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German Pages [249] Year 2017
Die Botschaft des Neuen Testaments Herausgegeben von Walter Klaiber
Dietrich Rusam Der erste, zweite und dritte Johannesbrief
Vandenhoeck & Ruprecht
Dietrich Rusam
Der erste, zweite und dritte Johannesbrief
1. Auflage 2018
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978–3–7887–3276–9 Weitere Angaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de © 2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D – 37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlaggestaltung: Grafikbüro Sonnhüter, www.sonnhueter.com DTP: Volker Hampel, Neukirchen-Vluyn
Vorwort
»Gott ist die Liebe« (1Joh 4,8.16). Mit dieser Aussage hat der Verfasser des ersten Johannesbriefs sein Schreiben in der Liste der am meisten gelesenen Schriften des Neuen Testaments ganz weit nach vorne katapultiert. Er bringt damit auf den Punkt, was angebahnt worden ist durch den Jesus, wie ihn die ersten drei Evangelien darstellen. Die Nähe des Reiches Gottes (Mk 1,15; Mt 4,17; Lk 4,43) versteht er als die Botschaft von dem Gott der Liebe. Diese Wesensbestimmung Gottes hat Folgen für die Glaubenden: Ihre Liebe untereinander und zu Gott, ihrem Vater, schließt die Liebe zu den Gegnern nicht aus (vgl. 1Joh 3,11–13). Die meisten Kommentare zu den Johannesbriefen deuten die beiden Verse, in denen das Gekommensein bzw. das Kommen des Christus im Fleisch betont wird (1Joh 4,2; 2Joh 7), als Hinweis auf einen innergemeindlichen Konflikt: Sowohl der erste als auch der zweite Johannesbrief richtet sich – so vermutet man – gegen Christen, die der Meinung waren, dass der Gottessohn Jesus nur scheinbar einen menschlichen Leib gehabt habe. In 1Joh 4,2 und 2Joh 7 wäre dann eine kognitive Satzwahrheit formuliert, die sich gegen Christen richtet, die aus Sicht der jeweiligen Verfasser falsch glauben. Der vorliegende Kommentar zeigt jedoch, dass die Johannesbriefe sich nirgendwo gegen eine wie immer geartete falsche Konfession wenden, sondern immer wieder zu dem einen Bekenntnis zu Jesus als dem Christus und Gottessohn aufrufen. Dieses macht einen Christen zum Christen und zieht eine dementsprechende Existenzorientierung und Eingliederung in die Bekenntnisgemeinschaft nach sich. Doch aufgrund staatlichen Drucks sind die christlichen Gemeinden zur Zeit der Abfassung der Briefe massiv bedroht. Deshalb wird immer wieder die Notwendigkeit des Bekenntnisses zu Jesus als dem Christus betont (1Joh 2,23; 4,2f.15; 2Joh 7). Sowohl der erste als auch der zweite Johannesbrief will die in ihrer Existenz gefährdeten und verängstigten Gemeinden stabilisieren und einer Fluchtbewegung entgegenwirken, indem beide Schreiben – trotz augenscheinlichen Unheils – auf die bereits gegenwärtige Existenz der Glaubenden im Heilsbereich Gottes hinweisen. Gott ist es, der aller äußeren Gefahr zum Trotz die Identität der Christusgläubigen sichert. Deshalb ist Glaube für die Johannesbriefe kein Für-wahrHalten einer bestimmten Existenzform Jesu (etwa dass er im
VI
Vorwort
Fleisch gekommen sei), sondern das tiefe Vertrauen in den Gott, der die Liebe ist und der durch Christus die Glaubenden zu seinen Kindern gemacht hat (1Joh 3,1). Im dritten Johannesbrief geht es sodann um ein innergemeindliches Problem, das seinen Ausgangspunkt in den Verhaltensratschlägen des zweiten Johannesbriefs (2Joh 9–11) genommen hatte. Der angesprochene Diotrephes handelt nach Ansicht des Schreibens falsch: Er will nämlich der Erste sein und erkennt den Verfasser des Briefes sowie die von ihm Abgesandten nicht an (3Joh 9). So zeigt sich hier, wie in einer Gemeinschaft, in der man sich untereinander liebt, mit einem derartigen Problem umgegangen werden kann und soll. Viele aufrechte Christinnen und Christen in der früheren DDR haben Zurücksetzungen, Spott und sogar Haft ertragen müssen, unter deren Folgen sie oft bis heute leiden. Ihnen und den bis heute weltweit über 200 Mio. Schwestern und Brüdern in Christus, die wegen ihres Glaubens benachteiligt, vertrieben, verfolgt, inhaftiert und sogar mit dem Tod bedroht werden, sei dieses Buch gewidmet – verbunden mit der Hoffnung, dass unsere Kirchen und Gemeinden immer wieder neue Wege finden, sich mit ihnen solidarisch zu zeigen, und in der Gewissheit, dass ihre Existenz als Gottes geliebte Kinder im Glauben an Christus gesichert bleibt, was immer geschieht. Anlässlich der Veröffentlichung des Kommentars danke ich ganz herzlich besonders Bischof Dr. Walter Klaiber, der mich durch seine Einladung, diesen Kommentar auszuarbeiten, wieder an meine exegetischen Anfänge zurückgeführt hat. Er hat mich auf seine unnachahmliche, liebenswürdige und freundliche Art und Weise vor vielen Fehlern bewahrt. Seine Anregungen waren stets wohlbegründet und nachvollziehbar. Ebenso danke ich Herrn Dr. Volker Hampel, der für die Lektorierung dieses Kommentars und die Erstellung der Druckvorlage seinen wohlverdienten Ruhestand gewissermaßen aufgeschoben hat. Es ist mir erneut eine große Freude gewesen, mit ihm zusammenarbeiten zu dürfen. Augenzwinkernd hat Reinhard Mey in einem Lied beschrieben, wie seine Familie auf ihn reagiert hat, als er nach einem Jahr Arbeit am neuen Album in den Kreis seiner Familie zurückkehrte: »Aber statt der Jubelschreie bei meinem Auftauchen hör‘ ich nur ein Stöhnen: ›Also, wir könn’n dich gar nicht brauchen‹.« Umso mehr danke ich meinen Kindern Franziska und Christoph, aber ganz besonders meiner Frau Christiane, dass sie mich stets unterstützt, meine Abwesenheit während der Ausarbeitungszeit des Kommentars immer wieder akzeptiert und mich nach Fertigstellung des Buches fröhlich und dankbar wieder aufgenommen haben. Bayreuth, im Oktober 2017
Dietrich Rusam
Inhalt
Vorwort .............................................................................
V
Der erste Johannesbrief .......................................................
1
Einleitung ...........................................................................
3
Die Auslegung ....................................................................
9
1,1–4
Das zentrale Thema: Vom »Wort des Lebens«
9
1,5 – 2,12
Erster Hauptteil Leben im Licht und Existenz in der Finsternis
23
1,5
Überschrift: Gott ist Licht ..............................
23
1,6 – 2,2
Finsternis und Sünde ......................................
25
2,3–12
Leben im Licht und Halten der Gebote ..........
33
2,13–14
Zwischenruf: Ziel des Schreibens ....................
42
2,15–28 2,15–19
Zweiter Hauptteil Die Welt zwischen Christus und Anti-Christus Gefahren für die Gemeinde ............................
48 48
2,20–28
Bewahrung der Gemeinde ..............................
54
2,29 – 3,22
Dritter Hauptteil Die Kinder Gottes ..........................................
63
2,29 – 3,2
Überschrift: Wir sind Gottes Kinder ...............
63
3,3–9
Gotteskindschaft und Sünde ..........................
68
3,10–18
Gotteskindschaft und Liebe bzw. Hass ...........
74
3,19–22
Das Erkennen der Kinder Gottes ....................
83
3,23 – 4,6
Vierter Hauptteil Das Gebot, an Jesus Christus zu glauben ........
89
Gottes Gebot: Glaube an Jesus Christus und Bruderliebe ....................................................
89
3,23
VIII
Inhalt
3,24 – 4,3
Erkennbarkeit des wahren Glaubens ..............
91
4,4–6
Glaube und Welt ............................................
97
4,7 – 5,3
Fünfter Hauptteil Das Gebot, einander zu lieben ........................
100
4,7–8
Überschrift: Gott ist Liebe ..............................
100
4,9–12
Gottes Liebe und menschliche Liebe ...............
102
4,13–15
Einschub: Geistgabe und Bekenntnis des Glaubens ...............................................................
105
Wiederaufnahme der Überschrift: Gott ist Liebe ...................................................................
107
Das Liebesgebot in einer staatlichen Gerichtsverhandlung ...................................................
108
5,1–3
Liebesgebot und Gotteskindschaft .................
113
5,4–13
Sechster Hauptteil Die Bedeutung des Glaubens ..........................
119
5,4–5
Der Sieg über die Welt ...................................
119
5,6–10
Die Glaubenszeugen .......................................
120
5,11–13
Die Gewissheit des ewigen Lebens ..................
120
5,14–21
Schlussteil Die Praxis des Glaubens .................................
127
5,14–15
Gebetserhörung .............................................
127
5,16–18
Die Sünde (nicht) zum Tode ..........................
129
5,19–20
Die Situation der Gemeinde in der Welt ........
132
5,21
Abschließende Ermahnung .............................
134
D ie Bot sch a f t d es erst e n Joh ann esbrie fs ...................
137
I. Die Situation .................................................................
137
1. Verhältnisbestimmung Johannesevangelium – erster Johannesbrief .........................................................................
137
2. Die christliche Gemeinde – gefährdet von staatlichen Maßnahmen ........................................................................
138
4,16 4,17–21
Inhalt
IX
3. Die schwierige Lage der jüdischen Gemeinden im Römischen Reich nach 70 n.Chr. und deren Auswirkung auf die christlichen Gemeinden .......................................................
141
4. Adressaten und Absender .............................................
143
II. Die Antwort des Johannes ...........................................
144
1. Die juristische Begrifflichkeit ........................................
144
2. Ermahnung zum offenen Bekenntnis vor weltlichen Gerichten ................................................................................
144
3. Die Rechtsprechung vor Gott .......................................
146
4. Das Gebot Gottes .........................................................
147
5. Das Heil der Glaubenden ..............................................
150
6. Das Problem der Unanschaulichkeit des Heils – Erfahrungen des Widerspruchs ....................................................
153
7. Die bleibende Bedeutung des ersten Johannesbriefs......... 155 E xkurse Gnosis ................................................................................
5
Der Tod Jesu im Johannesevangelium ................................
15
Die Gegner im ersten Johannesbrief ...................................
39
Der »Böse« – Kaiser und Teufel .........................................
44
Die Glaubenden als Kinder Gottes ......................................
64
Das Beispiel Kains ..............................................................
76
Glaube bei Johannes ...........................................................
89
Die »Durchdringungsformeln« im ersten Johannesbrief ......
91
Die Christusbekenntnisse im ersten Johannesbrief ..............
95
Die Lage der Christen zur Zeit des Statthalters Plinius (ca. 61–120 n.Chr.) .................................. ................................
140
X
Inhalt
Der zweite Johannesbrief ....................................................
157
Einleitung ...........................................................................
159
Die Auslegung ....................................................................
165
1–3
Das Vorwort ..................................................
165
4
Eingangsteil (Proömium) ...............................
173
5–11
Hauptteil: Das Problem der Verführung zum Abfall ............................................................
175
Theologische Verständigung über die Grundlage: Das Liebesgebot ....................................
175
7–8
Die Gefahr der Verführung ...........................
178
9
Erkennbarkeit der Verführer .........................
181
10–11
Umgang mit den Verführern .........................
183
12–13
Briefschluss ....................................................
186
Die Botschaft des zweiten Johannesbriefs ..........................
191
I. Der Bezug zum ersten Johannesbrief ..............................
191
1. Gemeinsamkeiten ..........................................................
191
2. Unterschiede ..................................................................
191
II. Die Situation ................................................................
192
III. Adressaten und Absender ............................................
193
IV. Gottes Gebot ...............................................................
193
V. Die Wahrheit ................................................................
194
VI. Der Umgang mit den Verführern ................................
195
VII. Die bleibende Bedeutung des zweiten Johannesbriefs
196
IV. Gottes Gebot ...............................................................
193
5–6
XI
Inhalt
Der dritte Johannesbrief .....................................................
199
Einleitung ...........................................................................
201
Die Auslegung ....................................................................
203
1
Das Vorwort ..................................................
203
2–4
Eingangsteil (Proömium) ...............................
204
5–12
Hauptteil: Das Problem der Aufnahme der Brüder ...........................................................
207
5–8
Das Lob für Gaius ..........................................
207
9–10
Die Kritik an Diotrephes ................................
211
11–12
Abschließende Mahnung und Empfehlung für Demetrius ......................................................
215
13–15
Briefschluss ....................................................
219
13–14
Besuchsabsicht ................................................
219
15
Schlussgruß ....................................................
219
Die Botschaft des dritten Johannesbriefs – eine Zusammenfassung ........................................................................
223
I.
Der Bezug zum zweiten Johannesbrief? ......................
223
II.
Der Aufbau der frühchristlichen Ortsgemeinden? .......
224
III. Die Situation ..............................................................
224
IV. Die Brüder .................................................................
225
Adressaten und Absender ............................................
226
VI. Die Wahrheit ..............................................................
227
VII. Die bleibende Botschaft des dritten Johannesbriefs ....
227
Weiterführende Literatur ...................................................
229
Abkürzungen .....................................................................
231
Register wichtiger Begriffe .................................................
235
V.
Der erste Johannesbrief
Einleitung
Der erste der drei Johannesbriefe dürfte zu den einflussreichsten Schriften des Neuen Testaments gehören. In ihm finden sich grundlegende Aussagen neutestamentlicher Theologie. So hat z.B. jede Darstellung neutestamentlicher Ethik vom Doppelgebot der Liebe auszugehen, das nach übereinstimmendem Zeugnis der Synoptiker von Jesus selbst als das höchste bezeichnet wurde (Mt 22, 35–40; Mk 12,28–30; Lk 10,25–28). Und wenn es stimmt, dass dieses die zentrale Aussage jesuanischer Ethik ist, dann scheint der Verfasser des ersten Johannesbriefs von der Ethik Jesu sehr viel verstanden zu haben. Von den 143 Vorkommen des in diesem Zusammenhang verwendeten griechischen Verbs (agapân) finden sich 36 Belege im Johannesevangelium (21 Kapitel) und 31 im wesentlich kürzeren ersten Johannesbrief (5 Kapitel). Das dazugehörige Nomen »Liebe« taucht im gesamten Neuen Testament insgesamt 116-mal auf, davon allein im ersten Johannesbrief 18-mal, und insgesamt sechsmal redet der Verfasser seine Adressaten mit »Geliebte« an. Ob tatsächlich – wie zuweilen behauptet wird – der erste Johannesbrief die meistgelesene Schrift des Neuen Testaments ist, kann aufgrund seines nicht sofort einsichtigen, anscheinend kreisförmigen Gedankengangs bezweifelt werden, aber es ist der erste Johannesbrief, der das christliche Gottesbild mit seiner zweimal erwähnten These Gott ist Liebe (1Joh 4,8.16) auf den Punkt bringt. Der erste Johannesbrief gehört innerhalb der christlichen Bibel in die Gruppe der »katholischen Briefe«. Diese Bezeichnung hat nichts mit der Konfession »römisch-katholisch« zu tun, sondern lenkt zurück auf den ursprünglichen Sinn von »katholisch«, nämlich »allumfassend«. Mit anderen Worten: Bei den neutestamentlichen Briefen, die als »katholisch« bezeichnet werden (die Briefe des Jakobus, des Petrus, des Johannes und des Judas), ging man – eben weil sie keine konkrete Adressatengemeinde nennen – davon aus, dass sie nicht an eine konkrete Gemeinde gerichtet sind, sondern an alle christlichen Gemeinden der bewohnten Welt (der Ökumene). In der Tat tut sich die Forschung schwer bei der Nennung konkreter Adressatengemeinden des ersten Johannesbriefs. Die inhaltliche Nähe zu Aussagen des Johannesevangeliums lässt darauf schließen, dass die Gemeinden, die die Verfasser der beiden Schriften vor Au-
4
Einleitung
gen hatten, sich auch örtlich nahe – wenn nicht sogar identisch – waren. Die einzelnen Aussagen lassen eine Gemeinde vermuten, in der sowohl ehemalige Juden (sog. »Judenchristen«) als auch ehemalige Heiden (sog. »Heidenchristen«) vertreten waren. In der Forschung wird in diesem Zusammenhang die Stadt Ephesus als Adressat genannt, aber diese Ortsbestimmung ist im Grunde nur mit Hilfe der Johannesoffenbarung wahrscheinlich zu machen (vgl. unten S. 143). Im ersten Johannesbrief fehlt aber nicht nur der Adressat, sondern auch der Absender. Offenbar will er sich als Augenzeuge des irdischen Jesus darstellen (1Joh 1,1.3) und womöglich sogar mit dem Verfasser des Johannesevangeliums, vorgeblich dem Lieblingsjünger (Joh 21,24), identifiziert werden. Die Behauptung aber, dass das Johannesevangelium das Zeugnis eines Jesusjüngers ist, darf durch die historisch-kritische Forschung als widerlegt gelten. Deshalb beschäftigt die heutige wissenschaftliche Auslegung vor allem die Frage, ob der Verfasser des Johannesevangeliums und des ersten Johannesbriefs derselbe ist. Diese Frage wird nur noch selten von der Forschung bejaht. Inzwischen scheint sich die Überzeugung durchzusetzen, dass wir es mit zwei unterschiedlichen, aber theologisch eng miteinander verbundenen Verfassern zu tun haben. Voraussetzung hierfür ist – angesichts der deutlichen Bezüge der beiden Schriften untereinander –, dass es eine »johanneische Schule« gab, in der die Tradition, wie sie das Johannesevangelium vorgab, weitergegeben wurde. Das heißt: Der Autor des ersten Johannesbriefs lebt in der theologischen Vorstellungswelt des Johannesevangeliums und übernimmt aus ihr Gedanken und Begriffe, um sie für seine Situation gegebenenfalls zu aktualisieren. Wenn in der vorliegenden Auslegung der Verfasser des Schreibens immer wieder mit »Johannes« bezeichnet wird, so ist dies der Tradition geschuldet – im Wissen, dass es sich nicht um einen Jünger des irdischen Jesus handeln kann. Auch im zweiten und im dritten Johannesbrief gibt sich der Verfasser nicht zu erkennen; allerdings bezeichnet er sich dort als Ältester und macht damit deutlich, dass seine Autorität der eines vorgeblichen Augenzeugen nachgeordnet ist. Deshalb ist davon auszugehen, dass die beiden kleinen Johannesbriefe von einem anderen Verfasser stammen als der erste. Abgesehen vom Fehlen eines Absenders und eines Adressaten weist die Schrift auch keine Ortsangabe auf, sie nennt keine ausdrückliche Zielsetzung, und niemand wird am Schluss gegrüßt. Somit fehlen die klassischen Kennzeichen eines Briefs. Von daher hat man zu Recht immer wieder die Frage gestellt, ob man mit dem ersten Johannesbrief überhaupt einen Brief vor sich hat. Die Vorschläge, die Gattung dieser Schrift zu benennen, sind vielfältig: Sie reichen
Einleitung
5
von einem »weisheitlichen Gelegenheitstraktat« über »Begleitschreiben« oder »Lesehilfe zum Johannesevangelium« bis hin zur »Mahnrede für Neubekehrte«. Zuweilen wird er auch als »Streitschrift« bezeichnet. Tatsächlich lässt es der erste Johannesbrief an Deutlichkeit nicht fehlen, wenn er beispielsweise seine(n) Gegner als »Antichristen« bezeichnet (1Joh 2,18.22; 4,3; vgl. 2Joh 7). Allerdings sind – wie etwa die direkte Anrede »Geliebte« (1Joh 2,7; 3,2.21; 4,1.7.11) – durchaus Elemente der brieflichen Gattung im ersten Johannesbrief zu beobachten. Und zugleich ist die theologische Nähe zum Johannesevangelium auf Schritt und Tritt deutlich. Insofern haben alle Vorschläge zur Bestimmung der Eigenart des dieses Schreibens etwas für sich. Was den Grund für die Abfassung des ersten Johannesbriefs angeht, ist die Forschung sich wenigstens formal einig: Es geht um die Abwehr von Gegnern und um die Stärkung der Binnenstabilität der Gemeinde(n). Uneins ist man sich aber in Bezug auf die Bestimmung der Menschengruppe, gegen die sich die Schrift richtet. (1) Sehr häufig werden die Gegner als »gnostisierende Christen« bezeichnet. Exkurs: »Gnosis«: Die »Gnosis« ist eine in der Spätantike in Grundzügen bereits vorchristlich belegte, durch die platonische Philosophie beeinflusste, allerdings nicht unbedingt einheitliche Erlösungslehre, deren Grundgedanken auch in das Christentum eingedrungen sind. Ihre Hauptmerkmale sind: (1) Man unterscheidet zwischen einem wahren, transzendenten und guten Gott und einem bösen, menschenfeindlichen Gott, der die Welt erschaffen hat – in der christlichen Form der Gnosis wird dieser Gott gerne mit dem Gott des Alten Testaments identifiziert. (2) Dieser böse Gott ist der eigentliche Herrscher über die Welt und die Menschen. (3) Seiner wahren Natur nach ist der Mensch allerdings wesentlich Gott gleich, gehört also zu dem guten Gott. In seinem Leib ist er aber »gefangen« und damit in dieser Welt dem bösen Schöpfergott unterworfen. In der Regel »vergisst« die göttliche Seele des Menschen, geblendet durch das Materielle, ihren göttlichen Ursprung. (4) Hilfe bietet allein die rettende Erkenntnis (griech. »Gnosis«), die dem Menschen Einsicht in seine wahre Natur ermöglicht. Was die christliche Ausprägung der Gnosis betrifft, kommt in der Regel noch (5) die Vorstellung hinzu, dass der Offenbarer der göttlichen Erkenntnis, also Jesus – vom guten Gott gesandt –, nicht einen echten menschlichen Leib gehabt habe, sondern nur einen Scheinleib. Von daher wird diese christologische Anschauung auch gerne als »Doketismus« bezeichnet (griech. dokein – »scheinen, gleichen«). Der menschliche Leib (das Fleisch) gehört ja zur Schöpfung des bösen Gottes, und es ist für Gnostiker nicht vorstellbar, dass dieser Jesus tatsächlich einen erschaffenen fleischlichen Leib angenommen habe. Diese Grundzüge christlich-
6
Einleitung
gnostischer Theologie sind aus dem Werk »Gegen die Häresien« von Irenäus von Lyon (um 180 n.Chr.) erschließbar. Als originales gnostisches Dokument gilt beispielsweise das Evangelium nach Maria Magdalena (ebenfalls aus der 2. Hälfte des 2. Jh.s n.Chr.).
In der Tat könnte man vermuten, dass sich die Johannesbriefe gegen gnostischen Einfluss wenden, wenn in 1Joh 4,2 und 2Joh 7 ausdrücklich betont wird, dass Jesus Christus »in das Fleisch« gekommen sei. In diesem Zusammenhang wird angenommen, dass sich die Gegner des ersten Johannesbriefs auch auf das bereits existierende Johannesevangelium berufen hätten, das einen ähnlichen Dualismus vorauszusetzen scheint; von daher sei die Schärfe, mit der Johannes gegen sie vorgeht, zu erklären. Fraglich ist allerdings, ob tatsächlich bereits zur Abfassung der Johannesbriefe gnostische Gedanken existiert haben und Einfluss auf das Bekenntnis zu Jesus genommen hat. (2) Deshalb wird in der Forschung auch vorgeschlagen, die Konfrontation mit den Gegnern des ersten Johannesbriefs als ein Phänomen innerhalb der johanneischen Gemeinschaft zu interpretieren, da zufolge 1Joh 2,19 die Gegner »von uns ausgegangen« (1Joh 2,19) sind. Besagte Gegner würden die theologische Bedeutung des Erdenlebens und Sterbens Jesu schlicht leugnen. Zentrales Heilsereignis sei für sie die Inkarnation, das Kommen des Erlösers Jesus, wobei sie als Zeitpunkt der Inkarnation die Taufe Jesu behauptet hätten (dagegen würde sich 1Joh 5,6f wenden). Weil die vermuteten Gegner des ersten Johannesbriefs sich (ähnlich wie die Gnostiker) auf das Johannesevangelium berufen hätten, bezeichnet man sie auch als »Ultra-Johanneer« (Philipp Vielhauer). Problematisch an dieser These ist, dass man außerhalb der Johannesbriefe keinerlei (schriftliche) Spuren einer derartigen theologischen Strömung nachweisen kann. Deshalb muss behauptet werden: Die Konfrontation war ein Streit, der einzig und allein innerhalb der johanneischen Gemeinde(n) stattgefunden hat. Dies erscheint recht unwahrscheinlich. Generell gilt bei beiden dargestellten Thesen, dass man sich bei der Interpretation von Stellen wie 1Joh 2,19; 3,17; 4,2f und 5,6 davor hüten sollte, jede Aussage spiegelbildlich zu lesen, d.h. aus jeder These auf eine Behauptung der Gegner zu schließen. Da der Konflikt nur einseitig beleuchtet ist, ist der Versuch, das theologische Profil der Gegner herauszuarbeiten, mit vielen Fragezeichen behaftet. (3) Von daher ist zu vermuten, die Gegner des ersten Johannesbriefs könnten Juden oder Judenchristen sein. Die Besonderheit dieser Hypothese liegt daran, dass es in diesem Fall in den Johan-
Einleitung
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nesbriefen nicht um die Frage der Recht- oder Falschgläubigkeit (»Häresie«) geht, sondern um das Christusbekenntnis als Ganzes und die Frage des Abfalls von Christus und die damit verbundene Distanzierung von der christlichen Gemeinde. Wenn beispielsweise in 1Joh 2,23 festgestellt wird, dass nur derjenige »den Vater hat«, der auch »den Sohn bekennt«, so spricht dies für eine Konfrontation mit dem Judentum bzw. für eine Auseinandersetzung mit Judenchristen, die das offene Bekenntnis zu Jesus und damit zur christlichen Gemeinde scheuen und möglicherweise in die jüdische Gemeinde zurückkehren. Dass der erste Johannesbrief tatsächlich zu einem mutigen Christusbekenntnis und zu einem Verbleib in der christlichen Gemeinde aufrufen will, gilt es in der Auslegung zu zeigen. In der Forschung umstritten ist auch das Verhältnis der johanneischen Schriften untereinander. Hier wird im Grunde jede mögliche Zuordnung vertreten. Beispielsweise ist Udo Schnelle in seinem Kommentar der Meinung, der zweite und der dritte Johannesbrief seien als erste um 90 n.Chr. entstanden, dann der erste Johannesbrief (um 95 n.Chr.) und schließlich das Johannesevangelium (zwischen 100 und 110 n.Chr.). Sein Hauptargument ist hierbei, dass die johanneische Theologie immer ausdifferenzierter geworden und es nicht plausibel sei, dass das theologische Niveau vom Johannesevangelium über den ersten Johannesbrief bis zum dritten immer weiter gesunken sei. Es ist jedoch nicht damit zu rechnen, dass sich diese These durchsetzt. Vielmehr geht nach wie vor die weit überwiegende Mehrzahl der Forscher davon aus, dass das Johannesevangelium zeitlich am Anfang der johanneischen Schriften steht und insofern die Grundlage für die johanneische Tradition bildet (um 100 n.Chr.), wobei die Johannesbriefe sich innerhalb der folgenden 10 Jahre anschließen – wahrscheinlich entspricht dabei auch die Nummerierung der zeitlichen Reihenfolge der Entstehung. Zwar wird nirgendwo im ersten Johannesbrief das Johannesevangelium zitiert, aber dennoch ist die Parallelität vieler theologischer Überzeugungen überdeutlich, sodass davon ausgegangen werden muss, dass die Johannesbriefe die Existenz des Evangeliums voraussetzen. Teilweise scheint der erste Johannesbrief die Kenntnis des Johannesevangeliums direkt zu verlangen. So wird z.B. in 1Joh 2,6 auf das vorbildhafte Leben Jesu verwiesen. Für die Auslegung bedeutet das: Die Texte der beiden Schriften beziehen sich auf vielfältige Art und Weise aufeinander – man vergleiche nur die beiden Prologe (Joh 1,1–18 und 1Joh 1–4). Der Züricher Neutestamentler Jean Zumstein hat in diesem Zusammenhang den Begriff »Relecture« in die exegetische Diskussion eingebracht. Seiner Meinung
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Einleitung
nach werden im ersten Johannesbrief theologische Vorstellungen des Johannesevangeliums aufgenommen und neu interpretiert bzw. wird die theologische Tradition des Johannesevangeliums neu ausgerichtet. Dies bedeutet für die Auslegung des ersten Johannesbriefs, dass sie auf dem Hintergrund des Johannesevangeliums zu erfolgen hat. Ein grundlegendes Problem des ersten Johannesbriefs ist dessen Aufbau, der nicht einem normalen Briefaufbau (Adressen- und Absenderangabe, Danksagung, Darlegung der Glaubensüberzeugungen, Ermahnungen, Schlussgrüße) entspricht. Stattdessen sind eher kreisförmige Denkbewegungen festzustellen. Der Verfasser kommt auf ein Thema zu sprechen, auf welches er später – aus anderer Richtung – wieder Bezug nimmt. Tatsächlich finden sich in keinem anderen neutestamentlichen Werk so viele gleichförmige Vorstellungen. Hierbei wird ein Gedanke meist recht ausführlich entfaltet; dies führt den Verfasser dann zu einem Stichwort, das er in einem weiteren Gedankengang neu darlegt. Von daher sind immer wieder »Scharnierverse« zu erkennen, die mit Hilfe eines Stichworts die vorangegangene Argumentation mit der folgenden verbinden. Seine beiden Hauptanliegen, auf die aus unterschiedlichen Richtungen immer wieder neu Bezug genommen wird, sind ausgehend von 1Joh 3,23 das Gebot der geschwisterlichen Liebe (im vorliegenden Gliederungsvorschlag: dritter und fünfter Hauptteil) und der Glaube an Jesus Christus (vierter und sechster Hauptteil). Was die Forschung angeht, ist es in letzter Zeit stiller geworden um die Johannesbriefe. Zwar wurde die eine oder andere neuere Kommentierung gewagt, aber wissenschaftliche Arbeiten über einzelne Probleme sind kaum erschienen. Dabei haben in vielen Punkten die Johannesbriefe bleibende Bedeutung im Hinblick auf Fragen wie: Welches theologische Profil und Selbstverständnis haben christliche Gemeinden in einer nichtchristlichen oder zunehmend nichtchristlicher werdenden Umwelt? Wie verhalten sich Christen, die aufgrund ihres christlichen Glaubens in ihrer Existenz gefährdet sind? Was gibt ihnen Hoffnung und Mut? Wie geht die christliche Gemeinde mit den Menschen um, die sich von ihr distanzieren? Was bedeutet die Forderung, einander zu lieben, konkret? Wie kann gerade bei innergemeindlichen Differenzen die Überzeugung, dass das Wesen des christlichen Gottes die Liebe ist, Gestalt gewinnen? Auch wenn der vorliegende Kommentar nicht alle diese Fragen beantworten kann, so will er doch Impulse zur ihrer Beantwortung geben und die Aktualität der christlichen Botschaft im Sinne des ersten Johannesbriefs aufweisen.
Die Auslegung
1,1–4 Das zentrale Thema: Vom »Wort des Lebens« 1,1
Was von Anfang an war, was wir gehört haben, was wir gesehen haben mit unseren Augen, was wir geschaut und unsere Hände betastet haben über das Wort des Lebens – 2und das Leben ist erschienen, und wir haben gesehen und bezeugen und verkündigen euch das ewige Leben, das beim Vater war und uns erschienen ist – 3was wir gesehen und gehört haben, verkündigen wir auch euch, damit auch ihr Gemeinschaft habt mit uns. Und unsere Gemeinschaft ist aber mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus. 4Und dies schreiben wir, damit unsere Freude erfüllt sei. Von einem Briefkopf mit Absender- und Adressenangabe, wie man ihn von anderen neutestamentlichen Briefen (vgl. Röm 1,1) her kennt, kann hier nicht die Rede sein. Der Absender nennt weder seinen Namen noch seinen Titel. Dies ist auch deshalb auffällig, weil sowohl in 2Joh 1 als auch in 3Joh 1 der Absender sich als »Ältester« (Presbyter) bezeichnet. Stattdessen beginnt das Schreiben gleich mit einer ersten inhaltlichen Bestimmung des Themas im Rahmen eines Relativsatzes: Was von Anfang an war … über das Wort des Lebens. Vor allem die Formulierung am Ende des ersten Verses weist darauf hin, dass das Schreiben eine fast wissenschaftliche Abhandlung (ein »Traktat«) über das Wort des Lebens sein will. Mit Hilfe der Präposition über benennt häufig der Philosoph Aristoteles (384–322 v.Chr.) das Thema vieler seiner philosophischen Schriften, z.B. »Über die Jugend und das Alter und über das Leben und den Tod ist nun zu reden …«. Bei dem Vergleich mit der Einleitung eines aristotelischen Traktats wird deutlich, dass Johannes die Formulierung über das Wort des Lebens auffällig einschiebt. Tatsächlich wäre grammatikalisch – anders als bei Aristoteles – der Satz auch ohne diesen Einschub verständlich. Offenbar wollte Johannes dadurch seine Schrift bewusst in die Reihe philosophischer Abhandlungen gestellt wissen. Er möchte in vergleichbarer Weise eine Abhandlung über das Wort (= den Logos) des Lebens liefern. Dem entspricht auch der komplizierte Satzbau in den ersten Versen. Dieser verleiht dem
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Schreiben formal einen wissenschaftlichen Anstrich. Im Unterschied zu einem philosophischen Aufsatz des Aristoteles spricht Johannes seine Adressaten – wie in einem Brief – jedoch direkt an (wir verkündigen euch …). Deshalb liegt hier keine reine (wissenschaftliche) Abhandlung vor. Johannes nennt in den Einleitungsversen zentrale theologische Überzeugungen: Es geht in seinem Schreiben um das (ewige) Leben, für ihn also um »alles«. Dies ist seine zentrale Botschaft, die Botschaft vom Leben. Dieses Leben ist in Jesus Christus geschichtlich Gestalt und in diesem Sinne hörbar, anschaulich und berührbar geworden. Ziel des vorliegenden Schreibens ist die Glaubensgemeinschaft von Adressaten- und Absenderkreis. Sobald diese durch den ersten Johannesbrief hergestellt ist, besteht für den Verfasser Grund zur Freude. Damit haben die Aussicht auf ewiges Leben und die innere Gemeinschaft mit Glaubenden auch über geographische Entfernungen hinweg positive Auswirkungen auf die Gegenwart: Die Freude ist erfüllt. Als einzige Schrift des Neuen Testaments beginnt der erste Johannesbrief mit einem Relativsatz (V. 1 ). Der Hauptsatz (wir verkündigen dies auch euch) folgt erst im dritten Vers. Diese eigenartige Satzstellung zeigt zu Beginn der Schrift, worum es geht: was von Anfang an war. Johannes beginnt mit einer für ihn zentralen Aussage. Es ist zu vermuten, dass die Leserschaft, die er vor seinen Augen hat, sofort weiß, dass kein anderer als Jesus damit gemeint ist. Das heißt wiederum: Johannes versteht sein Schreiben nicht als christliche Werbung gegenüber Nichtchristen, sondern wendet sich an Christen, die bereits etwas mit diesem seltsamen Satz anfangen können, konkret: die bereits mindestens das Johannesevangelium kennen. Denn im Grunde zieht dieser erste Relativsatz unweigerlich die Frage nach sich: »Was war denn im Anfang?«; und diese Frage wird beantwortet durch den Anfang des Johannesevangeliums: »Im Anfang war das Wort …«. Im Verlauf der ersten 18 Verse des Johannesevangeliums wird dann deutlich, dass hier von Jesus die Rede ist: »Und das Wort wurde Fleisch und wohnte unter uns und wir sahen seine Herrlichkeit …« (Joh 1,14). Wer also das Johannesevangelium kennt, dem erschließt sich die Bedeutung des ersten Relativsatzes sofort: Es geht in diesem Brief um Jesus, genauer: um Jesus Christus, den Gottessohn (vgl. 1Joh 1,3). Zugleich macht diese auffällige Formulierung das Vorzeichen deutlich, unter dem der Verfasser das Jesusgeschehen verstanden haben will: »Jesus war von Anfang an da. Er ist Gottes Schöpfungswort.« Und genau wegen dieser Schöpfungsfunktion muss nach Auffas-
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sung des ersten Johannesbriefs Jesus auch der ganzen Welt verkündigt werden, denn die Schöpfung ist nur durch Jesus ins Dasein gerufen worden. Dem entspricht exakt das Thema der Schrift über das Wort des Lebens. In der Schöpfungsgeschichte hatte Gott durch das Wort nicht nur die Welt erschaffen, sondern auch alle Kreaturen ins Leben gerufen. Insofern ist sein Wort Leben schaffend. Dies war ausdrücklich in Joh 1,3 und 4 betont worden. Zugleich ist nach der Lektüre des Johannesevangeliums klar, dass sich Jesus selbst als das Leben bezeichnet hatte (Joh 11,25; 14,6). Das Wissen darüber wird in 1Joh 1,2 (und das Leben ist erschienen) stillschweigend vorausgesetzt. Wenn also der erste Johannesbrief mit dem Relativsatz was von Anfang an war einsetzt und sein Thema mit dem Ausdruck über das Wort des Lebens bezeichnet, spielt er sowohl auf die Schöpfungsgeschichte als auch auf den Beginn des Johannesevangeliums an und setzt seiner Leserschaft sofort die »Brille« auf, durch die er die Person »Jesus« versteht und verstanden haben will: Dieser Jesus hat eine Bedeutung für die gesamte Schöpfung. Er hatte eine Schlüsselrolle bei der Erschaffung der Welt (was von Anfang an war), war gegenwärtig auf der Erde (was wir gehört haben, was wir gesehen haben mit unseren Augen), ist auferstanden (was wir geschaut und unsere Hände betastet haben – es ist nach Joh 20,17 der ungläubige Thomas, der zum Betasten des Auferstandenen aufgefordert wird) und hat bis in die Gegenwart Leben schaffende Funktion (über das Wort des Lebens). Dies ist aber auch das Einzige, was sich über die Adressaten der Schrift sagen lässt: Sie müssten das Johannesevangelium kennen. Eine geographische Eingrenzung des Adressatenkreises lässt sich schwer und nur mit Hilfe der Johannesoffenbarung machen (vgl. unten S. 143). Die weiteren Relativsätze im ersten Vers haben eine doppelte Bedeutung: Sie sagen etwas aus über den Absender (a), aber in gleicher Weise auch etwas über das, was von Anfang an war, d.h. über Jesus (b). Zu (a): Über den Absender selbst bekommt man im Text nur sehr spärliche Informationen: Auf vielfache Art und Weise bezeichnet er sich als Augen- und Ohrenzeuge des Jesusgeschehens. Auch das Johannesevangelium beansprucht, von einem Augenzeugen, dem Lieblingsjünger Jesu, geschrieben worden zu sein (Joh 21,24). Erstmals bei Irenäus von Lyon (um 180 n.Chr.) wird dieser Lieblingsjünger mit Johannes, dem Sohn des Zebedäus (vgl. Mk 3,17), identifiziert; und auch der erste Johannesbrief soll offenbar auf diesen zurückgeführt werden. Es ist, als wollte er sagen: Ich bin einer von den Augenzeugen, von denen in Lk 1,2 gesprochen wird, die
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»Diener des Wortes« sind, d.h. die an Jesus geglaubt haben. Allerdings reicht ihm der Ausdruck »Augenzeugen« nicht mehr aus. Er betont, er und seine Mitverfasser hätten gehört, gesehen, geschaut und sogar betastet. Diese mehrfache Betonung der Zeitzeugenschaft Jesu lässt vermuten, dass es historisch gerade nicht so war. Mit anderen Worten: Historisch ist es eher unwahrscheinlich, dass der Verfasser, den wir seit Irenäus »Johannes« nennen, dem irdischen Jesus begegnet ist. Aber auch aus anderen Gründen wird in der wissenschaftlichen Forschung bezweifelt, dass der Verfasser dieses ersten Johannesbriefs – ebenso wie der des Johannesevangeliums – Zeitgenosse und Augenzeuge Jesu war: So beruft er sich an keiner Stelle im Brief auf ein Jesuswort. Auch findet sich der für die Verkündigung Jesu so zentrale Begriff »Reich Gottes« nirgendwo im ersten Johannesbrief. Ebenso wird nie auf irgendein Gleichnis Bezug genommen. Stattdessen geht es durchweg um die Bedeutung dieses Jesus als Objekt des Glaubens. Aus Sicht des Verfassers ist das irdische Wirken Jesu offenbar bereits einige Zeit her. Wenn er mehr als einmal feststellen muss, dass er selbst das Geschehen, von dem er spricht, gesehen, gehört, betrachtet und betastet habe, dann spricht das dafür, dass zwischen der Abfassung des Briefs und dem Jesusgeschehen bereits mindestens eine Generation liegt. Zu (b): Nur auf den ersten Blick dienen der zweite (was wir gehört haben), der dritte (was wir gesehen haben mit unseren Augen) und vierte (was wir geschaut haben und unsere Hände betastet haben) Relativsatz ausschließlich dem Ausweis der Glaubwürdigkeit des folgenden Zeugnisses. Denn in die Aussagen eingeschlossen ist die Überzeugung, dass das, was von Anfang an war, geschichtlich fassbar geworden ist. Mit anderen Worten: Durch den zweiten und den dritten Relativsatz (was wir gehört haben, was wir gesehen haben mit unseren Augen) will er deutlich machen, dass er ein Begleiter des irdischen Jesus war. Die eigentlich überflüssige Erwähnung der Augen soll die Augenzeugenschaft betonen und geht wohl auf die poetisch-anschauliche Redeweise im Alten Testament zurück, wo gerne die Augen statt der sehenden Person genannt werden (Gen 33,8; Ri 6,17 u.ö.). Bereits der Johannesevangelist hatte darauf hingewiesen, dass das Wort Fleisch geworden sei: »und wir schauten seine Herrlichkeit« (Joh 1,14)! Und wenn im Johannesevangelium vom »Hören« die Rede ist, ist häufig das Hören der Reden des irdischen Jesus gemeint (Joh 5,24; 6,60; 8,43; 10,3; 12,47; 18,37). Der Verweis auf die eigene Augen- und Ohrenzeugenschaft der geschichtlichen Sichtbarwerdung dessen, was von Anfang an war, scheint dem Absender allerdings nicht auszureichen. Deshalb ist ein weiterer Relativsatz nötig (was wir geschaut haben und unsere Hände betastet haben). Dieser leistet tatsächlich einen deutlichen
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Gedankenfortschritt. Denn bloß ein Jünger des irdischen Jesus gewesen zu sein, reicht offenbar nicht aus. Wer schaut, was der irdische Jesus tut, kann zum Glauben kommen (Joh 11,45), aber wenn Menschen die »Herrlichkeit« Jesu schauen können (Joh 1,14), dann sind mit dem Verb schauen Kreuzigung und Auferstehung angesprochen. Auch dem Zweifler Thomas reicht es in Joh 20,24–29 nicht aus, den irdischen Jesus gehört und gesehen zu haben. Thomas will den Auferstandenen selbst sehen, seine Finger in die Nägelmale und seine Hand in Jesu Seite legen. Auch wenn das hier verwendete Wort »betasten« im Johannesevangelium nicht auftaucht, wird deutlich, dass durch diesen vierten Relativsatz in 1Joh 1,1 auf die Auferstehung angespielt wird. Für den Verfasser des ersten Johannesbriefs heißt dies also: Er versteht sich selbst nicht nur als Begleiter des irdischen Jesus, sondern auch als Auferstehungszeuge. Dem entspricht auch die folgende Beobachtung: Das Verb betasten kommt in der gesamten Evangelienüberlieferung nur noch in Lk 24,39 vor. Dort fordert der Auferstandene seine Jünger auf, ihn zu betasten, um die Leiblichkeit der Auferstehung wahrnehmen zu können. Wenn man die Kenntnis der Lukasstelle hier voraussetzen darf, dann bedeutet das: Die Einzigen, die Jesus im Allgemeinen und den Auferstandenen im Besonderen jemals betastet haben, sind die Jünger. Zweifellos will sich der Verfasser des ersten Johannesbriefs als ein solcher Jünger und Auferstehungszeuge darstellen. Zusammengefasst heißt dies: Der zweite und der dritte Relativsatz in 1,1 (was wir gehört haben, was wir gesehen haben mit unseren Augen) betonen die irdische Wirksamkeit Jesu und die Jüngerschaft des Verfassers. Der vierte Relativsatz (was wir betrachtet haben und unsere Hände betastet haben) spielt auf die Auferstehung Jesu an und stellt sicher, dass der Verfasser (»Johannes«) ein Auferstehungszeuge ist. Hiermit würde er genau die Anforderungen erfüllen, die nach Apg 1,21–22 von einem Jünger verlangt werden, um als »Apostel« zu gelten; denn bei der Nachwahl des zwölften Apostels benennt Petrus folgende Kriterien: »So muss nun einer von diesen Männern, die bei uns gewesen sind die ganze Zeit über, als der Herr Jesus unter uns ein- und ausgegangen ist – von der Taufe des Johannes an bis zu dem Tag, an dem er von uns genommen wurde –, mit uns Zeuge seiner Auferstehung werden.« Auffällig ist schließlich, dass der Verfasser von sich durchweg in der ersten Person Plural spricht. Wermutlich ist auch dies ein literarischer Kunstgriff, mit Hilfe dessen sich der Verfasser der Autorität einer ganzen Gruppe von Jesusjüngern bedienen will. Schließlich waren es in Lk 24,39 auch alle elf Jünger, die Jesus betasten durften.
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Ob der Johannesevangelist (und entsprechend auch der Verfasser des ersten Johannesbriefs) die drei ersten Evangelien und die Apostelgeschichte gekannt hat, wird in der Forschung nicht mehr so kontrovers diskutiert. Tatsächlich spricht sehr viel dafür, dass dem Verfasser des Johannesevangeliums zumindest das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte, wahrscheinlich aber auch die beiden anderen Evangelien vorgelegen haben. Ein Adressatenkreis des Schreibens wird ebensowenig genannt. Dies mag tatsächlich damit zusammenhängen, dass der Absender an alle ihm bekannten christlichen Gemeinden seiner Zeit schreiben möchte. Die theologische Verwandtschaft mit dem Johannesevangelium rückt den ersten Johannesbrief sowohl zeitlich als auch räumlich in die Nähe des Evangeliums. Bereits am ersten Vers des ersten Johannesbriefs kann man erkennen, dass die Kenntnis des Johannesevangeliums vorausgesetzt wird. Zugleich wird das Problem des Johannes deutlich: Jesus ist nicht mehr leiblich gegenwärtig. Die Adressaten benötigen glaubwürdige Zeugen für das Wirken Jesu auf der Erde sowie die Vergewisserung seiner bleibenden Gegenwart. All dies möchte Johannes seinen Adressaten vermitteln. Der gesamte V. 2 ist ein Einschub in den Satz, der die Verse 1 und 3 umfasst. Es scheint so, als wäre der Verfasser der Meinung, der zentrale Begriff des Schreibens, das Wort des Lebens, müsse noch einmal erläutert und auf den Punkt gebracht werden. Hier zeigt sich auch seine Art zu argumentieren: Der Begriff Wort des Lebens am Ende von V. 1 zeigt ihm, dass er über das Leben noch etwas sagen möchte, bevor der Gedankengang weitergeführt werden soll. Wenn er jetzt einsetzt mit der Behauptung, das »Leben« sei offenbar geworden, so ist der Begriff Leben lediglich eine verkürzende Schreibweise für Wort des Lebens. Da Jesus jetzt aber ausdrücklich als das Leben bezeichnet werden soll, heißt das: Nach Auffassung des Verfassers gibt es nur in ihm Leben. Im Umkehrschluss bedeutet dies: Wer nicht zu ihm gehört, hat das Leben nicht. Das griechische Wort für »erscheinen, offenbar werden« findet sich im Johannesevangelium im Hinblick sowohl auf den irdischen (vgl. Joh 1,31) als auch auf den auferstandenen Jesus (Joh 21,14; vgl. auch Mk 16,12.14). Der Satz das Leben ist offenbar geworden ist also für Johannes Zusammenfassung des irdischen Wirkens und der Auferstehung Jesu. Hintergrund für diese Redeweise sind auch hier die in der Apostelgeschichte von Petrus geäußerten Kriterien für einen Apostel (Apg 1,22). Wenn dem so ist, dann macht Johannes seinen Adressaten durch diesen Ausdruck erneut deutlich: »Ich bin ein Apostel, weil ich die entsprechenden Kriterien hierfür erfülle. Dies ist meine Autorität.«
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Diese Überzeugung, dass mit Jesus das Leben auf der Erde sichtbar geworden ist, hatten die Formulierungen von V. 1 wir haben gesehen und gehört und wir haben geschaut und unsere Hände haben betastet in V. 1 bereits vorbereitet. Nun stellt sich die Frage, weshalb die Aussagen von 1,1f das irdische Wirken und die Auferstehung Jesu ansprechen, nicht aber die Kreuzigung. Dies hängt mit der besonderen Interpretation des Kreuzes Jesu im Johannesevangelium zusammen. Exkurs: Der Tod Jesu im Johannesevangelium Ganz anders als der sehr alte Philipperhymnus (Phil 2,6–11), wo es heißt, Jesus habe sich erniedrigt und sei gehorsam bis zum Tod am Kreuz gewesen, interpretiert das Johannesevangelium die Kreuzigung Jesu. Für den Johannesevangelisten ist die Kreuzigung eine »Erhöhung« (Joh 3,14; 8,28f; 12,32f). Zwei Ebenen sind in diesem Wort »Erhöhung« angesprochen: die menschlich-vordergründige (Jesus wird ans Kreuz gehängt) und die göttlich-hintergründige (Jesus kehrt nach oben, in den Himmel zurück). Dadurch wird die Kreuzigung Zeichen des Aufstiegs Jesu in die himmlische Welt und der Einsetzung in seine Heilsherrschaft. Dem entsprechend wird im Johannesevangelium die Kreuzigung als Verherrlichung interpretiert (12,23f). Mit dem Wort »Es ist vollbracht!« (Joh 19,30) zieht der sterbende Jesus den Schlussstrich unter sein irdisches Offenbarungswerk. Passion und Sterben Jesu sind schon »Verherrlichung« und nicht etwa nur die Vorbedingung für sie. Nach dem Johannesevangelium ist also das Kreuz selbst bereits der Sieg über die Welt und ihren Herrscher. Überblickt man die Stellen, an denen von der nachösterlichen Erkenntnis Jesu gesprochen wird, zeigt sich folgendes Bild: Erkenntnis ist möglich nach der Auferstehung (Joh 2,22), bei der Erhöhung (Joh 8,28), nach der Verherrlichung (Joh 12,16; 13,31), bei der Wiederkunft Jesu (Joh 14,19) und zu Beginn der Passion (Joh 14,29f). Das Johannesevangelium sieht also Kreuzigung, Auferstehung, Aufnahme in den Himmel (Erhöhung), Verherrlichung und Wiederkunft Jesu theologisch in eins. Die Kreuzigung kann deshalb Erhöhung und Verherrlichung Jesu und des Vaters sein, weil sie vom Geschehen der Auferstehung nicht ablösbar ist. Die Auferstehung wird deshalb nicht als Sieg über den Tod interpretiert, weil die Kreuzigung nicht als Niederlage des Lebens gedeutet wurde. Der Tod Jesu ist nur deshalb wichtig, weil er der Abschluss des Wirkens Jesu ist, in dem noch einmal seine Existenz für die Seinen in besonderer Weise deutlich wird. Und wenn Jesus nach Joh 15,13 davon spricht, er setze sein Leben für die Seinen ein (das hier verwendete griechische Wort spricht nicht vom Geben des Lebens, wie die meisten Übersetzungen vermuten lassen), dann ist damit im Grunde gemeint: Jesus »lebt« für die Seinen unter Einschluss des Todesrisikos. Der Tod am Kreuz ist also bei Johannes zunächst nichts anderes als die Bekräftigung von Jesu irdischer Existenz als Leben für die Seinen. Anders formuliert: Jesu Tod kann nur daher als Tod für die Glaubenden bezeichnet werden, weil schon Jesu Leben ein Leben für die Seinen war (vgl. die Auslegung zu 3,16). Es ist im-
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mer wieder vermutet worden, bereits der Johannesevangelist würde Jesu Tod als »Sühnetod« verstehen. Tatsächlich findet sich der Begriff »Sühne« oder »Sühnung« im Johannesevangelium – im Unterschied zum ersten Johannesbrief (vgl. 1Joh 2,20; 4,10) – nicht. Vielfach ist die Bezeichnung Jesu als »Lamm Gottes, das die Sünde der Welt wegschafft« durch Johannes den Täufer in Joh 1,29.36 als Beleg für ein Sühneverständnis des Todes Jesu im Johannesevangelium angeführt worden. Für die Vermutung, dass Jesus nach Ansicht des Johannesevangelisten als das wahre Passalamm gestorben ist, spricht die Datierung der Kreuzigung: Sie findet statt, während im Tempel die Passalämmer geschlachtet werden (Joh 19,14.31). Und weil dem Passalamm alttestamentlich keine Sühnefunktion zukommt, wird auf den jüdischen Religionsphilosophen Philo von Alexandrien (ca. 15 v.Chr. – 40 n.Chr.) verwiesen, der das Passalamm als Opfer durchaus auch mit sühnender Wirkung verstanden habe (SpecLeg 2,145). Das »Wegschaffen der Sünde der Welt« macht deutlich, dass durch das Lamm Jesus die widergöttliche Existenz der Welt beseitigt ist und neues Leben ermöglicht wird. Da sich aber im Johannesevangelium der Ausdruck »Sühne« nicht findet, wird man allenfalls davon ausgehen können, dass dort die Sühnetodvorstellung, wie sie später im ersten Johannesbrief auf den Begriff gebracht wird, lediglich angedeutet oder vorbereitet ist.
Wenn der Verfasser erneut betont, er habe das Leben gesehen, so ist auch dies zu verstehen als verkürzende Ausdrucksweise für die Relativsätze in V. 1 (gehört, gesehen, betrachtet, betastet). Es wird erneut die Augen- und Ohrenzeugenschaft in Erinnerung gerufen, ehe ein Gedankenfortschritt erfolgt: Was einst gesehen wurde, wird im vorliegenden Schreiben bezeugt und verkündigt. Auch diese beiden Verben haben unterschiedliche Bedeutungsaspekte. So gehört bezeugen in den Rahmen eines gerichtlichen Prozesses (vgl. Joh 5,31–40). Auch im Johannesevangelium wird bezeugt, was gesehen worden ist (Joh 1,34; 3,11.32; 19,35). Es ist sehr gut vorstellbar, dass der Verfasser damit auch auf das achte Gebot (Ex 20,16; Dtn 5,20) anspielt und deutlich machen möchte, dass sein Zeugnis wahr ist (vgl. 5,6–10). Bezeugen heißt auch: bezeugen vor Gericht, vor einem Richter und vor kritischen Anklägern. Etwas zu bezeugen bedeutet also auch, mutig für das Gesehene einzustehen (vgl. unten S. 144f). Das Verb verkündigen geht demgegenüber noch einen Schritt weiter. Richtet sich bezeugen vor allem auf die, die der Botschaft skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen, bezieht sich verkündigen auf die Gemeinde. Damit meint der Verfasser die Verkündigung der frohen Botschaft vom Wort des Lebens. Die Verkündigung dieses Lebens ist dabei nicht einfach nur vorgestellt als (leeres) Wort, sondern als ein Glauben wirkendes, als wirksames Wort. Das Leben, von dem der Verfasser hier spricht, wird präzisiert als Leben, das ewig ist. Vorläufig scheint es sich bei dem Attribut ewig
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nur um eine Näherbestimmung des (in Jesus) erschienenen Lebens zu handeln. Aber die Leserschaft weiß aus dem Johannesevangelium, dass das ewige Leben etwas ist, das durch den Glauben an Jesus vermittelt wird (Joh 3,36; 5,24). Wenn in 1,2 Jesus selbst als das Leben bezeichnet wird, das ewig ist, folgt daraus, dass Jesus selbst das Heilsgut ist, das vermittelt werden soll und den Glaubenden zugeeignet wird. Anders als in Joh 1,1 (»im Anfang war das Wort«) wird hier vom Wort des Lebens gesprochen. Johannes macht mit diesem Genitiv deutlich, was das Wort für die Glaubenden bedeutet. Es geht ihm in seinem Schreiben nicht um eine theologische Abhandlung, sondern um die Bedeutung des göttlichen Geschehens »für uns«, für die Menschen. Ein besonderes Problem ist die Formulierung vom Leben, das beim Vater war. Wie in Joh 1,1 und 1,2 begegnet die Formulierung, dass das Wort (des Lebens) beim Vater bzw. Gott war. Die hier verwendete Präposition macht das Ziel deutlich, auf das etwas ausgerichtet ist. Ein Beleg dieser Formulierung außerhalb der Schriften des Johannes versteht die Verbform »war« geographisch im Sinne von »reichen bis …« (vgl. Platon, Kritias 112a5: die Größe »reichte bis zum Eridanos«). Johannes will also sagen, dass das Leben, von dem er spricht, auf den Vater ausgerichtet war. Es ist demnach göttliches Leben, um das es geht. Und es wird dadurch zugleich deutlich, dass dieses Wort (des Lebens) für Johannes die Verbindung zwischen Gott und seinen Geschöpfen darstellt. Jesus, das Wort des Lebens, ist Mensch geworden, und dieses Leben ist auf Gott ausgerichtet. Dieses Leben, nämlich Jesus, war bereits vor seiner irdischen Existenz vorhanden, es war beim Vater und ist uns erschienen. Eine sogenannte Drei-Stufen-Christologie wird hier schlicht vorausgesetzt. Diese besagt, dass Jesus vor seinem irdischen Wirken bzw. vor seiner »Erscheinung« bereits beim Vater war und nach diesem wieder zu Gott zurückkehrt. Erstmalig wird hier im ersten Johannesbrief Gott absolut als Vater (nicht als »Vater Jesu Christi« oder »Vater der Glaubenden«) bezeichnet. Vater ist für den Verfasser genauso eine Bezeichnung für »Gott« wie Leben für »Jesus«. Das war für das Johannesevangelium noch nicht selbstverständlich gewesen. Dort wird häufig Jesus ausdrücklich in eine Sohnesbeziehung zu Gott gesetzt. Dies geschieht unter anderem dadurch, dass Jesus von »meinem Vater« spricht. Häufiger noch findet sich aber im Evangelium ein absoluter Gebrauch der Bezeichnung »Vater« für Gott. Die Bezeichnung »Vater« kann auch anstelle des Wortes »Gott« stehen – genauso wie (allerdings wesentlich seltener) »Leben« anstelle von Jesus. Ausdrücklich als Vater von Menschen wird Gott nur in Joh 20,17 be-
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zeichnet. Erst seit dem Wirken und Sterben des Sohnes ist es nach Johannes für die Glaubenden möglich, Gott als Vater anzurufen. Deshalb darf davon ausgegangen werden, dass an allen Stellen, wo Gott im ersten Johannesbrief als Vater bezeichnet wird, er als Vater der Glaubenden angesprochen ist (1,2f; 2,1.14–16.22–24; 3,1; 4,14 vgl. 2Joh 3.4.9). Es fällt gleichwohl auf, dass sich der Vater-Titel für Gott im ersten Johannesbrief fast nie in Verbindung mit der Bezeichnung Kinder für die Glaubenden findet, dafür umso häufiger in Verbindung mit Sohn oder Jesus Christus (1,2.3; 2,1.14.22–24; 4,14; 2Joh 3.9). An fast allen übrigen Stellen (2,15.16; 2Joh 4) steht Vater als Titel absolut. Die einzige Ausnahme ist 3,1. Warum der erste Johannesbrief in dieser Weise mit dem Vater-Titel für Gott umgeht, ist nur zu vermuten. Will er die Glaubenden von Jesus absetzen in dem Sinne, dass Gott primär der Vater Christi ist? Oder – was wahrscheinlicher ist – möchte er im Zusammenhang mit der Gotteskindschaft deshalb vorsichtig mit der Bezeichnung Vater umgehen, weil die Christen aus Gott geboren sind (vgl. bes. 3,9) und er von daher eher die Bezeichnung Mutter verwenden müsste? Man wird diese Beobachtung nicht überinterpretieren dürfen. Die Anrede Gottes als Vater scheint sich in den Johannesbriefen bereits verselbstständigt zu haben. Gott kann ganz unvermittelt einfach Vater genannt werden. Jeder weiß, wer damit gemeint ist, ein weiteres Attribut ist nicht nötig. Die Betonung der Vaterschaft Gottes im ersten Johannesbrief soll in besonderer Weise die Liebe und Zuneigung Gottes zu seinen Kindern unterstreichen. Gottes Vatersein den Glaubenden gegenüber äußert sich auf zweifache Weise. Wie ein Familienvater seinen Familienangehörigen gegenüber ist er in der Lage, von ihnen die Einhaltung bestimmter Regeln zu fordern (2,7f; 3,16; 4,21; 5,3) und ihre Nicht-Einhaltung unter Strafe zu stellen; zugleich ist er der seine Kinder liebende Vater (4,10.19). Beide Aspekte schließen sich nicht aus. Ermahnungen (und gegebenenfalls Strafandrohung) und Erziehung sind eine Funktion von Liebe und Zugehörigkeit. Gottes Vaterschaft besteht in seiner Fürsorge für seine Kinder. So wird im ersten Johannesbrief das Gebot der Gottes- und Bruderliebe weniger auf Gottes väterliche Macht zurückgeführt, durch die er die Möglichkeit hat zu gebieten, sondern auf seine väterliche Liebe, die den Anfang der Liebe gesetzt hat (vgl. 3,1 mit 4,19). Dabei ist festzuhalten: Im griechischen Begriff für Bruder (adelphós) sind zu neutestamentlicher Zeit die Schwestern stets mit eingeschlossen. Nur wenn ausschließlich weibliche »Brüder« bezeichnet werden sollen, wird im Neuen Testament die weibliche Form adelphé gebildet (vgl. 1Kor 7,15; 9,5; Phlm 2 u.ö.).
