier gelobt: Vernunftlehre, S. 589 (§ 425). Refi. Nr. 2470 (AA XVI, S. 383). Metaphysik L„ AA X X V m . l , S. 323, Hervorhebung von mir. Dieser »Homschluß« lautete: Was du nicht verloren hast, hast du noch; Hörner hast du nicht verloren; also hast du Horner; vgl. C. PrantI, Geschichte der Logik im Abendlande, 1. Band, Leipzig 1927, S. 53.
Dilemma practicum und Postulatenlehre
303
schleichen kann, sofern »man die Unbegreiflichkeit des Gegentheils für die Unmöglichkeit desselben hält«92.
6.4 Dilemma practicum und Postulatenlehre Wie man die Wahl zwischen den zwei praktischen Absurditäten vermeiden kann, liegt logisch-analytisch in der Form der Problemstellung. Anders als in den Beweisen der kosmologischen Antinomien wird die Bedingimg, unter der es zu den absurden Konsequenzen kommt, im Obersatz explizit genannt: wenn es keinen Gott oder keine Seelenunsterblichkeit und damit kein höchstes Gut gibt. Hier ist keine verborgene dialektische Täuschung im Spiel, die eine Kritik in mühsamer Arbeit aufzudecken hätte. Die Aufhebung der Bedingung, das heißt hier die Hypothesis von Gott und Seelenunsterblichkeit, beseitigt die absurde Alternative. Das dilemma practicum argumentiert mit einer Schwierigkeit, deren Auflösung jedem sofort vor Augen steht; es soll zeigen, daß Gott und Seelenunsterblichkeit praktisch-notwendige Schlußfolgerungen sind. Kant bringt hier die Lehre vom höchsten Gut in keinerlei Zusammenhang mit einer Dialektik der reinen Vernunft; weder von der Form noch von der Funktion her stehen die Antinomien der reinen Vernunft und das dilemma practicum in einer Entsprechimg93. Charakteristisch für die Problemstellung ist es auch, daß es im Rahmen des dilemma practicum nicht zur Frage wird, ob das höchste Gut nach Begriffen der theoretischen Vernunft überhaupt möglich ist; es geht 92
Logik, AA DC, S. 130 f. (§ 79); vgl. Logik Blomberg, AA XXIV.1.1, S. 286; Logik Pölitz, AA XXIV. 1.2, S. 593 und Logik Busolt, AA XXIV.1.2, S. 678. S. auch oben S. 170. - Die Hörner stehen für die Sackgassen, in denen sich der Gegner verfängt. Die Bezeichnung als cornutus hat Kant wohl von G. F. Meier übernommen, vgl. Auszug aus der Vernunftlehre, S. 108 (§ 397, AA XVI, S. 750): »ratiocinium cornutum«. Unklar ist, ob Kant auch noch die ursprüngliche Bedeutung des Hornschlusses kannte, der ja mit dem Dilemma wenig gemein hat (vgl. die vorhergehende Anm.). Diese Frage stellt sich auch bei der Bezeichnung des Dilemma als »crocodilus« (Logik Busolt, AA XXIV.1.2, S. 678; vgl. auch G. F. Meier, Auszug aus der Vernunftlehre, S. 108 (§ 397, AA XVI, S. 750): »ratiocinium crocodillinum«); im Unterschied zum Hornschluß enthält hier das ursprüngliche Problem aber eine Wahl zwischen zwei Möglichkeiten (vgl. C. Prantl, Geschichte der Logik im Abendlande, S. 493), deren eine übrigens in eine paradoxe Situation führt, die an die moderne, mit dem Namen Bertrand Russell verbundene Antinomienproblematik erinnert.
93
Zur Dialektikfreiheit der praktischen Vernunft s. auch oben S. 280 f.
304
6 Der entwicklungsgeschichtliche Ort der Antinomie der praktischen Vernunft
um die Notwendigkeit der Annahme der Realität des höchsten Gutes und seiner Bedingungen, die wir zwar nicht theoretisch beweisen können, dafür aber um so mehr aus praktischen Gründen postulieren müssen94. Die Möglichkeit des höchsten Gutes ist hier kein Problem. Ebensowenig ist es eine Frage, daß die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit der Seele notwendige Bedingungen des höchsten Gutes, zu denen es keine Alternative gibt, sind und daher erst die Postulatenlehre aus dem Dilemma befreit 95 . Daß Kant die Notwendigkeit des höchsten Gutes aus dem dilemma practicum resultieren läßt, gibt dieser Idee eine besondere Bedeutung und Funktion. Verbindung von Tugend und Glückseligkeit meint hier anders als später vor allem die Vereinbarkeit der beiden berechtigten Ansprüche der Sittlichkeit und der (um das Glück besorgten) Klugheit, der moralisch-praktischen und der pragmatischen Vernunft, von denen keine zugunsten der anderen aufgegeben werden kann, es sei denn um den Preis einer praktischen Absurdität: »Das dilemma practicum zeigt, daß Klugheit und Redlichkeit bey der Hofnung einer andern Welt beysammen seyn können«96; und es macht deutlich, daß die Lehre des höchsten Gutes und der Postulate wesentliche Elemente der Begründimg der Moral sind. Das indirekte Beweisverfahren soll möglichst klar und evident machen, wie sehr die Moral auf die Religion angewiesen ist: Der moralische Beweis dringt »in die innerste Quelle der Thätigkeit«97: Moralisch handeln muß und kann ich nur mit der Aussicht auf eine »beste
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Vgl. KrVA 806/B 834: Es wird geschlossen, »daß etwas sei (was den letzten möglichen Zweck bestimmt), weil etwas geschehen soll« (Hervorhebimg im Original). Vgl. KrVA 828/Β 856: »Es ist nur eine einzige Bedingimg nach aller meiner Einsicht möglich, unter welcher dieser Zweck [sc. die Befolgung des moralischen Gesetzes] mit allen gesamten Zwecken zusammenhängt, und dadurch praktische Gültigkeit habe, nämlich, daß ein Gott und eine künftige Welt sei: ich weiß auch ganz gewiß, daß niemand andere Bedingungen kenne, die auf dieselbe Einheit der Zwecke unter dem moralischen Gesetze führen«. Es gehört hier zur Definition des Postulierens »per thesin« im Unterschied zur Supposition »per hypothesin«, daß es »den Grund als den einzigen Möglichen« bestimmt und »andere Gründe der Erklärung« ausschließt, vgl. Refi. Nr. 5624 (AA XVm, S. 260) und KrVA633/B 661, A 824/B 852. Refi. Nr. 5477 (AA XVm, S. 194). Vgl. Philosophische Enzyklopädie, AA XXIX. 1.1, S. 43: »Die Metaphysic verbindet sie beyde. Es ist nicht möglich die Regeln der Klugheit und der Sittlichkeit zu trennen«; femer Refi. Nr. 4256 (AA XVII, S. 485) und Refi. Nr. 4599 (AA XVII, S. 606).
Metaphysik L„ AA XXVm.l, S. 320.
Dilemma practicum und Postulatenlehre
305
Welt« 98 ; »ohne Religion [ist] keine Moralitaet möglich«99. Sie bewahrt die Moral vor »dem Einwürfe einer leeren Idealität«100, einer bloß transzendenten Geltung ihrer Gesetze in einer intelligiblen Welt 101 . Nur ihre Drohungen und Verheißungen geben der Moral ausreichend starke Triebfedern102, nur die Religion kann der Moral unzweideutige Verbindlichkeit für Menschen in dieser Welt sichern; ohne Gott wäre eine moralische Gesinnung immöglich 103 : »Gott also und ein künftiges Leben, sind zwei von der Verbindlichkeit, die uns reine Vernunft auferlegt, nach Prinzipien eben derselben Vernunft nicht zu trennende Voraussetzungen«104, ohne sie verlieren für uns »die moralischen Ideen und Grundsätze alle Gültigkeit« 105 . Es war der Fehler der alten »philosophischen secten« und ist der aller dogmatischen Atheisten, »daß sie die moral von der religion unabhängig machen wolten« 106 ; »aber es ging nicht« 107 . Erst mit der Lehre des höchsten Gutes und der Postulate ist die Ethik in ihren Grundlagen vollständig; der moralische Gebrauch der Vernunft ist nicht nur in der Triebfederlehre, sondern auch in der Verpflichtungslehre abhängig von theoretischen Voraussetzungen der
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Refi. Nr. 6134 (AA XVIII, S. 465): »Ohne eine beste Welt giebts keine Moral«; Danziger Rationaltheologie, AA XXVIII.2.2, S. 1302: »Die Theorie von der besten Welt ist unumgängliche Hypothese zur Moralität«. Vgl. ferner Refi. Nr. 4139 (AA XVII, S. 430); Praktische Philosophie Powalski, AA XXVII.l, S. 167; Natürliche Theologie Volckmann, AA XXVm.2.2, S. 1200 f. Moral Mrongovius, AA XXVH.2.2, S. 1451. Refi. Nr. 6236 (AA XVÏÏI, S. 520). Vgl. Refi. Nr. 6283 (AAXVm,S. 549). Vgl. JÖVA589/B 617, A 811/Β 839, Refl. Nr. 4463 (AA XVII, S. 561), Refi. Nr. 5633 (AA XVm, S. 265), Refi. Nr. 6858 (AA XIX, S. 181); Praktische Philosophie Powalski, AA XXVÜ.1, S. 135; Moralphilosophie Collins, AA XXVII.l, S. 308 (Parallelstellen Moral Mrongovius, AA XXVH.2.2, S. 1453; Ethik Menzer, S. 102). Vgl. Refi. Nr. 6143 (AA XVffl, S. 468). KrVA811/B 839, vgl. A 815/B 843, A 828/B 856; Refi. Nr. 6110 (AA XVm, S. 458), Refi. Nr. 6235 (AA XVm, S. 519). KrVA468/B 496. Vgl. auch Refi. Nr. 6674 (AA XIX, S. 130); Refi. 7279 Nr. (AA XIX, S. 301); Moralphilosophie Collins, AA XXVII.l, S. 308 (Parallelstellen Moral Mrongovius, AA XXVH.2.2, S. 1453; Ethik Menzer, S. 102); Religionslehre Pölitz, AA XXVm.2.2, S. 1012 und 1072; Danziger Rationaltheologie, AA XXVm.2.2, S. 1284. Refi. Nr. 6876 (AA XIX, S. 188). Vgl. Religionslehre Pölitz, AA XXVffl.2.2, S. 1010; Moralphilosophie Collins, AA XXVII.l, S. 312 (Parallelstellen Moral Mrongovius, AA XXVÜ.2.2, S. 1456; Ethik Menzer, S. 108); Moral Mrongovius II, AA XXIX.1.1, S. 600 und 602. Moral Mrongovius II, AA XXIX.1.1, S. 600.
306
6 Der entwicklungsgeschichtliche Ort der Antinomie der praktischen Vernunft
spekulativen Vernunft, die Gegenstände eines moralischen Glaubens sind 108 .
6.5 Kants Revisionen der ethischen Prinzipienlehre Die Lehre vom dilemma practicum kennen wir nur aus den Reflexionen und Vorlesungen Kants. Es ist auffällig, daß es in der Kritik der reinen Vernunft nicht einmal mehr Anspielungen darauf gibt; es fehlen alle einschlägigen Charakterisierungen und Termini (wie Bösewicht, Narr, dilemma, absurdum practicum, pragmaticum etc.). Möglicherweise hat Kant in der Kritik der reinen Vernunft den indirekten Beweis mittels der reductio ad absurdum fallen lassen. Dem soll hier nicht weiter nachgegangen werden. Denn auch die Ethik, wie er sie im Methodenkapitel der ersten Kritik umreißt, enthält noch deutlich den Dualismus von Beurteilungs- und Ausführungsprinzip, wenn »die herrlichen Ideen der Sittlichkeit« zwar für sich »Gegenstände des Beifalls und der Bewunderung« sind (KrVA 813/B 841), aber ohne Drohungen und Verheißungen der Religion keine ausreichend starken Triebfedern haben 109 ; auch hier noch sind das höchste Gut und seine Bedingungen notwendige Voraussetzungen der sittlichen Verbindlichkeit 110 . In der Verquickung von sittlicher Verbindlichkeit und Postulaten, zu der sich Kant durch den Prinzipiendualismus gezwungen sah, lag zugleich die empfindliche Schwäche der Ethikbegründung Kants bis etwa 1784. Denn selbst wenn man einmal zugesteht, daß es einen legitimen Übergang von einem praktischen Gesetz zum Postulieren ontologischer Sachverhalte gibt, hat Kants Argument einen bösen Fehler: Es ist zirkulär. Eine eindeutige moralische Verbindlichkeit war nur gegeben unter der Voraussetzung der Unsterblichkeit der Seele und der Existenz Gottes; einen Grund, diese zu postulieren, hatte man aber nur, wenn man schon die Verbindlichkeit, die zu begründen war, zugrunde legte. Den wunden Punkt hat Kant später selbst formuliert: »Wenn das moralische Gesetz, um uns zu verbinden, Gott und ein künftiges Leben bedürfte, so 108 109 110
Vgl. Refi. Nr. 2470 (AA XVI, S. 384). Vgl. JCrVA589/B 617, A 811/B 839. Vgl. ÍCrVA811/B 839, A 815/B 843, A 828/B 856.
Kants Revisionen der ethischen Prinzipienlehre
307
wäre es ungereimt, auf ein solches Bedürfnis den Glauben der Wirklichkeit desjenigen, was es befriedigen kan, zu Gründen«111. Kant hat auf diese »Ungereimtheit« reagiert, indem er das Bewußtsein der sittlichen Verbindlichkeit von allen vorgängigen theoretischen Voraussetzungen abkoppelte und so die Zweideutigkeit vermied, die seiner Lehre anhaftete. Der erste wichtige Schritt war die »Entdekkung« (oder wenn man will: »Erfindung«) einer reinen praktischen Vernunft, die nicht nur autonomes Prinzip der Dijudikation, sondern auch autokratisches Prinzip der Exekution112 ist, so daß Kant den Dualismus der praktischen Prinzipien aufheben konnte: Moralisch können nur Gesetze sein, die »die Vernunft ursprünglich selbst gibt, und deren Befolgung sie als reines praktisches Vermögen auch bewirkt« (KU Β 482). Praktisch wird die reine Vernunft mittels des Gefühls der »Achtung fürs moralische Gesetz«, das nicht mehr auf dem sinnlich bedingten Streben nach Glückseligkeit basiert, sondern unmittelbar vernunftgewirkt ist; es gilt nun als das einzig legitime, aber auch hinreichende Motiv des sittlichen Handelns: Reine Vernunft muß »ohne andere Triebfedern, die irgend woher sonst genommen sein mögen, für sich selbst praktisch sein« können113; »weder Furcht, noch Neigung, sondern lediglich Achtimg fürs Gesetz [ist] diejenige Triebfeder ..., die der Handlung einen moralischen Werth geben kann«114. Das Motiv des sittlichen Wollens und Handelns ist nicht mehr an eine zu postulierende teleologische Ordnung von Tugend und Glückseligkeit gebunden. Erst indem die Vernunft auch principium executionis bonitatis wurde, konnte Kant ihrer Regel wirklich imbedingte Verbindlichkeit geben115. Zu dieser wichtigen Neukonzeption der Triebfeder mit der einzigartigen Stellung der Achtung fürs moralische Gesetz hat sich Kant erst während seiner Arbeit an der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten durchgerungen116. 111 112 113 114 115
116
Refi. Nr. 6432 (AA XVIII, S. 714). Vgl. Moral Mrongooius II, AA XXIX.1.1, S. 626. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 461. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 440, vgl. S. 400 f., 426,435,439. Vgl. D. Henrich, Das Problem der Grundlegung der Ethik bei Kant und im spekulativen Idealismus, in: P. Engelhardt (Hrsg.), Sein und Ethos. Untersuchungen zur Grundlegung der Ethik, Mainz 1963, S. 350-386, bes. S. 356. Erste Niederschläge der neuen Triebfederlehre finden sich schon in den Vorlesungsnachschriften Naturrecht Feyerabend (Sommersemester 1784, bes. AA XXVII.2.2, S. 1326 f.) und Moral Mrongooius II (Wintersemester 1784/85, bes. AA XXIX.1.1, S. 612 f., 625 f., 629,636).
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6 Der entwicklungsgeschichtliche Ort der Antinomie der praktischen Vernunft
Mit der Revision der Triebfeder des sittlichen Handelns hätte Kant die Möglichkeit gehabt, auch die Verbindlichkeit des moralischen Gesetzes vom Postulat des höchsten Gutes und seiner Bedingungen abzulösen; denn beide erforderlichen Stücke einer verbindlichen Gesetzgebung, das Prinzip der Beurteilung und das der Ausführung, lagen nun in der reinen praktischen Vernunft. Anscheinend hat Kant aber diese Konsequenz nicht gleich gezogen; denn es gibt ein Übergangsstadium, für das die Vorlesungsnachschrift Moral Mrongovius II aus dem Wintersemester 1784/85 Indizien liefert. Belohnungen werden hier zwar als Triebfedern der Moral ausgeschlossen, aber sie haben doch die Aufgabe von »Bestätigungsgründefa] der Richtigkeit und Wahrheit der moralischen Gesetze« 1 1 7 ; sie dienen der Versicherung, daß die Moral »wirklich realitaet habe und nicht blose Chimaere« 118 , »ein Ideal der dichtenden Einbildungs Kraft« 119 sei. Die Glückseligkeit als Belohnung ist hier offensichtlich noch in direkter Weise Garant der Realitätshaltigkeit und der Verbindlichkeit des moralischen Gesetzes. Mit der Lehre vom Faktum der Vernunft in der Kritik der praktischen Vernunft vollzog Kant auch für die Begründimg der Verbindlichkeit den entscheidenden Schritt, indem er das Bewußtsein der sittlichen Verbindlichkeit von jeder vorgängigen ontologischen Voraussetzung abtrennte: Das Bewußtsein des unbedingten Anspruchs des moralischen Gesetzes galt ihm nun als unmittelbar und ursprünglich, nicht aus anderen Vorstellungen deduzierbar und begründbar: Es läßt sich aus keinen »vorhergehenden Datis der Vernunft ... herausvernünfteln«120. Die Pflicht
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Am detailliertesten hat Kant sie in der Kritik der praktischen Vernunft (A 126-159) ausgeführt. Moral Mrongovius II, AA XXDC.1.1, S. 637. Moral Mrongovius II, AA XXIX. 1.1, S. 639. Moral Mrongovius II, AA XXDC.1.1, S. 637. KpVA 55 f. - Wenn Kant hier ausdrücklich das »Bewußtsein der Freiheit« nennt, aus dem sich das sittliche Bewußtsein nicht »herausvernünfteln« läßt, wenn er weiter davon spricht, daß die objektive Realität des moralischen Gesetzes »durch keine Deduktion ... bewiesen« werden könne, eine Deduktion des moralischen Prinzips vielmehr »vergeblich gesucht« sei und es auch gar »keiner rechtfertigenden Gründe« (KpVA 81 f.) bedürfe, dann verwirft er hier auch seine eigene Deduktion, an der er sich noch im dritten Abschnitt der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten versucht hatte. Der »Paton-Ross thesis of incompatibility«, der These also, daß die Faktumlehre der zweiten Kritik einen Bruch mit der Deduktion der Grundlegung bedeutet, hatte insbesondere M. H. McCarthy widersprochen: Kant's Rejection of the Argument of Groundwork ΙΠ, in: Kant-Studien 73 (1982),
Kants Revisionen der ethischen Prinzipienlehre
309
basiert auf einem »für sich selbst apodiktisch gewissen, nämlich dem moralischen Gesetze«, das von Voraussetzungen der spekulativen Vernunft ganz unabhängig ist, »keiner anderweitigen Unterstützung durch theoretische Meinung von der inneren Beschaffenheit der Dinge, der geheimen Abzweckung der Weltordnung oder eines ihr vorstehenden Regierers bedürftig [ist], um uns auf das Vollkommenste zu unbedingt gesetzmäßigen Handlungen zu verbinden«121. Es verrät daher deutlich Züge einer »Selbstrevision«122, wenn Kant nach 1784 immer wieder betont: Das höchste Gut und die Postulate sind nicht notwendig, »um davon das verbindende Ansehen der moralischen Gesetze, oder die Triebfeder zu ihrer Beobachtung abzuleiten«123, der Glaube an einen moralischen Weltherrscher und ein künftiges Leben sind nicht erforderlich, damit »unter der Voraussetzimg beider der allgemeine Pflichtbegriff allererst "Halt und Festigkeit," d. i. einen sicheren Grund und die erforderliche Stärke einer Triebfeder ... bekomme« 124 ; »denn dazu ist das Gesetz der Vernunft schon für sich objectiv hinreichend« 125 ; sowohl was das Wollen wie das Können angeht, bedarf die Moral »keineswegs der Religion, sondern vermöge der reinen praktischen Vernunft ist sie sich selbst genug«126; »bei der Frage vom Princip der Moral kann also die Lehre vom höchsten Gut ... (als episodisch) ganz übergangen und beiseite gesetzt werden«127. Nach 1784 ist das höchste Gut nicht mehr Bedingung, sondern notwendiger Gegenstand des sittlichen Willens, der nach Kräften reali-
121 122 123 124 125
126
127
S. 169-190; ders., The Objection of Circularity in Groundwork ΠΙ, in: Kant-Studien 76 (1985), S. 28-42. Eine weitere Klärung über den gegenwärtigen Stand der Diskussion hinaus ist m. E. von einer Untersuchung zur Entwicklung des Verhältnisses von praktischer und transzendentaler Freiheit bei Kant zu erwarten, die aber für den Zweck der vorliegenden Arbeit entbehrlich ist. KpVA257; vgl. auch Refi. Nr. 6432 (AA XVHI, S. 714). So D. Henrich, Der Begriff der sittlichen Einsicht, S. 106. Was heißt: Sich im Denken orientieren? (1786), AA Vffl, S. 139. Über den Gemeinspruch (1793), AA VIH, S. 279. Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie (1796), AA VIH, S. 397 Anm. Vgl. Refi. Nr. 6451 (AA XVHI, S. 723): »Die Annahme von Gott ist nicht nothwendig, um eine Pflicht zu erfüllen in einzelnen Handlungen«; ferner Refi. Nr. 6454 (AA XVHI, S. 724 f.). Religionsschrift, AA VI, S. 3. Vgl. auch Refi. Nr. 6107 (AA XVm, S. 455), Refi. Nr. 6432 (AAXVm, S. 714); Preisschrifl über die Fortschritte der Metaphysik, AA XX, S. 305. Über den Gemeinspruch, AAVm,S. 280.
310
6 Der entwicklungsgeschichtliche Ort der Antinomie der praktischen Vernunft
siert werden soll. Diese neue Bestimmung ist allerdings sehr viel weniger fest verankert als die alte Funktion. Die Einbindung des höchsten Gutes in die ethische Prinzipienlehre lief zwar auf ein zirkuläres Argument hinaus, hatte aber den Vorzug, daß Kant einen starken Grund für die Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit nennen konnte: daran hing die eindeutige Verbindlichkeit der Ethik für Menschen, die andernfalls keine hinreichende moralische Triebfeder gehabt hätten. Mit der Grundlegung einer autonomen und autarken Moral aus reiner Vernunft hat er zwar kein Zirkelproblem mehr, aber er tut sich dafür um so schwerer, die Notwendigkeit einer Verbindung von Tugend und Glückseligkeit einleuchtend zu begründen. Kant und mehr noch seine Interpreten haben versucht, dem höchsten Gut eine unentbehrliche moralphilosophische Funktion zu geben, indem sie ein komplementäres Verhältnis von Analytik und Dialektik der Kritik der praktischen Vernunft unterstellten: Das höchste Gut gehöre, so die Thesen, zum moralischen Gesetz wie die Materie zur Form 128 oder wie die Ausführung von Zwecken in der Welt zu ihrem Prinzip. Nachdem die Analytik bei der Bestimmung des moralischen Gesetzes von aller Materie und allen empirischen Bedingungen der Befolgung abstrahiert habe, nehme die Dialektik auch die Inhalte des menschlichen Wollens und die Bedingungen ihrer Realisierung »inmitten des Mannigfaltigen der Welt« 1 2 9 in den Blick. Der wohl markanteste Versuch Kants selbst, die Unentbehrlichkeit des höchsten Gutes für die Ethik zu zeigen, findet sich in einer längeren Anmerkung der Vorrede zur ersten Auflage der Religionsschrift, wo er in Anlehnving an transzendentallogische Argumentationsformen der ersten Kritik eine Deduktion des höchsten Gutes entwirft130. Ohne hier auf Details einzugehen, möchte ich dazu nur summarisch anmerken: Entweder
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So z. B. R. Kroner, s. oben S. 37-40. Vgl. auch G. B. Sala, Kant und die Frage nach Gott, S. 439 f. Anm. 7. So K. Düsing, Das Problem des höchsten Gutes in Kants praktischer Philosophie, S. 36. Religionsschrift, AA VI, S. 6-8 Anm.; vgl. oben S. 274. Siehe dazu L. Hauser, Praktische Anschauung als Grundlage der Theorie vom höchsten Gut bei Kant. Eine Anwendung der von Peter Rohs bereitgestellten Methoden auf ein Kantisches Hauptlehrstück, in: KantStudien 75 (1984), S. 228-236; ders., Religion als Prinzip und Faktum. Das Verhältnis von konkreter Subjektivität und Prinzipientheorie in Kants Religions- und Geschichtsphilosophie, Frankfurt a. M. · Bern 1983, bes. S. 97-104.
Kants Revisionen der ethischen Prinzipienlehre
311
resultiert in neuem Gewände wieder die alte Abhängigkeit der moralischen Verbindlichkeit vom höchsten Gut; oder es müssen zusätzliche Prämissen eingeführt werden, die sich bestreiten lassen, ohne daß man damit zwangsläufig die Prinzipien der Ethik Kants und ihre Anwendbarkeit in Frage stellen würde. Man kann zwar das höchste Gut in Verbindung bringen mit der Frage nach den Inhalten und Zwecken des sittlichen Willens in der Welt und nach den Bedingungen ihrer Verwirklichimg; aber das harte Kernstück, die Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit, geht in solchen Hinsichten nicht vollständig auf. Es ist nicht reduzierbar auf rein ethische Momente und Implikationen (so sehr Kant dies auch insinuiert mit der Rede vom höchsten Gut als dem notwendigen Gegenstand eines durch das moralische Gesetz bestimmten Willens131). Das höchste Gut ist kein intrinsisches Element der Moralphilosophie Kants, weder ihrer Grundlegung durch formale Prinzipien noch ihres materialen Teils132. Gerade für die spätere Ethik behält der Einwurf J. Ch. Greilings aus dem Jahre 1795 seine Berechtigung: »Es ist bis jetzt kein Grund aufgezeigt worden, warum Glückseeligkeit mit Sittlichkeit in Harmonie treten solle«133. Kant läßt sich von einer Intuition leiten (s. oben S. 108-110), die er immer weniger theoretisch überzeugend einzulösen vermag. Die Lehre vom höchsten Gut wird zu einer ausgesprochen schillernden Konstellation, die in der Folge gegensätzlich und widersprüchlich interpretiert wurde, wie dies in Beiträgen mit Titeln wie »The Importance of the Highest Good«134, »The Unimportance of Kant's Highest Good«135 und wieder »The Importance and Function of Kant's Highest Good«136 zum Ausdruck kommt. Auch nach 1784 drückt Kant sich gelegentlich so aus, daß man Zweifel an einer durchgreifenden Revision der ethischen Prinzipienlehre ha-
131 132
133 134 135 136
Vgl. oben S. 176 ff. Dies betont auch Th. Auxter, Kant's Moral Teleology, Macon 1982, S. 95; ders., The Unimportance of Kant's Highest Good, in: Journal of the History of Philosophy 17 (1979), S. 121134, bes. S. 121. J. Ch. Greiling, Darlegung einiger Schwierigkeiten, S. 292; Hervorhebungen im Original. J. R. Silber, The Importance of the Highest Good in Kant's Ethics. Th. Auxter, The Unimportance of Kant's Highest Good. R. Z. Friedman, The Importance and Function of Kant's Highest Good, in: Journal of the History of Philosophy 22 (1984), S. 325-342.
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6 Der entwicklungsgeschichtliche Ort der Antinomie der praktischen Vernunft
ben könnte, da er dem höchsten Gut, wie es scheint, wieder eine konstitutive Rolle für die sittliche Entscheidung einräumt. So argumentiert er ausdrücklich für eine »Willensbestimmung von besonderer Art« 137 und Erweiterung der sittlichen Motive über die Achtung hinaus: für eine »Aufnehmung des moralischen Endzwecks der Vernunft unter seine [sc. des Menschen] Bestimmungsgründe«138. Das meint wieder mehr, als daß »das in diesem Begriffe [sc. des höchsten Gutes] schon eingeschlossene und mitgedachte moralische Gesetz und kein anderer Gegenstand nach dem Prinzip der Autonomie den Willen bestimmt«, worauf die Kritik der praktischen Vernunft (A 197, vgl. A 232 und 234) den Sinn solcher Ausdrucksweisen beschränken wollte. Ohne höchstes Gut gebe es, so Kant später noch, »ein Hinderniß der moralischen Entschließung«139. Auch der Religion wird weiter eine Bedeutung für die sittliche Motivation eingeräumt; der Unglaube vertrage sich nicht »mit einer in der Denkungsart herrschenden sittlichen Maxime« (KU Β 464); er nehme »den moralischen Gesetzen zuerst alle Kraft der Triebfedern auf das Herz, mit der Zeit sogar ihnen selbst alle Autorität«140. Wie sind solche Aussagen zu bewerten? Man wird zunächst beachten müssen, daß Kants Aussagen sozusagen oszillieren. Er hält nicht schnurgerade Linie in starrer Eindeutigkeit, sondern die Äußerungen einer Entwicklungsphase bilden eher Felder mit einer gewissen Streuungsbreite. Wie es schon vor 1784 Formulierungen gab, die, für sich genommen, über dem Niveau der damaligen Prinzipienlehre lagen 141 , so gibt es später Äußerungen, die unter das Niveau der revidierten Prinzipienlehre sinken oder zu sinken drohen. Man kann dann Aussagen vor und nach 1784 durch eine Linie so verbinden, daß der Eindruck entsteht, im Grunde ha-
137 138 139 140 141
Über den Gemeinspruch (1793), AA VIO, S. 280 Anm. Religionsschrift (1793) AA VI, S. 7 Anm. Religionsschrift, AA VI, S. 5. Was heißt: Sich im Denken orientieren? (1786), AA Vm, S. 146. So heißt es ζ. B. in einer Reflexion, die vermutlich aus der Zeit um 1772 stammt, man dürfe »die triebfeder der Sittlichkeit« nicht mit der Sinnlichkeit »aliiren, weil man dadurch wohl die Handlungen des Menschen, aber nicht den Menschen bessert« (Refi. Nr. 6722, AA XIX, S. 141). Der damalige Stand der Triebfederlehre Kants wird aber eher durch die Feststellung wiedergegeben, daß die Triebfedern der Moral »alle von der Glükseeligkeit... hergenommen seyn« und »die moralischen Gebothe ... eine Verheißung oder Drohung bey sich führen« müssen (Refi. Nr. 6858, AA XIX, S. 181).
Kants Revisionen der ethischen Prinzipienlehre
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be sich bei Kant nichts bewegt. Tatsächlich aber streuen die Aussagen jeweils um deutlich verschobene Schwer- oder Mittelpunkte. Aber es bleibt das sachliche Problem, wieweit Kant die sittliche Verbindlichkeit von spekulativen Prämissen abkoppelt. Das höchste Gut ist für ihn das notwendige Objekt des sittlichen Bemühens: Welche Folgen hätte es für die Sittlichkeit und ihr Gesetz, wenn dieses Objekt nicht möglich wäre? Kehrt hier nicht auf Umwegen die eilte Abhängigkeit moralischer Geltung von der Annahme spekulativer Positionen zurück? Wenn Kant am Ende des Antinomiekapitels der Kritik der praktischen Vernunft von der Unmöglichkeit des höchsten Gutes auf die Falschheit des moralischen Gesetzes schließt (KpV A 205), bindet er dann nicht wieder die Gültigkeit des moralischen Gesetzes an das höchste Gut und die Bedingungen seiner Möglichkeit? W. Jaeschke sah, wie erwähnt 142 , darin einen Beweis, daß Kant »sowohl das Faktum der sittlichen Einsicht als auch die Kräftigkeit der rein moralischen Triebfeder als bloß illusionär« wieder preisgebe; das höchste Gut und auch der Gottesgedanke bleibe »wie in der ersten Kritik« »für die Verbindlichkeit der ethischen Forderungen konstitutiv«143; ein überzeugter Atheist könne »nicht moralisch handeln - wenn er nur konsequent« sei; er mache sich »einer Inkonsequenz schuldig, wenn er an der Verbindlichkeit des Moralgesetzes« festhalte144. Hier kann der Vergleich der Antinomie der praktischen Vernunft mit dem dilemma practicum zeigen, daß identisch klingende Aussagen nach 1784 nicht dasselbe bedeuten wie davor; sie sind anders logisch-semantisch vernetzt; ihre Voraussetzungen und Anknüpfungsmöglichkeiten sind verschieden. Das gilt selbst dann, wenn man Kant die (eher problematische) These zugesteht, daß das höchste Gut notwendiges Objekt des sittlichen Willens ist. Es mag sein, daß letztlich tiefgreifende Ambivalenzen im Verhältnis von Moralität und höchstem Gut bleiben (wobei es auch eine Frage ist, wie man sie bewertet: als Folge einer inkonsequenten Pflichtethik oder als Indiz, daß trotz der Versuche zur Arrondierimg des Terrains eine rein formale praktische Vernunft immer noch auf unsicherem Boden steht); aber sie präsentieren sich in einer anderen 142 143 144
S. oben S. 191. W. Jaeschke, Die Vernunft in der Religion, S. 66. W. Jaeschke, Die Vernunft in der Religion, S. 77.
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6 Der entwicklungsgeschichtliche Ort der Antinomie der praktischen Vernunft
Form. Wer sich mit Kants Lehre vom höchsten Gut auseinandersetzt, muß sich auf diese signifikant veränderte Problemkonfiguration beziehen.