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Die Vaterschaft Gottes erfährt im ersten Johannesbrief eine logische Begründung: Gott ist Vater der Glaubenden, weil sie aus ihm geboren sind. Damit ist sowohl der Gedanke der besonderen Zugehörigkeit der Glaubenden zu Gott eingeschlossen als auch das Motiv der Schöpfung der Glaubenden durch Gott, der sie ins Leben gerufen hat (3,14). Geburt aus Gott ist wie die Schöpfung der Ruf ins Leben (vgl. 3,14). Dem entspricht auch der Gebrauch des Begriffs Anfang im ersten Johannesbrief. Der im Anfang war bedeutet sowohl »von Beginn der Schöpfung an« (1,1; 2,13f; 3,8) als auch »von Beginn der christlichen Verkündigung an« bzw. »von Beginn der Gotteskindschaft der Angeredeten an« (2,7.24; 3,11; 2Joh 5f). Aus Sicht der Glaubenden kommt der eine Beginn dem anderen gleich und kann deshalb mit der gleichen Formel ausgedrückt werden. Der Relativsatz am Anfang von V. 3 nimmt – verkürzend – die vier Relativsätze aus V. 1 wieder auf. So werden nur noch die beiden Sinne sehen und hören angesprochen. Erst jetzt findet sich der Hauptsatz: Der Verfasser möchte verkündigen. Das in diesem Zusammenhang verwendete Verb kann zwar auch im Sinne von »mitteilen« (vgl. nur Joh 5,12) verwendet werden. Im vorliegenden Zusammenhang liegt jedoch ein ganz anderer Gebrauch vor: So taucht das Verb in der Überlieferung der Evangelien verstärkt auf, wenn es um die Weitergabe der Auferstehungsbotschaft geht. Nach Joh 20,18 »verkündigt« Maria Magdalena, nachdem sie dem Auferstandenen begegnet war, den Jüngern: »Ich habe den Herrn gesehen, und das hat er zu mir gesagt« (vgl. auch Mt 28,8.19f und Lk 24,9). Mit dem hier verwendeten Verb ist der Inhalt der Verkündigung eingeschlossen: »Der Herr ist auferstanden.« Dem Verfasser geht es somit um das Zentrum des christlichen Glaubens – durchaus vergleichbar mit dem, was Paulus in 1Kor 15,14 meint, wenn er schreibt: »Ist aber Christus nicht auferstanden, so ist unsere Predigt vergeblich, so ist auch euer Glaube vergeblich.« Diese »Verkündigung« von der Auferstehung Jesu ist mehr als die bloße Mitteilung einer Information. Es liegt eine performative Redeweise vor, d.h. das Wort bewirkt durch sein Aussprechen die Gemeinschaft zwischen Verkündiger und den Adressaten der Verkündigung. Oder anders gesagt: Die Verkündigung wirkt bzw. bestärkt den Glauben und verbindet damit Verkündiger und Angesprochene. Genau dies ist das Ziel des Schreibens: die Gemeinschaft zwischen Absender und Adressaten. Der Brief dient also der Verständigung über die gemeinsame Botschaft und die gemeinsamen Glaubensüberzeugungen, die Verfasser und Adressaten teilen. Auch diese Vorstellung entspricht neutestamentlichem und besonders paulinischem Sprachgebrauch: Gemeinschaft unter Menschen wird hergestellt durch gemeinsame Teilhabe an einer bestimmten
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Sache. In diesem Fall soll der Glaube miteinander geteilt werden (vgl. etwa Phil 1,5, wo Paulus von der »Gemeinschaft in Bezug auf das Evangelium« spricht). Die gemeinsame Teilhabe am Glauben bewirkt die Gemeinschaft der Glaubenden. Diese Gemeinschaft kann über einen Brief hergestellt werden; eine persönliche Gegenwart des Verfassers bei den Adressaten ist nicht nötig. Insofern ist diese Gemeinschaft eine geistliche. Der Glaube schafft die Gemeinschaft der Glaubenden. Und wenn Johannes die Gemeinschaft zwischen Adressaten und Absendern durch sein Schreiben entweder herstellen oder bekräftigen will, tut er dies im Wissen um den Wunsch Jesu, dass sie alle eins seien (Joh 17,21). Der vorliegende Vers nimmt also inhaltlich Bezug auf die Bitte Jesu aus dem hohenpriesterlichen Gebet. Dass diese Gemeinschaft noch weitere Gemeinsamkeiten einschließt, wird später (vgl. etwa 1,7) noch deutlich. Nicht ganz klar ist, ob der folgende Halbsatz eine Tatsache feststellen möchte: Wir, d.h. wir Verfasser, haben Gemeinschaft mit dem Vater und seinem Sohn Jesus Christus. In diesem Fall würde Johannes sich bzw. seine Mitabsender als Vorbild für die Adressaten hinstellen: Sie haben bereits Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn und hoffen, die Adressaten mit hineinzunehmen. Es ist aber genauso vorstellbar, dass mit dem Ausdruck unsere Gemeinschaft die erhoffte Gemeinschaft mit den Adressaten beschreibt. Tatsächlich spricht vieles für den zuletzt genannten Vorschlag: Johannes möchte also eine Dreier-Gemeinschafts-Beziehung herstellen. Sobald die Gemeinschaft zwischen Adressaten und Absendern gelingt, ist diese (unsere) Gemeinschaft eine Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn. Mit dem Personalpronomen unsere (Gemeinschaft) schließt sich Johannes also ausdrücklich mit seinen Adressaten zusammen. Die erhoffte Gemeinschaft zwischen Absender und Adressat wird hergestellt durch (den Glauben an) den Vater und den Sohn. Hier taucht im ersten Johannesbrief erstmalig der Begriff Jesus Christus auf. Nicht zufällig verwendet Johannes in diesem Zusammenhang die volle Hoheits-Titulatur sein (d.h. Gottes) Sohn Jesus Christus. In den beiden Versen vorher war stets vom (Wort des) Leben(s) die Rede gewesen. Der Verfasser verwendet diese Bezeichnungen sehr bewusst. Er bezeichnet Jesus als Leben, wenn es ihm um die Gabe geht, die er den Glaubenden bringt. An Jesus zu glauben bedeutet nach Meinung des Johannes, »zu leben«. Oder anders gesagt: Leben gibt es im Grunde nur innerhalb der Gemeinde. Von Jesus Christus wird gesprochen, wenn es um die zentrale Heilsbotschaft geht – bei Paulus sind das Kreuzigung und Auferstehung (Röm 14,9: »Denn dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig
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geworden, dass er über Tote und Lebende Herr sei«), bei Johannes eher die Fleischwerdung des Wortes vom Leben (vgl. 4,2). In V. 4 setzt der Verfasser neu ein: Und das schreiben wir, damit … Das heißt: Er benennt jetzt einen weiteren Grund für sein Schreiben: die erfüllte Freude. Der Begriff erfüllt spielt auf die Erfüllung einer Verheißung von Joh 16,22 an. Dort hatte Jesus seinen Jüngern verheißen, dass sie sich bei seiner Wiederkunft freuen würden. Diese Freude, von der Johannes hier spricht, ist also nichts anderes als die verheißene Freude über das Wiedersehen mit Jesus. Es ist Freude über die endzeitliche Rettung, eine Art Anzahlung für das künftige Heil, eine Vorfreude. Anders gesagt: Die künftige Rettung der Glaubenden findet ihren Ausdruck in der gegenwärtigen erfüllten Freude (durchaus treffend auf den Punkt gebracht in dem Lied von Johann Ludwig Konrad Allendorf aus dem Jahr 1736: »Jesus ist kommen, Grund ewiger Freude« [Evangelisches Gesangbuch, Nr. 66]). Nach Joh 3,29 ist mit dem Kommen des »Bräutigams« Jesus die Freude des Täufers erfüllt bzw. vollkommen. Das Attribut vollkommen bzw. erfüllt besagt aber auch, dass es keine größere Freude geben kann. Und wenn in Joh 16,24 Jesus den Seinen die Erfüllung ihrer Bitte(n) in Jesu Namen zugesagt werden, sodass ihre Freude dann erfüllt bzw. vollkommen ist, dann handelt es sich auch bei der Erfüllung ihrer Bitten zweifellos um die Gabe der endzeitlichen Rettung bzw. des ewigen Lebens (vgl. auch Joh 15,11; 17,13). Mit Hilfe des Possessivpronomens in der Verbindung unsere Freude bindet sich der Verfasser (wie bereits am Ende von V. 3 im Hinblick auf »unsere Gemeinschaft«) mit seinen Adressaten zusammen. Dies tut er deshalb, weil er dadurch die Liebe untereinander und die Gemeinschaft miteinander bereits andeuten will. Denn nach Joh 15,11 ist die Freude dann erfüllt, wenn die Angesprochenen in Jesu Liebe bleiben und einander lieben. Es geht um diese FreudenLiebes-Gemeinschaft zwischen Adressaten und Absendern. Beide dürfen vollkommene Freude empfinden, weil sie einander lieben und sich im Glauben an das Leben (Jesus) gerettet wissen. In den ersten vier Versen legt Johannes die Grundlage für alle weiteren Ausführungen. Weil für ihn das zentrale Heilsgut für die Glaubenden nicht die Nähe des Reiches Gottes (vgl. Mk 1,15) oder die Gerechtigkeit Gottes (vgl. Röm 3,21–28), sondern die Gabe des (ewigen) Lebens an die Glaubenden ist, bringt er dies mit der Vorstellung von Jesus als dem »Wort des Lebens« auf den Punkt. Jesus stellt durch seine Menschwerdung die Verbindung zwischen Gott und den Glaubenden her. Johannes selbst bezeichnet sich als Augen- und Ohrenzeuge des irdischen Jesus und möchte dadurch seinem Schreiben Autorität und Gewicht verleihen. Ziel des ersten Johannesbriefs ist es,
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Gemeinschaft zwischen Absendern und Adressaten herzustellen. Diese wird durch (den Glauben an) Gott und Jesus Christus ermöglicht. Die Folge aus dieser Gemeinschaft ist die erfüllte Freude als Vorbote der endzeitlichen Errettung. Die Aktualität des Anliegens wird besonders deutlich, wenn man sich bewusst macht, dass »Leben in Fülle« bis heute ein zentrales Anliegen der Menschen ist. Dies macht sich auch die Werbeindustrie mit ihren Versprechungen zunutze: Leben, Lebenskraft, Lust, Spaß – all dies sind Vorstellungen, auf die Menschen ansprechbar sind. Johannes macht deutlich, dass es ein Leben in Fülle, dass es wahres Leben nur durch das Wort des Lebens geben kann, dass der Wunsch nach Leben nur im Glauben an Jesus Christus sein Ziel finden kann. Und die dazu gehörige Freude erfüllt sich im Besonderen in der Gemeinschaft derer, die glauben. Es ist, als würde Johannes seiner Leserschaft zurufen: »Hauptsache, ihr habt Leben und Freude!«
1,5 – 2,12 Erster Hauptteil Leben im Licht und Existenz in der Finsternis Der Gedankengang des Johannes in den folgenden Versen geht von der Begriffsbestimmung Gottes aus: Gott ist Licht (1,5). Auf diese Wesensbestimmung kommt er aufgrund des Jesuswortes in Joh 8,12 (»Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, wird nicht im Finstern wandeln, sondern wird das Licht des Lebens haben«). Johannes möchte aber jetzt darstellen, was dies für diejenigen, die mit Gott bzw. Jesus Gemeinschaft haben, d.h. die Glaubenden, bedeutet. Hierfür betrachtet er zunächst die negative Seite und fragt sich, welche Rolle die Sünde für diejenigen spielt, die den Anspruch haben, im Licht zu wandeln (1,7). Er wendet sich gegen diejenigen, die die Wirklichkeit der Sünde für sich abstreiten, und bescheinigt diesen, dass sie damit Gott bzw. Jesus zum Lügner machen. Dabei geht es ihm nicht darum, die Glaubenden zur Sünde anzustiften (2,1), sondern Ehrlichkeit. In einem zweiten Argumentationsschritt (2,3–12) betont Johannes die Wichtigkeit des Haltens der Gebote. Im Verlauf dieser Darstellung kommt dann heraus, von welchem Gebot er spricht: Es geht ihm um die Liebe zum Bruder (2,9), und in diesem Zusammenhang lenkt er seine Argumentation zurück zum Ausgangspunkt, dem Sein im Licht und der Warnung vor dem Bruderhass. Dieser sorgt nämlich dafür, dass man in der Finsternis wandelt (2,11). Der Gedankengang wird abgeschlossen durch die Zusage der Vergebung der Sünden (2,12); dadurch wird noch einmal auf die Sündenthematik von 1,6 – 2,2 Bezug genommen. 1,5 Überschrift: Gott ist Licht 5
Und dies ist die Botschaft, die wir von ihm gehört haben und euch verkündigen: Gott ist Licht, und keinerlei Finsternis ist in ihm. Etwas pathetisch setzt Johannes hier ein mit einer Beschreibung der Botschaft, die er gehört hat und jetzt verkündigt. Es existiert in der Wissenschaft eine breite Diskussion über die Frage, weshalb hier das Wort Botschaft (angelía) verwendet wird und nicht Evangelium (euangélion), d.h. »frohe Botschaft«. Tatsächlich findet sich das Wort angelía nur hier und in 3,11 – sonst nirgendwo im Neuen
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1Joh 1,5
Testament. Johannes scheint sowohl im Evangelium als auch in den Briefen den Begriff Evangelium geradezu zu meiden. Ein Grund hierfür ist nicht ersichtlich, und über Vermutungen kommt man in diesem Zusammenhang nicht hinaus. Die wahrscheinlichste ist die, dass 1,5 auf Jes 29,8 zurückgeht; dort wird gefragt: »Wem haben wir Schlechtes verkündigt, und wem haben wir die Botschaft verkündigt?« Gemeint ist bei Jesaja die Botschaft von Gott, von dem Jesus nach Überzeugung des Johannesevangeliums gekommen ist. Denkbar wäre aber auch, dass Johannes die Bezeichnung Evangelium für den Inhalt der christlichen Verkündigung gar nicht kennt. Der erste Teil des zum Wort Botschaft gehörigen Relativsatzes die wir von ihm gehört haben bezieht sich inhaltlich auf die Predigt Jesu und formal auf 1,1. Im vorliegenden Zusammenhang kann der Verfasser aber auf eine vergleichbare Aufzählung (gehört, gesehen, betrachtet, betastet) verzichten, weil es ihm hier um den zentralen Inhalt der Predigt Jesu geht. Deshalb wird jetzt ausdrücklich darauf hingewiesen, die Botschaft habe man von ihm gehört, das heißt: Jesus selbst wird hier zitiert. Allerdings findet sich weder im Johannesevangelium noch in einem anderen Evangelium das Jesuswort: Gott ist Licht! Vielmehr sagt nach Joh 8,12 Jesus von sich selbst: Ich bin das Licht der Welt (Joh 8,12). Offenbar sieht Johannes hier keinen Widerspruch zu der Aussage, wonach Gott selbst das Licht ist. Jesus ist deshalb das Licht der Welt, weil er von Gott kommt, dessen Wesen Licht ist. Auch das zweite Verb des Relativsatzes spielt auf ein kurz zuvor verwendetes Verb an: verkündigen. In V. 2 wurde dieses Wort noch durch bezeugen verstärkt. Aber hier gilt, dass die erneute Verwendung von verkündigen das bezeugen von V. 2 einschließt. Die Botschaft Jesu wird in einer Aussage über das Wesen Gottes zusammengefasst: Gott ist Licht. Mit dieser Überzeugung wird angespielt auf den Prolog des Johannesevangeliums (Joh 1,1–18), besonders die Verse 4 und 8, wonach im Wort (Logos) Gottes das Licht der Menschen war und Johannes der Täufer vom Licht gezeugt hat. Der Verfasser will die dort gemacht Aussage weiterführen. Für ihn ist klar: Wenn das Wort Licht ist, dann ist auch Gott seinem Wesen nach Licht. Zugleich betont er, dass in Gott keine Finsternis sei. Ganz klar: Gott ist erfüllt von Licht und nicht von Finsternis. Im Zusammenhang mit Joh 1,5, wonach das Licht in der Finsternis scheint und die Finsternis das Licht nicht ergriffen habe, wird deutlich, wie der Nachsatz verstanden sein will: Finsternis ist für den Verfasser nichts anderes als die Welt außerhalb der christlichen Gemeinde. Das Licht schlechthin ist aber mit Jesus in die finstere Welt gekommen. Deshalb fordert Jesus in Joh 12,36 seine
1Joh 1,6 – 2,2
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Zuhörer auf, an das Licht zu glauben, solange ihr’s habt, damit ihr Kinder des Lichts werdet. Wenn im ersten Johannesbrief die Wesensaussage über Gott gemacht wird: Gott ist Licht, dann ist dazu kein Widerspruch zu sehen, denn es ist der Sohn Gottes, der Gottes Licht in die Welt gebracht hat (vgl. Joh 8,12). Nur durch ihn können die Menschen Kinder des Lichts, d.h. Kinder Gottes werden. 1,6 – 2,2 Finsternis und Sünde 6
Wenn wir sagen: »Wir haben Gemeinschaft mit ihm«, und wandeln in der Finsternis, so lügen wir und tun nicht die Wahrheit. 7 Wenn wir aber im Licht wandeln, wie er im Licht ist, so haben wir Gemeinschaft miteinander, und das Blut Jesu, seines Sohnes, reinigt uns von aller Sünde. 8 Wenn wir sagen: »Wir haben keine Sünde«, so verführen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns. 9 Wenn wir aber unsere Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit. 10 Wenn wir sagen: »Wir haben nicht gesündigt«, so machen wir ihn zum Lügner, und sein Wort ist nicht in uns. 2,1 Meine Kinderchen, dies schreibe ich euch, damit ihr nicht sündigt. Und wenn jemand sündigt, so haben wir einen Fürsprecher bei dem Vater: Jesus Christus, den Gerechten. 2 Und er ist die Sühnung für unsre Sünden, nicht allein aber für die unseren, sondern auch für die der ganzen Welt. Die nun folgenden fünf Sätze sind jeweils Bedingungssätze. Insgesamt dreimal (V. 6, 8 und 10) in negativem und – exakt dazwischen (V. 7 und 9) – zweimal in positivem Sinne. Dabei ist auffällig, dass die drei negativen Bedingungen identisch eingeleitet sind: Wenn wir sagen … Die in V. 6 verwendete erste Person Plural taucht jetzt in einem anderen Sinn auf als noch in V. 5. Dort bezeichnete der Verfasser damit sich selbst – im Unterschied zu seinen Adressaten. Jetzt schließt er sich ausdrücklich mit ihnen zusammen, aber eigentlich spricht er sie damit warnend an. Wenn diese also behaupten, Gemeinschaft mit Gott zu haben, aber in der Finsternis wandeln, dann lügen sie. Mit anderen Worten: Ein Wandel im Licht wäre der Erweis der Gemeinschaft mit Gott. Der Bezugspunkt für diesen Vers im Johannesevangelium ist Joh 8,12 (vgl. auch Joh 3,19–21): Dort bezeichnet sich Jesus als Licht der Welt und stellt weiter fest: Wer
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1Joh 1,6 – 2,2
mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis wandeln … Im ersten Johannesbrief wird die Beschreibung aus Joh 8,12 somit in einen Appell verwandelt: Folgt Jesus nach und wandelt im Licht! Das hier verwendete Verb wandeln kann im Neuen Testament auch im Sinne von »umhergehen« gebraucht werden (vgl. Mk 2,9), bezeichnet bei Johannes aber auch den »sittlichen Lebenswandel« und findet sich in diesem Sinne bereits bei Paulus (vgl. nur Gal 5,16). Mit Wandel in der Finsternis ist aber nichts anderes gemeint als eine Lebensführung in Anlehnung an das, was in der Welt wichtig ist (vgl. 2,15–17). Damit warnt Johannes davor, die christliche Gemeinde zu verlassen. Das Bekenntnis zu Jesus ist für diese Menschen, die Johannes hier kritisiert, nur ein Lippenbekenntnis. Sie wollen gerne zur christlichen Gemeinde gehören, wagen aber nicht, sich offen dazu zu bekennen, und wandeln deshalb in der Finsternis. Sie sind für den Verfasser Lügner. Dass – diese Überzeugung unterstreichend – auch noch festgehalten wird, solche Menschen täten nicht die Wahrheit, zeigt: Reden und Tun gehören für den Verfasser ausdrücklich zusammen. Das Bekenntnis zu Licht (1,6) und Leben (1,1f), also das Bekenntnis zu Gott und Jesus Christus, schließt das offene Bekenntnis zur christlichen Gemeinde vor der Welt ein. Wort und Tat müssen sich decken. Dabei spielt der Begriff Wahrheit auch auf Joh 14,6 an; dort hatte sich Jesus selbst ausdrücklich als Wahrheit bezeichnet. Erstmalig im ersten Johannesbrief wird hier die Alternative Wahrheit – Lüge aufgezeigt (vgl. unten S. 152f). Dem Tun der Wahrheit entspricht das offene Bekenntnis zu Jesus. Der folgende V. 7 wendet das eben Gesagte ins Positive: Im Licht zu wandeln bedeutet das offene, gut sicht- und hörbare Bekenntnis zu Jesus. Man mag sich hier durchaus an das Bildwort aus der Bergpredigt des Matthäusevangeliums erinnern. Dort wird den Adressaten zugesagt, sie seien das Licht der Welt, und man zündet nicht ein Licht an, um es unter einen Scheffel zu stellen, sondern auf einen Leuchter. So leuchtet es allen, die im Hause sind (Mt 5,14f). Genau das ist das Anliegen des Johannes: Die Angehörigen der christlichen Gemeinde sollen sich vor der Welt mutig zu Christus bekennen. Die Folge daraus ist dementsprechend die Gemeinschaft untereinander, d.h. die Gemeinschaft von Adressaten und Absendern (vgl. 1,3). Eine weitere Folge aus dem offenen Bekenntnis ist die Erfahrung, durch das Blut Jesu, des Gottessohnes, von aller Sünde rein zu werden. Eine derartige Reinheit wird den Jüngern von Jesus in Joh 13, 10 bescheinigt. Unter Sünde versteht Johannes hierbei nicht irgendwelche Tatsünden, sondern ganz konkret den Unglauben. Wenn der Täufer Jesus
1Joh 1,6 – 2,2
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in Joh 1,29 als »Lamm« bezeichnet, das die Sünde der Welt wegschafft, dann ist mit Sünde der Welt (ein Genitiv der Qualität) eben der Unglaube gemeint. Von daher ist für diejenigen, die an diesen Jesus glauben und zur Gemeinschaft der Glaubenden gestoßen sind, tatsächlich die Sünde der Welt weggeschafft. Deshalb kann hier problemlos davon gesprochen werden, dass das Blut Jesu uns rein macht von aller Sünde. Johannes verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff Blut deshalb, weil er – etwa analog den reinigenden Blutriten für den großen Versöhnungstag in Lev 16 (vgl. auch Ex 24,8) – auf die Reinigung bzw. Reinheit der Christusbekenner hinaus will. Blut hat durchweg in der Antike reinigenden Charakter (vgl. im Alten Testament besonders Ex 24,8; Lev 16 ebenso wie Aristoteles, GenAn 726b12 u.a.). Zweifellos spielt der Begriff Blut auch auf das gewaltsame Lebensende Jesu an. Dass Johannes hier außerdem nicht von einem Wegnehmen der Sünde, sondern von einer Reinigung spricht, lässt vermuten: Nach Johannes hat der Tod Jesu hier offenbar auch sühnende Bedeutung. Reinigung von Sünden ist gleichbedeutend mit Sühne – der Begriff taucht erst später in 2,2 und 4,10 auf. Hintergrund ist die in Lev 4 belegte Vorstellung, wonach bei jedem Sühnopfer im Tempel die Reinigung von Sündenschuld durch Blut geschieht. Auch die Reinigung des Hohenpriesters und des Heiligtums am großen Versöhnungstag geschieht durch Opferblut (Lev 16,14f.18f.27). Der Tod Jesu (am Kreuz) hebt die Schuld derer, die an ihn glauben, wirksam auf. Er verhindert damit, dass die negative Folge der Sünde auf den Sünder zurückfällt. Zentrales Heilsgeschehen für Johannes bleibt zwar die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus, aber die Formulierungen im vorliegenden Vers zeigen an: Auch der Tod Jesu am Kreuz – vielleicht beeinflusst von der in Röm 3,25f belegten Vorstellung – hat eine eigene Heil stiftende Bedeutung. Auffällig bleibt jedoch, dass er auf die Kreuzigung Jesu hier nur mit Hilfe des Begriffs Blut anspielt und diese nicht ausdrücklich erwähnt. Mit diesem Begriff spielt Johannes wohl auf das in der Gemeinde praktizierte Abendmahl an. Schließlich wird im Johannesevangelium die Abendmahlsüberlieferung im Vergleich zu Paulus (1Kor 11,23–25) und den anderen Evangelisten (Mk 14,22–24; Mt 26,26–28; Lk 22,19f) verändert. In Joh 6,54 stellt Jesus fest: Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, der hat das ewige Leben, und ich werde ihn am Jüngsten Tag auferwecken. Es wäre dann das Abendmahl, in welchem die Reinigung der Glaubenden stattfindet bzw. ihnen zugeeignet wird. Ebenso denkbar ist, dass Johannes hier eine feste urchristliche Formel übernimmt, die die Taufe zum Hintergrund hat. Das Motiv der Reinigung von den Sünden verbunden mit dem Blut Christi findet
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1Joh 1,6 – 2,2
sich wiederholt in der Offenbarung des Johannes (Offb 1,5; 5,9; 7,14 u.ö.). Und tatsächlich ist der Gedanke der Reinigung durch das Blut Christi ein Motiv der urchristlichen Taufsprache (vgl. 1Petr 1,2; Hebr 9,14; Eph 5,26). Zweifellos ist die Taufe auch in den Adressatengemeinden des Johannes als Brauch zur Eingliederung in die Gemeinde gepflegt worden (vgl. nur Joh 3,22.26; 4,1f). Johannes geht es also darum, deutlich zu machen, dass – theologisch gesehen – die »Sünde der Welt«, also der Unglauben, für die Glaubenden mit ihrer Taufe eine Größe der Vergangenheit ist. Wenn in V. 8 die Überzeugung, als Christ habe man keine Sünde, als Selbstbetrug kritisiert wird, so scheint plötzlich das Thema Sünde eben doch ein Problem der Adressaten zu sein. Aber diese Aussage widerspricht nur scheinbar dem vorangegangenen Vers. Denn Johannes wendet sich hier gegen die Überzeugung, man habe die Reinigung von Sünden durch Jesu Blut nicht nötig, weil man ja gar nicht gesündigt habe. Diese Behauptung weist Johannes bedingungslos ab. Es sieht so aus, dass er damit seinen eigenen Aussagen von 3,6–9 widerspricht; dort stellt er nämlich sehr wohl fest, dass Glaubende gar nicht sündigen könnten. Dieser Widerspruch könnte aufgelöst werden, indem man – wie in 5,16f vorausgesetzt – zwischen einer Sünde zum Tod, also einer schweren Sünde, und einer Sünde nicht zum Tod, also einer vergebbaren Sünde, differenziert. Doch der vorliegende Vers scheint eine solche Unterscheidung auszuschließen, da er ganz allgemein und unbedingt formuliert ist: Keiner kann nach Johannes behaupten, keine Sünde zu haben. Hintergrund ist die Vorstellung, dass diejenigen, die keine Sünde haben, Jesus nicht benötigen – und mit der Sünde haben auch die Gemeindeglieder ihre Erfahrungen gemacht. Wenn nun tatsächlich »Sünde« für Johannes gleichzusetzen ist mit Unglaube bzw. Abfall vom Glauben, dann bedeutet der vorliegende Vers: »Wenn wir behaupten, dass wir nicht wie Ungläubige gehandelt oder geredet haben …«. Johannes spricht dann von Menschen aus der Gemeinde, die genau das behauptet hatten, obwohl sie seiner Meinung nach eben doch geredet und gehandelt hatten wie Ungläubige. Sünde gehört für ihn zum Christsein dazu. Christlicher Glaube schwankt stets zwischen Vertrauen (Glaube) und Furcht (4,18) bzw. Zweifel (Unglaube bzw. Sünde). Für Johannes ist es nicht vorstellbar, dass Christen nicht zweifeln. Das Geschenk des Glaubens hat man nicht ein für alle Mal , sondern es ist stets dem Zweifel ausgesetzt, gerade wenn die christliche Gemeinde bedrängt ist. Johannes geht sogar so weit, dass er feststellt: Wer nicht einräumt, dass er auch zweifelt, Furcht hat und vielleicht sogar einmal die Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinde verleugnet hat, hat nicht die Wahrheit, d.h. Jesus selbst, in sich. Das Wegschaffen des
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Unglaubens durch das »Lamm Gottes« (Joh 1,29) ist nicht einfach eine Tat am Beginn des Christseins, sondern es muss immer wieder geschehen. Zur christlichen Gemeinde zu gehören bedeutet, die Wahrheit, d.h. Jesus (vgl. Joh 14,6), in sich zu haben, von der Wahrheit erfüllt zu sein. Hier findet sich zum ersten Mal im ersten Johannesbrief die Vorstellung, dass die Christen von Göttlichem erfüllt sind. Im Verlauf des Schreibens taucht immer wieder die Vorstellung auf, dass Jesus bzw. Gott im Menschen ist bzw. bleibt. Dieses Verhältnis kann auch wechselseitig beschrieben werden, dass der Glaubende in Gott bleibt (vgl. den Exkurs »Die ›Durchdringungsformeln‹ im ersten Johannesbrief« unten S. 91f). Erstmalig im ersten Johannesbrief wird in V. 9 der Begriff Sünde im Plural verwendet. Gleichwohl geht auch die Aussage dieses Verses in die gleiche Richtung. Das Eingeständnis der eigenen Sündentaten hat bei Christus Vergebung zur Folge. Mit nahezu gleicher griechischer Formulierung wird in Mk 1,5; Mt 3,6 und Jak 5,16 vom Sündenbekenntnis gesprochen, und an allen drei Stellen geschieht dieses Bekenntnis in einem öffentlichen Rahmen. Genau das ist es aber, was Johannes von seinen Adressaten erwartet: das öffentliche Bekenntnis der eigenen Sünden. Dieses wäre durchaus vorstellbar im Rahmen einer Taufe (vgl. V. 7) und damit einer Aufnahme in die Gemeinde. Dem menschlichen Bekenntnis der eigenen Unzulänglichkeit entspricht auf Gottes Seite die Treue und Gerechtigkeit. Hier scheint ein ähnlicher Gerechtigkeitsbegriff vorzuliegen wie bei Paulus in Röm 3,26: Gott ist gerecht und macht den gerecht, der aus dem Glauben an Jesus ist. Gottes Treue und Gerechtigkeit sorgen dafür, dass die menschliche Untreue und »Ungerechtigkeit« vergeben werden können. Die damit verbundene Reinigung von aller Ungerechtigkeit deutet an, dass Gott die Seinen sich selbst ähnlich, nämlich gerecht macht. Die Anspielung auf Joh 15,2 ist unübersehbar: Der Weingärtner wird jede Rebe, die Frucht bringt, reinigen, damit sie mehr Frucht bringe. Nach dem Verständnis von 1,9 besteht diese Reinigung also in der Sündenvergebung beim Eintritt in die Gemeinde, aber auch in der Vergebung eines Versagens in einer konkreten Situation, wenn etwa das eigentlich nötige offene Bekenntnis zu Jesus bzw. zur christlichen Gemeinde aufgrund von Zweifeln und Ängsten nicht abgelegt werden konnte. Es geht Johannes um die Bereitschaft, diese Sünden zu bekennen und sich vergeben zu lassen. Vergleicht man V. 8 mit V. 1 0, fällt nicht nur der gleiche Aufbau auf, sondern auch – umso mehr – die unterschiedliche Folge. Wurde in V. 8 gesagt, dass, wer die Existenz der Sünde (bzw. des Unglau-
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bens) für sich leugne, sich selbst betrügen würde, so ist jetzt die Folge dieser Leugnung eine Gotteslästerung: Die Wahrheit, d.h. Jesus (vgl. Joh 14,6), wird zur Lüge gemacht. Auch hier ist vorauszusetzen, dass Johannes Menschen im Blick hat, die in seinen Augen gesündigt haben, d.h. gehandelt und geredet haben wie Ungläubige, dies aber abstreiten. Nach Joh 8,44 ist der Teufel ein Lügner, ja der Vater der Lüge. Der Verfasser schärft damit seiner Leserschaft noch einmal das notwendige offene Bekenntnis zur christlichen Gemeinde bzw. zu Jesus ein. Verleugnung ist Gotteslästerung. Im Nachsatz wird – ähnlich wie in V. 8 – dem »Gotteslästerer« klargemacht, dass er nicht erfüllt ist von Gottes Wort (vgl. V. 8: von der Wahrheit). Dies bedeutet im Umkehrschluss: Wahre Gemeindeglieder sind von Gott erfüllt, in V. 8 von der Wahrheit, in V. 10 vom Wort – dieses ist aber nach 1,1 Jesus selbst. Mit unterschiedlichen Worten wird hier im Grunde dasselbe ausgesagt. Für Johannes ist ein konkretes Versagen, z.B. die öffentliche Verweigerung des Bekenntnisses zu Jesus oder zur christlichen Gemeinde aufgrund von Zweifeln und/oder Ängsten, nicht das Problem. Für problematisch erachtet er aber, wenn dieser Augenblick der Schwäche nicht eingeräumt und zugegeben, sondern abgestritten wird. Solche Menschen machen seiner Meinung nach Christus, also denjenigen, dessen Blut von Sünden reinigt, zum Lügner. Nur auf den ersten Blick scheint Johannes in 2 , 1 durch die Anrede »meine Kinderchen« neu einzusetzen. Inhaltlich bleibt er jedoch beim Thema des ersten Kapitels. Die Anrede dient ihm deshalb dazu, das Folgende als Zusammenfassung des bisher Geschriebenen zu unterstreichen. Die Verkleinerungsform des Begriffes »Kind« verwendet er auch sonst gerne (vgl. 2,12.28; 3,7.18; 4,4 und 5,21) und ahmt so nach, wie zufolge Joh 13,33 Jesus seine Jünger anspricht. Die Anrede der Adressaten als »Kinderchen« zeigt also das Selbstverständnis des Briefschreibers als eine über seinen Adressaten stehende Autorität. Dies hat er im Grunde durch die mehrfache Betonung der Augenund Ohrenzeugenschaft in 1,1–3 bereits begründet. Das Verhältnis ist dem Verhältnis Jesu zu seinen Jüngern ähnlich, wobei Johannes – anders als Jesus in Joh 13,33 – noch das Possessivpronomen »meine« hinzufügt und dadurch einen besonderen inneren Bezug zum Ausdruck bringt. Auffällig ist, dass das vertraute »meine« bei allen folgenden Belegen nicht auftaucht. Ziel des Schreibens ist die Verhinderung von Sünde, d.h. nichts anderes als die Verhinderung des Abfalls vom Glauben bzw. die Bestärkung im Glauben. Dieser Glaube ist aber – wie bereits in 1,8–10 angesprochen – stets ein angefochtener. Der Unglaube, d.h. Zweifel und Angst sind für die christliche Gemeinde nie ganz besiegt.
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Sollten aber doch Zweifel und Angst weiter um sich greifen, können sich die Glaubenden auf Jesus als Beistand, Anwalt oder Fürsprecher (parákletos – die lateinische Form dieses Wortes wäre advocatus) vor Gott verlassen. Der hier verwendete Begriff taucht im Neuen Testament nur noch in Joh 14,16f.26; 15,26; 16,7–11 auf, dort allerdings in einer anderen Bedeutung. Der Paraklet ist hier der Heilige Geist bzw. der Geist der Wahrheit (Joh 14,26). Der Grund für die Bedeutungsveränderung im Vergleich zum Evangelium liegt wohl an der Verwendung des Begriffs Salbung. Denn es ist im ersten Johannesbrief die Salbung, die die Aufgabe der Lehre übernommen hat (vgl. 2,27). Nach 2,1 wird Jesus als Anwalt bzw. Fürsprecher der Glaubenden vor Gott bezeichnet. Nicht zufällig gilt Jesus – wie Gott selbst (in 1,9) – als gerecht, d.h. Jesus ist derjenige, der bei Gott selbst ist und für die Seinen Partei ergreift, auch und gerade wenn sie zweifeln und abzufallen drohen. Genau dies ist die Sachlage in 5,16 im Hinblick auf die Sünde nicht zum Tode. In einem solchen Fall darf man für den Sünder bitten, und Gott wird ihm das Leben geben. Insofern Jesus als gerecht bezeichnet wird – eine Eigenschaft, die sowohl auf Gott (1,9) als auch auf Jesus (vgl. 2,29; 3,7) zutrifft –, kann er auch bei Gott für die Seinen eintreten. Er steht Gott näher als jeder (andere) Mensch. Die dahinterstehende Vorstellung lautet: Wer bei dem, der um etwas gebeten wird, besser angesehen ist, wird vorgeschickt. Derjenige, der stellvertretend für andere um etwas bittet, hat einen (noch) besseren Draht zu dem, der gebeten wird. Er ist – ganz konkret – Gottes »Liebling«, sein Sohn (vgl. Mk 1,11). Die Situation ist ähnlich vorzustellen wie bei Abrahams Fürbitte für die Städte Sodom und Gomorrha (Gen 18,26–32). Stellvertretend für die sündigen (zweifelnden, ängstlichen, eben nicht gerechten) Menschen bittet der Gerechte beim gerechten Gott für sie. Im Beziehungsdreieck ist derjenige, für den Fürbitte geleistet wird, am weitesten von Gott entfernt; er hat Stellvertretung bzw. Fürbitte nötig. Die Leistung des Fürbittenden bzw. Stellvertreters hat sehr groß zu sein, oder er muss Gott sehr nahestehen. Für Jesus, der auf Gott ausgerichtet ist (vgl. 1,1), trifft dies nach Johannes zweifellos zu. Jetzt wird auch deutlich, weshalb man nach 1,8.10 nicht nur sich selbst betrügt, sondern auch Gott zum Lügner macht, wenn man behauptet, man habe keine Sünde. Denn in einem solchen Fall stellt man sich auf eine Stufe mit Gott und tut so, als benötige man Jesus als Fürsprecher gar nicht. Die Tatsache, dass in diesem Zusammenhang Gott ganz selbstverständlich als Vater bezeichnet wird (vgl. 1,2), setzt eine besondere Beziehung der Adressaten zu Gott voraus (vgl. 3,1).
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Mit dem anschließenden V. 2 fasst Johannes theologisch den bisherigen Gedankengang zusammen und bringt in begrifflich auf den Punkt: Die irdische Existenz Jesu sowie seine gegenwärtige Fürsprache bei Gott bewirkt Sühnung für unsere Sünden. Das hier verwendete Wort, das sich sonst nur noch in 4,10 findet, beschreibt die Handlung, durch die Sühne bewirkt wird. Setzt man die hier gebotene Vorstellung in Bezug zu der in 1,7 erwähnten Reinigung durch das Blut Jesu, könnte hier tatsächlich der Gedanke zugrunde liegen, dass der Tod Jesu sühnende Bedeutung für Johannes hat. Dass die Kreuzigung hier aber nicht erwähnt wird, sondern vielmehr Jesus als Person das Subjekt des sühnenden Handelns ist, weist darauf hin, dass auch hier das gesamte irdische Wirken Jesu (unter Einschluss seines Kreuzestodes) bezeichnet werden soll. Die Forschung ist sich relativ sicher, dass hier eine feste urchristliche Formel übernommen wurde (vgl. auch Röm 3,25f). Deshalb klappt auch der zweite Teil des Verses etwas nach und wirkt angehängt. Das hier verwendete und mit »Sühnung« übersetzte Wort hat im antiken Griechenland die Bedeutung von »Versöhnung«, schließt aber auch die Sühnung der betroffenen Menschen ein. Sühnung ist also die Handlung, mit der Gott gnädig gestimmt und die Sünde unwirksam gemacht wird. Durch die Sühne fallen die negativen Folgen der Sünde nicht auf den Täter zurück. Der angeschlossene Nachsatz korrigiert die aus der biblischen Tradition übernommene Formel Sühnung für unsere Sünden insofern, als jetzt Jesus die Sünden der ganzen Welt sühnt. Dadurch wird die Vorstellung der kultischen Sühne für das Volk Israel (Lev 16) deutlich überboten. Die Verwendung des Begriffs Welt in diesem Zusammenhang ist auch deshalb auffällig, weil die Welt sonst bei Johannes überwiegend negative Bedeutung hat. Ausdrücklich wird in 2,15 davor gewarnt, die Welt oder das, was in ihr ist, zu lieben, denn die ganze Welt liege im Bösen (5,19). Von daher wäre es zu kurz gegriffen, wenn man aus diesem Vers die Überzeugung herauslesen würde, Jesus habe die Sünden der ganzen Welt unwirksam gemacht. Nein, es geht vielmehr um das Heilsangebot, das Gott der Welt in Jesus gemacht hat. Die Sünde der Welt ist auch hier primär als Unglaube vorgestellt (vgl. Joh 1,29.36). Durch Jesus bekommt aber die Welt eben dieses Heilsangebot, welches – wenn alle zum Glauben an Jesus gelangt sind – letzten Endes tatsächlich dafür sorgen könnte, dass die ganze Welt von Sünden befreit ist. Anders als bei Paulus (vgl. Röm 3,25f; dort verwendet Paulus ein ähnliches Wort) spitzt Johannes diese Heilstat Gottes in Jesus aber, wie gesagt, nicht auf die Kreuzigung zu, sondern bezeichnet das gesamte Jesusgeschehen (»er«) als Versöhnungstat. Dies wird später in 4,10 noch bekräftigt.
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2,3–12 Leben im Licht und Halten der Gebote 3
Und daran erkennen wir, dass wir ihn kennen, wenn wir seine Gebote halten. 4 Wer sagt: »Ich kenne ihn« und hält seine Gebote nicht, ist ein Lügner, und in diesem ist nicht die Wahrheit. 5 Wer aber sein Wort hält, in dem ist in Wahrheit die Liebe Gottes vollkommen. Daran erkennen wir, dass wir in ihm sind. 6 Wer sagt, dass er in ihm bleibt, der soll auch so leben, wie jener gelebt hat. 7 Geliebte, ich schreibe euch nicht ein neues Gebot, sondern ein altes Gebot, das ihr von Anfang an gehabt habt. Das alte Gebot ist das Wort, das ihr gehört habt. 8 Wiederum schreibe ich euch ein neues Gebot, das wahrhaftig in ihm und in euch ist; denn die Finsternis vergeht, und das wahrhaftige Licht scheint schon. 9 Wer sagt, dass er im Licht sei, und hasst seinen Bruder, der ist bis jetzt in der Finsternis. 10 Wer seinen Bruder liebt, der bleibt im Licht, und in ihm ist nichts, was Anlass zum Straucheln sein könnte. 11 Wer aber seinen Bruder hasst, der ist in der Finsternis und wandelt in der Finsternis und weiß nicht, wo er hingeht; denn die Finsternis hat seine Augen verblendet. 12 Kinderchen, ich schreibe euch, dass euch die Sünden vergeben sind durch seinen Namen. In V. 3 kommt ein weiteres wichtiges Thema zur Sprache: das Halten der Gebote. Daran kann man nach Johannes erkennen, ob man Jesus wirklich kennt. Die ungläubige Welt (er)kennt Gott bzw. Jesus nicht (3,1; vgl. Joh 1,10; 3,10 u.ö.). Die Häufigkeit, mit der im Johannesevangelium und im ersten Johannesbrief auf die Wichtigkeit der Erkenntnis hingewiesen wird, deutet nur scheinbar auf eine gewisse Frontstellung gegen die geistige Strömung der »Gnosis« (= Erkenntnis) hin (vgl. oben S. 5f). Aber das Wort »Gnosis« taucht im ersten Johannesbrief gar nicht auf. Dort zeigt sich wahre Erkenntnis Jesu auch nicht im Erkennen der eigenen gottähnlichen Natur (so die »Gnosis«), sondern im Halten der Gebote. Vergleicht man die Ausdrucksweise im vorliegenden Vers mit der Argumentation Jesu gegenüber den ungläubigen Juden in Joh 8,55 (Und wenn ich sagen wollte: Ich kenne ihn nicht, so würde ich ein Lügner, wie ihr seid. Aber ich kenne ihn und halte sein Wort), dann ist deutlich: Der Vorwurf, Gott bzw. Jesus nicht zu kennen, richtet sich gegen die jüdische Umwelt der Adressatengemeinden (vgl. unten S. 142f).
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1Joh 2,3–12
Es sind die Taten, die zeigen, ob man ihn, d.h. Jesus bzw. Gott, kennt. Johannes spricht hier vom Halten der Gebote. Diese Formulierung findet sich sowohl in der jüdischen Tradition (Josephus, Ant 8,120,4; Sir 29,1; vgl. Sir 1,26; 2,15 und 37,12) als auch im Neuen Testament (Mt 19,17) und wirkt deshalb traditionell – daher auch die Pluralform »Gebote«. In Mt 19,17 fordert Jesus den reichen Jüngling auf, er solle die Gebote halten, wenn er zum Leben eingehen wolle. Häufig taucht diese Wortverbindung dann bei Johannes (sowohl im Evangelium als auch im ersten Johannesbrief) auf: Die insgesamt vier Belege im Johannesevangelium stehen alle im Kontext des Liebesgebotes gegenüber Gott bzw. Jesus: Joh 14,15.21; 15,10 (2x). Zugleich wird auch das Gebot der Bruderliebe im Evangelium mehrfach eingeschärft (Joh 13,34f; 15,9–17). An dieser Stelle bleibt im ersten Johannesbrief noch offen, was konkret mit dem Halten der Gebote gemeint sein könnte. Aber es ist davon auszugehen, dass den Adressaten die Verbindung zum Liebesgebot aufgrund ihrer Kenntnis des Johannesevangeliums sehr wohl bewusst war. Die sich anschließenden drei Verse 4 – 6 werden alle formal gleich eingeleitet und beziehen sich eng aufeinander. In der Forschung ist vermutet worden, dass sie bewusst alttestamentliche Rechtssätze nachahmen. Tatsächlich ähneln sie jedoch formal am ehesten weisheitlichen Aussagen, wie man sie etwa in Spr 6,32; 8,35 u.ö. findet. Die gleiche Beobachtung lässt sich an den Versen 2,9–11 erkennen. Inhaltlich wird zunächst eine Art »Gegenprobe« zur bisherigen Darstellung geboten: Die Behauptung der Kenntnis Jesu und die gleichzeitige Nicht-Einhaltung der Gebote ist nicht möglich. Auch hier scheinen wieder recht konkrete Gegner (ähnlich wie in 1,6.8. 10) im Blick zu sein, nämlich Menschen, die behaupten, Jesus zu kennen. Diese können nach Johannes entlarvt werden, indem man überprüft, ob sie Gottes Gebote halten. Dabei ist die Formulierung die Gebote halten aus der alt- und neutestamentlichen Überlieferung übernommen (vgl. Sir 1,26; 15,15; 32,23; 35,1, aber auch 1Kor 7,19 und Mt 19,17 sowie Joh 14,21; 15,10). Johannes hat allerdings ein ganz eigenes Verständnis davon, was es bedeutet, die Gebote zu halten. Seiner Meinung nach bestehen diese Gebote im Glauben an Jesus und der Aufforderung zur Bruderliebe (vgl. 3,23). Halten die Menschen diese Gebote nicht, sind sie Lügner. Formal und inhaltlich erinnert der Vers besonders an 1,6. Dort wird die Behauptung der Gemeinschaft mit Gott und der Wandel in der Finsternis in vergleichbarer Weise als Lüge bezeichnet. Hier geht Johannes aber deshalb noch etwas weiter, weil er nicht die Behauptung als Lüge bezeichnet, sondern den betreffenden Menschen wesensmäßig als
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Lügner – ähnlich wie Jesus in Joh 8,44 den Teufel als Lügner bezeichnet. Auch hier werden Lügner bzw. Lüge und Wahrheit einander gegenübergestellt (vgl. 1,6). Nach deutlichen Abgrenzungen gegen falsche Behauptungen und Überzeugungen beschreibt Johannes jetzt positiv, wie er sich das Verhältnis zwischen Gott und den Gemeindegliedern vorstellt (V. 5 ). Dabei meinen die Formulierungen seine Gebote halten (V. 3) und sein Wort halten (V. 4) dasselbe. Der Ausdruck sein Wort halten kommt mehrfach bei ihm vor (Joh 8,51.52; 14,23; 15,20; 17,6; vgl. Offb 3,8.10) und geht wohl zurück auf 1Sam 15,11. Dort wird Saul bescheinigt, er habe die Worte Gottes nicht gehalten. Aus dem Halten des Wortes folgt ein buchstäblich »inniges« Verhältnis zwischen Gott und den Gemeindegliedern. In ihnen ist nicht nur in Wahrheit Gottes Liebe (d.h. Gott liebt sie!) vollkommen (vgl. 4,12.17.18), sondern sie sind auch in ihm. Beide Vorstellungen können in einem Satz zur Sprache kommen: Göttliches ist im Glaubenden, und der Glaubende ist in Gott. Das Wissen, woran man erkennen kann, dass Gott (die Seinen) liebt, setzt Johannes hier schlicht voraus – erst in 3,1.16 und 4,9f macht er deutlich, wie sich die Liebe Gottes zu den Seinen bzw. zur Welt geäußert hat. Diese Beobachtung spricht also ebenfalls dafür, dass das Johannesevangelium in den Adressatengemeinden bekannt ist. Dort wird ausdrücklich gesagt, dass Gott die Welt so sehr geliebt habe, dass er seinen eingeborenen Sohn gesandt hat, damit alle Glaubenden das ewige Leben haben (Joh 3,16; vgl. 1Joh 4,9f). Dabei zeigen die Taten (das Halten der Gebote bzw. des Wortes) an, ob man in ihm ist. Dieser Rückschluss von den Taten auf den wahren Glauben ist in der Kirchengeschichte, ausgehend von Johannes Calvin vor allem von der reformierten Kirche, immer wieder betont und eingefordert worden. Aus dem Gesagten ergibt sich die Forderung, man solle Gottes Gebote halten. Der Gedankengang wird aber noch weitergeführt. Johannes fordert, man solle so leben, wie Jesus gelebt hat (V. 6). Auch hier scheinen wieder Menschen angesprochen, die von sich behaupten, in Jesus zu sein, aber ihren Lebenswandel nicht an ihm ausrichten. Mit der Forderung, sich im Leben an ihm zu orientieren (vgl. bes. 1,6), wird klar, dass der erste Johannesbrief das Johannesevangelium voraussetzt. Die Leserschaft muss es kennen, sonst wäre dieser Satz für sie unverständlich. Dabei weiß der Verfasser, dass die Forderung nach einem Leben wie er gelebt hat recht pauschal ist. Er muss im Folgenden unbedingt präzisieren, was er konkret unter dieser Richtlinie versteht. Genau dies geschieht jetzt. Die neuerliche Anrede in V. 7 ist gegenüber 2,1 verändert: Dort wurden die Adressaten belehrt und dementsprechend mit »meine
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Kinderchen« angesprochen, aber jetzt geht es darum, wie die Christen miteinander umgehen sollten. Dementsprechend lautet die Anrede jetzt: Geliebte und verweist im Grunde bereits auf die in V. 10 angesprochene Bruderliebe. Anders als in V. 3f taucht hier das Wort Gebot im Singular auf. Johannes will die Gebote damit auf ein zentrales Gebot zuspitzen und betont ausdrücklich, dass es sich um ein altes Gebot handle. Das Adjektiv alt macht dessen Bedeutung deutlich und ist positiv gemeint, denn es ist ein Gebot, das ihr von Anfang an gehabt habt. Diese Formulierung unterstreicht erneut das besondere Alter des Gebotes und erinnert sofort an 1,1: Was von Anfang an war … Damit ist auch der Anfang der Welt (die Schöpfung) gemeint, und ganz sicher soll dies hier anklingen: Das Gebot, von dem Johannes spricht, ist von Anfang an dagewesen. Ein Verstoß gegen ein derart uranfängliches Gebot wäre eine Tat gegen Gott. Zugleich signalisiert jetzt die Anrede der Adressaten (ihr habt es von Anfang an gehabt), dass mit Anfang hier ebenso der Beginn des Christseins gemeint ist. Wie in V. 5 a wird auch hier vom Wort gesprochen, das zu halten ist. Dieses ist identisch mit dem Gebot bzw. den Geboten. Dass die Predigt Jesu zusammenfassend auch als Wort bezeichnet werden kann, ist ebenfalls traditionelle urchristliche Redeweise (vgl. Mk 2,3). Das alte Gebot, von dem Johannes in V. 8 spricht, bekommt dadurch eine neue Qualität, dass mit Jesus das Licht (vgl. Joh 1,5) in die Welt gekommen ist und die Finsternis vergeht. Durch das irdische Wirken Jesu bekommt das Gebot noch einmal eine ganz neue Bedeutung. Der auffällige Relativsatz (welches wahrhaftig in ihm und in euch ist) ist eine Abkürzung für bereits vorher gemachte Aussagen: Das Gebot ist praktiziert worden von ihm, d.h. von Jesus, und wird praktiziert bzw. soll praktiziert werden von den Gemeindegliedern. Dadurch lenkt der Halbvers noch einmal zurück zu 2,6: … der soll auch leben, wie er gelebt hat. Unter Finsternis versteht Johannes die Welt außerhalb der christlichen Gemeinde (vgl. 1,5). Und wenn er feststellt, dass die Finsternis vergeht und das Licht bereits scheint, macht er damit deutlich, dass die Macht der Finsternis bereits gebrochen ist. Genau dies scheint für die Glaubenden noch nicht sichtbar zu sein; deshalb muss es Johannes so stark betonen. Den Glaubenden vor Augen sind Gefährdungen und – wahrscheinlich auch – ein damit verbundenes Schrumpfen der Gemeinde. Johannes proklamiert das aufscheinende Licht Jesu gegen die scheinbar wachsende Finsternis. Wenn aber Johannes festhält, dass das wahre Licht jetzt schon scheine, dann nimmt er damit Bezug auf Joh 1,9. Dort gilt Jesus als
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das wahre Licht. Es geht also darum, dass die Botschaft von Jesus, und damit die Botschaft vom Leben (1,1) seit der irdischen Wirksamkeit Jesu verkündigt wird. Deshalb kann der Jesus des Johannesevangeliums auch sich selbst als Licht des Lebens bezeichnen, das diejenigen haben, die ihm nachfolgen (Joh 8,12). Die Glaubenden sind damit Träger des Lichts, das nach Johannes mit Jesus in die Welt gekommen ist. Bisher blieb offen, was Johannes unter dem Gebot bzw. den Geboten verstanden haben will. Auch in V. 9 wird der Inhalt alt-neuen Gebotes nicht ausdrücklich genannt; stattdessen werden die Themen Liebe und Hass variiert. Von daher ist deutlich, dass Johannes bei seiner Leserschaft die Kenntnis des Liebesgebotes voraussetzt. Die folgenden drei Verse werden alle formal gleich mit einem Relativsatz eingeleitet (vgl. 2,4–6) und konkretisieren nach und nach das fragliche Gebot. Zunächst folgt eine negative Bestimmung: Der Anspruch, im Licht, d.h. in der christlichen Gemeinde, zu sein, schließt den Hass gegenüber dem Bruder aus. Mit Bruder ist hier zweifellos der Glaubensbruder bzw. die Glaubensschwester gemeint. Die Vorstellung einer Geschwisterschaft beschreibt für Johannes das Verhältnis unter den Glaubenden am besten. Hat man doch Gott als gemeinsamen Vater! Und ähnlich wie hier der Begriff Bruder gebraucht wird, war der Begriff Vater in 1,2 verwendet worden. Beide Beobachtungen sprechen dafür, dass diese (Selbst-)Bezeichnungen in den Gemeinden, die Johannes im Blick hat, selbstverständlich in Gebrauch waren. Durch einen wie immer gearteten Hass auf den eigenen (seinen) christlichen Mitbruder trennt man sich nicht nur von den anderen Brüdern, sondern auch vom Licht, d.h. von Gott (1,5). Auch hier scheint eine Behauptung der Gegner des Johannes zitiert worden zu sein: Sie nehmen für sich in Anspruch, im Licht zu sein, hassen aber ihre Brüder. Das heißt: Sie halten sich nicht zur Gemeinde, sind nicht solidarisch und scheuen das offene Bekenntnis. Es ist auffällig, dass die erstmalige Verwendung des Begriffs Bruder im ersten Johannesbrief im Zusammenhang mit der Frage nach dem Hass auf den Bruder geschieht. Johannes deutet hier also erstmals an, dass trotz seines Hasses der Betreffende immer noch als Bruder gilt und Bruder bleibt. Für Johannes sind demnach diejenigen, die einmal zur Gemeinde gehörten, die aber jetzt im Verdacht stehen, die Gemeinde wieder zu verlassen, immer noch Glaubensbrüder. Die einmal erfolgte Aufnahme in die Gemeinde ist nach Johannes im Grunde nicht rückgängig zu machen. Insofern ist hier die Vorstellung vom unzerstörbaren Charakter der Taufe bereits angelegt. Damit wendet sich Johannes auch
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gegen den Hass gegenüber den Brüdern, die die Gemeinde zu verlassen drohen. Diese sind für ihn nach wie vor Brüder (Geschwister) und damit Ziel der Liebe der Glaubenden. In 3,12 wird die hier angedeutete Überzeugung mit Hilfe des Verweises auf Kain, der seinen Bruder hasste, noch deutlicher. In V. 1 0 wird – wieder im Sinne einer Gegenprobe – positiv formuliert, was vorher bereits angebahnt wurde: Von der praktizierten Liebe gegenüber dem Bruder wird auf das Sein im Licht geschlossen. Daran schließt sich noch der Gedanke an, dass kein Stolperstein bzw. Anstoß in ihm sei, d.h. dass nichts in ihm sei, was Andere zum Straucheln oder gar zu Fall bringen könnte. Grammatikalisch wäre es möglich, dass sich das in ihm auf das Licht bezieht. Dann wäre mit dem Halbsatz gemeint, dass im Licht die Möglichkeit zu straucheln bzw. zu fallen, nicht besteht. Wahrscheinlich bezieht sich aber das in ihm auf den betreffenden Menschen. Dann bedeutet der Halbsatz, dass derjenige, der seinen Bruder liebt, keinen Anstoß erregt – weder für andere (ähnlich Mt 16,23; 1Kor 1,23) noch für sich selbst (vgl. Hos 4,17). Konkret heißt das: Wer seinen christlichen Mitbruder liebt, verleitet weder sich noch andere zum Straucheln bzw. zum Abfall vom Glauben und damit zur Sünde. Die Vorstellung von der Unvereinbarkeit von Licht und Hass ist Johannes derart wichtig, dass die in V. 9 verwendeten Wörter noch einmal aufnimmt und in den Gedanken in V. 1 1 fortführt: Wer seinen Bruder hasst, ist nicht nur in der Finsternis, sondern er wandelt auch in der Finsternis und weiß nicht, wo er hingeht. Hier übernimmt er fast wörtlich das Jesuswort von Joh 12,35: Wer in der Finsternis wandelt, der weiß nicht, wo er hingeht. Der Kontext in Joh 12 ist dabei folgender: Die Reaktion auf Jesu Ankündigung der Erhöhung – gemeint ist seine Kreuzigung – (V. 32) ist Unglaube (V. 37). Begründet wird dieser Unglaube mit einem Zitat aus Jes 6,9; dort heißt es, dass Gott selbst ihre Augen verblendet habe (Joh 12,40). Genau diese Formulierung ist hier aufgenommen. Der einzige Unterschied besteht darin, dass im vorliegenden Vers die Finsternis für die Erblindung der Augen verantwortlich gemacht wird. Dies hat Johannes deshalb verändert, weil dadurch die Gegenüberstellung von Licht (kein Stolperstein) und Finsternis (Blindheit) nicht durchbrochen wird. Denn nach 1,5 ist Gott ja Licht und in ihm ist keine Finsternis. Der Bruderhass zeigt damit an, dass man in der Finsternis wandelt. Wenn mit Finsternis tatsächlich die Welt außerhalb der christlichen Gemeinde bezeichnet ist, dann ist es nur logisch, dass diese (anders als in Joh 12,35–40) als die Blindheit verursachende Macht bezeichnet wird. Wer in der Welt aufgeht (vgl. 2,15–17), wird blind für das eigentlich Wichtige: das ewige Leben.
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Die Erwähnung der erblindeten Augen erinnert zugleich an 1,1. Dort verweist Johannes ausdrücklich darauf, was er mit den Augen betrachtet habe. In der hier vorgelegten Interpretation des Liebesgebotes wird vor allem das aus dem Hass gegenüber dem Bruder folgende Sein thematisiert (V. 9 und 11); und genau davor warnt Johannes. Diese Warnung vor Hass und die Ermutigung zur Liebe der Gemeindeglieder untereinander und Gott gegenüber sind gerade angesichts einer Verfolgungssituation ganz besonders wichtig. Sie dienen der Binnenstabilisierung. Wer sich von der Gemeinde distanziert, indem er kein offenes Bekenntnis wagt, gehört wieder zur Finsternis und verführt dadurch auch andere, sich wieder in die Finsternis zu begeben. Der hier im Griechischen verwendete Begriff skándalon bezeichnet bei Johannes einen Anstoß zum Unglauben, der zum Heilsverlust führt. Auf diese Art und Weise macht die Finsternis blind. Aber auch hier gilt: Nur derjenige, der eigentlich zur Gemeinde gehört, kann seinen Bruder hassen (vgl. V. 9). Dem entsprechend sollen auch diejenigen nicht gehasst werden, die anscheinend die Gemeinde verlassen. Exkurs: Die Gegner im ersten Johannesbrief Die Aussagen der Gegner, die sich aus 1,6.8.10 und 2,4,6.9 ableiten lassen, lauten: Wir haben Gemeinschaft mit ihm, wir haben keine Sünde, und wir haben nicht gesündigt. Wir kennen ihn, wir halten sein Wort, und wir bleiben in ihm. Diese Aussagen führen zu der Vermutung, dass die von Johannes hier zitierten Gegner mit der Gemeinde nach wie vor Kontakt haben und denselben Heilsanspruch haben wie die Gemeindeglieder auch. Sie wollen nach wie vor zur Gemeinde dazugehören, aber Johannes spricht ihnen diese Zugehörigkeit ab. Sie behaupten nur, auch zur Heilsgemeinde Gottes zu gehören, aber ihr Handeln stimmt nicht mit ihrem Reden überein: Sie wandeln in der Finsternis, d.h. in der Welt (1,6), sie betrügen sich selbst mit der Aussage, sie hätten keine Sünde (1,8), und machen Gott bzw. Christus zum Lügner, wenn sich behaupten, sie hätten nicht gesündigt. Außerdem sagen sie, sie würden Jesus kennen, aber sie halten seine Gebote, d.h. das Gebot, die Brüder zu lieben, nicht ein (2,4). Sie sagen, sie würden in ihm bleiben, leben aber nicht, wie er gelebt hat (2,6). Zusammenfassend kann man sagen: Sie behaupten, sie wären im Licht, aber sie hassen ihre Brüder (2,9). Tatsächlich ist der Anspruch der jüdischen Gemeinden im Römischen Reich dem der christlichen Gemeinden durchaus vergleichbar. Auch sie sind der Überzeugung, als Volk Gottes im Heilsbereich Gottes zu leben – oder mit den Worten des Johannes: Sie haben Gemeinschaft mit Gott (1,6; vgl. Philo, VitMos 1,158; SpecLeg 1,221 u.a.), sie haben den Glauben oder – um mit Johannes zu sprechen – sie haben keine Sünde (1,8.10; vgl. 4Esr 7,131 oder Philo, Praem 28 u.a.: Der eigentliche Sinn des Glaubens besteht
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für Philo darin, dass der Glaube die Abwendung von der Welt des Werdens und Vergehens und die Hinwendung zu dem ewigen Gott ist; vgl. Weish 3,14f), sie »kennen« ihn (2,4; vgl. Jdt 8,20; Weish 12,27) und sind im »Licht« (2,9; vgl. TestLev 19,1; TestNaph 2,10; TestGad 5,7). Denjenigen, der sich aufgrund des staatlichen Drucks wieder dem Judentum anschließt und damit leugnet, dass Jesus der Christus, der Gesalbte Gottes, ist, bezeichnet Johannes als Lügner. Dieser ist für ihn der Anti-Christ, der Gegen-Gesalbte, der Gegner Jesu Christi. Dass derjenige, der in der skizzierten Weise handelt, nicht nur den Sohn, sondern auch den Vater leugnet, stimmt aus jüdischer Sicht natürlich nicht, da die Juden sehr wohl an Gott glauben und dementsprechend der Überzeugung sind, im Heilsbereich Gottes zu leben. Gerade die Aussagen über die Gegner im zweiten Kapitel des vorliegenden Schreibens machen nun deutlich: Die Gegner haben offenbar den Anspruch, im Heilsbereich der Gemeinde zu leben, praktizieren aber nicht das Gebot der Bruderliebe, wie es Johannes versteht. Sie wagen kein offenes Bekenntnis zur Gemeinde, üben also keine Solidarität und leugnen offenbar später vor der Gemeinde, dass sie gesündigt (1,8.10), d.h. gegen das Gebot der Bruderliebe verstoßen hätten. Demgegenüber betont Johannes: Wer Gemeinschaft mit Gott und Jesus haben will, der muss auch offen Gemeinschaft mit den Brüdern pflegen, d.h. sich offen zur christlichen Gemeinde bekennen (1,6). Johannes geht es in diesem Schreiben auch um die Entlarvung falscher Gemeindeglieder. Er spricht all denen die Zugehörigkeit zur Heilsgemeinde ab, die meinen, innerhalb der Gemeinde von ihrem Glauben reden zu müssen, aber nach außen das offene Bekenntnis nicht wagen. Das Johannesevangelium kennt auch solche Menschen: Da ist Nikodemus (Joh 3,1– 21; 7,50–52), der ein offenes Bekenntnis zu Jesus nicht wagt. In ähnlicher Weise charakterisiert das Johannesevangelium auch Joseph von Arimathia, ein verborgener Jünger aus Furcht vor den Juden (Joh 19,38). Es sind also die Judenchristen, die aus Angst oder Respekt vor ihren früheren jüdischen Glaubensgeschwistern nur im Geheimen zur christlichen Gemeinde bekennen.
Ähnlich wie in 2,1 signalisiert in V. 1 2 die neuerliche Anrede Kinderchen – diesmal aber ohne das Possessivpronomen meine – nicht einen Neueinsatz, sondern eine Zusammenfassung der bisherigen Argumentation: Die erfolgte Sündenvergebung durch seinen Namen spielt auf das in 1,7 – 2,2 Gesagte an und will der Leserschaft die dortige Argumentation in Erinnerung rufen: Jesus ist es, der die Vergebung der bzw. die Reinigung von den Sünden ermöglicht. Dabei ist der Name Jesu identisch mit Jesus als Person. Die Tatsache, dass ausgerechnet hier der Begriff Name genannt wird, lässt an die Herleitung des Namens Jesu bei Matthäus denken. Dort bekommt Josef den Auftrag, seinen Sohn Jesus zu nennen, denn er wird sein Volk retten von ihren Sünden (Mt 1,21). Tatsächlich bedeutet der hebräische Name Jehoschua, der ins Griechische übertragen Jesus
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lautet, nichts anderes als Der Herr hilft bzw. rettet. Insofern weiß offenbar auch Johannes um die Bedeutung des Jesus-Namens. Dass den Glaubenden die Sünden vergeben sind, sagt Johannes sonst nie. Dies lässt vermuten, dass er auch hier eine urchristliche Formel aufnimmt, die offenbar ihren Sitz im Leben der Urchristenheit im Rahmen der Taufe, d.h. im Rahmen der Aufnahme in die christliche Gemeinde hatte. Nach Lk 24,47 und Apg 2,38 geschieht die Taufe zur Vergebung der Sünden. Auch diese Beobachtung stützt die Vermutung, dass Johannes in 1,7–22 die Taufe als Hintergrund für die Sündenvergebung und Bestärkung im Glauben anzunehmen ist. Nach der Nennung des Themas kommt Johannes zügig auf die Probleme zu sprechen, die den Gemeinden zu schaffen machen: die Sünde(n). Dabei ist für ihn die Sünde durchgängig der Unglaube. Unter Sünden (Plural) sind dann konkrete Vorfälle zu verstehen, in denen sich der Unglaube bzw. Zweifel gezeigt hat. Gemeint sind Situationen, in denen Gemeindeglieder sich etwa aus Furcht gescheut haben, ein offenes Bekenntnis zu Jesus oder zur christlichen Gemeinde abzulegen. Diese Augenblicke der Schwäche sind für Johannes noch gar nicht einmal das Problem, weil er weiß, dass sie durch Jesus vergeben werden können. Als »Lügner« sind seiner Meinung nach jedoch diejenigen zu bezeichnen, die behaupten, sie hätten nie gesündigt, d.h. sie hätten nie ihren Glauben an Christus verleugnet, obwohl sie es haben. Mehr noch: Nach Johannes machen diese Menschen Jesus selbst zum Lügner und lästern damit Gott. Die gesamte Argumentation findet statt auf dem Hintergrund des Bildes von Licht und Finsternis: Wer Jesus leugnet, ist in der Finsternis; wer sich aber offen zu ihm bekennt oder wenigstens bekennt, dass er sein Christsein verleugnet hat, der ist im Licht. Der Schlusssatz, wonach Jesus die Sühnung für die Sünden der ganzen Welt ist, erinnert an die Bezeichnung Jesu als das Lamm Gottes, das die Sünden der Welt wegschafft (Joh 1,29), und macht deutlich: Die Botschaft von Jesus geht die ganze Welt an. Zugleich zeigt sich, dass im ersten Johannesbrief mit dem Begriff »Sühnung« etwas begrifflich auf den Punkt gebracht wird, was im Johannesevangelium lediglich angelegt ist: Jesu irdisches Handeln bewirkt Sühnung für die Sünden derer, die an ihn glauben. Dass hierbei der Tod Jesu eine besondere Bedeutung hat, legt die Rede von der Reinigung von Sünden durch das Blut Jesu in 1,7 nahe. Im Glauben an Jesus kann die gesamte Schöpfung gerettet werden, Leben finden. Diese Rettung ist nach Johannes allerdings an das Halten der Gebote gebunden. Bereits in diesem ersten Argumentationsgang wird deutlich, dass unter den Geboten das Halten des Wortes
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Gottes zu verstehen ist (2,4) und das christusgemäße Leben (2,6), d.h. ein Leben in Liebe gegenüber dem (Glaubens-)Bruder. Dass die Glaubensschwestern von Johannes nie ausdrücklich erwähnt werden, liegt daran, dass in dem griechischen Begriff Bruder in neutestamentlicher Zeit die Schwestern eingeschlossen sind. Hierbei wird bereits angedeutet, dass diese Bruderliebe sich auch auf diejenigen Brüder zu erstrecken hat, die im Verdacht stehen, sich von der Gemeinde zu distanzieren. Eingekleidet wird die Argumentation in die Vorstellung vom Licht (ihr entspricht die Liebe) und der Finsternis (ihr entspricht der Hass). In 2,11 lenkt Johannes noch einmal den Blick zurück auf die Einleitung zum Gedankengang, wonach Gott selbst das Licht ist (1,5). Der zusammenfassende Vers 2,12 vergewissert die Adressaten noch einmal ihrer Zugehörigkeit zu Gott, die hergestellt ist durch die in Jesus Christus ermöglichte Sündenvergebung (vgl. 1,6 – 2,2). Hier ändert sich der Ton plötzlich. Johannes spricht seinen Adressaten das Evangelium, die Sündenvergebung, bedingungslos zu. Dieser Gedanke ist ihm so wichtig, dass er ihn mit der Formel ich schreibe euch einleitet. 2,13–14 Zwischenruf: Ziel des Schreibens Die zusammenfassende Einleitung des Verses 12 regt Johannes an, formal fünf ähnliche Sätze anzuschließen. Die beiden Verse mit dem – ausgehend von dem bereits in 2,12 formulierten »ich schreibe euch …« – fünfmaligen »ich schreibe euch« bzw. »ich habe euch geschrieben« wirken wie ein Fremdkörper innerhalb der Argumentationsreihen. Johannes versucht noch einmal, sich selbst und seinen Adressaten das Ziel seiner Abhandlung vor Augen zu führen. Dieser »Zwischenruf« wirkt wie eine Erinnerung daran, worum es ihm eigentlich geht: um die Kenntnis dessen, der von Anfang ist, um die Überwindung des Bösen, um die Kenntnis des Vaters und das In-sich-Behalten des Gotteswortes. Die Verse 2,13f unterscheiden sich von 2,12 dadurch, dass jetzt einzelne konkrete Gruppen innerhalb der Gemeinden angesprochen werden. Anders als in 2,12 verkündigt Johannes hier nicht eine gute Botschaft (z.B. Zuspruch der Sündenvergebung), sondern er beschreibt die Erkenntnis und Taten der Angesprochenen. Herauszuhören aus den lobenden Worten ist der Respekt, den Johannes für die angesprochenen Menschengruppen empfindet. 13
Ich schreibe euch, Väter; denn ihr kennt den, der von Anfang an ist. Ich schreibe euch, junge Männer; denn ihr habt den Bösen besiegt.
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Ich habe euch geschrieben, Kinder; denn ihr kennt den Vater. Ich habe euch geschrieben, Väter; denn ihr kennt den, der von Anfang an ist. Ich habe euch geschrieben, junge Männer; denn ihr seid stark, und das Wort Gottes bleibt in euch, und ihr habt den Bösen besiegt. Hatte Johannes in 2,12 mit dem Begriff Kinderchen noch seine Adressaten in ihrer Gesamtheit angesprochen, geht es ihm im Folgenden um Väter und junge Männer, d.h. also um Menschengruppen, die sich durch Alter und Reife voneinander unterscheiden. Auf den ersten Blick fallen die in diesem Abschnitt gehäuften Wiederholungen und Variationen auf. Insgesamt fünfmal (mit 2,12 sogar sechsmal) leitet er seine Aussagen ein mit Ich schreibe euch bzw. ich habe euch geschrieben. Dieser gleiche Satzanfang – die Forschung nennt diese Stilfigur »Anapher« – hat die Funktion, die Argumentation eindringlich wirken zu lassen, sie zu gliedern und fast wie ein Gedicht erscheinen zu lassen. Bei einer derart formal ähnlichen Einleitung fallen inhaltliche Unterschiede dann natürlich besonders auf: Zunächst variiert er die Anrede: In V. 12a hat Johannes seine auch sonst gebräuchliche Anrede (Kinderchen) verwendet, während in V. 14a ein anderes Wort hierfür auftaucht (Kindlein/Knäblein). Dazu kommt, dass Johannes in V. 14 im Unterschied zu den Versen 12 und 13 die Zeit ändert: Statt ich schreibe euch heißt es jetzt: ich habe euch geschrieben. Hinzu kommt, dass auch die beiden ersten Begründungssätze für das Schreiben des Johannes ganz unterschiedlich sind: Vergeben sind euch die Sünden um seines Namens willen (V. 12b) und Ihr habt den Vater erkannt (V. 14a). Am Schluss der Einheit in V. 14 finden sich zwei bisher nicht zur Sprache gekommene Gedanken: Ihr seid stark, und das Wort Gottes bleibt in euch. Die Ansprache in V. 1 3 zunächst an Väter, dann an Jünglinge und Kinder entspricht formal – ansatzweise – den urchristlichen Haustafeln, wo ebenfalls Väter und Kinder angesprochen werden (vgl. Kol 3,21; Eph 6,4). Allerdings findet sich in den folgenden Versen keine Ermahnung, sondern ausschließlich Zuspruch. Die Väter werden zuerst genannt, weil sie in den Gemeinden (und Familien) als Oberhäupter und Repräsentanten der Familien in der Antike eine besondere Verantwortung tragen. Johannes bescheinigt ihnen, sie würden denjenigen kennen, der von Anfang an ist. Hier nimmt er Bezug auf 1,1–3 bzw. Joh 1,1–18. Dieser Kontext legt nahe, dass es sich hierbei um Jesus handelt. Nicht zufällig wird ein Verb aufgenommen, das in 1,3–5 eine große Rolle spielt: (er)kennen. Wenn also den Vätern bescheinigt wird, sie würden Jesus ken-
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nen, dann heißt das nichts anderes als: Sie stehen fest im Glauben und halten dementsprechend Jesu Wort bzw. Gebote, denn nach 2,3f zeigt sich die Kenntnis Jesu am Halten seiner Gebote. Den jungen Männern – das hier verwendete Wort bezeichnet junge Männer etwa bis zum Alter von 40 Jahren – wird bescheinigt, sie hätten den Bösen besiegt. Johannes benutzt hier bewusst kriegerische Sprache. Zum ersten Mal taucht im vorliegenden Brief der Böse auf (vgl. auch 2,14; 3,12; 5,18f). Es scheint sich hierbei um eine konkrete Figur zu handeln, die den Adressaten bekannt ist. Bleibt die Frage, weshalb Johannes nicht konkret sagt, wen er damit meint. In 3,8.10 ist vom Teufel die Rede. Wenn Johannes mit dem Bösen den Teufel meint, warum nennt er ihn hier nicht Teufel? Exkurs: Der »Böse« – Kaiser und Teufel Tatsächlich kann im urchristlichen Sprachgebrauch der Teufel auch als der Böse bezeichnet werden (vgl. Mk 4,15; Mt 6,13). Nach 5,19 liegt die ganze Welt im Bösen, d.h. die Welt steht unter der Macht dieses Bösen. Damit dürfte mit diesem Ausdruck tatsächlich der im Johannesevangelium auftauchende Fürst dieser Welt (Joh 12,31; 14,30; 16,11) gemeint sein. Doch damit ist das Problem noch nicht gelöst, denn es bleibt unklar, weshalb hier so ungenau von dem Bösen gesprochen wird und nicht vom Teufel oder vom Fürsten dieser Welt. Johannes geht offenbar davon aus, dass den satanisch-mythischen Ereignissen (Kampf gegen die Macht des Satans; vgl. etwa Offb 12,7–9) irdische soziale Erfahrungen entsprechen. Dies wird wenig später in den Allegorien der Johannesoffenbarung besonders deutlich. Im ersten Johannesbrief wird dies dadurch vorbereitet, dass der Böse, von dem er spricht, für den Verfasser eine irdische Entsprechung hat. Und der zur Zeit des Johannes amtierende Fürst dieser Welt und damit der Böse, in dem die Welt liegt (5,19), ist kein anderer als der römische Kaiser. Anders gesagt: Der satanische Böse hat seine irdische Entsprechung im heidnischen Kaiser; für Johannes ist das aller Wahrscheinlichkeit nach konkret Domitian (Kaiser von 81 bis 96 n.Chr.). Diejenigen, die sich nicht (mehr) offen zur Gemeinde und damit zu Jesus Christus bekennen, beten für ihn heidnische Götterbilder an (vgl. 5,21) und huldigen damit dem Bösen. Dass christlicher Glaube und unbedingte Loyalität gegenüber dem römischen Kaiser einander ausschließen wird am Ende des Johannesevangeliums deutlich: Dort bezeichnet Thomas den Auferstandenen als mein Herr und mein Gott (Joh 20,28) – in deutlicher Abgrenzung zum römischen Kaiser, der sich als »Herr und Gott« (dominus et deus) verehren ließ. Die Aussage, die jungen Männer hätten den Bösen besiegt, bezieht sich auch auf Joh 16,33, wonach Jesus den Seinen Trost zuspricht mit der Begründung: Ich habe die Welt besiegt. Wenn Jesus die Welt besiegt hat, haben es auch die Glaubenden (5,4). Sieg über die Welt heißt jedoch zugleich Sieg über den Fürsten der Welt. Ist aber der Fürst der Welt identisch mit dem Bösen, dann wird in 2,13 genau dasselbe über die jungen Männer gesagt, was Jesus selbst nach Joh 16,33 behauptet. Der Glaube an
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Jesus vermittelt den Sieg über die Welt (5,4) und damit über den Herrscher dieser Welt, den Teufel und dessen irdischen Vertreter, den heidnischen Kaiser. Damit wird Jesu Prozess vor Pilatus zum Vorbild für die Gemeindeglieder. Offenbar müssen sie mit ähnlichen Prozessen rechnen wie Jesus selbst. Die Überwindung der Welt geschieht im Prozess Jesu durch das Wissen, selbst nicht aus dieser Welt zu sein (Joh 19,36), d.h. durch die Erkenntnis der Vorläufigkeit (vgl. 2,17) des Bösen und durch Verweigerung der Unterwerfung (vgl. hierzu auch unten S. 138–141).