6.6 Dilemma practicum, natürliche Dialektik und Antinomie der praktischen Vernunft Dem dilemma practicum und der Antinomie der praktischen Vernunft ist folgender Sachverhalt gemeinsam: »Wenn ich blos auf einen Vortheil in dieser Welt gehe, kan das sittliche Gesetz nicht rein seyn. Ist es rein, so hat es nicht Glükseelichkeit zur Folge« 145 . Unter den Bedingungen des dilemma practicum war ohne Postulat einer Harmonie von Moral und Glückseligkeit keine eindeutige rationale Entscheidung für die Moral möglich, da ein wesentliches »Stück« der moralischen Verbindlichkeit, das principium executionis, auf das menschliche Glücksverlangen Rücksicht nehmen mußte. Im Dilemma argumentierte Kant, daß ohne eine Verbindung von Tugend und Glückseligkeit gleichberechtigte Ansprüche der Moral und des Glücksverlangens gegeneinander stehen. Da sich beide Seiten auf eine gewisse Vernünftigkeit berufen können, wäre ein Patt von moralischer und pragmatischer Vernunft die Folge 146 . Die Vernunft war hier auch noch Anwalt des Glücksbedürfnisses; ohne Hoffnung auf ein höchstes Gut konnte der vernünftige Mensch sich dem sittlichen Anspruch mit Hinweis auf seine Glücksbedürftigkeit »emanzipatorisch entfremden« 1 4 7 . Die »unreine« Vernunft hatte ein Vetorecht gegen die reine Vernunft mit ihrer unbedingten sittlichen Forderung, sofern diese dem Verlangen nach Glückseligkeit nicht Rechnimg trug148. Ein Widerstreit zweier gleichgewichtiger Gründe ergäbe zwar eine absurde Situation, die nach Kantischen Begriffen von Rationalität die Möglichkeit von praktischer Vernunft überhaupt bedroht, aber es handelte sich nicht um eine Antinomie oder eine andere Form von Dialek145 146 147 148
Refi. Nr. 6894 (AA XIX, S. 198). Vgl. oben S. 292 f. und 296 f. So H. Schmitz, Was wollte Kant?, S. 121. Vgl. oben S. 293.
Dilemma practicum, natürliche Dialektik und Antinomie der praktischen Vernunft 315
tik: nicht um eine Antinomie, weil kein Widerspruch zweier kontradiktorischer Behauptungen vorläge, sondern ein Konflikt zweier Bestimmungsgründe des Willens; nicht um eine Dialektik, weil es keine Täuschung gäbe, im Sinne etwa einer »dialektischen Opposition«, indem ein konträrer Widerspruch für kontradiktorisch gehalten würde (vgl. KrVA 504/B 532). Die Prämisse, unter der die Wahl zwischen den beiden absurden Situationen resultiert (die Nicht-Existenz der Bedingungen des höchsten Gutes), liegt von Anfang an offen; mit dieser Implikation wird ja im dilemma practicum argumentiert. Das Dilemma sollte ein fehlerfreies Argument für die Postulate sein; der indirekte Beweis stand nicht für die Dialektikanfälligkeit, sondern für die besondere Deutlichkeit und Klarheit des Arguments149. Wenn die Bedingungen der Harmonie von moralischer und pragmatischer Vernunft nicht erfüllbar wären, käme für Kant keine eindeutige sittliche Verbindlichkeit für Menschen zustande, jedenfalls nicht auf rationale Weise. Unter den expliziten Bedingungen des dilemma practicum wäre dies das letzte Wort. Es gäbe keinen Widerspruch zwischen einem klaren Bewußtsein unbedingter sittlicher Verpflichtung und ihrer Negation. Der einzelne mag sich für die »herrlichen Ideen der Sittlichkeit« ( K r V A 813/B 841) entscheiden, aber eine unbedingte Pflicht dazu bestünde nicht; man kann von ihm nicht verlangen, daß er sich um der Moral willen zum Narr macht. Wer mehr will und meint, es müsse doch eine eindeutig verbindliche Moral geben, geht über den damaligen expliziten Rahmen und seine Begründungsmöglichkeiten hinaus. Kant selbst war in gewisser Weise schon darüber hinausgegangen, als er um der Moral willen das höchste Gut und seine Bedingungen postulierte; denn innerhalb des Rahmens war die sittliche Verbindlichkeit nur zirkulär zu begründen. Damit aber hatte er schon vorausgesetzt, daß es eine unbedingte sittliche Verbindlichkeit für Menschen gibt, und zwar unabhängig von theoretisch-ontologischen Abhängigkeiten, wie sie konstitutiv für das dilemma practicum sind. Mit der Lehre vom Faktum des sittlichen Bewußtseins hat Kant diesem Vorgriff auf die moralische Verbindlichkeit Rechnung getragen. Zuvor schon hatte er durch die Lehre von der Achtung fürs moralische 149
Vgl. oben S. 302.
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Gesetz auch das principium executionis (und damit beide wesentlichen »Stücke«) von der Glückseligkeit gelöst, so daß er nun die volle moralische Verbindlichkeit ganz ohne Rücksicht auf die Glückseligkeit und ihre Verknüpfung mit der Moral formulieren konnte. Damit war dem dilemma practicum der Boden entzogen. Ein Beweis für eine künftige Welt und die Existenz Gottes, der mit den absurda practica argumentiert, war nicht mehr möglich, weil es kein absurdum pragmaticum mehr gab, das mit gleichem Gewicht neben das absurdum morale treten konnte 150 . Im Fall eines Konfliktes zwischen Moral und Glücksverlangen konnte jetzt ohne Ausgriff auf eine Vermittlung von Tugend und Glückseligkeit im höchsten Gut eindeutig zugunsten der Moral und ihrer Verbindlichkeit entschieden werden. Es mag zwar sein, daß die Aussage »Nehme ich keinen Gott an; so habe ich ... nach Grundsätzen gehandelt, wie ein Narr« 1 5 1 »in ihrem Kern auch für den Kant der Kritik der praktischen Vernunft nicht einfach falsch sein« dürfte, wie M. Albrecht meint 152 ; aber anders als zuvor wird dem Menschen nun zugemutet, um der Moral willen notfalls auch ein »Narr« zu sein. Ein hinreichend starkes Motiv, so zu handeln, hat er nach Kant jedenfalls. In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten wird die veränderte Situation deutlich. Auch hier geht es um den Konflikt zwischen der Moral und dem Bedürfnis nach Glück. Wenn nun aber die sinnlichen Neigungen ihre Ansprüche gegen die Moral geltend machen und »wider jene strenge Gesetze der Pflicht ... vernünfteln«, bewertet Kant dies als »na150
151 152
Th. Fliethmann (Vernünftig glauben, S. 202 Anm. 234) will auch nach der Abkopplung der Geltung des Sittengesetzes von den Postulaten »an der Bedeutung des absurdum-practicum-Argumentes« festhalten; das Dilemma komme »auf jeden Fall zustande, wann immer das Sittengesetz in Geltung ist«. Wie A. W. Wood deutet Flietmann das dilemma practicum aber schon von der Antinomie der praktischen Vernunft her (vgl. ebd. 201-203, 205); dabei geht die spezifische argumentative Struktur des dilemma-practicum-Arguments ganz verloren. Bezeichnend dafür ist, daß das absurdum pragmaticum, das einer vollgültigen Verbindlichkeit des Sittengesetzes entgegensteht und zusammen mit dem absurdum morale die charakteristische Patt-Situation bildet, gar nicht mehr berücksichtigt wird. Fliethmann übersieht, daß das von Kant beschriebene Dilemma gerade dann nicht mehr zustandekommt, wenn das Sittengesetz unabhängig von allen theoretischen Voraussetzungen gültig ist. Der Widerspruch, den Fliethmann im Auge hat (daß man an ein unbedingt gebietendes Gesetz gebunden ist, das etwas Unmögliches fordert), läßt sich daher nicht mehr mit den Mitteln des dilemma practicum beschreiben; Kant beschreibt ihn als Antinomie (vgl. unten S. 323). Metaphysik Lu AA XXVÏÏL1, S. 320. M. Albrecht Kants Antinomie, S. 165 Anm. 525.
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türliche Dialektik« der gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnis153. Das heißt: Die Sinnlichkeit kann jetzt anders als vorher nur noch einen Schein von Recht gegen die Pflicht ins Feld führen. Um die Moral aus der »Zweideutigkeit« und »Verlegenheit wegen beiderseitiger Ansprüche« zu befreien, bedarf es daher nicht mehr einer Verknüpfung von Moral und Glück, sondern einer philosophischen Kritik, die den täuschenden Schein eines Anspruches der Sinnlichkeit auflöst, indem sie das moralische Prinzip und seine Quelle in der reinen Vernunft richtig bestimmt. Das bedeutet: Die Vernunft gebietet, »ohne doch dabei den Neigungen etwas zu verheißen, unnachlaßlich, mithin gleichsam mit Zurücksetzung und Nichtachtung jener so ungestümen und dabei so billig scheinenden Ansprüche« (ebd.). Während zuvor gegen das »mächtige[.] Gegengewicht« der Neigungen und den »blendendefn] Glänze«, in dem sie das Gegenteil der Pflicht »malen«, nur die Religion helfen konnte 154 , traut Kant die Abwehr nun der Moral allein zu, die, unterstützt von der Philosophie, das moralische Gesetz der Vernunft von empirischen Prinzipien scharf scheidet und in seiner Reinheit darstellt. Die »natürliche Dialektik« in der Grundlegung ist ein Übergangsphänomen; sie bildet eine Zwischenstation auf dem Weg vom Dilemma zur Antinomie der praktischen Vernunft. Kant bringt hier zum ersten Mal auch die praktische Vernunft in Zusammenhang mit einer Dialektik, die in der Kritik der reinen Vernunft noch auf die theoretische Vernunft beschränkt blieb155. Die »natürliche Dialektik« darf aber so wenig wie das dilemma practicum mit der späteren Dialektik in der Kritik der praktischen Vernunft verwechselt oder vermengt werden. Bei der »natürlichen Dialektik« handelt es sich ausdrücklich nicht um einen Widerspruch (und schon gar nicht um einen Widerspruch der Vernunft mit sich selbst), sondern um einen »Widerstand der Neigimg gegen die Vorschrift der Vernunft (antagonismus)«156. Inhaltlich geht es bei der »natürlichen Dialektik« (wie beim praktischen Dilemma) um einen Konflikt von Moralund Glückseligkeitsmaximen, zu dessen Lösung (anders als beim Dilem153 154 155 156
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AAIV, S. 405. Vgl. Religionslehre Pölitz, AA XXVÏÏI.2.2, S. 1011 f. Vgl. oben S. 280 f. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 424. Vgl. oben S. 22.
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ma) das höchste Gut nicht mehr gebraucht wird. Das höchste Gut und seine Möglichkeit sind aber das Thema der Dialektik in der Kritik der praktischen Vernunft, in der wiederum der Konflikt von Tugend- und Glückseligkeitsgrundsätzen keine Rolle mehr spielt. Es ist bezeichnend für die Verschiebungen in der Prinzipienlehre, daß der Komplex des dilemma practicum in zwei relativ selbständige Problemstellungen auseinanderbricht. Zunächst bringt Kant den einen Teil, den Konflikt der Tugend mit der Glückseligkeit (»natürliche Dialektik«), später den anderen, das höchste Gut, mit einer Dialektik in Verbindung (Antinomie der praktischen Vernunft). Es gibt Gründe anzunehmen, daß Kant später das Zugeständnis einer »natürlichen Dialektik« schon für zu weitgehend hielt. Er legte zunehmend Wert darauf, daß gerade die gemeine Vernunfterkenntnis zweifelsfrei das moralisch Gebotene erkennt; die praktische Erkenntnis sollte nicht wie die theoretische durch eine Dialektik verunsichert werden 157 . Es kennzeichnet die Position in der Kritik der praktischen Vernunft, daß es hier weder einen wirklichen (wie im praktischen Dilemma) noch einen dialektisch »vorgeblichen Einwand« (wie in der Grundlegung) gibt, »der die Unbedingtheit des Sittengesetzes mit dem Hinweis auf die Unhintergehbarkeit des menschlichen Glückstrebens widerlegen will« 158 . Versuche, die Antinomie der praktischen Vernunft von einem solchen Konflikt her zu deuten, sind von vorneherein zum Scheitern verurteilt 159 . Die Antinomie der praktischen Vernunft setzt die revidierte Prinzipienlehre voraus. So wenig wie später das dilemma practicum noch möglich war, so wenig konnte es schon unter der alten Prinzipienlehre die Antinomie der praktischen Vernunft geben, und zwar im Hinblick auf das Thema (1) wie auf die Form (2): (Ad 1) Die Dialektik der praktischen Vernunft dreht sich inhaltlich um das höchste Gut als »die unbedingte Totalität des Gegenstandes
157 158
159
Vgl. oben S. 275-280. Darin sah G. Krämling »die vordringliche Bedeutung der "Dialektik" der "Kritik der praktischen Vernunft"«: Die systembildende Rolle, S. 65, vgl. S. 68 f., und ders., Das höchste Gut als mögliche Welt, S. 282. Vgl. oben S. 20 ff.
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der reinen praktischen Vernunft«160. Gegenstand, der nach Kräften zu realisieren ist, konnte das höchste Gut aber erst werden, nachdem es in der Grundlegung der Ethik nicht mehr als vorauszusetzende Bedingung einer verbindlichen Moral gebraucht wurde. Die modifizierte Grundlegung der Moral ist auch Voraussetzung dafür, unter welchem Aspekt das höchste Gut in der Antinomie zum Thema wird. Im dilemma practicum ist das Postulat der Realität des höchsten Gutes und seiner Bedingungen die Lösung eines Problems, nämlich des Konfliktes zwischen Tugend- und Glückseligkeitsmaximen; aus der praktischen Absurdität der Nicht-Existenz des höchsten Gutes wird ein Argument für das Postulieren der Existenz (nicht nur der Möglichkeit) des höchsten Gutes und seiner Bedingungen abgeleitet. In der Antinomie setzt Kant anders, grundsätzlicher an 161 . Nachdem der praktische Konflikt zwischen Tugend- und Glückseligkeitsmaximen ohne Rekurs auf das höchste Gut zugunsten der Moral entscheidbar war, hatte er neuen Spielraum. Nun problematisiert er das höchste Gut in seiner Möglichkeit, indem er ein prinzipielles Argument gegen sie vorträgt. Entsprechendes fehlt zuvor; im dilemma practicum war die Möglichkeit stets fraglos vorausgesetzt162; damals spielten nur empirische Argumente gegen die Realität des höchsten Gutes in dieser Welt eine Rolle. Da in der Antinomie die Möglichkeit des höchsten Gutes in Frage steht, ist das Problem dann gelöst, wenn diese Möglichkeit gezeigt ist; darauf ist noch ausführlicher zurückzukommen. Für das praktische Dilemma wäre ein solcher Nachweis zu wenig gewesen; es wurde erst durch das Postulat der Realität des höchsten Gutes und seiner Bedingungen behoben, weil nur so die unzweideutige Geltung des moralischen Gesetzes für Menschen gegeben war163. Im Vergleich zum dilemma practicum und zur »natürlichen Dialektik« der Grundlegung, deren Kern ein praktischer Entscheidungskonflikt bildete, ist die Antinomie der praktischen Ver-
160 ΚρνΆ194, Hervorhebung im Original. 161
162 163
Auch M. Albrecht (Kants Antinomie, bes. S. 154 Anm. 474 und S. 163 Anm. 521) spürt, daß Kant in der Antinomie der praktischen Vernunft irgendwie radikaler vorgeht als im dilemma practicum, ohne allerdings die entscheidenden Differenzpunkte klar herauszuarbeiten. Vgl. oben S. 303 f. Vgl. oben S. 304 f.
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nunft mit ihrem Thema der Möglichkeit des höchsten Gutes eine stärker »theoretische« Angelegenheit. (Ad 2) Das Sachproblem der Antinomie läßt sich in Form eines kontradiktorischen Gegensatzes zweier Behauptungen darstellen, auch wenn Kant selbst dies nicht in letzter Ausdrücklichkeit ausgeführt hat 1 6 4 : »Das höchste Gut ist möglich« vs. »Das höchste Gut ist nicht möglich«. Die Behauptung der Möglichkeit des höchsten Gutes stützt sich u. a. auf das unmittelbare Bewußtsein der Gültigkeit des moralischen Gesetzes, das, so jedenfalls Kant, die Verwirklichimg oder Beförderung dieses Zwecks zur Pflicht macht 165 . Seine Gültigkeit ist anders als noch in der Kritik der reinen Vernunft (vgl. A 633 f./Β 661 f.) unabhängig von anderen Sätzen, die die Existenz notwendiger Bedingungen der Verbindlichkeit behaupten oder postulieren. Nur so kann neben die Thesis von der Möglichkeit des höchsten Gutes ein anderer Satz treten, der die Unmöglichkeit des höchsten Gutes behauptet, ohne daß damit eo ipso die Thesis hinfällig würde, weil eine notwendige immanente Bedingung ihrer Geltung nicht erfüllt wäre. Die Wahrheit der Antithesis impliziert nur noch formallogisch die Falschheit der Thesis (und timgekehrt), nicht mehr wie im dilemma practicum aufgrund einer inneren sachlichen Abhängigkeit. Nur unter den Bedingungen der modifizierten Prinzipienlehre also können die Thesis der Möglichkeit des höchsten Gutes und ihre Negation gleichzeitig behauptet werden, kann es also eine Antinomie im Sinne eines kontradiktorischen Widerstreits von zwei (wenigstens dem Schein nach) begründeten Behauptungen geben. Der durch die neue Grundlegung ermöglichte Widerspruch wird vielleicht noch deutlicher, wenn man die Antinomie nicht auf das höchste Gut, sondern auf das moralische Gesetz bezieht. Wie ausführlich erörtert, schließt Kant am Ende des Antinomiekapitels von der Unmöglichkeit des höchsten Gutes auf die Falschheit des moralischen Gesetzes, wobei als Prämisse vorausgesetzt ist, daß das höchste Gut das notwendige Objekt eines durch das moralische Gesetz bestimmten Willens ist 166 . Selbst wenn man diesen (von Kant nicht mehr ausreichend begrün164 165 166
Vgl. Kap. 4, bes. S. 174 ff. Vgl. oben S. 123 ff. Vgl. oben S. 176 ff.
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deten) Zusammenhang zwischen moralischem Gesetz und höchstem Gut zugesteht, kann dieser Schluß nach der Faktumlehre nicht bedeuten, daß dadurch das unmittelbare Bewußtsein der moralischen Verpflichtung aufgehoben oder man von der Pflicht dispensiert wäre, die ja ausdrücklich von solchen Bedingungen nicht mehr abhängig ist. Deshalb ist eine Antinomie möglich, indem die Gültigkeit des moralischen Gesetzes gleichzeitig behauptet und bestritten wird. M. Albrecht167 hat darauf hingewiesen, daß Kant im Antinomiekapitel radikaler als zuvor von der Falschheit des moralischen Gesetzes spricht: Es wäre »an sich falsch«, wenn das höchste Gut unmöglich wäre. Früher war nur die Rede davon, daß ein allgemein gebietendes Gesetz ohne höchstes Gut »im besonderen Falle falsch seyn«168 würde (im Sinne seiner Nicht-Anwendbarkeit in unserer Welt). Aber hier muß man zweierlei beachten: Erstens ergibt sich in der Antinomie anders als zuvor die Behauptung der Falschheit des moralischen Gesetzes nur indirekt und gleichsam wie von außen aus der Unmöglichkeit des höchsten Gutes (und nicht etwa weil, wie noch in der Vorlesungsnachschrift Moral Mrongovius II, Belohnungen als positive »Bestätigungsgründe« der Wahrheit fehlten169); das höchste Gut tangiert nur noch negativ und indirekt in dem Falle, daß es als Objekt der reinen praktischen Vernunft unmöglich ist, die Gültigkeit des moralischen Gesetzes, das seine Realisierung zur Pflicht macht (wie Kant jedenfalls meint). Zweitens kann der Behauptung der Falschheit des moralischen Gesetzes nun entschieden das unmittelbare Bewußtsein sittlicher Verpflichtung entgegengesetzt werden. Der besondere Witz der antinomischen Problemform besteht ja darin, daß »das im Antinomie-Abschnitt behauptete strikte gegenseitige Abhängigkeitsverhältnis zwischen "höchstem Gut" und "Sittengesetz"« 170 und der Schluß auf die Falschheit des moralischen Gesetzes nur die eine Seite darstellen, gegen die die andere geltend gemacht werden kann. Die Antinomie ist nur verstanden, wenn man beide Seiten in ihrer gewollten Konfrontation nimmt. Ihr Witz ist verpaßt, wenn man wie L. W. Beck einseitig feststellt, daß nach Kant das mora167 168 169 170
M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 154 Anm. 474, vgl. auch S. 166 Anm. 529. Refi. Nr. 4256 (AA XVÏÏ, S. 485); vgl. oben S. 295 f. Vgl. oben S. 308. M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 165.
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lische Gesetz null und nichtig wäre, falls das höchste Gut nicht möglich wäre, und nur am Rande in einer Fußnote hinzufügt, daß Kant ebendies an anderen Stellen nachdrücklich bestreite171. Mit einer Wiederaufnahme oder gar einer grundsätzlichen Radikalisierung der älteren Triebfederlehre, wie Albrecht mutmaßt 172 , hat die zugespitzte Redeweise nichts zu tun, eher mit neuen Darstellungsmöglichkeiten, die die modifizierte Prinzipienlehre bietet. Die »hypothetische[.] Erwägung einer theoretischen Gewißheit, daß das höchste Gut unmöglich sei«, weist deshalb anders, als das Albrecht sah, auch nur sehr bedingt »auf den Gedanken des "absurdum practicum" zurück«173. Die Einbettung dieser »Erwägung« ist eine charakteristisch andere. In der Antinomie handelt es sich nicht um den Konflikt eines Grundes für die moralische Verpflichtung (im Sinne eines principium obligandi) und eines Grundes dagegen (mit der Folge, daß keine vollgültige Verpflichtung zustande kommt), sondern um den Widerspruch der Behauptung der moralischen Verpflichtung (Kantisch: eines principium obligans174, deontologisch: einer Norm) mit ihrer Negation. Die Antinomie als Problemform bietet also ein neues Netz von Darstellungs-, Problematisierungs- und argumentativen Anschlußmöglichkeiten. Die Antinomie der praktischen Vernunft konterkariert nicht die Analytik der Kritik der praktischen Vernunft; ihre Thesis setzt vielmehr die Revisionen der Prinzipienlehre voraus, auch wenn sie (mit durchaus problematischen Annahmen zum höchsten Gut) deutlich darüber hinausgeht. A. W. Wood hatte Kant vorgehalten, daß er sich bei der Antinomie der praktischen Vernunft zu sehr von der Parallele zu den theoretischen Antinomien der Kritik der reinen Vernunft leiten lasse, wenn er das Problem als ein »absurdum logicum« in Form eines Widerspruches darstelle, da es sich doch um ein »absurdum practicum«, um einen praktischen Konflikt, nicht um einen »theoretical error« handle 175 . Wood verkennt, daß gerade die antinomische Form des Problems (als Antithe-
171 172 173 174 175
L.W.Beck, A Commentary, S. 244 mit Anm. 15 (dt. S. 227 und S. 299 Anm. 15). M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 154 Anm. 474. M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 175 f. Zur Unterscheidung von principium obligandi und principium obligans s. oben S. 296. A. W. Wood, Kant's Moral Religion, S. 28 und S. 104 Anm.
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tik zweier Sätze) einer veränderten Grundlegung der Ethik Rechnung trägt. Wenn man Kant alle seine Prämissen zugesteht, würde die Antinomie der praktischen Vernunft in der äußersten Zuspitzung bedeuten, daß der Mensch hin und her gerissen wäre zwischen der unbedingten moralischen Verpflichtimg durch das moralische Gesetz, die er im Faktum seines moralischen Bewußtseins erfährt, und einem begründeten Zweifel an der Gültigkeit dieser Verpflichtung, weil dieses Gesetz etwas verlangt (so jedenfalls Kant), was nicht möglich ist. Er könnte sich daraus nicht mehr wie im Dilemma mit dem Argument befreien, daß in einer solchen Situation keine für ihn gültige moralische Verbindlichkeit zustande käme und er die freie Wahl hätte, moralisch oder nicht moralisch zu sein, weil diese Wahl nicht mehr rational zu entscheiden wäre. Es wäre kein Konflikt zwischen Tugend- und Glückseligkeitsmaximen, für die es gleich starke Gründe gäbe, sondern es entstünde die tragische Situation eines Bewußtseins, das sich als durch einen kategorischen Imperativ unmittelbar moralisch gebunden erfährt (was durch keine Erkenntnis aufgehoben werden kann) und zugleich folgern muß, daß an diesem Imperativ etwas nicht stimmen kann, weil er etwas Unmögliches fordert. Dispensiert von der Pflicht wäre er durch die antinomische Zerrissenheit seiner Vernunft nicht; das moralische Gesetz nötigt ihn in seinem Gewissen bedingungslos, es gäbe keine Appellationsinstanz über die gesetzgebende Vernunft hinaus, an die er sich in seiner Not wenden könnte176. Das unaufgelöste dilemma practicum als Konflikt von Tugend- und Glückseligkeitsmaxime hätte zur Folge gehabt, daß die Wahl eine zufällige, subjektive Angelegenheit gewesen wäre, weil es bei der Gleichgewichtigkeit der Gründe für und gegen die Moral kein allgemeines, rationales Entscheidimgskriterium mehr gäbe. Inakzeptabel ist das nur für den, der schon für eine allgemeinverbindliche Moral voreingenommen ist. Eine Antinomie der Vernunft bedroht dagegen schon aufgrund der formalen Bedeutung die Rationalität überhaupt und drängt ebenso wie die Widersprüche der theoretischen Vernunft auf eine Aufklärung und Aufhebung, wenn man das Feld nicht dem Skeptiker überlassen will. 176
Vgl. H. Blumenberg, Kant und die Frage nach dem "gnädigen Gott", S. 559.
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Die unaufgelöste Antinomie zu einer Bedingung menschlicher Existenz und Erkenntnis, die in ihrer Unvollkommenheit zugleich schöpferisch ist, umzudeuten177, wäre für Kant kein gangbarer Weg gewesen; das impliziert ein ganz anderes Verständnis von Dialektik. Kant hatte es mit einem kontradiktorischen Widerstreit von Behauptungen zu tun, nicht mit einer dialektischen Ontologie der menschlichen Existenz. Er hatte daher ein elementares Interesse an einer »kritischen Aufhebung der Antinomie der praktischen Vernunft« im Sinne einer Beseitigimg des Widerspruchs.
177
So die Deutungen E. von Hartmanns und W.Kingelings, vgl. oben S. 41 f. und 46.
7 Die »kritische« Aufhebung der Antinomie der praktischen Vernunft 7.1 Kants Lösung(en) des Problems Die Antinomie der praktischen Vernunft sei, so Kant (KpVA 205-207), »dem Widerstreit zwischen Naturnotwendigkeit und Freiheit in der Kausalität der Begebenheiten in der Welt«, also der dritten kosmologischen Antinomie der ersten Kritik (Freiheitsantinomie), ähnlich. Diese sei »gehoben« worden, indem man den Erscheinungscharakter der Ereignisse in der Welt berücksichtigte; dann könne man »einunddasselbe handelnde Wesen« als »Kausalität in der Sinnenwelt« betrachten, die als Erscheinung »jederzeit dem Naturmechanismus« unterworfen sei, und zugleich als Noumenon, das einen Bestimmungsgrund dieser naturgesetzlichen Kausalität in der Sinnenwelt enthalte, »der selbst von allem Naturgesetze frei« sei. »Mit der vorliegenden Antinomie« der praktischen Vernunft sei »es nun ebenso bewandt. Der erste von den zwei Sätzen, daß das Bestreben nach Glückseligkeit einen Grund tugendhafter Gesinnung hervorbringe, ist schlechterdings falsch« (hier bleibt es also bei der früheren Qualifizierung1); »der zweite aber, daß Tugendgesinnung notwendig Glückseligkeit hervorbringe, ist nicht schlechterdings«, sondern nur »bedingterweise falsch«, sofern ich nämlich die Tugendgesinnung als »Form der Kausalität in der Sinnenwelt« betrachte und das Dasein darin »für die einzige Art der Existenz des vernünftigen Wesens« halte. Ich dürfe aber nicht nur »mein Dasein auch als Noumenon in einer Verstandeswelt« denken, sondern habe »sogar am moralischen Gesetze einen rein intellektuellen Bestimmungsgrund meiner Kausalität (in der Sinnenwelt)«; deswegen sei es »nicht unmöglich, daß die Sittlichkeit der Gesinnung einen wo nicht unmittelbaren, so doch mittelbaren (vermittelst eines intelligibelen Urhebers der Natur) und zwar not1
Vgl. oben S. 144 ff.
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wendigen Zusammenhang als Ursache mit der Glückseligkeit als Wirkung in der Sinnenwelt habe«. Soweit die möglichst textnahe Paraphrase der Aufhebung der Antinomie der praktischen Vernunft. Was das Thema und das Problem der Antinomie ist, wird in der Literatur sehr verschieden beantwortet. Läßt sich der Darstellung der »Aufhebung« besser entnehmen, welchen Sachverhalt Kant vor Augen gehabt hat? Auf welches Problem können seine Argumente eine Antwort sein? Und worin besteht sie genau? C. Stange sah in der Aufhebung einen Beleg dafür, daß Kant die Antinomie mit der Disjunktion »Es muß also entweder die Begierde nach Glückseligkeit die Bewegursache zu Maximen der Tugend, oder die Maxime der Tugend muß die wirkende Ursache der Glückseligkeit sein« identifiziere (und damit das Sachproblem verfehle) 2 . In der Tat scheint Kant eine solche Gleichsetzung im Sinn zu haben, wenn er sich der »vorliegenden Antinomie« zuwendet, indem er die »zwei Sätze« der Disjunktion auf ihre Wahrheitsmöglichkeit hin untersucht und so den Eindruck erweckt, als handle es sich um Thesis und Antithesis der Antinomie. Diese Unterstellung führt aber gleich in eine Sackgasse, weil die beiden Sätze der Disjunktion in keine Parallele zur Freiheitsantinomie zu bringen sind, wie Kant sie für die Antinomie der praktischen Vernunft behauptet: Die Freiheitsantinomie, die zur dynamischen Klasse der Antinomien gehört, löst Kant auf, indem er zu zeigen beansprucht, daß beide Sätze wahr sein können 3 ; der erste Satz der Disjunktion bleibt aber »schlechterdings falsch«, nur der zweite ist möglicherweise wahr. M. Albrecht zog deshalb aus Kants Auflösimg der Antinomie einen ganz anderen Schluß: Wenn Kant die Antinomie der praktischen Vernunft mit der Freiheitsantinomie in Parallele setze und sie allein mit der Unterscheidung von Noumena und Phainomena aufheben wolle, »dann ist das wohl nur so zu erklären, daß Kant hier in der Tat als "Antinomie der praktischen Vernunft" einen Gegensatz zwischen der Antithesis [= zweiter Satz der Disjunktion] und einem Satz meint, der ganz ähnlich der Antithesis der dritten Antinomie in der Kritik der rei2
3
C. Stange, Einleitung in die Ethik, I. Bd., S. 111; vgl. ders., Die Ethik Kants, S. 105. Vgl. auch oben S. 61. KpVA205 f. Vgl. KrVA528 ff./B 556 ff.; Prolegomena, AAIV, S. 343 (§ 53).
Kants Lösung(en) des Problems
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nett Vernunft zu formulieren wäre« und die Möglichkeit der Freiheit überhaupt in Frage stellt4. Sachlich hätte auch das empiristische Argument gegen die Möglichkeit des höchsten Gutes »der Antithesis [= zweiter Satz der Disjunktion] zum "Gegen-Satz" dienen können«. Kant habe aber zunächst »nicht eine solche, sondern eine parallel der Freiheitsantinomie aufgebaute Antithetik ... im Blick, denn hierauf bezieht sich die "Aufhebung" mit ihrem ersten Zugriff«5. Damit verfehle er aber das Thema der Antinomie der praktischen Vernunft, die Möglichkeit der Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit; »ein offenkundiges Streben nach "Architektonik"« habe sich hier »auf unfruchtbare, ja sogar den Gedankengang störende Weise niedergeschlagen«. Denn die kritische Unterscheidung von Noumena und Phainomena könne das Problem nicht lösen; der imbedingte Anspruch des Moralgesetzes, der auch dem höchsten Gut zugrunde liege, setze diese Unterscheidimg nicht nur voraus, er mache sie sogar gültig. Kant könne nicht nachträglich wieder die Möglichkeit von Freiheit und Tugend in Frage stellen; sie bilde die Grundlage der Dialektik. Mit dem Zugeständnis der Unterscheidung von Noumena und Phainomena sei daher »die Verbindung zwischen Tugend und Glückseligkeit noch nicht gesichert«; sie verdeutliche vielmehr noch einmal das Problem, »zwei Begriffe verbinden zu wollen, von denen der eine von seinen Folgen in der Welt der Erscheinungen gar nicht abhängt, während der andere von der Naturkausalität bedingt ist«6. »Die Auflösung der Dialektik im Begriff des höchsten Gutes« sei »eine Aufgabe der reinen praktischen Vernunft«, nicht der theoretischen7; erst das Postulat eines intelligiblen Urhebers der Natur, das für Kant nur in einem weiteren Sinne zur Auflösung zu gehören scheine und worauf er nur beiläufig in einem Klammerzusatz verweise, gebe eine Antwort auf diese Frage8. Albrecht teilt diese Ansicht mit den meisten In4
5 6 7 8
M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 109 f. - Es ist nicht klar, wie auf die von Albrecht angegebene Weise eine Antinomie zustande kommt, da jener Satz, »der ganz ähnlich der Antithesis der dritten Antinomie in der Kritik der reinen Vernunft zu formulieren wäre«, ja nicht die empiristische These wäre, die die Möglichkeit des höchsten Gutes bestreitet, wie sie der zweite Satz der Disjunktion formuliert; beide Sätze beziehen sich also gar nicht auf denselben Sachverhalt. M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 111. M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 187 f., vgl. 108-111,132. M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 173. M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 109,111,119-123,187 und 189.
328
7 Die »kritische« Aufhebung der Antinomie der praktischen Vernunft
terpreten 9 . Nach der Kritik an Kants Darstellung der Antinomie wird also auch seine Darstellung der Aufhebung als irreführend kritisiert. Es läßt sich aber leicht zeigen, daß sich die Antinomie allein mit der kritischen Unterscheidung von Noumena und Phainomena aufheben läßt, ganz so, wie Kant es angibt. Dazu muß man sich die genaue Problemstellung noch einmal verdeutlichen: Die Antinomie bestand in dem Widerspruch der »notwendigen Hypothesis« der praktischen Vernunft »Das höchste Gut ist möglich« und der Antithesis der theoretischen Vernunft »Das höchste Gut ist nicht möglich«. Die Antinomie ist behoben, wenn die theoretische Vernunft einräumt, daß die geforderte Verbindung von Tugend und Glückseligkeit nicht unmöglich ist. Wenn K. Fischer Antinomie und Dilemma in einem Atemzug nennt (»Wie kann diese Antinomie, dieses Dilemma gelöst werden?« 10 ), dann ist an dieser Identifizierung soviel richtig, daß die Antinomie dann aufgelöst ist, wenn man den Dilemma-Schluß auf die Unmöglichkeit des höchsten Gutes vermeiden kann. Das aber setzt voraus, daß die Disjunktion der beiden synthetischen Verknüpfungsweisen von Tugend und Glückseligkeit nicht falsch ist, wie es im Antinomiekapitel behauptet wurde. Es muß also wenigstens einer der beiden Sätze der Disjunktion wahr sein können. Es hat deshalb seine Logik, wenn Kant sich noch einmal »den zwei Sätzen« zuwendet und sie prüft; daraus kann man nicht entnehmen, daß er sie als Thesis und Antithesis der Antinomie betrachtet hat. Der erste Satz bleibt falsch (wegen des Widerspruchs zur Definition der Tugend). Anders der zweite: Die kritische Unterscheidung von Noumena und Phainomena macht nicht nur Freiheit und Tugend denkbar, sondern mit ihr ist auch die Denkmöglichkeit einer nicht-sinnlichen notwendigen Verknüpfung der Tugend als Ursache mit der Glückseligkeit als Wir9
10
Vgl. ζ. B. O. Lempp, Das Problem der Theodicee, S. 307-309; Y. Yovel, The God of Kant, S. 96 f., 101 f., I l l ; A. W.Wood, Kant's Moral Religion, S. 106; G. W. Barnes, In Defense of Kant's Doctrine of the Highest Good, S. 449; V. Gerhardt, Rezension von M. Albrecht, Kants Antinomie, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 36.4 (1982), S. 655-658, hier S. 657; H. Holz, Philosophische und theologische Antinomik, S. 72 und 74 f.; G. Krämling, Das höchste Gut als mögliche Welt, S. 279 f. und 284; G. B. Sala, Kant und die Frage nach Gott, S. 410 f.; H. Hoping, Freiheit im Widerspruch, S. 173 und 175; R. Wimmer, Kants kritische Religionsphilosophie, S. 64. Vgl. aber auch unten S. 333. K. Fischer, Geschichte der neuern Philosophie, IV. Bd., Mannheim '1860, S. 169. Vgl. oben S. 172.
Kants Lösung(en) des Problems
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kung in der Sinnenwelt gegeben. K. Fischer hat durchaus Recht, wenn er sagt, das höchste Gut sei »aus denselben Gründen« wie die Freiheit denkbar 11 . Denn der Begriff der Noumena bietet ein unbestimmtes Feld von Denkmöglichkeiten, aus dem nur das definitiv ausgeschlossen ist, was in sich widersprüchlich oder unmoralisch ist 12 . Denkmöglichkeit heißt hier auch, daß wir keinen Grund haben, die reale Möglichkeit des höchsten Gutes auszuschließen. Mit dem Einräumen aber einer allgemeinen, in sich noch unspezifizierten Möglichkeit im Sinne der Nicht-Unmöglichkeit des höchsten Gutes ist eine hinreichende Bedingung zur Aufhebung des antinomischen Widerspruchs gegeben; denn es war diese theoretische Möglichkeit überhaupt des höchsten Gutes, die die Antithesis der Antinomie bestritt 13 . Kant hält später im Zusammenhang mit der »Antinomie des Geschmacks« ausdrücklich fest: »Es kommt bei der Auflösung einer Antinomie nur auf die Möglichkeit an, daß zwei einander dem Scheine nach widerstreitende Sätze einander in der Tat nicht widersprechen, sondern nebeneinander bestehen können, wenngleich die Erklärung der Möglichkeit ihres Begriffs unser Erkenntnisvermögen übersteigt« 14 . Wer mehr als die Möglichkeit überhaupt zur Lösung fordert, etwa das Postulat der Realität des höchsten Gutes und seiner Bedingungen, verkennt die logische Natur der Antinomie und auch die dialektische Eigenart des Mißverstandes, der der Bestreitung der Möglichkeit des höchsten Gutes zugrunde liegt15. 11 12 13
14
15
K. Fischer, Geschichte der neuem Philosophie, IV. Bd., Heidelberg 31889, S. 118. Vgl. oben S. 251 f. Daß die Antinomie aufgelöst ist, wenn die synthetische Verbindung von Tugend und Glückseligkeit »not absolutely impossible« ist, und die Auflösung derjenigen der Freiheitsantinomie entspricht, sieht auch L.W. Beck: A Commentary, S. 248 (dt. S. 230). Die Auflösung der Antinomie der praktischen Vernunft enthält also keineswegs »une nouvelle façon d'échapper au conflit de la thèse et l'antithèse«, wie V. Delbos meinte: La philosophie pratique de Kant, S. 384 f.; vgl. auch oben S. 17. KU Β 237 (§ 57). - Dies ist auch die Formel für die Auflösung der kosmologischen Antinomien (zumindest der dynamischen). Abwegig ist der Versuch P. Heintels (Die Dialektik bei Kant, S. 453 und 469 f.), dieser Bemerkung Kants einen Hinweis auf eine Sonderstellung der Dialektik der ästhetischen Urteilskraft zu entnehmen, sofern sie unaufhebbar sein und der Widerspruch bestehen bleiben soll. H. Holz (Philosophische und theologische Antinomik, S. 74 f.) sah eine »eine gewisse formale Gemeinsamkeit« bei Thomas von Aquin und Kant darin, daß die »Antinomie des natürlichen Strebens nach vollkommenem Glück oder vollkommener Sinnerfüllung der Existenz ... nur durch einen - wenn auch keineswegs willkürlichen - Machtspruch eben der Instanz, welche die Stelle des Endziels absolut vertritt, des Absoluten oder Gottes nämlich
330
7 Die »kritische« Aufhebung der Antinomie der praktischen Vernunft
Kant denkt nur präzise, wenn er nicht mehr als nötig in Anspruch nimmt und die Lösung der Antinomie in der Minimalbedingung der Nicht-Unmöglichkeit des höchsten Gutes sieht, die mit der kritischen Unterscheidimg gegeben ist. Schon die Ankündigimg der Aufhebung im Titel als »kritische« (KpV A 205) läßt sich als Hinweis darauf verstehen 1 6 . Es ist »nicht unmöglich«, daß die Sittlichkeit der Gesinnung einen notwendigen Zusammenhang mit der Glückseligkeit hat 17 ; »eine natürliche und notwendige Verbindung zwischen dem Bewußtsein der Sittlichkeit und der Erwartimg einer ihr proportionierten Glückseligkeit als Folge derselben [läßt sich] wenigstens als möglich denken (darum aber freilich noch eben nicht erkennen und einsehen)«18. Kant macht hier auch deutlich, daß das Zugestehen der Nicht-Unmöglichkeit in die Zuständigkeit der spekulativen (theoretischen) Vernunft fällt (und konterkariert damit seine eigenen Charakterisierungen der Antinomie als Widerspruch der reinen praktischen Vernunft mit ihr selbst): Es sind keine Gebote und »keine praktischen Gesinnungen« nötig, um die Möglichkeit des höchsten Gutes anzunehmen, sondern »spekulative Vernunft [muß] sie ohne Gesuch zugeben ...; denn daß eine dem moralischen Gesetze angemessene Würdigkeit der vernünftigen Wesen in der Welt, glücklich zu sein, mit einem dieser proportionierten Besitze dieser Glückseligkeit in Verbindung an sich unmöglich sei, kann doch niemand behaupten wollen« (KpVA 260); die Möglichkeit »überhaupt« des höchsten Gutes ist »objektiv (in der theoretischen Vernunft, die nichts dawider hat) ge-
16
17 18
(als des höchsten Gutes) gelöst werden kann«. Holz verfehlt hier gleich in doppelter Weise die Problemebene Kants: Daß nur das »Element« oder die »Instanz« Gott durch einen »Machtspruch« die Antinomie auflösen kann, bedeutet ja noch etwas anderes als die (ebenfalls nicht korrekte) These, daß wir durch das Postulieren eines intelligiblen Welturhebers die Antinomie aufheben. Holz dramatisiert und ontologisiert massiv den antinomischen Widerspruch zu einer Verfaßtheit der menschlichen Existenz, eine Tendenz, von der auch die Darstellung R. Wimmers nicht ganz frei ist (vgl. ζ. B. Kants kritische Religionsphilosophie, S. 64 und 73 f.). Verwundern muß die Behauptung M. Albrechts (Kants Antinomie, S. 113), es liege »hier eine abschließende "Aufhebung der Antinomie der praktischen Vernunft" vor, wie es die Überschrift des zweiten Abschnitts verspricht«; »abschließende Aufhebung« heißt für Albrecht: nicht bloß kritische Aufhebung wie bei den Antinomien in der ersten Kritik (ebd. S. 108,113,188 f.). Die Überschrift des zweiten Abschnitts kündigt eindeutig eine »kritische Aufhebung« an. KpVA207, Hervorhebung von mir. KpVA 214, Hervorhebung von mir.
Kants Lösung(en) des Problems
331
gründet« 19 . Dies deckt sich mit unserer Analyse, daß die dialektische Täuschung, die zum Bestreiten der Möglichkeit des höchsten Gutes führt, ganz zu Lasten eines (abgeschwächten) empiristischen Prinzips der theoretischen Vernunft geht20 und allein mit den Mitteln der Kritik dieses Vermögens aufgeklärt werden kann21. Der transzendentale Idealismus mit seiner elementaren Unterscheidimg von Noumena und Phainomena gewährleistet die Denkmöglichkeit des höchsten Gutes. Die Aufhebung der Antinomie erfordert jedenfalls keine weiteren Prinzipien, etwa der praktischen Vernunft22 oder der Urteilskraft. Wenn Kant sagt, die Deduktion der Möglichkeit müsse transzendental sein und »lediglich auf Erkenntnisgründen a priori beruhen«23, dann macht das guten Sinn, wenn damit gesagt sein soll, daß die Denkmöglichkeit der Verbindung von Tugend und Glückseligkeit aus den allgemeinen Prinzipien der Transzendentalphilosophie verständlich gemacht werden soll. Das antinomische Problem um die Möglichkeit des höchsten Gutes ist damit behoben: Die praktische Vernunft fordert die Verwirklichung des höchsten Gutes, und die theoretische Vernunft räumt ein, daß es nicht unmöglich ist. Kant kann also mit gutem Grund behaupten, daß die Antinomie der praktischen Vernunft nach demselben Prinzip und auch mit demselben Ergebnis wie die Freiheitsantinomie auflösbar ist, sofern Thesis und Antithesis wahr sein können: die Thesis, wenn man die Möglichkeit eines nicht-sinnlich vermittelten Zusammenhangs von Tugend und Glückseligkeit berücksichtigt; die Antithesis, wenn man die Möglichkeit dieses
KpVA262, eine ganz ähnliche Formulierung findet sich schon A 260. Vgl. Kap. 5.3.3: Der empiristische »Mißverstand«. 21 Vgl. oben S. 265 ff. 2 2 H. Hoping (Freiheit im Widerspruch, S. 171) meinte, die Auflösung geschehe »nicht einfach durch den transzendentalen Weltbegriff, sondern durch die mit dem "Faktum der reinen Vernunft" gegebene Unterscheidung zwischen dem intelligiblen und empirischen Dasein des Menschen«. Die für die Auflösung der Antinomie hinreichende Unterscheidung zwischen Intelligiblem und Empirischem ist aber nicht erst durch das Faktum des moralischen Gesetzes gegeben, sondern ist konstitutiv für den »transzendentalen Weltbegriff« (auch wenn erst das Faktum der reinen Vernunft dem Begriff eines freien intelligiblen Wesens Realität verschafft, vgl. KpV A 83-85). Die Ausführungen Hopings werden zudem inkonsistent, wenn er wenig später behauptet, die Antinomie werde erst durch das Postulat Gottes aufgelöst (s. unten S. 350 Anm. 97). 23 KpVA203. Vgl. dazu auch oben S. 120 f. 19
20
332
7 Die »kritische« Aufhebung der Antinomie der praktischen Vernunft
Zusammenhangs nach den Bedingungen unserer Erkenntnis in der Sinnenwelt beurteilt. Die minimalistische Bedingung der theoretischen Nicht-Unmöglichkeit dessen, was moralisch geboten ist, reicht auch aus, um in praktischer Hinsicht die Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Eine Tendenz zur Abschwächung der theoretischen Implikationen in der Lehre vom höchsten Gut läßt sich schon in der Moral Mrongovius II beobachten, in der es heißt, wir sollen uns Belohnungen (die hier noch »Bestätigungsgründe« der Wahrheit des moralischen Gesetzes sind) »wenigstens als möglich denken können«24. In späteren Schriften ist Kant noch rigoroser: Eine moralisch verbindliche Absicht bleibt Pflicht, »wenn ihre Bewirkung nur nicht demonstrativ-unmöglich ist«25. Im Zusammenhang mit der Pflicht, einen allgemeinen und fortdauernden Frieden (das höchste politische Gut) zu stiften, statuiert er: Das Handeln nach der Idee des ewigen Friedens ist Pflicht, »wenn auch nicht die mindeste theoretische Wahrscheinlichkeit da ist, daß er ausgeführt werden könne, dennoch aber seine Unmöglichkeit gleichfalls nicht demonstrirt werden kann« 2 6 . Die moralische Pflicht, nach Kräften das beständige »Fortschreiten zum Bessern« des Menschengeschlechts zu fördern, ist »immer hinreichend gegründet ..., wenn man ihr nur nicht die Unmöglichkeit entgegenstellen kann« 27 . Das gilt nicht weniger für die Pflicht, das höchste Gut zu verwirklichen: Die bloße »Denkbarkeit« des höchsten Gutes tut in moralisch-praktischer Hinsicht »der Vernunft völlig Gnüge« 28 . Daß die praktische Vernunft »Realitäten« brauche, »damit sie ihren Willensbestimmungen Zwecke setze, deren Verwirklichung gesichert sei« 29 , trifft zunehmend weniger die Position Kants, der die theoretischen Voraussetzungen für das sittliche Handeln auf ein Minimum zu reduzieren suchte. Nur definitiv unmöglich dürfen die Zwecke nicht sein; das ist etwas anderes als in dem Bewußtsein zu handeln, daß der Erfolg 24 25 26 27 28 29
Moral Mrongovius II, AA XXIX, S. 637, Hervorhebung von mir. Über den Gemeinspruch, AA Vm, S. 310. Die Metaphysik der Sitten, AA VI, S. 354. Refi. Nr. 8077 (AA XIX, S. 608). Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik, AA XX, S. 307. So E. Arnoldt, Über Kants Idee vom höchsten Gut, in: E. Arnoldt, Gesammelte Schriften, hrsg. von O. Schöndörffer, Band Π. Erste Abteilung, Berlin 1907, S. 196-228, hier S. 220, Hervorhebungen von mir.
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des sittlichen Strebens garantiert ist. Am Schluß der Elementarlehre der Vernuft (KpVA 264-266) stimmt Kant sogar ein Loblied an auf die zweckmäßige Begrenztheit unseres Erkenntnisvermögens: Erst durch die Verwehrung der Einsicht in die Möglichkeit des höchsten Gutes sei echtes moralisches Handeln aus Pflicht möglich. Einige Interpreten stimmen Kant darin zu, daß die Unterscheidung von Verstandes- und Sinnenwelt zur Aufhebung der Antinomie ausreicht, allerdings aus den falschen Gründen. Nach K. Nitzschke kommt es zur Dialektik der praktischen Vernunft, wenn man mit der Idee des höchsten Gutes auf die Sinnenwelt ausgreift und sie direkt mit dem empirischen Handeln in Verbindung bringt. Die Lösung des Problems bestehe darin, daß man die Idee des höchsten Gutes auf ihre intelligible Bedeutung beschränke; eine der Tugend proportionierte Glückseligkeit sei nicht in der Sinnenwelt möglich30. Diese Beschränkung werde im wesentlichen mittels der kritischen Unterscheidimg geleistet, die Postulate seien nur »Corollarien aus dieser Lösung«31. A. Winter hatte Albrecht vorgehalten, daß er Glückseligkeit einseitig als empirische verstehe, »die Überhöhimg des Begriffs der Glückseligkeit durch den der "Seligkeit"« nicht mehr mitvollziehe und deswegen die von Kant angebotene Aufhebung der Antinomie vorschnell abweise32. Nach diesen Deutungen reicht die kritische Unterscheidung zur Lösung des Problems aus, weil das höchste Gut allein der intelligiblen oder einer künftigen Welt angehört und in seiner Geltung auch darauf eingegrenzt werden muß. Kant selbst hatte eine anspruchsvollere Aufgabe und Lösung vor Augen: Die »schwer zu lösende Aufgabe« bestehe darin, Tugend und Glückseligkeit als zwei »äußerst ungleichartige!.] Begriffe« miteinander zu verbinden 33 ; und ausdrücklich heißt es im Zusammenhang mit der Aufreinen praktischen
30
31 32
33
K. Nitzschke, Das Antinomienproblem, S. 142 f. Ahnlich auch J. Marina (Making Sense of Kant's Highest Good, S. 333), mit Bezug auf Nitzschke; anders als Nitzschke unterscheidet sie allerdings diese Dialektik von dem Problem, das Kant selbst als »Antinomie der praktischen Vernunft« ausführt (vgl. oben S. 44). K. Nitzschke, Das Antinomienproblem, S. 140 f. A. Winter, Rezension von M. Albrecht, Kants Antinomie, in: Kant-Studien 74 (1983), S. 364-367, hier S. 366 f. Zur transzendenten Bedeutung des höchsten Gutes siehe auch unten S. 336-340. Vgl. KpVA201-203, s. auch oben S. 111 f.
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7 Die »kritische« Aufhebung der Antinomie der praktischen Vernunft
hebung der Antinomie, daß eine notwendige Verknüpfung der Tugend »als Ursache mit der Glückseligkeit als Wirkung in der Sinnenwelt« nicht unmöglich sei34. Intelligibel ist der Grund der Notwendigkeit der Verbindung der beiden ungleichartigen Begriffe; er ist nicht als möglich einzusehen »in einer Natur, die bloß Objekt der Sinne ist« (KpV A 207); »die Möglichkeit einer solchen Verbindung des Bedingten mit seiner Bedingung [gehört] gänzlich zum übersinnlichen Verhältnisse der Dinge ... und [kann] nach Gesetzen der Sinnenwelt gar nicht gegeben werden«35. Das bedeutet aber nicht notwendig, daß das höchste Gut nur in einer übersinnlichen Welt, im Jenseits einer anderen, künftigen Welt möglich ist, wie man Kant immer wieder verstanden hat36. Es kann durchaus eine verborgene Ordnimg schon dieser Welt bedeuten37, einen zweckmäßigen »Zusammenhang zwischen zwei nach so verschiedenen Gesetzen sich ereignenden Weltbegebenheiten« (sc. Tugend und Glückseligkeit), wie Kant einmal formuliert38; schließlich soll das höchste Gut »in der Welt bewirkt werden«39. Dieser Zusammenhang ist das »Übersinnliche[.] der Welt, darin wir leben (mundus noumenon)« und von der wir in praktischer Hinsicht annehmen müssen, daß sie »im Ganzen immer zum Bessern fortschreite«, heißt es in der Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik. Es ist zwar eine »unbegreifliche^] Ordnung«, die ihren Grund in der Welt als » Object an sich selbst« hat, aber doch eine Ordnimg »der Natur« im Hinblick auf »den Wandel des Menschen hier auf Erden«, der »gleichsam als ein Wandel im Himmel« dargestellt werden soll40. 34 35 36
37
38 39 40
KpVA207, Hervorhebung von mir. KpVA215, vgl. Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik, AA XX, S. 336. Ζ. Β. A. Messer, Kants Ethik, S. 88 f. G. Krämling (Das höchste Gut als mögliche Welt, S. 279) meint, die zweite Kritik enthalte eine rein »transzendente Fassimg der Idee vom höchsten Gut«. A. Schweitzer (Die Religionsphilosophie Kant's, S. 126) wirft Kant vor, daß »zwischen der Stellung und Lösung der Antinomie ein Subjektswechsel« stattfinde: Da »die geforderte Proportionalität von Tugend und Glückseligkeit "in diesem Leben" nicht erreicht« sei, gelte »die Lösung der Antinomie nur für ein intelligibles Ich, welches sich seiner nicht zugleich auch als Erscheinungswesen bewusst ist, während die Antinomie sich dem "Ich" stellt, sofern es sich seiner zugleich als intelligiblen Wesens und als Sinnenwesens bewusst« sei. Weitere Literaturnachweise bei M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 130-132 Anm. 389 und 390. So schon C. Ch. E. Schmid, Wörterbuch, S. 66, und Versuch einer Moralphilosophie, S. 372. Vgl. auch M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 128 Anm. 384. KpVA261, Hervorhebung von mir. Refi. Nr. 6173 (AA XVm, S. 478), Hervorhebung im Original. Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik, AA XX, S. 307, Hervorhebungen von mir.
Kants Lösung(en) des Problems
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M. Albrecht meinte dazu, hier scheine sich »eine schwierige Unterscheidung zwischen der erkenntnistheoretischen und der ontologischen Bedeutung des Begriffs "Totalität" [sc. des höchsten Gutes] aufzutun«41, sofern das höchste Gut ontologisch ein immanenter Endzweck in dieser Welt sei, seine Möglichkeit für unsere Erkenntnis und Erfahrung aber transzendent bleibe. Wir haben es hier aber nur mit der Steigerung eines Verhältnisses zu tun, das sich schon bei der Freiheit zeigte: Auch sie hat nach Kant ontologisch immanente Wirkungen in der Welt42, die jedoch als Freiheitswirkungen für unsere Erkenntnis transzendent bleiben. Die moralisch-teleologische Ordnung der Welt erfordert es nicht, daß die Taten einer »übersinnlichen verwirklichenden Macht« »die Naturgesetzlichkeit ... durchbrechen«, wie W. Kingeling43 (zuvor schon E. von Hartmann44) behauptete und deswegen die Antinomie unter den Bedingungen unserer Erfahrungswelt für unauflösbar hielt. Nicht ein Durchbrechen oder Aufheben der Naturgesetze, sondern eine Zweckmäßigkeit ebendieser Naturgesetze in ihrer Besonderheit ist erfordert. Eine solche Ordnimg steht nicht im Widerspruch zu den allgemeinen Konstitutionsprinzipien der Erkenntnis der Sinnenwelt, wie überhaupt Naturgesetzlichkeit und Teleologie keinen Gegensatz bilden, sondern in einem Ergänzungsverhältnis stehen: Schon die theoretische Vernunft muß ein Minimum an Regelhaftigkeit in der gegebenen Mannigfaltigkeit voraussetzen, die der Verstand nicht mehr der Natur vorschreiben kann, damit empirische Begriffe reflektierend gebildet werden können45. Das höchste Gut stellt hier nur eine Ordnung stärkerer »Mächtigkeit« dar, weil es eine Verknüpfung von heterogenen Prinzipien der theoretischen und praktischen Vernunft verlangt. Diese Verknüpfung ist möglich, aber für unsere Begriffe einer »Natur, die bloß Objekt der Sinne ist«, immer nur zufällig46; wir haben wegen der Ungleichartigkeit der Tugend- und Glückseligkeitsprinzipien keinen Begriff von der Möglichkeit eines notwendigen Zusammenhangs beider »nach Begriffen von einer Naturord41 42 43 44 45
46
M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 113 Anm. 348. S. oben S. 157 ff. So W. Kingeling, Die Antinomien in Kants drei Kritiken, S. 143 f. E.v. Hartmann, Kant als Vater des modernen Pessimismus, S. 83 und 122. Vgl. Kr VA653 f./B 681 f., KU Β XXVI ff. S. dazu K. Düsing, Die Teleologie in Kants Weltbegriff, Bonn 1968, bes. S. 56 ff. KpVA207, vgl. Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik, AA XX, S. 336.
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7 Die »kritische« Aufhebung der Antinomie der praktischen Vernunft
nung überhaupt« (KpVA 231)47. Der Grund der Möglichkeit eines notwendigen Zusammenhangs muß deshalb in einer intelligiblen Welt liegen, die unsere Einsicht übersteigt, deren allgemeine Denkmöglichkeit aber schon in der elementaren Unterscheidung von Verstandes- und Sinnenwelt enthalten ist. Ohne Zweifel ermöglicht es die Auflösimg der Antinomie der praktischen Vernunft, das höchste Gut als intelligibel fundierte teleologische Ordnung dieser Welt zu verstehen. Nach der »transzendentalen« Deduktion des höchsten Gutes aus »Erkenntnisgründen a priori« ist eine Verbindung von Tugend und Glückseligkeit schon in diesem Leben möglich, wenn auch imbegreiflich. Dies allein wird auch der Problemstellung gerecht, die die Notwendigkeit des höchsten Gutes damit begründete, daß es der Zweck des moralischen Handelns in dieser Welt ist. Darin unterscheidet sich die zweite Kritik von der ersten, in der das höchste Gut als Gegenstand der Hoffnung in einer künftigen Welt angesiedelt war48. Kant hat aber auch in der Kritik der praktischen Vernunft die Bedeutung des höchsten Gutes nicht auf die Immanenz beschränkt. Unmittelbar nach der Auflösung der Antinomie sieht er sich zu der Bemerkung veranlaßt, es müsse befremden, daß »die Philosophen alter sowohl als neuer Zeiten die Glückseligkeit mit der Tugend in ganz geziemender Proportion schon in diesem Leben (in der Sinnenwelt) haben finden oder sich ihrer bewußt zu sein haben überreden können«, da wir doch genötigt seien, »die Möglichkeit des höchsten Guts ... in der Verknüpfung mit einer intelligibelen Welt zu suchen«49. Hier wechselt er unversehens von der immanenten Bedeutung des höchsten Gutes zur transzendenten: das höchste Gut nicht als Verknüpfung von Tugend und empirisch bedingter Glückseligkeit, sondern von Heiligkeit und Seligkeit, die »nur als in einer Ewigkeit erreichbar vorgestellt« wird50. Die intelligible Welt ist 47 48 49
50
Vgl. oben S. 151 f., 165 f. Vgl. oben S. 100 f., bes. Anm. 4. KpVA207 f., Hervorhebung im Original; vgl. auch KpVA 222 f. Anm., 232 und 234; ferner Refi. Nr. 6185 (AA XVIII, S. 482) (wahrscheinlich 1784-89): die Belohnung der Tugend und die Bestrafung des Lasters können »nur in der Ewigkeit ... geschehen, d. i. im Unendlichen«; Das Ende aller Dinge (1794), AA Vin, S. 334 f.; Verkündigung des nahen Abschlusses eines Tractats zum ewigen Frieden in der Philosophie (1796), AA VIH, S. 419: die der Tugend »proportionirte Austheilung« der Glückseligkeit ist angemessen erst in einem künftigen Leben möglich. Vgl. KpVA232, vgl. 222 f. Anm.
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nicht nur Ermöglichungsgrund des höchsten Gutes in der Welt, sondern ein eigener Ort, eine andere, »künftige Welt«. Kant verschiebt damit das ursprüngliche Problem, ohne daß er dies selbst recht zu bemerken scheint, und geht über die zuvor skizzierte Problemlösung ohne nähere Begründimg oder Erläuterung hinaus. Auch in der Folge sind seine Aussagen von Brüchen und ständigem Schwanken zwischen Immanenz und Transzendenz des höchsten Gutes gekennzeichnet, die schwer auf einen Nenner zu bringen sind51. Am ehesten läßt sich das unvermittelte Hinübergleiten von der immanenten zur transzendenten Bedeutung plausibel machen, wenn man Kant die Annahme unterstellt, das höchste Gut als Endzweck unseres Handelns nehme schon in diesem Leben (auf verborgene Weise) seinen Anfang, die Vollendung sei aber erst in einer anderen Welt möglich52. Eine Ausweitimg über die Grenzen dieses Lebens hinaus verlangt nach Kant ja schon die Tugend (nicht erst ihre Verknüpfung mit der Glückseligkeit), da niemand schon in diesem Leben dem Gebot der Heiligkeit (der völligen Angemessenheit der Gesinnung an das moralische Gesetz) ganz Genüge tun könne und es daher notwendig sei, einen unendlichen Progreß zu postulieren53. Solche Erweiterungen sind natürlich möglich in dem Sinne, daß ihre Möglichkeit angesichts der kritischen Unterscheidung von Verstandes- und Sinnenwelt nicht ausgeschlossen werden kann. Fraglich bleibt aber, ob der Rekurs auf die Denkmöglichkeiten in dem unbestimmt weiten Feld der noumenalen Welt ausreichend begründet und gerechtfertigt ist; gerade weil darin alles Mögliche gedacht werden kann, ist die Berufung darauf sorgfältig zu legitimieren. Die Schlüssigkeit des Kantischen Arguments für den unendlichen sittlichen Fortschritt ist ja mit guten Gründen in Zweifel gezogen worden54. 51 52
53 54
Vgl. auch M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 127-133. Einen ähnlichen Vermittlungsversuch deutet M. Albrecht an: Kants Antinomie, S. 131 Anm. 390. Vgl. KpVA219-223,228,230 Anm. u. ö. Vgl. L.W. Beck, A Commentary, S. 265-271 (dt. S. 244-250): Das Argument macht das Erreichen der Heiligkeit zur Pflicht, nicht nur, wie billig, das Streben danach; die Vorstellung eines unendlichen Progresses setzt zeitliche Bedingungen auch für ein künftiges Leben in einer intelligiblen Welt voraus. S. auch M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 127 Anm. 383 mit weiteren Literaturhinweisen. - Neben den Standardeinwänden läßt sich ein weiterer formulieren: Nach der Religionsschrift ist der sittliche Akt des intelligiblen Charakters »eine einzige unwandelbare Entschließung«, eine »Revolution für die Denkungsart«,
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7 Die »kritische« Aufhebung der Antinomie der praktischen Vernunft
Kritisch ist auch anzumerken, daß ein Begriff des höchsten Gutes als transzendenter Einheit von Heiligkeit und Seligkeit bei Kant ein problematischer Begriff bleiben muß. Die Verbindung der beiden Momente macht zwar begrifflich kein Problem; konstitutiv für beide ist die »gänzliche Unabhängigkeit von Neigungen und Bedürfnissen«, also die »Selbstgenügsamkeit«, so daß die Heiligkeit die Seligkeit analytisch impliziert. Dafür handelt man sich aber die Frage ein, ob eine solche Idee auf Menschen überhaupt anwendbar ist. Denn von ebenjener »Selbstgenügsamkeit« sagt Kant, daß man sie »nur dem höchsten Wesen beilegen kann« (KpVA 214). Einem geschaffenen, endlichen Wesen, das in seiner Bedürftigkeit auf anderes angewiesen bleibt, bleibt die Teilhabe daran per definitionem versperrt. Wenn die Selbstgenügsamkeit dennoch ein Ziel auch für Menschen sein soll, dann können wir uns das nur denken als ein Verschmelzen und Identischwerden mit dem unendlichen göttlichen Abgrund, in dem der Mensch seine Endlichkeit und Persönlichkeit auflöst. Für Kant sind dies mystisch-schwärmerische Phantasien von »einer ewigen Ruhe« und einem »seligen Ende aller Dinge«, »mit dem ... zugleich der Verstand ausgeht und alles Denken selbst ein Ende hat«, nichts also, was »einem intellectuellen Bewohner einer Sinnenwelt geziemt« 55 . Das höchste Gut als transzendente Einheit von Heiligkeit und Seligkeit ist eine Grenzidee, nicht nur unter den Bedingungen der empirischen Welt, sondern allgemein der Endlichkeit des Menschen; sie liegt für Kant jenseits dessen, was wir erkennen, und auch
55
nicht ein Prozeß; nur in bezug auf den empirischen Charakter kann man von einer »allmähligefn] Reform«, von einem »beständigen Fortschreiten!·] vom Schlechten zum Bessern« sprechen (AA VI, S. 47 f.). Intelligibel betrachtet tut der Mensch seine Pflicht ganz oder gar nicht, hat er das Ziel erreicht oder verfehlt; ein Mehr oder Weniger, Bedingung eines Progresses, gibt es hier nicht (vgl. B. Milz, Dialektik der Vernunft in ihrem praktischen Gebrauch und Religionsphilosophie bei Kant, S. 496). Wenn Kant einen unendlichen sittlichen Progreß postuliert, dann muß er nicht nur die Zeitlichkeit in ein Jenseits prolongieren, sondern auch ein Analogon der empirisch-sinnlichen Natur des Menschen in der »künftigen Welt« annehmen, damit die Pflicht einen Stoff hat, an dem sie sich unendlich abarbeiten kann. Das Ende aller Dinge, AA V E , S. 335 f. - Für J. Marina ist der transzendente Begriff des höchsten Gutes sogar der maßgebliche Begriff (Making Sense of Kant's Highest Good, S. 331 f. und 350, vgl. oben S. 43 f.). Sie hegt aber andere Erwartungen als die von Kant genannten; für sie liegt die selige Erfüllung »in other-directedness, i. e., in universal agapic love« (ebd. S. 348 f.) - ein Beleg dafür, wie wenig bestimmt und divergent ausdeutbar die transzendenten Ideen der Heiligkeit und Seligkeit sind.