Ganz bewusst redet Johannes hier also von dem Bösen, um damit verschlüsselt den »teuflischen« Kaiser als Repräsentanten des Fürsten dieser Welt anzusprechen. Und wenn er den jungen Männern bescheinigt, sie hätten ihn besiegt, so ist damit gemeint, dass sie dem Anspruch des Kaisers, angebetet zu werden, und damit dem Abfall widerstanden hätten. Anders als in V. 13 spricht Johannes in V. 1 4 dreimal davon, dass er den Kindern, den Vätern und den jungen Männern bereits geschrieben hätte. Formal ist dieser Satz genauso aufgebaut wie die beiden folgenden. Wenn festgestellt wird, die Kinder würden den Vater kennen, dann sind mit den Kindern alle Adressaten gemeint. Kinder sind sie aber nur, weil Gott ihr Vater ist. Zum ersten Mal werden sie damit fast unversehens als Kinder Gottes bezeichnet. Auffällig ist, dass der Begriff Vater als Bezeichnung für Gott (vgl. 1,2f; 2,1) hier eine ganz andere Bedeutung hat als sonst in diesem Argumentationszusammenhang – bisher waren die Familienväter gemeint. Von daher ist zu fragen, wann Johannes den Kindern geschrieben haben will, dass sie den Vater kennen würden. Dass hier auf ein verloren gegangenes Schreiben des Johannes verwiesen wird, ist unwahrscheinlich. Ebensowenig wird damit wohl das Johannesevangelium oder der zweite oder dritte Johannesbrief gemeint sein, denn solche Zusagen werden sonst nirgendwo gemacht. Genauso wenig überzeugend ist die Vermutung, Johannes habe zwischen der Abfassung von V. 12f und V. 14 eine längere Pause eingelegt. Am wahrscheinlichsten ist deshalb die Überzeugung, dass hier eine Stilfigur Verwendung gefunden hat: Johannes verändert bewusst die Zeitform von Präsens in das Vergangenheitstempus Aorist, um stilistisch nicht langweilig zu wirken. Von daher darf der Wechsel der Zeitform nicht überinterpretiert werden. Möglicherweise bezieht sich dieser Satz allenfalls zurück auf 2,3; dort wird die Kenntnis Gottes aus dem Halten seiner Gebote beschlossen. Wenn dann im Folgenden die Väter und die jungen Männer – genauso wie in V. 13 – angesprochen werden, dann geht es jetzt wieder um einzelne Menschengruppen innerhalb der angesprochenen Gemeinden. Und deshalb bezieht sich die Feststellung, Johannes
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habe den Vätern und den jungen Männern bereits geschrieben, auf den vorangegangenen V. 13, da die Nachsätze (dass ihr den kennt, der von Anfang an ist bzw. dass ihr den Bösen überwunden habt) jeweils identisch sind. Neu gegenüber V. 13 ist aber, dass den jungen Männern darüber hinaus zugestanden wird, dass sie stark seien und Gottes Wort in ihnen bleibe. Beides hängt mit dem Sieg über den Bösen zusammen: Das Adjektiv stark, das sonst weder in den Johannesbriefen noch im Evangelium auftaucht, wird deshalb verwendet, weil dieser Sieg auf eine große innere Kraft schließen lässt. Mit diesem Sieg haben sie auch noch unter Beweis gestellt, dass das Wort Gottes, d.h. Jesus selbst (vgl. Joh 1,1–18; vgl. 1Joh 1,10), in ihnen bleibt. Mit einer Ausnahme sind alle Zusprüche in den Versen 13 und 14 an die Väter, die jungen Männer und die Kinder präsentisch und beschreibend formuliert: ihr kennt …, ihr seid …, das Wort bleibt in euch. Die einzige im Perfekt formulierte Aussage ist die, dass die jungen Männer den Bösen besiegt haben. Diese Beobachtung spricht dafür, dass Johannes hier konkrete, erfolgreich überstandene Konfliktsituationen im Blick hat. Die angesprochenen jungen Männer haben ihren Glauben in Gefahrensituationen mutig bekannt. Dabei unterstreicht die Wiederholung der Aussagen (V. 13) im folgenden Vers (V. 14) deren Bedeutung für Johannes. Der »Zwischenruf« in 2,13f wirkt wie ein Einwurf in die bestehende Argumentation. Anlass hierfür ist der vorangehende Gedanke, der die bisherige Beweisführung in einem Zuspruch »Euch sind die Sünden vergeben um seines Namens willen« zusammenfasst. Wie in einer Haustafel (vgl. Kol 3,18–25; Eph 5,21 – 6,9) spricht Johannes jetzt einzelne Menschengruppen innerhalb der Gemeinde an und drückt ihnen gegenüber seinen Respekt für deren Erkenntnis und deren mutige Taten aus. Die doppelt getätigten Aussagen sind dabei für Johannes die wichtigsten: Ihr kennt den, der von Anfang ist, und ihr habt den Bösen überwunden. Johannes versteht hierbei unter dem Bösen zweifellos den römischen Kaiser als Repräsentanten des Teufels. Nun ist klar, dass die betroffenen jungen Männer wohl kaum vor dem kaiserlichen Tribunal erschienen sind. Hier ist vielmehr an eine Verhandlung vor einem kaiserlichen Statthalter (vgl. Joh 18,28 – 19,16) zu denken. Überblickt man die drei Zusagen in V. 14 (ihr kennt den Vater, ihr kennt den, der von Anfang an ist und das Wort Gottes bleibt in euch), dann scheint hier bereits eine Spur der Dreifaltigkeitslehre gelegt zu sein. In 1,1–4 wird Gott ausdrücklich als Vater bezeichnet, während Jesus das Wort des Lebens, das von Anfang an war, ist (vgl. nur 1,1–4). Schließlich wird der Geist den Glaubenden von Gott zugeeignet (4,13; vgl. auch 5,6).
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Johannes zollt seinen Adressaten höchsten Respekt für deren Leistung. Die christlichen Gemeinden, die er als Adressaten im Blick hat, stehen in einer ganz schwierigen, womöglich sogar die Existenz bedrohenden Situation. Diesen Christen ruft er zu: »Ihr kennt doch den Vater!« Und: »Ihr seid stark, und Gottes Wort bleibt in euch.« Auch wenn sich die gesellschaftliche Situation der Kirchen und Gemeinden zumindest im deutschsprachigen Raum im Vergleich zur Lage der Adressatengemeinden des Johannes grundlegend geändert hat: Diese Worte wirken, als wären sie in das 21. Jahrhundert gesprochen. Die großen Kirchen zumindest hierzulande kämpfen gegen einen sich scheinbar stetig und stillschweigend vollziehenden Abwanderungsprozess. Menschen – obwohl getauft und konfirmiert bzw. gefirmt – wenden sich von den christlichen Gemeinden ab, weil diese ihnen nichts mehr zu sagen haben und/oder nichts mehr geben können. Mit seinem Zuspruch bestärkt – auf lateinisch »konfirmiert« – Johannes diese Menschen: »Ihr wisst doch, was wirklich wichtig ist im Leben. Ihr seid stark. Ihr habt die Versuchungen der Welt (Macht, Geld, Besitz …) besiegt und das Wort Gottes bleibt in euch. Der Zwischenruf des Johannes ist auch für heutige Christinnen und Christen ein Ruf zur Sache, eine Erinnerung an das, worauf es im Leben und Sterben wirklich ankommt.
2,15–28 Zweiter Hauptteil Die Welt zwischen Christus und Anti-Christus 2,15–19 Die Gefahren für die Gemeinde Die zweimalige Rede von der Überwindung des Bösen in 2,13 und 14 nimmt Johannes zum Anlass, seine Einstellung über die Welt etwas genauer darzustellen. Dabei erläutert er die Gefährlichkeit der Welt und ihre Anziehungskraft (Verführung) auch auf die Glaubenden. Der Hintergrund hierfür ist die Überzeugung, dass die ganze Welt im Bösen liegt; diesen Gedanken formuliert er zwar ausdrücklich erst in 5,19, doch er ist bereits hier vorauszusetzen. Es ist dem Verfasser klar, dass der Sieg über den Bösen nicht einfach zu haben ist, denn es ist der Böse (der Teufel sowie dessen irdischer Repräsentant, der Kaiser), der nach Johannes die antike Welt beherrscht. Dem stellt er die Überzeugung gegenüber, dass es bereits die letzte Stunde ist. Die Wiederkunft Christi steht also unmittelbar bevor, sodass sich das Bleiben in Christus für die Glaubenden lohnt. 15
Liebt nicht die Welt noch was in der Welt ist. Wenn jemand die Welt lieb hat, ist die Liebe des Vaters nicht in ihm. 16 Denn alles, was in der Welt ist, die Begierde des Fleisches und die Begierde der Augen und die Prahlerei des Lebens, ist nicht aus dem Vater, sondern aus der Welt. 17 Und die Welt vergeht mit ihrer Lust; wer aber den Willen Gottes tut, bleibt in Ewigkeit. 18 Kinderchen, es ist die letzte Stunde! Und wie ihr gehört habt, dass der Antichrist kommt, so sind bereits jetzt viele Antichristen entstanden; daher erkennen wir, dass es die letzte Stunde ist. 19 Sie sind aus uns hervorgegangen, aber sie waren nicht aus uns. Denn wenn sie aus uns gewesen wären, so wären sie ja bei uns geblieben; aber es sollte offenbar werden, dass sie nicht alle aus uns sind. Auf den Zwischenruf folgt in V. 1 5 die Mahnung, die Welt nicht zu lieben. Nur auf den ersten Blick scheint der Aspekt, der hier von der Welt zum Tragen kommt, der Überzeugung zu widersprechen, Jesus sei die Versöhnung für die Sünden der ganzen Welt (2,2),
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denn die Sünde der Welt ist bei Johannes der Unglaube. Seiner Meinung nach wird der Welt durch Jesus der Glaube angeboten; dadurch geschieht die Versöhnung der Welt mit Gott. Ohne Jesus ist die Welt aber gottfeindlich. Deshalb dürfen sich die Adressaten nicht zu dieser »jesuslosen« Welt hingezogen fühlen. Der zweite Teil des Verses bietet die Erläuterung: Die Liebe zur Welt ist unvereinbar mit der Vorstellung, Gottes Liebe in sich zu haben. Diese ist in 2,5 untrennbar verbunden mit dem Halten des Gotteswortes. Ähnlich wird später in V. 17 formuliert, wenn es um das Tun des Willens Gottes geht. Johannes schreibt hier ganz bewusst nicht von der Liebe Gottes, sondern von der des Vaters. Hatte er in V. 14 erstmals seinen Adressaten zugestanden, Kinder des Vaters zu sein, so führt er diesen Gedanken mit der Rede von der Liebe des Vaters weiter: Wer sich an der Welt orientiert, trägt die Liebe des Vaters nicht in sich. Die heute (hoffentlich) geläufige Rede von der Liebe eines Vaters zu seinen Kindern ist alttestamentlich gar nicht so häufig. Die drei einzigen Belege aus dem Alten Testament sind hier nicht unproblematisch: Abraham liebte Isaak (Gen 22,2 – was war mit Ismael?), Isaak liebte Esau (Gen 25,58 – was war mit Jakob?), und Jakob liebte Josef (Gen 37,3f – was war mit den anderen Brüdern?). Dem gegenüber steht aber – und hierauf scheint sich Johannes im Grunde zu berufen – die Liebe Gottes zu seinem Volk: Nach Hos 11,1 hatte Gott sein Volk Israel, als es jung war, lieb und rief ihn, seinen Sohn, aus Ägypten. Und nach Ps 103,13 erbarmt sich Gott der Menschen, wie sich ein Vater seiner Kinder erbarmt. Diese seltenen Notizen von der väterlichen Liebe Gottes zu den Seinen nimmt Johannes hier auf und baut sie (später; vgl. 3,1; 4,7–21) noch weiter aus. In V. 1 6 liefert Johannes die Begründung für seine Ablehnung der Welt: Alles, was in der Welt ist, ist nicht aus dem Vater, sondern aus der Welt. Zum ersten Mal begegnet jetzt im ersten Johannesbrief die Formulierung aus etwas sein. Johannes bezeichnet damit die das Wesen bestimmende Herkunft. Die Grundalternative ist hier bereits deutlich: Entweder man ist aus Gott, d.h. man stammt von Gott ab, oder aus der Welt (vgl. 3,10.12 u.ö.). Diese Ausdrucksweise ist im Johannesevangelium vorgeprägt (Joh 8,23; 15,19; 17, 14.16; 18,36). Was aber aus der Welt ist, wird durch die Aufzählung (die Begierde des Fleisches, die Begierde der Augen, Prahlerei) ausgeführt. Der Begriff Begierde hat bereits innerhalb der altgriechischen Philosophie seit Platon negativen Klang. Sie wird angesehen als ein Vergehen des Menschen gegen seine Vernunft. Platon spricht von der verwerflichen Begierde. Und für den Stoiker Zenon gehört die Begierde neben Vergnügen, Furcht und Trauer zu den vier Hauptlei-
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denschaften, die aus der falschen Gebrauch der Güter entstehen. Aber auch im Alten Testament und in der sich daran anschließenden jüdischen Tradition wird die Begierde sehr kritisch gesehen. In den zehn Geboten ist sie ausdrücklich verboten (Ex 20,17; Dtn 5,21). Das Gebot, nicht zu begehren, gilt im 4. Makkabäerbuch als Zusammenfassung der Tora (4Makk 2,6). Und die im ersten Jahrhundert entstandene jüdische Schrift »Das Leben Adams und Evas« bezeichnet – ausgehend vom Sündenfall in Gen 3 – die Begierde als Haupt aller Sünde (VitAd 19). Johannes steht also in einer langen Tradition, wenn er die Begierde des Fleisches als zur Welt gehörig ablehnt. Dieser Ausdruck ist erstmals bei Paulus in Gal 5,16 nachweisbar. Dort wird sie erläutert als Aufbegehren des Fleisches gegen den Geist (Gal 5,17). Auch die Begierde der Augen ist für Johannes abstoßend. Einzig in einem Werk des jüdischen Religionsphilosophen Philo von Alexandrien (ca. 15 v.Chr. – 40 n.Chr.) finden sich die Begriffe Begierde (nach Macht) und Prahlerei nebeneinander. In seiner Schrift »De Iosepho« bezeichnet er sie – ganz dem Verständnis von Johannes entsprechend – als Leidenschaft oder Untugend (70,3). Der in dem Ausdruck Prahlerei des Lebens verwendete griechische Begriff für Leben (bíos) ist ein anderer als etwa der von 1,1 (Wort des Lebens – zoé). Johannes macht damit deutlich, dass es ihm nicht um ein Heilsgut, sondern um die materielle Existenz geht. Bíos (finanziell abgesichertes Leben) gibt es wohl innerweltlich, aber zoé (wahres und ewiges Leben) nur im Glauben an Jesus Christus. Mit dem Ausdruck Prahlerei des Lebens umschreibt Johannes die Anziehungskraft des Lebens der »Reichen und Schönen« auf weniger Wohlhabende bzw. Arme. Nach Johannes sind die Begierde des Fleisches, die Begierde der Augen und die Prahlerei des Lebens als zur Welt gehörig abzulehnen. All dies hat mit dem den Christen verheißenen Heilsgut Leben (1,1) nichts zu tun. Es ist davon auszugehen, dass die Adressatengemeinden des Johannes sich überwiegend aus einfachen Leuten zusammensetzten. Keine Frage, dass die nicht zur Gemeinde gehörenden »Reichen und Schönen« – so wie heute – eine gewisse Anziehungskraft ausübten! Die anziehend wirkende und zur Schau gestellte (wirtschaftliche) Macht der Reichen, die nicht zur Gemeinde gehören, aber gesellschaftlich gut dastehen, bezeichnet Johannes als Prahlerei des Lebens und das Staunen darüber als Begierde des Fleisches und Begierde der Augen. Solches Verhalten gefährdet seiner Meinung nach die Liebe der Gemeindeglieder untereinander und damit die christliche Gemeinschaft. Wirtschaftliche Prachtentfaltung kommt für Johannes nicht aus dem Vater, sondern aus der Welt. Vater und Welt stehen einander entgegen.
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Folgerichtig attestiert Johannes in V. 1 7 dieser Welt die Vergänglichkeit – mitsamt ihrer dazu gehörigen Begierde. Anders als in V. 16 spricht er jetzt zusammenfassend von der Begierde der Welt: Diese wird vergehen. Ähnlich hatte bereits Paulus über die Welt in 1Kor 7,31 gesprochen. Johannes verwendet hier dasselbe Verb, mit dessen Hilfe er in 2,8 das Vergehen der Finsternis beschrieben hatte. So wie also die Finsternis vergeht, vergeht auch die Welt. Beides hängt im vorliegenden Fall nicht nur miteinander zusammen, sondern beschreibt sogar dasselbe. Soweit die Welt noch nicht zum Glauben an Christus gekommen ist, sind Welt und Finsternis identisch. Irdische Macht, Prachtentfaltung und Prahlerei sind also nur vorläufig und nur scheinbar erstrebenswert. Es geht um etwas ganz anderes: um das Tun des Willens Gottes. Wohl nicht zufällig spricht Johannes hier von Gott und nicht vom Vater, weil es weniger um dessen Liebe geht, sondern um den Gehorsam bzw. um das Halten seines Wortes. Schließlich war in 2,3–6 das Halten seiner Gebote als Kennzeichen dafür genannt worden, dass man zu Gott gehört (in ihm ist). Die Gebote einzuhalten, hat positive Konsequenzen: Wer es tut, bleibt in Ewigkeit. Mit dem Ausdruck in Ewigkeit nimmt Johannes eine relativ feststehende Begrifflichkeit auf. Im Johannesevangelium verspricht Jesus in Joh 11,26, dass derjenige in Ewigkeit nicht sterben wird, der an ihn glaubt. Für Johannes ist es aber keine Frage, dass Glaube und entsprechendes Handeln (hier: das Tun des Willens Gottes) zusammengehören (vgl. nur 3,23), sodass mit dem Ausdruck »bleiben in Ewigkeit« das endzeitliche Heilsgut (das ewige Leben; vgl. 1,2) benannt wird. Anders formuliert: In Ewigkeit zu bleiben heißt: nicht zu vergehen wie die Welt (mit ihrer Begierde) oder wie diejenigen, die nicht glauben und dementsprechend nicht Gottes Willen tun. In Ewigkeit zu bleiben heißt aber positiv, nach Joh 12,34 das Geschick des Christus zu teilen, der eben auch in Ewigkeit bleibt bzw. in Ewigkeit lebt. Mit einer erneuten Anrede an seine Kinderchen führt Johannes in V. 1 8 den Gedankengang weiter. Die Ansage der Vergänglichkeit der Welt und ihrer Lust lässt die Frage aufkommen, wann es denn soweit sein könnte. Die Frage wird mit dem Neueinsatz beantwortet: Es ist die letzte Stunde! Dieser Ausdruck ist neu gegenüber dem Johannesevangelium. Dort ist die Rede vom letzten (Jüngsten) Tag. An diesem Tag wird Jesus diejenigen, die an ihn glauben, auferwecken (Joh 6,40.44.54). Die Zusage der künftigen Auferweckung ist gleichbedeutend mit der (gegenwärtigen) Verleihung ewigen Lebens (Joh 6,40.54). Deshalb kann der Jesus des Johannesevangeliums auch sagen: Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt (Joh 11,25). Umgekehrt gilt derjenige als tot, der nicht an Je-
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sus glaubt – diese Einschätzung wird sich dann am Jüngsten Tag bewahrheiten (Joh 12,48). Vergleicht man die Rede von der letzten Stunde im ersten Johannesbrief mit der Aussicht auf den letzten Tag im Johannesevangelium, ist ersichtlich: Die Zeit ist drängender geworden. Nebenbei gesagt ist diese Beobachtung ein weiteres Indiz für die Hypothese, der erste Johannesbrief sei nach dem Johannesevangelium geschrieben worden (vgl. unten S. 137f). Johannes behauptet, seine Adressaten hätten bereits gehört, dass der Antichrist, also der Gegen-Christ kommt. Es ist unklar, worauf hier angespielt wird. So könnte es sein, dass Vorstellungen aus Mk 13,5f hier zugrunde liegen. Dort kündigt Jesus an, dass viele Verführer kommen würden. Vielleicht soll hier aber auch ein allgemeines Wissen um die Geschehnisse der letzten Stunde angesprochen werden. In der Forschung ist umstritten, wen Johannes mit dem Begriff Antichristus bezeichnet haben will. Wenn Jesus in Mk 13,22 falsche Christusse und falsche Propheten ankündigt, dann ist damit wohl etwas anderes gemeint. Die Figur dieses Antichristus ist erwachsen aus dem zweigeteilten Weltbild des Neuen Testaments mit Gott und »Gegen-Gott«, d.h. Teufel (in 1Petr 5,8 wird der Teufel ausdrücklich als »Wider«-Sacher bezeichnet) – und das Johannesevangelium rechnet ausdrücklich auch mit der Existenz und dem Wirken des Teufels (Joh 8,44; 13,2; vgl. 1Joh 3,8.10). Wenn nun Gott einen Christus in die Welt sendet, dann ist es für den Verfasser des ersten Johannesbriefs nur logisch und konsequent, dass auch der Teufel einen Vertreter in der Welt hat, einen Antichristus. Es bleibt die Frage, wen Johannes damit möglicherweise bezeichnet haben möchte. Wenn Johannes in 2,13f verschlüsselt von dem Bösen als dem Kaiser als Repräsentanten des Fürsten dieser Welt redet, legt sich die Vermutung nahe, dass er mit dem Begriff Antichristus hier eine neue Bezeichnung desselben Menschen gefunden hat. Domitian, der sich gerne als dominus et deus (Herr und Gott; vgl. Joh 20,28) anreden ließ, gilt zweifelsohne für Johannes als Repräsentant des Teufels und Widersacher Jesu, als Antichristus. Deshalb warnt er am Schluss seines Schreibens auch ausdrücklich vor den Götzen (5,21). Es ist der heidnische Kaiser, der die christlichen Gemeinden durch seine Maßnahmen hart bedrängt (vgl. unten S. 138–141). Mit den vielen Antichristussen, die nach Überzeugung des Johannes bereits entstanden sind, werden nicht etwa die Vorgänger des Domitian bezeichnet, sondern Menschen, die im Sinne dieses Antichristus handeln. Daher schreibt Johannes auch nicht, sie seien gekommen, sondern sie sind durch die Maßnahmen des eigentlichen Antichristus zu dessen »Nachfolgern« und damit selbst zu Anti-
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christussen geworden. Der folgende Vers gibt hierüber genauer Aufschluss. Der Begriff Antichristus deutet darüber hinaus an, dass es um das Bekenntnis zu Jesus als Christus geht, welches von dem bzw. den Antichristen abgelehnt zu werden scheint (vgl. 2,22). Das Kennzeichen dafür, dass die Zeit drängt und es bereits die letzte Stunde ist, ist für Johannes das Auftreten des Antichristus und seiner »Nachfolger«. Mit diesem erneuten Hinweis auf die letzte Stunde steht Johannes in einem breiten Strom urchristlicher Überlieferung, denn in vielen Schriften des Neuen Testaments wird die Frage behandelt, was die Vorzeichen für das als unmittelbar bevorstehend angenommene Weltende seien (vgl. nur Mk 13,29; Apg 1,6f; 1Petr 4,17). Mit Hilfe eines Wortspiels in V. 1 9 kennzeichnet Johannes jetzt seine Gegner: Sie sind aus uns hervorgegangen, aber sie waren nicht aus uns. In den beiden parallelen Sätzen ist lediglich das Verb geändert. Die Formulierung sie waren nicht aus uns benennt die Nicht-Zugehörigkeit zur Gemeinde (vgl. etwa den Ausdruck fünf aus ihnen in Mt 25,2). Der Verfasser redet also von Menschen, die aufgrund von Maßnahmen EINES Antichristus sich von der Gemeinde distanziert haben und dadurch selbst als Antichristusse offenbar wurden. Zweifellos ist das Herausgehen dieser Gegenchristen für Johannes ein abgeschlossener Vorgang. Ursprünglich hatten sie sich zur Gemeinde gehalten, die Johannes mit wir bzw. uns bezeichnet. Auch hier schließt er sich ausdrücklich mit seinen Adressaten zusammen und setzt damit die Gemeinschaft, die er eigentlich nach 1,3 durch seinen Brief mit den Adressatengemeinden erst herstellen wollte, voraus. Aus irgendeinem Grund haben sich die Gegner aber von der Gemeinde abgesetzt. Der Fortgang des Verses deutet darauf hin, dass sie aus eigenem Antrieb von der Gemeinde weggegangen sind: Wenn sie aus uns gewesen wären, wären sie bei uns geblieben (vgl. auch 4,1). In 1,6.8.10; 2,4.6.9 war das noch anders gewesen. Da mussten die Gegner mit Hilfe ihrer eigenen Aussagen als falsche Gemeindeglieder entlarvt werden. Deshalb scheinen die Aussagen des vorliegenden Verses damit nicht so recht zusammenzupassen – es sei denn, man rechnet damit, dass es hier noch um eine andere Gruppe von Abweichlern geht. Im vorliegenden Vers nimmt Johannes offenbar nicht diejenigen in den Blick, die ein offenes Bekenntnis zur christlichen Gemeinde nicht gewagt haben und heimlich immer noch zur Gemeinde zählen wollten, sondern Menschen, die sich offen von der christlichen Gemeinde distanziert haben – aufgrund der Maßnahmen des einen Antichristus (vgl. V. 18).
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2,20–28 Bewahrung der Gemeinde Angesichts der äußerst schwierigen Bedrohungslage der Gemeinden, wie er sie in den letzten Versen dargestellt hat, sieht Johannes jetzt die Notwendigkeit, die Gemeinde zu stabilisieren und ihr das zuzusprechen, was sie zu ihrem Bestand nötig hat: Salbung, Wahrheit, ewiges Leben. Nicht zufällig endet dieser Gedankengang mit einer Mahnung, in ihm zu bleiben. Die Gefährdung ist trotz aller Zusagen und Gaben Gottes noch nicht abgewendet. 20
Doch ihr habt die Salbung von dem, der heilig ist, und wisst alle Bescheid. 21 Ich habe euch nicht geschrieben: »Ihr wisst die Wahrheit nicht«, sondern ihr wisst sie und wisst, dass keinerlei Lüge aus der Wahrheit kommt. 22 Wer ist ein Lügner, wenn nicht der, der leugnet, dass Jesus der Christus ist? Das ist der Antichrist, der den Vater und den Sohn leugnet. 23 Jeder, der den Sohn leugnet, der hat auch den Vater nicht; wer den Sohn bekennt, der hat auch den Vater. 24 Was ihr gehört habt von Anfang an, das bleibe in euch. Wenn in euch bleibt, was ihr von Anfang an gehört habt, so werdet ihr auch im Sohn und im Vater bleiben. 25 Und das ist die Verheißung, die er uns verheißen hat: das ewige Leben. 26 Dies habe ich euch geschrieben von denen, die euch verführen. 27 Und ihr! Die Salbung, die ihr von ihm empfangen habt, bleibt in euch, und ihr habt nicht nötig, dass euch jemand belehrt; sondern wie euch seine Salbung über alles belehrt, ist es auch wahr und keine Lüge. Und wie sie euch gelehrt hat, bleibt in ihm. 28 Jetzt aber, Kinderchen, bleibt in ihm, damit – wenn er offenbar wird – wir frohe Zuversicht haben und uns nicht vor ihm schämen bei seiner Wiederkunft. In V. 2 0 versucht Johannes, seine Adressaten zu stabilisieren, und mahnt sie dadurch unausgesprochen, nicht dasselbe zu tun wie die Antichristusse. Übersetzt man den Begriff Antichristus ins Deutsche, so bedeutet er Gegen-Gesalbter. Es ist wohl kein Zufall, dass Johannes in diesem Zusammenhang von der Salbung spricht, die die Gemeindeglieder erhalten hätten. Beide Begriffe Antichristus und Salbung tauchen im Neuen Testament nur im ersten Johannesbrief auf und sind mit Sicherheit aufeinander zu beziehen.
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Im Alten Testament gibt es das »Salbungs-Öl« (Ex 29,7; 30.25 u.ö.). Wenn Johannes hier den Begriff Öl weglässt, dann soll damit ausgedrückt werden: Es geht um eine nicht materielle, nicht sichtbare Salbung, die die Gemeindeglieder – wahrscheinlich in der Taufe – erfahren haben. Tatsächlich verweist die Notiz von der Geistgabe und Salbung Jesu in Lk 4,18 auf die Taufe (Lk 3,22). Nach Johannes sind also auch die Glaubenden in ihrer Taufe gesalbt worden. Diese Salbung haben sie von dem, der heilig ist. Es ist hier vorausgesetzt, dass die Adressaten genau wissen, wer damit bezeichnet ist. Und tatsächlich nennt im Johannesevangelium Petrus in seinem Bekenntnis Jesus in auffälliger Weise nicht Christus (vgl. Mk 8,29; Mt 16,16; Lk 9,20), sondern er sagt: Du bist der Heilige Gottes (Joh 6,69). Mit anderen Worten: Nach dem Verständnis des Johannes ist es Jesus, der Christus bzw. Gesalbte, selbst, der in der Taufe die Salbung den Seinen vermittelt. Auch hier wird deutlich, dass der erste Johannesbrief die Kenntnis des Johannesevangeliums voraussetzt. Die »Antichristusse« haben vielleicht auch in der Taufe eine Salbung erhalten, doch sie haben sich mit ihrer Abwendung von der Gemeinde gegen die Salbung gewendet. Denkbar wäre aber auch, dass Johannes der Meinung ist, die Antichristusse hätten bei ihrer Taufe eben keine Salbung erhalten. Dies zeigt sich in dem Augenblick, in dem sie sich von der christlichen Gemeinde abwenden. Für sich allein genommen ist die Zusage Ihr habt alle das Wissen deshalb unverständlich, weil nicht genau gesagt wird, um welches Wissen es sich handelt. Auch hier hilft nur ein Blick in das Johannesevangelium weiter: Dort kreist das Verb wissen immer wieder um die Frage ob die Angeredeten wissen, woher der Christus ist (Joh 7,27f; 8,14; 9,30) bzw. wohin er geht (Joh 8,14; 14,4). Johannes bescheinigt also seinen Adressaten, sie wüssten das alles – oder anders gesagt: Sie wüssten, was sie anbeten (Joh 4,22). Jesus selbst sagt seinen pharisäischen Gesprächspartnern, sie würden weder um ihn noch um seinen Vater wissen (Joh 8,19). Dieser Gedanke wird im übernächsten Vers ausdrücklich aufgenommen. V. 2 1 ist – ähnlich wie der Zwischenruf von 2,13f – in den Gedankengang eingeschoben, damit das Ziel in den folgenden Versen erreicht werden kann. Mit dem Einleitungssatz Ich habe euch … geschrieben verweist er nicht etwa auf einen vorangegangenen Brief, sondern auf den vorliegenden. Die Adressaten werden noch einmal auf ihr Wissen über die Wahrheit angesprochen. Auch hier wird deutlich: Johannes schreibt nicht an Menschen, die noch nichts von Jesus gehört haben, sondern an christliche Gemeinden, die Bescheid wissen über Jesus Christus, der in Joh 14,6 von sich sagt, er sei die Wahrheit. ER ist es, der im Johannesevangelium die Wahrheit sagt bzw. bezeugt (Joh 8,40.45f; 16,7; 18,37). Die Wahrheit erkannt zu
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haben bedeutet bereits im Johannesevangelium, frei von Sünde zu sein (Joh 8,31–36). Und wer aus der Wahrheit ist, der hört Jesu, d.h. Gottes Stimme (Joh 18,37). Wahrheit und Lüge schließen einander aus. Wohl nicht zufällig ist das Thema Wahrheit und Lüge bisher besonders in den Passagen thematisiert worden, in denen Johannes Aussagen seiner Gegner zitiert (1,6.8; 2,4.8). Die dort rekonstruierten Aussagen sind seiner Meinung nach Lug und Trug und stehen der Wahrheit Jesu, wie sie innerhalb der christlichen Gemeinde weitergegeben wird, entgegen. Wenn doch Lüge aus der Wahrheit zu kommen scheint, d.h. wenn doch Menschen sich von der christlichen Gemeinde – trotz ihrer eigenen Taufe – wieder lossagen, dann waren diese nie wirklich Christen; denn aus der Wahrheit (gemeint ist die Gemeinschaft der wahren Christen) kann seiner Meinung nach keine Lüge (Leugnung Jesu) kommen. Das Thema Wahrheit und Lüge beschäftigt Johannes auch in V. 2 2, denn jetzt konkretisiert er mit Hilfe einer rhetorischen Frage, welche Lüge im vorangegangenen Vers angesprochen wurde. Vergleicht man 1,6 mit diesem Vers, zeigt sich folgendes Bild: Die Gegner des Johannes behaupten offenbar, sie hätten Gemeinschaft mit Gott (1,6), leugnen aber, dass Jesus der Christus ist (2,22). Dem entsprechend entwickelt Johannes die Bezeichnung Antichristus, d.h. es geht um denjenigen bzw. diejenigen, die genau dieses Bekenntnis Jesus ist der Christus ablehnen (vgl. den Exkurs »Die Christusbekenntnisse im ersten Johannesbrief« unten S. 95). Mit der Leugnung des Sohnes leugnen sie aber auch den Vater – so die Meinung des Johannes. Die ausdrückliche Erwähnung dieser Ablehnung ermöglicht es, zumindest eine gegnerische Gruppe recht genau zu bestimmen: Johannes wendet sich gegen Judenchristen, die aufgrund des staatlichen Drucks zu ihrer ursprünglichen Religion, einer im Römischen Reich ausdrücklich erlaubten Religion, zurückkehren (vgl. zu dieser Problematik unten S. 138–141). Johannes bezeichnet diese Leute als Lügner, weil sie das Bekenntnis zu Jesus als Christus ablehnen, und damit als Antichristusse bzw. Antichristen. Es scheint fast, als wäre Johannes im vorangegangenen Vers das Temperament durchgegangen. Erst bei der Abfassung von V. 2 3 scheint ihm aufgefallen zu sein, dass er seinen versteckten Vorwurf, auch die jüdischen Gemeinden hätten Gott nicht, präzisieren muss. Dies tut er nämlich jetzt ausdrücklich: Wer den Sohn nicht hat, hat auch den Vater nicht. Diese These ist eine Folge aus den in Joh 14,6f überlieferten Jesusworten: »Niemand kommt zum Vater denn durch mich« und »Wenn ihr mich erkannt habt, so werdet ihr auch meinen Vater erkennen« (Joh 14,6f). Das Bekenntnis zum
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Sohn macht einen Christen zum Christen. Tatsächlich gab es im frühen Christentum nur eine einzige »Konfession«, ein einziges Bekenntnis: Jesus ist der Christus, der Gottessohn, der Herr. Dieses Bekenntnis ist neutestamentlich das christliche Profil, hier denkbar kurz auf die Formel gebracht vom Bekennen des Sohnes (vgl. etwas ausführlicher in 4,2 bzw. 4,15 sowie den Exkurs »Die Christusbekenntnisse im ersten Johannesbrief« unten S. 95). Die hier verwendete überaus kurze Redeweise spricht gegen die in der Forschung immer wieder vorgetragene These, der erste Johannesbrief richte sich gegen Irrlehrer, d.h. gegen Christen, die eine »falsche« Christologie lehrten. Von unterschiedlichen Bekenntnissen weiß das Neue Testament noch gar nichts. Oder anders ausgedrückt: Das Bekenntnis zu Jesus als dem Christus, Gottessohn und Herr ist auch für Johannes keine Satzwahrheit, die auf ihre Richtigkeit zu überprüfen ist. Vielmehr zeigt das Bekenntnis zum Sohn die ausschließliche Bindung des eigenen Lebens an Jesus Christus. Zugleich wird dadurch eine Gemeinschaft unter den Christusbekennern hergestellt und grenzt von denjenigen ab, die nicht an diesen Jesus als Christus glauben. In keinem einzigen Fall des Neuen Testaments markiert das Bekenntnis eine innerchristliche Meinungsverschiedenheit – auch nicht im ersten Johannesbrief. Dies wird am vorliegenden Vers beispielhaft deutlich. Erstmalig geht es jetzt um den – nicht ausdrücklich, aber doch dem Sinne nach – Glauben an Jesus (vgl. auch 3,23), ein Glaubensinhalt, der gerade am Ende des Schreibens mehrfach betont wird (vgl. 5,1.5.10.13). Dies zeigt seine Wichtigkeit für Johannes. Vergleicht man V. 22 mit V. 23, dann fällt auf, dass der Verfasser die Titel, die er Jesus beilegt, unmerklich verändert hat. In V. 22 ging es um die Frage, ob Jesus der Christus (nicht »Gottessohn«) ist, während er jetzt (V. 23) mit der Gottessohnschaft argumentiert. Offenbar hatte sich an der Frage, ob Jesus der Christus war, der Widerspruch entzündet. Denn wie die Verschiebung der Titel von V. 22 zu V. 23 zeigt, war die Verbindung der Bezeichnung Jesus als Christus und als Gottessohn nicht das Problem. Nach Johannes glaubt derjenige, der Jesus als Christus bekennt, ihn auch als Gottessohn. Deshalb wendet er sich hier nicht nur gegen die jüdische Auffassung, Jesus sei gar nicht der Messias (Christus), sondern auch gegen die daraus folgende Behauptung, man könne auch ohne Jesus Gott haben. Mit V. 2 4 setzt Johannes mit einer Bestärkung seiner Adressaten neu ein. Dabei ist die Gedankenbrücke Jesus, der von Anfang an war (Joh 1,1; 1Joh 1,1). Der Begriff Anfang ist hierbei wieder bewusst doppeldeutig. Zum einen spielt er an auf das, was von Anfang an war (1Joh 1,1 und Joh 1,1), d.h. auf die Weltschöpfung,
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zum anderen meint er auch den Beginn des Christseins, die Bekehrung zum Christentum, die Taufe. An der Botschaft, von der sich Menschen überzeugen haben lassen, gibt es nichts zu ändern. Johannes äußert den Wunsch, dass diese Botschaft in seinen Adressaten bleiben möge. So wie das Gebot, von dem Johannes schreibt, ein altes ist, das seine Adressaten von Anfang an gehabt haben (2,7), so ist die Botschaft von Jesus als Christus bzw. als Gottessohn die alte von Anfang an. Wenn dieses Bekenntnis in den Christen bleibt, dann werden diese auch im Sohn und im Vater bleiben. Ausdrücklich betont Johannes hier beide göttlichen Personen, Sohn und Vater, und nicht zufällig wird der Sohn zuerst genannt, denn an dem Bekenntnis zu diesem scheiden sich die christlichen von den jüdischen Geistern. Zugleich muss der Vater auch genannt werden, denn ohne den Sohn hat man nach Johannes den Vater auch nicht (2,23). Die Unanschaulichkeit des erst für die Zukunft verheißenen christlichen Heils ist das bleibende Problem der neutestamentlichen Autoren. Ihr Heilsbewusstsein stand zweifellos im Widerspruch zur konkreten Erfahrungswirklichkeit. Johannes hatte seinen Adressaten von Gott als Vater (1,3) geschrieben, von der Gemeinschaft mit Gott (1,6), von der Sündenvergebung (1,9; 2,1f), vom Bleiben in Ewigkeit (2,17) und vom Besitz der Salbung (2,20), aber davon haben seine Adressaten in ihrem realen Leben nicht viel gemerkt. Ihre äußere Situation innerhalb ihres gesellschaftlichen Umfeldes stand im Widerspruch zu dieser Verkündigung, stellte diese immer wieder massiv infrage und sorgte für starke Fliehkräfte. Deshalb wird in V. 2 5 noch einmal das für Johannes zentrale, zukünftige und in gewisser Weise bereits gegenwärtige Heilsgut in Form einer Verheißung betont: das ewige Leben. Wenn Johannes behauptet, er habe das ewige Leben verheißen, dann verweist er auf das Jesuswort von Joh 10,27f: Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir; und ich gebe ihnen das ewige Leben (vgl. Joh 11,25f). Nur wer sich angesichts der gegenwärtigen Bedrängnisse trotzdem zur christlichen Gemeinde bekennt, wird dieses Leben erhalten. Der Begriff Verheißung findet sich sonst weder im Johannesevangelium noch in den Johannesbriefen. Umso auffallender ist die Beobachtung, dass sich eine vergleichbare Aussage in einer frühjüdischen Schrift findet: In syrBar 57,2 wird von der Verheißung des zukünftigen Lebens gesprochen, die an die Erfüllung der Tora geknüpft ist. Es scheint so, dass Johannes hier diese jüdische Vorstellung aufgreift und die Erfüllung der Verheißung an das Bleiben im Sohn und im Vater (V. 24) knüpft. Christlicherseits findet sich die Vorstellung von der Verheißung des ewigen Lebens nur noch in den beiden Timotheusbriefen (1Tim 4,8; 2Tim 1,1).
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Nicht nur im Johannesevangelium, sondern auch im ersten Johannesbrief wird das (ewige) Leben sowohl als zukünftige Heilsgabe als auch als bereits gegenwärtig geschenktes Gut bezeichnet (vgl. 2,17; 3,14f sowie Joh 11,25f). Hintergrund dieser bewussten Offenheit ist die Überzeugung, dass keine innerweltliche Gefährdung das göttliche Heilsgut ewiges Leben wirklich außer Kraft setzen kann. Wer sein Leben auf die Überzeugung baut: »Jesus Christus ist das Wort des Lebens, er ist es, der den Seinen ewiges Leben schenkt«, wird bei Gott immer das Leben haben – auch wenn er sein irdisches Leben verlieren sollte (3,16; vgl. Joh 12,25). Die Einleitung von V. 2 6 Dies habe ich euch geschrieben (vgl. 2,14. 21) verweist auch hier nicht auf ein vorangegangenes (und verlorenes) Schreiben des Johannes, sondern auf das vorliegende. Er bezeichnet mit dem bisher Dargelegten die Verführer. In Joh 7,12 (vgl. Joh 7,47) wird das Gerücht unter den Juden überliefert, Jesus verführe das Volk. Der Evangelist ist fraglos der Meinung, dass nicht Jesus das Volk verführt, sondern die von ihm so dargestellten Juden. Dies trifft sich exakt mit der hier vorgetragenen Interpretation: Es sind die Judenchristen, die sich aufgrund des staatlichen Drucks von der christlichen Gemeinde distanzieren und zum Judentum zurückkehren, die Johannes als Verführer bezeichnet. Sie verführen tatsächlich die bedrängte Gemeinde, indem sie durch ihre Handlungsweise zeigen, wie man der Gefährdung ausweichen und zugleich den Anspruch aufrechterhalten kann, immer noch im Heilsbereich Gottes zu leben. Dem widerspricht Johannes ausdrücklich: Es ist Jesus, der das ewige Leben verheißt. Wer ihn verleugnet, der verleugnet auch Gott und verliert damit das gesamte verheißene endzeitliche Heil: das ewige Leben (V. 22–25). In dem nicht leicht übersetzbaren V. 2 7 nimmt Johannes wieder Bezug auf die »Salbung« von V. 20. Diese ist – das stellt er hier ausdrücklich klar – eine geistliche, auf jeden Fall nicht sichtbare Salbung, die die Adressaten von Jesus empfangen haben und die in ihnen bleibt. Konkret ist hier – wie bereits gesagt – an die Taufe zu denken (vgl. Lk 4,18f). Die Verbindung von Salbung und Lehre bzw. Wissen (V. 20) zeigt, dass die Salbung bei Johannes die gleiche Funktion hat wie in anderen Schriften der Heilige Geist (Lk 12,12; 1Kor 2,13) und im Johannesevangelium der – wie Luther übersetzt – Tröster. Hier taucht dasselbe Wort (paraklet) auf wie in 2,1; dort zu Recht mit Fürsprecher übersetzt. Inhaltlich entspricht diese Salbung, die die Glaubenden vom Christus empfangen haben (2,20), tatsächlich genau dem, was im Johannesevangelium der von Gott im Namen Jesu gesandte Paraklet vermittelt: Lehre und Erinnerung an alles, was Jesus den Seinen gesagt hat (Joh 14,26). In Joh 14,17 wird er Geist der
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Wahrheit genannt, den nur die zu Jesus Gehörigen kennen, weil er bei ihnen bleibt und in ihnen ist, während im vorliegenden Vers die die Salbung wahr und ohne Lüge ist. Wenn also Johannes in 2,20 und 27 von der Salbung spricht, meint er die Salbung mit dem Heiligen Geist in der Taufe. Der Grund dafür, dass Johannes hier von Salbung und nicht vom Heiligen Geist oder vom Parakleten bzw. Tröster (so Luther) spricht wie im Johannesevangelium, liegt an dem Begriff Antichristus bzw. Gegen-Gesalbter von 2,18. Mit der Salbung von dem, der heilig ist (2,20) kann Johannes den Christen etwas zusprechen, das sie dem Gegen-Gesalbten entgegenzusetzen haben. Mit dem Begriff Salbung werden die Glaubenden zugleich auf nahezu EINE Ebene mit dem Gesalbten, d.h. mit Jesus Christus gestellt. Sie werden zwar nicht als Gesalbte (Christusse) bezeichnet, aber sie sind Salbung Habende. Christus hat seine Salbung an sie weitergegeben. Sie soll in ihnen bleiben, dann bleiben sie auch in Christus. Deshalb kann Johannes seinen Adressaten gegenüber auch betonen, sie hätten es nicht nötig, belehrt zu werden. Er selbst tut das auch nicht, sondern erinnert lediglich an das, was von Anfang an war (1,1): das Wort des Lebens und das alte Gebot (2,7). Eine weitere Belehrung ist seiner Meinung nach nicht nötig. Und deshalb will er seinen Brief auch nicht als Belehrung verstanden wissen. Mit einem Und nun (eine für Johannes typische Formulierung, die sich nur bei ihm findet; vgl. noch Joh 14,29; 17,5) leitet Johannes in V. 2 8 eine Mahnung ein, die aus der bisherigen Argumentation folgt. Die Aufforderung, in ihm zu bleiben, steht am Ende des vorangegangenen Verses. Diese wird jetzt mit dem künftigen Heil begründet. Wer in Jesus bleibt, kann freudige Zuversicht haben, wenn Jesus geoffenbart wird (vgl. 4,17). Das hier mit Zuversicht wiedergegebene Wort wird im Johannesevangelium in einer anderen Bedeutung verwendet. In Joh 7,4 und 7,13 geht es um die Öffentlichkeit des Handelns. Johannes hat wohl deshalb den griechischen Begriff parrhesía (frohe Zuversicht) hier im Hinblick auf Endzeit verwendet, um ein Wortspiel mit dem Ausdruck parusía (Wiederkunft) herstellen zu können (ähnlich wie bei dem Begriff Salbung, der ja als Gegenbegriff zu Antichristus bzw. Gegengesalbter eingeführt wurde). Die hinter dieser Bedeutungsverschiebung stehende Vorstellung ist: Derjenige, der diese frohe Zuversicht hat, kann entsprechend offen bzw. öffentlich bei der Wiederkunft Jesu auftreten und braucht sich nicht zu schämen bzw. wird nicht zuschanden. Die im Neuen Testament geäußerten Vorstellungen über das, was bei Jesu Wiederkunft passiert, sind nicht einheitlich, auch wenn sich vergleichbare Grundzüge zeigen: So beschreibt Paulus in 1Thess
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4,13–18 recht genau, wie er sich die Szenerie vorstellt, wenn Christus wiederkommt (vgl. auch Mk 13,24–27). Nach Paulus werden diejenigen, die in Christus entschlafen, von ihm auferweckt und letzten Endes allezeit bei Christus sein. Was aus den anderen wird, die nicht zum Glauben an Jesus gekommen sind, lässt Paulus offen. Johannes stellt sich aber offenbar durchaus ein Gericht vor. Urteilskriterium ist dabei der Glaube an Jesus Christus: Wer nicht an ihn glaubt bzw. in ihm bleibt, hat keine frohe Zuversicht gegenüber seinem Richter und wird sich schämen bei Jesu Wiederkunft (vgl. die Argumentation in 4,17). Das bedeutet, dass der Maßstab, nach dem dann gerichtet wird, nach Johannes die Frage sein wird, ob man sich in Wort und Tat zu Christus und damit auch zur bedrängten christlichen Gemeinde bekannt hat. Im zweiten größeren Gedankengang geht es Johannes um die Welt als Kampfplatz zwischen Christus und Antichristus. Für ihn ist die Welt an sich nicht schlecht; sie ist nur schlecht, solange und soweit sie noch unter der Macht des Bösen steht. Deshalb muss sich die im Machtbereich des Christus befindliche Gemeinde vor dieser Welt in Acht nehmen. Hinzu kommt, dass es auch Gemeindeglieder gibt, die sich von der Gemeinde distanziert und der bösen, gottfeindlichen Welt wieder zugewandt haben (2,19). Deshalb will Johannes in einem zweiten Schritt die Gemeindeglieder stabilisieren: Er sagt ihnen zu, was sie alles bereits haben: die Salbung als Gegenbegriff zum »GegenGesalbten« (2,20.27), die Zusage des ewigen Lebens (2,25) und die frohe Zuversicht, wenn der Christus kommt (2,28). Im ersten Teil seiner Argumentation (2,15–19) scheint Johannes eine Antwort auf die Frage geben zu wollen: Wie werde ich glücklich? Tatsächlich sind die Versprechungen der Konsumgesellschaft groß, und vielfach wird der Wunsch nach einem glücklichen Leben gleichgesetzt mit Reichtum. Zwar ist die Aussage, dass materieller Reichtum nicht glücklich macht, heute allgemein zustimmungsfähig, doch ist nicht selten ein Umgang mit Geld anzutreffen, der gerade das Gegenteil bekundet: Geld wird behandelt, als ob es glücklich macht, als ob es einen entscheidenden Einfluss auf das menschliche Glück hätte. Tatsächlich geht eine Hochschätzung des Geldes Hand in Hand mit einer Lebensunzufriedenheit. Es ist, als habe Johannes dies vor fast 2000 Jahren bereits gewusst. Er macht auch durch seine Wortwahl deutlich: Glücklich wird man nicht durch mehr bíos (materielle Lebensgrundlage), sondern durch mehr zoé ([ewiges] Leben). Letztgenanntes gibt es nur im Glauben an Jesus Christus. Bíos ist vergänglich, zoé nicht. Dabei verschweigt Johannes nicht, dass die Gefahr, seinen Glauben an Christus angesichts der »Verführungen« durch andere zu verlieren, sehr groß ist. Aber er macht auch deutlich, dass
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der Sinn des Lebens und damit das wahre und bleibende Glück nur im Glauben an Christus zu finden ist. Dies gilt ganz besonders auch für verfolgte Gemeinden. Gegenwärtig sind weltweit etwa 100 Mio. Christinnen und Christen aufgrund ihres christlichen Glaubens teilweise in massiver Bedrängnis und bangen um ihr Leben. Gerade ihnen gilt die Verheißung des Johannes, dass sie – der äußeren Bedrohung ihres Lebens (bíos) zum Trotz – die Verheißung des ewigen Lebens (zoé) haben. Es ist Christus, der wiederkommen wird, der in jedem Fall ihre Existenz und Identität sichert und ihnen Recht schaffen wird.
2,29 – 3,22 Dritter Hauptteil Die Kinder Gottes 2,29 – 3,2 Überschrift: »Wir sind Gottes Kinder« In einem weiteren Gedankengang gelangt Johannes zum Thema der Gotteskindschaft: Seht, welche Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir Gottes Kinder heißen sollen – und wir sind es auch (3,1). Es ist wohl kein Zufall, dass dieser Gedanke auch formal in der Mitte des Schreibens entfaltet wird. Die Vorstellung, zu einer Familie Gottes zu gehören, ist deshalb ein zentraler Gedanke des ersten Johannesbriefs. Die auf das Thema der Gotteskindschaft hinauslaufende Argumentation in 2,27f ist dabei folgende: Wer die Salbung in sich hat, bleibt in Christus und wird am Tag seiner Wiederkunft nicht zuschanden. Darauf kann er vertrauen, weil Gott gerecht ist. Wenn man aber zu dem gerechten Gott gehört, dann tut man auch die Werke der Gerechtigkeit. Dadurch zeigt man, dass man aus Gott geboren ist, d.h. dass man Gott zum Vater hat. Erstmalig taucht in 2,29 die Formulierung auf: aus ihm (Gott) geboren sein und wird noch weitere siebenmal von Johannes verwendet werden (3,9a.b; 4,7; 5,1a.b.4.18). Das griechische Verb gennân kann sowohl mit zeugen als auch gebären übersetzt werden. Auffällig ist, dass Johannes bei allen Belegen durchweg passiv formuliert: geboren werden/sein aus Gott. Die Formulierung aus jemandem geboren werden findet sich schon in griechischen Schriften der vorchristlichen Zeit. Sie wird verwendet, um das verwandtschaftliche Verhältnis von Menschen untereinander auszudrücken. Am häufigsten steht hinter der Präposition aus die Mutter, zuweilen aber auch beide Eltern, ganz selten nur der Vater. Wenn also Johannes von einem Geborenwerden aus Gott spricht und Gott bei ihm immer wieder als Vater bezeichnet wird, zeigt dies, dass nach seinem Verständnis sowohl die männliche als auch die weibliche Elternfunktion auf Gott übergeht. Johannes kennt – im Unterschied zu Matthäus und Lukas (vgl. Mt 1,20; Lk 1,35) – keinen göttlich gezeugten Christus. Für ihn stand das Wort vom Leben schon am Anfang der Zeiten. Damit kann er den Gemeindegliedern eine Zeugung aus Gott zusprechen, ohne die Besonderheit des Christus, der ihm ja auch als Sohn Gottes gilt, einzuebnen. Oder anders gesagt: Was bei Matthäus und Lukas Je-
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sus vorbehalten war, kann Johannes jetzt den Gemeindegliedern zusprechen. Exkurs: Die Glaubenden als Kinder Gottes Das Familienbild für die Gemeinde wird bereits ganz zu Beginn des ersten Johannesbriefs angedeutet, denn in 1,2f – aber auch sonst – wird Gott ganz selbstverständlich als Vater bezeichnet. Dabei macht der Kontext von Anfang an deutlich, dass es sich durchweg um Gott als Vater der Glaubenden handelt – anders noch im Johannesevangelium, wo (abgesehen von Joh 20,17) stets von Gott als Vater Jesu die Rede war. Gott ist für Johannes Vater der Glaubenden, weil sie aus ihm geboren sind (2,29; 3,9; 4,7; 5,1.4.18). Nach Joh 1,13 sind diejenigen Kinder Gottes, die nicht aus dem Blut noch aus dem Willen des Fleisches noch aus dem Willen eines Mannes aus Gott geboren sind. Blut ist aber nach antikem Wissensstand speziell die weibliche Zeugungsmaterie. Damit gehen in Joh 1,13 sowohl die weibliche (aus Blut) als auch die männliche (aus dem Willen des Fleisches oder aus dem Willen eines Mannes) Funktion bei Zeugung und Geburt eines Menschen für den Glaubenden auf Gott über: Die Gotteskinder sind eben aus Gott geboren. Obwohl Johannes gut traditionell von Gott allenfalls als Vater spricht, übernimmt er auch die Mutterrolle für die Glaubenden. Es zeigt sich somit, dass die Vorstellung von der Geburt aus Gott bereits im Johannesevangelium angelegt ist (Joh 1,13; 3,3.5–7), aber im vorliegenden Brief deutlich ausgebaut wird. Ganz bewusst stehen also bei der Rede von der Geburt aus Gott familiäre Vorstellungen im Hintergrund. Auch dass den Glaubenden das Leben gegeben worden sei (3,14) passt genau in das Bild von der Geburt aus Gott, insofern ein Mensch erst mit seiner Geburt ins Leben kommt. Völlig einzigartig – und aus dem Gedanken der Geburt aus Gott entwickelt – ist die Vorstellung vom Samen Gottes im Glaubenden (3,9). Nach antiker Vorstellung ist der männliche Samen die eigentliche Triebkraft der Entwicklung eines Menschen (vgl. Weish 7,1). Es ist offenbar nach Meinung des Johannes eine göttliche Kraft, die in den Glaubenden wirkt und ihre Entwicklung steuert. Es ist wohl kein Zufall, dass Johannes – anders als 1Petr 1,23 – nicht sagt, was er unter dem Samen Gottes im Glaubenden versteht haben will, weil es ihm um die göttliche Herkunft und Entwicklung des Glaubenden geht. Schließlich entspricht der Vorstellung der Gotteskindschaft der Glaubenden auch die gegenseitige Bezeichnung als Brüder, wie sie Johannes häufig voraussetzt (2,7.10f; 3,10.12–17; 4,20f; 5,16). Das Johannesevangelium zeigt: Mit Jesu Auferstehung sind die Brüder diejenigen, die zu Jesus gehören (Joh 20,17). Tatsächlich wird in Joh 21,23 von den Brüdern gesprochen, als wäre dies eine feste und selbstverständliche Bezeichnung unter den Jüngern. Johannes selbst verwendet zwar lediglich in 3,13 die Anrede Brüder, aber auch in der Anrede Geliebte (2,7; 3,2.21; 4,1.7.11) schwingt eine familiäre Beziehung mit. So nennt etwa Paulus die Adressaten seiner Briefe gerne meine geliebten Brüder (1Kor 15,58; Phil 4,1; 1Thess 2,8).
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Die Vorstellung, zur Familie Gottes mit Gott als Vater (und Mutter) der Glaubenden zu gehören, ist für Johannes ein zentraler Gedanke seiner Heilsverkündigung. Er integriert in diese Familienmetaphorik mehrere Gesichtspunkte (Geburt aus Gott, Samen Gottes, Brüder …) und baut sie dadurch zu einem wichtigen neutestamentlichen Bild für christliche Gemeinden aus.
Nach der Feststellung der Gotteskindschaft kommt Johannes – allerdings unter diesem neuen Aspekt, Kind Gottes zu sein – wieder auf das Thema Sünde zu sprechen und macht scheinbar im Unterschied zu 1,6 – 2,2 deutlich, dass (wahre) Gotteskinder gar nicht sündigen könnten (3,3–9). In einem weiteren Argumentationsgang wird dann mit Hilfe des Verweises auf das alttestamentliche Brüderpaar Kain und Abel deutlich gemacht, dass Hass unter Brüdern keinen Platz haben kann. Ein Aufruf zur Liebe mit der Tat und mit der Wahrheit beschließt diesen Gedanken. Schließlich behandelt Johannes noch die Frage, woran wahre Gotteskinder denn erkennbar sind. Es ist die frohe Zuversicht, die bei Selbstzweifeln nur den Gotteskindern zu eigen ist (3,19–22). 2,29
Wenn ihr wisst, dass er gerecht ist, so erkennt ihr auch, dass, wer recht tut, der ist aus ihm geboren. 3,1 Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir Gottes Kinder heißen sollen – und wir sind es auch! Darum kennt uns die Welt nicht; denn sie kennt ihn nicht. 2 Geliebte, wir sind jetzt schon Gottes Kinder; es ist aber noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden. Wir wissen aber: Wenn es offenbar wird, werden wir ihm gleich sein, denn wir werden ihn sehen, wie er ist. In V. 2 9 nimmt Johannes recht unvermittelt die in 1,9 und 2,1 geäußerte Vorstellung auf, wonach Jesus Christus gerecht ist. Zweifellos klingt damit auch der Gerichtsgedanke an, denn auch im bisherigen Zusammenhang wird das Attribut gerecht in juristischem Kontext im ersten Johannesbrief verwendet. Die Gerechtigkeit Gottes bzw. Jesu zeigt sich in der endzeitlichen Annahme derer, die in der Gegenwart zu ihm stehen. Nahezu unbemerkt ändert Johannes hier das Subjekt: Wie gleich festzustellen sein wird, ist im Folgenden weniger von Jesus die Rede als vielmehr von Gott. Der Verfasser stellt dies allerdings nicht ausdrücklich fest, da Jesus für ihn das ewige und auf den Vater ausgerichtete Wort des Lebens ist (1,1f). Es ist jedoch – sofern man das überhaupt unterscheiden kann – in erster Linie Gottes Gerechtigkeit, von der hier gesprochen wird. Denn aus der Tatsache, dass Gott gerecht ist, folgt für Johannes, dass diejenigen, die die Gerechtigkeit tun, aus ihm geboren sind.
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Hintergrund ist hierbei eine in Joh 8,37–45 erläuterte »ethische« Kindschaft: Diese zeigt sich daran, dass ein Kind die Werke seines Vaters tut – deshalb bescheinigt Jesus in Joh 8,41 seinen Zuhörern: Ihr tut die Werke eures Vaters. Die Formulierung die Gerechtigkeit tun findet sich im Neuen Testament nur bei Johannes. Er nimmt damit einen Gedanken auf, der von alttestamentlichen Propheten als Beschreibung für Gottes Taten (Jer 9,23), aber immer wieder auch als Forderung formuliert wurde, man solle diese tun bzw. üben (Jes 56,1; 58,2; Jer 22,3; Ps 106,3). Die aus dem Alten Testament übernommene Formel die Gerechtigkeit tun ist in der jüdischen Literatur kurz vor der Abfassung des Neuen Testaments (Tobit, Psalmen Salomos) wichtig. Nach Tob 4,5; 13,8 (vgl. auch PsSal 9,5) führt das Tun der Gerechtigkeit zum (endzeitlichen) Heil. Johannes übernimmt zwar die Formulierung, verändert aber deren Ausrichtung: Die Gerechtigkeit zu tun ist bei ihm nicht Aufforderung, sondern Beschreibung des Handelns der Kinder Gottes. Johannes sagt also nicht: Tut bzw. übt Gerechtigkeit, damit ihr gerettet werdet!, sondern: Am Tun der Gerechtigkeit erkennt man das wahre Gotteskind. Was Johannes unter dem Tun der Gerechtigkeit konkret versteht, wird nicht ausdrücklich gesagt, aber es ist mit gutem Grund zu vermuten, dass es ihm um die innergemeindliche Solidarität, die Bruderliebe (2,7–11), geht, denn genau diesen Gesichtspunkt führt er später in 3,10–18 aus. Am Ende dieses Verses taucht dann erstmalig die Formulierung aus ihm, d.h. aus Gott geboren sein auf. Dadurch gelangt Johannes zu einem zentralen Thema seines Briefs. Nicht zufällig wird mit dem Imperativ seht in Vers 3 , 1 die Wichtigkeit des nun folgenden Gedankengangs bereits formal angedeutet. Dabei ist in Erinnerung zu rufen, dass das Verb sehen in 1,1.3 ein echtes Sehen meint. Der Verfasser betont dort, er verkünde, was er gesehen habe. Von daher ist damit zu rechnen, dass die Aufforderung Seht! auch hier nicht eine Redeweise ist, sondern dass Johannes der Meinung ist, die Gotteskindschaft der Gemeindeglieder müsse mit den Augen zu erkennen sein. Nur hier und sonst an keiner Stelle (weder im Neuen Testament noch im gesamten griechischen Schrifttum vor Johannes) findet sich das Qualitätspronomen was für ein auf die Liebe angewendet. Die Verleihung der Gotteskindschaft an Adressaten und Absender (ausdrücklich nimmt sich Johannes mit seinen Adressaten durch das uns zusammen) ist Folge der unermesslichen Liebe, die Gott seinen Kindern schenkt. In 4,9 wird dagegen die Sendung des Sohnes in die Welt als Folge der Liebe Gottes bezeichnet. Dies ist aber nur ein scheinbarer Widerspruch zum vorliegenden Vers. Denn durch diese Sendung des Sohnes kann ja erst der Glaube entstehen,
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durch den Menschen zu Gotteskindern werden können. Wenn also hier Johannes die Liebe Gottes als Grund für die eigene Gotteskindschaft benennt, dann hat er lediglich den »Zwischenschritt« (die Sendung des Sohnes) nicht erwähnt, um das eigentliche Ziel von Gottes Heilshandeln benennen zu können: Die Menschen sollen Kinder Gottes werden. Erstmalig werden jetzt die Gemeindeglieder Kinder Gottes genannt. Dabei ist dies nach Johannes nicht einfach ein Bild, sondern er versteht die Gemeindeglieder wirklich als Kinder Gottes: und wir sind es auch. Kinder Gottes – für Johannes ist das die Bezeichnung für diejenigen, die an Jesus glauben. Diese Selbstbezeichnung ist durchaus vergleichbar mit der Bezeichnung Christen für die Gemeinde von Antiochia, wie sie Lukas in Apg 11,26 überliefert. Paulus hatte für die Christen noch keinen eigenen Begriff, sondern nennt sie lediglich die Glaubenden (1Kor 1,21; 14,22) im Unterschied zu den Ungläubigen (1Thess 1,7; 2,10.13; Röm 3,22; 4,1; Gal 3,22). Gotteskindschaft heißt also, aus der Welt herausgehoben zu sein und zu Gott zu gehören. Die Geburt aus Gott findet bei der Taufe statt. Seit ihrer Taufe gehören die Glaubenden als seine Kinder zu Gott und sind aus der Welt herausgenommen. Folgerichtig muss Johannes feststellen, dass uns die Welt nicht kennt. Nach Joh 1,10 und 17,25 erkannte die Welt sowohl Jesus als auch Gott selbst nicht. Dies wird im vorliegenden Vers ausdrücklich festgehalten. Auch hier ist vorausgesetzt: Gott, Jesus und die Glaubenden stehen der ungläubigen und verständnislosen Welt gegenüber. Dass Johannes seine Adressaten in V. 2 wieder mit Geliebte (und nicht mit Kinderchen) anspricht, hängt natürlich mit der Gotteskindschaft zusammen: Diese macht die Glaubenden zu Geschwistern – oder um mit Johannes zu sprechen: zu Brüdern, die einander lieben. Eine ähnliche Beobachtung war schon in 2,7 zu machen, wo es um die Bruderliebe ging. Jetzt wird noch einmal der Ist-Stand festgehalten: Wir sind schon Gottes Kinder. Das heißt für Johannes: Wir haben seine Salbung (2,20.27), wir sind aus Gott geboren (2,29), wir haben Gott zum Vater (3,1), und wir sind Brüder untereinander, die einander lieben und dementsprechend solidarisch sind (2,7–11). Diese Gotteskindschaft ist aber – abgesehen von der praktikablen Bruderliebe – unanschaulich; es ist also äußerlich nicht sichtbar, dass sich innerhalb des Römischen Reiches Gemeinschaften gebildet haben, die sich in einem Heilsbereich Gottes wissen. Deshalb weitet Johannes noch einmal den Horizont und blickt auf die Endzeit, die – nach 2,18 (es ist die letzte Stunde) – zeitlich nicht weit entfernt ist: Es ist noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden. Jetzige, reale Gotteskindschaft hin oder her – das ist nicht al-
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les! Es ist Johannes klar, dass noch etwas aussteht. Wir werden ihm gleich sein. Zweifellos ist mit ihm Jesus gemeint, da sich noch drei Verse vorher (2,28) wörtlich der gleiche Nebensatz (wenn er offenbar wird) auf die endzeitliche Offenbarung Jesu bezog. Im vorliegenden Zusammenhang ist der Nebensatz allerdings wohl eher mit wenn es offenbar wird wiederzugeben, da genau dies im Vordersatz angesprochen war: die Offenbarung der Gotteskinder. Johannes macht durch die Verwendung desselben griechischen Ausdrucks wie in 2,28 deutlich: Die Offenbarung Jesu fällt zeitlich mit der Offenbarung der Kinder Gottes zusammen. Wenn man gegenwärtig Jesus mit den Kindern Gottes vergleicht, sind allerdings noch Unterschiede festzustellen: Jesus ist der Gesalbte (Christus) – die Glaubenden sind die Salbung Habenden, Jesus ist der Sohn Gottes – die Glaubenden sind die Kinder Gottes, Jesus ist zum Vater aufgefahren (Joh 20,17) – die Glaubenden sind noch hier auf der Erde. Was für sie noch aussteht, ist die Offenbarung ihrer Gotteskindschaft. Der Nachsatz wir werden ihn sehen, wie er ist spielt auf das Wort des auferstandenen Jesus gegenüber dem ungläubigen Thomas an: Selig sind, die nicht sehen und doch glauben (Joh 20,29), denn im Umkehrschluss heißt das: Jetzt sehen wir ihn zwar noch nicht, aber wir glauben als Kinder Gottes an Jesus als den Christus. Zugleich erinnert der Halbsatz an die Vorstellung des Paulus in 1Kor 13,12, wonach Paulus damit rechnet, einst von Angesicht zu Angesicht zu sehen und zu erkennen, wie ich erkannt bin. Deshalb ist damit zu rechnen, dass Johannes mit dieser Vorstellung eine allgemeine urchristliche Tradition aufnimmt. 3,3–9 Gotteskindschaft und Sünde 3
Und jeder, der diese Hoffnung auf ihn hat, der heiligt sich, wie auch jener heilig ist. 4 Jeder, der die Sünde tut, der tut auch Unrecht, und die Sünde ist das Unrecht. 5 Und ihr wisst, dass jener erschienen ist, damit er die Sünden wegschaffe, und in ihm ist keine Sünde. 6 Jeder, der in ihm bleibt, der sündigt nicht; jeder, der sündigt, hat ihn nicht gesehen und nicht erkannt. 7 Kinderchen, keiner soll euch verführen! Wer die Gerechtigkeit tut, der ist gerecht, wie jener gerecht ist. 8 Wer die Sünde tut, der ist aus dem Teufel; denn der Teufel sündigt von Anfang an. Dazu ist erschienen der Sohn Gottes, dass er die Werke des Teufels zerstöre.