Kants Lösung(en) des Problems
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weit jenseits dessen, was wir als regulative Idee für unsere praktische Aufgabe in der Welt brauchen. Wenn Kant dennoch glaubt, die Verbindung von Tugend und Glückseligkeit in ein Jenseits verlegen zu müssen, dann muß er sich, anders als in der Argumentation für die Antinomie, auch auf empirische Erkenntnisse stützen, daß das höchste Gut in dieser Welt jedenfalls nicht vollständig möglich ist, vielleicht eine Reminiszenz früherer empirisch begründeter Skepsis56. Das aber würde bedeuten, daß Kant der Antithesis der Antinomie ein stärkeres Gewicht einräumen müßte, als dies zunächst der Fall war. Er könnte nicht mehr nur mit der prinzipiellen Differenz von Moral- und Naturbegriffen argumentieren, sondern müßte auch auf den fehlenden Zusammenhang von Tugend und Glückseligkeit im faktischen Weltenlauf verweisen (ein Erkenntnisanspruch, der freilich angesichts der Schwierigkeit, die Tugend der Menschen adäquat zu erkennen, bei Kant nicht ohne Probleme ist). Der Antithesis von der Unmöglichkeit des höchsten Gutes kam bislang ein Recht zu, sofern man die Möglichkeit nach den Bedingungen unserer Erkenntnis in der Sinnenweit beurteilte·, dies Schloß gemäß der Unterscheidung von erkenntnistheoretischer und ontologischer Bedeutung des höchsten Gutes 57 eine gleichzeitige Wahrheit der Thesis in der Sinnenwelt nicht aus. Jetzt aber müßte man sagen, daß die Antithesis wahr (und die Thesis unwahr) in der Sinnenwelt sei, in dem Sinne, in dem L. W. Beck etwas unvorsichtig behauptet hatte, die Antithesis sei und bleibe wahr in der sinnlichen Welt58: Es gibt in unserer Welt das höchste Gut nicht (jedenfalls nicht vollständig). Es könnte dann nicht mehr (oder nur einge-
56 57 58
Vgl. oben S. 152 Anni. 122 und S. 289 f. Vgl. oben S. 335. Das Schwanken Kants in der Problemstellung und -lösung hat auch Becks Deutung infiziert: Auf der einen Seite sagt er, daß nach der Kantischen Lösung der Antinomie das höchste Gut möglich ist, wenn nach den Gesetzen einer intelligiblen Welt »Glückseligkeit ausgeteilt wird ("als Wirkung in der Sinnenwelt" unter natürlichen Bedingungen)«, daß also der Ort der Belohnimg nicht eine andere Welt ist. Auf der anderen Seite soll aber die Behauptung der Unmöglichkeit des höchsten Gutes in der sinnlichen Welt wahr sein und wahr bleiben: »der Wind nimmt auf das geschorene Lamm keine Rücksicht, und der Regen fällt über Gerechten und Ungerechten«; in dieser Welt findet die ausgleichende Gerechtigkeit nicht statt (L. W. Beck, A Commentary, S. 248, dt. S. 230 und S. 300 Anm. 24). Definitiv haben ζ. B. klar K. Nitzschke und J. Mariña die Möglichkeit des höchsten Gutes in der empirischen Welt ausgeschlossen, vgl. oben S. 43 und 333.
340
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schränkt) Gegenstand des moralischen Handelns in der Welt sein. Das aber wäre eine andere Problemsituation als diejenige, die Kant mit der Antinomie anvisierte und die ihn auch später59 noch beschäftigte.
7.2 Antinomie und Postulatenlehre Unabhängig davon, ob das höchste Gut in immanenter oder transzendenter Bedeutung zu nehmen ist, läßt sich die Antinomie der praktischen Vernunft allein durch die Unterscheidimg von Noumena und Phainomena auflösen; denn mit ihrer Hilfe läßt sich die Möglichkeit der Verbindung von Tugend und Glückseligkeit denken (wenn auch noch ganz unbestimmt), die in der Antinomie bestritten wurde. Das Postulat der Existenz Gottes - nur es steht in der Kritik der praktischen Vernunft in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Problem der Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit60 - ist keine notwendige Bedingimg für die Aufhebung der Antinomie; es bildet dazu nur ein »Corollarium«. Denn es bezieht sich nicht auf das Daß der Möglichkeit, sondern auf die »Art, wie wir uns eine solche Harmonie der Naturgesetze mit denen der Freiheit denken sollen«61, nämlich als Produkt einer nach Zwecken hervorbringenden, aus Freiheit schaffenden, höchsten moralischen Intelligenz. Das Postulat geht nicht nur über das hinaus, was zur Aufhebung der Antinomie gefordert wird, sondern ist auch an Voraussetzungen gebunden, von denen die Aufhebung der Antinomie nicht abhängig ist. Die Reflexion, wie wir uns die Bedingungen der Möglichkeit des höchsten Gutes denken sollen, bleibt nämlich, wie Kant nun hervorhebt, »auf die subjektiven Bedingungen unserer Vernunft« eingeschränkt. Bloß subjektiv ist die Unmöglichkeit, eine Ordnung der Natur im Hinblick auf die Ziele der praktischen Vernunft nach bloß naturkausalen Gesetzen begreiflich zu machen, denn die Vernunft kann die (objektive, reale) Unmöglichkeit eines Zusammenhangs zwischen Tugend und Glückseligkeit »nach allgemeinen Naturgesetzen doch auch nicht beweisen, d. i. aus objektiven Gründen hinreichend dar tun«; wir können nur sagen, »unsere Vernunft 59 60 61
Vgl. oben S. 198-204. Vgl. M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 123 ff. KpVA 261, Hervorhebung im Original, vgl. A 262.
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findet es ihr unmöglich, sich einen so genau angemessenen und durchgängig zweckmäßigen Zusammenhang zwischen zwei nach so verschiedenen Gesetzen sich ereignenden Weltbegebenheiten [sc. Tugend und Glückseligkeit] nach einem bloßen Naturverlaufe begreiflich zu machen«62. In der Kritik der Urteilskraft wird der Grund für die Einschränkimg deutlicher als in der zweiten Kritik. Notwendig ist die Relativierung unserer Vernunft vor dem Hintergrund der »Idee von einem anderen möglichen Verstände als dem menschlichen«, »eines intellectus archetypus« 63 . Ein »intuitiver Verstand« ist dadurch ausgezeichnet, daß er vom »Synthetisch-Allgemeinen« einer Anschauimg des Ganzen zum Besonderen fortschreitet, das durch das Ganze determiniert ist (so wie alle Teilräume durch ihren Bezug auf das Ganze der Raumvorstellung bestimmt sind), und nicht wie wir von analytisch-allgemeinen Begriffen zum Besonderen geht, das durch die Begriffe in seiner Besonderheit noch nicht bestimmt ist64. Ein Zusammenhang, der (wie derjenige von Tugend und Glückseligkeit) für unsere diskursive Erkenntnis zufällig ist, könnte für einen solch anschauenden Verstand »nach allgemeinen Naturgesetzen« notwendig sein65. Ob ein intellectus archetypus wirklich existiert oder auch nur möglich ist, ist dabei ohne Belang; seine Idee kann durchaus problematisch bleiben; sie dient nur als Folie, um unseren Verstand »in der Dagegenhaltung« als eingeschränkt zu charakterisieren66. Wie das, was unter unseren Erkenntnisbedingungen nur einen zufälligen Zusammenhang hat, dennoch eine systematische Einheit bilden kann, verstehen wir nur nach der Art und Weise, wie wir als vernünftige Wesen Zwecke entwerfen und realisieren. Hier geht die Vorstellung oder die Idee eines Ganzen der Teile oder Momente als Absicht der Realität des Gegenstandes voran; die vorgängige Vorstellung ist der Grund 62 63 64
65
66
KpVA261 f., Hervorhebungen im Original. KU Β 345 f. und 351 f., vgl. insgesamt KU § 77. Vgl. KU Β 345-352; s. auch Refi. Nr. 6174 (AA XVffl, S. 478 f.). Vgl. dazu Κ. Düsing, Die Teleologie in Kants Weltbegriff, S. 66-74,89-99,201 f. Vgl. Refi. Nr. 6178 (AA XVm, S. 481). Dabei handelt es sich freilich um besondere »allgemeine Naturgesetze«, nicht um die allgemeinen Formen (Kategorien) der Gesetzmäßigkeit, die unser Verstand der Natur vorschreibt; sie geben in ihrer analytischen Allgemeinheit ja gerade keinen Begriff von der Möglichkeit eines notwendigen Zusammenhangs zwischen Tugend und Glückseligkeit. KU Β 350 f.; vgl. Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik, AA XX, S. 267.
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7 Die »kritische« Aufhebung der Antinomie der praktischen Vernunft
des Gegenstandes in der zweckmäßigen Einrichtung seiner Teile. In Analogie dazu denken wir uns nach Kant ζ. B. auch die Möglichkeit von Naturzwecken (Organismen), wenn wir nicht »aller Bestimmung ihrer Ursache entsagen« wollen: Die zweckmäßige Ganzheit eines Organismus verdankt sich der Vorstellung, die sich ein intelligentes Wesen macht 67 . »Nach der Beschaffenheit unseres Verstandes« kann nur »die Vorstellung eines Ganzen« »den Grund der Möglichkeit der Verknüpfung der Teile« enthalten, nicht das reale Ganze; das wäre »in der diskursiven Erkenntnisart Widerspruch«, denn das Ganze kennen wir nur als resultierende Wirkung seiner Teile68. Nach unseren diskursiven Begriffen sind nicht die Teile von einem realen Ganzen abhängig, sondern umgekehrt das reale Ganze von den Teilen. Soll dennoch ein Ganzes die Teile determinieren, so kann dies nur auf ideelle Weise geschehen, d. h. vermittelst von Vorstellungen des Ganzen. Was Kant hier zur Charakterisierung unserer Erkenntnisweise vor allem im Hinblick auf Naturzwecke sagt, ist von allgemeiner Bedeutung und läßt sich leicht auf die Problemstellung des höchsten Gutes übertragen: Die Verknüpfung der heterogenen Momente in der Totalität des Gegenstandes der reinen praktischen Vernunft können wir nur als möglich denken, wenn wir ein intelligentes Wesen (Gott) annehmen, das die nach unseren theoretischen Begriffen zufällige Verknüpfung gemäß der Idee (Vorstellung) des höchsten Gutes absichtsvoll hervorbringt. So vernünftig diese Erklärung der Möglichkeit einer systematischen Einheit in dem für unseren Verstand kontingenten Mannigfaltigen auch ist (zu anderen zu greifen, liefe auf ein willkürliches »Erdichten« von Grundkräften hinaus69), so wenig darf man nach Kant die Bedingung der »Faßlichkeit« mit derjenigen der Sache selbst verwechseln70. Wir können nicht ausschließen, daß für das, was wir »nach der besonderen Beschaffenheit unseres Verstandes« nur in der Weise von absichtlich hervorgebrachten Zwecken als möglich betrachten, »nicht ein anderer (höherer) Verstand ... auch im Mechanism der Natur, d. i. einer Kausalverbindung, zu der nicht ausschließungsweise ein Verstand als Ursache 67 68 69 70
Über den Gebrauch teleologischer Principien in der Philosophie, AA VIH, S. 181 f.; vgl. KU Β 346. KU Β 349 f., Hervorhebung im Original. Über den Gebrauch teleologischer Principien in der Philosophie, AA VHI( S. 182. Vgl. Religionsschrift, AA VI, S. 65 Anm.; Metaphysik K2, AA XXVHI.2.1, S. 787 f.
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angenommen wird, den Grund der Möglichkeit ... antreffen könne«71. Schlechthin unmöglich, wie manche glaubten, sei das, so Kant, jedenfalls nicht 72 ; für einen definitiven Ausschluß einer rein naturmechanischen Erklärimg der Naturzwecke fehlen uns die Voraussetzungen: »Wir können die Unmöglichkeit der Erzeugimg der organisierten Naturprodukte durch den bloßen Mechanismus der Natur keineswegs beweisen«, weil uns die Einsicht in den »ersten inneren Grunde« der besonderen Naturgesetze in ihrer empirischen Mannigfaltigkeit verwehrt ist. Ob wirklich den Naturzwecken »eine ganz andere Art von ursprünglicher Kausalität ..., nämlich ein architektonischer Verstand zum Grunde liege: darüber kann unsere in Ansehung des Begriffs der Kausalität, wenn er a priori spezifiziert werden soll, sehr enge eingeschränkte Vernunft schlechterdings keine Auskunft geben« (KU Β 317). Die Annahme »einer nach Zwecken handelnden (verständigen) Weltursache« ist gültig nur »für die reflektierende Urteilskraft« (KU Β 318), und von ihr ist nur ein regulativer Gebrauch möglich, kein konstitutiver, wie er für ein definitives (dogmatisches) Urteil über die Unmöglichkeit eines Gegenstandes nach bloßen Naturgesetzen erforderlich wäre; die Beachtung dieser Einschränkung macht gerade den gebotenen kritischen Umgang mit dem Begriff des Naturzwecks aus (vgl. KU Β 329-331, vgl. Β 360). Die Erklärung der Möglichkeit von Organismen durch Zwecke, die von einer Intelligenz bewirkt werden, hat daher nur subjektive Gültigkeit; sie ist auf unsere Art der Erkenntnis durch diskursiv-allgemeine Begriffe zu relativieren. Es ist derselbe generelle Vorbehalt, den Kant auch gegen die Erklärung der Möglichkeit des höchsten Gutes durch das Postulat der Existenz Gottes geltend macht: »Unsere Vernunft« findet die Möglichkeit des höchsten Gutes »nicht anders denkbar ... als unter Voraussetzung einer höchsten Intelligenz«73. In der Kritik der Urteilskraft widmet Kant der »Beschränkung der Gültigkeit des moralischen Beweises« des Daseins Gottes sogar einen eige-
71 72
73
KU Β 346, vgl. Β 350 f. Vgl. Über den Gebrauch teleologischer Principien in der Philosophie, AA VIH, S. 182. Kant nennt hier namentlich den »sei. Mendelssohn«, hätte aber auch sich selbst nennen können, vgl. unten S. 347. KpVA227, Hervorhebung von mir.
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nen Paragraphen74. Hier differenziert er zwischen der teleologischen Voraussetzung der Möglichkeit eines Endzwecks der Schöpfung, die durch die praktische Vernunft und ihr moralisches Gesetz notwendig ist (KU Β 432 f.), und der theologischen Voraussetzung eines moralischen Weltenschöpfers: »Daß nun zu dieser Schöpfung, d. i. der Existenz der Dinge gemäß einem Endzwecke, erstlich ein verständiges, aber zweitens nicht bloß (wie zu der Möglichkeit der Dinge der Natur, die wir als Zwecke zu beurteilen genötigt waren) ein verständiges, sondern ein zugleich moralisches Wesen als Welturheber, mithin ein Gott, angenommen werden müsse: ist ein zweiter Schluß, welcher so beschaffen ist, daß man sieht, er sei bloß für die Urteilskraft nach Begriffen der praktischen Vernunft, und als ein solcher für die reflektierende, nicht die bestimmende Urteilskraft gefällt«75. Wenn wir einen moralischen Weltenschöpfer postulieren, dann ist das in doppelter Weise zu relativieren: Einmal beruht die Annahme einer Intelligenz, die durch ihre Zweckvorstellung der Grund der systematischen Einheit von Teilen ist, auf einem teleologischen Schluß; seine Gültigkeit ist auf die diskursive Erkenntnis durch analytisch-allgemeine Begriffe eingeschränkt, die zu ihrer Ergänzung eine teleologische Beurteilung dessen erfordert, was als Mannigfaltiges durch ihre Begriffe nicht bestimmt ist. Zum anderen verdankt sich innerhalb der teleologischen Betrachtungsweise die Qualifizierimg der Intelligenz als moralisches Wesen ein weiteres Mal der Besonderheit unserer Erkenntnis: Für unsere Begriffe sind technischpraktische Vernunft, wie wir sie der Möglichkeit von Naturzwecken unterstellen, und moralisch-praktische Vernunft spezifisch unterschieden, so daß die eine Form der Rationalität die andere nicht impliziert. Daraus dürfen wir aber, so Kant, nicht den Schluß ziehen, daß »in der obersten Weltursache, wenn sie als Intelligenz angenommen wird, es auch so sein müsse, und eine besondere und verschiedene Art der Kausalität derselben zum Endzwecke, als bloß zu Zwecken der Natur, erforderlich
74 75
KU Β 429-438 (§88). KU Β 433. - Der erste Schluß impliziert nicht den zweiten und setzt ihn auch nicht voraus. Es ist daher falsch, daß »nur im faktisch vollzogenen Glauben, nur innerhalb der Religion, auf das höchste Gut geschlossen werden« kann, so W. Teichner, Kants Transzendentalphilosophie. Grundriß, Freiburg · München 1978, S. 134.
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sei«76. Für eine höhere Intelligenz könnten beide eine ursprüngliche Einheit bilden. Sagen können wir daher nur, »daß, nach der Beschaffenheit unseres Vernunftvermögens, wir uns die Möglichkeit einer solchen auf das moralische Gesetz und dessen Objekt bezogenen Zweckmäßigkeit, als in diesem Endzwecke ist, ohne einen Welturheber und Regierer, der zugleich moralischer Gesetzgeber ist, gar nicht begreiflich machen können« 77 . Das Gottespostulat bleibt subjektiv; es ist nicht mehr allein »a postulate of pure practical reason«78, sondern beruht zu einem entscheidenden Teil auf Prinzipien der reflektierenden Urteilskraft. Für Kant war sie ein eigenständiges menschliches Vermögen neben Vernunft und Verstand. Sie ergänzt den Mangel, daß durch unsere diskursiven Begriffe das Mannigfaltige in seiner systematischen Einheit nicht bestimmt ist 79 , und urteilt dabei nach eigenen (»heautonomen«) Prinzipien80, die nur subjektive Bedeutung im Hinblick auf die Begreiflichkeit haben, keine konstitutive für die »Sache selbst« (wie die Prinzipien des Verstandes und der bestimmenden Urteilskraft für die Erkenntnis oder der Vernunft für das Praktische). Die Antinomie ist aufgehoben, wenn der Schluß auf die (wie immer bedingte) moralische Teleologie möglich ist in dem Sinne, daß er nicht definitiv falsch ist; es ist nicht erforderlich, daß seine Gültigkeit und deren Bedingungen positiv feststehen. Das Urteil über diese Möglichkeit des höchsten Gutes »überhaupt« ist von der »Einschränkung« (KpV A 261) auf subjektive Bedingungen nicht abhängig; sie ist, wie Kant sagt, »objektiv (in der theoretischen Vernunft, die nichts dawider hat) gegründet« 81 . »Objektiv gegründet« ist allerdings irreführend und mißverständlich, denn es kann nicht die definitive reale Möglichkeit des höchsten Gutes bedeuten, die wir ebensowenig beweisen können wie seine Unmöglichkeit nach »dem Mechanism der Natur«. »Objektiv gegründet« kann nur die Nicht-Unmöglichkeit des höchsten Gutes meinen, de-
76 77 78
79 80 81
KU Β 433, vgl. Β 437. KU Β 433 f., Hervorhebung im Original.; vgl. Β 436 f. So M. Kuehn, Kant's Transcendental Deduction of God's Existence as a Postulate of Pure Practical Reason, S. 159, Hervorhebung im Original. Vgl. KU Β Β XX ff. Vgl. KU Β XXXVn f. KpVA262, Hervorhebimg von mir.
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ren Behauptung nicht wie das Gottespostulat von zusätzlichen subjektiven Bedingungen außerhalb der theoretischen Vernunft abhängt82. Wenn es um »die Art« der Möglichkeit des höchsten Gutes geht, ist also eine Alternative zum Gottespostulat denkbar, so daß uns, wie Kant ausdrücklich sagt, »eine Wahl zukommt« ( K p V A 261. ). Die Entscheidung fällt nicht mehr nach Kriterien der theoretischen Vernunft (die hier »nichts mit apodiktischer Gewißheit entscheidet«). Ausschlag gibt das moralische Interesse (KpVA 261 f.), wobei Kant unterstellt, daß es moralisch zuträglicher sei, wenn wir uns den Grund der Möglichkeit des höchsten Gutes analog zu menschlichen Begriffen und Erfahrungen als intelligenten Welturheber und moralischen Gesetzgeber vorstellen, als wenn wir es bei der ganz unbestimmten, dunklen Möglichkeit des höchsten Gutes »nach einem bloßen Naturverlaufe« ließen ( K p V A 261263). Das Gottespostulat ist also in der zweiten Kritik keineswegs mehr »die einzige Möglichkeit«, das höchste Gut als möglich zu denken, wie E. Förster meinte83. Zwischen der Auflösung der Antinomie und dem Gottespostulat, zwischen der Lehre vom höchsten Gut und der Moraltheologie zeichnen sich feine Bruchlinien ab, auf die Kant in theoretischer Hinsicht zunehmend Wert gelegt hat und die er deutlich markiert. »Das einzig Bedenkliche« am moralischen Beweis, das die Kritik der reinen Vernunft kannte, lag darin, daß er sich »auf die Voraussetzung moralischer Gesinnungen gründet« (KrVA 829/B 857). Die Einschränkun-
82
83
Viel vorsichtiger formuliert Kant, wenn er das höchste Gut und seine Bedingungen als »Dinge« apostrophiert, »die vielleicht außer unsrer Idee gar nicht existiren, vielleicht nicht seyn können (ob diese gleich sonst keinen Widerspruch enthält)« (Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik, AA XX, S. 296 f.). E. Förster, Die Wandlungen in Kants Gotteslehre, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 52.3 (1998), S. 341-362, hier S. 348. R. Langthaler möchte sogar den von Kant gewährten Spielraum einer »freien Wahl« beim Gottespostulat wieder rückgängig machen zugunsten einer Entscheidung aus »objektiven Vernunftgründen«: Die Gottesidee sei »der alleinige "zureichende Grund" des "höchsten Gutes" und der "notwendigen Verbindung" seiner Momente« (Kants Ethik als "System der Zwecke", S. 380 f., vgl. S. 292 Anm. 14). Wie er die alternative Erklärungsweise des höchsten Gutes, die der kritische Kant redlicherweise als theoretisch nicht unmöglich einräumt, definitiv ausschließen kann, sagt Langthaler nicht. Moralisch-praktische Gründe und Interessen, etwa der Rekurs auf ein »Bedürfnis in schlechterdings notwendiger Absicht« ( K p V A 258), reichen dafür prinzipiell nicht; sie bestimmen nach Kant nur unsere Wahl angesichts der bestehenden Alternative in theoretischer Hinsicht.
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gen, die Kant in der zweiten und dritten Kritik geltend macht, gehen darüber hinaus. Zwar hatte er auch vorher schon betont, daß wir zur Erklärung von Zwecken »jenes uns unbekannte Wesen nur nach der Analogie mit einer Intelligenz (ein empirischer Begriff)« gemäß »den Bedingungen unserer Vernunft« denken können und dafür keine »schlechthin objektive Gültigkeit« in Anspruch nehmen dürfen (KrVA 698/B 726). Aber wenn es um das Problem ging, ob als »Ursache aller Zweckmäßigkeit und Ordnung in der Welt« auch eine »blindwirkende, ewige Natur« ohne Verstand (»natura bruta«) denkbar sei, argumentierte er noch gegen David Hume, daß sich dies »ohne Widerspruch nicht denken« lasse 84 . Als besonders unverständlich galt es, wie vernünftige Wesen mit Verstand aus einem Grunde stammen können, der diese Qualität nicht besitzt: »Wie kann aus einem Wesen etwas hergeleitet werden, was das Urwesen selbst nicht hätte! ... Wir können uns auch gar nicht denken, wie eine Realität in der Wirkung seyn sollte, die nicht schon in der Ursache wäre; wie verständige Wesen aus einem todten Urquell, dem alles Erkenntnißvermögen mangelte, sollten hergeflossen seyn«. Das sei zwar nicht »apodiktisch gewiß« unmöglich; aber wir hätten doch »ein weit größeres Recht, in dem Urwesen eine Realität des Erkenntnißvermögens selbst anzunehmen«, wenn auch »von einer ganz andern Art« als das unsere85. In diesem Punkt macht Kant später stärker Konzessionen an Hume. Auch zuvor hatte er Wert darauf gelegt, daß das ens realissimum nicht als Inbegriff oder Aggregat verstanden werden dürfe, aus dem die abgeleiteten Wesen durch Einschränkimg hervorgehen, sondern als ihr Grund aufgefaßt werden müsse (KrV A 579/B 607). Aber er nutzt nun stärker als zuvor diese Bestimmung, um die mögliche Unähnlichkeit zwischen dem Urwesen und den abgeleiteten Wesen hervorzuheben. In der Wirkung kann durchaus eine Realität sein, die nicht im Grund ist: »Gott kann realissimum als Grund sein und kann Grund von der Vernunft der Weltwesen sein, ohne selbst Vernunft zu haben«86; »denn die Ursa-
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Religionslehre Pölitz, AA XXVm.2.2, S. 1063 f. Religionslehre Pölitz, AA XXVffl.2.2, S. 1050. Metaphysik K2, AA XXVm.2.1, S. 780.
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che bedarf nicht die Qvalität der Wirkung zu haben«87. Es wachsen die Zweifel, ob bei dem Begriff eines Verstandes »von einer ganz andern Art« als der unsere noch die Analogie trägt und wir dabei überhaupt noch etwas denken: »Von einem andern Verstände, der etwa ein Anschauungsvermögen wäre, [habe ich] nicht den mindesten Begriff«; ein solcher Begriff gilt nun als »völlig sinnleer«88, ja, soviel wie ein »hölzerner Wetzstein«; denn wir kennen Verstand (und auch Willen) nur in der Gestalt, für die die Beschränkung konstitutiv ist89. Daher können wir Gott »weder Verstand noch Willen beylegen ..., ohne unsere limitation auf ihn überzutragen«90. In theoretischer Hinsicht ist es angemessener, Gott »nicht Verstand ... und Willen zu ertheilen«, sondern ihn den Grund alles dessen zu nennen, »was wir nicht anders als durch Verstand möglich denken und so auch vom Willen«91. Auch Zwecke kann ich Gott nicht »beilegen, denn dann ist er auch eingeschränkt«, er ist der »Grund der Zwecke« und »als Grund ... unerforschlich«92. Die Abwehr anthropomorphistischer Vorstellungen hat in der rationalen Theologie Vorrang vor dem Bedürfnis nach faßlichen Begriffen93. Wenn aber auch beim Gottesbegriff das Band der Analogie reißt, dann ist es für uns gleichgültig, ob wir den Urgrund Gott oder Natur nennen; denn durch den einen Begriff verstehen wir so wenig wie durch den anderen etwas von der Möglichkeit einer zweckvollen Beziehung zwischen Momenten, die für unseren Verstand zufällig sind. Die Rede vom Verstand und Willen Gottes, die ohnehin nur »symbolisch« zu nehmen
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Refi. Nr. 6263 (AA XVIII, S. 536); vgl. Refi. Nr. 6034 (AA XVIII, S. 428 f.). Dazu hatte es in der Kritik der reinen Vernunft schon einen Präzedenzfall gegeben: Auch zu unserer Sinnlichkeit und zur Erscheinungswelt ist das Urwesen der Grund, ohne daß es deren Formen (man denke insbesondere an Raum und Zeit) als eigene Bestimmungen in sich enthielte (KrVA579/B 607). Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie, AA VEDE, S. 400 Anm. Metaphysik K2, AA XXVin.2.1, S. 780 f. Refi. Nr. 6318, AA XVIII, S. 632. Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik, AA XX, S. 350 f.; vgl. Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie, AA V E , S. 400 Anm. Metaphysik K2, AA XXVffl.2.1, S. 781 f. Der Anthropomorphismus ist für Kant notorisch die Gefahr, wenn Gott als Inbegriff und nicht als Grund aller Realität bestimmt wird. Vgl. Refi. Nr. 6331 (AA XVm, S. 651: »Gott nun nicht als Inbegriff, sondern als Grund aller Realität zu betrachten, bewahrt wieder den sonst unausbleiblichen Anthropomorphism, wenn wir diesem Beyspiele unterlegen wollen«.
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ist (KU Β 257 f.), ist allein moralisch-praktisch zu rechtfertigen: Nur in dieser Rücksicht nehmen wir »eine Analogie des göttlichen Verstandes und Willens mit dem des Menschen und dessen praktischer Vernunft« an, »ungeachtet theoretisch betrachtet dazwischen gar keine Analogie Statt findet«94. Es gehört zu den zahlreichen Merkwürdigkeiten im Umfeld der Antinomie der praktischen Vernunft, daß folgende Differenziertingen und Rücksichten im Zusammenhang mit der Auflösung der Antinomie so gut wie nie beachtet werden: (1) die Unterscheidung zwischen der »Möglichkeit des höchsten Gutes überhaupt« und der »Vorstellung der Weise dieser Möglichkeit« (nämlich als Zweck) in der Kritik der praktischen Vernunft, (2) die Relativierung der Zweckvorstellung auf die reflektierende Urteilskraft mit ihrer bloß subjektiven Gültigkeit und (3) die Differenzierung des teleologischen und theologischen Schlusses in der Kritik der Urteilskraft95. Kants Einschränkungen der Gültigkeit des moralischen Gottesbeweises werden selbst in einschlägigen Untersuchungen völlig ignoriert 96 . Ohne Gott kommt es keineswegs gleich zu einem Widerspruch der Vernunft mit sich selbst, wie immer wieder behauptet
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Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie, AA VIH, S. 401 Anm. Y. Yovel legt zwar großen Wert auf die Differenzierung des teleologischen und theologischen Schlusses (The God of Kant, S. 98,101,121-123), sieht aber nicht die Bedeutung für die Auflösung der Antinomie; auch er meint, nach Kant müsse die Existenz Gottes als ein »Faktor« die Möglichkeit des höchsten Gutes garantieren (ebd. S. 96 f., 101 f. 111). J. Schmucker hält die Unterscheidung der beiden Schlüsse gar für eine der »mehr oder weniger gekünstelten Bedenklichkeiten des kritizistischen Standpunktes« (Die primären Quellen des Gottesglaubens, S. 155). D. Lenfers (Kants Weg von der Teleologie zur Theologie, S. 114-116) erörtert zwar ausführlicher die beiden Schlüsse, geht aber nicht auf die Antinomie der praktischen Vernunft ein. E. Förster (Die Wandlungen in Kants Gotteslehre) sieht nicht, daß der Verabschiedung der Postulatenlehre im Opus postumum (die bei ihm angesichts mancher unaufgelöster Spannung auch in den späteren Aussagen Kants doch etwas zu »endgültig« ausfällt, ebd. S. 362 ) bereits eine Lockerung des Zusammenhangs von höchstem Gut und Postulatenlehre in der zweiten und dritten Kritik vorangeht. So z. B. bei W. L. Sessions, Kant and Religious Belief, in: Kant-Studien 71 (1980), S. 455-468, und M. Kuehn, Kant's Transcendental Deduction of God's Existence as a Postulate of Pure Practical Reason. J. G. Fichte hatte sich noch etwas mehr bemüht. Er sagt zwar, daß allein die Religion den Widerspruch aufhebe (J. G. Fichte, Versuch einer Critik aller Offenbarung, S. 28), hatte aber zuvor alle Sätze unter die Generalklausel gestellt, daß sie notwendig seien »nach unserer subjectiven Beschaffenheit« und man »nur von einer hypothetischen, subjectiven Notwendigkeit« sprechen könne (ebd. S. 19 Anm.). Die Feinheiten der Kantischen Differenzierung sind aber auch bei ihm nicht erhalten.