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Wer aus Gott geboren ist, der tut keine Sünde; denn Gottes Same bleibt in ihm, und er kann nicht sündigen; denn er ist von Gott geboren. Mit dem Ausdruck diese Hoffnung nimmt V. 3 Bezug auf die vorangegangene Argumentation – gemeint ist die Hoffnung, Jesus gleichgestaltet zu werden (3,2). Zum einzigen Mal bei Johannes taucht hier der Begriff Hoffnung auf. Diese umfasst die Erwartung des Offenbarwerdens der Gotteskindschaft, das Vertrauen darauf, dass dies tatsächlich geschehen wird, und die bis dahin nötige Geduld. Die Hoffnung auf das Offenbarwerden der Gotteskindschaft hat Folgen für die Gegenwart. Johannes kleidet diese Folgen nicht in Ermahnungen, sondern er beschreibt, was diejenigen tun, die diese Hoffnung haben. Seiner Meinung nach heiligen sich die Kinder Gottes schon jetzt. Nicht zufällig verwendet Johannes hier ein anderes Wort als in 1,7.9, wo es um die Reinigung der Glaubenden durch Jesu Blut geht. Anders als dort wird hier kein passives Geschehen, sondern eine Aktivität der Glaubenden beschrieben. Das Verb heiligen verwendet Johannes bereits in Joh 11,55, um die kultischen Reinigungen der Juden vor dem Passafest zu beschreiben. Ähnlich ist die Heiligung der Gotteskinder vorzustellen: Sie bereiten sich auf die Stunde des Offenbarwerdens Jesu (2,28) vor, denn Heiligkeit ist die Voraussetzung für den künftigen Heilsempfang. Mit dem Begriff heiligen beschreibt Johannes also offenbar die menschliche Antwort auf das durch Jesu Blut bereits erfolgte Gereinigt-Sein von den Sünden (1,7). Inhaltlich besteht diese SelbstHeiligung in nichts anderem als im offenen Bekenntnis zu Jesus als dem Christus und in der untereinander praktizierten Bruderliebe. Wenn Johannes seinen Adressaten rät, sich zu heiligen, wie auch jener heilig ist, dann ist damit nichts anderes gesagt als so zu leben, wie auch Jesus gelebt hat (vgl. 2,6; vgl. 3,16). Wie diese Heiligung nicht aussieht, wird in V. 4 beschrieben. Einer mathematischen Gleichung ähnlich hält Johannes fest, dass der Sünder Ungesetzliches tut und deshalb Sünde und Ungesetzlichkeit gleich sind. Der Begriff Ungesetzlichkeit stellt die Unvereinbarkeit eines bestimmten menschlichen Verhaltens mit dem Willen Gottes heraus. Im griechischen ebenso wie im deutschen Ausdruck Un-gesetz-lichkeit ist genau das Wort enthalten, das sonst als Bezeichnung für die jüdische Tora dient: Gesetz. In jüdischen Schriften wird dieser Begriff verwendet, um die Unkenntnis bzw. das Nichttun des Gesetzes oder das Nichtbefolgen eines Gebotes zu bezeichnen. Sünde ist dort verstanden als Verstoß gegen den Willen Gottes, wie er im Gesetz, der Tora als Offenbarung des Gotteswillens, niedergelegt ist. Nach Johannes fordert die von Mose gege-
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bene Tora (vgl. Joh 1,10; 7,19) in ihrem Kern also den Glauben an Jesus. Dementsprechend unterstellt Jesus in Joh 7,19 seiner jüdischen Zuhörerschaft: Niemand unter euch tut das Gesetz. Warum sucht ihr mich zu töten? Keine Frage: Wenn sie nach Meinung des Jesus des Johannesevangeliums an Gott glaubten und gemäß der Tora handelten, würden sie Jesus nicht zu töten suchen. Auffällig ist dabei allerdings, dass im ersten Johannesbrief nie vom Gesetz gesprochen wird, sondern vom Gebot bzw. den Geboten (2,3.4.7.8; 3,22–24; 4,21; 5,2.3). Wie bei Paulus besteht aber zwischen Gesetz und Gebot keinerlei Unterschied (vgl. Röm 7,12). In V. 5 werden die Adressaten wieder auf ihr Wissen von Jesus angesprochen. Dass dieser auf der Erde erschienen ist, ist ihnen zweifellos bekannt, zumal sie das Johannesevangelium durchaus zu kennen scheinen. Mit dem Begriff erscheinen kann Johannes sowohl die Erscheinung bzw. Offenbarung Jesu in der Endzeit (die Wiederkunft) bezeichnen (vgl. 2,28) als auch seine irdische, geschichtliche Erscheinung vor Kreuz und Auferweckung (1,2; vgl. Joh 2,11). Wenn die Adressaten aber auch wissen, dass Jesus erschienen ist, damit er die Sünden wegnehme, so ist hier zweifellos Joh 1,29 vorausgesetzt. Der erste Hoheitstitel, mit dem Jesus im Johannesevangelium bezeichnet wird, ist Lamm Gottes, das die Sünde der Welt wegschafft. Hier wie auch im vorliegenden Vers findet sich nicht zufällig dasselbe Verb, d.h. es geht nicht um das Tragen der Sünde (der Welt), sondern um das Wegschaffen. Der Begriff Sünde der Welt in Joh 1,29.36 ist ein Genitiv der Qualität. Dies bedeutet: Es geht nicht um irgendwelche Tatsünden, sondern um die Sünde der Welt schlechthin, den Unglauben. Die Adressaten werden also tatsächlich auf einen aus dem Johannesevangelium bekannten Sachverhalt angesprochen. Wenn hier – anders als in Joh 1,29 – Sünde im Plural steht, so sind darunter einzelne Akte des Unglaubens, des Zweifels und der Unsicherheit zu verstehen. Diese werden nach Johannes von Jesus weggeschafft. Mit dieser Aussage sollen die Gemeindeglieder also im Glauben stabilisiert werden. Dass in Jesus keine Sünde – jetzt wieder im Singular – ist, wissen die Adressaten auch aus dem Johannesevangelium. Dort sagt Jesus in seinem hohenpriesterlichen Gebet ausdrücklich, dass er die Worte, die ihm Gott gegeben hat, an die Seinen weitergegeben habe (17,8) und dass er Gott kenne (17,25). Dieses innige Verhältnis zwischen Gott und seinem Sohn Jesus lässt keine Sünde (Unglauben) zu. Aus der bisherigen Argumentation folgt zwingend, dass diejenigen, die ein ähnliches Verhältnis zu Gott haben wie Jesus, auch keine Sünde tun können. Johannes kann deshalb in V. 6 von einem Sein in ihm (Jesus) sprechen. Sünde im Sinne von Unglauben und Abfall
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wird für die Glaubenden zur unmöglichen Möglichkeit. Wer sich aber von der Gemeinde distanziert, also vom Glauben abfällt bzw. sündigt, der hat ihn nicht gesehen und nicht erkannt (vgl. 2,3.4.13. 14). Damit zeigt er, dass er nie wirklich Teil der Gemeinde gewesen war. Die Gegenprobe legt sich nahe: Wer Jesus bzw. Gott erkannt hat, bleibt nach Johannes bei der Gemeinde, weil er weiß, was wirklich wichtig ist im Leben. Denn das, was in der Welt ist, wird vergehen (vgl. 2,15f). Erstmalig seit 1,1–3 taucht hier wieder das Wort sehen auf. Im Prolog war das Subjekt des Sehens der Absender, der von sich behauptet hatte, Jesus selbst noch gesehen zu haben. Johannes verwendet dort das Verb sehen also in einem realen Sinn (3,2; vgl. auch Joh 20,29). Zur Zeit der Abfassung des ersten Johannesbriefs ist Jesus jedoch nicht mehr zu sehen (vgl. auch Joh 16,10). Von daher ist zu vermuten, dass Johannes hier von einem übertragenen Sehen spricht. Wer sich von der christlichen Gemeinde lossagt und wieder zum Judentum zurückkehrt, kann also Jesus ganz bestimmt nicht gesehen haben. Dass es hier um ein übertragenes Sehen geht, wird auch daran deutlich, dass Johannes den Begriff erkennen dem Sehen beiordnet. Die Erkenntnis Jesu (und damit auch das Sehen Jesu) hätte den Glauben unweigerlich zur Folge gehabt (vgl. 4,6; 5,20). Für diese Interpretation von V. 6 sprechen auch der Fortgang der Argumentation und die Mahnung, sich nicht verführen zu lassen in V. 7 . Tatsächlich scheinen die Distanzierung von der christlichen Gemeinde und die Rückkehr zur staatlich erlaubten jüdischen Synagoge auf die Judenchristen der Adressatengemeinden durchaus attraktiv gewirkt zu haben. Vielleicht wurde auch vonseiten der jüdischen Gemeinde für einen Übertritt geworben (vgl. 2,26). Man war nicht mehr staatlichen Gefährdungen ausgesetzt, sondern gehörte wieder zu einer bekannten und geduldeten Religionsgemeinschaft im Römischen Reich. Das wirkte durchaus anziehend auf andere – der Verfasser spricht hier von Verführung (vgl. auch 2,26). Nach Johannes zeigen die Taten eines Menschen an, ob man gerecht ist. Die Formulierung die Gerechtigkeit tun (vgl. 2,29) spielt –wie der voranstehende Vers – auf die Jesusrede in Joh 16,7–11 an. Die dort erwähnte Gerechtigkeit bezieht sich auf den zum Vater gehenden Jesus, der der Maßstab des gegenwärtigen Handelns sein soll. Nur wer ihm, dem Gerechten (1,9; 2,1.29), entsprechend handelt (vgl. 2,6), tut die Gerechtigkeit. Im Grunde wird hier 3,4 – dort geht es um das Tun der Ungesetzlichkeit – positiv formuliert. Zugleich nimmt Johannes die Formulierung aus 2,29 auf und führt sie in eine neue Richtung. Dort wurde gesagt: Wer die Gerechtigkeit tut, der ist von ihm geboren. Und wenn es jetzt heißt: Wer die
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Gerechtigkeit tut, der ist gerecht, wie auch jener gerecht ist, dann sind im Folgenden die der Gerechtigkeit entsprechenden Taten bzw. gegenprobenartig die damit unvereinbaren Taten kurz zu thematisieren. Genau dies tut Johannes auch in V. 8 , denn hier wird mit Hilfe der »Gegenprobe« versucht, die Gegner zu entlarven: Wer Sünde tut, d.h. wer sich von der Gemeinde distanziert bzw. abfällt, stammt vom Teufel ab, denn dieser sündigt von Anfang an. Der vorliegende Vers fasst die Jesusaussage von Joh 8,44 geradezu zusammen. Nach dieser ist der Teufel der Vater der Juden, weil diese Jesus zu töten suchen. Er ist aber auch der Vater der Lüge, während Jesus die Wahrheit sagt. Im vorliegenden Vers gilt der Teufel als Sünder von Anfang an. Mit dieser Zeitangabe wird – ähnlich wie in 1,1 – der Anfang der Welt, die Schöpfung, bezeichnet und somit auf den Sündenfall angespielt (Gen 3). Nach frühjüdischer Überzeugung (Weish 2,24) ist die verführende Schlange, die Adam und Eva belügt, niemand anderes als der Teufel selbst (vgl. aber auch Offb 12,9; 20,2). Auch hier findet sich wieder die Vorstellung, dass die Herkunft bzw. die Kindschaft das Wesen bestimmt. Die Sünde, d.h. Abfall vom christlichen Glauben bzw. der Unglaube, zeigt, dass derjenige, der sie tut, vom Teufel abstammt. In Joh 8,44 spricht Jesus sogar vom Teufel als Vater der Juden. Von daher liegt es nahe, dass auch der vorliegende Vers sich gegen die zum Judentum zurückkehrenden Judenchristen richtet. Die Erscheinung Jesu auf der Erde (vgl. 1,2) dient dem Ziel, die Werke des Teufels zu zerstören. Gemeint ist damit: Indem Menschen zum Glauben an Jesus kommen, nimmt dieser deren Unglauben (ihre Sünde) weg und entreißt sie dadurch dem Zugriff des Teufels. Die Zerstörung der Werke des Teufels besteht also in der Wegnahme des Unglaubens für die Gemeindeglieder (vgl. 3,5). Genau das wird in V. 9 ausdrücklich mit neuen einleitenden Worten festgehalten: Aus Gott geboren zu sein bedeutet, dem Zugriff des Teufels und der Welt entzogen zu sein, ganz auf Gottes Seite zu gehören. Dabei ist dieser Vers – dadurch zeigt sich formal bereits seine Bedeutung für Johannes – kunstvoll aufgebaut: Wer aus Gott geboren ist, tut keine Sünde, denn Gottes Same bleibt in ihm. und er kann nicht sündigen, denn er ist aus Gott geboren.
Das hier vorliegende Schema A – B – C – B – A nennt sich »Palindromie« und zeigt, dass der Vers formal auf sein Zentrum denn
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Gottes Same bleibt in ihm ausgerichtet ist. Die dort geäußerte Vorstellung ist auch inhaltlich einzigartig. In der frühjüdischen Schrift Weisheit Salomos, entstanden um 50 v.Chr., wird kurz erläutert, wie man sich damals die Entstehung eines Menschen vorstellte: Aus dem Samen des Mannes wird er im Mutterleib zu Fleisch geformt und im Blut befestigt (Weish 7,1). Die eigentliche Triebkraft der Entstehung ist der männliche Same. Auch der Stoiker Chrysipp (3. Jh. v.Chr.) bezeichnet den Samen bei der Entstehung des Menschen als den Werkmeister selbst, weil in diesem der Geist enthalten sei (Fragmenta 743). Der Same ist eine Mischung, die von allen Seelenteilen des Erzeugers zustande gekommen ist und ist somit Träger aller gestaltenden Kräfte im werdenden Menschen. Im männlichen Samen sind Gestaltungskräfte, die die Entwicklung des Erzeugten vorantreiben. Diese Kräfte bewirken die Entwicklung des Erzeugten nach der gleichen Art wie der des Erzeugers. Solche Vorstellungen teilt offenbar auch Johannes. Für ihn ist Gott ist nur der Gebärer, sondern auch der Erzeuger der Glaubenden. Genauso wie die Entwicklung eines Kindes vom Samen des Erzeugers abhängig ist (wie man damals dachte), vollzieht sich die Entwicklung der Glaubenden gemäß dem Samen ihres Erzeugers, Gott. Dass eine Art göttlicher Same in jedem Menschen ist, wird von der stoischen Philosophie immer wieder betont. Johannes macht sich diese Vorstellung insofern zu eigen, als er sagt: Nur in demjenigen, der an Jesus Christus glaubt und zur christlichen Gemeinde gehört, ist dieser göttliche Same zu finden. Anders als in 1Petr 1,23 wird hier bewusst nicht gesagt, womit der göttliche Same identifiziert werden soll, weil Johannes die genealogische Abstammung der Glaubenden von Gott ganz real sieht: Wir SIND Gottes Kinder (vgl. 3,1). Wenn also Gott tatsächlich der Vater der Glaubenden ist, legt es sich nahe, von einem göttlichen Samen im Menschen, der diesen entsprechend formt und sein Handeln beeinflusst, zu reden. Die kreisförmige Argumentation des Johannes wird bei diesem Vers besonders deutlich: Wenn man aus Gott geboren ist, tut man keine Sünde, d.h. geradezu zwangsläufig kann man von seinem Vater nicht abfallen. Grund dafür ist der jedem Glaubenden innewohnende göttliche Samen. Deshalb kann er auch gar nicht sündigen, weil der göttliche Samen in ihm seine Entwicklung festlegt bzw. weil er aus Gott geboren ist. Die im vorliegenden Vers geäußerte These von der Sündlosigkeit der Gotteskinder scheint in direktem Widerspruch zu den Aussagen des Johannes über die Sünde in 1,6 – 2,2 zu stehen (vgl. nur 1,10: Wenn wir sagen: Wir haben nicht gesündigt, so machen wir ihn zum Lügner, und sein Wort ist nicht in uns). In der Forschung sind
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hier ganz unterschiedliche Lösungsvorschläge gemacht worden. So wurde etwa die Vermutung geäußert, im vorliegenden Vers würde (allerdings ohne eine entsprechende Einleitung wie etwa in 1,6.8.10) eine Gegnermeinung zitiert. Ein anderer Lösungsvorschlag behauptet, die hier vorgetragene Sündlosigkeit sei endzeitlich gemeint. Erst wenn er offenbart wird (2,28), wird auch offenbar, wer die Kinder Gottes sein werden (3,2) und dass sie nicht sündigen können. Am wahrscheinlichsten scheint jedoch der Vorschlag zu sein, wonach – ausgehend von 5,16 – hier verschiedene Arten von Sünden zu unterscheiden sind: In 1,6 – 2,2 geht es überwiegend um kleinere Verfehlungen, Momente der Schwäche und des Zweifels, während in 3,9 der Abfall vom christlichen Glauben und das Verlassen der christlichen Gemeinde im Hintergrund steht. In diesem Sinne können wahre Gotteskinder wirklich nicht sündigen. 3,10–18 Gotteskindschaft und Liebe bzw. Hass 10
Daran sind die Kinder Gottes und die Kinder des Teufels offenbar: Jeder, der nicht Gerechtigkeit tut, ist nicht aus Gott; und wer nicht seinen Bruder liebt. 11 Denn das ist die Botschaft, die ihr gehört habt von Anfang an, dass wir uns untereinander lieben sollen, 12 nicht wie Kain (, der) aus dem Bösen war und seinen Bruder abschlachtete. Und warum schlachtete er ihn ab? Weil seine Taten böse waren, aber die seines Bruders gerecht. 13 Wundert euch nicht, Brüder, wenn euch die Welt hasst. 14 Wir wissen, dass wir aus dem Tod in das Leben gegangen sind; denn wir lieben die Brüder. Wer nicht liebt, bleibt im Tod. 15 Jeder, der seinen Bruder hasst, der ist ein Menschenmörder, und ihr wisst, dass kein Menschenmörder das ewige Leben bleibend in sich hat. 16 Daran haben wir die Liebe erkannt, dass jener sein Leben für uns eingesetzt hat; und wir sollen (auch) das Leben für die Brüder einsetzen. 17 Wer immer den Reichtum der Welt hat und sieht seinen Bruder Mangel haben und verschließt sein Herz vor ihm, wie bleibt die Liebe Gottes in ihm? 18 Kinderchen, lasst uns nicht lieben mit dem Wort und nicht mit der Zunge, sondern im Werk und in Wahrheit! Der Gedankengang wird in V. 1 0 jetzt dadurch weiter geführt, dass die Alternative zu den Kindern Gottes benannt wird: die Kinder des Teufels. Diese sind von den Gotteskindern äußerlich nicht zu un-
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terscheiden. Aber die Taten machen offenbar, wer auf welche Seite gehört. Und dies ist ein sehr wichtiges Problem des Johannes: Weil dieses Heil als solches unanschaulich ist, möchte er Kriterien liefern, mit deren Hilfe festgestellt werden kann, wer aus Gott geboren ist und wer nicht – oder mit den Worten des vorliegenden Verses: wer Kind Gottes und wer Kind des Teufels ist. Seine Antwort lautet: Wer die Gerechtigkeit nicht tut, stammt vom Teufel ab. Damit wird die in 2,29 und 3,7 verwendete Ausdrucksweise aufgenommen und das dort lediglich Angedeutete weitergeführt: Die Gerechtigkeit zu tun heißt nichts anderes, als seinen Bruder bzw. seine Schwester zu lieben (zum die Schwester einschließenden Verständnis des griechischen Wortes adelphós [Bruder] s. zu 2,9 oben S. 18). Was Bruderliebe positiv heißt, ist bereits in 2, 7–11 angesprochen worden, doch der neue Zugang über die theologische Begründung der Gotteskindschaft erfordert nach Johannes eine erneute Behandlung des Themas. Insofern bildet dieser Vers ein Scharnier zwischen dem zentralen Gedanken der Gotteskindschaft und dem damit zusammenhängenden Thema der Bruderliebe. Auch hier ist auffällig, dass (wie in 2,8–10) der Begriff Bruder zunächst im Zusammenhang mit der nicht vorhandenen Liebe diesem gegenüber auftaucht. Wer wirklich zur Gemeinde gehört hat, ist und bleibt nach Johannes Bruder und ist dementsprechend aufgefordert, zur Bruderliebe zurückzukehren. Zu dieser Interpretation passt genau das nun folgende biblische Beispiel von Kain (Gen 4). Dieses ist zugleich eine Warnung an die Gemeindeglieder. Da für Johannes auch diejenigen die sich von der Gemeinde distanziert zu haben scheinen, noch Brüder sind, darf man sich auch diesen gegenüber nicht wie Kain verhalten. Erneut hat Johannes hier die Judenchristen im Blick, die sich aufgrund äußeren Drucks offenbar von der christlichen Gemeinde abwenden und wieder zum Judentum zurückkehren. Und wenn er ihnen nicht nur bescheinigt, dass sie Kinder des Teufels seien (vgl. 3,8 bzw. Joh 8,44), sondern dass sie nicht aus Gott seien, so ist dies eine abkürzende Formulierung für nicht aus Gott geboren zu sein. Mit seinen Worten wirbt Johannes um diejenigen, die abzuwandern drohen, und hofft auf ihre offene und ehrliche Rückkehr zur Gemeinschaft der Gotteskinder. In V. 1 1 wird der Begriff Botschaft aus 1,5 wieder aufgenommen; aber während diese dort ganz allgemein beschrieben wurde als Gott ist Licht und in ihm ist keine Finsternis, geht es jetzt (wieder) um die ethische Folgerung aus dieser Botschaft: Wir sollen einander lieben. Der Kontext von V. 11 zeigt, dass zwischen der gegenseitigen Liebe und der Bruderliebe aus dem vorangegangenen Kapitel (2,7–11) kein Unterschied. besteht. Das alte neue Gebot von 2,7f wird jetzt formuliert als Forderung, einander zu lieben. Auch zwi-
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schen Botschaft (3,11) und Gebot (2,7f) besteht im Grunde kein Unterschied; beide sind von Anfang an gegeben worden (2,7; 3,11). Beide spielten eine wichtige Rolle im Leben der Gemeindeglieder seit ihrer Bekehrung zu Christus. Insofern ist der Begriff von Anfang an in der vorliegenden Argumentation erneut doppeldeutig. Der Grund für die Rede von der Botschaft im vorliegenden Vers (und nicht vom Gebot) mag daran liegen, dass es jetzt nicht nur um das Gebot, sondern auch um das sodann angeführte Beispiel von Kain geht (V. 12). Die hier geforderte Solidarität unter den Christen soll dabei sowohl nach innen als auch nach außen sichtbar sein. Dies wird im Folgenden noch verdeutlicht. Das Beispiel von Kain aus Gen 4 in V. 1 2 ist deshalb außergewöhnlich, weil es die einzige direkte Anspielung auf das Alte Testament im ersten Johannesbrief darstellt (in 2,16 und 3,8 wird nur sehr verschlüsselt auf den Sündenfall angespielt). Im Johannesevangelium war das noch anders; dort wurde immer wieder auf das Alte Testament Bezug genommen (vgl. Joh 1,17.45; 2,22; 3,14; 4, 12; 5,39.45–49; 8,37–59; 10,34–36; 12,37–43 u.a. – dabei wird Kain im Johannesevangelium nie erwähnt). Dieser Unterschied liegt daran, dass Johannes den ersten Johannesbrief als ein innergemeindliches Mahnschreiben versteht, das die Kenntnis des Johannesevangeliums voraussetzt. Im Übrigen verweist Johannes lediglich auf das, was von Anfang an war (1,1; 2,7.13.14.24; 3,8.11) und bezeichnet damit entweder den Anbeginn der Welt, die Schöpfung, oder den Anfang des Christseins. Das Thema Kain bestimmt jetzt die nächsten vier Verse. Exkurs: Das Beispiel Kains Traditionsgeschichtlich am nächsten kommt der Darstellung des Johannes die Vorstellung im frühjüdischen Buch der Weisheit Salomos (entstanden um 50 v.Chr.). Dort wird Kain als Ungerechter bezeichnet, der von der Weisheit abfiel und von seiner Leidenschaft zum Brudermord getrieben wurde, sodass er zugrunde ging (vgl. Weish 2,24). Johannes zufolge ist Kain nicht von der Weisheit abgefallen, sondern war von vornherein aus dem Bösen, d.h. er stammte vom Bösen ab (vgl. 2,16). Zweifellos ist hier mit dem Bösen kein anderer als der Teufel gemeint (vgl. 2,13). Johannes bezeichnet ihn hier aber als den Bösen, weil damit zweierlei für ihn möglich ist: 1. Wenn Johannes den Bösen erwähnt, dann schimmert hinter dem eigentlichen Bösen, dem Teufel, auch dessen Repräsentant, der römische Kaiser, durch (vgl. den Exkurs »Der ›Böse‹ – Kaiser und Teufel« oben S. 44f). 2. Er kann mit dem Verweis auf Kain den Gegensatz zwischen böse und gerecht benennen – und der Begriff gerecht spielt bei der Charakterisierung Abels tatsächlich in der frühchristlichen und neutestamentlichen Tradition eine nicht unwichtige Rolle: In Mt 23,34f redet Jesus davon,
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dass die Pharisäer etliche in der Synagoge geißeln, verfolgen und töten würden, genauso wie ihre Väter es mit dem Propheten getan hätten, sodass das Blut der Gerechten über sie kommen würde. Als erstes Beispiel für den Mord an einem Gerechten führt Matthäus Kains Bruder Abel an. Und in Hebr 11,4 wird festgehalten, dass Abels Opfer wegen dessen Glauben angenommen wurde; und durch die Annahme sei deutlich geworden, dass Abel gerecht gewesen sei. Im Lukasevangelium (Lk 11,49–51) dagegen wird Abel ausdrücklich im Zusammenhang der Gefährdung der Gemeinde erwähnt. Er gilt hier als der erste Blutzeuge seit der Erschaffung der Welt. Schließlich wird in Jud 11 Kains Weg noch ganz allgemein als negativ gewertet.
Diese traditionsgeschichtlichen Beobachtungen lassen vermuten, dass Johannes die Vorstellung, Kains Bruder sei gerecht gewesen, aus dieser frühchristlichen Tradition übernommen hat, ohne dass diese Behauptung mit einer genauen Bibelstelle begründet werden müsste. Und jetzt wird auch klar, dass bereits V. 7 (Wer die Gerechtigkeit tut, der ist gerecht, wie auch jener gerecht ist) mit Blick auf das Kainsbeispiel bzw. auf Kains Bruder formuliert ist. Dass dieser hier durch das Attribut gerecht im Grunde mit Jesus parallelisiert wird, bereitet das spätere christologische Argument in V. 16 bereits vor. Doch der Schwerpunkt der Argumentation liegt auf der Darstellung der negativen Seite. Johannes gebraucht für den Brudermord nicht einfach den Begriff töten, sondern abschlachten, um diese Tat zu benennen. Dieses Verb wird in der Johannesoffenbarung verwendet sowohl für das rituelle Schlachten eines Opfertieres (vgl. Offb 5,6.9.12 u.ö.) als auch für das Ermorden der Märtyrer (Offb 6,9; 18,24). Von daher kann das Wort auch einen besonders brutalen Mord an einem Menschen bezeichnen (vgl. Philo, LegGai 87.92). In diesem Fall ginge es also primär darum, die Folgen des Bruderhasses zu benennen: Hass bewirkt ein brutales Abschlachten des Bruders. Die Begründung des Mordes mit dem Hinweis darauf, dass die Werke Kains böse waren, wirkt auf den ersten Blick etwas irritierend. Doch die Notiz verweist bereits auf die Aufforderung, mit dem Werk zu lieben (V. 18). Mit dem biblischen Brüderpaar (Kain und Abel) kann Johannes sein Anliegen auch deshalb am besten veranschaulichen, weil die beiden leibliche Brüder waren und deshalb sein Appell zur Bruderliebe aus dieser Geschichte sehr schön begründbar ist. Weshalb Johannes – anders als die frühchristliche Tradition – in V. 12 den Namen Abel nicht erwähnt, sondern nur zweimal von seinem Bruder spricht, liegt daran, dass er in V. 13 seine Adressaten als Brüder anredet und dadurch – kaum bemerkbar – die Angeredeten an Abels Stelle setzt. Umgekehrt macht das Beispiel deutlich, dass die Personen, deren Verhalten Johannes mit dem des Kain parallelisiert, für Jo-
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hannes immer noch Brüder sind. Weil dies aber so ist, müssten sie Johannes zufolge einander doch lieben! Aber genau das tun sie nicht. Sie schlachten stattdessen – wie Kain – ihre Brüder ab. Auf dem Hintergrund von 3,12 kann das Verständnis des vorangegangenen Verses präzisiert werden: Johannes geht es nicht einfach bloß um die Liebe dem glaubenden Bruder gegenüber, sondern auch um die Liebe gegenüber dem falschen und verdächtigen Bruder. Auch Kain verliert seinen Bruderstatus durch den Mord an Abel gerade nicht. Deshalb ist auch einem solchen Bruder nach V. 11 Liebe entgegenzubringen. Hier schwingt eine gewisse Hoffnung mit, wonach der mordende Bruder vielleicht doch von seinem Hass den Glaubenden gegenüber ablässt und wieder in den Schoß der Gemeinde zurückkehrt. Eine Sündenvergebung ist nach 1,9 ja durchaus möglich. Zugleich ist aufgrund dieser Beobachtungen davon auszugehen, dass Johannes zwischen den Brüdern und den Kindern Gottes unterscheidet. Brüder sind natürlich diejenigen, die sich zur christlichen Gemeinde zählen, aber auch diejenigen, die sich von der Gemeinde weg wieder dem Judentum oder Heidentum – je nach ihrer Herkunft – zuzuwenden drohen und diese Absicht ansatzweise wohl auch schon umgesetzt haben. Dagegen sind aus Gott geborenen Kinder Gottes für Johannes nur die wahrhaft Glaubenden (2,29; 3,1f.9f; 4,7; 5,1f. 4.18). Johannes spricht also nur dann von den Kindern Gottes, wenn er »wahre« Brüder meint (5,2). Nicht zufällig findet sich in V. 1 3 die Anrede meine Brüder. Dadurch wird der Zusammenhang dieses Zwischenrufes mit dem Kontext deutlich. Auffällig ist auch, dass Johannes sich in V. 11 und 14 mit einem wir ausdrücklich mit den Adressaten zusammenschließt, hier aber diese Solidarität durch einen Appell unterbricht. Die Aufforderung, sich über den Hass der Welt nicht zu wundern, geht zurück auf eine Widerspruchserfahrung: Das Bewusstsein, Kind Gottes zu sein, ja aus Gott geboren zu sein und seinen Samen in sich zu tragen, steht den sozialen Gegebenheiten der Gemeinde grundsätzlich entgegen. Die Kinder Gottes werden von der nichtchristlichen gesellschaftlichen Mehrheit gehasst, d.h. aggressiv ausgegrenzt, gefährdet und ansatzweise vermutlich auch verfolgt. Dadurch wird das Bewusstsein, in Gottes Heilsbereich zu leben (und aus diesem zu stammen), immer wieder massiv infrage gestellt. Dem trägt Johannes Rechnung, indem er dazu auffordert, sich nicht über diesen Hass der Welt zu wundern. Dabei ist die Welt für Johannes nicht etwas, was aus sich heraus böse ist. Im ersten Johannesbrief wird entweder vor der Welt und ihren Begierden gewarnt (2,15–17), oder es wird festgestellt, die Welt befinde sich (noch) im (Machtbereich des) Bösen. Es gibt aber Hoffnung für die Welt, die eigentlich als
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Ganze Ziel des Erlösungshandelns Gottes in Jesus ist (vgl. 2,2). Nach Joh 3,16 ist die Welt sogar Objekt der Liebe Gottes, weil er seinen Sohn in sie gesandt hat (4,9.14). Solange diese Welt aber noch nicht zum Glauben an Christus gekommen ist, steht sie der christlichen Gemeinde ablehnend (hassend) gegenüber. Ganz besonders problematisch sieht Johannes den Tatbestand an, dass sich eine Personengruppe von der Gemeinde abgespalten hat und in die Welt gegangen ist. Trotzdem sind für ihn Welt und Kain nicht identisch, weil dieser immer noch als Bruder bezeichnet wird. Insofern kann V. 13 durchaus – wie in der Forschung geschehen – als ein »Zwischenruf« bezeichnet werden. Die folgenden vier Verse (11 4– 1 7) kreisen alle um das Thema »Tod und Leben«. Dabei schließt sich Johannes mit dem betont vorangestellten wir weiterhin ausdrücklich mit seinen Adressaten wieder zusammen. Wenn Kain seinen Bruder vom Leben in den Tod gebracht hat (V. 12), so unterstreicht Johannes jetzt die Gewissheit, vom Tod in das Leben gekommen zu sein (formuliert im Perfekt!). Diese Vorstellung entspricht wieder der Geburtsmetaphorik von 3,9: Der aus Gott Geborene kommt ins Leben. Johannes bezeichnet damit die Christwerdung, die Bekehrung, die Taufe der Christen. Diese ist wie ein ins Leben Kommen, eine Geburt. Erst mit seiner Bekehrung zum Christentum lebt man und gehört zum Leben, das in Jesus leibhaftig auf der Erde erschienen ist (1,2). Dass man lebt, d.h. nach Johannes zur Gemeinde gehört, dafür ist die Bruderliebe, die Solidarität mit den Glaubenden, ein Erkenntnisgrund. Der Begriff Tod ist dabei bewusst doppeldeutig: Zum einen bezeichnet Johannes damit natürlich den leiblichen Tod – wie der Hinweis auf Kains Bruder zeigt –, zum anderen ist Tod aber auch das Gegenteil des als ewig gedachten Lebens der Gotteskinder. Dieses Leben bezeichnet das Leben innerhalb der Gemeinde und reicht über den leiblichen Tod hinaus (vgl. 2,25; Joh 11,26). Außerhalb der Gemeinde herrscht also der Tod. Deshalb kann Johannes feststellen, dass derjenige, der sich seinen Brüdern gegenüber unsolidarisch verhält, der sie also nicht liebt, wieder in den Status eines Toten zurückfällt, das Leben nicht bleibend in sich hat, also nicht wirklich zur Gemeinde gehört, auch wenn er dies vorgibt. Johannes versichert hier also seinen Adressaten, sie hätten das ewige Leben, und mahnt sie zur Liebe. Objekt dieser Liebe sind die Brüder – und damit sind deutlich auch diejenigen eingeschlossen, deren Verhalten dem Kains gleicht, denn auch diese sind für Johannes nach wie vor Brüder, so wie Kain trotz des Mordes der Bruder Abels blieb. Insofern wird man Johannes nicht gerecht, wenn man ihm unterstellt, er fordere nur zur Bruderliebe auf. Die Überzeugung, wonach auch der des Abfalls und der mangelnden Solidarität verdächtige Bruder
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ein Bruder bleibt, hat zur Folge, dass die so verstandene Bruderliebe der in der Bergpredigt geforderten Feindesliebe (vgl. Mt 5,43–48) nahekommt. Nach V. 1 5 schließen Hass und Bruderliebe einander aus. Johannes begründet diese Überzeugung damit, dass er Hass mit Brudermord gleichsetzt. Schließlich zieht ein Mord für den Täter die Todesstrafe nach sich (vgl. Ex 21,12; auch Mt 5,21). Wenn also der vorliegende Vers davor warnt, seine Brüder zu hassen, dann soll damit gesagt werden, dass man nicht dem Brudermörder Kain gleichen dürfe. Mit Hilfe des hier verwendeten und im klassischen Griechisch sehr seltenen Ausdrucks Menschenmörder spielt Johannes auf Joh 8,44 an. Dort wird der Teufel als Menschenmörder von Anfang an bezeichnet. Diejenigen, die ihre Brüder hassen, stammen also nicht von Gott, sondern vom Teufel ab, denn sie tun die Werke ihres Vaters (folgerichtig wird denen, die Jesus in Joh 8 zu töten suchen, auch bescheinigt, sie hätten den Teufel zum Vater). Ähnlich wie das Verb aus V. 12 abschlachten ist die Bezeichnung Menschenmörder verwendet worden, um die Unmenschlichkeit und Brutalität zum Ausdruck zu bringen. Vorneutestamentlich ist das Wort nur zweimal in den Dramen des Euripides (ca. 480–406 v.Chr.) belegt und bezeichnet beide Male Figuren, die nicht nur Menschen töten, sondern diese auch auffressen (Der Zyklop 127 und Iphigenie auf Tauris 389). Der Zusammenhang von V. 14 und 15 zeigt also: Auch wenn Johannes deutlich macht, dass sogar die diejenigen unter den Brüdern zu lieben sind, die im Verdacht stehen, die Gemeinde zu verlassen und die Brüder zu verraten, gilt: Wer durch tatsächlichen Verrat seine Brüder in Lebensgefahr oder gar zu Tode bringt, verspielt sein endzeitliches Heil, das ewige Leben. In V. 1 6 folgt auf das negative Beispiel Kains (V. 12) die positive Entsprechung: Jesus. Inhaltlich nimmt V. 16 Bezug auf das Jesuswort von Joh 13,15, wonach Jesus den Seinen ein Beispiel gegeben habe, damit sie tun, was er ihnen getan hat. Zweifellos ist mit dem Personalpronomen er Jesus gemeint. Und auch die Formulierung dass er sein Leben für uns eingesetzt hat erinnert an die entsprechenden Stellen im Johannesevangelium: Nach Joh 10,11 setzt der gute Hirte sein Leben für die Schafe ein (vgl. Joh 10,15). Die Übersetzung das Leben lassen ist irreführend. Tatsächlich taucht die Formel vom Einsatz des Lebens zweimal im Alten Testament auf (1Sam 19,5: David hat sein Leben gewagt; 1Sam 28,21: Die Frau von En-Dor hat ihr Leben aufs Spiel gesetzt), aber beide Male verliert die betreffende Person ihr Leben nicht. In gleicher Weise ist die Formulierung bei Johannes (sowohl im Evangelium als auch im ersten Johannesbrief) zu verstehen: Der gute Hirte Jesus hat sein
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Leben eingesetzt für die Schafe. Er lebte für die Seinen – und riskierte dabei sein Leben. So ist nach Johannes der Tod Jesu nur deshalb ein Sterben für die Seinen, weil sein Leben ein Leben für die Seinen war. Und weil genau dieselbe Formulierung im vorliegenden Vers auftaucht, bedeutet dies nichts anderes als: Auch die Gemeindeglieder sollen füreinander unter Einschluss des Todesrisikos leben, sie sollen füreinander ihr Leben einsetzen und notfalls sogar aufs Spiel setzen – so wie es Jesus getan hat, der bei seiner Gefangennahme den Soldaten ausdrücklich befahl: Sucht ihr mich, so lasst diese gehen (Joh 18,8). Hier zeigt sich beispielhaft Jesu Einsatz für die Seinen. Tatsächlich macht die Gleichsetzung der Adressaten des Schreibens mit Jesus im vorliegenden Vers deutlich, dass Johannes den Tod Jesu an dieser Stelle nicht als Sühnetod verstanden wissen will. Bereits im Johannesevangelium ist Jesu Lebenseinsatz für andere als vorbildhaft gedeutet worden, und seine Motivation ist auch hier die Liebe zu den Seinen (vgl. Joh 15,12–14). Wenn nach Joh 13,1 Jesus die Seinen bis zum Ende liebte, dann wird hier der Bogen zur Kreuzigungsszene in Joh 19,30 gespannt: In dem Wort Es ist vollbracht wird nicht nur Jesu Werk vollendet, sondern auch und gerade seine Liebe und die Lebenshingabe Jesu am Kreuz ist die Vollendung seines Lebenseinsatzes vorher. Wie im Johannesevangelium ist auch hier der Lebenseinsatz Jesu der Grund für die Erkenntnis seiner Liebe. So wie der gute Hirte Jesus für seine Schafe lebte, so sollen jetzt auch die an ihn Glaubenden füreinander (für die Brüder) leben. Dabei kann es durchaus sein, dass dieser Lebenseinsatz das Leben kostet. Aber – wie bereits in V. 14 und 15 angedeutet – die Gabe des ewigen Lebens ist unabhängig vom Verlust des irdischen Lebens. Die Vorbildfunktion Jesu für die Glaubenden ist der Grund, weshalb Johannes an dieser Stelle die Interpretation des Kreuzes aus Joh 15,12–14 zugrunde legt und seinen Tod nicht – wie in 1,8 – 2,2; 4,10 – als Sühne für unsere Sünden deutet. Deshalb schließen die hier gemachten Beobachtungen nicht aus, dass Johannes (an den genannten anderen Stellen) den Tod Jesu mit Hilfe der Sühnevorstellung interpretieren kann. Vielmehr zeigen die unterschiedlichen Interpretationen, dass die Torheit des Kreuzes (vgl. 1Kor 1,23) mehrere Interpretationen nicht nur zulässt, sondern auch notwendig macht. Auf den ersten Blick scheint es so, dass Johannes in V. 1 7 ein erbauliches Beispiel für die Bruderliebe bringt. Es handelt sich hier jedoch wohl nicht um einen konkreten Fall, sondern lediglich um eine literarische, d.h. am Schreibtisch entstandene Illustration. Der Vers erinnert an den in der Apostelgeschichte geschilderten ur-
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christlichen Liebeskommunismus« (Apg 2,44f; 4,32–37), zumal in Apg 2,45 und 4,35 mit der gleichen Formulierung wie im vorliegenden Vers betont wird, dass jeder das an Gütern bekam, was er an Mangel hatte. Hier wie dort wird offenbar der Realität ein literarisches Ideal entgegengestellt. Tatsächlich ist Johannes hier merkwürdig wenig konkret. Was soll man denn tun, wenn man der Welt Güter hat? Die am häufigsten in der Forschung vorgeschlagene und wahrscheinlich auch zutreffende Interpretation lautet, dass hier das Zusammenstehen in der Not gefordert wird. Wenn ein Gotteskind in einer Verfolgungssituation sein Hab und Gut verloren hat, soll man es auch materiell unterstützen. Ob man aus diesem Vers aber darauf schließen kann, dass es innerhalb der Gemeinde(n) auch vermögende Glaubende gegeben hat, ist nicht sicher. Der hier verwendete Begriff für Herz ist aus dem Alten Testament übernommen (Jer 31,20; Gen 43,30; Sir 30,7) und bezeichnet das Organ der inneren Anteilnahme am tragischen Schicksal eines Bruders. Mit Hilfe einer rhetorischen Frage stellt Johannes in Abrede, dass in einem Gemeindeglied, das den notleidenden Bruder nicht unterstützt, Gottes Liebe bleibt. Positiv formuliert heißt das: Nur in demjenigen, der sein Herz vor dem bedürftigen Bruder nicht verschließt, bleibt die Liebe Gottes. Wenn Johannes in 3,9 feststellt, dass Gottes Same im Glaubenden bleibt bzw. nach 3,24 Gott selbst, dann meint der Verfasser damit jedesmal im Grunde dasselbe: Gott und Glaubender bilden eine Einheit (vgl. den Exkurs »Die ›Durchdringungsformeln‹ im ersten Johannesbrief« unten S. 91f). V. 1 8 fasst das Bisherige in einer Aufforderung zusammen und wiederholt und präzisiert das Liebesgebot: Die einander gegenüberstehenden Begriffspaare Wort und Zunge sowie Werk und Wahrheit verstärken diese Mahnung und fordern die Liebe als Tat. Vergleichbare Aussagen finden sich – allerdings nicht in einer derartigen Gegenüberstellung – bereits in Ps 15,2f: Wer tut, was recht ist, und die Wahrheit redet, wer mit seiner Zunge nicht verleumdet und seinem Nächsten nichts Böses tut, darf auf Gottes heiligem Berg wohnen. Die Begriffe Wahrheit und Werk werden dann besonders gerne in der Weisheitsliteratur einander zugeordnet (vgl. Spr 11,18; Sir 7,20; 27,9; 37,15; 45,10). Und nach Joh 3,21 kommt derjenige zum Licht, der die Wahrheit tut. Johannes nimmt diese Begrifflichkeit also aus der Tradition auf, versteht sie aber ganz in seinem Sinn. Im Grunde geht es hier um die Einheit von Glauben und Werken. Das Verb glauben taucht zwar erst in 3,23 auf, ist aber hier vorauszusetzen. Auf die ihm eigene Art und Weise macht Johannes deutlich, dass ein Glaube ohne die entsprechenden Werke tot ist. Formal entspricht die vorliegende Aussage dem Jesuswort aus der Spruchquelle Q: Es werden nicht alle, die zu mir sagen:
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Herr, Herr! in das Himmelreich kommen, sondern die den Willen tun meines Vaters im Himmel (Mt 7,21; vgl. Lk 6,46). Im vorliegenden Kontext bezieht sich der Vers zurück auf die Aussage von V. 12b; dort werden die zerstörerischen Taten Kains als böse bezeichnet, sodass die Mahnung noch eindringlicher wird. Die Begriffe Tat und Wahrheit stehen für die beiden zentralen Anliegen des Johannes: die auch materielle Unterstützung des Mitchristen (Bruderliebe) und das offene Bekenntnis zu Jesus bzw. zur Gemeinde (Wahrheit; vgl. 1,6). Beides gehört für ihn zusammen, insofern die brüderliche Solidarität Folge aus dem Bekenntnis zu Jesus ist. 3,19–22 Das Erkennen der Kinder Gottes 19
Daran werden wir erkennen, dass wir aus der Wahrheit sind, und können unser Herz vor ihm damit beschwichtigen, 20 dass, wenn uns das Herz verdammt, Gott größer ist als unser Herz und erkennt alle Dinge. 21 Geliebte, wenn uns unser Herz nicht verdammt, so haben wir frohe Zuversicht zu Gott, 22 und was wir bitten, empfangen wir von ihm; denn wir halten seine Gebote und tun, was im Angesicht vor ihm wohlgefällig ist. Das Stichwort, an das der neue Gedankengang in V. 1 9 anknüpft, ist das Thema Wahrheit. Wer tatsächlich aus der Wahrheit ist, d.h. an Jesus glaubt und die Brüder mit Tat und in Wahrheit liebt, kann dies vor sich selbst unter Beweis stellen. Dabei ist jetzt anders als in 2,3 oder 3,10 (vgl. im Folgenden auch 3,24; 4,6.13; 5,2) nicht ein für andere sichtbarer Beweis gemeint, sondern es wird ein innerer Vorgang beschrieben, der nur dem jeweils Betroffenen erkennbar bleibt. Johannes stellt sich hier einen inneren Gerichtshof vor, bei dem das eigene Herz vor ihm, d.h. vor Gott, den Ankläger spielt. Exakt diese Vorstellung findet sich bereits in der frühjüdischen Schrift Testamentum Gad 5,3: von keinem anderen angeklagt als vom eigenen Herzen (vgl. auch Sir 14,2). Dieses kann besänftigt werden durch Gott, wie der folgende Vers zeigt. Der Inhalt der Anklage des Herzens wird nicht noch einmal genannt. Aber es geht zweifellos um die Frage, ob die Bruderliebe ausreichend mit der Tat und mit der Wahrheit geübt wurde (V. 18), ob also ein offenes Bekenntnis zur Gemeinde abgegeben und gegenseitige Unterstützung geleistet wurde. Völlig ungewöhnlich und vor dem ersten Johannesbrief nicht belegt ist die Vorstellung in V. 2 0, dass das eigene Herz den Men-
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schen verdammen könne. Traditionsgeschichtlich ist dieser Gedanke im Alten Testament allerdings vorbereitet. Das Herz gilt dort unter anderem als Ort der Willensentschlüsse: So kann das Herz des Pharao verstockt sein bzw. werden, dass er das Volk nicht ziehen lässt (Ex 4,21; 7,3.15; 9,7). Auch das Herz des Volkes Israel wird durch die Predigt des Propheten Jesaja verstockt (Jes 6,10). Genau dieser Vers wird in Joh 12,40 von Jesus zitiert, um den Unglauben der Juden gegenüber Jesus als Erfüllung einer prophetischen Verheißung des Alten Testaments darstellen zu können. Damit geht Johannes aber über das Alte Testament hinaus, insofern jetzt die Entscheidung für oder gegen den Glauben im Herzen fällt. Anders gesagt: Der Unglaube gegenüber Jesus ist im (verstockten) Herzen verankert. Im ersten Johannesbrief ist deshalb das Herz am ehesten dem vergleichbar, was heute unter Gewissen verstanden wird. Diese innere Stimme des Gewissens kann den Menschen verdammen – etwa im Fall der Verleugnung Jesu (vgl. die Verleugnung Jesu durch Petrus in Joh 18,25–27) oder der Verleugnung der Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinde. Der Anklage und der Verdammung durch das eigene Herz wird Gott gegenübergestellt, der größer ist als das Herz und alle Dinge (er)kennt. Diese letztgenannte Formulierung erinnert an die Bezeichnung Gottes als Kenner der Herzen in Apg 1,24 und 15,8 (vgl. auch Lk 16,15 sowie 1Sam 16,7; 1Kön 8,39; 1Chr 8,9; Ps 7,10; 139, 23; Jer 11,20; 17,20; Sir 42,18). Johannes gestaltet hier ähnlich wie in 2,28 (parrhesía und parusía) ein Wortspiel, sodass eben diese seltsame Formulierung zustande kommt: Das Herz verdammt (kataginóske), aber Gott erkennt (ginóskei) alle Dinge – das verdammende Herz eingeschlossen. Ähnlich wie in 1,7 – dort wurde davon gesprochen, dass das Blut des Gottessohnes Jesus die Glaubenden von aller Sünde reinige – liegt auch hier die Aufhebung der Verdammung allein in Gottes Hand. Von sich aus kann der Mensch nichts zu seiner Rettung beitragen. Es ist Gott, der größer als alles Innerweltliche und somit in der Lage ist, die innere Stimme der Verdammung zum Schweigen zu bringen bzw. die Sünden zu vergeben. Dadurch wirkt Gott auf das Herz ein, er redet ins Gewissen oder – alttestamentlich gesprochen – spricht (tröstend) zum Herzen (vgl. Gen 50,21; Ri 19,3). Deshalb berichtet Johannes auch als einziger Evangelist die Geschichte von der Annahme des Versagers Petrus durch den Auferstandenen mit dem dreimaligen Auftrag: Weide meine Lämmer (Joh 21,15–17). Während Johannes im vorangegangenen Vers davon ausging, dass das eigene Herz die Angesprochenen verdammen könnte, wird in V. 2 1 scheinbar ein neuer Fall behandelt, nämlich der, dass das Herz uns nicht verdammt. Tatsächlich besteht aber kein Unterschied. In
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V. 20 wird ja das anklagende Herz durch Gott, der größer ist als unser Herz, zum Schweigen gebracht. Deshalb kann jetzt davon ausgegangen werden, dass das Herz den Glaubenden letzten Endes eben nicht verdammen kann. Die mögliche Verdammung durch das Herz kann durch Gott aufgehoben und für ungültig erklärt werden. Der griechische Begriff, der hier mit Zuversicht wiedergegeben ist, taucht auch in 2,28 (vgl. 4,17) auf. Dort war von einer Zuversicht bei der Wiederkunft Jesu die Rede. Jetzt geht es um die gegenwärtige Zuversicht gegenüber Gott. Hier wie dort ist der Hintergrund ein Gerichtshof und dem »Angeklagten« wird Zuversicht auf Straffreiheit attestiert. Er kann darauf vertrauen, von Gott wieder angenommen zu werden, wie Petrus von Jesus wieder angenommen wurde. Die Folge aus dieser Zuversicht vor Gott (V. 21) wird in V. 2 2 beschrieben. Es ist die Erwartung, dass das, worum die Glaubenden bitten, ihnen von Gott gewährt wird. Diese Überzeugung ist in der synoptischen Überlieferung verbreitet; sie findet sich bereits in der Spruchquelle Q: Mt 7,7–11; Lk 11,9–13. Johannes sagt dabei nicht, dass die Glaubenden alles empfangen werden, worum sie auch bitten. Vielmehr spricht der Verfasser hier eine ganz konkrete im Hintergrund stehende Bitte an. Veranschaulicht wird dies durch das Johannesevangelium: In Joh 14,13f stellt Jesus den Seinen die Erfüllung dessen in Aussicht stellt, »was ihr bitten werdet in meinem Namen«. Und nach Joh 15,7 darf man sogar bitten, was man will, und es wird einem widerfahren – die einzige Einschränkung ist auch hier: sofern man in Jesus bleibt und Jesu Worte im Glaubenden bleiben (vgl. auch Joh 15,16; 16,23.26). Ganz genauso ist die Sachlage im vorliegenden Vers. Zunächst scheint keine Einschränkung gegeben zu werden (worum wir bitten, das werden wir von ihm empfangen), doch der Nachsatz benennt als Begründung das Halten der Gebote und das Gott wohlgefällige Handeln. In Joh 4 findet sich sogar ein Beispiel für eine Bitte und die entsprechende Erfüllung. Dort sagt Jesus zu der Samariterin: Wenn du die Gabe Gottes erkennen würdest und wer der ist, der zu dir sagt: Gib mir zu trinken!, du bätest ihn, und er gäbe dir lebendiges Wasser (Joh 4,10). Es ist das endzeitliche Heil, das (ewige) Leben, um das die Glaubenden bitten und das ihnen geschenkt (werden) wird. Die Begründung für die Erfüllung der Bitte der Glaubenden ist das Halten der Gebote und das Tun dessen, was in Gottes Augen wohlgefällig (arestós) ist. Dieses im Neuen Testament sehr seltene, jedoch in der jüdischen Tradition immer wieder auftauchende Adjektiv wohlgefällig (Dtn 12,8; Jes 38,3; Tob 3,6; 4,21; vgl. auch Philo, SpecLeg 4,131,2) deutet für Johannes eine Gleichstellung der Glau-
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benden mit Jesus an; denn nach Joh 8,29 tut Jesus, was Gott wohlgefällig ist. Wenn er hier die Präposition im Angesicht von einfügt, dann will er damit den Gerichtshof vor Gott angedeutet haben. Die Belege Gal 1,20; 1Tim 5,21; 5,13; 2Tim 2,14; 4,1 zeigen, dass dies eine urchristliche Vorstellung war. V. 22 ist somit wieder ein Scharniervers, in dem aus der Vorstellung von der Zuversicht vor Gott, die das getröstete Herz des Glaubenden haben kann (V. 21), auf die Erfüllung der Bitten durch Gott geschlossen werden kann. Der Grund für die Bitten der Glaubenden liegt aber in der Erfüllung der göttlichen Gebote. Diese werden im anschließenden Vers noch einmal zusammenfassend dargestellt. Der dritte Hauptteil 2,29 – 3,22 ist nicht zufällig der längste, und nicht zufällig findet er sich im Zentrum des gesamten Schreibens. Johannes kommt hier auf eine für ihn besonders wichtige Botschaft zu sprechen – und er formuliert sie ganz bewusst als unbedingte Heilszusage: Wir sind Gottes Kinder. Dies ist für ihn die Bezeichnung der Glaubenden. Der Begriff Christen ist erst bei Lukas belegt (Apg 11, 26), auch wenn dort behauptet wird, bereits in Antiochia seien die an Jesus Glaubenden so genannt worden. Vorbereitet wird die Selbstbezeichnung Kinder Gottes schon in Joh 20,17. Dort nennt der Auferstandene Gott erstmals ausdrücklich Vater für diejenigen, die an ihn glauben. In ihrer Bekehrung zum Glauben an Jesus bzw. in der Taufe geschieht nach Johannes eine Geburt aus Gott, die den Betreffenden zum wirklichen Gotteskind macht. Ab jetzt gehört er zu Familie Gottes, in der alle Glaubenden als Brüder zusammengeschlossen sind. Ein wichtiges Problem stellt die Realität der Sünde dar. Dabei ist stets in Rechnung zu stellen, dass Johannes unter Sünde den Unglauben versteht. Daraus folgt automatisch, dass die Gotteskinder eigentlich gar nicht sündigen können, denn sie sind ja aus Gott geboren. Der kunstvoll aufgebaute und zentrale Vers 3,9 stellt dies doppelt und unmissverständlich fest: Da der göttliche Samen im Glaubenden wirkt, ist die Sünde ausgeschlossen. Dass diese steile These den Ausführungen von 1,7 – 2,2 zu widersprechen scheint, wurde in der Auslegung angedeutet. Systematisch-theologisch haben die unterschiedlichen Aussagen des ersten Johannesbriefs über die Sünde nachhaltige Wirkung entfaltet. So lässt sich das Menschenbild Martin Luthers am besten auf den Punkt bringen mit dem Satz: Der Mensch ist Gerechtfertigter und Sünder zugleich (simul iustus et peccator). Luther betont damit ganz besonders die beiden biblischen Momente, wonach der Mensch Sünder (vgl. 1,7 – 2,2), aber auch von Gott Angenommener ist, für den die Sünde nicht mehr gilt (vgl. 3,1.
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6.9). Er meint damit: Für sich gesehen ist der Mensch durch und durch Sünder und auf die Vergebung in Christus angewiesen. Aber das, was an sich ist, wird entkräftet durch das, was in Christus gilt. Dem Tatbestand tritt die Geltung gegenüber. Der Christ ist nach Luther stets beides: Gerechtfertigter und damit Sündloser vor Gott und Sünder für sich selbst gesehen. Er hat nie eine Stufe des Heiligungsweges erreicht, die er als absolviert hinter sich wissen und zur Basis seiner nächsten Schritte machen könnte. Er darf sich aber – wo er von Gott ins Auge gefasst wird – als Glaubender immer bereits am Ziel wissen. Luther kann es auch so formulieren: Der Mensch ist Sünder dem Tatbestand nach, Gerechter (Sündloser) aber in der Hoffnung (peccator in re – iustus in spe). Auch wenn Luther sich bei seiner Argumentation vielfach auf Belegstellen aus den Paulusbriefen und den Evangelien beruft, lassen sich seine theologischen Überzeugungen auch mit Hilfe des ersten Johannesbriefs belegen. Der anglikanische Geistliche John Wesley (1703–1791), der Mitbegründer des Methodismus, hat sich ausgehend von Luthers Gedanken ausführlich mit der Sündenvorstellung bei Johannes auseinandergesetzt. In seinem Traktat »Ein freimütiger Bericht von der christlichen Vollkommenheit« unterscheidet er Sünde »im eigentlichen Sinn« von der Sünde »im uneigentlichen Sinn«. Erstgenannte ist für ihn eine wissentliche und willentliche Übertretung des göttlichen Gebotes, während er unter der letztgenannten »unfreiwillige« Übertretungen und Versehen versteht. Vor diesen ist kein Mensch, auch kein noch so frommer Christ, gefeit: Ich glaube, dass ein Mensch, der voll von der Liebe Gottes ist, dennoch diesen unfreiwilligen Übertretungen unterworfen bleibt. Diese versehentlichen Fehltritte können zwar nach Wesley Sünde genannt werden, aber er selbst lehnt diese Bezeichnung ab. Damit zeigt sich bereits die Lösung Wesleys für das Sündenverständnis des Johannes: In 1,6 – 2,2 geht es nach Wesley um diese versehentlichen Übertretungen, während 3,6.9 die absichtlichen Sündentaten im Blick hat. Für sich selbst lehnt es Wesley zwar ab, die unabsichtlichen Fehler als »Sünde« zu bezeichnen, aber er verwahrt sich gegen die Aussage, die Christen würden jemals einen Zustand erreichen, »in welchem sie ohne einen Mittler vor der unendlichen Gerechtigkeit bestehen könnten. So etwas zu behaupten, wäre tiefste Unwissenheit oder höchste Überheblichkeit und Anmaßung«. Wesley hält damit an der Notwendigkeit der Rechtfertigung durch Gott bzw. Christus fest und kann erklären, wie Johannes in 1,6 – 2,2 von der Reinigung der (versehentlich) sündigen Christen durch Jesus Christus spricht, während in 3,6.9 die Sündlosigkeit der Christen (d.h. Christen sündigen nicht absicht-
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lich) behauptet wird. Wesley trennt damit die Rechtfertigung und die Heiligung des Menschen in zwei unterscheidbare und aufeinander folgende Taten des Heiligen Geistes. Es war das nachvollziehbare Ziel seiner biblischen Argumentation, dass die christliche Gemeinde »heilig« zu sein hat: Eine unheilige Gemeinde ist nicht die Gemeinde Jesu Christi. Wesley versteht also die Behauptung des Johannes, dass die Kinder Gottes nicht sündigen könnten, als Ansporn zur Heiligkeit. Ein besonderes Problem ist die Frage der Erkennbarkeit der Gotteskinder. Der Anspruch, im Heilsbereich Gottes zu leben, widersprach der Realität der Gemeinde zutiefst. Der erste Johannesbrief deutet immer wieder an, dass Menschen aus unterschiedlichen Gründen (vgl. unten S. 138–141) die Gemeinde verlassen und wohl auch weitere Gotteskinder zum Verlassen aufgefordert hatten. Demgegenüber betont Johannes die Wichtigkeit der Solidarität der Gemeindeglieder untereinander (Bruderliebe). Diese ist für ihn Folge aus dem Glauben an Jesus. Ein Bekenntnis zu Jesus, das nicht die Solidarität mit den Gotteskindern, den Brüdern, einschließt, ist nichts wert. Dabei werden sogar diejenigen, die im Begriff sind, die Gottesfamilie zu verlassen, nach wie vor als Brüder bezeichnet. Das Beispiel von Kain, der seinen Bruder getötet hatte und immer noch als Bruder bezeichnet wird, lässt keinen anderen Schluss zu. Zum Schluss dieses Gedankengangs betrachtet Johannes noch einmal das Problem der Erkennbarkeit der Kinder Gottes. In diesem Zusammenhang bringt er einen neuen Gedanken ein: die frohe Zuversicht gegenüber Gott, der das anklagende Gewissen (Herz) zum Schweigen bringen kann. An diesem getrösteten Herzen kann das Gotteskind seine Zugehörigkeit zu Gottes Heilsgemeinde erkennen. Der Zuspruch der Gotteskindschaft und die damit verbundene Geschwisterschaft aller Glaubenden ist bis heute ein zentraler Bestandteil christlicher Verkündigung. Es ist das Verdienst des Johannes, diese Vorstellung weiter ausgeführt zu haben. Dass sich damit nicht automatisch alle innergemeindlichen Probleme erledigt haben, zeigen spätestens die beiden folgenden Johannesbriefe. Aber die Realität der Gotteskindschaft – für Johannes ist es wesentlich mehr als nur ein »Bild« – erinnert die Geschwister im Glauben immer wieder an ihre gemeinsame Abstammung aus »Gott« und damit an ihre gemeinsame Basis. Die Überzeugung, gemeinsame Eltern (Gott als Vater und Mutter) zu haben, sollte Christinnen und Christen immer wieder neu daran erinnern, dass es Gottes bzw. Jesu Wille ist, dass sie alle eins seien (Joh 17,21).
3,23 – 4,6 Vierter Hauptteil Das Gebot, an Jesus Christus zu glauben Ausgehend von 3,22 (was vor Gott wohlgefällig ist) kommt Johannes jetzt noch einmal auf die beiden Aspekte des einen Gebotes zu sprechen: den Glauben an Jesus Christus und die Liebe untereinander (3,23). Glaube kann auch gegenüber falschen Geistern geschehen; deshalb ist wichtig zu erfahren, woran man den richtigen Glauben erkennt. Es ist der Glaube, der Jesus Christus als den in das Fleisch Gekommenen bekennt. Wer Jesus nicht bekennt, der gehört zum Antichristen (4,3), auf den Johannes bereits in 2,18 in anderem Zusammenhang zu sprechen gekommen war. Um diesen Gedankengang abzuschließen, wird jetzt noch einmal der Gegensatz der Glaubenden zur ungläubigen Welt angesprochen und die Frage der Erkenntnis des Geistes der Wahrheit und der Verführung kurz behandelt (4,6). 3,23 Glaube an Jesus Christus und Bruderliebe 23
Und das ist sein Gebot, dass wir glauben an den Namen seines Sohnes Jesus Christus und einander lieben, wie er uns das Gebot gegeben hat. Anders als im vorangegangenen Vers spricht Johannes in V. 2 3 nur von einem Gebot. Dieses wird jetzt inhaltlich benannt, wobei sich herausstellt, dass dieses zweiteilig ist, sodass die Rede von den Geboten in V. 22 keinen Widerspruch darstellt: Es geht um den Glauben an Christus und die tätige (vgl. 3,18) Liebe untereinander. Wie in 2,7–11 handelt es sich natürlich um das Gebot bzw. die Gebote Gottes, wie der Kontext (Glaube an den Namen seines Sohnes) zeigt. Neben dem bereits bekannten Inhalt des Gebotes (nämlich einander zu lieben; vgl. 3,11; 4,21 sowie Joh 13,34; 15,12) findet sich hier eine weitere Anweisung: Man soll an den Namen seines Sohnes Jesus Christus glauben. Erstmalig im ersten Johannesbrief taucht der Begriff des Glaubens auf. Exkurs: Glaube bei Johannes Anders als in den synoptischen Evangelien meint Glaube bei Johannes nicht nur ein konkretes Zutrauen zu Jesus oder zu dessen Wundermacht
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(vgl. nur Mk 2,5.36; Mt 8,10; 9,29 u.ö.), sondern hat einen dauerhaften Charakter. Glaube ist an Jesu Wort oder an das Zeugnis von ihm gebunden (Joh 1,7; 4,39.41f.50 u.ö.). Zum Glauben gehört auch das Erkennen und Wissen (4,16; Joh 6,69; 8,31f; 10,38; 17,8). Inhalt des Glaubens ist die Überzeugung, dass Jesus von Gott in die Welt gesandt ist (Joh 5,24.38; 6,29; 12,44; 17,8.21) und dass damit Jesus der Christus und Sohn Gottes ist (3,23; 5,1.5; Joh 3,18; 11,27), der in die Welt gekommen ist (4,9; Joh 11,27; 12,46). Gott hat sich in Jesus der Welt als Gott der Liebe geoffenbart (4,8.10.16; Joh 3,16). Das Ziel des Johannesevangeliums ist die Weckung des Glaubens, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes (Joh 20,31). 1Joh 3,23 scheint geradezu auf dieses Ziel hin formuliert zu sein. Johannes kann sogar den Glauben an Jesus mit dem Glauben an Gott gleichsetzen (Joh 12, 44; 14,1). Inhaltlich versteht Johannes unter dem Glauben ein inniges Vertrauensverhältnis zwischen dem Glaubenden und Gott bzw. Jesus. In der Begegnung mit der Botschaft vom Wort des Lebens (1,1) erfährt der Glaubende die Zusage, auf die sich sein Vertrauen richtet: die Zusage des ewigen Lebens. Dadurch wird er befreit zum Leben in dieser Welt – ohne Furcht vor denen, die die Existenz des Glaubenden unterdrücken und in Gefahr bringen, ihn teilweise sogar verfolgen. Der Glaube, den Johannes meint, ist eine Hinwendung zum Leben auf dieser Welt im Wissen, dass diese Welt vergehen wird (2,17). Deshalb kann der Glaube auch als Sieg über die Welt bezeichnet werden (5,4f; Joh 6,42.60; 7,27.41f).
Die hier gewählte Formulierung bezeichnet dabei nicht nur den Glauben, sondern vor allem das Bekenntnis zu Jesus Christus (vgl. 1Joh 5,1.5.10.13 sowie Joh 1,12; 2,23; 3,18). Insofern kann man sagen: Der vorliegende Vers greift die Forderung nach dem Bekenntnis zu Christus (2,22) und das Liebesgebot (3,11) auf und fügt beide zusammen. Tatsächlich sind für Johannes beide Aufforderungen die zwei Seiten einer Medaille. Der Glaube an Jesus führt automatisch in die Gemeinschaft der Glaubenden. Wer sich aber nicht solidarisch (vgl. 3,18: mit der Tat und mit der Wahrheit) mit dieser Gemeinschaft verhält, kann es mit seinem Glauben an Jesus auch gar nicht ernst meinen. Glauben und Handeln haben nach Johannes eine Einheit zu bilden. Die Einheit von beiden Gebotsteilen wird auch daran deutlich, dass hier von Gebot im Singular gesprochen wird (anders in V. 22 und 24, auch wenn dort dasselbe Gebot gemeint ist). Dieses »Doppelgebot« entspricht dabei sowohl formal als auch inhaltlich dem in den drei ersten Evangelien überlieferten »Doppelgebot der Liebe« (Mk 12,29–31). Auch hier ist nicht ganz klar, ob von einem Gebot oder zwei Geboten gesprochen wird. Für Johannes entspricht der Gottesliebe der Glaube an Jesus, während er die Nächstenliebe als Liebe zum (auch verdächtigen) Bruder deutet.
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3,24 – 4,3 Erkennbarkeit des wahren Glaubens 3,24
Und wer seine Gebote hält, der bleibt in ihm (Gott) und er (Gott) in ihm. Und daran erkennen wir, dass er in uns bleibt: an dem Geist, den er uns gegeben hat. 4,1 Geliebte, glaubt nicht einem jeden Geist, sondern prüft die Geister, ob sie aus Gott sind; denn viele Lügenpropheten sind in die Welt ausgegangen. 2 Daran sollt ihr den Geist Gottes erkennen: Jeder Geist, der bekennt, dass Jesus Christus im Fleisch gekommen ist, ist aus Gott; 3 und jeder Geist, der Jesus nicht bekennt, der ist nicht aus Gott. Und das ist der Geist des Gegen-Christus (Antichristus), von dem ihr gehört habt, dass er kommt, und er ist jetzt schon in der Welt. In V. 2 4 formuliert Johannes die positiven Folgen, die sich aus dem Halten der Gebote, wie sie im vorangegangenen Vers formuliert sind, ergeben. Diese bestehen in einer außergewöhnlichen Zusage: Man bleibt in Gott, und Gott bleibt im Glaubenden. Es ist dabei kein Zufall, dass Johannes direkt im Anschluss an die erstmalige Verwendung des Begriffs Glauben (V. 23) eine sehr auffällige »Durchdringungsformel« bringt. Dies bestätigt die Überzeugung, dass Glauben für Johannes nicht die Übernahme einer Satzwahrheit über Jesus ist, sondern ein inniges Vertrauensverhältnis zwischen dem Glaubenden und Gott bzw. Jesus herstellt. Exkurs: Die »Durchdringungsformeln« im ersten Johannesbrief Bisher hatte Johannes immer wieder erwähnt, dass die Glaubenden in Gott sind bzw. bleiben (2,5.6.27.28; 3,6; vgl. 5,20). Dies ist der Fall, wenn sein Wort gehalten wird (2,5) bzw. wenn so gelebt wird, wie er gelebt hat (2,6). Deshalb kann Johannes immer wieder dazu auffordern, in ihm zu bleiben (2,27.28; 3,6), und er meint damit auch, in der Gemeinde zu bleiben. Wenn nämlich diejenigen, die in ihm bleiben, nicht sündigen – die Sünde ist aber der Unglaube –, dann wird deutlich, wie Johannes diese Aussagen meint: Das in ihm Bleiben ist vielleicht am ehesten vorzustellen wie eine Heilshülle, die die Glaubenden umschließt. Diese Vorstellung deutet sich bereits im hohenpriesterlichen Gebet Jesu an: Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir, so sollen auch sie in uns sein, auf dass die Welt glaube, dass du mich gesandt hast. Die Glaubenden haben also Anteil an der wechselseitigen Durchdringung Gottes mit Jesus. Zugleich wird betont, dass im Glaubenden bestimmte göttliche Gaben vorhanden seien: Wahrheit (1,8; 2,4), Gottes Wort (1,10), Gottes Liebe (2,5.15; 3,17; 4,12), Gottes Gebot (2,8), das Gehörte (2,24), die Salbung (2,27), Gottes Samen (3,9) und ewiges Leben (3,15). Johannes drückt damit aus, dass durch den Glauben an Jesus das Heilsgut ein Teil des Glaubenden geworden ist: Es ist in ihm. Neu in 3,24 ist jetzt, dass Johannes
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feststellt, Gott selbst sei im Glaubenden. Wohl nicht zufällig wird dies wechselseitig ausgedrückt: Der Glaubende bleibt in Gott und Gott in ihm – wenn die Gebote gehalten werden. Diese waren in 2,23 folgendermaßen zusammengefasst worden: Glaube an den Namen des Gottessohnes Jesus Christus und Liebe untereinander. Erkenntnisgrund dafür, dass Gott im Glaubenden ist, ist die Gabe des Gottesgeistes. Durch diesen ist Gott selbst im Menschen eingekehrt. Genau derselbe Gedanke taucht später in 4,13–16 auf: Weil Gott (aus) seinem Geist gegeben hat, ist erkennbar, dass wir in ihm bleiben und er in uns. Inhaltlich zeigt sich diese wechselseitige Durchdringung zum einen im Bekenntnis zu Jesus als Sohn Gottes (4,15), zum anderen in der (Bruder-)Liebe (4,16). Beide Gesichtspunkte rechtfertigen die Rede vom Bleiben des Glaubenden in Gott und vom Bleiben Gottes im Glaubenden (4,15.16). Dieses Bleiben Gottes im Glaubenden wird vorbereitet durch die Aussage Jesu in Joh 14,23: Wer mich liebt, der wird mein Wort halten; und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm nehmen. Die Gemeindeglieder sind also nicht einfach nur umschlossen vom Heil Gottes, auch in ihrem Innersten ist das Heil gegenwärtig. Sie sind durchdrungen von Gott selbst. Johannes wählt diese Formulierungen, weil das Heil, das er seinen Adressaten zuspricht, unanschaulich ist. Im Gegenteil: Es sieht so aus, dass die Realität der christlichen Gemeinde dem Anspruch des ersten Johannesbriefs, wonach die Christen als Kinder Gottes in einem außergewöhnlichen Heilsbereich leben, zutiefst widerspricht: Die Gotteskinder sind in ihrer Existenz immer wieder gefährdet und dementsprechend verunsichert. Das, was die Durchdringungsformeln den Glaubenden zusagen, ist insofern nicht wirklich überprüfbar, sondern einzig im Glauben an den Gottessohn Jesus, den in die Welt gekommenen Messias (Christus), vorhanden.
Erstmalig wird jetzt in V. 2 4 erwähnt, dass die Glaubenden den Geist besitzen. Diese Auffassung scheint sich seit Paulus (Röm 5,5; 8,15; 1Kor 2,12; 2Kor 1,22; 5,5; 11,4; Gal 3,2.14; 1Thess 4,8) zügig im Urchristentum durchgesetzt zu haben. Auffällig ist, dass – ähnlich wie hier – auch bei Lukas die Erfüllung der Bitten mit der Gabe des Geistes in Zusammenhang gebracht wird (Lk 11,9–13). Tatsächlich begegnet die Vorstellung, dass Gott seinen Geist auf Menschen ausgießt, in Texten, die eine endzeitliche Vollendung der betroffenen Menschen im Blick haben (vgl. Joel 3,1f; Jes 44,3; Ez 39,29). Für Johannes ist die Gabe des Geistes (vgl. auch 4,13) im Zusammenhang mit der Zusage der Geburt aus Gott bzw. der Gotteskindschaft zu sehen (vgl. Jes 30,1): Die Verleihung des Geistes bewirkt das Halten der Gebote. In Joh 3,3–5 wird von der Geburt von Neuem bzw. der Geburt aus Wasser und Geist gesprochen. Es ist also jener Geist, den Gott bei der Taufe (Wasser) den Täuflingen schenkt und sie dadurch zu seinen Kindern macht. An Apg 2,38 ist
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zu erkennen, dass die Vorstellung der Geistverleihung in der Urchristenheit mit der Taufe verbunden war. Daher ist zu vermuten, dass auch Johannes die Gabe des Geistes mit dem Eintritt in die christliche Gemeinde verbindet und somit in der Taufe verortet. Inhaltlich ist für ihn die Rede von der Gabe des Gottesgeistes an die Glaubenden im Grunde nichts anderes als die Rede von der Geburt aus Gott. Und wenn sich Gott nach Jes 30,1 darüber beklagt, dass seine abtrünnigen Söhne ohne ihn Pläne fassen und ohne seinen Geist Bündnisse eingehen, um eine Sünde auf die andere zu häufen (vgl. Ps 51,9–15), dann kann daraus geschlossen werden: Geistempfang und Sündlosigkeit hängen ebenso eng miteinander zusammen wie die Sündlosigkeit (im Sinne des Johannes) und der göttliche Same im Menschen (3,9). Mit dem Ausruf Geliebte leitet Johannes in Vers 4 , 1 eine Aufforderung ein. Dabei benutzt er den zuvor erstmals im Brief verwendeten Begriff Geist als Stichwort, mit dessen Hilfe er seine Argumentation fortführt. Ähnlich wie bei Paulus unterscheidet auch Johannes den Geist Gottes, der den Glaubenden gegeben wird und der sie zu Gotteskindern macht, vom menschlichen Geist (vgl. Röm 8,14–16). Diese Unterscheidung sollen auch seine Adressaten vollziehen; sie dürfen nicht jedem Geist Glauben schenken. Im Hintergrund steht hier wieder die Unanschaulichkeit der christlichen Existenz. Es ist offenbar nicht so einfach auszumachen, wer nun wirklich den Geist Gottes hat und wer nicht. Der Auftritt von Lügenpropheten galt im Urchristentum als Zeichen der Endzeit (Mk 13,22; Mt 24,11; vgl. Mt 7,15). Nach Lk 6,26 hatten diese Lügenpropheten schon immer das Volk auf ihrer Seite, eine Erfahrung, die auf die Auseinandersetzung Jeremias mit dem falschen Propheten Chananja (Jer 28) zurückgeht. Und in 1Kön 22,19–23 spricht der Prophet Micha ben Jimla davon, dass Gott einen Lügengeist in den Mund aller Propheten gegeben habe. Ob Johannes mit dem Begriff Lügenpropheten die Menschen bezeichnen will, die sich in falscher Weise als Propheten Gottes ausgeben, oder Menschen, die Falsches verkündigen, wird erst im folgenden Vers deutlich. Auf jeden Fall verwendet er für das Auftreten der Lügenpropheten dasselbe Verb wie in 2,19: Sie sind herausgegangen. In 2,19 hatte er ausdrücklich betont, dass sie aus der Gemeinde (aus uns) herausgegangen waren. Dies ist auch hier vorauszusetzen. Die Lügenpropheten gehörten nach Darstellung des Johannes also ursprünglich zur Gemeinde – und es ist damit zu rechnen, dass sie auch nach wie vor zur Gemeinde dazugehören wollten; sonst wäre die Aufforderung, die Geister genau zu prüfen, sinnlos, weil man diejenigen, die sich offen von der Gemeinde distanzieren, problemlos erkennen hätte können. Anders als in 2,19 wird das Herausgehen hier mit
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einer Perfektform beschrieben. Johannes betont dadurch stärker das Resultat dieser Distanzierung: die Gefahr der Verführung durch Lügenpropheten. Der vorliegende Vers geht auch insofern über 2,19 hinaus, als Johannes diese Leute als Lügenpropheten bezeichnet und festhält, dass es viele sind. Dadurch wird deutlich, wie drängend das Problem ist. Der Begriff Lügenpropheten taucht dreimal in der Offenbarung des Johannes auf und bezieht sich jedes Mal auf das in Offb 13,11–18 geschilderte zweite Tier. Dieses verführt (Offb 13,14; vgl. 1Joh 2,26) durch seine Zeichen und seine Macht die Menschen. Zu vermuten ist, dass es sich hierbei um die Repräsentanten des Kaiserkultes handelt. Vormalige Brüder legen also anderen Gemeindegliedern nahe, sich von der Gemeinde abzuwenden und sich entweder dem Judentum oder dem Heidentum zuzuwenden. Nur dadurch lässt sich offenbar die Gefährdung für Leib und Leben abwenden. Es besteht kein Zweifel, dass diese Handlungsweise auch auf andere Gemeindeglieder anziehend (verführend) wirkt. Das erste Problem, das in V. 2 behandelt wird, ist wieder der mit menschlichen Sinnen nicht wahrnehmbare des Geistes. Johannes möchte seinen Adressaten ein Kriterium an die Hand geben, mit dessen Hilfe der Gottesgeist von den Lügengeistern unterschieden werden kann. Der vorliegende Vers dient als Hauptbeleg für die Hypothese, Johannes wende sich mit seinem Schreiben gegen Irrlehrer. Nach der Meinung der »Doketen« (griech. dokeîn – »scheinen, gleichen«) hatte Jesus als der von Gott gesandte Gottessohn nur einen Scheinleib. Dagegen – so wird vermutet – wendet sich Johannes im vorliegenden Vers, wenn er betont, Jesus sei im Fleisch gekommen. Hauptproblem dieser Überzeugung ist jedoch, dass der Doketismus erst lange nach der Abfassung des ersten Johannesbriefs nachweisbar ist (vgl. oben S. 5f). Auch inhaltlich spricht dieser Vers im Grunde gegen die IrrlehrerHypothese: Der Geist Gottes ist nach Johannes nämlich daran erkennbar, dass er Jesus Christus als den im Fleisch Gekommenen bekennt. Das hier formulierte Bekenntnis geht nur minimal über die bisherigen Aussagen hinaus: Nach 2,22 ist derjenige ein Lügner, der leugnet, dass Jesus der Christus ist; und nach 3,23 ist es das Gebot Gottes, dass man an den Namen seines Sohnes Jesus Christus glaubt. Hier wird darüber hinaus das Bekenntnis betont, dass Jesus Christus im Fleisch gekommen ist. Der Zusatz im Fleisch gekommen stellt sicher, dass in Jesus der verheißene Messias (= Christus) menschliche Gestalt angenommen hat. Die Aussage entspricht inhaltlich genau dem Gedanken, dass der Vater den Sohn in die Welt gesandt hat (4,9f.14), ist aber aus Sicht des Christus
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formuliert: Er (wurde nicht gesandt, sondern) ist Fleisch geworden. Johannes betont mit dieser Formulierung also die Freiwilligkeit des Christus. Tatsächlich entspricht dieser Gedanke genau der Überzeugung von Joh 1,14, wonach das Wort Fleisch geworden ist. Das gleichbedeutende Bekenntnis Martas gegenüber Jesus: Ja, Herr, ich glaube, dass du der Christus bist, der Sohn Gottes, der in die Welt gekommen ist (Joh 11,27) zeigt, dass es genau darum geht: Die Hoffnung der Juden, dass am Ende der Zeiten der Christus, also der Messias, auf die Erde kommt, ist in Jesus erfüllt. Jesus ist der fleischgewordene Messias – dies ist der Glaube des Johannes, nichts anderes. Wer dies bekennt, der besitzt einen Geist aus Gott, d.h. einen Geist, den ihm Gott selbst gegeben hat. Exkurs: Die Christusbekenntnisse im ersten Johannesbrief Erst in 2,22f lässt sich ein von Johannes gefordertes Bekenntnis erkennen. Es lautet: Jesus ist der Christus! Exakt dieselbe Formulierung liegt in 5,1 zugrunde. Dabei wird deutlich, dass Johannes sich – obwohl er von Anfang an »Christus« als Teil des Namens Jesu verwendet (vgl. 1,3; 2,1; 3,23; 4,2f; 5,6.20) – durchaus bewusst ist: Christus ist eigentlich ein Hoheitstitel, mit dem der Messias (der Gesalbte) bezeichnet wird (vgl. Joh 1,41; 20, 31). Eine weitere Möglichkeit, sich zu Jesus zu bekennen, ist die Aussage: Jesus ist der Sohn Gottes (4,15; 5,5). Dem entspricht der Glaube an den Sohn Gottes (5,10) bzw. an dessen Namen (3,23; 5,13). Für Johannes sind beide Bekenntnisformulierungen gleichbedeutend. Das Bekenntnis Jesus ist Gottes Sohn sorgt dafür, dass Gott im Bekenner bleibt und dieser in Gott (4,15); der Glaube, dass Jesus der Christus ist, zeigt, dass der Glaubende aus Gott geboren ist (5,1). Beide Male erweist das Bekenntnis bzw. der erwähnte Glaubenssatz den Heilszustand des Glaubenden. Die beiden anderen von Johannes erwähnten Bekenntnisformulierungen sind letztlich zwei Seiten einer Medaille: Jesus Christus ist im Fleisch gekommen. Der Satz bedeutet, dass er nicht bei Gott geblieben, sondern eben Mensch geworden ist (4,2). Dieses Geschehen lautet, von Gott aus formuliert: Der Vater hat den Sohn gesandt … (4,14). Johannes geht es durchweg um das eine Bekenntnis zu Jesus als Ausdruck des innigen Vertrauensverhältnisses zu Gott bzw. Jesus und nicht um das richtige im Unterschied zu einem möglichen falschen Bekenntnis zu ihm (4,3a).
Hätte sich Johannes mit diesem Ausdruck gegen Irrlehrer wenden wollen, wäre zu fragen gewesen, weshalb er dieses ausführlichere Bekenntnis nicht zügig am Anfang des Briefs gebracht hat; stattdessen finden sich vorher lediglich die allgemeineren Formulierungen von 2,22 (Jesus ist der Christus) und 3,23 (Glaube an den Namen des Gottessohnes Jesus Christus). Das inhaltliche Hauptargument, das gegen die Doketen-These spricht, ist aber das folgende: Würde sich der vorliegende Vers gegen eine doketische Irrlehre richten, müsste man als Unterscheidungsmerkmal eine Bekennt-
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1Joh 3,24 – 4,3
nisformel nach dem Schema erwarten: »Jesus (Christus) ist der im Fleisch gekommene Sohn Gottes«, denn gerade die Menschlichkeit des Gottessohnes ist es, die von den Doketen abgelehnt wurde. Ihrer Meinung nach hat der (leibliche) Sohn Gottes eine göttliche Natur und hat nur einen Scheinleib angenommen. Aber Johannes betont ja gar nicht, dass der Gottessohn Jesus ins Fleisch gekommen ist, sondern er spricht hier vom ins Fleisch gekommenen Christus. Von daher ist es wahrscheinlich, dass er sich eben nicht gegen doketische Überzeugungen wendet. Und weil es auch in V. 2 nicht um eine Abgrenzung gegen eine (doketische) Irrlehre geht, kann Johannes das Bekenntnis zu Jesus in V. 3 wieder (ähnlich wie in 2,22 und 3,23) abkürzen. Dessen Inhalt ist somit nicht das ins Fleisch Gekommensein, sondern die »Messianität«, das Christus-Sein Jesu. Es zeigt sich erneut – wie schon in 2,22 und 23 (vgl. später 4,15; 5,1.5) – die Auseinandersetzung mit jüdischen Vorstellungen, wonach Jesus eben (noch) nicht der Christus und dementsprechend auch noch nicht der Gottessohn war. Wie bereits in 2,22 bringt Johannes jetzt die Leugnung Jesu mit dem Geist des Antichristus (Gegen-Christus) in Zusammenhang. Der Geist dieses Antichristus verdankt seine Existenz der Vorstellung des Johannes, dass hier spiegelbildlich von Jesus bzw. Gott gesprochen wird: So wie Gott den Gotteskindern den Geist gegeben hat (3,24), hat der Gegen-Christus seinen Geist den Verführern gegeben. Dass die Adressaten vom Kommen des Antichristus gehört hätten, wurde bereits in 2,18 gesagt. Auf dessen Geist geht also die Leugnung Jesu zurück. Anders als in 2,18.22 wird jetzt ausdrücklich gesagt, dass der Antichristus bereits in der Welt und damit ein realer Gegner sei. Die Tatsache, dass das Hören hier – anders als in 2,18 – mit einer Perfektform (ihr habt gehört) ausgesagt wird, zeigt, dass auf diesen Vers (2,18) verwiesen wird. Das Perfekt macht das Resultat dieses Hörens deutlich: Der Gegen-Christus ist schon in der Welt. Dass Johannes mit diesem Begriff verschlüsselt den römischen Kaiser bezeichnen will, ist bei der Auslegung zu 2,18 bereits deutlich geworden (vgl. oben S. 51–53). Wie genau jedoch die Leugnung Jesu, d.h. die Rückkehr der Judenchristen zur jüdischen Synagogen-Gemeinde, und die Maßnahmen des Antichristus, d.h. des römischen Kaisers, zusammenhängen, wird noch zu zeigen sein (s. unten S. 138–141). Johannes zufolge geht die Abwanderung von vielen (vgl. 4,1) jedoch direkt auf kaiserliche Unterdrückungsmaßnahmen zurück. Die Nachricht, dass der Gegen-Christus bereits jetzt in der Welt ist, macht die Gefahr deutlich, in der die Glaubenden schweben.
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4,4–6 Glaube und Welt 4
Ihr seid aus Gott, Kinderchen, und habt sie besiegt; denn der in euch ist, ist größer als der, der in der Welt ist. 5 Sie sind aus der Welt; darum reden sie aus der Welt, und die Welt hört auf sie. 6 Wir sind aus Gott; wer Gott erkennt, hört uns; derjenige, der nicht aus Gott ist, hört uns nicht. Daran erkennen wir den Geist der Wahrheit und den Geist der Verführung. Angesichts der großen Bedrohung durch die Gegenwart des Antichristus sieht Johannes sich genötigt, seine Kinderchen erneut zu stabilisieren. Deshalb ruft er ihnen in V. 4 zu: Ihr seid aus Gott. Mit dieser Zusage nimmt er Bezug auf V. 2. Wer also Jesus als Messias (Christus) bekennt, ist aus Gott. Durch dieses Bekenntnis sind »sie« (die Antichristusse) besiegt. Im Grunde wird hier allen Adressaten das zugesagt, was in 2,13f nur den jungen Männern bescheinigt worden war. Dort hatte Johannes formuliert, sie hätten den Bösen besiegt. Es ist der Sieg über die Versuchung, vom Glauben abzufallen, von der Johannes hier spricht. Und die Begründung hierfür, bei der er Gott bzw. Christus direkt dem Gegenchristus gegenüberstellt, lautet: Gott bzw. Christus ist in euch, und er ist größer als der, der in der Welt ist. Zwar kennt der Verfasser des ersten Johannesbriefs ausdrücklich nur die Vorstellung vom Bleiben Gottes im Glaubenden (4,15.16). Aber ausgehend von dem Jesuswort, wonach sowohl Jesus als auch Gott bei den Glaubenden Wohnung nehmen wird (Joh 14,23) wäre hier auch Jesus als Subjekt denkbar. Johannes lässt dies jedoch bewusst offen. Gott bzw. Christus wird dem Antichristus im vorliegenden Vers auch dadurch gegenübergestellt, dass dieser in der Welt ist, jener aber im Glaubenden. Und wenn Johannes darüber hinaus hervorhebt, dass derjenige, der im Glaubenden ist, größer ist als der Antichristus, dann macht dies den Zwiespalt der Adressaten deutlich: Augenscheinlich ist die Macht des Antichristus bedrohend und übermächtig. Deshalb betont Johannes die weitaus größere Macht dessen, der in den Glaubenden (allerdings nicht sichtbar) ist und von dem die Macht des Bösen auch seine Grenze erfährt. Diese Gewissheit, dass die Macht des Antichristus begrenzt ist, zeigt sich auch am Prozess Jesu. In Joh 19,11 sagt Jesus zu seinem Richter Pilatus: Du hättest keine Macht über mich, wenn es dir nicht von oben her gegeben wäre. In den beiden folgenden Versen 5 und 6 werden die aus der Welt noch einmal ausdrücklich denen aus Gott gegenübergestellt. Wer
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1Joh 4,4–6
aus der Welt ist, redet wie die Welt und wird entsprechend von der Welt gehört. Dabei sind hören und verstehen in diesem Zusammenhang dasselbe (vgl. Mk 4,9: Wer Ohren hat zu hören, der höre). Was aber das Problematische an der Welt ist, hat Johannes bereits in 2,16 deutlich gemacht: Fleischeslust und Augenlust sowie die Prahlerei des Lebens. Die Welt ist aber nur deshalb problematisch, solange und soweit sie (noch) im Machtbereich des Antichristus steht. Johannes steht auf dem Standpunkt: Wir, die wir aus Gott sind, werden von denen, die nicht aus Gott sind, nicht verstanden. Nur wer Gott erkennt, der hört uns. Einzig die Glaubenden, die Kinder Gottes, diejenigen, die Gottes Samen in sich tragen und aus ihm geboren sind, verstehen also die Botschaft des Johannes. Und jetzt ist genau dieses Unverständnis der Welt gegenüber der christlichen Verkündigung für Johannes der Beleg dafür, dass in der Gemeinde der Geist der Wahrheit herrscht, während draußen in der Welt der Geist der Verführung ist. Die Adressaten zur richtigen Unterscheidung der beiden gegeneinander gerichteten Geister anzuleiten, war der Sinn der in 4,1 beginnenden Argumentation des Johannes. Der Begriff Geist der Wahrheit spielt zweifellos auf das Jesuswort Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater denn durch mich (Joh 14,6) an – ein erneutes Indiz dafür, dass es um die Problematik der ins Judentum zurückkehrenden Judenchristen geht, da diese aus Sicht des Johannes versuchen, ohne Jesus zu Gott zu gelangen. Nach dem zentralen Teil über die Gotteskinder benennt Johannes zusammenfassend die beiden Gesichtspunkte des einen Gebotes in 3,23: Es geht ihm um den Glauben an Jesus Christus und die Bruderliebe. Nachdem Letztere bereits bei der Darstellung der Kinder Gottes eine Rolle gespielt hatte (3,10–18), wendet er sich jetzt der Glaubensproblematik zu (3,24 – 4,3). Das Bekenntnis führt er hierbei auf das Wirken des dem Glaubenden verliehenen Gottesgeistes zurück. Aber auch hier ist sein Hauptproblem, wie man den Gottesgeist vom Geist des Gegenchristus unterscheiden kann. Entscheidendes Kriterium ist für ihn das Bekenntnis, dass Jesus Christus in das Fleisch gekommen ist (4,2). Mit dieser Überzeugung wird keine vorgestellte Satzwahrheit formuliert, sondern es zeigt sich die exklusive Bindung des Bekennenden an Jesus Christus. Nirgendwo im ersten Johannesbrief – auch nicht in 4,2 – wird durch ein Bekenntnis eine innerchristliche oder innergemeindliche Trennlinie gezogen, das heißt: Nirgendwo geht es um ein richtiges im Unterschied zu einem falschen Bekenntnis. Vielmehr soll das von Johannes mit immer wieder neuen Worten formulierte Bekenntnis (vgl. auch 4,3.15) auf der einen Seite der Ver-
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gewisserung der eigenen Heilsorientierung dienen und Ausdruck des innigen Vertrauensverhältnisses zwischen dem Glaubenden und Gott bzw. Jesus sein. Auf der anderen Seite markiert es natürlich auch der Abgrenzung nach außen, den Juden und Heiden gegenüber (4,4–6). Damit ist also keine innergemeindliche oder innerchristliche Trennlinie gemeint. Tatsächlich kennt Johannes, auch wenn er es unterschiedlich ausdrückt, nur ein einziges Bekenntnis, dessen Bejahung das Gotteskind zum Gotteskind macht und vom Kind des Teufels unterscheidet: Jesus Christus (vgl. 1,3). Gerade in den letzten Versen dieses Abschnitts (4,4–6) scheint es so, als würde Johannes voraussetzen, dass es vorherbestimmt ist, wer aus Gott und wer aus der Welt, wer Kind Gottes und wer Kind des Teufels ist. Zunächst ist zur Begrifflichkeit anzumerken, dass es sich heutzutage verbietet, Menschen, die sich vom Christentum abwenden, als Kinder des Teufels zu verunglimpfen. Diese Terminologie des Johannes ist der besonderen geschichtlichen Situation geschuldet, in der sich die christlichen Gemeinden, die er im Blick hat, befanden. Was darüber hinaus die Frage nach der Vorherbestimmung angeht, scheint es sich nach Johannes folgendermaßen zu verhalten: Wenn Gott alles zum Heil der Glaubenden wirkt und der Glaube nicht Werk des Menschen ist, dann muss man zu dem Schluss kommen, dass Gott vor aller Zeit einen Teil der Menschen aus sich geboren hat und einen anderen (Groß-)Teil eben nicht. Johannes gibt dann mit seinem Brief Kriterien an die Hand, wie man erkennen kann, auf welche Seite man gehört. Deshalb schreibt er am Schluss dieses Abschnittes auch: Daran erkennen wir den Geist der Wahrheit und den Geist der Verführung. Aber die Lehre von der Vorherbestimmung (Prädestination) findet sich so nicht bei Johannes, und es ist zu bezweifeln, dass Johannes sie voraussetzt. Er will mit seinem Schreiben ja nicht die Frage beantworten, weshalb nicht alle zum Glauben an Christus kommen. Anders gesagt: Diese Frage ist an seinen Brief herangetragen und wird ihm nicht gerecht. Er blickt nicht aus Gottes Blickwinkel »von oben« auf den Sachverhalt, sondern ist selbst Teil der Auseinandersetzung der Glaubenden mit der ungläubigen Welt. Und hier will er stabilisierend auf die Gemeinden einwirken. Für ihn ist die Rede vom Geborensein der Glaubenden aus Gott Lob Gottes, der der ganzen Welt im Glauben an Christus ewiges Leben schenken will. Mit anderen Worten: Johannes setzt sich nicht an die Stelle Gottes, um dessen Ratschluss zu erforschen. Sein Schreiben soll nicht nur die Glaubenden bestärken und vergewissern, sondern ist auch zu verstehen als Einladung an Außenstehende, zum Glauben zu kommen und damit zum ewigen Leben zu gelangen. Insofern ist sein Brief höchst aktuell.
4,7 – 5,3 Fünfter Hauptteil Das Gebot, einander zu lieben Im Grunde bezieht sich dieser Hauptteil immer noch auf die zentrale Aussage von 3,23. Dort war das Gebot Gottes zusammengefasst worden als Aufforderung zum Glauben an Jesus Christus und zur Liebe untereinander. In dem daran anschließenden Abschnitt 3,24 – 4,6 wurden der Glaube und das Bekenntnis zu Jesus als dem Christus von Johannes thematisiert. Folgerichtig ist jetzt noch einmal das Liebesgebot zu behandeln. Diese erneute Betrachtung des Gebotes, einander zu lieben (4,7; vgl. 2,7–11; 3,11–18), führt Johannes zu einer zentralen Aussage über Gott: Gott ist Liebe (4,8). Ähnlich wie in 1,5 (Gott ist Licht) liegt hier eine Wesensbestimmung Gottes vor, die die nachfolgende Gedankenführung bestimmt. Zunächst stellt er fest, dass Gottes Liebe anhand der Sendung seines Sohnes in die Welt ersichtlich ist, ehe er von dort aus auf die Forderung nach gegenseitiger Liebe innerhalb der Gemeinde schließt. Die Erinnerung an die Sendung Jesu durch Gott (4,9f) veranlasst Johannes – seine eigentliche Argumentation kurz unterbrechend – zu zeigen, dass genau diese Sendung auch Gegenstand des Glaubens ist. An diesem Bekenntnis kann seiner Meinung nach die Zugehörigkeit zu Gott erkannt werden. Der bisherige Gedankengang wird wieder aufgenommen mit der Wiederholung der zentralen Aussage: Gott ist Liebe (4,16), wobei der Nachsatz vom Bleiben in Gott auf den Einschub von 4,13–15 Bezug nimmt. Besonders wichtig ist dann die Gegenüberstellung von Liebe und Furcht, zumal offenbar die Frage der Furcht im Angesicht von Gefährdungen einzelner Christen eine wichtige Rolle innerhalb der Adressatengemeinden spielte. Abschließend verbindet Johannes das Liebesgebot noch mit dem für ihn zentralen Gebot der Gotteskindschaft (5,1–3). 4,7–8 Überschrift: Gott ist Liebe 7
Geliebte, lasst uns einander lieben; denn die Liebe ist aus Gott, und jeder, der liebt, ist aus Gott geboren und kennt Gott. 8 Wer nicht liebt, hat Gott nicht erkannt; denn Gott ist Liebe.
1Joh 4,7–8
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Die Verbindung zur vorangegangenen Argumentation wird hergestellt durch den Begriff Gott. Gerade war es noch um die Frage der Erkenntnis Gottes gegangen, da formuliert Johannes in V. 7 eine zentrale Aussage über das Wesen Gottes. Doch zunächst fordert er seine Adressaten zur Liebe auf: Geliebte, lasst uns einander lieben! Nicht zufällig spricht er diese erneut mit dem Ausruf Geliebte an, denn die Liebe ist ausgehend von der Wesensbestimmung Gottes jetzt das große Thema. Die Aufforderung zur Liebe findet sich (mit demselben Verb in derselben Form) bereits in 3,18. Aber im vorliegenden Vers geht es nicht um die Art und Weise der Liebe, sondern um das einander. Liebe ist wechselseitig. Und wohl nicht zufällig schließt Johannes sich mit seinen Glaubensgeschwistern zusammen: Lasst UNS einander lieben! Die Aufforderung an andere zur Liebe in Form eines Imperativs – z.B.: Liebt einander – findet sich bei Johannes gerade nicht. Der Vers in der vorliegenden Form zeigt, dass es ihm um die durch den Brief hergestellte Liebe und die daraus resultierende Gemeinschaft (1,3) geht. Geschenkte Liebe soll erwidert werden. Dies schweißt die Gemeinschaft der Glaubenden zusammen. Auch die Quelle der gegenseitig geschenkten Liebe wird hier genannt: Gott. Von ihm stammt die Liebe, die die Glaubenden einander zuteilwerden lassen. Wer liebt, zeigt damit, dass Gott ihn geboren hat (vgl. Joh 3,3–5), dass er also Kind Gottes ist. Johannes fügt noch die Notiz hinzu, dass der Liebende Gott kenne. Dieser Halbsatz ist geradezu die Folge aus der Argumentation in 2,3 und 4, wonach wir, wenn wir seine Gebote halten, zeigen, dass wir ihn kennen. Umgekehrt gilt dann derjenige als Lügner, der behauptet, er kenne ihn, obwohl er seine Gebote nicht hält. Dies bedeutet also: Wer seine Gebote hält, also die Brüder (nichts anderes ist mit dem einander gemeint) liebt, der kennt Gott. Genau dies war den Kindern in 2,14 bereits bescheinigt worden. Auch hier liegt die Überzeugung zugrunde, dass ein Bekenntnis zu Jesus, aus dem nicht die entsprechenden Taten folgen, nichts wert ist. Der Gedankenfortschritt gegenüber 2,3f besteht jetzt darin, dass hier das Gebot Gottes ausdrücklich mit der Bruderliebe identifiziert ist. Auch in V. 8 wird wie in einer Gegenprobe festgehalten, wie es um denjenigen steht, der nicht liebt: Er zeigt damit nach Johannes, dass er Gott nicht kennt. Zum ersten Mal im ersten Johannesbrief wird Gott mit der Liebe direkt identifiziert (vgl. 4,16). Diese nur im ersten Johannesbrief geäußerte Wesensbeschreibung Gottes hat ihre Wurzel wohl in der Überlieferung von Jesu Antwort auf die Frage, welches das höchste und wichtigste Gebot sei: Man soll Gott lieben und seinen Nächsten wie sich selbst (vgl. Mt 22,35–40; Mk 12,28– 30; Lk 10,25–28). Nach Johannes tut nun ein Kind die Werke seines
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1Joh 4,9–12
Vaters (3,9f; vgl. Joh 8,37–45). Von daher lässt sich aus der Aufforderung zur Liebe auf das Wesen dessen schließen, der der Vater der Menschen ist, die einander lieben. Mit der Identifizierung von Gott und Liebe wird auf den Punkt gebracht, was in 2,5.15; 3,1.16.17 mit der Rede von der Liebe Gottes zu seinen Kindern bereits vorbereitet worden ist. Gott, aus dem diejenigen geboren sind, die einander lieben, wird von Johannes selbst als Liebe bezeichnet. Umgekehrt heißt das: Wenn tatsächlich Gott die Liebe ist, dann ist im Grunde klar, was das für das Leben seiner Kinder bedeutet. Weil Gott die Liebe ist, kann derjenige, der nicht liebt, Gott auch nicht erkannt haben bzw. nicht erkennen oder nicht kennen (im Griechischen wird für erkennen und kennen dasselbe Wort verwendet). Liebe zu üben bedeutet für Johannes aber innergemeindliche Solidarität. Die so häufige Betonung der Notwendigkeit der Solidarität lässt darauf schließen, dass die Adressatengemeinden genau damit ein Problem hatten: Viele sind abgewandert – entweder zurück zum Judentum oder gleich zum Heidentum. Die Wesensbestimmung Gottes als Liebe hat für Johannes wichtige Folgen für das Verhalten der Gotteskinder untereinander. 4,9–12 Gottes Liebe und menschliche Liebe 9
Darin ist die Liebe Gottes unter uns erschienen, dass Gott seinen Sohn, den einziggeborenen, in die Welt gesandt hat, damit wir durch ihn leben sollen. 10 Darin besteht die Liebe: nicht dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt hat und seinen Sohn gesandt hat als Sühnung für unsere Sünden. 11 Geliebte, wenn Gott uns so geliebt hat, sollen auch wir einander lieben. 12 Niemand hat Gott jemals geschaut. Wenn wir einander lieben, bleibt Gott in uns, und seine Liebe ist in uns vollkommen. Johannes sieht sich in V. 9 gezwungen, die These, dass Gott die Liebe ist, zu begründen. Und wenn er jetzt von der Liebe Gottes spricht, dann führt er damit seine Überzeugung: Gott ist Liebe von V. 8 aus. Gottes Liebe zeigt sich für ihn in der Sendung des Sohnes in die Welt. Der vorliegende Vers gibt mit vergleichbaren Worten wieder, was Johannes bereits im Evangelium (Joh 3,16) formuliert hatte: Die Sendung des einziggeborenen Sohnes ist Ausdruck der Liebe Gottes. Dass allerdings die Welt Objekt der Liebe Gottes ist, wird hier nicht ausdrücklich gesagt, wohl aber vorausgesetzt. Die Welt an sich ist nach Johannes nämlich nicht böse. Das hier dem
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Gottessohn Jesus zugeordnete Attribut einziggeboren übernimmt Johannes aus dem Evangelium (Joh 1,14.18; 3,16,18). Hier wie in 1Joh 4,9 bezeichnet dieser Ausdruck Jesu einzigartige Personalität, seine besondere Beziehung zum Vater. Tatsächlich nennt Johannes die Glaubenden zwar Kinder Gottes (vgl. bes. 3,1), bezeichnet sie aber – anders als in Joh 20,17 – nie als Brüder Jesu, der ja der Sohn Gottes ist. Vergleichbares lässt sich auch im Hinblick auf die Salbung sagen: Während Jesus der Gesalbte (Messias, Christus) ist, wird von den Glaubenden lediglich gesagt, dass sie die Salbung hätten (2,20.27). Jesus lebt in einer einzigartigen Vertrautheit mit Gott, weil seine Abkunft von Gott eine besondere ist (vgl. Joh 17, 21–23). Ob mit dem hier verwendeten Begriff auch die Geburt aus Gott bezeichnet werden soll, kann vermutet werden – allerdings verwendet Johannes diese Vorstellung durchweg für die Glaubenden (2,29; 3,9; 4,7; 5,1.4.18). Ziel der Sendung Jesu ist das Leben der Gemeindeglieder – auch hier schließt Johannes sich ausdrücklich mit ihnen zusammen. Und auch hier besteht das Heilsgeschehen nicht in Kreuz und Auferweckung Jesu – wie etwa überwiegend bei Paulus (vgl. nur Röm 14,8f) –, sondern in der Sendung Jesu, in der Fleischwerdung des Christus. Damit ist erneut der Gedanke von der Gotteskindschaft der Glaubenden im Hintergrund: Die Christen sind aus Gott geboren (4,7) und haben durch diese Geburt das Leben bekommen (3,14). Wenn Johannes hier ausdrücklich betont, dass wir durch ihn leben sollen, dann lässt dies darauf schließen, dass genau dieses zentrale Heilsgut (1,1–4), das Leben, augenscheinlich massiv gefährdet war. Die Adressaten erfahren durch Verrat und Anklagen ihr Leben als nicht gesichert – wahrscheinlich sind auch bereits Christen nicht nur ihrer Existenzgrundlage beraubt (3,17), sondern auch getötet worden. Die von Johannes geäußerte theologische Überzeugung widerspricht dabei der gesellschaftlichen Lage der christlichen Gemeinden: Diese erfahren sich als von der heidnischen Umwelt unverstanden, gefährdet und verfolgt; die Glaubenden werden ausgegrenzt und teilweise wohl auch verfolgt; sie erleben alles andere als Liebe und Leben, vielmehr Hass und Tod. Mit anderen Worten: Die Heilsverkündigung der Kinder Gottes wird durch die konkrete Wirklichkeitserfahrung immer wieder infrage gestellt. Denn denjenigen, die sich von den Gotteskindern abwenden, geht es anscheinend wesentlich besser als denen, die beim Bekenntnis zu Jesus und bei der christlichen Gemeinschaft bleiben. Deshalb beschwört Johannes seine Adressaten: Gott liebt uns! Er schenkt uns das (ewige) Leben!
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Ausgangspunkt des positiven Verhältnisses zwischen Gott und den Seinen ist nach V. 1 0 eben diese Liebe Gottes. Er ist es, der die Initiative hierfür gezeigt hat. Erstmalig spricht Johannes hier ausdrücklich von der Liebe der Glaubenden zu Gott. Neu gegenüber dem vorangegangenen Vers ist darüber hinaus der Begriff Sühnung, der bereits in 2,2 verwendet worden war. Auch hier ist mit der Verwendung einer festen urchristlichen Formulierung zu rechnen, die wohl gelautet hat: »Jesus ist die Sühnung für unsere Sünden«. Anders als in 2,2, wo die Heilstat Christi ausdrücklich auf die Sünden der ganzen Welt ausgedehnt wird, wird hier nur von den Sünden der Glaubenden gesprochen, die durch Christus gesühnt wurden. Dieser Unterschied hängt damit zusammen, dass es in 2,2 um das Heilsangebot für die Welt ging. Im vorliegenden Vers thematisiert Johannes aber die erfolgte Sühnung für die Sünden der Glaubenden. Da für Johannes die Sünde aber der Unglaube ist, sind die Sünden der Glaubenden durch Christus tatsächlich aus der Welt gechafft worden, sind die Glaubenden als Sündlose (vgl. 3,9) tatsächlich durch Christus mit Gott versöhnt worden. Anders als in 2,2, wo der Verweis auf das Blut Jesu (1,7) die Vermutung nahelegt, Johannes messe auch dem Kreuzestod Jesu sühnende Bedeutung zu, geht es hier um die Sendung des Sohnes durch den Vater. Diese Sendung hat für Johannes (ebenfalls) Sühne stiftende Bedeutung. Insofern interpretiert Johannes hier den aus der urchristlichen Tradition übernommenen Begriff Sühnung (vgl. 2,2) in seinem Sinn um. Für ihn ist eigentlich das gesamte irdische Wirken Jesu Versöhnungshandeln. Der Jesus des Johannesevangeliums als der von Gott gesandte Christus versöhnt die Glaubenden mit Gott. Paulus hatte in Röm 3,25, wo er einen ähnlichen Begriff verwendet, dieses Heilsgeschehen auf die Kreuzigung zugespitzt. Wie in V. 7 leitet Johannes in V. 1 1 seinen Gedanken mit Geliebte ein und begründet jetzt ausdrücklich das Gebot der Liebe untereinander mit der Liebe Gottes gegenüber den Glaubenden, die ihren Ausdruck in der Sendung des Sohnes (V. 9f) und damit in der Versöhnung der Glaubenden mit Gott gefunden hat. In diesem Sinn wirkt der Vers wie eine Zusammenfassung des bisher Geschriebenen. Gottes Liebe bewirkt die Solidarität untereinander. Der Indikativ (Gott liebt die Seinen) hat den Imperativ (deshalb sollen die Glaubenden einander lieben) zur Folge. Damit ist es die voraussetzungslose Liebe Gottes, die den Gotteskindern die Kraft gibt, einander zu lieben, also sich untereinander solidarisch zu verhalten. Dieser Gedanke ist Johannes so wichtig, dass er ihn später (V. 19) mit leicht veränderter Wortwahl wiederholt.
4,13–15
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Recht unvermittelt stellt Johannes in V. 1 2 fest, dass niemand Gott jemals geschaut habe. Gleiches wurde bereits in Joh 1,18 festgestellt, allerdings mit Hilfe eines anderen Verbs. Inhaltlich bezieht sich die Notiz auf Ex 32,12–23. Dort begehrt Mose, die Herrlichkeit Gottes sehen zu dürfen. Dies wird ihm von Gott verweigert mit dem Hinweis darauf, dass kein Mensch leben wird, der Gott sieht (Ex 32,20). Wenn Johannes hier statt »sehen« das Verb »schauen, betrachten« verwendet, zeigt er: Es geht ihm um ein langes und eingehendes Sehen. Der Hauptgrund für das veränderte Verb ist die dadurch erreichte Anspielung auf den Vers 1,1. Dort hatte er deutlich gemacht, dass er was von Anfang an war, nämlich Jesus, nicht nur mit den Augen gesehen, sondern auch geschaut habe. Jesus ist für ihn die anschauliche Gestaltwerdung Gottes (vgl. V. 14), auch wenn er durchaus von Gott unterschieden ist. Erst im Nachsatz wird deutlich, weshalb hier neu eingesetzt wird: Gott ist zwar nicht sichtbar, aber er ist im Glaubenden gegenwärtig. Voraussetzung dafür ist die Liebe untereinander. Wenn Johannes jetzt davon spricht, dass Gott in uns bleibt, dann wird daran deutlich, dass von der Existenz Gottes im Glaubenden nur dann gesprochen werden kann, wenn die gegenseitige Liebe vorhanden ist. Anders ausgedrückt: Wenn keine Liebe vorhanden ist, ist Gott selbst auch abwesend. Gottes Liebe ist dann im Menschen zum Ziel gekommen, wenn sich die Glaubenden untereinander lieben und vor der heidnischen Umwelt ihre Zusammengehörigkeit auch zeigen. Das eigentlich nicht nachprüfbare Bleiben Gottes im Glaubenden erweist sich dadurch, dass innergemeindliche Solidarität geübt wird. Die Aussage von 2,5 wird also insofern zugespitzt, als nicht nur von der zum Ziel gekommenen Gottesliebe im Menschen gesprochen wird, sondern von Gott selbst, der im Glaubenden wohnt. Dies ist im Grunde auch die logische Folge aus der These, dass Gott selbst die Liebe ist (4,8). 4,13–15 Einschub: Geistgabe und Bekenntnis des Glaubens 13
Daran erkennen wir, dass wir in ihm bleiben und er in uns, dass er uns aus seinem Geist gegeben hat. 14 Und wir haben geschaut und bezeugen, dass der Vater den Sohn als Retter der Welt gesandt hat. 15 Wer bekennt, dass Jesus Gottes Sohn ist, in dem bleibt Gott und er in Gott. Die Aufforderung zur Liebe untereinander (4,9–12) wäre nach Johannes unvollständig, wenn man nicht noch einmal wenigstens in
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4,13–15
einem Einschub in die laufende Argumentation auf das Bekenntnis zum Gottessohn Jesus zu sprechen kommen würde. Beides gehört ja nach 3,23 untrennbar zusammen. Und dass 4,13–15 ein Einschub ist, wird daran deutlich, dass die Schlussformulierung in V. 15 (Wer bekennt, dass Jesus Gottes Sohn ist, in dem bleibt Gott und er in Gott) zurücklenkt zu V. 12 (Wenn wir uns untereinander lieben, so bleibt Gott in uns …). Vergleicht man V. 1 3 (Daran erkennen wir, dass wir in ihm bleiben und er in uns, dass er uns aus seinem Geist gegeben hat) mit der Notiz von der Geistgabe in 3,24b (Daran erkennen wir, dass er in uns bleibt: an dem Geist, den er uns gegeben hat), so fällt nicht nur die Ähnlichkeit auf, sondern auch die Tatsache, dass der Gedanke hier nur minimal weitergeführt wurde: Dem Bleiben Gottes im Glaubenden (3,24b) entspricht das Bleiben des Glaubenden in Gott (4,13; vgl. hierzu den Exkurs »Die ›Durchdringungsformeln‹ im ersten Johannesbrief« oben S. 91f). Mit Hilfe dieser Formulierungen beschreibt Johannes das innige Verhältnis, das zwischen Gott und den Glaubenden besteht. Diese Beziehung zwischen Gott und Gotteskind ist erkennbar an dem Geist, aus dem Gott gegeben hat. Anders als in 3,24 ist es hier nicht der einfach der Geist, der gegeben wird, sondern der Glaubende bekommt aus seinem Geist, d.h. er bekommt Anteil am Gottesgeist. Mit Hilfe dieser kleinen Veränderung gegenüber 3,24 kann Johannes auf Joh 15,26 anspielen. Dort geht es darum, dass der von Jesus verheißene und vom Vater ausgehende Geist der Wahrheit Zeugnis von Jesus ablegt. Es ist der Anteil an diesem Geist der Wahrheit, der die Glaubenden zum Bezeugen befähigt – und um dieses Zeugnis geht es auch im folgenden V. 14. Die Gabe aus diesem Geist der Wahrheit hängt dabei auch eng mit der Zusage der Gotteskindschaft zusammen; denn es ist hier die Taufe als Hintergrund anzunehmen, weil es eine urchristliche Vorstellung ist, dass bei der Taufe dem Täufling auch der Geist vermittelt wurde (vgl. Apg 2,38). Seit Paulus, also im Grunde seit Anbeginn der christlichen Theologie, gilt der den Gotteskindern verliehene Gottesgeist als »Anzahlung« für das künftige Heil der Glaubenden (vgl. Röm 8,9–17). Anders als im vorangegangenen Vers schließt sich Johannes in V. 14 mit seinen Adressaten durch das jetzt erneut verwendete wir nicht zusammen, sondern spricht – im Plural – ähnlich wie in 1,1 von sich. Der Zusammenhang mit dem Beginn des Schreibens legt sich aber vor allem deshalb nahe, weil er zwei der dort verwendeten Verben hier wiederholt: Wir haben geschaut und bezeugen. Das Verb schauen erinnert zugleich an V. 12, wo festgestellt wurde,
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dass niemand Gott je geschaut habe. Johannes macht jetzt deutlich: Gott hat wirklich niemals jemand gesehen, aber den Gottessohn Jesus, den hat er geschaut (1,1–3). Dieses Schauen gibt seinem Zeugnis Nachdruck und Glaubwürdigkeit. Dabei ist es kein Zufall, dass Johannes nach der Feststellung des Geistbesitzes (V. 13) vom Bekennen spricht, denn es ist der Geist, der Kraft zum Bekenntnis gibt (vgl. 4,2f sowie Joh 15,25). Den Inhalt des Zeugnisses gibt er im vorliegenden Vers mit folgenden Worten wieder: Der Vater hat den Sohn gesandt als Retter der Welt. Auch hier wird deutlich, dass nach Johannes das Heilsgeschehen vor allem darin besteht, dass Jesus in die Welt gekommen ist bzw. gesandt wurde. Seine Mission ist die Rettung der Welt. Auch hier wird wieder deutlich, dass die Welt für Johannes nicht aus sich heraus böse ist; vielmehr ist erneut vorausgesetzt: Die Welt ist Objekt von Gottes Liebe (vgl. Joh 3,16), auch wenn sie (noch) überwiegend von widergöttlichen Mächten beherrscht ist. Tatsächlich entspricht das in diesem Vers vorliegende Zeugnis des Johannes relativ genau dem Bekenntnis der Samariter in Joh 4,42: Dieser ist wahrlich der Retter der Welt (vgl. Philo, SpecLeg 2,198,5; und Weish 6,24: Eine große Anzahl von Weisen ist Rettung der Welt). Das in V. 1 5 formulierte Bekenntnis lenkt durch die Verwendung der Durchdringungsformel (in dem bleibt Gott und er in Gott) wieder zurück zum Ausgangspunkt der Argumentation in V. 12. Es bringt dabei auf den Punkt, was Glaube bedeutet: Die Überzeugung, dass Jesus Gottes Sohn ist. Die präsentische Formulierung (Jesus ist Gottes Sohn) zeigt: Johannes geht es um den gegenwärtigen Sohn Gottes, der nach seinem irdischen Wirken jetzt wieder zu Gott erhöht ist. In 4,2 ging es um das Bekenntnis, dass Jesus Christus in das Fleisch gekommen ist. Im Grunde besteht zwischen beiden Bekenntnissen kein Unterschied. Es geht Johannes immer um die ausschließliche Bindung des Glaubenden an den Gottessohn Jesus Christus (vgl. 1,1–3). Nur in ihm ist der Weg zu Gott und zum Leben zu finden. In 2,23 war umgekehrt von der Leugnung des Sohnes geredet worden. Dementsprechend hat eine Leugnung Auswirkungen auf das Verhältnis zu Gott, zum Vater. 4,16 Wiederaufnahme der Überschrift: Gott ist Liebe 16
Und wir haben erkannt und geglaubt die Liebe, die Gott zu uns hat. Gott ist Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott, und Gott bleibt in ihm.
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Aufgrund seiner bisherigen Ausführungen sieht sich Johannes jetzt in der Lage, das, was er unter Glauben versteht, verkürzend auf den Punkt zu bringen (V. 1 6). Gegenstand des Glaubens ist für ihn auch die Liebe, die Gott zu uns hat. Diese zeigt sich seiner Meinung nach in keinem anderen als in Jesus Christus. Der Grund für seine Sendung in die Welt ist die Liebe Gottes (vgl. 4,9 sowie Joh 3,16). Johannes möchte jetzt aber ganz bewusst weniger von Jesus sprechen als vielmehr von Gottes Liebe zu seinen Menschen; denn er lenkt zurück zu seiner These von 4,8: Gott ist Liebe. Liebe ist nicht nur eine Eigenschaft Gottes, sondern sie sagt etwas über ihn selbst aus. Die Liebe hat ihren Ursprung in Gottes Wesen, sie ist sein Wesen. Dabei ist diese Liebe nicht einfach bloß eine Worthülse, sondern zeigt sich in dem, was Gott für die Welt und besonders für seine Kinder tut: Es ist die Sendung seines Sohnes in die Welt und die damit verbundene Ermöglichung des (ewigen) Lebens für alle, die an ihn glauben, für seine Kinder, ihre Befreiung von der Vergänglichkeit (2,17) und ihre Versöhnung mit Gott. Neben das Bekenntnis, dass Jesus Gottes Sohn ist (4,15), tritt jetzt das Bleiben in der Liebe (4,16) als Voraussetzung dafür, dass der Glaubende in Gott bleibt und Gott in ihm (vgl. den Exkurs »Die ›Durchdringungsformeln‹ im ersten Johannesbrief« oben S. 91f). Herausragend ist die Allgemeinheit, mit der Johannes seine Grundüberzeugung formuliert. Die Liebe zum Bruder ist hier nicht das Thema, sondern die Liebe ganz allgemein. Tatsächlich ist auch bereits vorher deutlich geworden, dass sich die Liebe der Glaubenden auch auf diejenigen bezieht, die im Begriff sind, sich von der Gemeinde zu lösen, denn auch diese gelten nach wie vor als Brüder, wie das Beispiel Kains gezeigt hat (3,10–18). Deshalb wäre die von Johannes geforderte Liebe zu eng gefasst, wenn man sie ausschließlich als gegenseitige Bruderliebe bezeichnen würde. Fast ist damit sogar die Feindesliebe (vgl. Mt 5,43–48) eingeschlossen. Johannes ist der Meinung: An der Sendung des Sohnes in die Welt zeigt sich die Liebe Gottes exemplarisch. Dass er die Glaubenden zu seinen Kindern macht, ist eine weitere Folge aus dieser Liebe (3,1). Wenn der, der in der Liebe bleibt, auch in Gott bleibt und Gott in ihm, dann bedeutet dies, dass Glaubende, die ihre Brüder lieben, in einer unauflöslichen, innigen Gemeinschaft mit Gott stehen. 4,17–21 Das Liebesgebot in einer staatlichen Gerichtsverhandlung 17
Darin ist die Liebe bei uns vollendet, dass wir frohe Zuversicht haben am Tag des Gerichts; denn wie er ist, sind auch wir in dieser Welt. Furcht ist nicht in der Liebe,
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sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus; denn die Furcht hat Strafe (vor Augen). Wer sich aber fürchtet, der ist nicht vollendet in der Liebe. 19 Lasst uns lieben, denn er hat uns zuerst geliebt. 20 Wenn jemand spricht: »Ich liebe Gott« und hasst seinen Bruder, ist er ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, kann Gott nicht lieben, den er nicht sieht. 21 Und dieses Gebot haben wir von ihm, dass derjenige, der Gott liebt, auch seinen Bruder liebt. In den folgenden Versen wendet sich Johannes dem Problem zu, wie sich die Liebe des Gotteskindes in einem menschlichen Gerichtsverfahren äußern kann. Dabei wird in den Versen 1 7–19, ausgehend von V. 16, zunächst ganz allgemein von Liebe gesprochen; das Objekt der Liebe wird nicht genannt. Dies ist deshalb der Fall, weil es Johannes, wie V. 20 zeigt, sowohl um die Liebe zu Gott als auch um die Liebe zum Bruder geht (zum die Schwester einschließenden Verständnis des griechischen Wortes adelphós [Bruder] s. zu 2,9 oben S. 18 und 37f). Wenn also in den Versen 17–19 das Objekt der Liebe nicht genannt wird, dann meint Johannes damit die grundsätzliche liebevolle Einstellung der Glaubenden. Die Liebe ist bei den Glaubenden aber erst dann zur Erfüllung gekommen, wenn man frohe Zuversicht hat am Tag des Gerichts (V. 17). Für sich genommen legt die Ausdrucksweise zunächst nahe, es handle sich um das göttliche Endgericht, von dem Johannes hier schreibt, zumal der Ausdruck Tag des Gerichts wie eine aus frühjüdischen Schriften übernommene urchristliche Formel klingt (vgl. Jdt 16,17; Prov 6,34; PsSal 15,12; Jes 34,8; VitAd 12,3; 26,12; vgl. Mt 10,15; 11,22.24; 12,36; 2Petr 2,9; 3,7). Und auch der Begriff frohe Zuversicht beschreibt die Offenheit desjenigen, der vor seinem endzeitlichen Richter keine Furcht zu haben braucht (vgl. 4Esr 7, 98f) Sicherlich ist dieser Gedanke auch hier vorherrschend. Aber Johannes hat bei dem vorliegenden Vers zugleich ein weltliches Gericht vor Augen, vor dem die Glaubenden sich verantworten müssen. Der Nachsatz denn wie er ist, so sind auch wir in dieser Welt signalisiert, dass es um die – neutestamentlich gesprochen – Nachfolge Jesu geht, ähnlich wie in 3,16: Auch die Gotteskinder sollen ihr Leben füreinander einsetzen, wie es Jesus getan hat. Dabei gilt zugleich: So wie Jesus sich vor dem Hohen Rat und später vor Pilatus hat verantworten müssen (Joh 18,28 – 19,16), so haben auch die Glaubenden damit zu rechnen, dass sie vor weltlichen Gerichten Rede und Antwort zu stehen haben. Dabei sind Verhalten und Argumentation Jesu vor Pilatus beispielgebend für die Adressaten des Johannes. Aus Jesu Worten spricht genau diese frohe Zu-
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versicht, von der Johannes schreibt. Jesus war zwar in der Welt, aber sein Reich ist nicht von dieser Welt (Joh 18,36), und wenn Pilatus nicht die Macht von oben gegeben wäre, hätte der Statthalter keine Macht über Jesus (Joh 19,11). So wie Jesus sind die Glaubenden zwar aus Gott (vgl. 4,4.6) bzw. aus Gott geboren (2,29; 3,9; 4,7; 5,1.4.18), aber sie sind – wie Jesus – in der Welt und werden von der ungläubigen Welt gehasst (3,18). Alle anderen Belege des Begriffs frohe Zuversicht im ersten Johannesbrief beziehen sich auf die Existenz des Glaubenden vor Gott bzw. Jesus (2,28; 3,21; 5,14). Von daher ist zu vermuten, dass Johannes hier ganz bewusst das Sein des Glaubenden vor einem irdischen und dem göttlichen Gericht in eins sieht: Wer frohe Zuversicht Gott gegenüber haben darf, braucht vor keinem irdischen Richter Furcht zu haben, ja kann auch einem solchen Richter gegenüber, der – wie bei Jesus – über Tod und Leben entscheidet, frohe Zuversicht haben; denn es ist Gott selbst, der dem Richter vorübergehend die Macht dazu verliehen hat (vgl. Joh 19,10f) und der zugleich die Existenz des Glaubenden sichert. Den Vorwurf, der den Glaubenden vor weltlichen Gerichten gemacht wird und der diese in Gefahr bringt, wird im ersten Johannesbrief nicht genannt. Er kann nur rekonstruiert werden (vgl. unten S. 138–141). Wenn Johannes hier die Furcht erwähnt, dann spricht dies erst recht für das Szenario einer weltlichen Gerichtsverhandlung, die hier im Hintergrund steht. Im Johannesevangelium wird der Begriff Furcht bzw. sich fürchten vor allem als Furcht vor den Gegnern Jesu, den Juden, verwendet. Und zweifellos ruft die Gefährdung durch Anklagen vor heidnischen Richtern bei den Gemeindegliedern immer wieder Furcht hervor. Bei der Furcht, die die Gotteskinder empfinden (können), handelt es sich um die Angst davor, dass die gegenwärtige Bedrohung der eigenen Existenz vor dem irdischen Richter zu ihrer Zerstörung führen könnte. Dieser völlig verständlichen und menschlichen Reaktion stellt Johannes den Satz entgegen: Furcht ist nicht in der Liebe. Anders ausgedrückt: Furcht und Liebe schließen einander aus. Johannes mahnt dagegen zu furchtlosem Bekenntnis. Exemplarisch wird dies deutlich anhand von Joh 7,13: Niemand aber redete in froher Zuversicht über ihn aus Furcht vor den Juden. Beide Begriffe frohe Zuversicht und Furcht aus 4,17f sind hier auch genannt. Johannes denkt hier an eine von jüdischer Seite gemachte Anzeige gegen Mitglieder der christlichen Gemeinde vor einem weltlichen Gericht. Tatsächlich taucht der Begriff Furcht im Johannesevangelium stets als Furcht vor den Juden auf (Joh 7,13; 9,22; 19,38; 20,19). Dass in V. 18 deshalb auch eine Furcht vor dem synagogalen Judentum gemeint sein könnte, ist aber nicht sicher.
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Nach V. 1 8 braucht derjenige, der wirklich (seinen Bruder bzw. seine Schwester) liebt, keine Furcht vor der Verurteilung durch weltliche Gerichte oder irgendwelche Verfolger zu haben. Wenn Johannes Jesus als Vorbild (2,6; 3,16) und Beistand (2,1) angesichts der Bedrohung durch weltliche Gerichte versteht, so wird damit Raum geschaffen für ein Handeln, das auf Furcht und die damit verbundenen Folgen – Flucht, d.h. die Distanzierung von der Gemeinde, oder Ausübung von Gewalt – verzichten kann und von Liebe geprägt ist. Diese Form des Umgangs mit der drohenden Gefahr für Leib und Leben ist für Johannes ein wichtiger Bestandteil der christlichen Identität, weil sie auf einem angstfreien Grundvertrauen basiert, auf dem Wissen um die Sicherung der eigenen Existenz durch den liebenden Vater. Wenn die Glaubenden sich dessen bewusst sind, dann kann keine äußere Gefährdung oder gar Verfolgung das Bewusstsein, als Kinder Gottes in Gottes Heilsbereich zu leben, widerlegen. Daher kann Johannes auch behaupten, Furcht rechne mit Bestrafung. Denn der innerweltliche Richter kann durch sein Urteil, wie immer es ausfällt, die Gemeindeglieder, die sich in Gott gesichert wissen, nicht wirklich bestrafen oder gar vernichten. Zugleich kann die der Furcht in Aussicht gestellte Strafe auch endzeitlich gemeint sein. Denn derjenige, der eben nicht furchtlos bekennt, muss mit dem Verlust des ewigen Lebens und damit mit einer tatsächlichen Strafe rechnen. Weil die einzige neutestamentliche Parallelstelle für den Begriff Strafe im Zusammenhang mit dem Endgericht auftaucht (Mt 25,46), ist damit zu rechnen, dass Johannes die vorliegenden Verse wohl bewusst doppeldeutig angelegt, zumal er seine Gegenwart als Endzeit versteht (2,18). In V. 1 9 greift Johannes zurück auf die Begründung der menschlichen Liebe in der Liebe Gottes. Diese menschliche Liebe ist lediglich Antwort auf die Liebe Gottes zu den Glaubenden. Zum dritten Mal findet sich im ersten Johannesbrief die Aufforderung Lasst uns lieben. Allerdings ist sowohl in 3,18 als auch in 4,7 deutlich, dass es um die Bruder- bzw. Geschwisterliebe, die innergemeindliche Solidarität geht. Dies ist im vorliegenden Vers anders. Hier verzichtet Johannes hier auf die Benennung des Objekts. Dies kann er tun, weil aus dem Kontext klar wird, dass sich die Liebe der Adressaten sowohl auf Gott als auch auf die Glaubensbrüder richtet (V. 20). Es ist eine allgemeine liebende Einstellung, die Johannes hier fordert. Woran sich Gottes Liebe zeigt, ist bereits (mehrfach) gesagt worden: Er hat seinen Sohn in die Welt gesandt mit dem Ziel der endzeitlichen Errettung bzw. der Ermöglichung ewigen Lebens für die an ihn Glaubenden (4,9f); durch die Sendung Jesu hat er diese zu seinen Kindern gemacht (3,1).
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Vergleicht man die vorliegende Aussage mit 4,11, so fallen die beiden Besonderheiten auf: Die Liebe, zu der Johannes aufruft, richtet sich nicht nur aufeinander, sondern auch auf Gott (vgl. V. 20); deshalb kann er auf die Erwähnung des Objekts verzichten. Und darüber hinaus geht es ihm – anders als in V. 11 – jetzt nicht um das Ausmaß der Liebe Gottes, sondern darum, dass er zuerst die Glaubenden geliebt hat. Damit betont er nachdrücklich, dass Gottes freie und liebende Initiative war, die nach der menschlichen Antwort fragt. Anhand seines Beispiels macht Johannes in V. 2 0 noch einmal deutlich: Die Liebe, von der er schreibt, richtet sich auf Gott und auf den Bruder. Ähnlich wie in 1,6.8.10 oder 2,4.6 ist damit zu rechnen, dass im Hintergrund wieder Aussagen und Handlungsweisen der Gegner stehen. Es scheint Leute zu geben, die behaupten, Gott zu lieben, sich aber unsolidarisch mit den Brüdern (zum die Schwester einschließenden Verständnis des griechischen Wortes adelphós [Bruder] s. zu 2,9 oben S. 18 und 37f), d.h. mit den Glaubenden, verhalten. Nun ist gerade das Gebot, Gott zu lieben, ein zentrales alttestamentliches Gebot (Dtn 6,4–9). Es sichert die jüdische Identität und spielt bis heute eine zentrale Rolle innerhalb der jüdischen Frömmigkeit. Der Hass gegen den Bruder, von dem Johannes spricht, äußerte sich wohl so, dass getaufte Judenchristen, die aufgrund äußeren Drucks wieder zur jüdischen Gemeinde zurückgekehrt waren und ihr Wissen über die Mitglieder der christlichen Gemeinde, zu der sie früher gehört hatten, an die römische Statthalterschaft weitergaben. Zugleich versuchten sie wohl, weitere Judenchristen zu überreden, es ihnen gleichzutun. Deshalb schreibt Johannes in 2,26 und 4,7 von den Verführern. All dies bewirkte eine massive Gefährdung einzelner Christen, ja vielleicht sogar ganzer Gemeinden. Daraus resultiert auch der Kraftausdruck, mit dem Johannes diese Menschen belegt: Lügner! Mit diesem Wort hatte er dieselben Menschen bereits in 2,4 und 2,22 beschimpft. Hier wie dort soll man sich an Joh 8,44 erinnern, wo der Teufel als Vater der Lüge bezeichnet wird. Der Lügner steht in vollständigem Gegensatz zur Wahrheit. Mit dem Wort Lügner bezeichnet Johannes den grundsätzlichen Widerspruch zu Gott, der zur Verwerfung der Wahrheit Gottes in Jesus Christus führt. Theoretisch wäre auch denkbar, dass sich Johannes mit diesem Vers an die ganze Gemeinde wendet. Der Hass darf sich seiner Meinung nach nicht auf die des Verrats und der Verführung verdächtigen Brüder richten; denn für Johannes sind diese auch nach wie vor Brüder. Wenn dies vorausgesetzt werden kann, dann ruft Johannes auch hier im Grunde zu einer Form von Feindesliebe auf (vgl. 3, 14–15).