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wird 9 7 . Es ist nicht der Zwang einer Notwendigkeit (bei Strafe des Widerspruchs), der das Gottespostulat an die Lehre vom höchsten Gut bindet; der moralisch Gesinnte nimmt ein »freies Interesse« an der Existenz Gottes (KpV A 262). Angesichts der Alternative und der Wahl, von der Kant im Zusammenhang mit dem Gottespostulat spricht, hat das einen genauen Sinn98. Für den späten Kant machte sogar »das Gefühl der Freiheit in der Wahl des Endzwecks« den Menschen »die Gesetzgebung liebenswürdig«99. Nachdem Kant die Moraltheologie aus der ethischen Prinzipienlehre verbannt hat, lockert er in subtiler Weise auch in der Lehre vom höchsten Gut, der Nahtstelle der Moral zur Theologie, den Zusammenhang. Das Gottespostulat ist nicht nötig, »um die Sittlichkeit ihren Gesetzen, und selbst ihrem Endzwecke nach zu begründen, denn diese wird hier vielmehr, als für sich selbst bestehend, zum Grunde gelegt« 100 ; »auch wenn man weder die Unsterblichkeit noch das Daseyn Gottes glauben könnte, würde deswegen das moralische Gesetz und der Zwek eines dem gemäßen Willens (das höchste Gut) eben so wohl ihren mächtigen Einflus auf den Willen haben« 101 . Der Vernunftglaube fügt nur einen Anhang, »ein Ergänzungsstück zur Theorie der Möglichkeit« des höchSo z.B. H. Huber, Die Gottesidee bei Immanuel Kant, S. 38: »Ohne Gott wäre das moralische Gesetz selbstwidersprüchlich, weil das Objekt, zu dem es unbedingt verpflichtet, unmöglich wäre«. H. Hoping, Freiheit im Widerspruch, S. 175: »ein Selbstwiderspruch reiner praktischer Vernunft [läßt sich] nur vermeiden ... durch das Postulat der Existenz Gottes«. R. Langthaler, Kants Ethik als "System der Zwecke", S. 304 f.: »nur in Anerkennung der Idee Gottes« kann der Mensch »ohne Selbstwiderspruch« leben. Th. Fliethmann, Vernünftig glauben, S. 200 f.: der Unglaube führt zu einem Selbstwiderspruch der Vernunft. Zu einer ähnlichen These bei R. Schaeffler s. B. Milz, Dialektik der Vernunft in ihrem praktischen Gebrauch und Religionsphilosophie bei Kant, bes. S. 487-490. 9 8 M. Kuehn (Kant's Transcendental Deduction of God's Existence as a Postulate of Pure Practical Reason) hat aber zu Recht existenzialistische und subjektivistische Überzeichnungen des Motivs des freien Interesses bei Kant kritisiert. Bei Kant bleibt kein Raum für individuelle, dezisionistische Glaubensakte als Grundlage für eine moralische oder religiöse Geltung. Wie die Wahl angesichts der Alternative, die aus Sicht der theoretischen Vernunft besteht, zu treffen ist, ist durch das Interesse der praktischen Vernunft geregelt. Die Gottesidee kann zwar nicht mehr als rational im Sinne einer universalen Vernunft begründet und verteidigt werden, aber doch im Sinne einer allgemein-menschlichen, diskursiv verfahrenden Vernunft, die durch allgemeine subjektive Prinzipien der reflektierenden Urtreilskraft ergänzt wird. Vgl. auch oben S. 178 Anm. 207. 99 Das Ende aller Dinge, AA VHI, S. 338. 100 Preisschrjft über die Fortschritte der Metaphysik, AA XX, S. 305, Hervorhebung von mir. 1 0 1 Refi. Nr. 6432 (AA XVm, S. 714), Hervorhebung von mir. 97
Antinomie und Postulatenlehre
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sten Gutes hinzu102, das in theoretischer Hinsicht auf »weicheren« subjektiven Bedingungen beruht als das Zugeständnis der Möglichkeit des höchsten Gutes überhaupt. Wie die Antinomie selbst so spiegelt also auch ihre Auflösung die veränderte Grundlegung der Ethik und die verminderte Bedeutung der Postulate wider. Während das dilemma practicum in einem starren Bogen ganz auf die conclusio abzweckte, daß die Realität des höchsten Gutes und seiner Bedingungen notwendig zu postulieren sei103, reicht es zur Auflösung der Antinomie, daß die theoretische Vernunft die Nicht-Unmöglichkeit des höchsten Gutes einräumt104. Diese elementare NichtUnmöglichkeit braucht hier nicht zur Lösung eines Problems postuliert zu werden, die »spekulative Vernunft [muß] sie ohne Gesuch zugeben« (KpV A 260); die Antinomie ist nicht unmittelbar Anlaß oder Grund für das Postulieren von irgendetwas, was nicht ohnehin einzuräumen wäre. Darin liegt ein entscheidender Unterschied zum dilemma practicum: Die Postulate waren hier notwendig, weil allein durch sie eine praktischabsurde Entscheidungssituation vermieden wurde. Zwischen der Auflösimg der Antinomie und der Moraltheologie besteht dagegen nur noch ein vermittelter Zusammenhang, der nicht nur bedeutsame Differenzierungen hinsichtlich der Möglichkeit des höchsten Gutes erlaubt, sondern sogar Raum für eine Wahl läßt. Auch da, wo Kant einfach nur von der praktischen Notwendigkeit der Postulate spricht, ohne die Vermittlung und die Wahl zu erwähnen, finden sich Hinweise auf die gelockerte Anbindung der Postulate an die Moral. In der Kritik der reinen Vernunft wurde Gott als notwendige Bedingung der Moral unter definitivem Ausschluß anderer Erklärungsmöglichkeiten »postuliert (per thesin)«; dies wurde unterschieden vom Supponieren »(per hypothesin)« beliebiger und zufälliger Bedingungen105. 102 103 104
105
Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik, AA XX, S. 298. Vgl. oben S. 303 f. und 319. Kant maß allerdings schon früher dem bloßen Umstand, daß man die Unmöglichkeit der Existenz Gottes und eines künftigen Lebens nicht beweisen kann, eine gewisse subjektive Bedeutung bei; er glaubte, ihre Nicht-Unmöglichkeit reiche schon aus, daß man beides fürchte und so der »Ausbruch der bösen [sc. Gesinnungen] mächtig« zurückgehalten werde (KrVA 830/B 858). Von solchen psychologischen Wirkungen einer Nicht-Unmöglichkeit ist im Zusammenhang mit der Antinomie der praktischen Vernunft aber nicht die Rede. JOVA633/B 661. Vgl. auch oben S. 304 Anm. 95.
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7 Die »kritische« Aufhebung der Antinomie der praktischen Vernunft
In der zweiten Kritik apostrophiert Kant dagegen die Postulate als »bloß notwendige Hypothesis« der praktischen Vernunft 106 (was nach dem Begriffsgebrauch der ersten Kritik eigentlich eine contradictio in adiecto ist) und in einer Reflexion aus den 90er Jahren gar nur »als (erlaubte) Hypothese die Zufriedenheit mit unserer Existentz und der Welt, die wir im Prospect haben, [zu] befordern«107. G. Krüger hatte sicherlich Recht, als er behauptete, Kant stehe »mit der Grundabsicht seiner Philosophie nicht am Anfang des "modernen" Denkens, sondern am Ende der alten theistischen Metaphysik«, die er über Bedürfnisse der praktischen Vernunft retten wollte108. Aber es gibt bei Kant selbst schon seit der Kritik der praktischen Vernunft deutliche gegenläufige Wendungen, die einem »modernen« Bewußtsein zuarbeiten, indem sie den Übergang von der Moral zur theistischen Metaphysik zunehmend brüchiger, subjektiver werden lassen109.
7.3 Kants »Folgerungen« aus der Auflösung der Antinomie Nur ein kleiner Teil (die ersten drei Abschnitte, KpVA 205-207) des Kapitels, das Kant mit »Kritische Aufhebung der Antinomie der praktischen Vernunft« überschrieben hat (KpVA 205-215), enthält einen Beitrag zur Auflösung der Antinomie. Daran schließen sich verschiedene Motive an, deren gemeinsamer Nenner darin besteht, falsche oder unzureichende Begriffe des Zusammenhangs von Tugend und Glückseligkeit aufzudecken und die Moral vor gröberen und feineren Mißverständnissen zu schützen. Kant gibt dies als Folgen aus seiner »Auflösung der Antinomie der praktischen reinen Vernunft« aus (KpVA 214). Was er aber zu Stoa, Epikur, zur petitio principü, zur Subreption des sittlichen Be-
106 107 108
109
KpVA22 f. Anm. Refi. Nr. 6432 (AA XVIII, S. 714). G. Krüger, Philosophie und Moral in der Kantischen Kritik, Tübingen 1931, S. 227, vgl. 5 ff., bes. 10 f. Vgl. auch D. Henrich, Der Begriff der sittlichen Einsicht, S. 106 f. Anm. 28. Für die späte Phase vgl. A. Cortina, Die Auflösung des religiösen Gottesbegriffs im Opus postumum Kants, in: Kant-Studien 75 (1984), S. 280-293; R. Wimmer, Kants kritische Religionsphilosophie, S. 221 ff.; E. Förster, Die Wandlungen in Kants Gotteslehre, S. 355 ff. (allerdings mit manchen Überzeichnungen).
Kants »Folgerungen« aus der Auflösung der Antinomie
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wußtseins und zur Selbstzufriedenheit sagt (KpVA 207-214), steht in keinem engeren Zusammenhang mit der Auflösimg der Antinomie. Daß die stoischen und epikureischen Lösungen des Zusammenhangs von Tugend und Glückseligkeit unzureichend sind, folgt nicht erst aus der Auflösimg der Antinomie; beide Positionen verfehlen schon einen adäquaten Begriff des höchsten Gutes und verkennen das Vermittlungsproblem, da sie eine analytische Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit lehren. Daß die Elemente ungleichartig sind und daher ihre Verknüpfung synthetisch sein muß, war schon konstitutiv für die Problemstellung110. Was mag Kant bewogen haben, die Bemerkungen zu den Stoikern und Epikureern an seine Aufhebung der Antinomie anzuschließen? Er hielt wohl seine Lösung des Problems für geeignet, um im Kontrast das Defizit der griechischen Weisheitslehre noch einmal besonders deutlich zu machen (und die »Lehre des Christentums« als ihr überlegen auszuzeichnen, vgl. KpVA 227 ff.): Stoiker und Epikureer haben die Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit »schon in diesem Leben (in der Sinnenwelt)« finden wollen »oder sich ihrer bewußt zu sein« überredet, wo man doch, wie die Auflösung der Antinomie zeigt, »die Möglichkeit des höchsten Guts ... in solcher Weite, nämlich in der Verknüpfimg mit einer intelligibelen Welt« suchen müsse (KpVA 207 f.). Im folgenden weist er solche Konzeptionen der Glückseligkeit, »die aus dem Bewußtsein der Tugend im Leben« entspringen soll (KpVA 208), nicht nur zurück, sondern gibt zugleich auch eine Erklärung, wie es zu den Mißverständnissen kommen konnte. Ein erster »Fehler« liegt in dem Zirkelschluß des »Rechtschaffenen«, der das Vergnügen für das Motiv der Moral hält, weil er nicht glücklich sein kann, wenn er gegen die Moral verstößt. Er übersieht, daß dieser Zusammenhang von Tugend und Glückseligkeit nicht allgemein gilt; nur der kann ohne das Bewußtsein der Rechtschaffenheit nicht glücklich sein, der schon moralisch gesinnt ist 111 . Vor allem aber verkennt er, daß er schon eine Werthaftigkeit der moralischen Existenz voraussetzt, die vorgängige Bedingung seiner Glückserfahrung ist (KpVA 208 f.).
110 111
JÇpVA200-203; s. oben S. 110 ff. Vgl. auch M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 119. Vgl. oben S. 157 Anm. 142.
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7 Die »kritische« Aufhebung der Antinomie der praktischen Vernunft
Der Fehler, das Vergnügen aus der Moral für ihre Triebfeder zu halten, wird nach Kant verständlich durch den Umstand, daß die Bestimmung des Willens immer auch eine »ästhetische« Wirkung hat und mit einer Lust des Wohlgefallens an der daraus entstehenden Handlung verbunden ist. Das gilt auch für die Bestimmung des Willens durch das moralische Gesetz: ihre Gefühlswirkung erscheint durch eine »optischef.] Illusion in dem Selbstbewußtsein ..., die auch der Versuchteste nicht völlig vermeiden kann«, als der Bestimmungsgrund des Willens (KpVA 209 f.). Kant nennt das den »Fehler des Erschleichens (vitium subreptionis)«, wohl deshalb, weil dadurch der Schein eines Rechts der Sinnlichkeit in der Moral entsteht. In einem epikureischen Selbstmißverständnis täuscht sich der Handelnde über seinen wahren Beweggrund; er mag zwar durchaus im Kantischen Sinne moralisch handeln (immerhin spricht Kant vom »tugendhafte[n] Epikur«, KpV A 208), aber er macht sich einen falschen (und möglicherweise auch der Moral abträglichen) Begriff der Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit. Auch wenn Kant hier von »Fehlern« spricht und sich Termini bedient, die er in der ersten Kritik zur Charakterisierung der dialektischen Täuschungen der reinen Vernunft verwendet (»Subreption«, »Illusion«) 112 , sind es offensichtlich keine Fehler, die etwas mit dem »Mißverstande« zu tun haben, der der Antinomie der praktischen Vernunft zugrunde liegt: »das Verhältnis zwischen Erscheinungen für ein Verhältnis der Dinge an sich selbst zu diesen Erscheinungen« zu halten113. Von der Subreption des moralischen Urteils hatte er schon gesprochen, noch bevor er an eine Dialektik der praktischen Vernunft dachte: »Das Vitium subreptionis generaliter ist, daß wir das Urtheil des Verstandes vor Erscheinimg halten (die reflexion vor intuition), und ist das Gefährlichste, wenn so gar Grundsätze daraus gemacht werden, dadurch der Verstand seiner rechte beraubt wird. ... Der sich ... in Ansehung der Sittlichkeit auf Gefühl beruft, benimmt dem Verstände sein Feld«114. Verfehlt ist es, die Subreption mit dem ersten Satz der Disjunktion des Antinomiekapitels (»Es muß also entweder die Begierde nach Glückselig112
113 114
Zu Subreption s. KrVA509/B 537, A 582 f./B 610 f. u. ö., zu Illusion KrVA 297 f./B 353 f., A 341/B 399, A 582/B 610. Vgl. auch M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 114. KpVA207; vgl. oben S. 244 ff. Refi. Nr. 241 (AA XV, S. 92, wahrscheinlich 1769-71).
Kants »Folgerungen« aus der Auflösung der Antinomie
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keit die Bewegursache zu Maximen der Tugend sein ...«) in einen näheren Zusammenhang zu bringen, wie dies F. Kaulbach115 und G. Deleuze 116 getan haben. Das würde nur dann Sinn machen, wenn die Argumentation dem ersten Satz der Disjunktion, durch eine »optische Illusion« verleitet, eine Berechtigung eingeräumt hätte, die zur Behebung der Antinomie zurückgenommen werden müßte. Ein solcher trügerischer Wahrheitsanspruch war aber nicht das Problem; das ergab sich vielmehr, weil beide Sätze der Disjunktion falsch zu sein schienen, nicht weil beide Sätze Anspruch auf Wahrheit erhoben. Wenn Kant einen näheren Zusammenhang der »optischen Illusion« des Selbstbewußtseins mit der Antinomie der praktischen Vernunft intendiert haben sollte (was ich anders als Albrecht nicht für sicher halte), dann kann man den Grund dafür nur in einem äußerlichen »Systemzwang«117 vermuten, der sein Ziel mit sehr oberflächlichen Anspielungen zu erreichen sucht, die sachlich nicht fundiert sind. Auch in den Ausführungen zum Thema »Selbstzufriedenheit« (KpV A 211-214), die eher auf die stoische Position gemünzt sind118, ist keine engere Beziehung zur Fragestellung und Aufhebung der Antinomie zu erkennen. Kant selbst macht klar, daß die Selbstzufriedenheit, die für sich erstrebenswert ist, nicht mit der Glückseligkeit verwechselt werden darf: Selbstzufriedenheit meint eine »Unabhängigkeit von Neigungen ... als bestimmenden ... Bewegursachen unseres Begehrens« und begleitet als »ein negatives Wohlgefallen« »das Bewußtsein der Tugend notwendig«; sie ist bestenfalls »ein Analogon der Glückseligkeit« (KpV A 211 f.). Glückseligkeit hängt dagegen »vom positiven Beitritt eines Gefühls« ab (KpVA 213 f.), dessen Verknüpfung mit der Tugend für uns zufällig ist und eben das Problem ausmacht (vgl. oben S. 111 f.). Der erkenn· und erfahrbare natürliche Zusammenhang von Tugend und Selbst-
115 116 117 118
Vgl. oben S. 32 f. Vgl. oben S. 18. M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 119. Die stoische Selbstzufriedenheit grenzt Kant von der epikureischen Zufriedenheit mit dem eigenem Zustand ab, vgl. Refi. Nr. 6632 (AA XIX, S. 120). Aber Kant attestiert auch Epikur »Genügsamkeit und Bändigung der Neigungen, sowie sie immer der strengste Moralphilosoph fordern mag« (KpVA 208), so daß das Thema nicht ausschließlich den Stoikern zugeordnet werden muß.
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7 Die »kritische« Aufhebung der Antinomie der praktischen Vernunft
Zufriedenheit ist nicht Kants Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit der Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit119. All dies liegt, wie gesagt, schon in der Problemstellung. Aber Kant nutzt seine Auflösving der Antinomie mit ihrem Ausgriff auf die intelligible Welt, um im Kontrast dazu das Falsche oder Unzulängliche anderer Begriffe des Zusammenhangs von Tugend und Glückseligkeit schärfer hervortreten zu lassen und vor eudämonistischen Mißverständnissen der Moral auch in versteckten Formen zu warnen, selbst wenn es nach der Definition des höchsten Gutes (KpVA 198 ff.) eigentlich keinen Klärungsbedarf mehr gibt. Das Resümee seiner etwas weitläufigen Ausführungen, das er im letzten Abschnitt des Aufhebungskapitels zieht (KpV A 214 f.), enthält auch kaum mehr als die elementaren Begriffsbestimmungen und -Unterscheidungen zum höchsten Gut. Wenn hier erneut die beiden Sätze der Disjunktion anklingen, dann kann man daraus auch jetzt nicht entnehmen, daß die Antinomie der praktischen Vernunft irgendwie in einem Konflikt dieser beiden Sätze bestanden hätte. Kritisch bleibt anzumerken, daß Kant den Abstand zu Stoa und Epikur größer macht, als es nach seiner Aufhebung der Antinomie notwendig wäre: Er kann zwar darauf bestehen, daß die Begriffe der Stoiker und Epikureer zu kurz greifen, es keine erkennbare natürliche Verbindung von Tugend und Glückseligkeit »nach Gesetzen der Sinnenwelt« gibt tmd die Möglichkeit des höchsten Gutes »gänzlich zum übersinnlichen Verhältnisse der Dinge gehört« ( K p V A 215). Daraus folgt aber nicht, daß das höchste Gut einer anderen Welt angehört und »in diesem Leben« nicht möglich ist. Kant selbst betrachtet das höchste Gut an anderen Stellen eher als verborgene teleologische Ordnung schon dieser Welt 120 . 119
120
Dennoch hat man Kant so verstanden; vgl. oben S. 21 f. Anm. 32; ein weiteres Beispiel nennt M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 91 Anm. 287. - Nicht zutreffend ist auch, daß Kant sich später (wieder) mit einer moralischen, von der physischen abgegrenzten Glückseligkeit im höchsten Gut begnügt habe, die im Bewußtsein des sittlichen Fortschritts liegt und vom Subjekt selbst erreichbar ist, wie E. Förster behauptet: Die Wandlungen in Kants Gotteslehre, S. 354. Die Beschränkung auf die »moralische Glückseligkeit« in der Religionsschrift (AA VI, S. 67 und 75) ist kontextbedingt, und selbst hier heißt es mit einem Bibelzitat (Matth. 6,33), daß der moralisch Gesinnte »schon von selbst« darauf vertraut, »daß ihm "das Übrige alles (was physische Glückseligkeit betrifft) zufallen werde"« (AA VI, S. 68). Vgl. oben S. 334.
8 Die Funktion einer Dialektik der praktischen Vernunft Ich habe Wert darauf gelegt zu zeigen, daß Kants Darstellung der Aufhebung der Antinomie adäquat ist: Wenn er sich allein auf die kritische Unterscheidung von Noumena und Phainomena stützt und das Postulat des Daseins Gottes nur flüchtig streift, dann verfehlt oder verschiebt er nicht das Problem, wie man ihm vorgeworfen hat, sondern nennt eine hinreichende Bedingimg zur Vermeidung des antinomischen Widerspruchs. Mit dieser Verteidigung ist Kant aber nur scheinbar geholfen. Wenn die kritische Unterscheidung zur Lösung der Antinomie tatsächlich ausreicht, dann nährt das einen fataleren Verdacht, der sich gegen das gesamte Konzept der Antinomie der praktischen Vernunft richtet. Diesem Verdacht, der schon gelegentlich zur Sprache kam, möchte ich zum Schluß nachgehen. Bisher habe ich mich vor allem bemüht, dem Problem, das Kant der Sache nach entfaltet, im Rahmen seiner Philosophie ein größtmögliches Maß an Plausibilität abzugewinnen. Nim aber soll die Zurückhaltung aufgegeben werden und die Frage, die noch zurückgedrängt war, ausdrücklich und hartnäckig gestellt werden:
8.1 Gibt es eine Antinomie der praktischen Vernunft? Die Frage meint: Ist unter Kantischen Prämissen die Antinomie der praktischen Vernunft, also der Widerspruch der Behauptungen bezüglich der Möglichkeit des höchsten Gutes, wirklich begründbar? Aus der Problemanalyse ergeben sich zwei Ansatzpunkte für eine kritische Nachfrage. (1) Ihrer Anlage nach setzt die Antinomie der praktischen Vernunft elementare transzendentalphilosophische Einsichten voraus. Es handelt sich bei ihr nicht mehr wie bei den kosmologischen Antinomien um eine »natürliche Antithetik« der Vernunft; wir befinden vins schon innerhalb des Bezirks der Kritischen Philosophie (vgl. oben S. 242 und 264). Eine solche Dialektik auf dem Terrain der Transzendentalphilosophie wäre
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8 Die Funktion einer Dialektik der praktischen Vernunft
ohne Zweifel sehr reizvoll. Hat Kant selbst aber tatsächlich eine solche Antinomie im Sinn gehabt? Das muß man klar verneinen; er wäre über die Entdeckung dieser Besonderheit seiner Antinomie der praktischen Vernunft nicht sehr erfreut gewesen. Noch 1786 jedenfalls weist er die Behauptung eines »Gelehrten« empört zurück, es finde sich »eine Dialektik in den kritischen Untersuchungen« selbst, »welche doch darauf angelegt sind, die unvermeidliche Dialektik, womit die allerwärts dogmatisch geführte reine Vernunft sich selbst verfängt und verwickelt, aufzulösen und auf immer zu vertilgen« 1 . Die Rollen waren für ihn eindeutig und einseitig verteilt: Dialektisch war allein die alte spekulative Metaphysik; die Transzendentalphilosophie verstand sich als ihre endgültige Aufklärung, die ihrerseits ganz frei von jeder Dialektik zu bleiben hatte. (2) Entscheidender noch ist folgende Frage: Wenn die Antinomie der praktischen Vernunft schon keine »natürliche« Antithetik ist: Ist sie dann wenigstens unter den speziellen Bedingungen der Kantischen Philosophie unvermeidlich, wie dies der Antinomiebegriff der ersten Kritik verlangt (vgl. KrVA 422/B 449)2? Kants Theoreme und Prämissen insbesondere im Konzept des höchsten Gutes also sämtlich zugestanden: Ist ein kontradiktorischer Widerstreit bezüglich der Möglichkeit des höchsten Gutes nicht zu umgehen? Man wird auch diese Frage in letzter Instanz verneinen müssen. Die Problemanalyse ließ bereits folgendes erkennen: Der empiristische Kurzschluß in der Behauptung der Unmöglichkeit des höchsten Gutes ist mit den Einsichten der kritischen Erkenntnistheorie kompatibel; nach dem Stand der Erörterungen in der Analytik und Dialektik der Kritik der reinen Vernunft kann er sogar eine gewisse Rationalität für sich in Anspruch nehmen (vgl. Kap. 5.3.3). Aber er folgt nicht in einem strengen Sinne, d. h. analytisch, aus den transzendentalphilosophischen Grundlagen. Mit dem Begriff der Noumena, der für die Tugend und ihre Bedingung, die Freiheit, in Anspruch genommen wird, ist schon ein weites, wenn auch unbestimmtes Feld bezeichnet, angesichts dessen generell Vorsicht bei definitiven Schlüssen auf die Unmöglichkeit eines Gegen1 2
Was heißt: Sich im Denken orientieren?, AA VIH, S. 143 f. Anm., Hervorhebungen von mir. Vgl. oben S. 7 f.; weitere Belegstellen bei M. Albrecht, Kants Antinomie, S. 12 f., bes. Anm. 4.
Gibt es eine Antinomie der praktischen Vernunft?
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standes angebracht ist. Der empiristische Mißverstand ist mit allgemeinen transzendentalphilosophischen Mitteln vermeidbar. Kant selbst bestätigt das, wenn er die Antinomie allein mit Hilfe der kritischen Unterscheidung aufhebt. Und da schon auf transzendentalphilosophischem Boden argumentiert wird, ließe sich auch anmahnen, daß Kant seinen eigenen methodischen Anforderungen nicht genügt, sofern er die Unmöglichkeit des höchsten Gutes nur indirekt beweist, Beweise auf kritischem Niveau aber »jederzeit ostensiv sein müssen« 3 . Der Antithe3
KrVA7S9/B 817, Hervorhebung im Original. - Im Opus postumum lockert Kant allerdings ausdrücklich den restriktiven Methodenkanon für einen Gegenstand, indem dort der indirekten Methode eine nicht zu ersetzende, keineswegs nur sekundäre Funktion beim Beweis der Existenz einer »alldurchdringenden und innerlich allbewegenden Materie« (des Wärmestoffs oder Äthers) zukommt (AA XXI, S. 540, vgl. 226, 543 f., 546, 548, 551 f., 574, 579,581 f., 586, 603). Daß er damit die strenge Disziplin der Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft aufweicht, zwar nicht im innersten Bezirk der Transzendentalphilosophie, aber doch im sensiblen Umfeld, muß Kant selbst beunruhigt haben. Jedenfalls betont er immer wieder, daß »die Beweisart des obigen Satzes [sc. von der Existenz des Äthers] ... etwas befremdliches an sich« habe, und sucht die Einzigartigkeit des Beweises (und Einzigartigkeit meint vor allem: den Charakter der absoluten Ausnahme) damit zu begründen, daß auch »das Object in demselben einzeln ist« (AA XXI, S. 563, Hervorhebung im Original, vgl. 574,579, 586, 603). Gegen diese Begründung ließe sich einwenden: Wenn es die Singularität des zu beweisenden Gegenstandes ist, die die Ausnahme begründet, böte sich traditionellerweise noch ein weit prominenterer Kandidat an, um indirekt bewiesen zu werden. Zur Abgrenzung von der Idee Gottes könnte Kant aber auf folgendes verweisen: Beim Äther geht es um eine Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung und Erfahrungswissenschaft, ähnlich wie bei den Anschauungs- und Denkformen, aber anders als bei ihnen um den Beweis der Existenz von etwas Realem, das sich außerhalb des Subjektes im Raum befindet, nicht nur um formale Bedingungen. - E. Förster sieht schon in Kants »Widerlegung des Idealismus« (KrVB 274 ff.) eine »Umkippung«, da auch »die Widerlegung ein indirekter oder apagogischer Beweis, eine reductio ad absurdum« sei, und bezog sich dabei besonders auf eine Stelle aus den Vorarbeiten zur Streitschrift gegen Eberhard (AA XX, S. 367): E. Förster, Kants Metaphysikbegriff: vor-kritisch, kritisch, nach-kritisch, in: D. Henrich und R.-P. Horstmann (Hrsg.), Metaphysik nach Kant? Stuttgarter HegelKongreß 1987, Stuttgart 1988, S. 123-136, hier S. 130. Die Sachlage ist hier aber etwas verwickelt, da es sich nach Kants Ansicht bei der Widerlegung des Idealismus zwar um einen Beweis der objektiven Realität der äußeren Anschauimg handelt (den »einzig möglichen«, KrVB XXXIX Anm., vgl. Refi. Nr. 5653, AA XVm, S. 308; Refi. Nr. 6312, AA XVm, S. 612), aber nicht um einen Schluß: die Vorstellung von etwas äußerlich Affizierendem, was von mir unterschieden ist, »kan nicht geschlossen, sondern muß ursprünglich seyn« (Refi. Nr. 5653, AA X V m , S. 309, vgl. 308; Refi. Nr. 6312, AA XVm, S. 613). Dies war der geschickte Zug, mit dem Kant die Kritik des Idealismus an der realistischen Position unterlief, der zu Recht darauf insistierte, daß der »Schlus aus der Vorstellung als Wirkung auf etwas äußeres als Ursache ... keine Sicherheit enthalt« (Refi. Nr. 5654, AA XVm, S. 312; vgl. KrVΒ 276, A 368). Deshalb betont Kant, daß »das Bewußtsein meines eigenen Daseins ... zugleich ein unmittelbares Bewußtsein des Daseins anderer Dinge außer mir« ist, also nicht durch einen Schluß vermittelt ist (KrVB276); »ich bin mir meiner Selbst als Weltwe-
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sis »das höchste Gut ist nicht möglich« fehlt daher im vorausgesetzten Rahmen die Notwendigkeit. Das Problem der Möglichkeit des höchsten Gutes läßt sich also auf transzendentalphilosophischer Ebene nicht mehr stringent als Antinomie der Vernunft darstellen. Ihre Möglichkeit scheitert am Bedeutungspotential der kritischen Grundunterscheidung von Noumena und Phainomena, die schon in der Problementfaltung in Anspruch genommen ist. Auf diese Weise kann man der Problemfigur der Antinomie der praktischen Vernunft relativ schnell die sachliche Legitimation entziehen, und zwar, was besonders komfortabel ist, noch vor einer Diskussion der inhaltlichen Voraussetzungen der Kantischen Lehre vom höchsten Gut. Verdankt sich also die literarische Existenz der Antinomie doch allein Kants architektonischen Ambitionen, so daß sich damit auch gleich die Frage nach der Funktion der Dialektik erledigt? Diese Reduzierung wäre aber möglicherweise kurzschlüssig. Die Dialektik der praktischen Vernunft markiert einen Angelpunkt im System Kants, und es lohnt eine genauere Betrachtung, welche besondere Wendung der Übergang dadurch erhält, daß Kant ihn in der Kritik der praktischen Vernunft mit einer Antinomie besetzt, mag sie sachlich begründet sein oder nicht. Daß das Problem der Möglichkeit des höchsten Gutes mit dem Verweis auf die Unterscheidimg von Noumena und Phainomena nicht so ohne weiteres erledigt ist, dafür liefern unsere Analysen einen Beleg. Denn die Feststellung, der Antinomie der praktischen Vernunft werde durch die kritische Differenz der Boden entzogen, steht im Widerspruch zu der früheren Einsicht, die Unterscheidung von Noumena und Phainomena löse nicht das Problem der Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit, sondern akzentuiere es im Gegenteil in aller Schärfe: Wenn im sens unmittelbar und ursprünglich bewust« (Loses Blatt Leningrad 1, abgedruckt in: R. Brandt/W. Stark (Hrsg.), Neue Autographen und Dokumente zu Kants Leben, Schriften und Vorlesungen, Hamburg 1987, S. 20). Das Eigentümliche der Widerlegung des Idealismus liegt deshalb darin, daß Kant einen Beweis, der in der Tat indirekte Elemente enthält, für ein unmittelbares Bewußtsein der äußeren Realität führt; dies unterscheidet die Widerlegung auch vom Beweis für den Äther, der im übrigen vom Beweisthema her eine gewisse Nähe hat. Über die Adäquatheit indirekter Verfahren bei der Selbstvergewisserung unmittelbaren, ursprünglichen Bewußtseins hat Kant sich allerdings nie Rechenschaft gegeben; es hätte ihn mit Fragestellungen (Stichwort: vermittelte Unmittelbarkeit) konfrontiert, die dann vor allem Hegel aufgegriffen hat.
Gibt es eine Antinomie der praktischen Vernunft?
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obersten formalen (noumenalen) Bestimmungsgrund des sittlichen Willens rigoros von den faktischen Konsequenzen abgesehen wird, ist prinzipiell nicht mehr begreiflich, wie ein notwendiger Zusammenhang des sittlichen Handelns mit einem empirischen Zustand in der Welt wie der Glückseligkeit zustande kommen kann. Die Auflösung der Schwierigkeit kann daher nicht in der bloßen Wiederholung der kritischen Unterscheidung bestehen (vgl. oben Kap. 4.3.2.4 und S. 241 f.) - eine Behauptung, die nach wie vor gut begründet ist und die auch den Kern der Kritik Albrechts an Kants Aufhebung der Antinomie ausmacht. Dagegen ließ sich nicht weniger gut argumentieren, daß sich der empiristische Mißverstand der Wirkung der Tugend in der Welt allein mit dem Verweis auf die kritische Unterscheidung vermeiden läßt: Das Absolutsetzen von Erscheinungsverhältnissen kann mit Blick auf das unbestimmt-weite Feld der Noumena von vorneherein als unzulässiger Schritt durchschaut werden, der den Beweis für die Antithesis (»das höchste Gut ist nicht möglich«) ungültig und die Behauptimg materialiter zumindest möglicherweise falsch macht (vgl. S. 250-252). Die Spannung zwischen den beiden Behauptungen zeigt also eine gewisse Hartnäckigkeit und läßt sich nicht als sachlich unerheblicher Flüchtigkeitsfehler abtun. Irgendwie hat sich die Analyse mit dem Kantischen Problem infiziert, so daß die Frage, ob es eine Antinomie der praktischen Vernunft gibt, ihrerseits zu einer Antinomie metatheoretischer Feststellungen zu führen scheint, die sich um die kritische Differenz drehen: (1) Es gibt eine Antinomie der praktischen Vernunft, weil Tugend und Glückseligkeit gerade durch ihr Verständnis als Noumenon und Phainomenon so weit voneinander geschieden werden, daß eine notwendige Verknüpfung beider unmöglich wird. (2) Es gibt keine Antinomie der praktischen Vernunft, weil sich die Unmöglichkeit der Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit mit Blick auf das Bedeutungspotential des Konzepts einer noumenalen Welt nicht beweisen läßt.
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8.2 Eine neue Funktion der Dialektik Wenn man davon ausgeht, daß wir es in beiden Fällen mit derselben kritischen Differenz zu tun haben und nicht mit homonymen Termini, dann müssen bei ihren Verwendungen jeweils andere Aspekte im Vordergrund stehen. Die Zusammenhänge erweisen sich hier wieder als etwas verwickelt, mit merkwürdigen Vorwärts- und Rückwärtsbewegungen, wie oft bei Kant, wenn er selbst keine zutreffende Auskunft mehr über das gibt, was er in seinen Ausführungen »sachlich« entwickelt, und man zu beschreiben versucht, welche Bewegungen er in dem Koordinatensystem seines eigenen Denk- und Begriffsraumes tatsächlich ausführt. Die Argumentation für eine Antinomie der praktischen Vernunft stützt sich auf die Unterscheidungsleistung der kritischen Differenz, die der Ethik Kants sehr entgegenkommt. Sittlich-praktische Vernunft heißt für Kant (negativ) Unabhängigkeit des obersten Bestimmungsgrundes des Willens von allen bestimmten Inhalten und empirischen Rücksichten und (positiv) Selbstbestimmung der Vernunft durch ihre allgemeine gesetzgebende Form für die Maximen (vgl. KpVA 58 f.). In der Anwendung auf das Praktische betont die kritische Differenz die Trennimg und Abgrenzung: Die universale Vernunftform der Maximen (ihre Tauglichkeit zu einer allgemeinen Gesetzgebung), die allein die sittliche Qualität des Willens ausmacht, wird als Noumenon bestimmt, für das die Unabhängigkeit von allem Phänomenalen konstitutiv ist. Die Allgemeinheit, die »reine«, »intelligibele« Formalität des Noumenalen bedeutet hier nicht primär einen Mangel an Bestimmtheit, sondern definiert als Universalisierbarkeit von Maximen geradezu Kants Begriff der Moralität. Um oberster Bestimmungsgrund des Willens zu sein, muß sich die »reine« Vernunftform in ihrer »noumenalen« Allgemeinheit genügen; die universale Form von Maximen ist das genuine Element, in dem sich die praktische Selbsttätigkeit der Vernunft äußert. Wenn in der allgemeinen Form ein Verweis auf anderes liegt, dann auf den (empirischen) Inhalt der Maximen (und damit auf den Bereich der Erscheinungen), sofern »alles Wollen auch einen Gegenstand, mithin eine Materie haben« muß (KpVA 60). Da aber jede Rücksicht auf solche »Materie« aus dem obersten Bestimmungsgrund ausgeschlossen ist, vergrößert die Unterscheidung von Noumena und Phainomena nur die Verlegenheit, wie die Tugend als ein Handeln aus einem »rein« formalen ober-
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sten Bestimmungsgrund notwendig bestimmte Zustände in der Welt (wie eine der Tugend proportionierte Glückseligkeit) zur Folge haben kann. Weitere Verweisungen der kritischen Differenz ergeben sich im Rahmen der Kantischen Erkenntnistheorie. Einen Willen, der allein durch die allgemeine gesetzgebende Form der Maximen bestimmt wird, kann Kant nur als ein Vermögen denken, das frei »im strengsten, d. i. transzendentalen Verstände« und »gänzlich unabhängig von dem Naturgesetz der Erscheinungen«4, damit aber kein möglicher Gegenstand unserer Erkenntnis ist. Freiheit ist eine »causa noumenon« in dem Sinne, daß sie zwar gedacht, aber ihre reale Wirkungsweise nicht bestimmt erkannt werden kann. Gedacht werden Noumena mittels der allgemeinen Formen von »Objekten überhaupt«5. Diese enthalten nur die reine Verstandesregel, die 4 5
KpVA51 f. (§ 5), vgl. A 4. Im folgenden skizziere ich Kants Argumente ohne Rücksicht auf die feinen Unterschiede zwischen der 1. und 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft, da sie für den Fortgang hier unerheblich sind. Zu den Differenzen s. D. Gotterbarn, Objectivity Without Objects. A Non-Reductionist Interpretation of the Transcendental Object, in: G. Funke (Hrsg.), Akten des 4. Internationalen Kant-Kongresses Mainz 6.-10. April 1974, Teil Π.1, Berlin · New York 1974, S. 196-203. Kants Verwendung der Begriffe »Ding an sich«, »transzendentales Objekt« und »Noumenon« ist allerdings weniger einheitlich, als Gotterbam dies anscheinend unterstellt; vgl. dazu schon H. E. Allison, Kant's Concept of the Transcendental Object, in: Kant-Studien 59 (1968), S. 165-186, bes. S. 165 f. Der Begriff »transzendentales Objekt« z. B. meint bei Kant sowohl die logische Einheitsfunktion in der Synthesis von Mannigfaltigem, die nichts »als ein Correlatum der Einheit der Apperzeption« ist (vgl. z. B. Kr VA250), als auch die »intelligible Ursache der Erscheinungen« (vgl. z. B. KrVA 494/B 522, A 277/Β 333, A 393); in der letzten Bedeutting wird er teilweise synonym mit »Ding an sich« und »Noumenon« verwendet (vgl. ζ. B. KrVA288/B 344 f., A 366). Daß die Termini so wenig fixiert sind, teils austauschbar sind, teils in mehrfacher Bedeutung verwendet werden, mag damit zusammenhängen, daß nach Kant all diesen Gegenstandsbegriffen die Kategorien als allgemeine Einheitsfunktionen des »reinen« Verstandes zugrunde liegen; denn sie sind »die einzigen Begriffe ..., die sich auf Gegenstände überhaupt beziehen« (KrVA290/B 346, vgl. Β 165, KpVA245 f.). E. Adickes (Kant und das Ding an sich, bes. S. 57 f.) unterscheidet dagegen, um die divergierenden Äußerungen Kants miteinander in Einklang zu bringen, strikt zwischen einerseits den Kategorien als synthetischen Funktionen, die »nicht einmal benutzt werden ... können, um Noumena wenigstens unbestimmt zu denken« (ebd. S. 138), weil hier die Data fehlen, und andererseits den Kategorien als a priori gegebenen Begriffen von Gegenständen und ihren Verbindungen, die auch das Denken von Dingen an sich erlauben. Adickes sieht darin »zwei ganz verschiedene!.] Bedeutungen« von Kategorien (ebd. S. 60). Für Kant sind aber auch die reinen Verstandesbegriffe von Gegenständen nichts anderes als die noch nicht spezifizierten Formen von Gegenständlichkeit, wie sie mit den logischen Synthesisformen gegeben sind (für die Kausalitätskategorie s. oben S. 233 f.). Bei der Erklärung der teilweise widersprüchlichen Aussagen Kants zum Verhältnis von Noumena und Kategorien ist
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»logische Funktion« einer Synthesis von Mannigfaltigem noch vor jedem Bezug auf eine Anschauimg6. Begriffe von »Objekten überhaupt« sind allgemein vor allem im Sinne eines Mangels an Bestimmtheit; sie sind ganz imbestimmte Begriffe von einem Etwas überhaupt (vgl. KrVΒ 307). Erkenntnis resultiert, wenn die Verstandesformen von Gegenständen auf eine Anschauung bezogen werden, die ihnen die nötige Bestimmtheit durch »Data« verschafft (vgl. KrV A 239/B 298). In den Begriffen selbst liegt keine immanente Festlegung auf die besondere Weise unserer zeitlich-räumlichen Anschauung; dies ist nur eine andere Wendung für das Kantische Theorem, daß es »zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis«, Sinnlichkeit und Verstand, gibt, deren gemeinsame »Wurzel« uns unbekannt bleibt7. Wir können auch nicht beweisen, »daß die sinnliche Anschauung die einzige mögliche Anschauung überhaupt« ist (KrVA 252, vgl. A 254/B 310), sowenig wir beweisen können, »daß noch eine andere Art der Anschauung möglich sei« (KrV A 252, vgl. A 254/B 309). Die Allgemeinheit und Unbestimmtheit der reinen Verstandesbegriffe bedeutet daher, daß sie potentiell weiterreichen als der Gebrauch, den wir von ihnen in unserer Erkenntnis machen können (vgl. KrV A 254/B 309); »wir haben einen Verstand, der sich problematisch weiter erstreckt« als das Feld der Erscheinungen8. Die primäre Funktion des Kantischen Begriffs des Noumenon ist es, diesen »Überschuß« über den empirischen Gebrauch hinaus zu bezeichnen. »Noumenon« ist zwar »bloß ein Grenzbegriff« unserer Erkenntnis (KrVA 255/B 310 f.), aber erforderlich, um eine wechselseitige Einschränkung zu denken: Der Gebrauch der Verstandesbegriffe wird auf die Bedingungen der Sinnlichkeit (auf Phainomena) eingeschränkt; der Verstand wiederum schränkt
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eher der Hinweis hilfreich, daß sich Kant erst später - vermutlich nicht vor 1786 - veranlaßt sah, die Möglichkeit des Denkens von Gegenständen überhaupt durch die logischen Funktionen herauszustellen und aufzuwerten; vgl. oben S. 233 f. Anm. 48. Adickes selbst hatte darauf hingewiesen, daß Kant dem Unterschied von Denken und Erkennen erst von der 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft an »grundlegende Bedeutung« zuschreibt (Kant und das Ding an sich, S. 52). Vgl. Kr VA239/B 298. Siehe auch oben S. 232 ff. und 247. KrV A15/B 29; vgl. Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, AA VII, S. 177; Über eine Entdekkung, AA Vm, S. 249 f. KrVA255/B 310, Hervorhebung im Original. Vgl. KrVΒ166 Anm., ferner Was heißt: Sich im Denken orientieren?, AA VIH, S. 137.
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die Sinnlichkeit ein9, indem er im Begriff des Noumenon gewissermaßen einen größeren Möglichkeitsraum aufspannt, worin die phänomenale Erfahrungswirklichkeit für den Verstand nur eine »Insel«, nicht notwendig das Ganze der Wirklichkeit oder ihrer Aspekte ist (auch wenn alles jenseits der Grenzen des festen Landes für ihn nur »leerer Raum« ist10). In der »bloß negativen Bedeutung« (KrV A 286/B 342) hat der Begriff der Noumena zugleich eine kritische Funktion, als Platzhalter »für irgendeine andere Art Anschauung, und also auch für Dinge als Objekte derselben«11, auch wenn wir von solchen Objekten weder sagen 9 10
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Vgl. KrVA256/B 312 und Refi. Nr. 6358 (AA XVm, S. 685). KrVA259 f./B 315, vgl. KrVA255/B 310, A 702/B 730; Prolegomena, AA IV, S. 356 f. (§ 57) und 360 f. (§ 59). Zur Insel-Metapher vgl. KrVA235 f./B 294 f. KrVA286/B 343, vgl. KrVA288 f./B 345: die Vorstellung des Noumenon bleibt »für uns leer, und dient zu nichts, als die Grenzen unserer sinnlichen Erkenntnis zu bezeichnen, und einen Raum übrig zu lassen, den wir weder durch mögliche Erfahrung, noch durch den reinen Verstand ausfüllen können«; A 288/B 344: »weil die sinnliche Anschauung nicht auf alle Dinge ohne Unterschied geht, [bleibt] für mehr und andere Gegenstände Platz übrig«. - Vor allem Stellen wie die letzte gelten für G. Prauss (Kant und das Problem der Dinge an sich, passim) als Beleg für die fatale Neigung Kants, immer wieder unter das transzendentalphilosophische Niveau zurückzufallen, indem er hinter oder neben den Gegenständen der Erfahrung eine eigene Spezies von Gegenständen hypostasiert. Es ist hier nicht der Raum für eine ausführliche Auseinandersetzung mit Prauss' Problemdarstellung. Zu Recht wurde darauf hingewiesen, daß Prauss weniger eine Kant-Interpretation geliefert habe, »als vielmehr am Kantischen Text einen durchaus eigenen Ansatz bewähren wollte«, der der Fülle der Problemaspekte bei Kant nicht gerecht wird: C. Strube in: Zeitschrift für philosophische Forschung 30 (1976), S. 487-490, hier S. 487; ähnlich C. Pettazzi in: Rivista critica di storia della filosofia 32 (1977), S. 111-113; M. Baum und R. P. Horstmann in: Philosophische Rundschau 26 (1979), S. 86-89, bes. S. 88 f. Prauss übersieht die Bedeutung der transzendentalen Ästhetik (vgl. den Hinweis von L. Gäbe in seiner Rezension, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 60 (1978), S. 347-353, hier S. 349 f.) und der Antinomienlehre für die Einsicht des transzendentalen Idealismus, daß wir es in unserer Erkenntnis nicht mit Dingen an sich zu tun haben. Historisch wie systematisch ergiebiger ist die Darstellung von H. E. Allison, Kant's Concept of the Transcendental Object; er berücksichtigt stärker die Problemvorgaben, an die Kant anknüpft. Leider diskutiert auch er in diesem Zusammenhang nicht die Argumente aus der Antinomienlehre. Allisons Kritik (ebd. S. 184-186) setzt daher ein, ehe er der Position Kants das volle sachliche Gewicht gegeben hat. Allison wie Prauss arbeiten nicht hinreichend den normativen Gehalt des Begriffs des Dings an sich heraus. Kant denkt nämlich in diesem Konzept Kriterien von Realität, die für ihn maßgeblich bleiben; weil die Gegenstände unserer Erkenntnis diese Kriterien nicht erfüllen, sind sie insgesamt als Erscheinungen zu qualifizieren. Zu den Kriterien zählt nicht nur die Widerspruchsfreiheit; von Dingen an sich gilt auch das Prinzip: Wenn das Bedingte gegeben ist, so ist auch die Totalität der Bedingungen desselben, mithin das Unbedingte gegeben (vgl. oben S. 218), ein Satz, der, angewendet auf die Gegenstände unserer Erkenntnis, nach Kant unvermeidlich zu antinomischen Widersprüchen führt, woraus sich ein indirekter Beweis für ihren Erscheinungs-
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können, daß sie möglich noch daß sie unmöglich sind12. Dieses »problematische« Überschreiten der Erscheinungswelt (durch bloße, unbestimmte Denkmöglichkeiten) nennt Kant »eine negative Erweiterung« des Verstandes (KrVA 256/B 312): er begrenzt »die Sinnlichkeit, ohne darum sein eigenes Feld [positiv] zu erweitern« (KrVA 288/B 344). Es gibt bei Kant auch eine andere Argumentation mit stärkeren Thesen: Wenn wir die Gegenstände unserer Erfahrung als Erscheinungen bestimmen, dann müssen wir auch Dinge an sich selbst denken; »denn sonst würde der ungereimte Satz daraus folgen, daß Erscheinung ohne etwas wäre, was da erscheint«13; und vielleicht deutlicher noch: »Der Verstand also, eben dadurch daß er Erscheinungen annimmt, gesteht auch das Dasein von Dingen an sich selbst zu, und so fern können wir sagen, daß die Vorstellung solcher Wesen, die den Erscheinungen zum Grunde liegen, mithin bloßer Verstandeswesen nicht allein zulässig, sondern auch unvermeidlich sei« 14 . Kant konzediert hier also nicht nur die Charakter ergibt (s. auch S. 104 f. Anm. 9 und S. 243 Anm. 67). Realität im absoluten Sinne muß ein »Schlechthininneres« besitzen; »das erste Substratum aller äußeren Wahrnehmung«, die »substantia phaenomenon«, besteht aber aus lauter »äußeren Verhältnissen« und hat bestenfalls ein »Komparativ-Innerliches«, das für ein Ding an sich nicht ausreicht (fCrVA277/B 333 und A 284 f./B 340 f., vgl. auch KrVΒ66 f.; Einige Bemerkungen zu Ludwig Heinrich Jakob's Prüfung der Mendelssohn'sehen Morgenstunden, AA VIH, S. 153 f.; Refi. Nr. 3921, AA ΧνΠ, S. 346). Ferner muß das Zusammengesetzte der Dinge an sich aus Einfachem bestehen, das aber nicht in der Erfahrung gegeben werden kann (vgl. KrVA 274/B 330 und Über eine Entdeckung, AA VHI, S. 201, 209 f., 248). Kant hat den ontologischen Dingbegriff der Schulmetaphysik nicht außer Geltung gesetzt; ausdrücklich sagt er noch in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft (1786), die Monadologie sei »ein von Leibnizen ausgeführter, an sich richtiger platonischer Begriff von der Welt ..., so fern sie gar nicht als Gegenstand der Sinne, sondern als Ding an sich selbst betrachtet, blos ein Gegenstand des Verstandes ist, der aber doch den Erscheinungen der Sinne zum Grunde liegt« (AA IV, S. 507). Kant hat nur gezeigt, daß die Gegenstände unserer Erkenntnis einem solchen Begriff nicht genügen, und daraus die Konsequenzen gezogen; seine kritische Unterscheidung von Ding an sich und Erscheinung setzt also noch einmal die Gültigkeit einer rationalistischen Ontotogie voraus. Zu anderen Schlüssen als Kant konnte man kommen, wenn man den als Maßstab verwendeten Dingbegriff der LeibnizWolffschen Tradition in Frage stellte und insbesondere den Verhältnisbegriff aufwertete, wie dies in verschiedenen Formen nach Kant geschehen ist. 12 13 14
Vgl. KrVA286 f./B 343, s. auch A 287 f./B 343 f., A 290/B 347. KrVΒXXVI f., vgl. Β 306 f., A 249, A 251 f., A 695 f./B 723 f. Prolegomena § 32, AA IV, S. 315, vgl. S. 360 (§ 59); ferner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 451 und 459; Brief an M. Mendelssohn vom 16.8.1783, AA X, S. 346; Refi. Nr. 4958 (AA XVin, S. 41), und die späten Reflexionen Nr. 6317 (AA XVm, S. 626), Nr. 6351 (AA XVm, S. 678) und Nr. 6358 (AA XVm, S. 683): »Das Sinnliche als solches allgemein betrachtet zeigt auf ein Übersinliches hin«. Vgl. auch E. Adickes, Kant und das Ding an
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Denkmöglichkeit der Dinge an sich, sondern behauptet ihre Existenz15. Für diesen Schritt über die Erscheinungswelt hinaus liefert Kants Erkenntnistheorie allerdings keine kritische Reflexion und Begründung seiner Möglichkeit mehr; Kant hat m. W. nicht einmal ausdrücklich angegeben, wie der Zusammenhang zwischen Erscheinimg und Ding an sich und seine Notwendigkeit zu bestimmen sind: als analytische oder synthetische Verbindung. Allein ein analytischer Zusammenhang wäre aus Kantischen Prinzipien ohne Probleme zu begründen; von einer synthetischen Verknüpfung von Ding an sich und Erscheinung gäbe es dagegen im Rahmen der Kritischen Philosophie keinen allgemeinen Begriff ihrer objektiven Gültigkeit mehr16.
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sich (bes. S. 4-9), der zahlreiche weitere Stellen aus dem Kantischen Werk zusammengetragen hat. E. C. Sandberg hat (ähnlich wie schon früher H. Cohen u. a.) mit Bezug auf KrVA 249 und A 251 f. gemeint, daß Kant den Schluß von Erscheinungen auf Dinge an sich nicht behaupte, sondern ihn im Gegenteil als ein Mißverständnis darstellen wolle; nicht einmal die Möglichkeit der Noumena räume er ein: E. C. Sandberg, The Ground of the Distinction of All Objects in General into Phenomena and Noumena, in: G. Funke, M. Kleinschnieder, R. Malter, G. Müller (Hrsg.), Akten des 5. Internationalen Kant-Kongresses Mainz 4.8. April 1981, Teil 1.1: Sektionen I-Vn, Bonn 1981, S. 448-455, bes. S. 452 und 455. Die zitierten Stellen zeigen, daß Kant sich, was die Möglichkeit der Dinge an sich angeht, deutlich erklärt hat. Er besteht nur mit Nachdruck darauf, daß wir von ihnen »ganz und gar nichts Bestimmtes wissen, noch wissen können« (Prolegomena, AAIV, S. 315; s. auch Refi. Nr. 4958, AA XVIII, S. 41). Schon E. Adickes (Kant und das Ding an sich) hatte besonders Wert auf diesen Textbefund gelegt; vgl. ferner H. E. Allison, Kant's Concept of the Transcendental Object, S. 180; R. George, Transcendental Object and Thing In Itself. The Distinction und its Antecedents, in: G. Funke (Hrsg.), Akten des 4. Internationalen KantKongresses Mainz 6.-10. April 1974, Teil Π.1: Sektionen, Berlin · New York 1974, S. 186-195, hier S. 194. - Auch A. Kalter macht es sich etwas zu einfach, wenn er in Anlehnung an N. Kemp Smith den Begriff des Dings an sich im Sinne des Grundes der Erscheinungswelt als Rest eines überholten vor- oder unkritischen Realismus abtut: Kants vierter Paralogismus. Eine entwicklungsgeschichtliche Untersuchung zum Paralogismenkapitel der ersten Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft, Meisenheim am Glan 1975, bes. S. 196-204. Vgl. auch die folgende Anm. Als analytische Verbindung wäre sie nach dem Satz des Widerspruchs zu begründen, der »das allgemeine und völlig hinreichende Prinzipium aller analytischen Erkenntnis« ist (KrVA 151/B 191). G. Prauss (Kant und das Problem der Dinge an sich, S. 89-94) meint, daß Kant »mit dem Gedanken einer analytischen Begründung dieser Notwendigkeit zumindest« gespielt habe (ebd. S. 91); ein solches Verständnis sei jedoch »zum Scheitern verurteilt«, da es einen Widerspruch enthalte (ebd. S. 93). Prauss' Urteil ist jedoch stark abhängig von seiner eigenen Interpretation des Problems des Dings an sich, die wichtige Elemente der Problemstellung bei Kant außer acht läßt. - E. Adickes sah in der Voraussetzung der Existenz von Dingen an sich den Ausdruck eines »starken, realistischen Erlebens« Kants, das ursprünglicher als die »logischen Prozesse und wissenschaftlichen De-
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Wir können uns hier mit dem negativen Verweispotential der kritischen Differenz begnügen. Denn schon der Begriff des Noumenon im »negativen Verstände« (Kr y Β 307) steht einer Antinomie der praktischen Vernunft im Wege; dieser Begriff ist bereits im Spiel, wenn die Kausalitätskategorie in ihrer unschematisierten Bedeutung verwendet wird, um die notwendige Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit zu denken (vgl. oben S. 232-235). Das weite und unbestimmte Feld der Noumena erlaubt keinen sicheren, definitiven Schluß auf die Unmöglichkeit des höchsten Gutes, nur weil uns ein (positiver) Begriff der Möglichkeit einer notwendigen Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit fehlt. Wir haben keinen hinreichend bestimmten Begriff der Wirkungsweise der Freiheit, um die Gesamtheit ihrer Folgen absehen und einen regelhaften Zusammenhang mit der Glückseligkeit ausschließen zu können. Dieser negative Vorbehalt behebt zwar nicht die Schwierigkeit, wie Tugend mit Glückseligkeit verbunden sein kann; aber er verbietet es, aus der subjektiven Verlegenheit eine objektive Unmöglichkeit zu machen, wie es die Argumentation gegen die Möglichkeit des höchsten Gutes tut 17 .
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duktionen« seiner Transzendentalphilosophie und von ihnen unabhängig sei (Kant und das Ding an sich, bes. S. 14 ff.). Auch diese historisch-psychologisierende Erklärung in Diltheyscher Manier übersieht die eminente Rolle, die der rationalistische Dingbegriff der Schulmetaphysik noch in Kants Kritischer Philosophie und der Logik ihrer Argumentation spielt: Die Bestimmung unserer Erkenntnisobjekte als Erscheinungen weist nicht nur auf den maßgeblichen Ding- und Wirklichkeitsbegriff zurück, der dazu zwingt, die Gegenstände der Erfahrung nur als Erscheinungen zu betrachten (s. oben S. 219 Anm. 7 und S. 365 f. Anm. 11). In der Bestimmimg des normativen Dingbegriffs liegt es auch, daß »Dinge an sich«, die nach diesem Dingbegriff konzipiert sind, den Erscheinungen »realistisch« zugrunde gelegt werden, mit jener Selbstverständlichkeit, die Kant offensichtlich reklamiert, wenn für ihn »Erscheinung ohne etwas ..., was da erscheint«, nichts als ein »ungereimter« Ausdruck ist (KrVΒ XXVI f.). Der Übergang erfolgt nicht primär durch kausalen Rückschluß von Erscheinungen auf Dinge an sich - dies betont Adickes zu Recht (ebd. S. 35,94 u. ö.) - , sondern aufgrund semantischer Verweisungen und Implikationen der verwendeten Begriffe; sie erst legen die Beziehung zwischen den Relaten so aus, daß ihr Zusammenhang kausal gedeutet werden kann. Wir haben hier allgemeinste semantische Rahmenbedingungen, an denen sich die transzendentalphilosophische Argumentation orientiert, die aber die Kantische Philosophie selbst nicht mehr kritisch zu fundieren vermag. So formuliert zielt der Hinweis nicht nur wie bei Adickes auf eine »unkritisch« vorausgesetzte »Selbstverständlichkeit« in einem Teilbereich, sondern auf einen zentralen Nerv der Kritischen Philosophie und einer sie tragenden Unterscheidung. Auch wer Kants Prämissen nicht teilt und die kritische Differenz von Ding an sich und Erscheinungen einebnen oder modifizieren will, muß sich von Kant her zumindest die Frage gefallen lassen, ob er über ausreichende Gründe verfügt, das durch die kritische
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Wenn das so ist, wie konnten dann Kant und mit ihm seine Interpreten diese Implikation der kritischen Differenz, die eine Antinomie der praktischen Vernunft ausschließt, so leicht übersehen? Drei Umstände können dies plausibel machen; sie sind auch sachlich bedeutsam und lassen am Ende so etwas wie eine mögliche Funktion der Antinomie erkennen. (1) Zum einen ist auf die Verwendung des Begriffs des Noumenon in der Analytik der Kritik der praktischen Vernunft zu verweisen. Das Konzept der Noumena wird dort nicht nur gebraucht, um der Tugend und der Freiheit einen Ort ihrer Möglichkeit zuzuweisen, sondern es wird seinerseits inhaltlich angereichert: Das Faktum des moralischen Gesetzes verbürgt die objektive Realität zumindest eines Noumenon, der transzendentalen Freiheit18; ihr Begriff ist nicht mehr nur wie in der ersten Kritik »problematisch« im Sinne von »nicht immöglich« (KpVA 4), sondern wird als »realisiert« gedacht (KpVA 85). Vor allem aber wird der unbestimmte Begriff einer »reinen Verstandeswelt« »positiv bestimmt und [läßt] uns etwas von ihr, nämlich ein Gesetz, erkennen«19. Kant versteht also die reine praktische Vernunft in der Allgemeinheit und Formalität, wie sie im moralischen Gesetz zum Ausdruck kommt, als Konkretisierung und Entwicklung des imbestimmten Begriffs der Noumena, wie er sich in der »negativen Erweiterung« der ersten Kritik ergab. Gerade die positive Bestimmung vertieft aber die Kluft zwischen Tugend und Glückseligkeit; es ist ja der gehaltvollere Begriff der Noumena (als Tugend nach dem moralischen Gesetz), auf den sich die Argumentation für die Antinomie der praktischen Vernunft stützen kann. Sachlich ist natürlich dazu anzumerken, daß es sich hier um »bloß praktisch-anwendbare« Bestimmungen (KpVA 99) handelt, die keine Erweiterung im Sinne eines theoretisch bestimmteren Begriffs der noumenalen Wirklichkeit erlauben; Kant selbst hat dies immer wieder betont 20 .
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Differenz geschaffene »problematische« Bedeutungspotential der Begriffe wieder so zu reduzieren, daß er eine notwendige synthetische Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit definitiv ausschließen kann. Vgl. KpVA4 f. In der Kritik der Urteilskraft nennt Kant die Freiheit sogar eine »Tatsache« (res facti), die unter die »scibilia« gerechnet werden kann: KU Β 456 f. und 467 f. KpVA74, Hervorhebung im Original, vgl. Kp VA 83-87,188 f., 238,240. Vgl. ζ. B. KpVA 83-87,94 f., 97-99. In der Dialektik widmet Kant dieser Frage einen eigenen Abschnitt: KpVA 241 ff.
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Fragt man in theoretischer Perspektive nach der Möglichkeit von Freiheit und Tugend, wird man wieder auf das tinbestimmte Feld der Noumena zurückverwiesen: »Wie man sich diese Art von Kausalität [sc. die Freiheit] theoretisch und positiv vorzustellen habe, wird dadurch nicht eingesehen, sondern nur, daß eine solche sei, durch das moralische Gesetz und zu dessen Behuf postuliert« 21 ; der Begriff einer causa noumenon reicht nur dazu, das Vermögen eines freien Willens »zu bezeichnen«, nicht dazu, es »theoretisch zu kennen« (KpVA 97 f.). Theoretisch bleibt also der Begriff des Noumenon ein Inbegriff unbestimmter Möglichkeiten. (2) Mit dem ersten Umstand hängt aber ein zweiter eng zusammen. Wie immer die Lösung des Problems eines notwendigen Zusammenhangs zwischen Tugend und Glückseligkeit aussehen mag: sie ist nicht in den bisherigen positiven Bestimmungen der noumenalen Welt enthalten; die taugen gerade dazu, das Problem zu formulieren. Zu seiner Lösung muß man über den vorhandenen bestimmten Begriff hinausgehen und das unbestimmte Feld des Übersinnlichen in einer neuen und produktiven Weise ausdeuten, es mit »stärkeren« Ideen besetzen: Es geht nicht mehr nur u m die Möglichkeit von Freiheit im Sinne des spontanen Anfangens einer Kausalreihe in der Welt, sondern u m eine verborgene Ordnung, eine Zweckmäßigkeit ihrer Wirkungen in der Welt, so daß die Folgen des Handelns in einer Entsprechung zur Moralität der Maximen stehen. Kant wird später in der Kritik der Urteilskraft davon sprechen, daß es gilt, »eine unübersehbare Kluft« (KU Β XIX) zwischen zwei Begriffen des Übersinnlichen zu überbrücken: zwischen dem unbestimmten Übersinnlichen, »welches der Natur zum Grunde liegt«, und dem, »was der Freiheitsbegriff praktisch enthält« (KU Β XX). Dazu ist eine neue positive Erweiterung des Begriffs der Noumena notwendig. Natürlich werden auch durch diesen Umstand die Einwände gegen die Antinomie der praktischen Vernunft nicht entkräftet. Seit der ersten Kritik stand das Feld des Übersinnlichen für neue Auslegungen offen. Die Unbestimmtheit heißt ja, daß darin für uns alles Nicht-Sinnliche möglich ist, das keinen Widerspruch impliziert und mit dem moralischen Gesetz in Einklang steht. 21
KpVA241.