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Mit dieser Begründung lenkt Johannes zurück zu der Überzeugung: Niemand hat Gott je geschaut (4,12). Gott ist auch für die Glaubenden nicht sichtbar. Sichtbar sind allein die Glaubenden selbst. An der Liebe zu ihnen zeigt sich die wahre Gottesliebe. Johannes weist also den früheren Judenchristen, die sich wieder dem Judentum zugewandt haben und die (früheren) christlichen Brüder bei der Statthalterschaft anzeigen, nach, dass sie gegen das Gebot der Gottesliebe verstoßen, das ihnen doch zwischen den Augen stehen sollte (Dtn 6,4–9). Am Schluss dieses Gedankengangs kehrt Johannes die Beweisführung in V. 2 1 noch einmal um, indem er sagt, dass derjenige, der Gott liebt, auch seinen Bruder lieben soll. Beide Gedanken – Gottesliebe und Bruderliebe – werden durch das eine Gebot untrennbar miteinander verbunden. Die unterschiedlichen Formulierungen, die Johannes bisher für das Gebot der Gottes- und vor allem der Bruderliebe (2,8–10; 3,23) verwandte hat, zeigen, dass er hierfür keine festgefügte Formel zur Verfügung hat, sondern diese seiner jeweiligen Aussageabsicht anpasst. Mit der Erwähnung des Begriffs Gebot erinnert Johannes bewusst an das Gebot (Dtn 6,1) der Gottesliebe aus Dtn 6,4–9 und interpretiert es vom Nächstenliebegebot (Lev 19,18) her. Dieses ist aber für ihn nichts anderes als das Gebot der Bruderliebe (vgl. auch Joh 13, 34 bzw. 15,12). Gerade die Argumentation des Johannes im vorliegenden Vers spricht für die hier vorgetragene Interpretation: Johannes stellt den Judenchristen, die entweder die Gemeinde bereits verlassen haben oder im Begriff sind, die Gemeinde zu verlassen und zum Judentum zurückzukehren, das zentrale jüdische Gebot der Gottesliebe vor Augen. Wer dieses Gebot der Gottesliebe ernst nimmt, muss zwangsläufig auch die Brüder lieben, d.h. sich solidarisch mit den Kindern Gottes verhalten. Diese Auslegung des Gebots der Bruderliebe stammt – wie Johannes hier ebenfalls behauptet – von Gott selbst, da bereits in V. 19 Gott als der Liebende mit einem Personalpronomen bezeichnet worden war. 5,1–3 Liebesgebot und Gotteskindschaft 1
Jeder, der glaubt, dass Jesus der Christus ist, der ist aus Gott geboren; und jeder, der den Gebärer (Erzeuger) liebt, der liebt auch den aus ihm Geborenen. 2 Daran erkennen wir, dass wir die Kinder Gottes lieben, wenn wir Gott lieben und seine Gebote tun. 3 Denn das ist die Liebe zu Gott, dass wir seine Gebote halten; und seine Gebote sind nicht schwer.
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Johannes nähert sich dem Ende seines Schreibens. Hierfür fasst er wichtige Erkenntnisse noch einmal zusammen. Die Geburt der Glaubenden aus Gott ist seit 2,29 ein wichtiges Thema. Dort war noch recht ungenau davon gesprochen worden, dass derjenige, der die Gerechtigkeit tut, aus Gott geboren sei. Deutlicher ist Johannes in 3,9 geworden; dort wird die These aufgestellt, dass die aus Gott Geborenen nicht sündigen können. Außerdem hält Johannes in diesem Zusammenhang fest, dass Gottes Same in dem aus Gott Geborenen bleibt. Zufolge 4,7 zeigt derjenige, der (den Bruder) liebt, dass er aus Gott geboren ist. Diese Überzeugungen zusammenfassend wird in V. 1 festgestellt, dass es um den Glauben, dass Jesus der Christus ist, geht und zugleich um die Liebe gegenüber den anderen Gotteskindern bzw. gegenüber denjenigen, die auch aus Gott geboren sind. Dabei schließt Johannes von der Liebe zum Erzeuger bzw. Gebärer (das hier verwendete griechische Verb gennân bedeutet auf deutsch sowohl gebären als auch zeugen) auf die Liebe zu den aus ihm Geborenen. Fast wörtlich wird der vorangegangene Vers wiederholt. Allerdings sind die Objekte verschieden. In 4,21 geht es um die Brüder bzw. Geschwister, in 5,1 um die aus Gott Geborenen. Für die Letztgenannten bringt Johannes im Laufe seines Schreibens Kriterien (2, 29: recht tun; 3,9: keine Sünde tun), während er für das Bruder-Sein keine Kriterien nennt. Brüder scheinen ihre eigenen Brüder durchaus hassen zu können (2,9.11; 3,10 sowie 4,20), wie das Beispiel von Kain deutlich macht (3,12). Dies wird auch in 5,16 angesprochen. Der vorliegende Vers ist nur verständlich auf dem Hintergrund der Erfahrung von Judenchristen, die aufgrund der Gefährdung durch staatliche Maßnahmen sich wieder der jüdischen Gemeinde zuwenden. Ihnen hält Johannes vor: Das Bekenntnis zu Jesus als Messias (Christus) macht den Menschen zum Kind Gottes. Und ähnlich wie in 4,20 wird festgestellt: Nur wer die Kinder Gottes, also diejenigen, die aus Gott geboren sind, liebt, liebt Gott wirklich. Diese Argumentation muss gerade Juden ganz besonders treffen, für die die Liebe zu Gott (Dtn 6,4–9) eines der wichtigsten Gebote ist. Neu und traditionsgeschichtlich vor dem ersten Johannesbrief praktisch nicht belegt ist allerdings die Formulierung, dass Gott Menschen geboren habe (vgl. allenfalls OdSal 18,2). Selbst Johannes hat das bisher so nicht ausgedrückt. Tatsächlich findet sich in keiner frühjüdischen Schrift der Gedanke, Gott habe sein Volk oder einzelne Juden geboren. Allerdings kennt der frühjüdische Religionsphilosoph Philo von Alexandrien (ca. 15 v.Chr. – 40 n.Chr.) die Vorstellung, dass Gott alles gezeugt habe, weil er der Schöpfer der Welt ist (vgl. Op 144 u.ö.). Er stellt ausdrücklich fest (All 3,218),
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mit zeugen meine er eigentlich erschaffen. Da es im Griechischen für zeugen und gebären eben nur ein Wort gibt (gennân), legt sich die Vermutung nahe, dass die Rede von den Glaubenden, die aus Gott geboren sind, auf diese jüdische Vorstellung von der Weltschöpfung zurückgeht. Dem entspricht auch die Rede vom Kommen der Glaubenden ins Leben (3,14). Darüber hinaus zeigt die Darstellung des Dialogs zwischen Jesus und den Juden in Joh 8,30–45, wie Johannes auf die Vorstellung kam, dass die Glaubenden aus Gott geboren sind: Dort beteuern die Juden, sie seien nicht aus der Unzucht geboren, sondern sie hätten einen Vater: Gott (Joh 8,41). Hier ist die entsprechende Formulierung bereits angelegt: Wer Gott zum Vater hat, der ist also aus Gott geboren. Und wohl nicht ganz zufällig taucht im Johannesevangelium die Problematik in einer Diskussion Jesu mit Juden auf. Dies spricht auch hier dafür, dass wir den Konflikt mit Juden(christen) im Hintergrund haben. Johannes hält denjenigen, die die christliche Gemeinde verlassen und zu jüdischen Synagoge zurückkehren, entgegen: Ihr könnt Gott nicht lieben, weil ihr diejenigen nicht liebt, die er geboren bzw. gezeugt hat! Diese Überzeugung dreht Johannes in V. 2 noch einmal um. Dabei spricht er nicht von der Liebe zu den Brüdern, sondern zu den Kindern Gottes; er meint also die Liebe nur zu den wahren Brüdern. Bei der Auslegung von 3,12 war festgestellt worden, dass Johannes zwischen Brüdern und Kindern Gottes unterschieden haben will: Brüder bzw. Schwestern können auch Menschen sein, die im Verdacht stehen, die Gemeinschaft der Kinder Gottes zu verraten (wie Kain, der sogar seinen Bruder erschlug), während Kinder Gottes dies nie tun würden. Wenn also jetzt von der Liebe zu den Gotteskindern gesprochen wird, so sind nur die fest zu Jesus und zur Gemeinde stehenden Glaubenden gemeint. Die Liebe zu ihnen ist im vorliegenden Vers daran erkennbar, dass man Gott liebt. Das Problem, das hier gelöst werden soll, ist die Tatsache, dass die Liebe eines Menschen zu Gott schnell behauptet werden kann, aber von außen nicht wirklich erkennbar ist. Gott hat niemand jemals geschaut (4,12); und so wäre die Gottesliebe als Erkenntnisgrund für die Liebe zu den Gotteskindern, d.h. zu den wahren Brüdern, eine Liebe mit Worten oder mit der Zunge, gegen die sich Johannes in 3,18 wehrt. Normalerweise argumentiert Johannes genau anders herum: Die Liebe zu den Brüdern ist der Erkenntnisgrund der Gottesliebe (vgl. 5,1, aber auch 4,7f.20f). Deshalb ist in diesem Zusammenhang die Bedingung, Gottes Gebote zu halten, so wichtig. Immer wieder hat Johannes auf das Gebot bzw. die Gebote verwiesen, die Jesus gegeben hat, am ausführlichsten in 3,23: Es geht ihm um den Glauben an den Namen des Gottessohnes Jesus Christus und
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die dazugehörige Liebe unter den Brüdern bzw. unter den Kindern Gottes. Insofern scheint im vorliegenden Vers ein Zirkelschluss vorzuliegen: Erkennbar ist die Liebe gegenüber den Kindern Gottes an der Gottesliebe und am Halten der Gebote; diese aber lauten: Glaubt an Jesus Christus und liebt euch untereinander bzw. liebt die Brüder. Weil Johannes hier von den Kindern Gottes als Objekt der Liebe spricht, aber nicht von den Brüdern oder von der Liebe untereinander, liegt hier jedoch kein echter Zirkelschluss vor. Der vorliegende Vers lässt sich also folgendermaßen umschreiben: Daran erkennen wir, dass wir die wirklichen Gemeindeglieder lieben, wenn wir Gott lieben und seine Gebote halten, d.h. alle, auch die möglicherweise falschen oder irgendwie verdächtigen Brüder, lieben. Diese Argumentation wird in V. 3 noch einmal eingeschärft: Die Liebe zu Gott äußert sich im Halten seiner Gebote. In der Tat: Es geht nicht um eine Liebe mit Worten oder mit der Zunge, sondern mit der Tat und mit der Wahrheit (3,18). Nicht Lippenbekenntnisse sind gefordert, sondern Taten und Ehrlichkeit vor den Verfolgern und heidnischen Richtern. Der Nachsatz, die Gebote seien nicht schwer, lässt auf das Gegenteil schließen. Gerade weil Offenheit, Furchtlosigkeit und Ehrlichkeit vor den mutmaßlichen Verfolgern und heidnischen Richtern und Statthaltern offensichtlich besonders schwerfallen, betont Johannes die Leichtigkeit des Haltens der Gebote. Es ist ihm aber klar, dass er diese These im Folgenden noch begründen muss. Die Verbindung zum vorangegangenen Hauptteil wird hergestellt durch den Begriff Gott. In 4,6 hatte Johannes die Frage nach der Erkenntnis Gottes aufgeworfen, während er jetzt in einem neuen Kapitel eine Wesensbestimmung Gottes trifft: »Gott ist Liebe« (4,7.16). Zugleich bezieht sich der gesamte fünfte Hauptteil auf die Zusammenfassung des einen Gebotes in 3,23: die Forderung des Glaubens an Jesus Christus und die Bruderliebe. Im vierten Hauptteil wurden der Glaube und das Bekenntnis behandelt, während es jetzt (erneut) um die Bruderliebe geht. Dabei stellt Johannes jetzt ausgehend von der neuen Wesensbestimmung Gottes ausdrücklich fest, dass Gott die Ursache der Bruderliebe ist. Er hat den Anfang gemacht. Er hat die Seinen zuerst (V. 19) geliebt, sodass die menschliche Liebe gegenüber Gott und den Glaubensbrüdern lediglich eine Antwort auf diese Liebe Gottes ist. Die Liebe Gottes zu den Menschen besteht darin, dass er seinen Sohn in die Welt gesandt hat und dadurch Versöhnung erreicht worden ist. Die Aufforderung zur Liebe, wie bereits in 3,18 und 4,7 ausgesprochen worden ist, hat in diesem Hauptteil deshalb eine andere Qualität, weil das Objekt, wer denn zu lieben ist,
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nicht genannt wird (4,16–19). Johannes macht dies bewusst, weil es ihm um eine allgemeine liebende Einstellung geht, die die Gotteskinder an den Tag legen sollen. Ihre Liebe bezieht sich sowohl auf Gott als auch auf die Brüder, ja sogar auf die Brüder, die die Solidarität mit der Gemeinde vermissen lassen. Diese werden aber Lügner genannt, und der Kontext legt nahe, dass es Johannes hier wieder um Judenchristen geht, die die christliche Gemeinde verlassen haben, die vielleicht sogar weitere Judenchristen zum Verlassen auffordern und die möglicherweise Glaubende vor staatlichen Gerichten anzeigen. Anhaltspunkt hierfür ist die Betonung der Gottesliebe, die im Judentum eine herausragende Rolle spielt (Dtn 6,4–9). Diese setzt Johannes voraus und folgert daraus das Gebot der Bruderliebe: Wer Gott liebt (wie die Juden es tun), der hat auch seinen Bruder zu lieben; andernfalls ist er ein Lügner. Diese Verbindung der beiden Gebote stammt nach Johannes von Gott selbst (V. 21). Dass es auch um Anzeigen gegen einzelne Glaubende geht, ist aus der Erwähnung des Gerichtstags in V. 17 zu schließen. Eine Anklage vor einem römischen Gericht bedeutete offenbar eine höchste Gefährdung des Glaubenden, sodass Furcht des Angeklagten vor seinem Richter eine häufige Reaktion war (V. 18). Johannes setzt der Furcht die Liebe entgegen. Hintergrund seiner Argumentation ist: Auf die Liebe, d.h. auf das offene Bekenntnis zu Gott und zur Gemeinschaft der Kinder Gottes kann nicht verzichtet werden. Mehr noch: Wer nach Johannes wirklich liebt, hat keine Furcht vor dem staatlichen Richter und dessen Urteilsspruch. Denn aller Gefährdung zum Trotz kann sich das Kind Gottes gewiss sein, dass der liebende Vater, Gott, über dem römischen Gericht steht und die Existenz und Identität seiner Kinder sichert. Die Liebe ist das große Thema dieses fünften Hauptteils, und nicht zufällig findet sich hier auch die berühmte Wesensbestimmung Gottes als Liebe. Insgesamt fünfmal spricht der erste Johannesbrief davon, dass die Adressaten einander lieben sollen (3,11.23; 4,7.11.12; vgl. Joh 13,34f; 15,12). Vielfach ist Johannes unterstellt worden, er würde das ursprüngliche Gebot der Nächstenliebe (Lev 19,18; vgl. Mk 12,31; Mt 22,39; Lk 10,27f) zuspitzen und damit verengen auf die Liebe zum Bruder. Nur der Bruder (und die Schwester) im Glauben soll nach Johannes geliebt werden, weil nur so eine Stabilität der bedrängten christlichen Gemeinden gewährleistet sei. Bei dieser Deutung werden aber mehrere Gesichtspunkte des Liebesgebotes bei Johannes außer Acht gelassen: Wie bereits deutlich geworden ist, soll auch demjenigen Glaubensbruder Liebe entgegengebracht werden, der verdächtig ist, die Gemeinde zu verlassen. Und wenn Johannes besonderen Wert auf das Alter des Gebotes legt (2,7), so meint er zweifellos das Gebot aus Lev 19,18, das Gebot der Nächs-
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tenliebe. Bruderliebe ist für Johannes offensichtlich dasselbe wie Nächstenliebe. Dies zeigt sich auch an der Verwendung der Formulierung, die Adressaten sollten sich untereinander lieben. Bereits Paulus hat von der Liebe untereinander gesprochen. Zwar sieht es zunächst im ersten Thessalonicherbrief so aus, als würde er die Liebe untereinander von der Liebe gegenüber Außenstehenden noch unterscheiden (1Thess 3, 12; 4,9). Aber im Römerbrief hat sich diese Anschauung offensichtlich geändert. Nach Röm 13,8f ist das Gebot, sich untereinander zu lieben, identisch mit dem Gebot der Nächstenliebe: Seid niemandem etwas schuldig, außer dass ihr euch untereinander liebt. Denn wer den anderen liebt, der hat das Gesetz erfüllt. Und dann ist es im folgenden Vers das Gebot der Nächstenliebe, welches als Zusammenfassung der Gebote zitiert wird. In gleicher Weise will Johannes das Gebot der Bruderliebe verstanden wissen, nicht exklusiv (man solle nur die Glaubensgeschwister lieben), sondern inklusiv: Die Reichweite der Liebe erfährt gerade durch die Forderung, einander zu lieben, keine Beschränkung. Im ersten Johannesbrief ist vielmehr die Forderung der Liebe eine Gegenmaßnahme gegen den Bruderhass (2,9.11; 3,15; 4,20). Damit ist aber auch der Hass auf diejenigen ausgeschlossen, die sich an einem selbst vergangen haben. Verzicht auf Hass und Gegenhass sind aber elementare Bestandteile der Feindesliebe (Lk 6,27). Von daher wird man sagen können, das Liebesgebot des Johannes schließt die Feindesliebe gerade nicht aus, sondern ein. Dazu – und nur dazu – passt auch die von Johannes zweimal gebotene Wesensbestimmung Gottes: Gott ist Liebe (4,8.16). Damit ist die Konzentration auf die Bruderliebe bei Johannes gerade nicht eine problematische Engführung, sondern eine notwendige Konkretion und Nagelprobe, die die Liebe zu den Mitmenschen nicht ausschließt, sondern die Basis dafür bildet.
5,4–13 Sechster Hauptteil Die Bedeutung des Glaubens Über das Motiv der Gotteskindschaft verbindet Johannes den fünften mit dem sechsten Hauptteil. Kinder Gottes lieben einander (5, 1–3), aber sie siegen im Glauben auch über die Welt (5,4f). Diese Behauptung ist so ungeheuerlich, dass Johannes sich gezwungen sieht, hierfür drei Zeugen anzuführen: den Geist, das Wasser und das Blut (5,8). Darüber hinaus erwähnt er noch das Zeugnis, das Gott selbst gegeben hat. Für Johannes bedeutet Glauben also nicht einfach »Nichtwissen«, sondern vielmehr eine auf Zeugen gestützte feste Gewissheit. Diese formale Bestimmung ist ihm allerdings zu wenig. Er möchte – zum Einleitungsgedanken seines Schreibens zurücklenkend – den Glauben auch noch inhaltlich gefüllt wissen: Es ist der gegenwärtige Besitz des ewigen Lebens im Glauben an den Sohn Gottes. 5,4–5 Der Sieg über die Welt 4
Denn alles, was aus Gott geboren ist, besiegt die Welt; und das ist der Sieg, der die Welt besiegt hat, unser Glaube. 5 Wer ist es aber, der die Welt besiegt, wenn nicht derjenige, der glaubt, dass Jesus Gottes Sohn ist? Gerade an der in V. 4 gebotenen Begründung lässt sich ersehen, dass sich das Halten der Gebote, also das offene Bekenntnis zu Jesus Christus und die Solidarität mit den Glaubensbrüdern in der Gemeinde mit der Folge der Furchtlosigkeit und Ehrlichkeit vor den Verfolgern, Anklägern und Richtern nicht als einfach darstellte. Denn Johannes spricht hier vom Sieg über die Welt und spielt damit auf die Zusage an, die er den jungen Männern gegeben hatte (2,13.14; vgl. auch 4,4). Dort war diesen bescheinigt worden, sie hätten den Bösen besiegt. Jetzt verallgemeinert Johannes, indem er allen aus Gott Geborenen, d.h. allen Gotteskindern, den Sieg über die Welt zusagt. Die Formulierung die Welt besiegen ist vor dem ersten Johannesbrief überhaupt nicht belegt. Johannes bezeichnet damit den endzeitlichen Sieg über die Welt. Das Wort siegen taucht vor allem in der Apokalypse auf. Dort bezeichnet es unter anderem
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den endgültigen Sieg Gottes über die bösen Mächte (Offb 15,2; 17,14). Zugleich wird mit dem gleichen Verb in Offb 2,7.11.17.26; 3,5.12.21 auch der Sieg über sich selbst, die Überwindung bezeichnet. Beide Aspekte klingen hier ebenfalls an: Es ist im vorliegenden Vers deshalb an einen endzeitlichen Sieg gedacht, weil der Glaube nach V. 5 den Sieg bereits errungen hat. Zugleich ist dies auch eine Selbstüberwindung, um nicht dem Bösen und den Lockungen der Welt zu verfallen. Der Glaube umfasst das Bekenntnis zu Jesus als dem Sohn Gottes, der die Welt besiegt hat (vgl. Joh 16,33). Dieser Sieg ist die Voraussetzung des Sieges der Glaubenden. Diese These ist so ungeheuerlich, dass Johannes sie mit einem weiteren Satz (V. 5 ) unterstreichen will. Wenn er den Glauben, der die Welt besiegt hat, im vorliegenden Vers genau identifiziert als glauben, dass Jesus Gottes Sohn ist, dann heißt für ihn: Der an Jesus Glaubende hat Anteil am Sieg des Christus über die Welt. Deshalb hatte er auch in V. 3 behauptet, das Halten der Gebote sei nicht schwer. Johannes weitet also den Blick über die gegenwärtige Bedrängnis seiner Adressaten hinaus und stellt diese dem Sieg Jesu über die Welt gegenüber. Wenn das aber so ist, dann ist das Halten der Gebote, die geforderte Solidarität mit den Brüdern, also die Bruderliebe, durchaus machbar. Auch hier scheint wieder das Vertrauen auf einen Gott durch, der die Existenz und Identität seiner Kinder sichert. Deshalb können keine innerweltlichen Gefährdungen und Bedrängnisse diese Identität infrage stellen. Wer ein derartiges Vertrauen hat, für den ist eine Solidarität mit den bedrängten Brüdern tatsächlich nicht schwer. 5,6–10 Die Glaubenszeugen 6
Dieser ist derjenige, der durch Wasser und Blut gekommen ist, Jesus Christus; nicht im Wasser allein, sondern im Wasser und im Blut; und der Geist ist es, der das bezeugt, weil der Geist die Wahrheit ist. 7 Denn drei sind es, die (das) bezeugen: 8 der Geist und das Wasser und das Blut; und die drei stimmen überein. 9 Wenn wir der Menschen Zeugnis annehmen, ist Gottes Zeugnis (doch) größer; denn das ist Gottes Zeugnis, dass er Zeugnis abgelegt hat über seinen Sohn. 10 Wer an den Sohn Gottes glaubt, der hat das Zeugnis in sich. Wer Gott nicht glaubt, hat ihn zum Lügner gemacht; denn er hat nicht dem Zeugnis geglaubt, das Gott von seinem Sohn bezeugt hat.
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Lässt man V. 5b beiseite, in dem auf den Glauben, dass Jesus der Gottessohn ist, Bezug genommen wird, wirkt V. 6 wie eine Antwort auf die in V. 5 gestellte Frage: Wer ist es, der die Welt überwindet?: Dieser ist es, der gekommen ist durch Wasser und Blut. Tatsächlich scheint Johannes den Faden von 5a hier wieder aufzunehmen und hier eine Antwort geben zu wollen. Und nicht zufällig stellt Jesus in Joh 16,33 fest, er habe die Welt besiegt. Auffällig ist nun, dass Johannes nicht betont, Jesus sei »im Fleisch« gekommen (vgl. 4,2), sondern durch Wasser und Blut. Mit diesen beiden Elementen möchte Johannes zweifellos auf die Kreuzigung nach Joh 19,33f anspielen. Dort stößt einer der Soldaten dem gerade verstorbenen Jesus den Speer in die Seite, und sogleich kamen Blut und Wasser heraus. In besonderer Weise zeigt sich für Johannes Jesu Sieg über die Welt am Kreuz, dem Ort seiner Erhöhung (Joh 3,14; 8,28f; 12,32f) und Verherrlichung (Joh 12,23f; vgl. Joh 17,4; 13,31). Mit der Vollendung des Offenbarungswirkens Jesu am Kreuz (»es ist vollbracht«; Joh 19,30) ist der Sieg über die Welt endgültig errungen und die Einheit der bedrängten Gemeinde begründet (Joh 10,16; 17,20f). Und genau um diese geht es Johannes im vorliegenden Schreiben auch. Die Anspielung auf den Kreuzestod Jesu macht auch das Risiko für die Adressaten des Johannes deutlich. Auch sie sind stark durch äußere Anfeindungen gefährdet und an Leib und Leben bedroht. Der Hinweis auf Jesus und dessen Leben und Sterben zeigt aber für Johannes den Sieg Jesu über die Welt. Zugleich weisen die beiden Elemente Wasser und Blut auf die beiden Sakramente Taufe und Abendmahl hin, durch welche die Glaubenden in besonderer Weise Anteil an Jesus bekommen. Deshalb betont Johannes auch, dass Jesus nicht im Wasser allein gekommen sei. Nicht allein durch die Taufe (vgl. Joh 4,1–3) haben die Glaubenden Anteil am Sieg Jesu über die Welt, sondern ebenso durch das Abendmahl (vgl. Joh 6,53–57). Auch wenn beim letzten Abendmahl im Johannesevangelium den Jüngern die Füße gewaschen, nicht jedoch die Einsetzungsworte gesprochen werden, ist der Bezug zum Abendmahl in Joh 6 naheliegend. Wahrscheinlich hat der Johannesevangelist hier ein geistliches Essen und Trinken im Blick. Neben Wasser und Blut benennt Johannes auch noch den Geist als Zeugen. Es ist eine urchristliche Tradition, dass der Geist durch die Taufe dem Täufling verliehen wird (vgl. Apg 1,5; 2,38; 11,16). Diese wird von Johannes aufgenommen, wenn er betont, Jesus selbst habe mit dem Heiligen Geist getauft (Joh 1,33; vgl. Mk 1,8 sowie Lk 4,18f).
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Die Vorstellung, dass der (Heilige) Geist selbst Zeugnis ablegt, bezieht sich auf eine entsprechende Stelle im Johannesevangelium: Nach Joh 15,26 wird der Geist der Wahrheit Zeugnis ablegen von Jesus. Nichts anderes sagt Johannes im vorliegenden Vers – vielleicht abgesehen davon, dass hier der Geist mit der Wahrheit direkt identifiziert wird. In der Apostelgeschichte findet sich neben der Vorstellung, dass der Geist selbst als Zeuge benannt wird (Apg 5, 32; vgl. 20,23), auch die Redeweise, dass der Geist einzelnen Menschen verliehen ist und diese dann die christliche Botschaft bezeugen (vgl. Apg 1,8; 2,32f). Daraus ist zu schließen: Mit dem bezeugenden Geist meint Johannes die innere Kraft der Glaubenden, die sie die christliche Botschaft bezeugen lässt. Überblickt man den Vers als Ganzen, ist festzustellen: Mit dem Zeugenbegriff taucht ein weiterer Ausdruck aus dem Bereich der Rechtsprechung in dem Schreiben auf, und es bestätigt sich, dass die Auseinandersetzung mit den Gegnern für Johannes gerichtliche Züge trägt (vgl. unten S. 144f). Der Glaubende ist vor die Gerichtsschranken gestellt und beruft sich nun gegenüber dem Forum der Welt und der Juden auf Zeugen, die Jesu Offenbareranspruch bestätigen. Weil aber diese innere Überzeugung bei vielen Glaubenden offenbar so stark nicht zu sein scheint, benennt Johannes in V. 7 und 8 zusammenfassend drei Zeugen: Wasser, Blut und Geist. Das Zeugnis dieser drei stimmt nach Johannes überein. Hintergrund dieser Benennung der drei Zeugen ist Dtn 19,15, wo festgehalten wird, dass eine Sache durch zweier oder dreier Zeugen Mund gültig sein soll (zitiert in 2Kor 13,1). Darauf scheint auch der jüdische Religionsphilosoph Philo von Alexandrien (ca. 15 v.Chr. – 40 n.Chr.) Bezug genommen zu haben, wenn er festhält: Die Heiligkeit einer Sache muss von drei Zeugen bestätigt sein (Post 96,2). Der jüdische Historiker Flavius Josephus (ca. 37 – nach 100 n.Chr.) stellt noch eine weitere Bedingung auf: Seiner Meinung nach sind zwei oder drei Zeugen nötig, deren Wahrheitsliebe durch ihren Lebenswandel verbürgt ist (Ant 4,291; vgl. Vita 256,3). Diese Anforderung ist wohl der Grund für den Nachsatz in V. 6, wonach der Geist die Wahrheit sei. Wie wichtig die Zuverlässigkeit der Zeugen ist, wird später bei Josephus deutlich, wenn er der Königin Isebel unterstellt, auf ihren Befehl sollten drei verworfene Menschen angestiftet werden, gegen Nabot Zeugnis abzulegen (Ant 8,358). Auch der griechische Philosoph Platon (ca. 428–348 v.Chr.) weiß um die Notwendigkeit dreier Zeugen: Wer eine Bürgschaft übernimmt, soll dies mit Hilfe eines Schriftstückes und vor mindestens drei Zeugen tun (Leg 953e7). Und ein Mensch, der behauptet, vor Gericht von einer Sache nichts zu wis-
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sen, soll einen Eid bei den drei Göttern Zeus, Apollon und Themis darauf ablegen (Leg 936e9). Dass umstrittene Sachverhalte also von drei glaubwürdigen Zeugen bestätigt werden sollten (vgl. auch Mk 18,16), darf als allgemeine antike »Faustregel« gelten und ist der Grund für die Benennung der drei Zeugen in den vorliegenden Versen. In der Aufzählung der Zeugen wird mit V. 9 neu eingesetzt. Offenbar reichen Johannes die drei Zeugen Geist, Wasser und Blut nun doch nicht aus. Jetzt wird Gott selbst als Zeuge benannt. Zum einzigen Mal im ersten Johannesbrief taucht der Begriff Mensch hier auf. Welche Rolle das Zeugnis eines Menschen für Johannes spielt, kann deshalb nur mit Hilfe des Johannesevangeliums deutlich gemacht werden. Zufolge Johannes ist der Mensch – in gleicher Weise wie die Welt – an sich (noch) nicht negativ zu bewerten. Er ist Ziel des Heilswirkens Gottes (vgl. Joh 1,9). Aber die Menschen lieben die Finsternis mehr (Joh 3,19) und stehen daher der Botschaft kritisch gegenüber. So weiß der Jesus des Johannesevangeliums genau, was im Menschen ist (Joh 2,24f). Nach Joh 5,34 nimmt er das Zeugnis von einem Menschen nicht an. Die nahezu gleiche Formulierung findet sich im vorliegenden Bedingungssatz: Wenn wir das Zeugnis der Menschen annehmen … Dieser Bedingungssatz zeigt, dass die Annahme des menschlichen Zeugnisses eine für die Gemeindeglieder – gegen Joh 5,34 – durchaus attraktive Sache sein könnte. Johannes hat hier die Möglichkeit im Blick, sich aufgrund des menschlichen Zeugnisses vom Glauben und von der christlichen Gemeinde abzuwenden. Die Annahme eines menschlichen Zeugnisses entspricht der Verführung, von der in 2,26 und 3,7 die Rede war. Es geht hier um die Abwendung von der christlichen Gemeinde durch das Zeugnis von Menschen. Nach Johannes widersprechen sich das Zeugnis der Menschen und das Zeugnis Gottes. Dieses wird völlig unvermittelt eingeführt. Dementsprechend kann und will auch Jesus auf Gottes Zeugnis nicht verzichten: In Joh 8,12–19 werden unter Verweis auf das Gesetz der Juden von Jesus zwei Zeugen für ihn selbst benannt: er in eigener Person und der Vater, der ihn gesandt hat (Joh 8,18). Es ist genau dieses Gotteszeugnis, von dem im vorliegenden Vers gesprochen ist, das Zeugnis von seinem Sohn. In den vorangegangenen Versen ging es noch um die drei Zeugen Wasser, Blut und Geist. Deren Zeugnis stimmt mit dem Zeugnis Gottes überein. Gott ist größer! Diese Aussage findet sich bereits in 3,20, wo es um die Möglichkeit geht, dass das eigene Herz den Menschen verdammt, aber Gott diese Verdammung aufheben kann. Ähnlich ist die Sachlage hier: Gottes Zeugnis ist größer ist als das Zeugnis der
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Menschen. Dies ist mit Joh 8,18 zu bestimmen als Zeugnis dessen, der seinen Sohn in die Welt gesandt hat (vgl. auch 4,9f). Der Inhalt des Glaubens wird in V. 1 0 in ähnlich verkürzender Redeweise wie in 3,23 beschrieben als Glauben an den Sohn Gottes. In 4,2 und in 5,1 war das noch etwas ausführlicher der Fall gewesen. Dieser Glaube ist Erweis dafür, dass man das Zeugnis Gottes von seinem Sohn, wonach der Sohn von Gott gesandt ist, in sich trägt. Dieses Zeugnis im Glaubenden hat im Grunde dieselbe Funktion wie die Salbung (2,27), die die Wahrheit lehrt (vgl. auch 2,14: Wort Gottes in den jungen Männern). In diesem Zusammenhang war den Glaubenden bescheinigt worden, alle das Wissen zu haben (2,20). Mit Hilfe des Johannesevangeliums war deutlich geworden, dass es auch hier um das Wissen ging, woher der Christus gekommen war und wohin er gehen werde. Genau dies ist auch der Inhalt des Zeugnisses, welches Gott von seinem Sohn gibt. Dass es um das Zeugnis, das Gott gegeben hat, geht, wird deutlich anhand des Fortgangs des Verses: Wer Jesus, den Sohn Gottes, ablehnt, macht demnach Gott zum Lügner. Heiden könnte dieser Vorwurf egal sein, da sie andere Götter haben. Aber Juden muss diese Vorhaltung treffen, da sie ja der Meinung sind, ohne den Glauben an Jesus Christus zu Gott gehören zu können. Während in 2,23 festgehalten wird, dass derjenige, der den Sohn (Jesus) leugnet, auch den Vater (Gott) nicht habe, wird hier eine andere Folgerung aus der Ablehnung Jesu gezogen: Weil nach Auffassung des Johannes Gott selbst Zeugnis abgelegt hat von seinem Sohn, unterstellt jeder, der diesem Zeugnis nicht glaubt, Gott eine Lüge. Nach Überzeugung des Johannes ist aber der Teufel der Lügner und der Vater der Lüge (Joh 8,44). Von daher ist die Argumentationskette Wer den Sohn bzw. Jesus leugnet, macht den Vater bzw. Gott zum Lügner ganz im Sinn der Jesusrede von 8,42–45 und rückt sowohl die Leugner als auch deren Gott selbst in die Nähe des Teufels. Bleibt die Frage, an welcher Stelle nach Auffassung des Johannes Gott Zeugnis abgelegt hat für seinen Sohn. Die Vorstellung von Gottes Zeugnis für Jesus geht auf die Überzeugung zurück, dass es die Tora bzw. die Schrift (also die Offenbarung des Gotteswillens) ist, die von Jesus zeugt (Joh 8,39.46f; vgl. auch Joh 3,31–36 sowie Lk 24,44–48). 5,11–13 Die Gewissheit ewigen Lebens 11
Und das ist das Zeugnis, dass uns Gott ewiges Leben gegeben hat, und das Leben ist in seinem Sohn.
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Wer den Sohn hat, hat das Leben; wer den Sohn Gottes nicht hat, der hat das Leben nicht. 13 Das habe ich euch geschrieben, damit ihr wisst, dass ihr ewiges Leben habt, die ihr glaubt an den Namen des Sohnes Gottes. Mit der Zusage des ewigen Lebens lenkt Johannes in V. 1 1 wieder an den Anfang seines Schreibens zurück und signalisiert, dass er am Ende seiner Abhandlung angekommen ist. Dort hatte er das Wort des Lebens (1,1) als Thema benannt. In Jesus ist das Leben erschienen (1,2). Dies wird jetzt ausdrücklich bestätigt. Wenn Johannes hier verkürzend meint, das Leben sei im Sohn Gottes, so will er damit deutlich machen, dass das ewige Leben nur im Glauben an den Sohn Gottes verliehen wird (vgl. 2,25). Dieses ewige Leben ist bereits jetzt innerhalb der Gemeinde Gegenwart (vgl. 3,14). Wer an Jesus glaubt, hat nach V. 1 2 bereits das ewige Leben (vgl. auch Joh 11,25f). Gerade diese Betonung des Lebens als gegenwärtiges und endzeitliches Heilsgut lässt auf die Gefährdung der einzelnen Gemeindeglieder durch Verrat und Anklagen besonders durch Judenchristen schließen, die aufgrund der staatlichen Unterdrückungsmaßnahmen wieder zur jüdischen Gemeinde zurückgekehrt sind. Dies ist der Grund, weshalb Johannes – sowohl positiv als auch negativ – betont, dass man nur dann im Besitz des Lebens sei, wenn man auch den Sohn habe. Dabei sind die Erfahrungen der Gemeinde im Grunde gegensätzlicher Natur: Das Bekenntnis zu Jesus Christus hat erst einmal ein gefährdetes Leben zur Folge, ja es kann sogar den leiblichen Tod nach sich ziehen (vgl. bes. 3,16). Umso wichtiger ist es, zu betonen, dass dieser leibliche Tod nichts zählt im Vergleich zur Verleihung des (ewigen) Lebens, welches den Glaubenden bereits jetzt zugeeignet ist. Die Formulierung den Sohn haben ist eindeutig eine Abkürzung für den »Glauben an Jesus als den Sohn Gottes«. Und genau diesen Glauben teilen die Juden nicht – insofern haben sie auch nicht den Sohn und dementsprechend nach Johannes auch nicht das Leben. Die hier vorgetragenen theologischen Gedanken liegen also ganz auf der Linie von Joh 3,36; dort wird festgehalten: »Wer an den Sohn glaubt, der hat das ewige Leben. Wer aber dem Sohn nicht gehorsam ist, der wird das Leben nicht sehen, sondern der Zorn Gottes bleibt über ihm.« V. 1 3 wirkt wie eine Kurzzusammenfassung des gesamten Schreibens, das die Überschrift Über das Wort des Lebens (1,1) hat. Deshalb sehen viele Forscher hier den ursprünglichen Schlussvers der Abhandlung. Inhaltlich erinnert die Rede vom Glauben an den Namen des Sohnes Gottes an 3,23; dort wird dieser Glaube als Teil des einen Gebo-
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tes Gottes bezeichnet, während im vorliegenden Vers die Folge aus diesem Glauben genannt wird: das ewige Leben. Hier wird insofern über V. 12 hinausgegangen, als noch einmal deutlich gemacht wird, dass es sich um das zentrale Heilsgut ewiges Leben handelt. Dieses Leben kann von irdischen Gerichten nicht angetastet oder verwehrt werden, auch wenn sie Todesurteile fällen können. Die Erfahrung des irdischen Lebensverlustes kann die Verleihung des ewigen Lebens im Glauben an Jesus Christus durch Gott nicht zerstören. Der vorletzte Hauptabschnitt hat wieder den Glauben zum Thema. Dieser ist für Johannes der Sieg über die Welt. Wer glaubt, gründet seine Existenz auf das Vertrauen zu Gott. Deshalb ist der Glaubende der Welt überlegen, weil seine Identität vom Urteil weltlicher Verfolger und Richter nicht zerstört werden kann, sondern in Gott gesichert ist. Genau dieses Vertrauen auf Gott zeigt sich in dem letzten Wort, das von dem evangelischen Theologen Dietrich Bonhoeffer (1906–1945) überliefert ist. Er soll es kurz vor seiner Hinrichtung durch die Nationalsozialisten gesagt haben: »Das ist das Ende. Und für mich der Beginn des Lebens.« Es ist genau die Glaubensgewissheit, über die man als Christ, dessen Glaube nicht annähernd in dieser Weise gefordert ist, nur staunen kann. Der Glaubende, das Kind Gottes, ist nach Johannes nicht abhängig vom Urteil seiner weltlichen Richter. Als wäre er in einer Gerichtsverhandlung, führt er zunächst drei Zeugen für Jesus an: Wasser, Geist und Blut. Doch diese werden nicht weiter ausgeführt, und es ist, als wäre ihm zwischen der Abfassung von V. 8 und 9 ein neuer Gedanke eingefallen: Gott selbst ist – wie bereits in Joh 8,18 – Zeuge für seinen Sohn. Wer dieses Zeugnis nicht teilt, macht nach Johannes Gott zum Lügner, ein Vorwurf, der gerade diejenigen Judenchristen besonders treffen musste, die im Begriff waren, sich wieder dem Judentum zuzuwenden. Zum Schluss kommt Johannes dann noch einmal auf das zentrale Heilsgut, das ewige Leben, zu sprechen, das im Glauben an Jesus Christus den Kindern Gottes bereits zugeeignet ist. Dieser Zuspruch ergeht bewusst gegen die vorfindliche Gefährdung der Gemeindeglieder. Johannes möchte dadurch sichern, dass innerweltliche Gefahren, ja sogar Tötungen von Gemeindegliedern, die Gabe des ewigen Lebens durch Gott nicht außer Kraft setzen können.
5,14–21 Schlussteil Die Praxis des Glaubens Die letzten Verse des ersten Johannesbriefs sind immer wieder als spätere Zufügung bezeichnet worden – ähnlich dem Nachtragskapitel Joh 21. Schließlich sei 5,13 doch als Briefschluss zu verstehen. Doch ist auch Vers 2,26 genauso eingeleitet: Dies habe ich euch geschrieben … Darüber hinaus findet sich keine einzige antike Handschrift, die den ersten Johannesbrief bereits mit 5,13 enden lässt. Natürlich könnte es sein, dass die Verse 5,14–21 später (allerdings sehr bald nach Fertigstellung des Schreibens) angefügt wurden, zumal sich die Vorstellung von einer Sünde zum Tode und einer Sünde nicht zum Tode sonst nicht in der Abhandlung finden. Aber es ist fraglich, ob diese Beobachtung zur Abtrennung der Verse vom eigentlichen Brief ausreicht. Tatsächlich verstehen sich die betroffenen Verse offenbar als praktische Anwendung des bisher Geschrieben, wobei zentrale Aussagen des vorangegangenen Schreibens noch einmal kurz anklingen: Es geht um die frohe Zuversicht vor Gott (2,28; 3,21; 4,17) ebenso wie um die Gebetserhörung (3,22) und um die Sündenvergebung (1,9 –2,2.12). Die Gotteskindschaft bzw. die Geburt aus Gott (2,29 – 3,7) werden hier auch noch einmal erwähnt wie die Sündlosigkeit (3,9) und die Überwindung des Bösen (2,13f). Auch die Gefahren in der Welt (vgl. 2,15–17) spricht Johannes jetzt noch einmal an, das Gekommensein Jesu (5,6) und die Erkenntnis des wahrhaftigen (2,7) Gottes (4,6). Dass als letztes Heilsgut (vor der allerletzten Mahnung [5,21]) noch das ewige Leben genannt wird, macht erneut den kreisförmigen Gedankengang des Johannes deutlich, weil hierdurch zum Wort des Lebens (1,1) zurückgelenkt wird. 5,14–15 Gebetserhörung 14
Und das ist die frohe Zuversicht, die wir gegenüber Gott haben: Wenn wir um etwas bitten nach seinem Willen, hört er uns. 15 Und wenn wir wissen, dass er uns hört, worum wir bitten, wissen wir, dass wir die Bitten (erfüllt) bekommen, die wir von ihm erbeten haben.
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5,14–15
Zum vierten Mal in diesem Schreiben taucht in V. 1 4 der Begriff frohe Zuversicht auf. Inhaltlich bezieht sich die hier geäußerte Vorstellung auf 3,21f. Hier wie dort geht es um die frohe Zuversicht gegenüber Gott. Sein Urteil ist das entscheidende. Dass diese Zuversicht auch Auswirkungen auf die Existenz der Glaubenden vor einem weltlichen Richter hat, ist bei der Auslegung zu 4,17 bereits deutlich geworden. Ähnlich wie in 3,21f schließt sich an die Aussage der Zuversicht gegenüber Gott die Gewissheit der Gebetserhörung an. Die Behauptung, dass Gott die Bitten der Glaubenden hört, ist im Grunde eine steile These. Es ist damit zu rechnen, dass in den Gemeinden immer wieder die Frage gestellt wurde, weshalb Gott flehentlichen Bitten um Befreiung aus der Gefährdungssituation nicht zu erhören scheint. Demgegenüber stellt Johannes jetzt fest: Gott hört und erhört uns. Die Gewissheit der Gebetserhörung ist die frohe Zuversicht. Dabei wird nicht einfach jedes Gebet gehört (!), sondern jedes Gebet nach seinem Willen. Im Grunde wird dadurch die Aussage von 3,21f auch genauer, denn dort war nur darauf verwiesen worden, dass die Glaubenden tun, was Gott wohlgefällig ist. Nach 2,17 geht es darum, den Willen Gottes zu tun. Das Bitten nach Gottes Willen ist also ein Sich-Fügen des Glaubenden in den Willen Gottes, ein Einswerden mit dem Willen Gottes. Relativ selten ist im Neuen Testament die Redeweise vom Hören Gottes im Sinne von erhören. So stellt Jesus bei der Auferweckung des Lazarus fest, dass Gott ihn erhört habe (Joh 11,41f). Nach Joh 9,31 (er)hört Gott die Sünder nicht einfach so, sondern nur diejenigen, die seinen Willen (!) tun. Diese Anspielungen auf Verse im Johannesevangelium zeigen, dass Johannes auch hier festhalten möchte: Gott ist kein Erfüller der menschlichen Wünsche, aber steht zu seinen Verheißungen, konkret: der Verleihung ewigen Lebens (2,17.25) – trotz der Gefahr, verraten, angeklagt und vielleicht sogar getötet zu werden, entsprechend dem Jesuswort aus Joh 12,25: Wer sein Leben lieb hat, der wird‘s verlieren; und wer sein Leben auf dieser Welt hasst, der wird‘s erhalten zum ewigen Leben. Die Einleitung zu V. 1 5 scheint direkt Bezug zu nehmen auf die Notiz von Joh 9,31, wonach Gott diejenigen hört, die seinen Willen tun. Deshalb kann Johannes voraussetzen, dass die Glaubenden um die Erhörung ihrer Bitten durch Gott wissen; denn sie tun ja seinen Willen (2,17) und bitten nur um das, was nach Gottes Willen gut und richtig für sie ist. Die im vorangegangenen Vers gemachte Einschränkung muss hier nicht wiederholt werden, weil sich Johannes bewusst ist: Die Gotteskinder bitten sowieso nur um das, was ihr Vater ihnen auch geben wird. Er setzt hier sogar voraus, dass die Bitten der Glaubenden
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durch Gott bereits erfüllt sind: Wir haben (bereits) das, worum wir eigentlich gebeten haben: das ewige Leben (3,14; 5,11–13). Mit den von Johannes gemachten Einschränkungen wird im Hinblick auf das Gebet Folgendes deutlich: Gott ist für Johannes kein Erfüller menschlicher Wünsche. Die Glaubenden wünschen sich natürlich, dass sie aus ihrer Gefährdungssituation befreit werden. Wenn ihnen jetzt zugesagt wird, dass sie erhalten werden, worum sie auch bitten, dann ist damit in Rechnung gestellt, dass die Art und Weise, in der Gott die Bitten erfüllen wird, eine andere sein kann als die, die sich die Gotteskinder vorgestellt haben. Die Verleihung des ewigen Lebens kann auch dadurch erfolgen, dass man das irdische Leben für den Glauben an Jesus und für die Glaubensbrüder aufs Spiel setzt (3,16) und verliert (vgl. Joh 12,25). Mit anderen Worten: Johannes ist sich gewiss, dass Gott die Bitten seiner Kinder hört und auf seine Weise auch erfüllen wird. In seinem Schreiben wirbt er um dieses Vertrauen in die Führung Gottes, des Vaters seiner Kinder. 5,16–18 Sünde (nicht) zum Tod 16
Wenn jemand seinen Bruder eine Sünde nicht zum Tode begehen sieht, soll er bitten, und er (Gott) wird ihm Leben geben, denen, die nicht zum Tode sündigen. Es gibt eine Sünde zum Tode; bei der sage ich nicht, dass man bitten soll. 17 Jede Ungerechtigkeit ist Sünde; und es gibt Sünde nicht zum Tode. 18 Wir wissen, dass, wer aus Gott geboren ist, der sündigt nicht, sondern wer von Gott geboren wurde, den bewahrt er (Gott), und der Böse tastet ihn nicht an. Anscheinend kommen Johannes jetzt aber doch Zweifel, ob die Angesprochenen wirklich wissen, worum sie Gott bitten dürfen und worum nicht. Deshalb stellt er sich in V. 1 6 die Frage, ob man Gott für einen vom Christentum abgefallenen Bruder bitten dürfe, und beantwortet diese mit einem »eindeutigen« Ja und Nein. Seiner Meinung nach muss man die Sünden einteilen in Sünde zum Tode und Sünde nicht zum Tode. Diese Unterscheidung wurde vorher nicht ausdrücklich genannt, aber wohl vorausgesetzt: Nach 1,7 gelten die Glaubenden als von Jesus gereinigt von allen Sünden, aber nach 1,9f sollten sie ihre Sünden bekennen, damit diese ihnen vergeben werden könnten. Dies entspricht exakt der auch sonst im Schreiben verwendeten Begrifflichkeit: Johannes unterscheidet nämlich zwischen den Kindern Gottes (3,1; 5,2) und den Brüdern. Zur Gruppe der Letztgenannten können auch diejenigen gehören,
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die im Verdacht stehen, die christliche Gemeinde wieder zu verlassen und in diesem Sinne die anderen Brüder hassen – das Beispiel von Kain in 3,11–15 hat dies deutlich gemacht. Anders gesagt: Auch wer sündigt, kann deshalb immer noch ein Bruder sein. Deshalb führt Johannes hier den Begriff Sünde nicht zum Tode ein. Dagegen sind die Kinder Gottes diejenigen, die wirklich Gottes Samen in sich tragen; diese können im Grunde gar nicht sündigen, d.h. von der Gemeinde abfallen. Der Sünder zum Tode hat sich dann aber endgültig vom (ewigen) Leben verabschiedet. Das bedeutet, er hat durch seinen Weggang aus der christlichen Gemeinde und einem damit einhergehenden Verrat oder einer Anzeige von Gemeindegliedern bei einem staatlichen Gericht das ihm in Aussicht gestellte ewige Leben endgültig verspielt. Er ist – um es mit Worten aus 3,14 zu formulieren – aus dem Leben in den Tod gekommen. Die Sünde zum Tode kann nicht nur nicht vergeben werden, sondern man soll auch für diejenigen, die sie getan haben, nicht mehr bitten. Solche Leute haben sich endgültig und unwiderruflich von der Gemeinde distanziert. Illustriert wird diese Sünde im Johannesevangelium durch den Verrat des Judas, der damit zweifellos eine große Sünde begangen hat (Joh 19,11) und dementsprechend nicht rein von Sünde ist (Joh 13,10f). Wer also den Bruder verrät, gilt als Menschenmörder – und nach 3,15 hat kein Menschenmörder das ewige Leben bleibend in sich. Johannes ruft nicht zum Hass gegen diese Sünder zum Tode auf, sondern meint hierzu – fast wie ein Politiker: Zur Frage, ob man bei einer Sünde zum Tode für den Betreffenden bitten soll: kein Kommentar! Im Grunde gelten diejenigen, die sich offen von der Gemeinde losgesagt haben, für die Gotteskinder und für Gott und Jesus als verloren. Aber die Tatsache, dass das Gebot der gegenseitigen Liebe für Johannes im Grunde schrankenlos ist (vgl. unten S. 148f), lässt Johannes davor zurückschrecken, eine Fürbitte zu verbieten oder vor dieser zu warnen. Er deutet mit dem Satz (Bei der Sünde zum Tode sage ich nicht, dass jemand bitten soll) an, dass eine Sünde zum Tode für die Gemeindeglieder im Grund nicht von einer Sünde nicht zum Tode zu unterscheiden ist. Deshalb überlässt er ihnen die Entscheidung, ob sie für die anscheinend Verlorenen bei Gott bitten wollen, ebenso wie er Gott die Entscheidung für deren endzeitliches Schicksal überlässt. Es wäre durchaus denkbar, dass Johannes unter der Sünde nicht zum Tode kleinere Tatsünden versteht, die durch Jesus vergeben werden können. In diesem Fall bezöge er sich auf 1,9 – 2,2. Dort hält Johannes fest, dass Jesus von den Sünden reinigt. Wenn Jer aber unter Sünde in erster Linie den Unglauben versteht, dann geht
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es bei der Sünde nicht zum Tode um Glaubensschwäche. Im Hintergrund ist hier die Erfahrung, dass ein Bruder auf Nachfrage hin nicht freimütig seinen Glauben bekannt hat – ähnlich wie Petrus, der Jesus dreimal verleugnet hat (Joh 18,17.25.27). Eine solche situative Schwäche ist für Johannes eine Sünde nicht zum Tode. Dass diese tatsächlich nicht zum Tod führen muss, ist anhand von Joh 21,15–19 deutlich. Der einmal angefochtene und im Grunde gescheiterte Jünger bekommt erneut den Auftrag zur Nachfolge – auch wenn diese sein Martyrium bedeuten kann (Joh 21,19). Demjenigen, der also einmal im Glauben schwach war, wird Gott auf Bitten hin (wieder) das Leben geben, d.h. ihn in die Gottesfamilie wieder aufnehmen. Dies gilt aber nur für Sünden nicht zum Tode. Und wenn im Johannesevangelium das Martyrium des Petrus noch angedeutet wird (Joh 21,18f), bedeutet dies erneut: Das irdische Leben kann durch Verfolgung zwar gewaltsam beendet werden, aber dieser leibliche Tod hat keinerlei Auswirkung auf die Verleihung ewigen Lebens durch Gott (vgl. Joh 12,25). Abschließend betont Johannes in V. 1 7 noch einmal, dass Sünde in keinem Fall ein Kavaliersdelikt ist. Sünde – egal ob Sünde zum Tode oder Sünde nicht zum Tode, d.h. egal ob Verleugnung bzw. Verrat oder Anklage – ist immer ernst zu nehmen, ist immer Ungerechtigkeit, von der die Christen durch Jesus eigentlich gereinigt sind (1,9; vgl. 3,7). Aber es gibt noch die Möglichkeit, zur Gemeinschaft der Kinder Gottes und damit zum Leben zurückzukehren. Insofern nimmt Johannes hier wieder Bezug auf den Anfang des Schreibens: Das Bekenntnis des eigenen Zweifels oder der Schwäche in einem konkreten Bekenntnisfall kann zur Vergebung und damit wieder zurück zur Gotteskindschaft führen; anders gesagt: Es gibt die Sünde nicht zum Tode. Der Begriff Sünde veranlasst Johannes in V. 1 8, die prinzipielle Unvereinbarkeit der Gotteskindschaft bzw. der Geburt aus Gott und der Sünde noch einmal festzustellen. Wer aus Gott geboren ist, wer den Samen Gottes in sich trägt (3,9), glaubt, dass Jesus der Christus ist (5,1) und gehört damit zu Jesus, der ihn von der Sünde, d.h. vom Unglauben, gereinigt hat (1,7). Deshalb kann er jetzt auch eigentlich gar nicht mehr sündigen (3,9), also abfallen. Das in diesem Zusammenhang verwendete Wort bewahren taucht im vorliegenden Schreiben mehrfach in einem ganz anderen Zusammenhang auf: In 2,3–5; 3,22–24 und 5,3 geht es um das Halten bzw. Bewahren der Gebote. Wenn also jetzt mit dem gleichen Verb davon gesprochen wird, dass Gott die von ihm Geborenen bewahrt, dann wirkt das wie die Kehrseite der Medaille. Johannes erfährt die (eigene) Standhaftigkeit im Glauben, das Halten des Gebotes, an den Namen seines Sohnes Jesus Christus zu glauben (3,23), nicht
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als Ergebnis eigener Kraftanstrengung, sondern als Bewahrung durch Gott selbst. Wenn Glaubende in Anfechtung standhaft bleiben, ist das auf Gottes Wirken zurückzuführen. Der Böse ist bereits in 2,14f als von den jungen Männern überwunden bezeichnet worden. In diesem Zusammenhang hat die vorliegende Auslegung deutlich zu machen versucht, dass mit dem Bösen verschlüsselt kein anderer als der römische Kaiser (wahrscheinlich Domitian) gemeint sein kann. Dieser ist für Johannes der irdische Repräsentant des Teufels, denn nach Joh 6,70 und 13,2 ist der Böse kein anderer als der Teufel, der Widersacher Gottes und Jesu. Eine derartige Verschlüsselung ist notwendig, um die innere Auflehnung gegen den die christliche Botschaft unterdrückenden heidnischen Staat nicht zu offenbaren und sich dadurch noch weiter angreifbar zu machen. Wenn Johannes hier jetzt festhält, dass der Böse – gemeint ist damit auch der irdische Repräsentant des Bösen, der Statthalter, der über das Kind Gottes zu Gericht sitzt – den aus Gott Geborenen nicht antastet, dann heißt das: Keine noch so große Gefährdung kann das Heilsbewusstsein des Glaubenden aufheben oder zerstören. Das irdische Leben könnte ihm zwar genommen werden, aber niemals das ewige (5,11.13). 5,19–20 Die Situation der Gemeinde in der Welt 19
Wir wissen, dass wir aus Gott sind, aber die ganze Welt liegt im Bösen. 20 Wir wissen aber, dass der Sohn Gottes gekommen ist und uns die Einsicht dafür gegeben hat, dass wir den Wahrhaftigen erkennen. Und wir sind in dem Wahrhaftigen, in seinem Sohn Jesus Christus. Dieser ist der wahrhaftige Gott und das ewige Leben. Deshalb vergewissert Johannes sich und seine Adressaten am Ende seines Schreibens (V. 1 9) noch einmal, dass sie alle aus Gott sind, d.h. von Gott abstammen und zu Gott gehören. Aus Gott zu sein ist für ihn ähnlich wie die Formel aus Gott geboren zu sein, denn beide Aussagen haben – zumindest teilweise – dieselben Folgen: Überwindung der Welt (vgl. 4,4 mit 5,4) und Kenntnis Gottes (vgl. 4,7 mit 4,6). Neu ist die Einschätzung, dass die ganze Welt im Bösen liege. Dies bedeutet nichts anderes als, dass die Welt unter der Macht des Bösen steht. Der tatsächliche Herrscher der Welt – und damit der Böse –, ist zur Zeit der Abfassung des vorliegenden Schreibens der Kaiser in Rom. Diesen als Menschwerdung des Teufels zu sehen legt sich auch deshalb nahe, weil dieser selbst göttliche Verehrung
1Joh 5,19–20
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beanspruchte, indem er sich als Herr und Gott (lat. dominus et deus) anbeten ließ. Dass bereits das Johannesevangelium dagegen Position bezieht, zeigt sich an der Anrede mein Herr und mein Gott durch den Zweifler Thomas gegenüber dem Auferstandenen (Joh 20,28). Zum dritten Mal hintereinander leitet Johannes in V. 2 0 einen Gedanken mit Wir wissen … ein. Nach V. 18 wissen wir, dass der aus Gott Geborene nicht sündigt, nach V. 19, dass wir von Gott abstammen, die Welt aber in der Hand des Bösen liegt, und jetzt wissen wir, dass der Gottessohn gekommen ist und uns den Sinn dafür gegeben hat, den Wahrhaftigen zu erkennen. Mit Hilfe dieses Stilmittels des gleichen Satzanfangs (Anapher) unterstreicht Johannes die Heilsgewissheit. Er zeigt: Glaube an Jesus (vgl. 3,23) heißt nicht »nicht wissen«, sondern Glaube ist eine feste Überzeugung. Es geht ihm um die Gewissheit, dass die Glaubenden – trotz aller Gefahren und Gefährdungen – vom Bösen nicht angetastet werden (können). Der Grund hierfür liegt im Wissen um das Gekommensein des Gottessohnes, der den Glaubenden das dazugehörige Erkenntnisvermögen geschenkt hat. Ähnlich wie bei Paulus (1Kor 2,12; 2Kor 4,6) führt Johannes die Glaubenserkenntnis auf das Wirken des Geistes zurück (3,24; 4,2; 5,6–8). Wenn er im vorliegenden Zusammenhang nicht vom Geist spricht, sondern vom Gottessohn, der den Sinn zur Erkenntnis des Wahrhaftigen gibt, dann tut er dies lediglich, weil er hier abkürzend und zusammenfassend schreibt. Der Wahrhaftige, von dem Johannes hier spricht, ist Gott selbst. Er ist derjenige, der seinen Sohn gesandt und damit die Offenbarung der Wahrheit bewirkt hat. So spricht Jesus in Joh 7,28 von dem Wahrhaftigen, der ihn gesandt habe und den seine Gesprächspartner nicht kennen – und auch im hohenpriesterlichen Gebet bezeichnet Jesus die Erkenntnis des wahrhaftigen Gottes und des von ihm gesandten Sohnes Jesus Christus als ewiges Leben (Joh 17,3). Der vorliegende Vers ist wie eine Antwort auf dieses Gebet Jesu: Ja, wir wissen, dass der Gottessohn gekommen ist, und erkennen den wahrhaftigen Gott. Zur Sicherheit betont Johannes noch einmal mit anderen Worten die innere Verbundenheit der Glaubenden mit Gott und Christus: Wir sind in ihm und in seinem Sohn! Die Glaubenden sind mit Gott und Jesus buchstäblich innig verbunden; und diese Verbindung ist durch keine innerweltliche Gefährdung zerstörbar. Denn durch diese innere und innige Verbindung mit dem wahrhaftigen Gott erhalten sie – so die Gewissheit des Johannes – das ewige Leben (vgl. 1,1f; 2,17.25; 3,15; 5,11.13). Damit nimmt der vorliegende Vers wieder Bezug auf das Thema des Schreibens: das Wort des Lebens (1,1).
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1Joh 5,21
5,21 Abschließende Ermahnung 21
Kinderchen, hütet euch vor Götzen!
Das Schreiben schließt mit der Mahnung, sich vor den heidnischen Götterbildern, den Götzen, zu hüten. Dieser Satz unterstützt die bisher vorgetragene Darstellung: Johannes warnt davor, (auf Kosten des eigenen Seelenheils) heidnische Götter anzubeten. Dies geschieht, wenn man sich von der christlichen Gemeinde distanziert, Christen verrät und/oder vor heidnischen Gerichten anklagt. Mit dem heidnischen Staat gemeinsame Sache zu machen, ist für Johannes gleichbedeutend mit der Anbetung des Kaisers und damit heidnischer Götzen. Literarisches Beispiel hierfür ist die Haltung der Hohenpriester im Prozess Jesu: Als Pilatus den König der Juden, Jesus, eigentlich freigeben will, weil er ihn für unschuldig hält (Joh 18.38; 19,6.12), halten diese ihm entgegen: Lässt du diesen frei, so bist du des Kaisers Freund nicht; denn wer sich zum König macht, der ist gegen den Kaiser (Joh 19,12; vgl. 19,15: Wir haben keinen König als den Kaiser). Damit machen sie sich zum Komplizen des Kaisers, des Repräsentanten des Teufels auf der Erde, des Bösen (vgl. 2,13f; 3,12; 5,18). Nach Johannes ist also das Abhängigkeitsverhältnis derer, die Gemeindeglieder vor heidnischen Gerichten anzeigen und anklagen, vom Bösen darin begründet, dass sie durch ihr Handeln die heidnischen Götterbilder anbeten und damit dem Bösen huldigen. Überwindung des Bösen geschieht nach Johannes durch das Wissen, selbst aus Gott und nicht aus dieser Welt zu sein (5,19; vgl. Joh 19, 36), d.h. durch die Erkenntnis des Bösen und durch Verweigerung der Unterwerfung. Im recht kurzen Schlussabschnitt (5,14–21) bietet Johannes so etwas wie eine »praktische Gebrauchsanleitung« des bisher Gesagten. Ganz konkret geht es zunächst um die Frage der Gebetserhörung, die offenbar in den Adressatengemeinden immer wieder gestellt worden war. Nichts deutete für sie darauf hin, dass sie aus ihrer schwierigen Gefährdungssituation befreit werden könnten. Stattdessen wandten sich immer wieder Menschen von ihnen ab und verrieten einzelne Glaubende an die römische Statthalterschaft. Johannes stellt demgegenüber fest, dass die Gotteskinder von Gott die Gabe bereits erhalten hätten, worum sie ihn im Grunde ihres Herzens bitten: das ewige Leben. Dieses kann ihnen kein Richter wieder nehmen. Einzig sie selbst könnten dieses Leben verspielen, wenn sie selbst den Verrat an den Brüdern begehen. Dies bezeichnet er als »Sünde zum Tod« und
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deutet damit an, dass man in einem solchen Fall den entgegengesetzten Weg zu 3,14 geht: Dann geht man vom Leben in den Tod. Für Verräter soll man dann auch nicht mehr bitten. Die in 5,16f vorgenommene Unterscheidung von der Sünde zum Tode und der Sünde nicht zum Tode (vgl. auch 1,6 – 2,2) hat in der römisch-katholischen die Lehre von der Unterscheidung zwischen Todsünden und lässlichen Sünden hervorgebracht. Unter lässlichen Sünde verstand man kleine und entschuldbare Verstöße gegen den Nächsten und gegen Gott; diese haben nicht die endzeitliche Verdammung zur Folge. Als Todsünden galten schwere, bewusste und vorsätzliche Übeltaten; konkret werden gegenwärtig folgende sieben Todsünden genannt: Stolz, Habsucht, Neid, Zorn, Unkeuschheit, Unmäßigkeit und Trägheit (bzw. Überdruss). Problematisch an dieser Unterscheidung ist die Frage, wo sich genau die Trennlinie zwischen lässlichen Sünden und Todsünden befindet. Die Willkür einer solchen Unterscheidung zeigt sich auch an der Tatsache, dass zum zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965) noch der Besuch einer evangelischen Kirche und der Besitz einer Lutherbibel oder die Lektüre darin zu den Todsünden gezählt wurden. Bei Johannes bleibt im Grunde offen, welche Art Sünde er unter der Sünde zum Tode versteht. Sein geradezu diplomatischer Satz, dass er es seinen Adressaten überlassen möchte, ob sie für diejenigen bitten wollen, die zum Tode gesündigt haben (Bei der Sünde zum Tode sage ich nicht, dass man bitten soll), macht deutlich, dass es aus menschlicher Sicht die Grenze zwischen Sünde zum Tode und Sünde nicht zum Tode nie sauber gezogen werden kann. Für die Glaubenden gilt immer noch das ganz allgemein verstandene Gebot, einander zu lieben; aus diesem Gebot ist prinzipiell keiner ausgeschlossen, auch kein »verdächtiger« Bruder (vgl. unten S. 148f). Deshalb kann Johannes auch über keinen, der eine Sünde zum Tod verübt (d.h. wahrscheinlich die Gemeinde verlassen) hat, das Urteil in der Weise sprechen: Du hast (mit deinem Weggang) eine Sünde zum Tod getan; deshalb darf man nicht für dich bei Gott Fürbitte leisten. Die Entscheidung, ob ein Mensch sein endzeitliches Heil – Johannes würde sagen: sein Leben – verwirkt hat oder nicht, liegt allein bei Gott. Schließlich nimmt Johannes eine zentrale Formulierung wieder auf, wenn er die Adressaten auf ihre Geburt aus Gott anspricht; dadurch sind sie geschützt in allem, was ihnen auch passieren mag. Gott hält seine Hand bewahrend über seine Kinder. Der vorletzte Vers hält noch einmal fest, dass es nur durch Jesus Christus einen Bezug zu Gott selbst geben kann. Nur durch ihn kann Gott erkannt werden, und deshalb kann man nur durch Jesus Christus das ewige Leben erlangen. Die Schlusswarnung rückt die Verräter der christlichen Gemeinde noch einmal ganz nah an das Heidentum. Wer sich von den
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Gotteskindern abwendet und diese an die heidnische Obrigkeit verrät, betet nach Auffassung des Johannes den Kaiser an. Dieser ist der eigentliche Gegner der christlichen Gemeinden und Urheber des sozialen Drucks auf die Kinder Gottes; deshalb warnt Johannes zum Abschluss noch einmal: »Kinderchen, hütet euch vor den Götzen!«
Die Botschaft des ersten Johannesbriefs
I.
Die Situation
1. Verhältnisbestimmung Johannesevangelium – erster Johannesbrief Wie die Auslegung gezeigt hat, setzt der erste Johannesbrief das Johannesevangelium voraus. Viele Aussagen des Briefs sind nur durch das Johannesevangelium verstehbar. Und in der Auslegung wurden dementsprechend immer wieder auch mit Hilfe des Johannesevangeliums einzelne Aussagen interpretiert. So verlangt etwa die offenbar ganz selbstverständliche Verwendung des Begriffes Vater für Gott in 1,2, dass den Adressaten deutlich zu sein scheint, weshalb Gott als Vater bezeichnet werden kann. Der entsprechende Befund im Johannesevangelium dazu sieht folgendermaßen aus: Dort gilt Gott – mit einer Ausnahme: 20,17 – durchgängig als Vater Jesu Christi (vgl. nur Joh 2,16; 5,17–36 u.ö.). Zwischen Jesus und Gott herrscht ein einzigartiges Vertrauensverhältnis (vgl. nur Joh 10,15.30; 14,9). Jesus ist der von seinem Vater Gekommene, der auf der Erde wirkt, und zum Vater zurückkehrt (Joh 1,14; 20,17). Erst nach seiner Auferstehung wird (erstmals im Johannesevangelium) Gott von Jesus selbst als Vater der Jünger bezeichnet (Joh 20,17). Die an Jesus Glaubenden sind somit Kinder Gottes. Diese Vorstellung wird im Johannesevangelium nur angebahnt, im ersten Johannesbrief aber ausgeführt (vgl. nur 3,1). Von daher legt sich die Vermutung nahe, dass das Johannesevangelium zeitlich kurz vor dem ersten Johannesbrief verfasst worden ist. Es wurde bereits festgestellt, dass der erste Johannesbrief formal kaum Kennzeichen eines Briefs aufweist, sondern eher – ähnlich wie die wissenschaftlichen Abhandlungen des Aristoteles – traktatähnlich argumentiert. Von daher ist es durchaus wahrscheinlich, dass der erste Johannesbrief eine Verstehenshilfe für das Johannesevangelium sein möchte, wenn er immer wieder eine (angesichts einer besonderen gemeindlichen Situation) Interpretation johanneischer Aussagen liefert. Deshalb kann man auch vermuten, dass der erste Johannesbrief so etwas wie ein Begleitschreiben des Johannesevangeliums sein will. Er setzt nämlich bei seiner Leserschaft nicht nur eine Kenntnis um das Leben, Sterben und Auferstehen Jesu voraus, sondern ganz
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konkret eine Kenntnis der Darstellung des Johannesevangeliums. Anders ist die Aufforderung, so zu leben, wie Jesus gelebt habe (2,6) nicht zu erklären, zumal später das irdische Wirken Jesu mit der gleichen außergewöhnlichen Formulierung beschrieben wird wie bereits im Johannesevangelium: Jesu Leben war ein Leben für die Seinen (10,11; vgl. 1Joh 3,16). Der erste Johannesbrief bezieht sich also immer wieder auf das Johannesevangelium und will auch mit dessen Hilfe interpretiert werden. Beide Schriften sind im gleichen historischen Kontext kurz hintereinander entstanden und stammen möglicherweise sogar von demselben Verfasser – auf jeden Fall aber aus derselben theologischen Schule, das heißt: Der erste Johannesbrief könnte gut von einem Schüler des Verfassers des Johannesevangeliums geschrieben worden sein. 2. Die christliche Gemeinde – gefährdet von staatlichen Maßnahmen Zur Zeit der Abfassung des ersten Johannesbriefs stehen vielleicht noch nicht ganze christliche Gemeinden, aber doch mindestens einzelne Christusbekenner unter großem staatlichen Druck. Der Begriff Verfolgung taucht nicht zufällig im ersten Johannesbrief nicht auf. Wenn aber immer wieder juristische Kategorien bemüht werden, um die Argumentation des Verfassers darzustellen, legt dies die Vermutung nahe, dass Christen sich häufig vor staatlichen Gerichten zu verantworten hatten, ohne dass davon auszugehen ist, dass eine planvolle Aufspürung und Verfolgung der christlichen Gemeinden durch den Staat stattgefunden hat. Es ist damit zu rechnen, dass Christen auch von jüdischer Seite bei staatlichen Instanzen angezeigt wurden. Im Verlauf der Auslegung war deutlich geworden, dass der erste Johannesbrief im ausgehenden 1. Jahrhundert in der Regierungszeit Domitians abgefasst wurde (vgl. 2,14). Unter diesem Kaiser hat es wohl keine ausdrückliche Christenverfolgung gegeben; außerchristliche Quellen wissen jedenfalls nichts davon; erst die altkirchliche Tradition bezeichnet Domitian als Christenverfolger (vgl. Euseb, HistEccl 3,18,4; Tertullian, Apol 5,4; Laktanz, MortPers 3). Diese Nachrichten sind aber sehr spät und besitzen keinen eigenständigen Quellenwert (so behauptet Euseb, dass Flavia Domitilla wegen ihres Bekenntnisses zu Christus verbannt worden sei). Der historische Hintergrund der Gefährdungssituation ist dabei folgender: Die Juden, die gemäß der Tora lebten, unterschieden sich charakteristisch von den Heiden ihrer Umwelt durch die Verweigerung des Kaiserkults und der damit einhergehenden Befreiung vom
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Dienst in den Legionen. Dieser wäre außerdem immer wieder in Konflikt mit der Einhaltung des Sabbatgebotes geraten. In der Regel wurde diesen Juden im Römischen Reich auf Antrag bei den Behörden das Recht auf Sabbateinhaltung, die Befreiung von der Teilnahme an den städtischen Kulten sowie die Erlaubnis erteilt, jedes Jahr eine Steuer für den Unterhalt des Tempels nach Jerusalem zu schicken. Mit der Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahr 70 n.Chr. war diese Steuer in Höhe von zwei Drachmen pro Kopf im Jahr überflüssig geworden. Es gab ja keinen Tempel mehr, an den das Geld zu entrichten war. Die Römer bestimmten aber, dass die »Judensteuer« nun an den Tempel des Jupiter Capitolinus in Rom zu zahlen sei. So wurde aus der Judensteuer eine verhüllte Kriegsentschädigung. Der Nachteil, der den Juden daraus erwuchs, war das religiöse Ärgernis, für einen heidnischen Gott Steuern zahlen zu müssen – tatsächlich »erkauften« sie sich damit ihre Religionsfreiheit. Auffällig ist, dass der römische Kaiserbiograph Sueton (70 – ca. 130 n.Chr.) ausdrücklich betont, besagte Steuer sei von denjenigen gefordert worden, die der jüdischen Lebensweise folgten, ohne sich offiziell zum Judentum zu bekennen (qui vel inprofessi Iudaicam viverent vitam). Daneben sollten aber auch diejenigen herangezogen werden, die ihre jüdische Abstammung zu verheimlichen suchten und auf diese Weise bisher die zusätzlichen Steuer umgehen konnten (vel dissimulata origine imposita genti tributa non pependissent). Diese Näherbestimmung der Steuerpflichtigen macht bereits deutlich, dass neben den früheren Juden (Judenchristen) auch die Gottesfürchtigen, aber dann auch die klassischen Heidenchristen aus römischer Sicht die Judensteuer zu zahlen hatten. Unter Gottesfürchtigen (vgl. Apg 10,2.22.35; 13,16.26 sowie Josephus, Ant 14,110) sind diejenigen Heiden zu verstehen, die von der Glaubenslehre und der hohen Ethik des Judentums angezogen worden waren, die wahrscheinlich auch Gottesdienste in Synagogen besuchten, die aber aufgrund der vielen rituellen Gebote, zu denen auch die Beschneidung gehörte, einen ausdrücklichen Übertritt zum Judentum scheuten. Diese Sympathisanten des Judentums – wie sie in der Forschung immer wieder bezeichnet werden – waren natürlich für die christliche Verkündigung sehr empfänglich. Und es ist zweifellos so gewesen, dass gerade unter ihnen die christliche Mission besonders erfolgreich war. Hinzu kommt, dass mit einer nicht unerheblichen Anzahl von Anzeigen wegen jüdischen Lebenswandels zu rechnen ist. Die Bezichtigung, nach jüdischer Weise zu leben, hatte allerdings – wie der römische Geschichtsschreiber Cassius Dio (ca. 163–229 n.Chr.) berichtet – nicht nur finanzielle Folgen für die Angezeigten. So ließ
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Domitian den Acilius Glabrio wegen Gottlosigkeit und dessen Hang zu jüdischen Sitten verbannen und in der Verbannung hinrichten (Cassius Dio, Römische Geschichte 67,14,3; vgl. Sueton, Domitian 10). Auch ein Flavius Clemens wurde wie auch viele andere wegen Gottlosigkeit, derentwegen auch viele andere zum Tode verurteilt wurden, die zu den Sitten der Juden neigen, angeklagt und hingerichtet (Cassius Dio 67,14,1f; vgl. Sueton, Domitian 15,1). Die Anklage jüdischer Lebensweise brachte in besonderer Weise Nichtjuden in Gefahr. Denn wenn sich herausstellte, dass sie keine Juden waren, konnten sie wegen Atheismus belangt werden und damit unter Umständen sogar des Kapitalverbrechens Hochverrat (maiestas, d.h. Vergehen gegen die Majestät des Staates) beschuldigt werden. Dies betraf wohl in erster Linie diejenigen unter den Heidenchristen, die der Oberschicht zuzurechnen sind, aber auch Militärangehörige. Denn diese waren in besonderer Weise dem Kaiser verpflichtet. Den Begriff Hochverrat konnte man traditionell sehr weit auslegen. Nicht zufällig stellt der Johannesevangelist den Prozess Jesu im Johannesevangelium wie einen Hochverratsprozess dar, in dem Pilatus den Juden ihren König präsentiert: Seht, das ist euer König (Joh 19,14), woraufhin die Juden feststellen: Wir haben keinen König außer dem Kaiser (Joh 19,15). Bei einem solchen Hochverratsprozess konnte außerdem der Ankläger, sofern der Angeklagte für schuldig befunden wurde, auf einen Großteil des Vermögens des Beschuldigten hoffen. Auf diese Maßnahme scheint die Forderung des Johannes Bezug zu nehmen, wonach man seinen Mangel leidenden Bruder materiell unterstützen solle (3,17). Seit Tiberius (Kaiser von 14–37 n.Chr.) mussten Verurteilte sogar mit der Todesstrafe rechnen. Es waren dabei auch Anzeigen von Sklaven, Soldaten und Frauen zugelassen – und Zeugen konnten zur Erwirkung von Aussagen gefoltert werden. Eine allgemeine staatlich angeordnete Christenverfolgung ist unter Domitian zwar nicht nachzuweisen. Das Christsein als solches (nomen ipsum) liefert also noch nicht einen Verfolgungsgrund, doch die dargestellten möglichen Maßnahmen machen eine erhöhte Gefährdungssituation für die christlichen Gemeinden deutlich. Exkurs: Die Lage der Christen zur Zeit des Statthalters Plinius (ca. 61– 120 n.Chr.) C. Plinius Caecilius Secundus stammte aus römischem Adel (Senator), war Anwalt und hatte verschiedene Staatsämter inne. Seinen literarischen Ruhm begründete er als Epistolograph; von ihm ist eine zehnbändige Briefsammlung erhalten. Um 111 n.Chr. wurde Plinius von Kaiser Trajan (98–117) als kaiserlicher Legat mit den Vollmachten eines Statthalters in die Provinz Bithynien und Pontus (Kleinasien) geschickt. Eine der richter-
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lichen Aufgaben, mit denen er in einer der größeren Städte des Pontus konfrontiert wurde, waren Anzeigen gegen Christen. Plinius schreibt in seinem Brief an Trajan (Brief X, 96,3), dass es zunächst private Ankläger waren, die die Christenprozesse anstießen (qui ad me … Christiani deferebantur). Auch wenn es denkbar ist, dass es vorher schon Christenprozesse gegeben hat, kennt Plinius keine kaiserliche Anweisung, wie mit den Christen umzugehen sei. Zur seiner Zeit geht es nicht mehr um irgendwelche Verbrechen, die den Christen vorgeworfen werden (also z.B. um Hochverrat), sondern um die Anklage, Christ zu sein. Deshalb fragt Plinius den Kaiser, ob bereits ein Christ, wenn sich sein christlicher Glaube erwiesen hat, zu bestrafen ist, weil er Christ ist, auch ohne das Vorliegen konkreter Verbrechen (96,2: nomen ipsum, si flagitiis careat, an flagitia cohaerentia nomini puniantur). Die hier verwendete Formulierung zeigt also die beiden Möglichkeiten zur Bestrafung der Christen zur Zeit des Plinius an: Entweder waren die Christen zu bestrafen, weil mit ihrem Kult bestimmte Verbrechen verbunden wurden (flagitia cohaerentia), oder es war – und dies ist ein weiterer Schritt – mit der Bezeichnung Christ an sich bereits ein Straftatbestand verbunden. Dadurch würde ein weiterer Beweis für ein Verbrechen des Angeklagten überflüssig. Beide Möglichkeiten scheiden als Hintergrund für die Abfassung des ersten Johannesbriefs allerdings noch aus.
3. Die schwierige Lage der jüdischen Gemeinden im Römischen Reich nach 70 n.Chr. und deren Auswirkung auf die christlichen Gemeinden a) Demonstration der Loyalität zum römischen Staat Anders als die zügig anwachsenden christlichen Gemeinden war das Judentum eine erlaubte Religion im Römischen Reich. Man hatte allerdings – gerade nach dem Jüdischen Krieg (66–70), der mit der Zerstörung des Zweiten Tempels endete – mit gewissen Unterdrückungsmaßnahmen gegen jüdische Gemeinden, die sich im Römischen Reich verstreut (in der »Diaspora«) gebildet hatten, zu rechnen. Deshalb wurden diese vom Staat aufmerksam beobachtet. Josephus überliefert, dass die Juden bei den Römern als aufrührerisch und rebellisch galten (Bell 2,91f; Ant 17,314). Auch Vespasian habe bei den Juden in der Diaspora eine Neigung zu Aufständen vermutet (Bell 7,421). Nach Josephus macht Herodes Agrippa II. (27–93 n.Chr. – König von Judäa zwischen 50 und 70 n.Chr.) deutlich, dass von einem neuerlichen Krieg gegen die Juden auch die Diaspora betroffen sein werde: »Nicht allein, was hier in Jerusalem lebt, schwebt in dieser Gefahr, sondern auch sämtliche Einwohner anderer Städte. Denn es gibt ja auf der bewohnten Erde kein Volk, das nicht einen Teil unseres Volkes bei sich hätte.
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Lasst ihr euch auf den Krieg ein, dann werden die Feinde alle Angehörigen unseres Stammes niedermetzeln, und um einer verantwortungslosen Hetze willen wird jede Stadt vom Blut der Juden triefen …« (Bell 2,398f).
Durch den Jüdischen Krieg (66–70 n.Chr.), der mit der Zerstörung Jerusalems und des Tempels durch die Römer endete, war es also zu einer antijüdischen Stimmung im gesamten Reich gekommen, und auch die Juden, die nicht in Israel lebten, hatten mit Vorurteilen zu kämpfen (vgl. Tacitus, Historien 5). Betrachtet man auf diesem Hintergrund die Rolle der Juden bzw. der Hohenpriester im Prozess Jesu im Johannesevangelium, so lässt sich zeigen, dass sich die Juden auf Kosten dieses Jesus von Nazareth als treue Staatsbürger darstellen wollten: Als Pilatus Jesus freilassen will, schreien ihm die Juden entgegen: Wenn du diesen freilässt, bist du kein Freund des Kaisers; denn wer sich selbst zum König macht, lehnt sich gegen den Kaiser auf (Joh 19,12). Und kurz darauf beteuern die Hohenpriester gegenüber Pilatus: Wir haben keinen König außer dem Kaiser (Joh 19,15). Hier wird am Beispiel der Rolle der Juden im Prozess Jesu – wie sie der Johannesevangelist skizziert – deutlich: Christen als Anhänger eines Messias und damit eines potentiellen Aufrührers bei einer staatlichen Behörde anzuzeigen, konnte aus jüdischer Sicht dazu verhelfen, sich nicht nur von den Christen zu distanzieren, sondern zugleich die eigene Loyalität gegenüber Rom zu demonstrieren. b) Gefährdung der Identität des Judentums durch den christlichen Anspruch Hinzu kam, dass das Aufkommen der christlichen Gemeinden in den größeren Städten des Römischen Reiches die Identität der jüdischen Synagogen beeinträchtigte. Auf einmal gab es auch Heiden, die einen den jüdischen Synagogen durchaus vergleichbaren Anspruch hatten, nämlich – ausgestattet mit der Hoffnung auf Auferweckung – Gottes auserwähltes Volk der Endzeit zu sein. Dabei war der Anspruch der jüdischen Gemeinden im Römischen Reich dem der christlichen, nämlich in Gottes Heilsbereich zu leben, durchaus vergleichbar (vgl. den Exkurs »Die Gegner im ersten Johannesbrief« oben S. 39f). Dabei legt Johannes immer wieder großen Wert darauf, dass die Angesprochenen die Gebote oder das Gebot Gottes halten bzw. halten sollen (2,3.4; 3,22–24; 5,2f). Strittig zwischen der christlichen Gemeinde und der jüdischen Synagoge ist lediglich, welches die einzuhaltenden Gebote denn sind. Es ist durchaus vorstellbar, dass von jüdischer Seite den Christen immer wieder vorgehalten worden ist, dass sie gegen die göttlichen Gebote leben und lehren. Tatsächlich
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bezeichnet auch im Alten Testament der von Johannes gewählte Begriff Gebot in der Regel die in der Tora ergehende göttliche Weisung (vgl. Gen 26,5; Ex 15,26; Lev 22,31; vgl. auch TestLev 14,6f; TestJud 16,3f; Philo, All 1,93; SpecLeg 1,300; Josephus, Ant 1,43.47; 5,76.94 u.ö.). Bereits in Dtn 6,1.25; 7,11; 8,1 u.ö. findet sich diese Interpretation der Tora als »Weisung«. 4.
Adressaten und Absender
Eine geographische Einordnung der Gemeinden, die der Verfasser des ersten Johannesbriefs vor Augen hat, ist nur mit Hilfe der Johannesoffenbarung wahrscheinlich zu machen. So wird dort der Gemeinde von Philadelphia zugute gehalten, dass sie – ähnlich wie die Gemeinde von Pergamon (2,13) – den Namen Christi nicht verleugnet habe (Offb 3,8). Gerade die Warnung vor den heidnischen Götterbildern am Ende des ersten Johannesbriefs scheint auf die von Kaiser Domitian betriebene Intensivierung des Kaiserkultes vor allem in Ephesus und Pergamon hinzuweisen. Die Nichtteilnahme von Christen am Kaiserkult brachte sie ganz besonders in den genannten Städten immer weiter in Bedrängnis (vgl. Offb 13; 19,20). Wenn also unter Domitian keine allgemeine Christenverfolgung stattgefunden hat, sondern eher mit lokal begrenzten Konflikten zwischen Christusbekennern und römischer Staatsmacht zu rechnen ist, dann sind – mit Hilfe der Ortsangaben der Johannesoffenbarung – die Adressaten des ersten Johannesbriefs in den christlichen Gemeinden im Westen Kleinasiens zu suchen. Dabei ist damit zu rechnen, dass der Verfasser die juristischen Auseinandersetzungen, die der erste Johannesbrief voraus setzt, auch anderswo im Römischen Reich für wahrscheinlich hält, sodass er – anders als etwa die Sendschreiben an konkrete Gemeinden in Offb 2 und 3 – auf eine konkrete Adressatenangabe bewusst verzichtet. Dadurch will er eine allgemeine Gültigkeit seiner Aussagen seiner Aussagen erreichen. Mit andere Worten: Der Verfasser des ersten Johannesbriefs ist im Westen Kleinasiens zu vermuten, und die dortigen christlichen Gemeinden hat er bei der Abfassung seiner Schrift auch im Blick. Weil er aber die Konflikte überall im Reich aufziehen sieht oder vermutet, richtet er sein Schreiben – angezeigt durch die Unbestimmtheit seiner Adressaten – an alle christlichen Gemeinden, an die Ökumene. Dies ist auch der Grund für die Bezeichnung des ersten Johannesbriefs als »katholisches«, d.h. allgemeines, alle (damals bekannten) Gemeinden betreffendes (Rund-) Schreiben.
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Die Botschaft des ersten Johannesbriefs
II.
Die Antwort des Johannes
1.
Die juristische Begrifflichkeit
Es ist im Verlauf des Kommentars mehrfach deutlich geworden, dass die von Johannes verwendete Begrifflichkeit vielfach juristischer Herkunft ist. Ganz deutlich geht es Johannes darum, frohe Zuversicht am Tag des Gerichts zu vermitteln (4,17). Er ermutigt zum freien Bekenntnis (2,23; 4,2.3.15), warnt vor dem Leugnen (2,22f) oder Lügen (1,6.10.2,4.21f.27; 4,20; 5,10) und ruft dazu auf, keine Furcht zu haben (4,18). Vielmehr habe man Hoffnung (3,3), zumal man (vor Gott) auf den Anwalt, Jesus Christus, vertrauen könne (2,1). Der in 2,1 verwendete Begriff Paraklet (Fürsprecher, Anwalt) ist in der griechischen Welt mehr oder weniger deutlich juristisch bestimmt (vgl. Diogenes Laertius IV,50). Diese Terminologie passt genau in den historisch wahrscheinlich gemachten Rahmen der Gefährdung der Christusbekenner durch (jüdische) Anzeigen vor heidnischen Gerichten. 2.
Ermahnung zum offenen Bekenntnis vor weltlichen Gerichten
Ausdrücklich macht Johannes in 2,23 (vgl. 4,2f und bes. 4,15) deutlich, dass sich am Bekenntnis zu Jesus das Verhältnis zu Gott entscheidet. Nur wer den Sohn bekennt, hat auch einen Bezug zum Vater. Hintergrund dieser Aussage sind zweifellos Juden bzw. Judenchristen, die ein offenes Christusbekenntnis scheuen. Trotz ihres nicht abgelegten Bekenntnisses zu Jesus wollen diese aber weiterhin zur christlichen Gemeinde dazugehören – in diesem Fall macht ihnen Johannes deutlich, dass sie sich von Gott entfernt hätten. Ebenso gab es aber auch Menschen, die sich ganz offen von der christlichen Gemeinde losgesagt hatten und wieder zur jüdischen Synagoge oder ins Heidentum zurückgekehrt sind. Die Aussagen des Johannes dienen der Stabilisierung der christlichen Gemeinde, denn er schreibt: Wer Christus nicht bekennt, verliert auch seine Gottesbeziehung. Im Grunde heißt das nichts anderes als: Bekennt euch (weiterhin) zu Christus, sonst verliert ihr die Gemeinschaft mit Gott und damit das ewige Leben! Dass dieses offene Bekenntnis zu Christus auch mit Ängsten verbunden war, wird in 4,18 deutlich. Deshalb wird man sagen können: Johannes ruft zum furchtlosen (!) Bekenntnis zu Jesus auf. Nach 4,18 verbietet sich die Furcht der Christusbekenner geradezu, denn Furcht rechnet mit Strafe. Stattdessen ruft er zu einer frohen Zuversicht auf (4,18). Tatsächlich haben die Christusbekenner aber allen Grund zur Sorge und Furcht.
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Die Botschaft des ersten Johannesbriefs
Für Johannes machen diese Gefährdungen der Christusbekenner jedoch offenbar, wer tatsächlich in Gott ist und in wem Gott ist (4, 13–15). Mit diesen Formulierungen bezeichnet Johannes diejenigen, die ihre Identität in Gott gesichert wissen. Keine noch so große innerweltliche Macht kann die Identität derjenigen zerstören, die in Gott sind und Gott in ihnen. Dass das Ablegen des Bekenntnisses vor einem römischen Statthalter eine gewisse Kraftanstrengung verlangte, wird deutlich in 2,13f. Dort attestiert Johannes den jungen Männern, sie hätten den Bösen besiegt. Die Formulierung ist in Zusammenhang zu bringen mit 5,4, wonach es der christliche Glaube ist, der die Welt besiegt hat. In 5,19 wird diese Welt dadurch mit dem Bösen in Zusammenhang gebracht, dass für Johannes die Welt im Bösen liegt. Mit dem Bösen meint Johannes also zweifellos den Kaiser als Verkörperung des Teufels und dessen Repräsentanten, die heidnischen Statthalter und Richter, vor denen sich die Gotteskinder immer wieder zu verantworten haben. Die Welt des Johannes ist von diesem abhängig und liegt insofern in ihm. Dies ist auch der Grund, weshalb das Schreiben mit einer Warnung vor den Götzen schließt. Eine Anbetung heidnischer Götter oder gar des Kaisers ist mit der christlichen Botschaft unvereinbar. Die Vermeidung der Identifizierung des Kaisers mit seinem konkreten Namen (Domitian oder neuer Nero) verhindert, dass das Schreiben außerhalb der christlichen Gemeinde als kaiser- bzw. staatsfeindlich angesehen werden kann. Deshalb umschreibt Johannes den Kaiser bzw. dessen konkrete Repräsentanten (Statthalter) mit dem Begriff der Böse und führt dadurch deren Wirken auf den eigentlichen Bösen, den Teufel, zurück. Nach Johannes ist es das Bekenntnis zu Jesus als Sohn Gottes, welches die Welt – und damit den Bösen – besiegt (5,5). Nach 4,4 wird den Adressaten bescheinigt, sie hätten den Geist des Antichristus besiegt. Dabei meint auch die Bezeichnung Antichrist zweifellos den Teufel bzw. konkret den römischen Kaiser. An Jesus Christus, den Gottessohn, zu glauben und diesen Glauben dementsprechend zu bekennen, bedeutet für Johannes, seine Furcht vor den Folgen des Bekenntnisses zu überwinden und dementsprechend die Welt oder den Bösen zu besiegen. Hintergrund ist die feste Gewissheit, dass die äußere Gefährdung durch weltliche Statthalter die Sicherung der eigenen Existenz durch Gott nicht infrage stellen kann. So sagt der Jesus des Johannesevangeliums zu Pilatus: Du hättest keine Macht über mich, wenn sie dir nicht von oben gegeben wäre (Joh 19,11). Dieser Satz zeigt: Christen wissen auch den weltlichen Richter, vor dem sie sich zu verantworten haben, in Gottes Hand.
146 3.
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Die Rechtsprechung vor Gott
Ähnlich wie eine Gerichtsverhandlung vor einem römischen Statthalter scheint sich Johannes die Begegnung des Glaubenden mit Gott vorzustellen, auch wenn er diese – anders als bei der Verhandlung vor dem Statthalter (vgl. 4,17) – nicht krisis, d.h. Gericht nennt. Der Zusammenhang zwischen beiden Prozessen (gemeint ist das weltliche Gericht und das traditionell so genannte Jüngste Gericht) wird hergestellt durch den Begriff Zuversicht. Selbst wenn das Bekenntnis zu Jesus vor einem weltlichen Gericht das eigene Leben kosten könnte, so werden die Christen in einer anderen, wesentlich wichtigeren Verhandlung umso mehr frohe Zuversicht haben und nicht sich schämen müssen, wenn er kommt (2,28). Und wenn Johannes den Glaubenden auch vor dem weltlichen Gericht frohe Zuversicht zuspricht, so ist dies dieselbe Zuversicht, die sie haben können, wenn Jesus geoffenbart wird (2,28), weil sie auch in kritischen Situationen am Glauben festgehalten hatten bzw. in ihm geblieben waren. Aus dieser Zuversicht folgt auch die Erfüllung der Bitten der Glaubenden durch Gott (5,14; vgl. 3,21f). Dabei ist es klar, dass die zentrale Bitte der Glaubenden nur die um Bewahrung zum ewigen Leben sein kann. Das Schwachwerden, wenn das mutige Bekenntnis des Glaubenden in kritischen Situationen gefordert ist, kennt Johannes durchaus. Vor dem irdischen Gericht sind es die von ihm genannten Zeugen (5,6–9), die für die Wahrheit des Bekenntnisses einstehen und den Glaubenden zur der Liebe befähigen, die keine Furcht zulässt (4,18). Deshalb kann dann vor Gott Jesus selbst der Fürsprecher und Anwalt der Glaubenden sein (2,1). Die Näherbestimmung Jesu als gerecht in diesem Zusammenhang verweist ebenfalls auf den juristischen Hintergrund. Nach 3,19f geht es darum, das den Glaubenden anklagende eigene Herz zum Schweigen zu bringen. Mit Herz meint Johannes hier vor allem die Stelle im Menschen, an die Gott sich wendet und die die sittliche Einstellung bestimmt. Im Herzen wurzelt das religiöse Leben des Menschen. Insofern ist das Herz für Johannes das zentrale Organ. Als solches wurde es bereits im hellenistischen Judentum verstanden. So spricht TestGad 5,3 davon, dass das menschliche Herz verdammen kann. Gottes Gerechtsprechung des Glaubenden widerspricht den eigenen Selbstvorwürfen und der Verdammung des Menschen durch dessen eigenes Herz, denn Gott ist größer als unser Herz (3,20). Johannes hat hier diejenigen im Blick, die im konkreten Fall einmal aus Furcht das offene Bekenntnis gescheut hatten und sich deshalb jetzt Selbstvorwürfe machen. Sie dürfen darauf vertrauen, dass ihnen von Gott vergeben wird.
Die Botschaft des ersten Johannesbriefs
4.
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Das Gebot Gottes
a) Glaube an Jesus Christus, den Gottessohn In 3,23 gibt Johannes eine Zusammenfassung dessen, was Gott von den Menschen möchte. Der erste Teil des dort formulierten Gebotes umfasst den Glauben an den Namen seines Sohnes Jesus Christus. Es geht Johannes von Anfang an durchgängig um die Verkündigung dieses Glaubens. Auch wenn die volle Bezeichnung Gottes Sohn Jesus Christus erst am Ende des dritten Verses auftaucht, ist der Leserschaft von vornherein klar, dass es sich bei dem, was von Anfang an war bzw. bei dem Wort des Lebens …, das ewig ist, das beim Vater war und uns erschienen ist nur um Jesus Christus handeln kann. Wenn Johannes gleich zu Beginn seines Schreibens ausdrücklich die positiven Aspekte betont, (ewiges) Leben und (vollkommene) Freude, dann ist zu vermuten, dass er mit diesen Begriffen gegen die gegenwärtigen Erfahrungen der christlichen Gemeinde anschreibt. Diese ist nämlich augenscheinlich erfüllt von Furcht (vgl. auch Joh 16,33), Finsternis (2,8–11), Lüge (1,6; 2,4.21f. 27), Sünde (1,7–10; 2,1f.12) und Tod (3,14f; 5,16). Objekt des Bekenntnisses bzw. Glaubens ist bei Johannes immer der Sohn Jesus Christus (2,22.23; 4,2f.15; 5,1.5). Insofern der Glaube an Jesus der zentrale Inhalt ist, welcher die christliche Gemeinde von der jüdischen Synagoge unterscheidet, spricht alles dafür, dass hier eine Auseinandersetzung mit jüdischen Glaubensüberzeugungen vorliegt. Auffällig ist, dass – anders als etwa bei Paulus – nicht Kreuzigung und Auferweckung Jesu die zentralen Heilstatsachen sind, sondern das Kommen Jesu in die Welt, die Inkarnation (Fleischwerdung; vgl. 4,2). Nirgendwo im ersten Johannesbrief wird erwähnt, dass Jesus gekreuzigt worden sei – allenfalls der Begriff »Blut« in 1,7; 5,6.8 könnte auf den gewaltsamen Tod Jesu anspielen. Doch wie die Auslegung gezeigt hat, sind hier traditionelle urchristliche Formulierungen übernommen worden. Die Vorstellung, dass Jesus bereits vor seinem irdischen Wirken eine Existenz bei Gott hatte (eine »Prä-Existenz«), findet sich bereits im Johannesevangelium, wonach durch Gottes Wort alle Dinge erschaffen worden sind (Joh 1,1–3) und dieses in Jesus Fleisch geworden ist (Joh 1,14). Das ist auch die Vorstellung, die hinter der Aussage von 4,2 steht (Ein jeder Geist, der bekennt, dass Jesus Christus in das Fleisch gekommen ist, der ist von Gott). Sie wendet sich nicht gegen Irrlehrer, sondern gegen diejenigen früheren Gemeindeglieder, die aufgrund der Gefährdungssituation sich von der Gemeinde und deren Bekenntnis abgewandt haben. Wollte 4,2 ein Unterscheidungsmerkmal von einer wie immer gearteten doketischen Christologie benennen, so wäre eine Bekenntnisformel nach dem Sche-
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ma zu erwarten: »Jesus ist der im Fleisch gekommene Gottessohn«. Denn es ist gerade die Menschlichkeit des Gottessohnes, die von Doketen abgelehnt wird. Aber in 4,2 ist gerade nicht vom Gottessohn, sondern vom Christus die Rede. Dies ist auch deshalb auffällig, weil die Hoheitstitel (Gottes) Sohn für Jesus wesentlich häufiger (22-mal) von Johannes verwendet wird als Christus (8-mal). Deshalb kann Johannes auch in 4,15 das geforderte Bekenntnis abkürzen auf die Überzeugung, dass Jesus Gottes Sohn ist. Und in diesem Zusammenhang geht es nicht um das Ins-Fleisch-Gekommensein. Jesu Besonderheit besteht darin, dass in ihm Gott selbst auf der Erde erschienen (1,2) ist. Tatsächlich wird auch in paulinischen Sendungsaussagen Jesus gerne als Sohn Gottes bezeichnet (Gal 4,4; Röm 8,3). Mit anderen Worten: In Jesus ist der Jenseitige ins Diesseits gekommen. Lediglich durch Jesus kann man erfahren, was Gott mit seiner Welt vorhat. Der Grund für die Sendung des Sohnes in die Welt durch Gott ist Gottes Liebe zur Welt (4,10.16). Dabei nennt er zwei – nur auf den ersten Blick völlig unterschiedliche – Ziele dieser Sendung: die Versöhnung für die Sünden der Glaubenden (4,10) und die Rettung der Welt (4,16). Beide Formulierungen gehen aber in dieselbe Richtung. Insofern für Johannes Unglaube die zentrale Sünde ist, können die Glaubenden sich als mit Gott versöhnt betrachten. Dem entspricht auch, dass in Joh 1, 29 Jesus vom Täufer als Lamm Gottes bezeichnet wird, das die Sünde der Welt wegschafft, denn die Sünde der Welt ist ja der Unglaube. Deshalb kann Johannes auch feststellen, dass der Sohn gesandt wurde als Retter der (ganzen) Welt. Denn wenn alle Menschen zum Glauben kommen und insofern von ihrer Sünde, dem Unglauben, befreit werden, dann können sie endzeitlich tatsächlich auch gerettet werden. Wer Jesus aber trotzdem ablehnt, macht Gott dadurch zum Lügner (5,10), denn er lehnt denjenigen ab, der von Gott in die Welt gesandt wurde und von dem Gott selbst Zeugnis ablegt. b) Die Bruderliebe Der zweite Teil des in 3,23 formulierten Gebotes ist die Forderung der Liebe untereinander. Dieses Gebot wird im Lauf des ersten Johannesbriefs immer wieder von einem anderen Aspekt aus beleuchtet und findet immer wieder neue Begründungen. Dabei ist die Rede von der Liebe untereinander ganz zentral; sie findet sich insgesamt fünfmal im ersten Johannesbrief: 3,11.23; 4,7.11.12; vgl. Joh 13,34f; 15,12. In 2,7–11 wird das Hassen dem Liebe Üben gegenübergestellt. Für Johannes ist es ein altes Gebot, weil er es in Lev 19,18 bereits verankert sieht (2,7). Es dient sogar als Bewer-
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tungsgrundlage für den Brudermord Kains (3,11–16). Dieses alte Gebot bezeichnet er aber auch als neu (2,8), weil es in Jesus Christus eine neue Begründung und Zuspitzung erfahren hat. Es bezieht sich jetzt auf die Glaubenden, die Brüder. Zu diesen gehören alle, die sich zu Jesus Christus bekennen, aber auch diejenigen, die im Begriff sind, die Gemeinde wieder zu verlassen oder in einem konkreten Fall der Schwäche und Angst sich davor gescheut haben, ein Bekenntnis zu Jesus Christus abzulegen und dadurch vor einem heidnischen Gericht nicht zugegeben haben, dass sie zur christlichen Gemeinde gehören. Diese Sünde nicht zum Tode kann aber – wenn sie zugegeben wird – durchaus vergeben werden (vgl. 1,8–10; 5,16). In 3,11–18 entwickelt Johannes ausgehend von dem Brudermord Kains Maßnahmen gegen den Bruderhass. Dieser stellt innerhalb der Gemeinde offenbar dadurch ein besonderes Problem dar, weil sich einzelne Gemeindeglieder von der Gemeinde lossagen. Dieses Verlassen der Gemeinde wertet Johannes als Hass gegen die Brüder. In 4,7–21, der längsten Entfaltung des Liebesthemas im ersten Johannesbrief, wird das Liebesgebot noch einmal durch eine Wesensbestimmung Gottes (Gott ist Liebe) besonders begründet. Hier bezeichnet Johannes das Liebesgebot als Folge aus der Liebe Gottes zu den Seinen, die sich in der Sendung des Sohnes in die Welt gezeigt hat (4,10.19). Die Initiative zu lieben war von Gott ausgegangen; deshalb ist die menschliche Liebe, die Solidarität der Gemeindeglieder untereinander, lediglich Antwort auf diese Liebe Gottes. Der Hass derer, die die Gemeinschaft verlassen, beschäftigte die Gemeinden offenbar sehr. In diesem Konflikt mahnt das Liebesgebot für Johannes zum Verzicht auf Gegenhass. Seiner Meinung nach schließt die Liebe zum Bruder auch diejenigen Brüder mit ein, die man des Hasses, also des Verlassens der Gemeinde, verdächtigt. In diesem Zusammenhang wird auch deutlich, dass Johannes – ähnlich wie Paulus in Röm 13,8f – das Gebot der Bruderliebe als Entfaltung des Nächstenliebegebotes versteht, das sogar den Gegner (Feind) einschließt. Wenn Gott selbst die Liebe ist (4,8.16), dann kann der Glaubende nicht hassen (vgl. 2,7–11). Das im vorliegenden Schreiben so formulierte Gebot der Liebe untereinander versteht Johannes inklusiv, d.h. er benennt nirgendwo – auch nicht in 5,17 – eine Grenze der Liebe. Die höchste Form der Bruderliebe ist die Lebenshingabe, d.h. der Verlust des irdischen Lebens für die Brüder. Vorbild ist hierbei der Jesus des Johannesevangeliums, der sein ganzes Leben – unter Einschluss des Todes – für die Seinen eingesetzt hatte (3,16; 2,6; vgl. Joh 10,11).
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Das Heil der Glaubenden
a) Ewiges Leben Der erste Johannesbrief versteht sich als eine Abhandlung über das Wort des Lebens (1,1f), zu dem der Verfasser als vorgeblicher Augenzeuge (1,1–3) einen besonderen Bezug hat. Er versteht sich als Verkündiger des Lebens. Dies ist auch das zentrale Thema des Schreibens: Wer an Jesus als das Wort des Lebens glaubt (vgl. auch 5,11), dem ist das ewige Leben verheißen (2,25). Den Adressaten kann sogar zugesagt werden, dass sie das ewige Leben bereits hätten (5,13). Wer zur Gemeinde gestoßen ist, der ist aus dem Tod in das Leben gekommen (3,14). Ähnlich wie im Johannesevangelium (Joh 11,25) bedeutet der Glaube an Jesus das ewige Leben. Anders ausgedrückt: Wer an Jesus glaubt, stirbt nicht wirklich. Angesichts der Erfahrung, dass Gemeindeglieder zweifelsohne eines (natürlichen oder gewaltsamen) Todes gestorben sind, kann das nur bedeuten: Ewiges Leben ist für Johannes der Inbegriff des endzeitlichen Heils – ähnlich verwendet Paulus im Römerbrief den Begriff Gerechtigkeit Gottes (Röm 3,21–28 u.ö.) und der Jesus der ersten drei Evangelien die Vorstellung vom Reich Gottes (vgl. Mk 1,15 u.ö.). Das Sichtbare ist vergänglich, während der Glaubende sich bei Gott ewig aufgehoben weiß (2,17). Und wohl nicht zufällig endet das Schreiben auch mit dem Hinweis auf das ewige Leben in Jesus Christus, dem wahrhaftigen Gott (5,20). b) Sündenvergebung Besonders in der Apokalypse werden die beiden Motive Reinigung von Sünden und Blut Christi miteinander verbunden (vgl. Offb 1,5; 5,9; 7,14; 12,11; vgl. auch 1Petr 1,18f; Tit 2,14; Hebr 9,14; 10,22 sowie 1Kor 6,11). Der Gedanke der Reinigung durch das Blut Christi ist ein Bestandteil urchristlicher Taufsprache. Dabei spielt das Blut zweifellos auf den Tod Jesu an. Wenn also Johannes in 1,7–10 von der Reinigung von aller Sünde durch das Blut Jesu spricht, hat er den Eintritt in die Gemeinde und damit die Taufe des Glaubenden im Blick und gibt der Kreuzigung Jesu eine Sünden sühnende Bedeutung. Dies ist deshalb festzuhalten, weil diese Vorstellung einer eigenen Heilsbedeutung des Todes Jesu Johannes sonst eher fremd ist. Wenn aber die Ursünde für Johannes der Unglaube (vgl. Joh 16,9) ist, wird deutlich, dass die Angst vor einem offenen Bekenntnis zur Gemeinde aus gemeindlicher Sicht eine Sünde ist, weil es im Grunde den Rückfall zur ungläubigen Welt bedeutet. Doch Johannes macht im vorliegenden Schreiben deutlich, dass eine erneute Vergebung nicht ausgeschlossen ist: Wenn wir aber unsre Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er
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uns die Sünden vergibt (1,9). Es gibt seiner Meinung nach aber auch die Sünde zum Tod (5,16). Dieser Ausdruck bezeichnet die Möglichkeit, endgültig aus der Gemeinschaft der Gotteskinder herauszufallen – oder genauer: Er bezeichnet die Möglichkeit, zu zeigen, dass man nie wirklich Kind Gottes gewesen war. Der Sünde zum Tode (5,16) steht die Rede vom ewigen Leben, das auf den Vater ausgerichtet ist (1,2) gegenüber. Es ist die Sünde zum Tode, die Johannes in 3,5–9 im Blick hat, wenn er meint: Wer Gottes Samen in sich trägt (3,9), kann (zum Tode) nicht sündigen, weil er fest im Glauben und in der Gemeinschaft der Kinder Gottes steht. c) Gotteskindschaft Seht, welche Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir Gottes Kinder heißen sollen – und wir sind es auch! Dieser Satz (3,1) macht deutlich, welche Folgen die Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinde und der Glaube an den Gottessohn Jesus Christus für die Glaubenden hat. Sie haben einen besonderen Bezug zu Gott, gelten als aus Gott geboren (2,29; 3,9; 4,7; 5,1) und tragen sogar Gottes Samen in sich (3,9). Johannes nimmt mit dieser zuletzt genannten Vorstellung Bezug auf antike Vererbungslehren, wonach der männliche Same bei der Entstehung und Entwicklung des Menschen der Werkmeister selbst (so der altgriechische Philosoph Chrysipp) vorgestellt wird. Die Glaubenden sind aus Gott (genealogisch) entstanden und durch Gottes Samen, den sie in sich tragen, fest mit ihm verbunden. Diese feste Beziehung zwischen Gott und den Glaubenden soll verdeutlicht werden. Die Vorstellung der Familie Gottes mit Gott als Vater und Mutter – die Formulierung aus Gott geboren legt dies nahe – und den Glaubenden als Kinder Gottes macht für Johannes am besten die Zusammengehörigkeit von Gott und seiner Gemeinde deutlich – ähnlich wie bei Paulus das Bild von der Gemeinde als Leib Christi (1Kor 12,12–31). Übernommen hat Johannes die Vorstellung der Gotteskindschaft aus Aussagen des Alten Testaments, wonach das israelitische Volk durch die Herausführung aus Ägypten zum Sohn Gottes wurde (Hos 11,1–3; Ex 4,22f; Jer 3,4; Jes 1,2; Num 11,12; Dtn 1,31). Die Begründung der Vater-Sohn-Beziehung in der Befreiung aus Ägypten zeigt, welche Aspekte die Anwendung des Bildes von Gott als Vater der Gläubigen hat: Liebe und daraus resultierend Zuneigung und Fürsorge. Tatsächlich betont Johannes immer wieder die Liebe Gottes gegenüber den Seinen (3,1; 4,16). Daraus folgt dann aber auch, dass die Glaubenden auch einander lieben sollten (4,19; vgl. 2,15). Diese Liebe Gottes ist für Johannes so zentral, dass er Gott selbst mit der Liebe identifizieren kann (4,8. 16). Dieser Spitzensatz neutestamentlicher Theologie kommt des-
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halb zustande, weil Johannes die Sendung des Gottessohnes Jesus in die Welt als Akt der Liebe Gottes versteht (vgl. Joh 3,16). Seiner festen Überzeugung nach wurde Jesus in die Welt gesandt, um die ganze Welt aus der Vergänglichkeit zu retten. Tatsächlich kommt aber nur ein kleiner Teil der Menschheit zum Glauben, sodass den Glaubenden im Besonderen die Liebe Gottes gilt und Johannes diesen nahelegen muss, die ungläubige und der Vergänglichkeit zufallende Welt gerade nicht zu lieben (2,15). d) Wahrheit Die christlichen Gemeinden sind der Welt nach Johannes auch in der Hinsicht überlegen, dass sie um die »Wahrheit« wissen; gemeint ist die Wahrheit, dass Jesus der Christus (2,22f) ist bzw. dass Gott Jesus in die Welt gesandt hat. Wer diese Wahrheit leugnet, ist demnach für Johannes ein Lügner bzw. macht Gott zum Lügner (5, 10), da Gott selbst für diese Wahrheit einsteht. Der Glaubende hat aber durch das Kommen Jesu in die Welt von Gott den Sinn dafür bekommen, den Wahrhaftigen zu erkennen (5,20). Hier spielt die Salbung eine wichtige Rolle. Die Salbung vermittelt das Wissen um die Wahrheit (2,27; vgl. 2,20). Es ist unwahrscheinlich, dass Johannes hier an eine tatsächliche Salbung als Praxis innerhalb der Gemeinden, die Johannes im Blick hat, denkt. Stattdessen stellt sich Johannes eine mit der Taufe unsichtbar erfolgende Salbung (chrisma) mit dem Geist vor, die die Glaubenden mit dem Gesalbten (Christos) verbindet. Wahrheit ist für Johannes aber nicht einfach eine Aussagewahrheit, ein Für-wahr-Halten eines bestimmten Sachverhalts – wie es häufig behauptet wird, wenn man unterstellt, der erste Johannesbrief richte sich gegen einen falschen Glauben. Vielmehr geht es im ersten Johannesbrief nicht um das rechte Wissen gegenüber einer geoffenbarten oder von Johannes behaupteten Satzwahrheit, sondern um den Glauben als Lebensvollzug, der zu einem bestimmten Verhalten befähigt. Gotteskinder zeichnen sich nach Johannes nicht dadurch aus, dass sie eine bestimmte Menge von Aussagesätzen für wahr halten. Vielmehr erfährt in der Begegnung mit (der Botschaft von) Jesus derjenige, der zum Glauben kommt, deshalb die Zusage des ewigen Lebens, weil sich sein Vertrauen auf diesen von Gott gesandten Christus richtet. Dadurch wird er zum Leben, aber auch zu einem möglichen Leiden für seine Glaubensgeschwister und für Christus befreit und in diese Wahrheit mit hineingenommen. Die Wahrheit, von der Johannes spricht, ist deshalb nicht einfach eine geglaubte, sondern eine gelebte Wahrheit. Es ist die Zusage, auf die die Gotteskinder ihr Vertrauen richten. Das schließt nicht aus, dass der Glaubende als denkender Mensch – wie der Verfasser des ers-
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ten Johannesbriefs selbst – die gelebte Wahrheit sprachlich zum Ausdruck zu bringen versucht. Weil aber die Wahrheit, von der Johannes spricht, gelebte Wahrheit ist, muss sie an neuen Orten und in Bezug auf immer neue Fragen nach Antworten suchen. Genau dies ist der Grund für die Abfassung des vorliegenden Schreibens. 6. Das Problem der Unanschaulichkeit des Heils – Erfahrungen des Widerspruchs Die Tatsache, dass Johannes die zentrale Heilsgabe, das ewige Leben, den Gotteskindern bereits für ihr jetziges Leben zuspricht (5, 13; vgl. 3,1) macht deutlich: Johannes versteht seine Gegenwart als Heilszeit. Bei allem Heil, das Johannes seinen Adressaten verkündigt, ist er sich der Tatsache bewusst, dass der Heilsbereich, in dem die christliche Gemeinde angeblich leben soll, augenscheinlich eine bloße Behauptung ist und gar nicht existiert. Die christlichen Gemeinden wurden doch von ihrer heidnischen Umwelt und den jüdischen Synagogen ausdrücklich abgelehnt. Als Minderheiten teilten sie das Geschick gesellschaftlicher Minoritäten bis heute, d.h. sie wurden vonseiten ihrer nichtchristlichen Umwelt sozial isoliert, aggressiv ausgegrenzt und ansatzweise bereits blutig verfolgt. Die äußere Situation der Gemeinden steht also im Widerspruch zu ihrer heilvollen religiösen Identität. Und zweifellos stellte diese konkrete Wirklichkeitserfahrung den Anspruch, im Heilsbereich Gottes zu leben bzw., mit Johannes gesprochen, das ewige Leben zu haben (vgl. 1,1f; 5,11f), infrage. Diese zwiespältigen Erfahrungen hatten natürlich zur Folge, dass sich auch in der Gemeinde Angst zu verbreiten drohte. Deshalb stellt Johannes Liebe und Furcht einander gegenüber: Wer sich aber fürchtet, der ist nicht vollkommen in der Liebe (4,18). Es ist ihm klar, dass Furcht und Angst dazu führen (können), sich vom Gegenstand der Gefährdung, der christlichen Gemeinde, zu distanzieren. Die Gefährdung setzte in den Adressatengemeinden also starke Fliehkräfte frei. Dagegen setzt Johannes sein Vertrauen auf Gott, sodass Verfolgung und Gefährdung die eigene Existenz und Identität nicht gefährden können, weil sich der an Jesus Christus Glaubende in Gottes Hand weiß. a) Gott im Gotteskind und das Gotteskind in Gott – die Durchdringungsformeln Johannes tritt diesem Drang, sich von der christlichen Gemeinde wieder loszusagen, entschieden entgegen. So spricht er seinen Adressaten zu, dass derjenige, der in ihnen ist – nämlich Gott selbst (3,24; 4,12f.16) –, größer ist als derjenige, der in der Welt ist (4,4) –
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nämlich der heidnische Kaiser und dessen Statthalter. Weil Gott selbst größer ist als alles Innerweltliche, wissen die Glaubenden ihre Identität in Gott gesichert, egal, was ihnen auch passieren mag. Insofern kann Johannes seinen Adressaten zusprechen, dass der Böse sie, die sie aus Gott geboren sind, nicht antasten kann (5,18). Wider allen Augenschein spricht er ihnen das ewige Leben zu (3,14; 5,11). Sie wissen ihr Leben in Gott gesichert und können sich gewiss sein, dass keine innerweltliche Differenzerfahrung ihre Identität und Existenz zerstören kann. Wer sich offen zu Jesus bekennt, überwindet nicht nur seine Angst, sondern besiegt so gesehen sogar die Welt (5,4f), denn der Böse kann ihn nicht antasten (5,18). b) Jesus als Vorbild Wenn im ersten Johannesbrief auf das Leben Jesu verwiesen wird, dann deutet dies darauf hin, dass er bei seinen Adressaten ein Wissen um das Leben Jesu – und damit die Kenntnis des Johannesevangeliums – voraussetzt. Bereits in 2,6 fordert Johannes seine Adressaten dazu auf, so zu leben, wie Jesus gelebt hat. Der Kontext von 2,6 legt nahe, dass es hier um das Gebot der Bruderliebe geht, die von den Gemeindegliedern geübt werden soll. Tatsächlich ist dies auch von Jesus im Johannesevangelium immer wieder angesprochen worden (vgl. 13,13; 15,9.12f u.ö.). Und wenn in 3,16 von Lebenseinsatz Jesu für die Seinen gesprochen wird, dann spielt diese Formulierung zweifellos auf Joh 10,11.15; 13,37; 15,13f an. Hier wie dort gilt der Lebenseinsatz für andere unter Einschluss des Todesrisikos als höchste Form der Liebe. Bei der Auslegung von 3,16 ist bereits deutlich geworden, dass es weniger darum geht, dass Jesus nach Johannes für die Seinen gestorben ist – es geht also nicht um eine Art Stellvertretungs- oder Sühnetodvorstellung, sondern nach 3,16 (vgl. auch Joh 1,29) hat Jesus für die Seinen gelebt – unter Einschluss der Gefahr, dabei getötet zu werden. Dieser Lebenseinsatz für andere wird im ersten Johannesbrief heruntergebrochen auf die materielle Unterstützung der bedürftigen Glaubensbrüder (3,17f), auch wenn das Risiko, dabei sein Leben zu verlieren, nach wie vor eingeschlossen ist. Die Rolle Jesu in seinem Prozess, wie ihn Johannes darstellt, ist ebenfalls vorbildhaft für die Gemeinde. Jesus selbst ist das beste Beispiel dafür, dass der Glaube ins Martyrium führen kann. Umso wichtiger ist es, die eigene Angst vor dem (möglicherweise) Kommenden zu bearbeiten und das Bewusstsein, in Gottes Heilsbereich zu leben, zu entwickeln und zu stabilisieren, das durch die äußere Gefährdungssituation nicht zerstört werden kann. Besonders zeigt sich dies in der Fassung der Gethsemanegeschichte im Johannesevangelium. Nach Joh 12,27 ist diese auf ein kurzes Gedankenexpe-
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riment Jesu zusammengekürzt: Jetzt ist meine Seele betrübt. Und was soll ich sagen? Vater, hilf mir aus dieser Stunde? Doch darum bin ich in diese Stunde gekommen. Der johanneische Jesus scheint nur kurz an eine Flucht gedacht, diesen Gedanken aber sogleich energisch wieder verworfen zu haben. Und nicht zufällig verweist Jesus Pilatus darauf, dass ihm die Macht von einer noch wesentlich höheren Instanz gegeben worden ist (Joh 19,11). 7.
Die bleibende Bedeutung des ersten Johannesbriefs
Anders als das Johannesevangelium will der erste Johannesbrief weniger zum Glauben an den Gottessohn Jesus Christus hinführen, sondern die christlichen Gemeindeglieder angesichts vieler Gefährdungen im Glauben bestärken. Johannes setzt in seinem Brief voraus, dass seine Leserschaft um Jesus Bescheid weiß (2,6). An dessen Lebenseinsatz für die Seinen soll man sich orientieren. Bereits im Johannesevangelium deutet sich an, dass die Jesusnachfolge, d.h. der Glauben an Jesus ins Martyrium führen kann: Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht. Wer sein Leben lieb hat, der wird’s verlieren; und wer sein Leben auf dieser Welt hasst, der wird’s erhalten zum ewigen Leben. Wir mir dienen will, der folge mir nach (Joh 12,24–26). Im ersten Johannesbrief begegnet diese Möglichkeit auf Schritt und Tritt. Johannes beschreibt ausführlich den Heilsbereich, in dem die Gemeindeglieder stehen, ganz bewusst in Abgrenzung zum augenscheinlichen Unheilsbereich, der Gefahr, für seine Überzeugung mit dem Leben bezahlen zu müssen. Er spitzt seine gesamte Verkündigung auf diesen Jesus von Nazareth zu, an dem sich entscheidet, ob man Christ ist oder nicht. Es geht im ersten Johannesbrief also nicht um Grenzen zwischen falsch- und rechtgläubigen Christen, sondern es geht um alles, um die christliche Botschaft schlechthin, um den Glauben daran, dass Jesus der Christus und Gottessohn ist, der in die Welt gekommen und inzwischen zum Vater zurückgekehrt ist. Er ist es, der die an ihn Glaubenden zu Gotteskindern macht und ihnen ewiges Leben schenkt. Überaus eindrücklich bis heute ist das Liebesgebot, wie es Johannes versteht. Auch wenn er von der Liebe zum Bruder (und der Schwester) oder der Liebe untereinander spricht, meint er gerade nicht eine Liebe, die sich ausschließlich auf die Glaubensgeschwister richtet und die Nichtchristen ausblendet. Vielmehr versteht er das Liebesgebot inklusiv, das heißt: Die Liebe der Glaubenden richtet sich in besonderer Weise auf die anderen Gotteskinder, schließt aber die des Abfalls verdächtigen Geschwister und damit die eigentlichen Feinde ebensowenig aus wie die Außenstehenden. Nirgendwo ruft
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Johannes zum Hass gegen irgendwelche Menschen auf – das kann er gar nicht, denn seiner Meinung nach gilt: Gott ist die Liebe (4,8. 16). Diese Liebe soll für die Glaubenden auch gegenüber denjenigen geübt werden, die nicht oder nicht mehr an Christus glauben. Von daher hat Johannes der Christenheit bis heute sehr viel zu sagen: Es geht um den Glauben an Jesus Christus, der den Seinen das ewige Leben schenkt, und um die von Gott in Christus empfangene Liebe, die an die Mitmenschen weitergegeben werden will. Diese theologischen Überzeugungen des Johannes – vorbereitet im Johannesevangelium und ausgearbeitet im ersten Johannesbrief – sind bis heute aber auch in besonderer Weise Christinnen und Christen in der Verfolgung wichtig. Dies zeigt sich etwa an der Barmer Theologischen Erklärung, die den Widerspruch zum nationalsozialistischen Unrechtsregime ausdrücklich mit Gedanken aus Joh 1,1–18 begründet. Auch in vielen christlichen Gemeinden der Gegenwart, die in Nordkorea, China und vor allem in Staaten des Nahen und Fernen Ostens sowie in Nordafrika vielfachen Anfeindungen und Verfolgungen ausgesetzt sind, spielen die theologischen Gedanken der Schriften des Johannes und deren Zuspitzung des christlichen Glaubens auf Jesus Christus eine herausragende Rolle. Für diese kann der Aufruf zum furchtlosen Bekenntnis zu dem in die Welt gekommenen Christus und Gottessohn, der selbstlos sein Leben für die Seinen eingesetzt hat, das christliche Profil schärfen und allen Verfolgungserfahrungen zum Trotz Geborgenheit und Zuversicht vermitteln: Wer nun bekennt, dass Jesus Gottes Sohn ist, in dem bleibt Gott und er in Gott (4,15). Aber auch die christlichen Gemeinden, die keiner Gefährdung oder Verfolgung ausgesetzt sind, können sich fragen, wie sie ihren verfolgten Schwestern und Brüdern mit Tat und Wahrheit (3,18) beistehen und dadurch die im ersten Johannesbrief immer wieder geforderte Liebe üben können. Der Verfasser des ersten Johannesbriefs ist also nicht ein besserwisserischer, selbsternannter Zeitzeuge Jesu, der mehr oder weniger selbstherrlich die Grenze zwischen Recht- und Falschgläubigkeit zieht, sondern ein Apostel, der auf dem Hintergrund des Johannesevangeliums mehrere zutiefst verunsicherte und in ihrer Existenz gefährdete christliche Gemeinden zu stabilisieren sucht, indem er ihnen bewusst macht, dass sie mit ihrer gelebten Glaubenswahrheit, dem Bekenntnis zu Jesus und der damit zusammenhängenden Solidarität untereinander (Bruderliebe), das ewige Leben verliehen bekommen werden bzw. bereits haben. In bewusstem Gegensatz zu aller Heillosigkeit in ihrer Gegenwart ruft er ihnen zu: Seht, welche Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir Gottes Kinder heißen sollen – und wir sind es auch (3,1)!
Der zweite Johannesbrief
Einleitung
Der zweite Johannesbrief ist ein kurzes Schreiben, das der Älteste an die auserwählte Herrin richtet (V. 1). Dadurch wird bereits deutlich, dass es sich hier – anders als beim ersten Johannesbrief – auf den ersten Blick um einen echten Brief handelt. Auch der formale Aufbau entspricht genau dem eines Briefes. Im Vorwort (Präskript) werden Absender und Adresse genannt. Dieses schließt mit einem Friedenswunsch (V. 1–3; vgl. 1Thess 1,1; 1Kor 1,1–3; 2Kor 1,1f; Gal 1,1–5; Röm 1,1–7; Phil 1,1f; Phlm 1–3 u.a.). Im darauf folgenden Eingangsteil (Proömium) verleiht der Absender seiner Freude oder seiner Dankbarkeit über den Glauben der Adressaten Ausdruck (V. 4; vgl. 1Thess 1,2–10; 1Kor 1,4–9; 2Kor 1,3–11; Röm 1,8–15; Phil 1,3–11; Phlm 4–7 u.a.). Im Hauptteil geht es in der Regel zunächst um teilweise ganz konkrete Fragen der Glaubenslehre: Was bedeutet es, an Jesus Christus zu glauben? Im Anschluss daran erläutert der Verfasser, welche Folgen für das Handeln sich daraus ergeben. Im zweiten Johannesbrief lassen sich allerdings diese beiden Gesichtspunkte nicht sauber trennen. Aufgrund der Kürze des Schreibens gehen sie ineinander über (V. 5–11). Der Brief schließt mit der Absichtserklärung, die Adressaten bald zu besuchen (V. 12; vgl. 1Kor 16,5–12; Röm 15,23f.28f; Phlm 22 u.a.). Danach folgen noch die Schlussgrüße (V. 13; vgl. 1Thess 5,26; 1Kor 16,19–21; 2Kor 13,12; Röm 16,21–23; Phil 4,21f; Phlm 23f u.a.). Auch der zweite Johannesbrief gilt als »katholischer«, d.h. an alle dem Verfasser bekannten christlichen Gemeinden gerichteter Brief. Tatsächlich lassen sich weder der Absender noch die Adressatengemeinde genau bestimmen. Als auserwählte Herrin kann sich jede vorstellbare Einzelgemeinde angesprochen fühlen. In der Regel wagen die Forscher keine eindeutige Aussage in Bezug auf die Frage, ob der zweite Johannesbrief ein echter Brief an eine konkrete Gemeinde ist oder ob er dies nur – angezeigt durch seine ungenaue Adressatenangabe – vorgibt und sich prinzipiell an alle bekannten (Haus-)Gemeinden in Kleinasien richtet. Dieses Problem kann jedoch erst nach Klärung der Verfasserfrage gelöst werden. Im Unterschied zu dem Verfasser des ersten Johannesbriefs nennt sich der des zweiten Johannesbriefs Ältester (Presbyter). Dieser Ausdruck kann sowohl eine Altersbezeichnung (vgl.
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Gen 18,11f; 19,4.31.34; 24,1; 35,29 u.ö. sowie Joh 8,9; Apg 2,17; 1Tim 5,1.2 1Petr 5,5 u.ö.) als auch Titel für den Träger eines Amtes sein. Ursprünglich wurden mit dem Begriff im jüdischen Zusammenhang sowohl Mitglieder des Jerusalemer Hohen Rates (Lk 22, 66; Apg 22,5) als auch Mitglieder des Leitungsgremiums in Synagogengemeinden (Lk 7,3) bezeichnet. Ihre Aufgabe war es, dafür zu sorgen, dass die alten Traditionen und Gebote bewahrt und eingehalten werden (Mt 15,2; Mk 7,3.5). Im aufkommenden Christentum wurde der Begriff als Amtsbezeichnung übernommen. Nach Darstellung des Lukas gibt es Älteste in der Jerusalemer Urgemeinde (Apg 11,30; 15,2.4.6 u.ö.). Jakobus, der leibliche Bruder Jesu, schien die Leitung in diesem Kollegium übernommen zu haben (Apg 21,18). Es sind Älteste, die einzelne heidenchristliche Gemeinden leiten (Apg 20,17–38); so wählen Paulus und Barnabas – nach Darstellung der Apostelgeschichte (Apg 14,23) – diese bei ihrem Abschied überall in den Gemeinden aus. In seiner Abschiedsrede an die Ältesten aus Ephesus macht Paulus dann deutlich, welche Rolle ihnen zukommt: Nachdem der Apostel sie mit dem ganzen Willen Gottes vertraut gemacht hat, hat sie der Heilige Geist zu Aufsehern (epískopoi – aus diesem griechischen Begriff entwickelt sich der Ausdruck Bischof) und Hirten über die Gemeinde gesetzt. Sie sollen das Vermächtnis des Apostels verwalten (Apg 20,28–35). Nach Tit 1,5 sind im Namen des Apostels Älteste eingesetzt worden (auch hier ist der Begriff austauschbar mit Episkopen). Ihre Aufgaben sind dabei sowohl die Predigt als auch die Lehre (1Tim 5,17). Der Jakobusbrief erwähnt in Jak 5,4 als einziges kirchliches Amt das der Presbyter. Sofern jemand krank ist, solle man diese herbeirufen, damit sie durch Gebet und Salbung im Namen des Herrn den Kranken heilen. Mit dem Begriff Ältester ist also in den urchristlichen Gemeinden ein bestimmtes Amt bezeichnet, das zugleich voraussetzt, dass der Amtsinhaber bereits im fortgeschrittenen Alter ist. Das Amt des Ältesten ist dem des Apostels zeitlich nachgeordnet. Wenn also der erste Johannesbrief vorgibt, von einem Apostel, d.h. einem Augen- und Ohrenzeugen des irdischen Jesus sowie Auferstehungszeugen (vgl. Apg 1,21f), verfasst worden zu sein (1Joh 1,1–3), dann legt die Information, der Verfasser des zweiten Johannesbriefs sei ein Ältester gewesen, nahe, dass das vorliegende Schreiben auch zeitlich nach dem ersten Johannesbrief entstanden ist und von einem anderen Verfasser stammt. Schließlich erwähnt der Verfasser nirgendwo im zweiten Johannesbrief, er sei ein Augen- und Ohrenzeuge des irdischen Jesus gewesen (vgl. 1Joh 1,1–3). Ein solcher Verweis hätte aber die Autorität des vorliegenden Schreibens noch einmal deutlich unterstrichen. Stattdessen bezeichnet er sich eben nur als der Älteste. Die These, dass zwischen
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dem ersten und zweiten Johannesbrief auch ein theologischer Unterschied bestehe (so wurde etwa vermutet, im zweiten Johannesbrief läge ein anderes Verständnis von Wahrheit vor als im ersten), ist wegen der Kürze des zweiten Johannesbriefs nicht überzeugend begründbar. Das Hauptproblem, das in Bezug auf die Gestalt des Ältesten in der Forschung diskutiert wird, ist die Tatsache, dass alle Belege für Älteste von einem Kollegium ausgehen und deshalb den Ausdruck im Plural bieten, während der zweite (und der dritte) Johannesbrief von einem einzelnen Ältesten verfasst sein will. Die Frage, die sich anschließt, lautet: Will der Verfasser mit dieser Selbstbezeichnung von den Adressaten erkannt werden können oder will er sich hinter der allgemeinen Amtsbezeichnung verstecken? Tatsächlich ist vermutet worden, der Älteste sei in der Tradition der Theologie des Johannes ein besonders hochgeschätzter und dementsprechend bekannter Lehrer gewesen, also der Älteste schlechthin. Dieser habe es gar nicht nötig gehabt, seinen Namen zu nennen, weil die Adressatengemeinde genau gewusst habe, wer ihr schreibt. Hätte er sich durch den Ausdruck als Mitglied eines gemeindeleitenden Gremiums kennzeichnen wollen, hätte er zudem den Namen seiner Heimatgemeinde mitgenannt. Aber solche Argumente, die auf etwas Bezug nehmen, was gerade nicht gesagt wird, sind traditionell eher als schwach anzusehen. Seine herausragende Stellung ist – so wird jedenfalls vermutet – daran sichtbar, dass er der angeschriebenen Gemeinde Anweisungen erteilt. Außerdem habe er selbst nach 3Joh 7 Wanderprediger beauftragt und ausgesandt. Aufgrund der Tatsache, dass der Verfasser eine konkrete Adressatengemeinde nicht benennt, wäre es aber auch vorstellbar, dass er sich hinter der Bezeichnung der Älteste verstecken und gerade nicht identifiziert werden will. Sein Schreiben wäre dann ein Rundschreiben an alle ihm bekannten Gemeinden, die sich unter der Adressatenangabe auserwählte Herrin angesprochen fühlen könnten. Aber die Tatsache, dass auch der dritte Johannesbrief, der ein echter Privatbrief an einen konkreten Gaius ist, vom Ältesten verfasst wurde, legt die Vermutung nahe, dass der Absender tatsächlich – wie die meisten Kommentare auch annehmen – eine konkrete, allseits bekannte kirchliche Autorität war und der zweite Johannesbrief dementsprechend auch als echter Brief (und nicht als ein Rundschreiben) anzusehen ist. Nach Papias von Hierapolis war etwa um das Jahr 130 n.Chr. Johannes der Älteste (Presbyter) als Schüler des Evangelisten Johannes eine wichtige kirchliche Autorität (Euseb, HistEccl 3,39,6). Auf den Erstgenannten gehe – so Papias – auch die Johannesoffenba-
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rung zurück. Da 2Joh 1 vorgibt, das Schreiben sei von einem Presbyter verfasst, legt sich die Vermutung nahe, dieser Johannes sei auch der Verfasser des zweiten Johannesbriefs gewesen. Tatsächlich bestehen vielfache theologische Bezüge zwischen dem vorliegenden Schreiben und dem ersten Johannesbrief, sodass von einem Lehrer-Schüler-Verhältnis ausgegangen werden kann. Aufgrund der Absenderangabe wird der Verfasser des zweiten Johannesbriefs im folgenden Kommentar durchweg als der Älteste bezeichnet. Wo genau die Gemeinde zu suchen ist, an die sich der zweite Johannesbrief richtet, kann auch wegen der Kürze des Schreibens aus dem vorliegenden Text nicht herausgelesen werden. Aufgrund der inhaltlichen Nähe zum ersten Johannesbrief (dies wird die Auslegung noch deutlich machen) kann man nur vermuten, dass sie im Bereich der Gemeinden zu suchen ist, an die sich bereits der erste Brief gerichtet hatte. Wir haben also auch hier mit einer christlichen Gemeinde im Westen Kleinasiens als Adressaten zu rechnen. Hinzu kommt, dass Papias (Euseb, HistEccl 3,39,6) von den Gräbern des Evangelisten Johannes und des Ältesten Johannes in Ephesus berichtet. Deshalb wird vielfach auch vermutet, der zweite Johannesbrief sei in Ephesus abgefasst worden. Viele Formulierungen lehnen sich derart nah an das Johannesevangelium, aber ganz besonders auch an den ersten Johannesbrief an, dass eine Kenntnis dieser Schriften vorauszusetzen ist. Umso genauer wird man die doch vorhandenen Unterschiede zu beachten haben. Und wenn sich der Verfasser jetzt deutlich kürzer fassen kann (13 Verse) als im ersten Johannesbrief (105 Verse), dann lässt bereits diese formale Beobachtung darauf schließen, dass sich die Situation der Gemeinde, die der Verfasser im Blick hat, zwar verschärft, aber nicht grundsätzlich geändert hat. Auf jeden Fall hatte er die Abfassung eines neuerlichen Schreibens für nötig erachtet. So scheint die Adressatengemeinde zumindest teilweise in Auflösung begriffen zu sein, da jetzt ausdrücklich davor gewarnt wird, das bisher Erarbeitete zu verlieren (V. 8). Völlig neu gegenüber dem ersten Johannesbrief ist die Empfehlung für den Umgang mit denjenigen, die das christliche Bekenntnis ausdrücklich ablehnen (V. 10f): Der Älteste fordert in einem solchen Fall den Abbruch aller sozialen Beziehungen. Insgesamt ist festzuhalten: Johannesevangelium und erster Johannesbrief sind nach wie vor bekannt, in Gebrauch und aus der Sicht des Verfassers des zweiten Johannesbriefes in Geltung. Nur ganz wenige Aussagen möchte er aber noch einmal in Erinnerung rufen und an ein ganz bestimmtes Problem, das in seiner Gegenwart offenbar noch einmal verschärft auftritt, anpassen. Deshalb kann er
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sich so kurz fassen, dass der Brief (beim Abschreiben) auf einem Papyrusblatt Platz gefunden hat. Schon allein aufgrund dieser Kürze ist nicht damit zu rechnen, dass sich vergleichbare theologisch herausragende Sätze im zweiten Johannesbrief finden wie noch im ersten.