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(3) Hier greift nun ein dritter Gesichtspunkt. Die Unbestimmtheit und Unbegrenztheit des Begriffs der Noumena bedeutet in theoretischer Hinsicht zugleich die Beliebigkeit aller bestimmten Auslegungen. Es gibt keine Gewähr mehr dafür, daß sich die Begriffe »im unermeßlichen und für uns mit dicker Nacht erfüllten Räume des Übersinnlichen« 22 auf irgendeine Realität beziehen und wir nicht bloße »Hirngespinste« und »Chimären«23 in das Dunkel hineindeuten. Denken »läßt sich manches Übersinnliche ... (denn Gegenstände der Sinne füllen doch nicht das ganze Feld aller Möglichkeit aus)«. »Daß kein positives Hindernis dawider ist«, ist aber »noch nicht genug«, »sich bis zu demselben zu erweitern, viel weniger dessen Dasein anzunehmen« 24 . Gerade die kritisch aufgeklärte theoretische Vernunft, die die objektive Gültigkeit von Erkenntnis nur durch Begrenzung ihres Gebrauchs begründen kann, hat ihre eigenen Hemmungen, ohne Not die Erfahrungswirklichkeit zu überschreiten, gilt ihr doch das Reich der Noumena, dieses »unendliche Feld bloßer Möglichkeiten« 25 , als der »eigentliche[.] Sitz[.] des Scheins, wo manche Nebelbank, und manches bald wegschmelzende Eis neue Länder lügt und ... den auf Entdeckungen herumschwärmenden Seefahrer unaufhörlich mit leeren Hoffnungen täuscht« (KrV A 235 f./Β 295). In der zweiten Kritik betont Kant noch einmal das legitime Interesse der theoretischen Vernunft, daß die »Grenzen, die diese sich selbst gesetzt« hat, nicht leichtfertig aufgehoben werden, weil sie sonst befürchten muß, »allem Unsinn oder Wahnsinn der Einbildungskraft« preisgegeben zu sein (KpVA 217). In dieser Spannimg zwischen dem weiten, imbestimmten Feld von Denkmöglichkeiten einerseits und der Forderung nach rational ausgewiesenen bestimmten Begriffen andererseits könnte man die Funktion der Antinomie der praktischen Vernunft sehen: ein zwingendes Motiv in einer möglichst starken Form für eine legitime Erweiterung des Vernunftge-
brauchs abzugeben. Die Erweiterung ist grundsätzlich möglich, aber sie soll nur erfolgen, wenn es dafür einen dringenden Grund gibt und die theoretische Vernunft dazu »genötigt« ( K p V A 244) wird. Ohne Zweifel 22 23 24 25
Was heißt: Sich im Denken orientieren ?, AA \ΊΠ, S. 137. Umschreibungen Kants für das ens rationis, vgl. oben S. 183 ff. Was heißt: Sich im Denken orientieren?, AA VHI, S. 137, und KrVA 673/Β 701. Refl. Nr. 7201 (AA XIX, S. 275).
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ist die Antinomie von der Form her das Dramatischste, was man sich in einer rationalen Argumentation vorstellen kann; ihrer mobilisierenden Kraft verdankte sich zu einem entscheidenden Teil schon die Entstehung der Kritischen Philosophie. Eine Antinomie, zumal in Gestalt eines Widerspruchs der Vernunft mit sich selbst, steht für eine elementare Bedrohung von Vernünftigkeit überhaupt, und wenn es zu ihrer Vermeidung erforderlich ist, den Vernunftgebrauch zu erweitern, dann ist das allemal Rechtfertigung genug, das Land der Noumena mit neuen Ideen zu »besetzen«26. Nun reichen Kants Argumente zwar nicht für eine Antinomie der praktischen Vernunft (auch dann nicht, wenn man ihm alle Theoreme seiner Lehre vom höchsten Gut zugesteht), weil in den Voraussetzungen der Problemstellung die Mittel zu ihrer Vermeidung bereits enthalten sind. Aber es gilt unter seinen Prämissen der Umkehrschluß: Ohne die Möglichkeit, das Feld des Übersinnlichen so positiv zu erweitern, daß nicht nur Freiheit, sondern auch eine notwendige Verknüpfung zwischen Tugend und Glückseligkeit denkbar wird, würde jene Antinomie resultieren, die Kant beschreibt; deshalb ist die Erweiterung notwendig. Die Antinomie hätte dann eine Funktion im Rahmen eines Arguments, in dem man wie im praktischen Dilemma nach dem modus tollendo ponens schließen würde; man würde allerdings nicht wie dort mit der praktischen Absurdität einer Wahl zwischen Bösewicht und Narr argumentieren, sondern mit einem Widerspruch der Vernunft, und auch nicht auf die Existenz Gottes schließen, sondern allgemeiner und elementarer auf eine intelligible Welt als denkbaren Grund einer notwendigen Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit. Dies etwa könnte der rationale Kern der Antinomie der praktischen Vernunft sein; es wäre m. E. auch zugleich das Äußerste, was man an logischem Gehalt aus Kants Argumentation herauspressen kann. Die Antinomie der praktischen Vernunft unterscheidet sich ihrer sachlichen Tiefenstruktur und ihrem systematischen Ort nach erheblich von den kosmologischen Antinomien (vgl. bes. Kap. 5.3.4 und 5.3.5). Schon deshalb war zu vermuten, daß sie entgegen allem Kantischen 26
So Kants Ausdrucksweise ζ. B. KU Β XIX.
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Parallelismus de facto auch einem anderen Zweck dient als die Antinomien der ersten Kritik. Das ist jedenfalls das Ergebnis, wenn man mehr darauf achtet, was sich in der Argumentation Kants der Sache nach abzeichnet und sich weniger auf seine Auskünfte verläßt; denn Kant hat sich in den allgemeinen »metatheoretischen« Angaben zur Antinomie der praktischen Vernunft nie adäquat Rechenschaft über ihre Struktur und ihre Bedingungen gegeben, so daß ihm wichtige Implikationen und systematische Probleme verborgen geblieben sind. Der entscheidende Unterschied zu den Antinomien der spekulativen Vernunft läßt sich nun bestimmter angeben: Die kosmologischen Widersprüche demonstrierten vor allem die Notwendigkeit der Begrenzung des Vernunftgebrauchs auf Erfahrungsbedingungen; hier konnte man bestenfalls von einer »negative [n] Erweiterung« durch den Begriff des Noumenon sprechen 27 . Die Dialektik der praktischen Vernunft steht dagegen im Dienste einer positiven Erweiterung des Begriffs vom Übersinnlichen; und wenn Kant die Dialektik die »wohltätigste Verirrung« nennt, »in die die menschliche Vernunft je hat geraten können«, weil man auch noch das entdeckt, »was man nicht suchte und doch bedarf, nämlich eine Aussicht in eine höhere, unveränderliche Ordnung der Dinge, in der wir schon jetzt sind« (KpVA 193), dann kann man dies mit vollem Recht erst von der Dialektik der praktischen Vernunft sagen, und nicht schon, wie Kant dies tut28, von den Antinomien der spekulativen Vernunft. Die andere »Stoßrichtung« der Antinomie gibt auch eine zureichende Erklärung für die analysierten Besonderheiten ihrer Struktur und ihrer Voraussetzungen; diese Eigenheiten sind die Bedingungen, unter denen die Antinomie ihre Funktion der Erweiterung erfüllen kann. Die mit »Antinomie der praktischen Vernunft« bezeichnete Problemstellung ist Indiz einer materialen Falschheit, eines »Fehlers im Inhalte« der Antithesis (»das höchste Gut ist nicht möglich«), der - an27 28
KrVA256/B 312, vgl. oben S. 365 f. Vgl. KpVA 193 und A 196. Kants Parallelisierung verwischt den Unterschied, indem sein Resümee der Dialektik der spekulativen Vernunft zu »positiv« ausfällt. Die Wiedergabe steht schon deutlich im Sog der Dialektik der praktischen Vernunft und ihrer Funktion. Später drückt sich Kant wieder genauer aus: die Auflösung der Antinomie der spekulativen Vernunft beruhte »nur auf einem problematisch zwar denkbaren, aber seiner objektiven Realität nach für sie nicht erweislichen und bestimmbaren Begriffe« (KpVA 239).
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ders als der Fehler in den kosmologischen Antinomien - aus Grundeinsichten der Transzendentalphilosophie allein nicht eingesehen werden kann29. Aus ihren Grundsätzen läßt sich nur zeigen, daß der Beweis für die Unmöglichkeit des höchsten Gutes ungültig ist, und insofern ist gegen Kant kritisch anzumerken, daß eine Antinomie der praktischen Vernunft auf transzendentalphilosophischem Boden nicht mehr wirklich zu begründen ist. Sofern sich aber aus der Problemstellving ein Grund ergibt, die Behauptung der Unmöglichkeit des höchsten Gutes nicht nur für unbegründet, sondern auch für falsch zu halten (weil andernfalls eine Antinomie resultierte), kommen neue sachliche Entscheidungsgründe ins Spiel. Denn über die Wahrheit oder Falschheit dieser Behauptung war auf der Grundlage der Transzendentalphilosophie der ersten Kritik und der ethischen Prinzipienlehre der Analytik der zweiten Kritik nicht mehr zu entscheiden; es gibt sogar ein legitimes Interesse der kritisch aufgeklärten theoretischen Vernunft, gegen die Möglichkeit des höchsten Gutes zu argumentieren, genau so, wie Kant das im Antinomiekapitel vorführt. Die Frage nach dem höchsten Gut führt also über die Determinationsmöglichkeiten transzendentalphilosophischer Grundeinsichten hinaus; aus der Auflösung des Problems kann und muß daher mehr resultieren als nur wiederum die Bestätigung der Notwendigkeit, den Vernunftgebrauch auf Phainomena einzuschränken. Der Grund für die Erweiterung ergibt sich in der Konfrontation der theoretischen Vernunft mit der praktischen. In dieser Konstellation können systematisch weitertreibende Momente liegen, weil der Konfliktgehalt der Konfrontation der beiden Vernunftvermögen nicht schon in einer übergreifenden dialektischen Grundstruktur der Vernunft präfiguriert ist: Nur weil das Problem anders, als das Kant in seinen metatheoretischen Einlassungen insinuiert30, gerade nicht in einer allgemeinen Formel der Dialektik reiner Vernunft überhaupt vorweggenommen ist, sondern sich erst in der »Antithetik« von praktischer und theoretischer Vernunft zeigt, ist es möglich, daß zu seiner Lösimg auch mehr erforderlich ist als die bloße Wiederholung der kritischen Unterscheidung in ihrer Grundform (wie das zur Auflösung der kosmologischen An-
29 30
Vgl. oben Kap. 5.3.4 und 5.3.5. Vgl. KpVA31,193 ff.; KU Β 243 f.
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tinomien reichte). Nur so ist auf transzendentalphilosophischem Boden, der in der Dialektik der praktischen Vernunft von Anfang an betreten ist, noch eine neue, problemhaltige Fragestellung möglich, die nicht schon an früherer Stelle des Systems hinreichend abgehandelt ist. Kant verfügt auch nicht über ein vorgängiges Prinzip der Einheit oder der Beziehung der verschiedenen Vernunftvermögen, aus dem abgeleitet werden könnte, was an Einsichten aus der Konfrontation von reiner theoretischer und praktischer Vernunft resultieren wird. Die Antinomie ist es vielmehr, die die Suche nach dem »Vereinigungspunkt aller unserer Vermögen« (KU Β 239) notwendig macht. Eng verknüpft mit der inhaltlichen Erweiterving ist also der besondere systematische Stellenwert der Dialektik der praktischen Vernunft: Sie ist ein originärer Ort der Weiterentwicklung des Kantischen Systems, die über bislang explizierte Bestimmungen hinausführt. Die Antinomie fungiert als innersystematisches Movens auf der Ebene der Transzendentalphilosophie selbst, den unbestimmten Begriff der Noumena anzureichern und durch positive Bestimmungen zu erweitern. Die Antinomie motiviert den systemimmanenten Übergang von der ethischen Prinzipienlehre zu einer intelligibel fundierten moralischen Teleologie und verleiht ihm durch ihre Problemform besondere Dringlichkeit. Eine solche innersystematisch weitertreibende Funktion konnten die kosmologischen Antinomien, die ja Widersprüche der vorkritischen Metaphysik waren, nicht übernehmen. Auch die »natürliche Dialektik« in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, die Kant später wieder fallengelassen hat, kann nur sehr bedingt zum Vergleich dienen, da sie die Notwendigkeit des Übergangs »von der gemeinen sittlichen Vernunfterkenntniß zur philosophischen« begründen sollte31, nicht einen Übergang innerhalb der philosophischen Vernunfterkenntnis; immerhin kam der Dialektik auch hier eine motivierende Funktion für einen Übergang in der Darstellung zu. Die systematische Funktion der Dialektik der praktischen Vernunft macht in letzter Instanz auch deutlich, wie verfehlt die Annahme ist, die Antinomie der praktischen Vernunft mache wie die kosmologischen
31
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AAIV, S. 404 f.; vgl. auch oben S. 22 f., 276 f. und 316 f.
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Widersprüche eine »negative«, einschränkende Kritik der reinen Vernunft erforderlich (vgl. Kap. 5.4). Das Gegenteil ist der Fall: Die reine praktische Vernunft ist auch in der zweiten Kritik ganz dasjenige Vermögen, das dazu drängt und auch berechtigt, die engen Grenzen, die die aufgeklärte theoretische Vernunft zieht, zu überschreiten und das Unbestimmte zu bestimmen, wenn es ihr Gebrauch erfordert32. So also könnte man auf sehr reflektierte Weise die Antinomie der praktischen Vernunft als Ausdruck einer problemhaltigen Situation in Kants Philosophie verständlich machen: als ein Weg, gegen eine »natürliche« Tendenz und gegen ein auch aus kritischer Perspektive berechtigtes Interesse der theoretischen Vernunft geltend zu machen, daß es von elementarer Wichtigkeit für die Vernunft ist, einen Schritt in das unbekannte und ungesicherte Feld der Noumena hinaus zu tun, weil sonst ein Widerstreit innerhalb der Vernunft die Folge wäre. Struktur und Funktion der Antinomie der praktischen Vernunft lassen sich nur einigermaßen adäquat beschreiben, wenn man Kants eigene Zuordnungen als meist irreführend beiseite läßt und um so genauer textnah das charakterisiert, was er der Sache nach vorträgt. Daß das Ergebnis dieser eigenständigen Analysen dennoch nicht »unkantisch« ist, zeigt seine »Theorie« der Antinomien, die er in der Kritik der Urteilskraft entwirft 33 . In der Anmerkung II zum § 57 nennt Kant zwei Merkmale, in denen die Antinomien der theoretischen Vernunft, der ästhetischen Urteilskraft und der praktischen Vernunft übereinstimmen sollen. Das erste Merkmal, daß alle Antinomien von der »sehr natürlichen Vorausset32
Nichts spricht daher auch für die These L.W. Becks, Kant habe mit der Antinomie im Begriff des höchsten Gutes zeigen wollen, daß er in seiner Postulatenlehre keinen spekulativen Anspruch erhebe, nachdem H. A. Pistorius ihm vorgehalten hatte, er überschreite in seiner praktischen Philosophie Grenzen, die die erste Kritik der spekulativen Erkenntnis gesetzt habe: L.W. Beck, A Commentary, S. 16 (dt. S. 26 f.), vgl. oben S. 216 Anm. 4. Eine solche negative Funktion könnte die Antinomie nur haben, wenn sie irgendwie aus der Postulatenlehre resultierte und die Widersprüchlichkeit offenlegte, wenn man die Postulate spekulativ mißverstünde. Tatsächlich liegen die Verhältnisse umgekehrt: die Erweiterung - zumindest jene im Postulat der Existenz Gottes - resultiert aus der Antinomie (wobei allerdings zusätzliche Bedingungen hinzukommen, vgl. oben Kap. 7.2). Richtig ist natürlich, daß Kant mit der Postulatenlehre keine theoretisch-spekulativen Ansprüche verbindet; dies klarzustellen, kann aber nicht Aufgabe der Antinomie sein.
33
Zum allgemeinen Grundriß der Antinomien vgl. auch oben S. 9 f.
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zung, die Gegenstände der Sinne für die Dinge an sich selbst zu halten«, ausgehen, trifft, wie ausgeführt 34 , in dieser Allgemeinheit nicht zu. Das zweite Merkmal ist dafür um so interessanter: Die Antinomien zwingen dazu, den Erscheinungen »ein intelligibeles Substrat (etwas Übersinnliches, wovon der Begriff nur Idee ist und keine eigentliche Erkenntnis zuläßt) unterzulegen« (KU Β 243). Die Ideen, die für die Auflösungen der Antinomien nötig sind, umschreibt Kant etwas näher am Ende der Anmerkung (KU Β 245): (1) Die kosmologischen Antinomien führen nur zur Idee »des Übersinnlichen überhaupt, ohne weitere Bestimmung, als Substrats der Natur«; (2) im Anschluß an die Antinomie im Gebrauch der ästhetischen Urteilskraft wird das Übersinnliche »als Prinzip[.] der subjektiven Zweckmäßigkeit der Natur für unser Erkenntnisvermögen« gedacht, und (3) die Antinomie der praktischen Vernunft schließlich macht es notwendig, das Übersinnliche als Prinzip der Übereinstimmung der Zwecke der Freiheit mit der Zweckmäßigkeit der Natur aufzufassen (im Sinne einer moralischen Teleologie). Diese Abfolge der Ideen hat Kant als Steigerungsreihe verstanden, wie eine Parallelstelle in der Einleitung (KU Β LV f.) deutlich macht (an der allerdings der Bezug auf die Antinomien fehlt)35: (1) Am Beginn der Entwicklung steht die Anzeige auf ein völlig unbestimmtes übersinnliches Substrat der Natur, dessen Begriff nur benötigt wird, um die Einschränkung des theoretischen Vernunftgebrauchs auf Erscheinungen zu denken; (2) die Urteilskraft verschafft dem übersinnlichen Substrat durch ihr Prinzip der Zweckmäßigkeit bereits Bestimmbarkeit, und (3) die praktische Vernunft ermöglicht die Bestimmung des Übersinnlichen, indem der Grund der Natur als bestimmt durch ein »intellektuelle[s] Vermögen« gedacht wird, das sich bei der Hervorbringung der Zweckmäßigkeit in der Natur durch das moralische Gesetz und dessen Endzweck, das höchste Gut, leiten läßt36. 34 35
36
Vgl. oben S. 258-260. Eine detaillierte Interpretation der sehr gedrängten Skizzen in der Kritik der Urteilskraft findet sich bei K. Düsing, Die Teleologie in Kants Weltbegriff, S. 102-115 (bes. S. 111 ff.), 203-205 und 231-233. Diese Entwicklungsreihe läßt zugleich erkennen, wie Kant auf dem Stand der Kritik der Urteilskraft die Einlösung der Aufgabe der Metaphysik verstanden hat, die er später in der Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik ganz traditionell als »Wissenschaft, von der Erkenntnis des Sinnlichen zu der des Übersinnlichen durch die Vernunft fortzuschrei-
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Diese Stellen belegen, daß auch in Kants Sicht die Antinomien im Dienste einer positiven Erweiterung des Vernunftgebrauchs stehen und eine Funktion auf dem Terrain der Transzendentalphilosophie haben können. Sie zeigen darüber hinaus, daß dies keine Besonderheit der Antinomie der praktischen Vernunft ist; in dieser Funktion geht ihr schon die Antinomie des Geschmacks vorbereitend voran. Aber das systematische Arrangement hat seinerseits empfindliche Schwächen: Erstens ist nicht klar, was der Ort der Abfolge der Antinomien und der ihr zugeordneten Ideen sein soll. Kants eigene Philosophie, wie sie durch die drei Kritiken repräsentiert wird, kommt jedenfalls nicht ohne weiteres dafür in Frage. Denn hier ist die Reihenfolge offensichtlich eine andere: Die Antinomie der praktischen Vernunft und die Idee des höchsten Gutes werden vor der Antinomie des Geschmacks und der Idee der Zweckmäßigkeit der Natur, die doch vermittelnd vorangehen sollen, abgehandelt. Diese Reihenfolge läßt sich auch nicht umkehren; wie die Einleitung der Kritik der Urteilskraft deutlich macht, setzt die Aufgabenstellung der dritten Kritik systematisch die zweite Kritik mit ihrem Freiheitsbegriff ebenso wie die erste Kritik mit ihrem Naturbegriff voraus. Zweitens ist in dem Entwicklungsschema der Einsicht in das Übersinnliche eine wichtige positive Erweiterung nicht als eigener Schritt für sich erfaßt, weil ihr keine eigene Antinomie entspricht: die Bestimmung des Übersinnlichen in uns als Freiheit im transzendentalen Sinne, die die Analytik der zweiten Kritik vornimmt (vgl. oben S. 369) und die Kant in der Einleitung der Kritik der Urteilskraft voraussetzt, sofern die Urteilskraft den Übergang zwischen dem Übersinnlichen, das der Natur zugrunde liegt, und dem Übersinnlichen, das der Freiheitsbegriff enthält, ermöglichen soll (vgl. KU Β XIX ff.). Die Erweiterung zur Freiheit ist implizit in der letzten Stufe der Entwicklung vorausgesetzt, auf der das Übersinnliche als »intellektuelles Vermögen« bestimmt wird, das die Zweckmäßigkeit der Natur nach moralischen Gesichtspunkten hervorbringt; die Erweiterung wird hier aber nicht in ihrer genauen Beten«, definierte (AA XX, S. 260, vgl. 272 und 316): als »Fortschritt des Einblicks in das Übersinnliche ... von der Unbestimmtheit für den Verstand über die Bestimmbarkeit für die Urteilskraft zur Bestimmung durch die praktische Vernunft« (K. Düsing, Die Teleologie in Kants Weltbegriff, S. 111).
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deutung und Reichweite fixiert, so wie dies mit dem Begriff des unbestimmten Übersinnlichen als Resultat der ersten Kritik geschah. Das bedeutet aber: Die spezifische Problemstellung der Antinomie der praktischen Vernunft, der Konflikt zwischen theoretischer und praktischer Vernunft, ist durch eine solche Entwicklungsreihe nicht angemessen darstellbar 37 . Es würde drittens wenig helfen, die Mängel durch einen Umbau des Systems zu beheben, indem man Teile der Kritik der praktischen Vernunft auseinanderreißt und zwischen die Analytik (mit dem eigenen Thema der Freiheit) und die Dialektik (mit dem Thema des höchsten Gutes) als Vermittlungsglied die Kritik der (ästhetischen) Urteilskraft mit ihrer Antinomie einschiebt. An dem Ort, den der systematische Grundriß der Antinomien für die Dialektik der praktischen Vernunft vorsieht, d. h. am Ende der Entwicklungsreihe der Bestimmung des Übersinnlichen, läßt sich das Problem der Möglichkeit des höchsten Gutes noch weniger als antinomischer Widerstreit von theoretischer und praktischer Vernunft verständlich machen, als dies ohnehin der Fall ist. Denn wenn die Idee der Zweckmäßigkeit der Natur, deren übersinnliches Substrat durch ein »intellektuelles Vermögen« bestimmbar ist, schon eingeführt ist, noch ehe das höchste Gut zum Thema geworden ist, dann ist der empiristische Einwand gegen die Möglichkeit des höchsten Gutes vollends implausibel, denn der entscheidende Schritt zur Überbrückung der »unübersehbare[n] Kluft« (KU Β XIX) zwischen Natur- und Freiheitsbegriff, die dem Einwand die sachliche Berechtigung gab, ist schon getan. Es ist wohl nicht zufällig, daß Kant, wenn er in der Kritik der Urteilskraft (§§ 86 ff.) die Lehre vom höchsten Gut ausführlicher behandelt, das Problem nicht als Antinomie beschreibt, wie er es zuvor in der systematischen Skizze vorgesehen hatte38.
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In der Formel von der Urteilskraft als vermittelnder Instanz, die die Gesetzgebungen des Verstandes (Naturbegriff) und der Vernunft (Freiheitsbegriff) verknüpfen soll (vgl. ζ. B. KU Β LDI), kommt dagegen das Problem der Disparität beider Vermögen noch gut zum Ausdruck. Diese Skizze spricht aber dagegen, daß Kant die dialektische Ausgestaltung der Lehre vom höchsten Gut später als unangemessen betrachtet hat und durch die Darstellung in der Kritik der Urteilskrafl ersetzt wissen wollte, wie man behauptet hat, vgl. oben S. 203 Anm. 275.
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Anders als die Angaben in der Kritik der praktischen Vernunft hält zwar Kants allgemeine Theorie der Antinomien die besondere Funktion der Dialektik bei der positiven Erweiterung des Vernunftgebrauchs fest; sie unterminiert aber durch den systematischen Ort, den sie der Antinomie der praktischen Vernunft in einer Architektonik der Antinomien und Ideen anweist, in der Konsequenz den beanspruchten Problemtitel einer Antinomie der reinen Vernunft. Auch hier verschafft sich Kant nicht einmal ansatzweise Klarheit, welche strukturellen Bedingungen erfüllt sein müßten, damit eine Antinomie innerhalb seiner Kritischen Philosophie eine Funktion bei der positiven Erweiterung des Vernunftgebrauchs übernehmen kann. Im Grunde ist er in der Kritik der Urteilskraft nicht weniger schematisch verfahren als bei der Parallelisierung der Dialektik von theoretischer und praktischer Vernunft in der zweiten Kritik; er operiert in seinem Entwurf einer systematischen Abfolge der Antinomien mit allgemeinen Titeln, ohne sich die Gebilde noch einmal genauer anzusehen und zu prüfen, ob sie in die vorgesehenen Fächer passen. Um der Problemform der Antinomie nicht auch noch den letzten Rest von Plausibilität zu nehmen, ist die Dialektik der praktischen Vernunft an den Ort im System der Kritiken gebunden, an dem Kant sie tatsächlich entwickelt: die Kritik der praktischen Vernunft. Und was bleibt dort nach all dem Schütteln und Rütteln? Mit Sicherheit keine Antinomie im strengen Sinne einer Antithetik notwendiger Urteile der Vernunft. In wichtigen Hinsichten hat sich Kant gründlich getäuscht: Er behauptet architektonische Parallelen der Dialektik von spekulativer u n d praktischer Vernunft, w o diametrale Gegensätze bestehen u n d er wegen der Autonomie der praktischen Vernunft sogar an einem Unterschied interessiert sein muß. Er macht andererseits gegensätzliche Aussagen zur Kritikbedürftigkeit der reinen praktischen Vernunft, wo von der Kritik der reinen Vernunft über die Analytik der zweiten Kritik bis zur Dialektik der praktischen Vernunft eine Kontinuität in seinen Sachausführungen zu beobachten ist. Was bleibt dann aber? Man könnte daran denken, als sachlichen Kerngehalt der Dialektik jene Spannung zwischen Interessen der theoretischen und praktischen Vernunft anzusehen, die Kant an späterer Stelle in der Dialektik unter der Überschrift »Von dem Primat der reinen praktischen Vernunft in ihrer Verbindung mit der spekulativen« (KpVA 215-219) beschreibt. So wie aber die Dramati-
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sierung zu einer Antinomie eine halbe Problemnummer zu groß geraten ist, so wäre die Darstellung des Problems als bloßer Interessenkonflikt zu schwach, da sie die Kluft zwischen Natur- und Freiheitsbegriff unterschätzt, die zu überwinden ist; es käme darin nur ungenügend zum Ausdruck, daß die Frage nach der Möglichkeit des höchsten Gutes eine neue Bewegung der produktiven Ausdeutung des unbestimmten noumenalen Feldes notwendig macht, einen Schritt, den Kant unter hohen Problemdruck setzt. Daran ist - seine übrigen Prämissen vorausgesetzt - ja richtig, daß eine Antinomie unvermeidbar wäre, wäre eine Erweiterung im Begriff der Noumena nicht möglich.
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Personenregister Abicht, Johann Heinrich 92 Adickes, Erich 58 f., 88,113,134,183 f., 234, 280,363 f., 366-368 Albrecht, Michael 1 f., 5, 7,11,14,16 f., 1924, 28 f., 31, 33, 42, 45-49, 52, 58, 63, 7075, 84-86, 89, 92 f., 96-98, 101 f., 109 f., 118, 130-132, 135-138, 140, 142 f., 145148,152,157,164-166,173-175,179,183, 185, 187, 189, 191, 194, 199 f., 203, 205, 207, 215, 222, 226-231, 235 f., 238-240, 242, 257, 265, 267 f., 281 f., 284-286, 293, 299, 316, 319, 321 f., 326-328, 330, 333335,337,340,353-356,358,361 Allison, Henry E. 363,365,367 Alquié, Ferdinand 15 Anacker, Ulrich 158 f. Anderson-Gold, Sharon 156 Angelelli, Ignacio 209 Anonymus 86 Aristoteles 146,221 Arnoldt, Emil 332 Ast, D. Friedrich 12 Auxter, Thomas 311 Axinn, Sidney 56 Barion, Hans 156 Barnes, Gerald W. 93,328 Bauch, Bruno 14,150 Baum, Manfred 105, 365 Baumanns, Peter 242 f. Baumeister, Thomas 93 Baumgarten, Alexander Gottlieb 11,184 Becchi, Paolo 38 Beck, Lewis White 66-70,72-75, 80, 82 f., 109 f., 126,130-132,143,162,174 f., 191,205, 208, 213, 215 f., 223, 226, 233, 237, 266, 271 f., 281,321 f., 329,337,339,376 Beiser, Frederick C. 233,279 Bendavid, Lazarus 85 f., 88,130,205 Berkeley, George 96 Bernhardt, Ambrosius Bethmann 86 Beversluis, John 14 Bittner, Rüdiger 283 Blumenberg, Hans 53,72,90-92,98,323
Bom, Friedrich Gottlob 92,271 Bowers, David F. 182 Brandt, Reinhard 31 f., 113,155,271,360 Brastberger, Gebhard Ulrich 14,96,109,135 Bréhier, Émile 29 Broadie, Alexander 83 Brocke, Bernhard vom 90 Bröcker, Walter 40 f., 56 f. Brown, Stuart M. Jr. 182 Brugger, Walter 13 Brunschvicg, Léon 29,161 Bubner, Rüdiger 48,226 Buhle, Johann Gottlieb 12 Burri, Alex 62 Calder ΠΙ, William M. 90 Cohen, Hermann 13, 63 f., 191,367 Conrad, Elfriede 169 Cortina, Adela 352 Cramer, Konrad 226,283 Crusius, Christian August 140,145 Delbos, Victor 15-18,29,82,329 Delekat, Friedrich 45-47,54,68, 70,152 Deleuze, Gilles 18 f., 69,172,355 Deussen, Paul 58 Dilthey, Wilhelm 368 Diogenes von Sinope 110 Doescher, Waldemar 182 Döring, August 194 Dorner, Issak August 50 Duchesneau, François 56,134 Düsing, Klaus 5,15, 27 f., 48,111,162,166, 185,284-286,310,335,341,377 f. Eberhard, Johann August 87,359 Eisler, Rudolf 14 Engelhardt, Paulus 23,307 Epikur 26-29, 31-33, 47, 114, 122, 140, 145, 161,232,352,354-356 Erdmann, Benno 5 Erhardt, Franz 58 f. Feder, Johann Georg Heinrich 181
Personenregister Fichte, Johann Gottlieb 42, 84 f., 158, 293, 349 Fischer, Kuno 15,63,65,157,172,328 f. Fischer, Norbert 38 Flashar, Hellmut 90 Fleischer, Margot 23 Fliethmann, Thomas 285,316,350 Flothow, Carl von 51,183 Forberg, Friedrich Karl 290 Forschner, Maximilian 162,226,288 Förster, Eckart 225,346,349,352,356,359 Frege, Gottlob 209 Freudiger, Jürg 62,104 Friedman, R. Z. 311 Frischeien-Köhler, Max 13 Funke, Gerhard 15, 22, 105, 112, 157, 164, 284,363,367 Gäbe, Lüder 365 Garve, Christian 35,38 f., 148,158,240,258 George, Rolf 367 Gerhardt, Volker 328 Goedeckemeyer, Albert 14 Gotterbarn, Donald 363 Gottschick, Johannes 13,125,128,167 Greiling, Johann Christoph 42,311 Gruber, Robert 58 Gunkel, Andreas 234 Guyer, Paul 13,105,151 f. Hägerström, Axel 14, 39,100,125, 221, 225, 298 Hartmann, Eduard von 41-43, 45-47, 56, 67, 70,88,324,335 Hauser, Linus 310 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 27,36 f., 40, 48,55-57,360 Heintel, Peter 20, 32,37,91,329 Henrich, Dieter 21, 36, 146, 190, 272, 284, 287 f., 293 f., 307,309,352,359 Heydenreich, Karl Heinrich 84,110 Hinske, Norbert 5,7 f., 11,59,87,169 Hoehne, Emil 50 Höffe, Otfried 14,62,162,177 f. Holz, Harald 48 f., 56,328-330 Hoping, Helmut 73, 140, 168, 263, 285, 328, 331,350 Hoppe, Hansgeorg 38 Horstmann, Rolf-Peter 359,365 Huber, Herbert 73,131,203,350 Hume, David 347 Hünermann, Peter 56
395
Ilting, Karl-Heinz 38,66 Jacob, Hans 84 Jaeschke, Walter 191,313 Jakob, Ludwig Heinrich 181 Kalter, Alfons 367 Kaulbach, Friedrich 20, 25-29, 32-34, 46 f., 54,68,91,113,355 Kemp Smith, Norman 367 Kiesewetter, Johann Gottfried Carl 14 Kingeling, Werner 45 f., 66 f., 162, 206, 324, 335 Kirchmann, Julius Hermann von 13,109 Kleinschnieder, Manfred 367 Köhl, Harald 39 Konhardt, Klaus 15 Kopernikus, Nikolaus 104 Kopper, Joachim 26, 28 f. Krämling, Gerhard 19, 23 f., 93, 100 f., 111, 318,328,334 Krausser, Peter 104 Kreimendahl, Lothar 5 Kroner, Richard 20,37-41,56 f., 310 Krüger, Gerhard 352 Kuehn, Manfred 178, 345, 349 f. Kutschera, Franz von 182,193 Laberge, Pierre 56,134 Landau, Albert 156,233,279 Langthaler, Rudolf 22, 116, 161, 178, 230, 285,346,350 Laupichler, Max 19, 23 Lauth, Reinhard 84 Lehmann, Gerhard 60,165,187,202 Leibniz, Gottfried Wilhelm 36,117,161,366 Lempp, Otto 65-67,136, 328 Lenfers, Dietmar 200,349 Lindken, Theodor 90 Llewelyn, J. E. 134 Loh, Werner 139 Lorentz, Paul 13 Lötz, Johannes B. 272 Lübbe, Hermann 156 Luther, Martin 49,142 MacDonald Ross, George 87,182 Maclntyre, Alasdair 278 Malter, Rudolf 368 Malzkorn, Wolfgang 104 f., 133,162 Marcus, Emst 89,206 Mariña, Jacqueline 43 f., 333, 338 f.
396
Personenregister
McCarthy, Michael H. 308 f. McWalter, Tony 87,182 Meier, George Friedrich 169 f., 209 f., 301303 Mellin, George Samuel Albert 87 f., 158,203 Mendelssohn, Moses 115,343,366 Menne, Albert 169 Messer, August 17, 31, 64-67, 70, 72, 136, 140,175,334 Michaelis, Christian Friedrich 15,29,93,236 Michel, Karl Markus 27,37,48 Michelet, Carl Ludwig 13 Micheli, Giuseppe 87 Miller, Edmund Morris 13,159 Milz, Bernhard 11,52,204,282,338,350 Moldenhauer, Eva 27, 37,48 Moog, Willy 13 Morrisey, Bryan E. 56,134 Müller, Gisela 367 Müller, Peter 69 Nakhnikian, George 62 Niethammer, Friedrich Immanuel 42 Nitzschke, Kurt 15 f., 18, 130, 139, 222, 333, 339 Nohl, Herman 37 Oberer, Hariolf 31 Patzig, Günther 37 Paulsen, Friedrich 272 f. Pettazzi, Carlo 365 Philonenko, Alexis 30 f., 113 Picavet, François 15 Pistorius, Hermann Andreas 13,29,156,216, 233,279,376 Piaton 110 f., 237, 366 Pleines, Jürgen-Eckhardt 20 f., 23,34,41,59 Prantl, Carl 302 f. Prauss, Gerold 21,234,283,365,367 Pünjer, Georg Christian Bernhard 14 Rauche, Gerhard A. 168 Rehberg, August Wilhelm 14,117,159 Reich, Klaus 14,237 Reinhold, Carl Leonhard 283 Rink, Friedrich Theodor 202 Rischmüller, Marie 151 Ritter, Joachim 5 Römpp, Georg 284 f., 289 Ross, William D. 221 Rossvaer, Viggo 13,154,173
Rotenstreich, Nathan 17 Rousseau, Jean-Jacques 36,279 Russell, Bertrand 303 Sala, Giovanni B. 73,110,112 f., 123,131,174 f., 186,192,203,284,286,310,328 Salat, Jakob 290 Sandberg, Eric C. 367 Sartiaux, Félix 89 Schaeffer, Wilhelm Friedrich 234 Schaeffler, Richard 49-54, 56, 67, 91, 152, 159,280,350 Schay, Heinz 169 Schmid, Carl Christian Erhard 87,285,334 Schmidt-Phiseldek, Konrad Friedrich von 86-88 Schmitz, Hermann 272, 278, 283-285, 293 f., 298,314 Schmucker, Josef 11,146, 239, 272, 284, 288, 349 Schnoor, Christian 38,276 Schöndörffer, Otto 332 Schopenhauer, Arthur 3, 58 f., 63,160,191, 213,278,282 Schottky, Richard 84 Schräder, George A. 68,92 Schultz, Uwe 14 Schulz, Eberhard Günter 14,117, 233 Schulz, Johann 87 Schulz, Walter 21 Schwan, Alexander 272 Schwartländer, Johannes 13 Schwegler, Albert 88 Schweitzer, Albert 13,65,334 Schweppenhausen Hermann 160 Seel, Gerhard 31,62 Segai, Ora 69 Sessions, William Lad 349 Shanower, Victoria Ann 74 Silber, John R. 13,93,163,182,311 Smith, Adam 109 Smith, Steven G. 13,109 Snell, Christian Wilhelm 92 f., 285 Snell, Friedrich Wilhelm Daniel 13 Srzednicki, Jan T. J. 162 Stange, Carl 17,52,60-67, 70-72,92,109,132, 135 f., 140,143,175,182,205,326 Stanke, Leandros Jos. 89 Stark, Werner 360 Starke, Fr. Ch. (Pseudonym für Johann Adam Bergk) 141 Stäudlin, Carl Friedrich 87
Personenregister Strube, Claudius 365 Sullivan, Roger J. 52,59,181 Teichner, Wilhelm 344 Thöle, Bernhard 234 Thomas von Aquin 49,329 Tittel, Gottlob August 158 Trendelenburg, Friedrich Adolf 105,146 Ueberweg, Friedrich 13 Vanni Rovighi, Sofia 90 Vleeschauwer, Herman Jean de 13,131 Volkmann-Schluck, Karl-Heinz 21 Vorländer, Karl 64,69,172,271 Walker, Ralph CS. 162 Wallace, James D. 36 Walsh, William Henry 134 Weischedel, Wilhelm 177 f. Weishaupt, Adam 87 Wellmer, Albrecht 278 Wentscher, Max 88 f.
397
White, Roger M. 182 Whitney, George Tapley 182 Wiehl, Reiner 226 Wike, Victoria S. 73-84, 108, 126, 130-132, 135,143 f., 164,166,171,173,238 Willich, Anthony Florian Madinger 87 Wimmer, Reiner 35, 73, 93, 108, 267, 328, 330,352 Winter, Alois 333 Wolff, Christian 36,145 f., 366 Wood, AUen W. 24 f., 52, 90-92, 178, 194, 285,316,322,328 Wundt, Max 14 Young, Julian 58,90,286 Yovel, Yirmiahu 69 f., 72, 92, 168, 172, 200, 328,349 Zahn, Manfred 84 Zeldin, Mary-Barbara 185 Zwanziger, Johann Christian 13 Zwingelberg, Hans Willi 34-38,41,56
Sachregister absurdum - logicum 301,322 - morale 25,291 f., 294,299 f., 302,316 - practicum 24 f., 90, 92, 285, 289, 296, 298-302,306,316,322 - pragmaticum 25, 292 f., 298-300, 302, 306,316 Achtimg fürs moralische Gesetz (s. auch Triebfeder) 28, 39,160-162,177,181,189 f., 225,278,307,312,315 f. Alternative s. Disjunktion allgemein, Allgemeines - analytisch-allgemein 341,343 f. - synthetisch-allgemein 341 analog, Analogie 342,346-349 Analytik - der Kritik der praktischen Vernunft 3,8,23 f., 35 f., 38, 58, 60, 62-64, 79, 84, 91,101, 103, 106-108, 111, 117, 124 f., 136, 144, 146 f., 161,190-192,194, 208, 221 f., 232, 260 f., 263, 270, 282, 310, 322, 369, 374, 378-380 - der Kritik der reinen Vernunft 104,184,242 f., 255 f., 358 analytisch s. Opposition, Urteil, Verbindung Anschauung 105,183 f., 233,341,359,364 f. - intellektuelle 46,341,348 Antagonismus von Pflicht und Neigung 22, 38,277,317 Anthropomorphismus 348 Antinomie (s. auch Antithetik, Dialektik) - Auflösung 10, 17, 50-52, 104, 134, 173, 217,238,260,326,329,377 - Bedeutungen bei Kant 7 - Begriffsbestimmung 7, 42, 58 f., 70,130, 174,214 - bezüglich der Religionsfreiheit 11 - der ästhetischen Urteilskraft 8-10, 74, 102,204,329,376-378 - der Möglichkeit eines äußeren Besitzes 10 - der praktischen Vernunft s. Antinomie der praktischen Vernunft
- der teleologischen Urteilskraft 9 f., 74, 203 f. - der theoretischen Vernunft 2, 9 f., 16, 74-77,102-105,214,226,238,242 f. - dynamische 17,133,241,253,326,329 - Freiheitsantinomie 3, 17, 49-52, 61, 67, 77, 83,103,131,160,217, 232, 248,250 f., 259,325-327,329,331 - in der Religionsschrift 11,49,53,136,204 - kosmologische 2,4,29,103,203,208,218 f., 242-244, 253-257, 259-262, 275, 282, 303,329,357,372-375,377 - mathematische 17, 81, 133 f., 170, 173, 241 - Theorie der Antinomien 9 f., 75,102,203 f., 258-260,376 f., 380 - von Moral und Politik 11 - von Moral und Religion 11 - von moralischen Gesetzen 11 - von Pflichten 11, 296 - von politischer und Religionsverfassung 10 Antinomie der praktischen Vernunft (s. auch Antithetik, Dialektik der praktischen Vernunft) - Antinomie von Gültigkeit und Ungültigkeit des Sittengesetzes 91 f., 94, 176, 192-196, 211, 320-323 - Antinomie von Können und Sollen 50 f., 183 - Antinomie von Möglichkeit und Unmöglichkeit des höchsten Gutes 65, 6769, 82, 84-87, 89-91, 94 f., 173-175, 195198,201 f., 211,214,320,328,358 - Antinomie von theoretischer und praktischer Vernunft 53 f., 67, 84,199 f., 257, 263 f., 330 f., 374 f., 379 - Auflösung 3 f., 10, 17, 43, 45 f., 61, 67, 80-83, 101, 142, 172 f., 196 f., 216, 238241, 248, 259, 275, 319,323-331, 333-340, 345,349,351-353,355-357,361,374,377 - entwicklungsgeschichtlicher Ort 2 f., 286,318-322 - Funktion 4,256 f., 264,371-376,378,380
Sachregister - Parallele zur Freiheitsantinomie 17, 67, 82 f., 325-329,331 - Text zur Antinomie 8 - Thesis und Antithesis 8-10, 15, 17, 26, 47, 65-67,69-72, 75, 85-87, 89,127,130 f., 136 f., 172,174 f., 197, 205 f., 227, 237 f., 240,256,261-265, 267, 275,320,326, 328, 331 f., 339,359-361,373 - Varianten 204-207 Antithesis s. Antinomie der praktischen Vernunft Antithetik, antithetisch 7-9, 357 f. - der Dialektik der praktischen Vernunft 8,10, 72, 75, 82, 85 f., 88,174 f., 195, 200, 207, 211 f., 252, 254, 257 f., 262-265, 268, 322 f., 327,374,380 apagogisch s. Beweis ars sophistica 114 Ästhetik, transzendentale 104 f., 171, 184, 242,255,365 Äther 359 f. Aufhebung, Auflösung der Antinomie s. Antinomie Ausführungsprinzip s. principium executionis Bedürfnis der reinen Vernunft 179 f., 346 Begriff, diskursiver s. Erkenntnis Belohnung (s. auch Verheißung) 164, 206, 292,308,321,332 Beurteilungsprinzip s. principium diiudicationis Bewegsursache s. Ursache Beweis, apagogischer 74, 81,104 f., 127,130, 132,170 f., 223, 243,252, 256, 301 f., 304, 306,315,359 f., 365 Böses, radikales 50,52 f. Bösewicht 290 f., 294,299 f., 306 causa noumenon 363,370 compositio 113 conjunctio (s. auch Verbindimg) 113 consummatum s. Gut, höchstes cornutus s. ratiocinium, Syllogismus Deduktion - der Notwendigkeit des höchsten Gutes 274,310 - der sittlichen Verpflichtung 21, 119, 190,268,271,279,308 - transzendentale D. der Kategorien 120
399
- transzendentale D. der Möglichkeit des höchsten Gutes 120 f., 331, 336 Denken (als unterschieden von Erkennen) 232-235,237,363 f. Dialektik (s. auch Antinomie, Vernunftschluß) - der theoretischen Vernunft 2, 22, 99 f., 104 f., 276,376 - logische 32,114,170,252 - natürliche Dialektik der praktischen Vernunft 19, 22-24, 38, 92,105, 277-281, 316-319,375 - Ursprung 240 f., 376 f. Dialektik der praktischen Vernunft (s. auch Antinomie der praktischen Vernunft) - als Konflikt von Pflichten 40, 56,94,213 - als Subreption des sittlichen Bewußtseins 32 f., 55,94 - Dialektik von analytischer und synthetischer Verbindung im höchsten Gut 30 f., 55,94,113 - Dialektik von Form und Materie des Willens 20,35,37-40,55,94,206 - Dialektik von praktischer Vernunft und Welt 25-27,46 f., 53-55, 62 f., 94,206 - Dialektik von Sittlichkeit und Glückseligkeit 8, 20-25, 33-36,45, 55 f., 59 f., 94, 213, 317 f. - Dialektik von Sittlichkeit und Glückserfahrung 41 f., 55,94 Dialektikfreiheit der reinen praktischen Vernunft 2, 24, 215, 237, 262, 267-270, 273, 276 f., 280-282 Dijudikationsprinzip s. principium diiudicationis Dilemma - dilemma practicum 3, 24 f., 28, 89, 93, 172, 261, 277, 284-287, 289, 293 f., 297, 299-304,306,313-320,322 f., 351, 372 - dilemma theoreticum 301 - Syllogismus 169-172, 243, 252, 267, 300302,328 Ding an sich (s. auch kritische Unterscheidung) 105, 219, 244-251, 254 f., 258-260, 264,363,365-368 Disjunktion der kausalen Verknüpfung von Tugend und Glückseligkeit 8, 15-23, 25 f., 28-34, 42 f., 45, 47, 60 f., 64-66, 69 f., 73-76, 80, 83, 85-88, 92, 95, 98, 129-144, 168, 171-173,196 f., 200 f., 205-207, 211213,231,265,326,328,355 f.
400
Sachregister
- erster Satz 17 f., 61, 70, 75, 85,132,136, 138,144-148,166,171,205, 231,237, 325, 328, 354 f. - Vollständigkeit der Disjunktion 74, 133 f., 138,140,142 f., 168 f., 171,202 - zweiter Satz 17, 61 f., 70, 85, 133, 136, 148-152,166,171,184, 205, 207, 227, 231, 237 f., 240,257,325-328 diskursiv s. Erkenntnis Drohung 113,305 f., 312 Dualität - der ethischen Prinzipien 286-289, 298, 306 f. - des praktischen Bestimmungsgrundes 38 Einteilung, analytische 133,138 Empirismus, empiristisch (s. auch Mißverstand) 165 f., 238-240, 247, 252 f., 256 f., 259,262,267,273,282 f., 327,331,358 Endlichkeit des Menschen als Grund der Dialektik 23, 63, 68 f., 92 f., 167 f., 198, 201,207 Endzweck 38,40, 84,91,100,113,126,167 f., 177, 188, 198-201, 206 f., 225, 274, 344, 377 ens imaginarium 184 ens rationis (Gedankending) 119, 183-185, 189,229,293,371 enthymema 210 Entwicklung der Ethik Kants s. Antinomie der praktischen Vernunft, Prinzipienlehre Epikureer, epikureisch 26-31, 60,105,110 f., 113 f., 122,127,145-147,353-356 Erkenntnis - diskursive 105,341-345,350 - intuitive 341 Erscheinung s. kritische Unterscheidung Ethik - Glückseligkeitsethik 33 f., 45,55,94,148, 213 - Moral-sense-Ethik 287 - Pflicht-, Tugendethik 3, 34, 55, 94, 213, 284,313 - rationale Ethik 45 - Vollkommenheitsethik 145 f. Eudämonismus, eudämonistisch 37 f., 63, 66,145-147,191,194,288 f., 356 Faktum der Vernunft 21,119,124,190, 220, 222,225,268, 270-272, 279, 308, 313, 315, 321,323,331,369
Fehlschluß s. Mißverstand; Vernunftschluß, dialektischer Form des sittlichen Willens (s. auch Dialektik der praktischen Vernunft, Materie, Tugend) 37,94,151,160,190 Freiheit 21, 36, 49 f., 52, 68, 83, 91, 113,115118,121,151,156,166,168,178,232,235, 240 f., 248-250, 260, 280, 308, 328 f., 335, 350 f., 358,368,372,377-379 - praktische 270,309 - transzendentale 20, 94, 103, 217, 270, 309,363,369 f., 378 - Wirkungen in der Sinnenwelt 158-163, 168,248-251 Freiheitsantinomie s. Antinomie Friede, ewiger 151,167,332 Gedankending s. ens rationis Gegenstand der reinen praktischen Vernunft s. Gut, höchstes Gemeinschaft (Wechselwirkung) 116-118, 134 Gemeinwesen, ethisches 151,155,167 Gesetz, moralisches s. Sittengesetz Gesinnung, moralische (s. auch Tugend) 147,149-152, 157, 162-165, 177, 180, 187 f., 232,238,241,249 f., 289,292,325, 330, 346 - erweiterte 188 f. Gewißheit, moralische, praktische 126,178, 268 Glückseligkeit (in Auswahl) 18 f., 21-23, 25 f., 28,32-35,39-41,47 f., 56,63 f., 88,101, 108-113, 141, 145 f., 149 f., 152, 157 f., 164 f., 167, 217, 225, 288, 290-294, 297, 299,304,312,314,355 f. - als ethisches Prinzip 3,22,37,111,145 f., 283 - als Materie des Sittengesetzes 35,37-39 - als Realisierung der sittlichen Zwecke 46 f., 68,128,167 - fremde 121,149,151,166 f., 187 - moralische 47,356 - Naturbedingtheit 153-157 - sozial-ethische Bedingtheit 118,153-156, 289 - Unabhängigkeit von der Moral 157 f., 221 Glückseligkeitsethik s. Ethik Glückswürdigkeit 32 f. Gnade 50-53,91,164
Sachregister Gott (s. auch Postulat) 109 f., 191-193, 236, 287,313,359 - als ens realissimum 347 f. - als Grund 347 f. - als Inbegriff 347 f. Gut, höchstes (in Auswahl) (s. auch Deduktion, Möglichkeit, Zweideutigkeit) - als Bestimmungsgrund des Willens 106, 312 - als Gegenstand der praktischen Vernunft 100 f., 105 f., 123,163,176 f., 179181,188 f., 193, 224 f., 273, 309-311, 313, 318-321, 336 - als Inbegriff der sittlichen Zwecke 186191,275 - als Materie des Sittengesetzes 185-188, 191, 310 f. - Begriffsbestimmung 18,107-118 - Begründung 108-110,119, 222, 236, 274 f., 310 - immanentes 43 f., 100,112,225, 334-337, 339 f., 353,356 - in der Kritik der reinen Vernunft 100 f., 118,153 f., 176,181,223-225,336 - kategoriale Bestimmung 116-118,128 f. - oberstes (originarium, supremum) 76, 78-80,100,107 f., 218 - transzendentes 43 f., 100,112, 225, 333340,353,356 - vollendetes (consummation, perfectissimum) 76, 78-80,107 f., 176,218 Heiligkeit 43 f., 52,64,336-338 Hypothesis, notwendige 82, 127, 171, 174, 235,237,256,274,283,302,305,328,352 Idealismus - transzendentaler 104 f., 171, 173, 242 f., 254-257,262,265,331,365 - Widerlegung des Idealismus 359 f. Idee (in Auswahl) 75 f., 105, 229 f., 255, 341 f., 370,377 f. - des höchsten Gutes 71, 78,103,154,184, 186, 207, 211, 221-224, 226 f., 231, 235, 263,333,338 f., 342 Imperativ - hypothetischer 62, 64 - kategorischer 22, 37 f., 64, 90, 141, 155, 159,180,220,271,276,323 impossibilium nulla obligatio (s. auch ultra posse ...) 182,193 , 239 Inhalt des sittlichen Willens s. Materie
401
intellectus archetypus 341,343 intelligible Welt (s. auch Noumena) 67, 83, 153, 233, 248, 294 f., 298, 305, 333 f., 336 f., 353,356,371 Interesse - der praktischen Vernunft 67, 81 f., 174, 216,243,253,262,380 - der theoretischen Vernunft 67, 216, 243, 251,262 f., 371,374,376,380 - freies, moralisches 346,350 - Konflikt der Interessen 216,380 f. intuitiv s. Erkenntnis Kategorie (s. auch Gemeinschaft, Kausalität) 363 - dynamische 232 - mathematische 232 - unschematisierte (reine) 232-235, 247, 368 - schematisierte 234,247 Kausalität (s. auch Freiheit, Umkehrung, Ursache) - Grundsatz 219 f., 365 - Kategorie 54, 116-118, 128 f., 134, 232235,246,341,363,368 - Naturkausalität 152, 155, 157-160, 163, 166, 199, 235, 238, 248 f., 251, 325, 327, 335,340,343 - spezifische 54,166,236,341 Klugheit 121,151,154-157,164,289-292,304 Können - Sollen 50 f., 182 f. kontingent (zufällig) 27, 47,115, 150 f., 166, 168, 178, 260-262, 264 f., 291, 323, 335, 341 f., 348,351,355 kontradiktorisch 7,16, 34, 42, 65, 67, 70, 74, 80-82,130,132-134,136,143 f., 170, 172, 174,193,211,214,254,263,315,320,324, 358 konträr 67,74,81,133 f., 136,140,143 f., 315 Kritik - der empirisch-praktischen Vernunft 216,269 f., 272,278,282 f., 317 - der Kantischen Antinomie der praktischen Vernunft 57-68, 70-75, 95, 328, 357-360, 380 f. - der reinen praktischen Vernunft 215 f., 240,266-274,281-283, 376,380 - der reinen theoretischen Vernunft 2, 248, 266 f., 271-273,276 - Funktionen der Kritik 266 - negative 266-268,272,281, 376 - positive 266,271 f.
402
Sachregister
kritische Unterscheidung von Noumena und Phainomena 3 f., 17, 83,103,158 f., 184, 217, 235, 241 f., 244, 260, 326-331, 333,336 f., 340,357-366,368 f., 374
- analytische 133 - dialektische 133 f., 315 Optimismus 41 originarium s. Gut, höchstes
Materie (Inhalt) des sittlichen Willens (s. auch Dialektik der praktischen Vernunft; Gut, höchstes) 20, 35, 37, 39,185, 190 f., 310 f., 362 Mißverstand, empiristischer 238-240, 247253, 258, 264, 273-275, 354, 358 f., 361, 379 Möglichkeit des höchsten Gutes (s. auch Deduktion) 120-127, 137, 180, 203, 319, 340,349 - des Wie des höchsten Gutes 137, 340342,346,349 - naturkausale Möglichkeit 340-343,345 f. - Nicht-Unmöglichkeit 125, 325, 327, 328332,334,345,351 - Problem der Möglichkeit 164-169, 201203,319 - teleologische Erklärung s. Teleologie Möglichkeit, logische 139 Moral-sense-Ethik s. Ethik Moraltheologie (s. auch Postulat) 3,162,346, 350 f.
Parallelität (der Dialektik) von theoretischer und praktischer Vernunft 2, 44,58 f., 67 f., 79, 81-83, 99-104,195, 207, 214 f., 217 f., 222, 224, 226, 230, 232, 238, 244, 254, 258, 261, 263, 265-267, 269, 271-273, 281 f., 284,373,380 Paralogismus 253 f. perfectissimum s. Gut, höchstes Pessimismus 41 f., 88 Phainomena (s. auch kritische Unterscheidung) 232 f., 245,364 f. Phantast, phantastisch 6, 91, 291, 293, 298, 300 Postulat 3,41,65,92 f., 126 f., 216,352 - der Existenz Gottes 64, 88,110,126,177180,188,197,199, 224, 267, 287, 299-306, 309,316, 327, 329-331,340, 342-347, 349351,357,372,376 - der Freiheit 52,64 f., 126 - der göttlichen Gnade 50,52 f. - der Möglichkeit des höchsten Gutes 126,180 - der Seelenunsterblichkeit / des künftigen Lebens 50-53, 64, 88, 100, 126, 180, 187 f., 224, 287, 299-306, 309, 316, 337 f., 350 f. postulieren per thesin 304, 351 Praktisch-Bedingtes 100 f., 103, 217,219-222, 228 Praktisch-Unbedingtes 68,100,218-223,228, 262 principium diiudicationis 28,284,287 f., 291, 293 f., 298, 306-308 principium executionis 28, 190, 288, 293, 298,306-308,314,316 principium obligandi 296,322 principium obligans 296 f., 322 Prinzip des ausgeschlossenen Dritten 143 f. Prinzipienlehre, ethische - Entwicklung 3, 21, 24, 28, 284-289, 306309 - Revision 3, 178, 181, 224, 272, 284-287, 293,306-309,311 f., 318-322 Proportion von Tugend und Glückseligkeit (in Auswahl) 108-110,163-165
Narr 291 f., 299,306,315 f. Naturbegriff 112 f., 152, 154, 157, 168, 241, 289,339,370,378 f., 381 Naturgesetz, -kausalität, -mechanismus s. Kausalität Naturzweck 342-344 nexus (Verknüpfung) 113,117,122, 233 Nichts (nihil) 139,183-185, 268 non ens 184 Noumena (s. auch Ding an sich, kritische Unterscheidung) 116 f., 232-234, 245, 251,259,325,337,358,361-373,376,381 - negative Erweiterung der Noumena 366,369,373,377 f. - positive Erweiterung der Noumena 369-378,380 f. Objekt - der praktischen Vernunft s. Gut, höchstes - Objekt überhaupt 363 f. - transzendentales 363 Ontologie, rationalistische 365 f., 368 Opposition
ratio obligans s. principium obligans
Sachregister ratioánium - comutus 170,302 f. - crocodillinum 303 - crocodilus 303 - crypticum 209 f. - formale 210 Reich der Zwecke 155 Religion, religiös (s. auch Postulat) 51,56,63, 90, 164, 182, 278, 287 f., 296, 304-306, 309,312,317,344,349 f. Revision s. Prinzipienlehre, ethische Schein (s. auch Täuschung) - dialektischer, natürlicher, transzendentaler, unvermeidlicher 9, 44, 72, 79,106, 108,114,134, 215, 218, 221,229,240-242, 253,255,269 - logischer 108,114 Schelm 290 Schluß s. Dilemma, Fehlschluß, ratiocinium, Syllogismus, Teleologie, Vemunftschluß Selbstgenügsamkeit 338 Selbstliebe 34-36,39,64,145,283 Selbstwiderspruch der reinen praktischen Vernunft s. Widerspruch Selbstzufriedenheit 18 f., 21, 47, 88 f., 112, 158,353,355 f. Seligkeit 43 f., 333,336,338 sinnlich s. Phainomena Sittengesetz - als Form der Glückseligkeit 284 f. - als Klugheitsregel 155 - als Regel der Einstimmigkeit 118, 153, 294 - Bedingungen der Verbindlichkeit 181, 188, 191 f., 224 f., 288 f., 292-298, 304308,310 f., 313,315 f., 319 f., 321 - Falschheit (Ungültigkeit) (s. auch Antinomie der praktischen Vernunft) 84, 87 f., 91 f., 181, 183, 185, 187, 189 f., 192 f., 195, 208, 273, 282, 286, 295 f., 313, 320323 Skeptiker 170,178 Skeptizismus, skeptisch 42,254,266,268 - skeptische Methode 24,42,268, 273 Sollen s. Können Stoa, Stoiker, stoisch 18, 26-31, 33, 47, 60, 105,110-114,122,127,145-147,161, 232, 289,292,352 f., 355 f., Subreption - metaphysische 248
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- des praktischen Bewußtseins 18 f., 32 f., 55,94,352-354 substantia phaenomenon 248, 366 Substrat, übersinnliches 10,116,377,379 Supposition per hypothesin 304,351 supremum s. Gut, höchstes Syllogismus (s. auch Dilemma, ratiocinium, Vemunftschluß) 235 Symmetrie, architektonische 3, 58, 212 f., 261,281 f. Synthesis 363 f. - logische Funktion 232,247,363 f. - progressive 229 - regressive 230 synthetisch s. Urteil, Verbindung Täuschung, dialektische (s. auch Schein, Subreption) 102,108,215-217 - in der Antinomie der praktischen Vernunft 244-248 Teleologie, teleologisch 161 f., 261,335 - moralische 155,162,335 f., 345,375,377 - teleologische Erklärung 341-344,347,349 - teleologischer Schluß 344 f., 349 Thesis s. Antinomie der praktischen Vernunft Tor 291 f. Totalität (s. auch Unbedingtes) 75 f., 78 f., 99-103, 105-107, 195, 205-207, 211, 214223, 225-230, 239, 254, 257, 261-263, 284, 318,335 Transzendentalphilosophie 3, 5, 241-243, 251, 255-257, 259, 263-266, 271, 281 f., 331,357-360,365,368,374 f., 378 Triebfeder, sittliche (s. auch Achtung fürs moralische Gesetz, principium executionis) 3, 18, 21, 28, 39, 93, 160, 181, 188190, 224 f., 284 f., 288 f., 292 f., 305-310, 312,354 Tugend (in Auswahl) (s. auch Gesinnung) 107, 110-112, 141 f., 221, 260, 328, 339, 358 - formale, noumenale Qualität 107, 128, 149,151 f., 163,165,167,241,362, 369 f. übersinnlich s. Noumena ultra posse nemo obligatur (s. auch impossibilium ...) 182,237 Umkehrung der Kausalrelation 118, 129, 132,134 f., 138,140 unbedingt, Unbedingtes (s. auch PraktischUnbedingtes, Zweideutigkeit) 2,10, 44,
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Sachregister
71, 75-79, 83, 95, 99-101, 103, 214-220, 226,229,239 f., 258 f., 262 f. Unding 180,184 Unsterblichkeit der Seele s. Postulat Ursache (s. auch Kausalität) - Bewegursache 61, 71, 132, 134-136, 140 f., 147 - Wirkursache 61,71,135 f., 140,142 Urteil - analytisches 62,119,219 f. - disjunktives (s. auch Disjunktion) 129 f., 139 f., 144,169 - hypothetisches 116, 124, 129, 169, 171, 234 - kategorisches 116,234 - synthetisches 62, 119-121, 219 f., 255, 266,271,274 Urteilskraft (s. auch Antinomie, Dialektik) 10,113,377-379 - bestimmende 344 f. - reflektierende 343-345, 349 f. Verbindlichkeit s. Sittengesetz Verbindung (s. auch conjunctio) - Einteilung 110,113,128,140,226,231 Verbindung, analytische - von Bedingtem und Bedingung 219 f. - von Ding an sich und Erscheinung 367 - von Heiligkeit und Seligkeit 43,338 - von Tugend und Glückseligkeit 2, 28, 43, 113, 127 f., 130, 137, 145, 147, 150, 232,274,353 Verbindung, synthetische - von Bedingtem und Bedingung 219 f. - von Gesetz und höchstem Gut 189, 274 - von Noumena und Phainomena 113, 231-234,259,261,367 - von Tugend und Glückseligkeit 6,15,18 f., 21,28,30 f., 43 f., 55,60 f., 65 f., 69, 73, 77, 81,85, 87,94,98,110,113,115 f., 118, 120, 122, 127-130, 133 f., 136, 138, 141143, 145, 147 f., 150, 165, 167, 169, 171, 173, 176, 196, 202, 204, 206, 274, 328 f., 341,353,369
Verheißung (s. auch Belohnung) 113, 296, 305 f., 312,317 Vernunftglaube 178,180,350 Vernunftschluß - dialektischer 2, 7, 71 f., 103, 215, 218 f., 221-224,226-230,237-239, 255, 262,269 - versteckter, verstümmelter s. ratiociniuffl crypticum Verstand, architektonischer s. intellectus archetypus Verstandesbegriff s. Kategorie Verstandeswelt s. Noumena Vollkommenheit, eigene 121,149, 151, 166, 187 Vollkommenheitsethik s. Ethik Vollständigkeit (s. auch Disjunktion) - analytische 133 f., 138,168,170 Wahl, freie 346,350 f. Wechselwirkung s. Gemeinschaft Welt, intelligible s. Ding an sich, Noumena Widerspruch (s. auch kontradiktorisch) 2,7, 9, 22, 39,42,46,48, 50,53-56, 91, 94,101 f., 104,130,133 f., 139,183-185, 200, 215 f., 219 f., 233, 240, 254, 256 f., 262, 268 f., 277, 298, 301, 317, 322, 328-330, 342, 346 f., 349 f., 357,365,367,370,372 f., 376 - der praktischen Vernunft mit ihr selbst 2,50 f., 84,101,199, 215 f., 263, 266, 281, 330,349 f. Widerspruchsprinzip 42,133,139,365,367 Wille - böser 283 - guter s. Tugend Wirkursache s. Ursache Zirkel, zirkulär 31 f., 109,157, 221, 243, 306, 310,315,353 zufällig s. kontingent Zweck, Zweckmäßigkeit s. Endzweck, Teleologie Zweideutigkeit - des Höchsten 76, 78-80,107 f. - des Unbedingten 75-79, 83,95