Die Auslegung
1–3 Das Vorwort 1
Der Älteste an die auserwählte Herrin und ihre Kinder, die ich lieb habe in Wahrheit, und nicht allein ich, sondern auch alle, die die Wahrheit erkannt haben 2 wegen der Wahrheit, die in uns bleibt und bei uns sein wird in Ewigkeit: 3 Es wird mit uns sein Gnade, Barmherzigkeit, Friede von Gott, dem Vater, und von Jesus Christus, dem Sohn des Vaters, in Wahrheit und Liebe! Der klassische Briefaufbau zeigt sich in V. 1 bereits daran, dass der Verfasser sich selbst als Absender zuerst nennt (vgl. Röm 1,1; 1Kor 1,1; 2Kor 1,1; Gal 1,1; Phil 1,1 u.ö.). Anders als im ersten Johannesbrief verweist der Absender nicht darauf, dass er – angeblich – den irdischen Jesus höchstpersönlich betrachtet, gehört und betastet habe (vgl. 1Joh 1,1–3); dabei hätte dies die Autorität seines Schreibens noch einmal deutlich erhöht. Stattdessen bezeichnet er sich lediglich mit seinem Amt innerhalb einer Gemeinde als der Älteste. Damit steht sein Schreiben deutlich unterhalb der Autorität des ersten Johannesbriefes. Darüber hinaus verwendet er – anders als etwa in 1Joh 1,1–5 – nie den Plural wir und uns, wenn er von sich schreibt, sondern spricht nur von sich selbst (ich; vgl. 2Joh 1.4.5. 12), obwohl er am Schluss Grüße aus seiner gesamten Gemeinde bestellt. Dass der Verfasser mit der Bezeichnung der Älteste bei der Adressatengemeinde unverwechselbar bekannt war – wie häufig in der Forschung vermutet –, darf mit Recht bezweifelt werden. Denn er verzichtet darauf, die Adressatengemeinde exakt zu bestimmen. Deshalb legt sich die Vermutung nahe, der Verfasser hat deshalb auf eine exakte Bezeichnung der Adressatengemeinde verzichtet, weil er möchte, dass sich alle ihm bekannten Gemeinden angesprochen fühlen. Wenn plötzlich in irgendeiner Gemeinde (wahrscheinlich im Westen von Kleinasien) dieses Schreiben auftaucht, von dem keiner (außer dem eigentlichen Verfasser) wissen kann, an wen es sich eigentlich richtet, kann keiner Verdacht schöpfen, dass
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es sich um einen völlig unbekannten Verfasser handelt, der die Gemeinden in seinem Sinne beeinflussen möchte. Wäre die Adressatengemeinde durch die Nennung eines Ortsnamens exakt bestimmbar gewesen, hätte man – sobald der Brief in einer anderen Gemeinde auftaucht – dort nachfragen können. Dann wäre wohl herausgekommen, dass weder so ein Brief an die genannte Adressatengemeinde jemals angekommen ist noch dass dort ein »unverwechselbar bekannter Ältester« aus irgendeiner Nachbargemeinde bekannt ist. Kurzum: Ähnlich wie der erste Johannesbrief die praktischen Folgen aus dem Johannesevangelium für die Gemeinden erläutern will, möchte der zweite Johannesbrief den ersten im Hinblick auf eine neu auftauchende Problematik aktualisieren und dadurch auch neu in Kraft setzen. Dafür sprechen die vielfältigen Übernahmen von Wörtern und Wortfolgen aus dem ersten Johannesbrief. Zugleich stellt sich der zweite Johannesbrief durch die Bezeichnung seines Verfassers als Ältester deutlich unter die Autorität des ersten Johannesbriefs, der ja angeblich von einem Augen- und Ohrenzeugen des irdischen Jesus verfasst worden war (vgl. 1Joh 1,1–3). Der Verfasser möchte, indem er sich selbst die Anrede Ältester (Presbyter) beilegt, seinem Schreiben bei den ihm bekannten Gemeinden Autorität und Anerkennung verleihen. Mit Hilfe dieses Titels tut er so, als wäre er bei den (wohlgemerkt: nicht wirklich genannten) Adressaten ein besonders hochgeschätzter und allseits bekannter Lehrer. Wenn aber vorauszusetzen ist, dass der Verfasser des vorliegenden Schreibens auch von seinen Zeitgenossen als der Älteste bezeichnet wurde, dann war er – so wird in der Forschung immer wieder vermutet – wohl nicht Vorsitzender eines örtlichen Ältestenrates, sondern verstand sich als Träger und Überlieferer der christlichen Tradition. Der Titel Presbyter ist in keiner kirchlichen Verfassung der urchristlichen Zeit unterzubringen. Unterstellt man aber, dass der Verfasser mit der Selbstbezeichnung der Älteste seinem Schreiben lediglich Aufmerksamkeit und Autorität sichern und seine eigene Person dahinter verstecken wollte, so ist die Besonderheit dieses Titels innerhalb der gesamten neutestamentlichen Literatur der Absicht des Verfassers geschuldet. Aufs Ganze gesehen ist das vorliegende Schreiben zu verstehen als eine Art Erläuterung zu einem Problem innerhalb der damals bekannten christlichen Gemeinden, das der erste Johannesbrief noch nicht behandelt. Als Adressat des zweiten Johannesbriefs nennt der Älteste eine »auserwählte Herrin und ihre Kinder«. Auch wenn zuweilen vermutet worden ist, es könnte sich um eine konkrete Frau (die entweder Herrin Eklekte, d.h. die Auserwählte, heißt, wobei dieser Name
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nirgendwo sonst belegt wäre, oder die eben als auserwählte Herrin bezeichnet wird) und deren Kinder handeln, die hier genannt werden, sind sich alle wissenschaftlichen Kommentatoren sehr sicher, dass mit diesem Ausdruck eine Gemeinde mit den dazugehörigen Gläubigen angesprochen sein soll. Dafür spricht vor allem die Schlussnotiz des zweiten Johannesbriefes, in dem die Kinder deiner Schwester, der Auserwählten ihre Grüße übermitteln. Darüber hinaus wird Israel im Alten Testament auch hin und wieder als Frau angesprochen (vgl. bereits Hos 1.3; Mi 4,8; Jer 31,21). Der Ausdruck Herrin für eine Gemeinde ist im gesamten Neuen Testament sonst nicht belegt. Manche Kommentare weisen darauf hin, dass der Begriff Herrin auch als ehrenvolle Bezeichnung für eine politische Gemeinde nachweisbar sei, verzichten aber meist auf die Nennung konkreter Belegstellen. Tatsächlich wird aber in den politischen Traktaten von Aristoteles immer wieder der Rat einer Gemeinde (boulé ist feminin) als Herrin bezeichnet. Dies geschieht aber stets mit einer Erläuterung, worüber der Gemeinderat die Herrin war (Athenaion Politeia 45,1,1; 45,2,1). Noch etwas näher an der Redeweise des zweiten Johannesbriefes sind jedoch die Belege bei Aristoteles, in denen er davon spricht, dass die Volksversammlung (ekklesía) die Herrin (kyría) über gewisse Entscheidungen sei (Politica 1272a10; 1282a28). Auch wenn der Ausdruck »Gemeinde« (ekklesía) im zweiten Johannesbrief noch nicht auftaucht, ist sehr wohl vorstellbar, dass er in den dem Ältesten bekannten Gemeinden bekannt und in Gebrauch war – wie in 3Joh 6.9.10 deutlich wird. Aufgrund dieser Belege ist sehr wohl vorstellbar, dass nicht nur die Bezeichnung ekklesía (Versammlung, Gemeinde), sondern auch der Begriff kyría (Herrin) über die politische Verwendung Eingang in den neutestamentlichen Sprachgebrauch gefunden hat. Sofern der Bezug zur ekklesía (feminin) hergestellt wird, ist auch klar, weshalb diese als Herrin (kyría ist ebenfalls feminin) zu bezeichnen war. Auffällig ist aber, dass Aristoteles auch in diesem Fall stets angibt, worüber die Volksversammlung zu entscheiden hatte bzw. worüber sie Herrin war. Dass der Älteste es nicht für nötig befindet, den Begriff Herrin in ähnlicher Weise näher zu bestimmen, zeigt: Die christlichen Gemeinden sind frei, und im Grunde hat niemand über sie zu bestimmen. Es ist also damit zu rechnen, dass die Einführung des Begriffs Herrin für eine christliche Gemeinde – ähnlich wie die Bezeichnung erwählt – der Wirklichkeitserfahrung widerspricht. Die christlichen Gemeinden erfahren sich gerade nicht als auserwählte Herrinnen, sondern eher als drangsalierte Knechte. Gegen diese Realität der Gefährdung bekräftigt der Älteste mit Hilfe des Ausdrucks »erwählte Herrin« den Heilsanspruch der Gemeinde »wider allen Augenschein«. Darüber hinaus
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ist die Verwendung des Begriffs Herrin (kyría) für die Gemeinde eine Anspielung auf Jesus Christus als den Herrn (kýrios) der Glaubenden (vgl. Joh 4,1; 6,23; 11,2; 20,2.13; vgl. Gott in Joh 1,23; 5,4; 12,13,38). Der Älteste wollte also durch Redeweise von der christlichen Gemeinde als Herrin deutlich machen, dass diese als Ganze Jesus, den Herrn, nach dessen Erhöhung (Joh 3,14; 8,28f; 12,32f) auf der Erde vertritt. Anders als noch in 1Joh 2,6 (Wer sagt, dass er in ihm bleibt, der soll auch leben, wie er gelebt hat) wird dadurch nicht jeder einzelne Glaubende in die Pflicht genommen, Jesus nachzufolgen, sondern die Gemeinde als Ganze. Sie ist – um es mit einem Wort Dietrich Bonhoeffers zu sagen – Christus als Gemeinde existierend. Dafür nimmt der Älteste in Kauf, dass er jetzt die Gemeindeglieder nicht mehr als Kinder Gottes (1Joh 3,1) bezeichnen kann, sondern als Kinder (im Sinn von »Angehörige«) der Herrin. Das Partizip Perfekt Passiv erwählt setzt fraglos voraus, dass Gott das Subjekt der Erwählung ist: Er ist es, der die Gemeinde und deren Kinder erwählt hat. Die Erwähltheitsvorstellung geht dabei auf Paulus zurück, der in Röm 8,33 die Glaubenden als Erwählte Gottes bezeichnet. Inhaltlich näher am zweiten Johannesbrief ist aber die im ersten Petrusbrief gebotene Überzeugung, erwählt zu sein (vgl. 1Petr 1,1; 5,13). Wenn dort deutlich wird, dass die Fremdlingschaft die Kehrseite der Erwählung ist, dann spricht – auch und gerade wegen des Zusammenhangs mit dem ersten Johannesbrief – sehr viel dafür, dass dieser Begriff auch hier entgegen den Erfahrungen der christlichen Gemeinde(n) in der Gegenwart verwendet worden ist. Der Realität der Gemeinde(n) entspricht eher die Erfahrung der Ausgrenzung, Gefährdung und ansatzweise sogar Verfolgung. Die Formulierung jemanden in Wahrheit lieben taucht vor allem in den Psalmen Salomos auf, einer jüdischen Schrift aus dem ersten Jahrhundert vor Christus (PsSal 6,6; 10,3; 14,1; vgl. auch 4,25). Dort wird durchweg denjenigen Gnade zugesagt, die Gott, den Herrn (kýrios), in Wahrheit lieben. Im vorliegenden Schreiben ist es der Älteste, der von sich behauptet, dass er die Kinder der Herrin in Wahrheit liebt. Wenn tatsächlich die Redeweise in den Psalmen Salomos hier als Vorlage gedient hat, dann bestätigt dies die obige Vermutung, wonach für den Ältesten die Herrin, die Gemeinde, den Herrn Jesus selbst darstellt und dessen Gegenwart repräsentiert. Der Ausdruck in Wahrheit lieben spielt zugleich auf 1Joh 3,18 an; dort fordert Johannes seine Adressaten auf, nicht mit der Zunge, sondern in Tat und Wahrheit einander zu lieben. Dort war auch festgestellt worden, dass die beiden Begriffe für die materielle Unterstützung (Tat; vgl. 1Joh 3,17) und das offene Bekenntnis zu Jesus und zur Gemeinde (Wahrheit) stehen. Diese Interpretation
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wird durch den vorliegenden Vers gestützt: Dem Ältesten geht es hier ja nicht um materielle Unterstützung der Glieder einer fremden Gemeinde, sondern um eine offene Demonstration der Zusammengehörigkeit im gemeinsamen Glauben an Jesus Christus. Deshalb fügt er noch einen weiteren Halbsatz an: Nicht nur er, der Älteste, sondern auch alle, die die Wahrheit erkannt haben, lieben die Kinder der Herrin, also der Adressatengemeinde(n). Der Älteste setzt bei seiner Leserschaft ein Wissen darum voraus, was er unter Wahrheit versteht. Für den Ältesten ist genauso wie für Johannes (Johannesevangelium und erster Johannesbrief) die Wahrheit keine Satzwahrheit, sondern eine gelebte Wahrheit. Dies zeigt bereits die erste Verwendung des Begriffs im vorliegenden Schreiben: Er bezeichnet sich im Grunde als wahrer Bruder oder Freund seiner Adressaten. In der alttestamentlichen Tradition wird der griechische Begriff für Wahrheit (alétheia) häufig als Übersetzung zweier hebräischer Vorstellungen verwendet, die entweder Festigkeit, Tragfähigkeit, Verbindlichkeit (ämät) oder Zuverlässigkeit, Treue, Redlichkeit (ämuna) bedeuten. Legt man hier also das alttestamentliche Verständnis von Wahrheit zugrunde, hat dieser Begriff Wahrheit in den Johannesbriefen den Sinn von Verlässlichkeit, Gewissheit. Es geht um eine Verlässlichkeit, der der Angesprochene trauen kann. Dies ist etwas völlig anderes als von Wahrheit als Prädikat bzw. Eigenschaften von Sätzen bzw. Aussagen zu sprechen. Wenn der Älteste schreibt: Ich liebe euch in Wahrheit, dann beschreibt er damit nicht nur eine Wahrheit, sondern er tut zugleich etwas: Er schafft Verlässlichkeit. Von daher ist die Wahrheit, von der hier gesprochen wird, keine Aussage-Wahrheit, sondern eine Wahrheit, die sich durch die Aussage vollzieht, eine gegebene Wahrheit, in die der Adressat mit einbezogen wird. Die Wahrheit erkannt zu haben, bedeutet dann für den Ältesten nichts anderes als (1) davon überzeugt zu sein, dass Jesus von Gott in die Welt gesandt worden ist (vgl. 1Joh 5,6; vgl. 1Joh 4,9.14) und zugleich (2) erfasst zu haben, was diese Sendung Jesu in die Welt mit dem Leben der Glaubenden zu tun hat: Befreiung von der Sünde (Joh 8,32–34; vgl. 1Joh 1,7; 2,2.12; 3,5.9 sowie bes. 1Joh 4,10) und Verleihung ewigen Lebens (1Joh 1,1f; 2,25; 3,14; 4,9 sowie bes. 5,11–13). Die Glaubenden leben dadurch im Heilsbereich Gottes. Es ist deshalb so schwierig, diese »Wahrheit« zu erkennen, weil die Wirklichkeit der Gemeinde eine völlig andere ist: Die an Christus Glaubenden werden nach wie vor durch die staatlichen Maßnahmen (vgl. oben S. 138–141) stark gefährdet, sodass es eigentlich so aussieht, als lebten sie in einem Unheilsbereich. Ein Abfall vom christlichen Glauben und eine Zuwendung zur jüdischen Gemeinde oder gar zum Heidentum würde die Probleme für den Einzelnen zwar
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lösen, aber nach Meinung des Ältesten käme das einer Verleugnung der erkannten Wahrheit gleich. Zu Beginn von V. 2 nennt der Älteste den Grund für sein Schreiben: Es ist die Wahrheit. Johannes kann deshalb hier so geheimnisvoll unbestimmt sein, weil er voraussetzt, dass seine Adressaten nicht nur das Johannesevangelium, sondern auch den ersten Johannesbrief kennen. Beide Schriften haben bereits mehr als deutlich gemacht: Wahr ist die Botschaft von der Liebe Gottes, der seinen Sohn in die Welt gesandt hat, damit alle, die an diesen Jesus Christus glauben, das ewige Leben haben (Joh 3,16; 12,25 u.ö.; 1Joh 5, 11–13 u.ö.). Genau dies ist auch der Grund, weshalb das Heilsgut Leben, das noch im Johannesevangelium und im ersten Johannesbrief so wichtig war, im zweiten Johannesbrief gar nicht auftaucht. Der Begriff Wahrheit wird für den Ältesten zum Kennwort für die Heilsbotschaft des Johannes im Evangelium und erstem Johannesbrief. Dies zeigt sich auch an der Wortstatistik: im 105 Verse umfassenden ersten Johannesbrief taucht neunmal der Begriff Wahrheit auf, während im nur 13 Verse langen zweiten Johannesbrief allein fünfmal – und alle fünf Belege finden sich in den ersten vier Versen. Wenn also Leben als Heilsgut – ganz anders als im ersten Johannesbrief – im vorliegenden Schreiben nirgendwo auftaucht, ist daraus kein Widerspruch zu herauszulesen. Der Älteste spielt mit dem Begriff Wahrheit auf das in Jesus auf der Erde erschienene Leben an, das den Glaubenden verheißen ist. Deshalb betont er im folgenden Vers mit Hilfe einer aus dem ersten Johannesbrief bekannten Durchdringungsformel, dass diese Wahrheit in uns bleibt und bei uns sein wird in Ewigkeit. Diese Beteuerung ist notwendig, weil eben viele der Gemeinde den Rücken zuwenden und sich damit vom Hassobjekt des Staates (und wahrscheinlich auch der jüdischen Synagogengemeinden vor Ort) abwenden. 1Joh 1,8 stellt fest, dass die Wahrheit dann im Glaubenden ist, wenn er seine Sünden – gemeint sind seine Zweifel und seine Schwäche – bekennt. Denn nur in diesem Fall ist nach 1Joh 2,4 auch die Wahrheit im Glaubenden, wenn er Jesus kennt und dessen Gebote auch einhält, nämlich an Jesus zu glauben und mit den anderen Gemeindegliedern solidarisch zu sein, d.h. sich offen zur christlichen Gemeinde zu bekennen (1Joh 3,23). Die Verwendung der Durchdringungsformel (die Wahrheit in uns und bei uns) ist wieder der Unanschaulichkeit des Heils geschuldet: Dass die Wahrheit in uns ist, ist leider für das bloße Auge nicht sichtbar. Auch hier wird deutlich: Die Wahrheit, von der Johannes im ersten Johannesbrief gesprochen hat und in dessen Nachfolge der Älteste spricht, ist kein Für-wahr-Halten einer Aussage, sondern das Wissen um den in die Welt von Gott gesandten Gottessohn, der die
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Gemeinde von ihren Sünden, d.h. vom Unglauben, befreien will und ewiges Leben schenkt bzw. schenken wird. Wer auf dieser Wahrheit sein Leben aufbaut, wird es nicht verlieren, sondern in Wahrheit geschenkt bekommen (vgl. Joh 10,10.27f; 11,25f; 1Joh 2,25; 3,14; 4,9; 5,11–13.16). Der Älteste bezeichnet die Wahrheit, von der er spricht, als eine solche, die in uns bleibt. Mit diesem uns schließt er sich ausdrücklich mit seinen Adressaten zusammen. Es setzt damit eine durch den Glauben an Jesus hergestellte Gemeinschaft mit den Glaubenden aus den anderen Gemeinden voraus. Im ersten Johannesbrief war es noch um die Herstellung dieser Gemeinschaft gegangen (1Joh 1,3). Auch diese Beobachtung spricht dafür, dass der zweite Johannesbrief zeitlich nach dem ersten entstanden sein dürfte. Der Gruß am Schluss des Vorworts in V. 3 entspricht formal und inhaltlich urchristlicher Praxis. Die Vorstellung von Gnade und Barmherzigkeit als Heilsgaben für die Erwählten (vgl. V. 1) findet sich bereits in der frühjüdischen Schrift Weisheit Salomos (Weish 3,9; 4,15). Paulus grüßt dagegen seine Adressaten am Ende der Vorworte seiner Briefe, indem er ihnen Gnade und Frieden von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus wünscht (Röm 1,7; 1Kor 1,3; 2Kor 1,2; Gal 1,3; Phil 1,2; 1Thess 1,3, Phlm 3; vgl. auch Eph 1,2; 2Thess 1,2 sowie leicht abgewandelt Kol 1,2; Tit 1,4 und 1Petr 1,2; 2Petr 1,2). Wenn Paulus die Stellen aus dem Buch der Weisheit geläufig waren, dann hat er offenbar in Gnade und Barmherzigkeit keinen Unterschied gesehen und deshalb nur einen Begriff verwendet, dem er aber noch den Frieden an die Seite gestellt hat. Dass der Älteste hier eine urchristliche Formel übernimmt, kann kaum bezweifelt werden. Sowohl Gnade (vgl. Joh 1, 14.16.17) als auch Barmherzigkeit (kein Beleg) oder Frieden (vgl. Joh 14,27; 16,33; 20,19.21.26) tauchen im Johannesevangelium nur selten und in den Johannesbriefen abgesehen von 2Joh 3 gar nicht auf. Als Gnade und Wahrheit wird dabei das Kommen Jesu in die Welt verstanden (Joh 1,16f), während Frieden nur im Mund Jesu entweder als Willkommensgruß (Joh 20,19.21.26; vgl. 3Joh 15) oder im Zusammenhang seines Abschieds zur Sprache kommt. Jesus verleiht den Jüngern seinen Frieden (Joh 14,27; 16,33). Von diesem Frieden ist auch hier die Rede. Dem vorliegenden Vers am nächsten kommt daher die Formel aus 1Tim 1,2 und 2Tim 1,2, denn hier werden den Adressaten nicht nur Gnade und Frieden, sondern Gnade, Barmherzigkeit und Frieden gewünscht. Die Formulierung in 2Joh 3 ist aber vor allem deshalb einzigartig, weil sie kein Wunsch, sondern eine Verheißung ist: Der Älteste leitet die traditionellen, aber im Sinne des Johannesevangeliums verstandenen Heilsgaben (Gnade, Barmherzigkeit, Frieden)
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mit dem Satz ein: Es werden mit uns sein. Damit versichert er sich und seinen Adressaten, mit denen er sich hier wieder ausdrücklich zusammenschließt, dieser zentralen Heilsgaben. Er verwendet hier das Futur, weil eben klar ist, dass Gottes Gnade, Barmherzigkeit und Frieden in der Gegenwart der Gemeinden noch nicht sichtbar sind und deren augenscheinliche Aufrichtung noch aussteht. Auffällig ist darüber hinaus, dass hier – anders als bei Paulus – nicht von Jesus Christus als unserem Herrn (vgl. Röm 1,7; 1Kor 1,3 u.ö. sowie 1Tim 1,2 und 2Tim 1,2) gesprochen wird, sondern von seinem Sohn Jesus Christus. Damit wird wieder auf die bei Johannes so wichtige zentrale Heilstatsache angespielt, die Sendung des Sohnes durch den Vater (Joh 3,16; 1Joh 3,8; 4,9f). Auch an diesem Beispiel ist wieder zu erkennen, dass und auf welche Art und Weise der Älteste den ersten Johannesbrief (und das Johannesevangelium) voraussetzt. Geringfügig geändert hat der Älteste im Vergleich zur traditionellen Formulierung auch eine Präposition: Hinter der deutschen Wendung von Gott steht im Griechischen statt der sonst in diesem Zusammenhang verwendeten Präposition (apò theoû) eine andere präpositionelle Wendung (parà theoû), durch die im Evangelium die Herkunft Jesu beschrieben wird (vgl. Joh 7,29: »Ich bin von (pará) ihm, und er hat mich gesandt«; vgl. Joh 6,46). Darüber hinaus fällt in diesem Zusammenhang auf, dass der Älteste sie – anders als in der Tradition vorgegeben – wiederholt: die Heilsgaben stammen von Gott, dem Vater, UND von Jesus Christus, dem Sohn des Vaters. Beide, Gott und Jesus Christus, vermitteln also Gnade, Barmherzigkeit und Frieden. Dies unterstreicht der Älteste auch dadurch, dass er im vorliegenden Vers Gott zweimal ausdrücklich als Vater bezeichnet. Dieser Begriff ruft zweifellos bei seiner Leserschaft die Vorstellung der Gotteskindschaft und die damit einhergehende innige Gemeinschaft mit dem liebenden Vater – wie sie im ersten Johannesbrief ausführlich dargestellt wurde – in Erinnerung (vgl. nur 1Joh 3,1.9 u.ö.) Schließlich fällt der bei Paulus und auch sonst nirgendwo auftretende Zusatz in Wahrheit und Liebe auf, zwei »Lieblingsbegriffe« sowohl des Johannes (Johannesevangelium und erster Johannesbrief) als auch des Ältesten (zweiter und dritter Johannesbrief). Mit Wahrheit verwendet er wieder seinen ganz besonderen und zentralen Ausdruck, die Zusammenfassung der christlichen Botschaft, auf die der Glaubende sich verlassen und auf der er sein Leben aufbauen kann. Dass die Liebe hier noch Erwähnung findet, bereitet die in V. 5 und 6 geforderte und beschriebene Bruderliebe vor und nimmt zugleich Bezug auf V. 1, in dem der Verfasser seine Liebe zu den angesprochenen Adressaten anspricht.
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In seinem Vorwort spricht der Verfasser – hier Ältester genannt – das für ihn zentrale Thema Wahrheit gleich mehrfach an. Der Begriff Wahrheit bezeichnet für ihn keine Satzwahrheit, sondern fasst das Zentrum seiner Verkündigung zusammen. Es ist das »Evangelium«, wie er es versteht (auch wenn dieser Begriff weder im Johannesevangelium noch in den Johannesbriefen auftaucht): Gott hat seinen Sohn in die Welt gesandt, damit diejenigen, die an ihn glauben, das ewige Leben verliehen bekommen. Wahrheit bedeutet für ihn sodann, dass sich die Gemeindeglieder als wahre Brüder, d.h. als einander liebende Glaubensgeschwister verstehen und dementsprechend handeln. Genauso wie Johannes im ersten Johannesbrief betont der Älteste, der zweifellos in der Tradition des Johannes steht, die Wichtigkeit der Solidarität untereinander und die Gemeinschaft, die er auch über räumliche Entfernung mit den Glaubenden aus anderen Gemeinden hat. Auch den ursprünglich traditionellen Gruß am Schluss des Vorworts verändert er charakteristisch entsprechend seiner eigenen Theologie durch die Zufügung der Begriffe Wahrheit und Liebe und entsprechend den Anforderungen seiner Adressaten durch die Umwandlung des Grußes in eine Verheißung. Die (nach wie vor) verunsicherte und in der gnadenlosen Unbarmherzigkeit der Umwelt gefährdete Adressatengemeinde braucht in einer friedlosen Zeit einen hoffnungsfrohen Ausblick in die Zukunft, die Verheißung von Gnade, Barmherzigkeit und Frieden. Wenn der Älteste von Wahrheit und Liebe spricht, dann verkündigt er gerade nicht mit einem Ausschließlichkeitsanspruch »die wahre Religion«. Wahrheit ist für ihn keine Satzwahrheit, sondern bedeutet im Sinne des hebräischen Wortes für Wahrheit Festigkeit und Verlässlichkeit. In diesem Sinne lädt er dazu ein, dass sich Christinnen und Christen auf die Liebe Gottes verlassen können. Jesus als der von Gott Gesandte hat diese Botschaft vom wahren, seine Kinder liebenden Vater den Seinen vermittelt. Auf diese Wahrheit können sich Christinnen und Christen bis heute verlassen. Darauf können sie ihr Leben aufbauen. 4 Eingangsteil (Proömium) 4
Ich bin sehr erfreut, dass ich aus deinen Kindern solche gefunden habe, die in Wahrheit wandeln, nach dem Gebot, das wir vom Vater empfangen haben.
V. 4 hat eine wichtige Aufgabe im Rahmen eines antiken Briefes: Mit Hilfe eines Kompliments wirbt der Älteste um das Wohlwollen
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seiner Adressaten. Doch anders als in den meisten Paulusbriefen kleidet er dies nicht in die Form einer Danksagung (vgl. auch Röm 1,8; 1Kor 1,4f; Phil 1,3–6; 1Thess 2–3; Phlm 4–6; vgl. Kol 1,3–6; 2Thess 1,3; 2Tim 1,3), sondern er ist sehr erfreut über die Tatsache, dass er in der Adressatengemeinde Menschen gefunden habe, die in Wahrheit wandeln. Die Nachricht von der Freude des Verfassers spielt auf das Ziel des ersten Johannesbriefs an, wonach dieser verfasst worden sei, damit die Freude erfüllt werde (1Joh 1,4). Dies scheint nach Aussage von 2Joh 4 zumindest ansatzweise gelungen zu sein. Wo und wann der Älteste die in Wahrheit wandelnden Kinder der Gemeinde – damit spielt er auf V. 1 an – gefunden haben will, wird nicht gesagt. Dass er damit voraussetzt, er habe die Gemeinde einmal besucht und die entsprechenden Gemeindeglieder dabei getroffen, scheint unwahrscheinlich. Vielmehr setzt er einfach voraus, dass es in der Gemeinde Glaubende gibt, die in Wahrheit wandeln – andernfalls hätten diese die Gemeinde längst verlassen und würden dementsprechend diesen Brief auch gar nicht zu lesen bekommen. Die Ungenauigkeit im Ausdruck (solche, die in Wahrheit wandeln) ermöglicht es jedem einzelnen Kind der Adressatengemeinde, sich angesprochen zu fühlen. Zugleich macht die Formulierung deutlich, dass es in den angesprochenen Gemeinden auch Menschen gegeben habe, die nicht (mehr) in der Wahrheit wandeln. Offenbar ist die Grenze hier aus Sicht des Ältesten fließend. Genau dieser fließenden Grenze will und wird das vorliegende Schreiben Rechnung tragen (vgl. V. 9 und 10), insofern es zur Klärung beitragen will. Das Hauptthema des Briefes, die Wahrheit, wird hier als Wandel in der Wahrheit genauer gefasst. Im Johannesevangelium und dem ersten Johannesbrief fand sich diese Formulierung noch nicht, auch wenn es dort um das »Tun« der Wahrheit (Joh 3,21; 1Joh 1,6), das Sein in der Wahrheit (Joh 18,37; 1Joh 3,19) oder um den Wandel in Licht oder Finsternis (Joh 8,12; 11,9f; 12,35; 1Joh 1,6f; 2,11) ging. Unter dem Wandel in Wahrheit ist sowohl der christliche Glaube als auch die dem entsprechende Lebensführung zu verstehen. Wie dieser Wandel in Wahrheit aussieht, wird jetzt durch den Halbsatz nach dem Gebot, das wir vom Vater empfangen haben konkret gemacht. Der Älteste will also nicht den Wandel in Wahrheit als Gebot bezeichnet wissen, sondern zur anschließenden Erläuterung des Liebesgebotes (V. 5f) hinführen. Dieses leitet zum Wandel in Wahrheit an. Zugleich will die Äußerung der Freude des Ältesten nicht nur eine Feststellung sein, sondern auch eine Mahnung an die Adressaten für ihr zukünftiges Verhalten. Der Älteste hofft, sie dadurch in ihrem Wandel in Wahrheit zu bestärken.
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5–11 Hauptteil: Das Problem der Verführung zum Abfall 5–6 Theologische Verständigung über die Grundlage: Das Liebesgebot 5
Und nun bitte ich dich, Herrin – ich schreibe dir kein neues Gebot, sondern das, was wir gehabt haben von Anfang an –, dass wir uns untereinander lieben. 6 Und das ist die Liebe, dass wir wandeln nach seinen Geboten; das ist das Gebot, wie ihr’s gehört habt von Anfang an, dass ihr in ihr wandelt. Mit und nun kommt der Älteste in V. 5 zum eigentlichen Anliegen seines Schreibens – ähnlich wie in 1Joh 2,28; dort ermahnt Johannes seine Leserschaft, in ihm (Jesus) zu bleiben. Der Älteste äußert eine Bitte gegenüber seiner Adressatengemeinde. Dass er diese wie in V. 1 mit Herrin anspricht, zeigt an, dass es jetzt um sein zentrales Anliegen geht. Die folgende Satzstellung ist etwas kompliziert, lässt sich dann aber doch gut nachvollziehen, wenn man den folgenden Satz als eingefügten Zwischensatz (Parenthese) versteht. In vergleichbarer Weise hatte bereits Johannes den Vers 1Joh 1,2 in die eigentliche Argumentation von 1Joh 1,1–3 eingeschoben. Dieser Zwischensatz nimmt Bezug auf 1Joh 2,7; auch dort war das erwähnte Gebot ausdrücklich als nicht neu bezeichnet worden, sondern als Gebot, das die Adressaten von Anfang an gehabt hätten. Es sieht so aus, als würde der Älteste mit dem vorliegenden Vers auf 1Joh 2,7 geradezu antworten, denn er formuliert in der ersten Person Plural: Wir haben dieses Gebot von Anfang an gehabt. Das Alter des Gebotes unterstreicht seinen verpflichtenden Charakter. Mit der Formel von Anfang an wird im vorliegenden Zusammenhang Bezug genommen auf die Gründung der Herrin, also der angesprochenen christlichen Gemeinde. Inhaltlich handelt es sich um das im Sinne des Johannes verstandene Gebot der Nächstenliebe aus Lev 19,18; es geht ihm um das Gebot, dass wir uns untereinander lieben. Dieser Nebensatz, der im griechischen Urtext drei Wörter umfasst, ist komplett aus 1Joh 3,11 übernommen (vgl. außerdem 1Joh 3,23; 4,7.11.12). Hier zeigt sich, dass der Älteste, der von sich zu Beginn seines Schreibens versichert hatte, er habe die Kinder der Herrin in Wahrheit lieb (V. 1), sich selbst als Vorbild verstanden haben will. Auffällig ist, dass der Älteste nie von der Liebe zum Bruder oder zu den Brüdern spricht. Überhaupt fehlt in seinem Schreiben der Begriff Bruder ganz. Anders als der Verfasser des ersten Johannesbriefs unterscheidet er nicht mehr zwischen wahren
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und verdächtigen Brüdern, sondern sorgt sich einfach nur um die Stabilität der Gemeinde(n) und betont die Notwendigkeit der Solidarität nach innen und nach außen, also der gegenseitigen Liebe. Auch hier lohnt sich ein Blick auf Röm 13,8f. Dort versteht Paulus das Gebot der gegenseitigen Liebe im Sinne von Lev 19,18 als Gebot der Nächstenliebe. Nicht anders ist es im vorliegenden Vers. Dass hier – anders als in 1Joh 2,6.8 – ein Bezug auf Jesus fehlt, liegt daran, dass der Älteste im vorangegangenen Vers festgestellt hatte, das fragliche Gebot habe man vom Vater empfangen. Damit möchte er die Vorstellung der Vaterschaft Gottes und der damit einhergehenden Gotteskindschaft der Glaubenden, wie sie im ersten Johannesbrief ausgeführt ist, in Erinnerung rufen; ein Verweis auf den neuen Akzent, den das Gebot durch Jesus Christus bekommen hat (vgl. 1Joh 2,8), würde ihn von seinem Argumentationsziel wegführen. Deshalb lässt die Beobachtung, dass hier – anders als in 1Joh 2,7f – das Neue des Gebotes nicht angesprochen wird, keinen Rückschluss auf eine in der Forschung zuweilen vermutete theologische Entwicklung innerhalb der Johannes-Schule oder der von der Theologie des Johannes beeinflussten Gemeinden zu. Die Notwendigkeit seiner erneuten Einschärfung ist zweifellos der Tatsache geschuldet, dass durch den ersten Johannesbrief noch immer nicht alle Gemeinden stabilisiert werden konnten. Nach wie vor gibt es Menschen, die sich – obwohl getauft – von der Gemeinde wieder lossagen, weil nach wie vor die Gefährdung längst nicht überwunden ist. Es ist sogar damit zu rechnen, dass sich dieses Problem seit der Veröffentlichung des ersten Johannesbriefs trotz der dortigen Mahnungen und Warnungen noch einmal verschärft hat. Diese Einschätzung wird durch den Fortgang des Schreibens gestützt. In V. 6 wird die Liebe beschrieben als Wandel gemäß seinen, d.h. Gottes, Geboten. Der kunstvolle kreuzförmige Aufbau dieses Verses macht deutlich, dass es dem Ältesten jetzt um das Zentrum des christlichen Glaubens geht: Und das ist die Liebe, dass wir wandeln
nach seinen Geboten;
das ist das Gebot, wie ihr es gehört habt von Anfang an, dass ihr in ihr wandelt.
Der letzte Halbvers zeigt, dass Johannes ein Wissen um das Gebot, wie ihr es gehört habt von Anfang an bei seiner Leserschaft voraussetzen kann. Auch hier übernimmt der Älteste einen drei griechische Wörter umfassenden Halbsatz aus dem ersten Johannesbrief: Was ihr von Anfang an gehört habt findet sich bereits in
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1Joh 2,24 und 3,11 (vgl. außerdem 1Joh 2,7). Damit bezeichnet der Verfasser des ersten Johannesbriefs entweder das Gebot, einander zu lieben (3,11), oder das Gebot, an Jesus zu glauben (2,24). Der Älteste benutzt also diese Formulierung, um das Liebesgebot und die Aufforderung zum Glauben an Jesus unter dem Begriff Liebe zusammenzufassen. Damit hat er den ersten Johannesbrief völlig richtig verstanden, wenn er jetzt durch den Ausdruck Wandel gemäß seinen Geboten deutlich macht, dass es um eine gelebte Wahrheit geht und nicht um geglaubte Satzwahrheiten. Mit demselben Begriff Wandel wird in 1Joh 2,6 das Leben Jesu bezeichnet, an dem sich die Glaubenden zu orientieren haben. Noch einmal weist er seine Adressaten darauf hin, dass es ein altes Gebot ist, das er hier in Erinnerung ruft und einschärfen möchte. Trotz des ersten Johannesbriefs scheint dieses Gebot bzw. scheinen diese Gebote aufgeweicht zu werden: Es geht um den Glauben an Jesus Christus und um die damit einhergehende Solidarität innerhalb der christlichen Gemeinde (vgl. 1Joh 3,23). Es geht um das, was einen Christen zum Christen macht, um das christliche Profil der Gemeinden. Am Ende des Gedankenganges betont der Älteste noch einmal die inhaltliche Bestimmung des Gebotes: die Liebe. Seine Adressaten sollen in ihr wandeln. Es ist für ihn also eine Äußerung der Liebe, wenn man gemäß den Geboten Gottes sein Leben führt. Tatsächlich könnte sich das in ihr auch auf das Gebot beziehen, da der griechische Ausdruck für Gebot feminin ist; der Satz hieße dann: das ist das Gebot, wie ihr es gehört habt von Anfang an, dass ihr in ihm wandelt. Doch wäre der Wandel im Gebot als Inhalt des Gebotes nicht wirklich sinnvoll, zumal es im Vordersatz um den Wandel gemäß den Geboten (und nicht in den Geboten) geht. Für den Ältesten ist damit der Glaube an Jesus auch Ausdruck der Liebe. Dieser Gedanke ist neu gegenüber dem ersten Johannesbrief, der die Aufforderung zum Glauben noch neben das Gebot, einander zu lieben, gestellt hatte (3,23). Die Aufforderung, sich gegenseitig zu lieben, ist für den Ältesten also identisch mit der Mahnung, in der Gemeinschaft und beim Bekenntnis zu bleiben. Dies ermöglicht es ihm – ähnlich wie es auch der Verfasser des ersten Johannesbriefes tut –, im Hinblick auf die Gebote zwischen Singular und Plural abzuwechseln, ohne dass dabei etwas anderes gemeint ist (auch Johannes hatte sowohl von einem Gebot als auch von den Geboten gesprochen, ohne dass hier etwas Unterschiedliches gemeint war; vgl. den Wechsel von Singular und Plural in 1Joh 3,22–24). Beides, sowohl der Glaube an Jesus als auch die Solidarität unter den Gemeindegliedern, kann als Liebe bezeichnet werden. Hier spiegelt sich die Bezeichnung des klassischen Doppel-
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gebotes der Liebe in den Evangelien als ein oder zwei Gebote (Mk 12,29–31). 7–8 Die Gefahr der Verführung 7
Denn viele Verführer sind in die Welt ausgegangen, die Jesus nicht als den im Fleisch kommenden Christus bekennen. Das ist der Verführer und der Antichrist. 8 Seht euch vor, dass ihr nicht verliert, was wir erarbeitet haben, sondern vollen Lohn empfangt. V. 7 ist in weiten Bereichen sehr eng an einzelne Verse aus dem ersten Johannesbrief angelehnt. Dass viele Verführer in die Welt hinausgegangen sind, lässt fragen, woher diese denn gekommen sein könnten. Zufolge 1Joh 2,18f sind die Antichristusse bzw. Antichristen von uns, d.h. aus der Gemeinde, ausgegangen. Im vorliegenden Schreiben werden sie direkt als Verführer bezeichnet, während im ersten Johannesbrief nur von denjenigen gesprochen wird, die andere verführen (1Joh 2,26; 3,7). Diejenigen, die die Gemeinde verlassen, scheinen sich nicht mit ihrer eigenen Sicherheit zufriedenzugeben, sondern sie scheinen auch die anderen zu überzeugen versuchen, der christlichen Gemeinde abzuschwören und dadurch andere zu verführen. Es sieht aufgrund der Anspielung auf 1Joh 2,18f (sie sind von uns ausgegangen) so aus, dass die Verführer, von denen der Älteste spricht, aus der Gemeinde hervorgegangen sind; zugleich kann er aber auch diejenigen mit seiner Aussage in den Blick nehmen, die, ohne je zur Gemeinde gehört zu haben, eine Art Gegenmission betreiben, Christen also zur Aufgabe des Bekenntnisses zu Jesus Christus bewegen wollen. Inhaltlich ist die Ähnlichkeit mit der Formulierung aus 1Joh 4,2 auffällig: Dort war von Gegnern die Rede, die leugnen, dass Jesus Christus in das Fleisch gekommen ist. Hier geht es um die Leugnung des im Fleisch kommenden Jesus Christus. Dass im vorliegenden Vers im Präsens vom Kommen im Fleisch gesprochen wird, bereitet der Forschung nach wie vor Kopfzerbrechen: So wurde vermutet, es ginge bei der Formulierung vom (gegenwärtigen) Kommen Jesu Christi im Fleisch um dessen tatsächliche Vergegenwärtigung im Sakrament des Abendmahls im Leben der Gemeinde. Begründet wird diese These mit dem Jesuswort aus Joh 6, 56: Wer mein Fleisch isst und trinkt mein Blut, der bleibt in mir und ich in ihm. Auch diese Vermutung wirkt weit hergeholt, da sonst weder im zweiten noch im dritten Johannesbrief eine Ausein-
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andersetzung um das Verständnis des Abendmahls auch nur angedeutet ist. Ebenso wurde angenommen, zwischen den beiden Aussagen von 1Joh 4,2 und dem vorliegenden Vers bestehe überhaupt kein Unterschied, weil sich der Älteste im Griechischen nicht so recht ausgekannt oder sich nicht exakt ausgedrückt habe. Beide Aussagen würden sich gegen gnostische Gegner wenden, die der Meinung waren, Jesus als der Christus habe nicht eine fleischliche Existenz angenommen, sondern sei mit einem Scheinleib über die Erde gewandelt. Doch die Unterschiede in der Wahl der Zeitform auf die Einfalt des Ältesten zurück zu führen, erscheint zu weit hergeholt. Darüber hinaus ist auch hier anzumerken: Eine christliche Gnosis ist zur Zeit der Abfassung der Johannesbriefe noch nicht belegt. Außerdem – und dies ist das Hauptargument – seien Gnostiker der Meinung gewesen, dass der Gottessohn, als er auf der Erde weilte, nur einen Scheinleib gehabt habe, also nicht in Fleisch (und Blut), als wahrer Mensch, auf der Erde gewirkt habe. Um die Frage der Gottessohnschaft geht es aber weder Johannes (1Joh 4,2) noch dem Ältesten (2Joh 7), sondern darum, dass der Christus (= Messias) in Jesus Fleisch geworden ist bzw. im Fleisch kommt. Wenn im vorliegenden Vers das Kommen im Fleisch im Präsens ausgesagt wird, dann scheint der Älteste damit deutlich machen zu wollen, dass das Kommen Jesu im Fleisch nicht nur auf sein irdisches Wirken zu beziehen ist, sondern auch und vor allem auf seine Wiederkunft, um die es im folgenden Vers ausdrücklich geht. Tatsächlich kann das Präsens bereits im Johannesevangelium futurische Bedeutung haben (vgl. Joh 6,14). Inhaltlich ist damit auch im vorliegenden Vers eine antignostische Stoßrichtung nicht ersichtlich. Jesus ist für den Ältesten der Christus. Die Wendung im Fleisch kommend betont dann: In Jesus hat dieser Messias auch geschichtlich Gestalt angenommen und wird als solcher auch wiederkommen. Ausdrücklich hält das Johannesevangelium an der Leiblichkeit des Auferstandenen fest: So wird etwa Thomas aufgefordert, seine Hand in Jesu Seitenwunde zu legen (Joh 20,27). Nach Joh 21,15 hält er zusammen mit seinen Jüngern ein Mahl (vgl. Joh 21,5.9–14). Im Nachsatz dieses Verses spricht der Älteste dann plötzlich von einem Verführer, den er zugleich als Antichristen, als Gegen-Christus, bezeichnet. Bei der Untersuchung von 1Joh 2,18f wurde bereits deutlich, dass Johannes deshalb zwischen Singular (der Antichrist) und Plural (die Antichristen) schwankt, weil er das Handeln der Antichristen auf das Wirken des einen Antichristen zurückführt: Der Antichrist ist für ihn – und dementsprechend auch für den Ältesten – der Kaiser in Rom. Dessen Maßnahmen richten sich direkt
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gegen die christliche Gemeinde und sorgen dafür, dass sich viele von dieser Gemeinde wieder abwenden. Der Älteste übernimmt im Wesentlichen die Begrifflichkeit aus dem ersten Johannesbrief, kennt aber jetzt nur noch einen bzw. den verführenden Antichristus. Allerdings schwankt er bei dem Begriff Verführer zwischen Singular und Plural: Es gibt Menschen im Umfeld der Gemeinden, die zumindest teilweise getauft waren und die die standhaften Gemeindeglieder dazu bewegen wollen, Jesus Christus abzuschwören. Diese sind für den Ältesten Verführer, und es gibt viele davon. Deren Wirken führt er aber auf das des einen Antichristus zurück, dessen Maßnahmen (Eintreiben der Judensteuer, Anklagen wegen Hochverrat und Gottlosigkeit; vgl. oben S. 181–141) Christen in ihrer Existenz gefährden und deshalb teilweise zum Abfall verführen, sodass diese weitere Christen zu verführen suchen. Deshalb ist er der Verführer schlechthin. Der sich anschließende V. 8 mit seinem Ausblick auf die Endzeit, für die der volle Lohn in Aussicht gestellt wird, zeigt: Mit dem im Fleisch kommenden Jesus Christus in V. 7 meint der Älteste den im Fleisch Wiederkommenden. Die Aufforderung, sich vorzusehen, findet sich wörtlich beim Evangelisten Markus in der Endzeitrede Jesu (Mk 13,9; vgl. auch Lk 21,8; Mt 24,4 sowie Mk 13,5.23.33). Während in Mk 13 vor falschen Christussen und falschen Propheten gewarnt wird, die die Auserwählten »verführen« (Mk 13,22), sind es im vorliegenden Vers die vom Antichristus angestifteten Verführer, vor denen man sich vorsehen muss. Die Ähnlichkeit ist unverkennbar. Hier wie dort ist die Endzeit im Blick. Dabei macht die Ermahnung deutlich, dass es für die Glaubenden um sehr viel geht. Der in Aussicht gestellte göttliche Lohn (das ewige Leben) darf nicht aufs Spiel gesetzt werden. Wenn Johannes in 1Joh 3,1 von der Liebe Gottes gesprochen hat, die die Glaubenden zu Gotteskindern macht, deutet der Älteste jetzt an, dass dahinter ein hartes Stück Arbeit steckt. Hintergrund dieser eigentümlichen Formulierung ist die Diskussion zwischen Jesus und dem Volk in Joh 6,28f. Auf die Frage, was zu tun sei, damit die Zuhörer Gottes Werke wirken (= erarbeiten), antwortet Jesus: Das ist das Werk Gottes, dass ihr an den glaubt, den er gesandt hat. Dabei ist auch für den Ältesten der Glaube nicht als »Werk« der Glaubenden gedacht. Es ist vielmehr das Bekenntnis, das Mühe macht und Kraft kostet. Das offene Bekenntnis zu Jesus als dem in die Welt gekommenen und kommenden Christus (V. 7) nötigt jedem Bekenner Mut und Kraft ab. Dieses Bekenntnis ist für den Ältesten Arbeit; und es darf dementsprechend nicht verloren werden. Das Verb verlieren ist in diesem Zusammenhang bewusst doppeldeutig, denn der Verlust des Bekenntnisses bedeutet für den Ältes-
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ten auch den Verlust des endzeitlichen Heils, des ewigen Lebens. Nach Joh 3,16 gehen alle, die an den Gottessohn glauben, nicht verloren, sondern haben das ewige Leben. Zufolge Joh 10,27f hören Jesu Schafe seine Stimme; sie empfangen von ihm das ewige Leben und gehen dementsprechend niemals verloren. Dieses Verständnis von verlieren teilt auch der Älteste. Wer das Bekenntnis zu Jesus Christus verliert, geht also selbst verloren. Positiv formuliert: Es geht darum, vollen Lohn zu empfangen. Diese seltene Formulierung findet sich auch in Ruth 2,12. Hier wünscht Boas der schutzlosen Naemi für ihre erbrachten Leistungen vollen Lohn von dem Gott Israels, bei dem sie Zuflucht gesucht hatte. Diesen vollen Lohn, gemeint ist die Zuflucht in Gottes Schutzbereich, versteht der Älteste endzeitlich. Denn erst, wenn Jesus offenbar wird (1Joh 2,28; 3,2), wird er ausgezahlt werden. Dies zeigt sich auch im Johannesevangelium: Dort redet Jesus vom Lohn im Zusammenhang mit der Erntearbeit: Wer erntet, empfängt schon seinen Lohn und sammelt Frucht zum ewigen Leben (Joh 4,35f; vgl. auch Mt 9,37f; Lk 10,2f sowie Ex 23,16). Mit der Verwendung des Ausdrucks voller Lohn will der Älteste bei seiner Leserschaft auch die Vorstellung der Mühe bei der Ernte hervorrufen, zumal sie ein traditionelles Bild für das Weltende ist (Gal 6,7; Mk 4,26–29; Mt 13,30.39; Offb 14,15f). Dies ist wohl auch der Grund dafür, dass der Älteste nicht noch einmal darauf hinweisen muss, dass dieses Weltende kurz bevorsteht, dass es also die letzte Stunde ist (vgl. 1Joh 2,18). Die Erwähnung des vollen Lohnes (am Ende der Ernte), den es nicht zu verlieren gilt, legt nahe, dass der Zeitpunkt dieses Lohnempfangs für den Ältesten sehr nahe ist. Nach Offb 11,18 ist es am Weltende Zeit, den Gottesknechten, den Propheten und den Heiligen und denen, die Gottes Namen fürchten, ihren Lohn zu geben (vgl. auch Offb 22,12). Nicht zufällig wird dieser Lohn in Joh 4,36 inhaltlich mit dem ewigen Leben gleichgesetzt. Dies ist der Grund, weshalb der Älteste das Leben als Heilsgabe nicht noch einmal ausdrücklich zu erwähnen braucht. Seine Leserschaft weiß darüber Bescheid. 9 Erkennbarkeit der Verführer 9
Wer weitergeht und nicht in der christlichen Lehre bleibt, der hat Gott nicht; wer in dieser Lehre bleibt, der hat den Vater und den Sohn.
Das in V. 9 verwendete Verb zur Bezeichnung der Taten der Gegner (weitergehen) ist in einem derartigen Zusammenhang einzigar-
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tig im Neuen Testament. Der Älteste gebraucht aber ganz bewusst ein Verb der Bewegung, weil er ja bereits in V. 4 und 6 von einem Wandel in der Wahrheit gesprochen hatte. Damit war ein Wandel gemäß den Geboten bezeichnet worden. Diese umfassen das Gebot, einander zu lieben (V. 4–6) und an Jesus zu glauben (vgl. 1Joh 3, 22–24). Auch wenn das Gebot, an Jesus zu glauben, im zweiten Johannesbrief nicht ausdrücklich erwähnt wird, deutet die Verwendung des Plurals (»Gebote«) in V. 6 darauf hin, dass es für den Ältesten genauso wichtig ist, zumal der Glaube an Jesus die Voraussetzung für die Gemeinschaft der Glaubenden ist. So wurde bereits bei der Auslegung von V. 6 festgestellt, dass sowohl der Glaube an Jesus als auch die daraus resultierende Liebe der Glaubenden untereinander vom Ältesten zusammenfassend als Liebe bezeichnet worden war. Darüber gehen seine Gegner hinaus, sie bewegen sie mit ihren Taten aus der Wahrheit, d.h. aus dem Glauben an Jesus und damit auch aus der gemeindlichen Solidarität hinaus. Offenbar rechnet der Älteste damit, dass die Formulierung vom Weitergehen der Gegner ungebräuchlich und schwer verständlich ist. Deshalb erläutert er dieses Weiter-Gehen als ein Nicht-Bleiben in der christlichen Lehre. Im ersten Johannesbrief wurde noch von einem Bleiben im Sohn und im Vater gesprochen (1Joh 2,24; vgl. 2,6.28; 3,6. 24; 4,13.15.16). Weitergehen ist für den Ältesten damit auch das Gegenteil von Bleiben. Der Ausdruck, der hier mit christlicher Lehre übersetzt wird, ist eigentlich eine Genitivkonstruktion: Lehre Christi. In der Forschung ist eine breite Diskussion darüber entstanden, welcher Genitiv bei diesem Ausdruck zugrunde liegt: Meint der Älteste das, was Christus gelehrt hat (genitivus subjectivus), oder das, was über Christus gelehrt wurde (genitivus objectivus). Die Verfechter der These, auch der Älteste richte sich mit seinem Schreiben gegen Irrlehrer, sind der Überzeugung, es sei das gemeint, was über Christus gelehrt wurde. Doch auch hier ist der Haupteinwand derselbe wie bei V. 7: Es geht dem Ältesten um Christus, nicht um den Gottessohn. Zugleich ist die Vorstellung, es ginge hier darum, was Christus gelehrt habe, wenig wahrscheinlich. Nirgendwo zitiert der Älteste ein Wort Jesu; aber das wäre zu erwarten, wenn ihm die Lehre des Messias so wichtig wäre. Deshalb ist es am wahrscheinlichsten, dass hier der Älteste einen Genitiv der Eigenschaft (genitivus qualitatis) verwendet: Mit Lehre Christi bezeichnet er zusammenfassend die christliche Lehre, also das, was einen Christen zum Christen macht: den Glaube an Jesus Christus und die geschwisterliche Solidarität (Bruderliebe). Ähnlich ist auch der Ausdruck Glaube (Jesu) Christi bei Paulus (vgl. nur Gal 2,16) zu verstehen als christlicher Glaube.
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Dann wird auch klar, dass derjenige, der nicht in dieser Lehre bleibt, der also nicht an Jesus glaubt und die Brüder liebt, Gott auch nicht hat. Der Älteste sagt also damit nichts anderes als bereits Johannes in 1Joh 2,23: Wer den Sohn leugnet, der hat auch den Vater nicht; wer den Sohn bekennt, der hat auch den Vater. Die Frontstellung ist also dieselbe geblieben: Auch der Älteste wendet sich gegen Juden und wohl auch gegen Judenchristen, die aufgrund des staatlichen Drucks auf einzelne Christen zum Judentum zurückgekehrt waren. Diese hatten den Gemeindegliedern deutlich zu machen versucht, dass das gesuchte Heil doch auch innerhalb der jüdischen Gemeinde in der Zugehörigkeit zu dem einen Gott, dem Vater Jesu, zu finden wäre. Sie rechtfertigten ihren »Austritt« aus der christlichen Gemeinde, ihr Weitergehen, damit, dass man den Vater eben doch auch ohne den Sohn haben könne (vgl. auch 1Joh 2,23–25). Nicht zufällig erwähnt Johannes in diesem Zusammenhang auch noch diejenigen, die die Gemeindeglieder verführen (1Joh 2,26). Demgegenüber hält der Älteste – in gleicher Weise wie Johannes – ausdrücklich fest: Nur wer an den Sohn glaubt, wer den Sohn hat, der hat auch den Vater (vgl. etwa das Jesuswort in Joh 14,6: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater außer durch mich). Genau diese Überzeugung war von den jüdischen Gemeinden in Abrede gestellt worden, die einen anderen Weg zu Gott bieten. 10–11 Umgang mit den Verführern 10
Wenn jemand zu euch kommt und bringt diese Lehre nicht, so nehmt ihn nicht ins Haus und grüßt ihn auch nicht! 11 Denn wer ihn grüßt, der hat Gemeinschaft an seinen bösen Werken. Forscher, die der Meinung sind, der zweite Johannesbrief richte sich gegen eine falsche doketische (vgl. oben S. 5f) Lehre über Christus, vermuten in Bezug auf V. 1 0, es habe Wandermissionare gegeben, die diese falsche Lehre verbreiten wollten – ähnlich wie die von Jesus ausgesandten Jünger in Lk 10,1–12. Tatsächlich geht es hier aber um den christlichen Glauben, die christliche Lehre (V. 9). Nach 1Joh 5,16 sollte man für diese nicht bitten; jetzt rät der Älteste, man solle diese Leute auch nicht bei sich im Haus aufnehmen. Die Gefahr, dass die zum Judentum Zurückgekehrten von Gemeindegliedern aufgenommen und gegrüßt wurden, ist offenbar hoch. Man kannte sich doch von den Gemeindeversammlungen und Gottesdiensten her, die man früher gemeinsam gefeiert hatte. Diese per-
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sönliche Beziehung, die man früher hatte und die irgendwo immer noch besteht, ist für den Ältesten deshalb so gefährlich, weil den Verführern dadurch eine Möglichkeit gegeben wird, ihr Handeln zu rechtfertigen. Ganz gefährlich wird es dann, wenn diese sich im Rahmen eines Gottesdienstes, die damals alle in einem Haus stattfanden, zu Wort melden. Durch deren Rechtfertigung vor der ganzen Gemeinde oder auch nur vor einzelnen Glaubenden können viele dazu verführt werden, in gleicher Weise zu handeln. Am Ende verliert die Gemeinde nicht nur Gläubige, sondern auch ihren Zusammenhalt. Offenbar war es aufgrund der inhaltlichen und räumlichen Nähe zur jüdischen Gemeinde nicht immer sofort möglich zu wissen, ob der vor der Tür stehende und um Einlass bittende Bruder immer noch zur christlichen Gemeinde gehört oder nicht. Daher empfiehlt der Älteste folgenden »Test«: Die christliche Lehre, d.h. der Glaube an Jesus Christus und die geschwisterliche Solidarität in der Gemeinde, zeigt an, ob der vor der Tür stehende Bruder (bzw. die Schwester) den Weggang aus der Gemeinde und damit das Weitergehen (V. 9) bereits vollzogen hat. Wenn also der Bruder die christliche Lehre nicht mitbringt, also kein Christ mehr ist, dann empfiehlt der Älteste, den Kontakt sofort und radikal abzubrechen. Anders als früher, als er noch zur Gemeinde gehört hatte, darf man ihn nicht ins Haus aufnehmen oder gar in den Hausgottesdienst einladen, ja ihn nicht einmal mehr grüßen. Die – im Unterschied zu V. 13 – hier verwendete Bezeichnung für grüßen heißt wörtlich übersetzt zu sagen: Freue dich!, ist also eine Zusage der Freude, ein Freudenwunsch. Diese Formulierung findet sich im gesamten Neuen Testament nur hier. In Platons Brief an Dionysios (Epist 316a6) ebenso wie in König Alexanders Brief an seinen Bruder Jonathan (1Makk 10,18) findet sich ein vergleichbarer Gruß. Der Wunsch, dass sich der Adressat freuen möge, taucht jeweils zu Beginn des Briefes auf, also am Anfang eines Kontaktes zwischen zwei Freunden oder Brüdern. So etwas soll also nach Meinung des Ältesten im Hinblick auf die Gegner von vornherein unterbleiben; deshalb fordert er, den Gruß zu unterlassen. Der Andere ist doch schon weitergegangen. Wesentlich häufiger wird in den neutestamentlichen Briefen das Grüßen mit einem anderen Wort (aspázomai) bezeichnet (vgl. nur 1Thess 5,26; Phil 4,21; Kol 4,15; 1Kor 16,20; 2Kor 13,12; Röm 16,16; 1Petr 5,14 u.ö). Der Älteste kennt dieses Verb auch und verwendet es in V. 13 (vgl. 3Joh 15). Wenn er im vorliegenden Vers den Gruß aber als »Freudenwunsch« umschreibt, möchte er wohl an V. 4 erinnern. Dort spricht er davon, dass er sich sehr über die Gemeindeglieder, die in der Wahrheit wandeln, freue. Diese Freude kann man seiner Meinung nach gerade nicht empfinden und dem-
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entsprechend auch nicht wünschen, wenn man Menschen trifft, die die Gemeinde verlassen haben. In diesem Fall ist also der Freudenwunsch unangebracht. Es ist durchaus vorstellbar, dass der Älteste auch deshalb so formuliert, weil er sich an Hos 9,1 erinnert. Dort wird Israel die Freude verboten (Freue dich nicht, Israel), weil das Volk durch Hurerei Gott davonläuft. Dies ist genau der Grund, weshalb die von der Gemeinde Davongelaufenen keinen Grund haben, sich zu freuen – auch wenn es auf den ersten Blick so aussieht, weil sie sich dadurch ihrer Gefährdung entzogen haben. Diese Interpretation wird gestützt durch den folgenden V. 1 1. Der Älteste ist sich bewusst, dass das Verbot des Grußes bzw. des Freudenwunsches sehr einschneidend ist; deshalb sieht er sich gezwungen, dieses Verbot noch einmal ausführlich zu begründen: Wer grüßt, hat Anteil an dessen bösen Werken. Mit Hilfe der in diesem Zusammenhang verwendeten Wörter erinnert er an Aussagen aus dem ersten Johannesbrief. Dessen Anliegen war es, Gemeinschaft zu stiften zwischen dem Verfasser (Johannes) und den Adressaten (1Joh 1,3), damit unsere Freude erfüllt sei (1Joh 1,4; vgl. 2Joh 12). Erfahrene Gemeinschaft führt zur erfüllten Freude. Genau diese Gemeinschaft ist aber im Fall eines Menschen, der die christliche Gemeinde in schwierigen Zeiten verlässt, weder möglich noch wünschenswert. Deshalb hat der Begriff Freude in diesem Zusammenhang nach Meinung des Ältesten nichts verloren. Eine vonseiten des Gegners zerstörte Gemeinschaft ist ein Grund, den anderen nicht zu grüßen, d.h. dem anderen nicht Freude zu wünschen, denn so lautet der hier erwähnte und verbotene Gruß: Freue dich! Wer es aber dennoch tut, stellt sich in die Gemeinschaft mit demjenigen, der die Gemeinde verlassen hat, er hat Gemeinschaft (Anteil) mit dessen bösen Taten. Dabei ist aufgrund des ersten Johannesbriefs auch klar, was mit bösen Taten gemeint ist. Es sind die Taten, die letzten Endes auf den Bösen zurückgehen (vgl. 1Joh 3,12). Kains Werke waren böse; dies sagt Johannes ausdrücklich. Zweifellos spielt der Älteste auf diese Stelle an, wenn er von den bösen Werken des Gegners spricht. Und ebenso bestätigt sich hier die Überzeugung, dass es nicht um den Kampf gegen Irrlehrer geht, sondern um den Streit mit denjenigen, die ihre Brüder mit ihrem Weggang aus der christlichen Gemeinde verführen und die zugleich weitere Gemeindeglieder zum Weggang zu bewegen versuchen. Für den Ältesten sind dies Versuche, weitere Gemeindeglieder zu töten. Diese Menschen handeln nämlich seiner Meinung nach in gleicher Weise böse wie der Menschentöter und Brudermörder Kain. Dass der Älteste auf 1Joh 3,12 Bezug nimmt, ist auch deshalb sehr wahrscheinlich, weil der Ausdruck böse Werke sowohl im Neuen Testament als auch in der griechischen
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Literatur davor sehr selten ist. Nach Joh 3,12 liebten die Menschen die Finsternis mehr als das Licht, das mit Jesus in die Welt gekommen ist, weil ihre Werke böse waren. Und in Joh 7,7 bezeugt Jesus selbst, dass die Werke der Welt böse sind. Auch sonst wird im Neuen Testament mit dem Begriff böse Werke bzw. böses Werk der Gegensatz zu Jesus und zur christlichen Gemeinde auf den Punkt gebracht. Demgegenüber ist nach 1Joh 3,8 der Sohn Gottes auf die Welt gekommen, dass er die Werke des Teufels zerstöre. Nichts anderes ist mit den bösen Werken gemeint, denn es sind genau die auf das Wirken des Bösen (des Teufels) zurückgehenden Werke, die sich gegen Jesus und damit auch gegen Gott (vgl. Jes 3,11) wenden. Ein Freudenwunsch gegenüber den Gegnern würde also eine Gemeinschaft mit diesen herbeiführen und ist deshalb nach Auffassung des Ältesten zu unterlassen. Dieses Verbot dient dem Schutz der verbliebenen Gläubigen und der übrigen Gemeinde, die aufgrund der Gefährdung von staatlicher Seite offenbar zu zerfallen droht. 12–13 Briefschluss 12
Ich hätte euch viel zu schreiben, aber ich wollte es nicht mit Papyrus und Tinte tun, sondern ich hoffe, zu euch zu kommen und von Mund zu Mund mit euch zu reden, damit unsre Freude vollkommen sei. 13 Es grüßen dich die Kinder deiner Schwester, der Auserwählten. Dass es noch viel zu berichten gäbe, wie V. 1 2 behauptet, ist eine gebräuchliche Formel für die johanneischen Schriften (Joh 20,30; 21,25; 3Joh 13) und nach Joh 16,12 hätte auch Jesus den Seinen noch vieles zu sagen. Aber auch vor Johannes sind vergleichbare Abschlussbemerkungen belegt: Ähnlich wurde bereits in 1Makk 9,22 klargestellt, dass es (in Bezug auf die übrige Geschichte des Judas) noch viel zu erwähnen gäbe, aber es wäre zu viel geworden (vgl. auch Sir 43,27; Philo, VitMos 1,213). Allerdings ist die Begründung für die Kürze des Schreibens im zweiten Johannesbrief die, dass der Älteste die angeschriebene Gemeinde bald selbst besuchen wolle. Man kann vermuten, dass das Papyrusblatt schlicht vollgeschrieben war – daher auch der Hinweis auf Papyrus und Tinte. Das Geschriebene ist für den Ältesten nur das Allerwichtigste gewesen. Auch die Äußerung der Besuchsabsicht ist traditionell. So beendet Paulus fast jeden seiner Briefe damit (vgl. 1Thess 2,17; 1Kor 16,5f;
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2Kor 13,10; Röm 15,22–24; Phlm 22). Nachdem bereits vermutet worden war, dass mit dem zweiten Johannesbrief auch ein Schreiben vorliegt, das sich an mehrere Gemeinden richtet, spricht alles dafür, dass mit der Erwähnung der Besuchsabsicht lediglich der Eindruck eines konkreten Briefes an eine konkrete Gemeinde erweckt werden soll. Deshalb verwendet der Älteste auch die sonst völlig unbekannte Wendung »von Mund zu Mund«. Dies soll den Anschein erwecken, dass hier ein Brief vorliegt, der an eine konkrete Gemeinde gerichtet ist. Tatsächlich handelt es sich aber um ein Schreiben an mehrere Gemeinden. Bei der Formulierung des Ziels seines Briefs, zitiert (!) der Älteste aus dem ersten Johannesbrief. Dieser war verfasst worden zur Herstellung einer Gemeinschaft zwischen Absender und Adressaten, »damit unsere Freude erfüllt sei«. Exakt der gleiche, fünf (!) griechische Wörter umfassende Nebensatz findet sich mit nahezu derselben Wortfolge am Ende des zweiten Johannesbriefs. Dies ist kein Zufall, und spätestens jetzt ist klar: Es liegt eine literarische Abhängigkeit vor, das heißt: Der Älteste hat den ersten Johannesbrief vor sich liegen und möchte dessen Bedeutung unterstreichen. Er verfolgt mit seinem Schreiben dasselbe Ziel wie Johannes, der Verfasser des ersten Schreibens, nämlich Gemeinschaft zwischen seinen Adressaten und sich herzustellen, aus der die erfüllte Freude folgt. Dies ist auch der Grund für sein Verbot, diejenigen, die die christliche Gemeinde verlassen haben, zu grüßen (ihnen Freude zu wünschen; vgl. V. 10 und 11). Wahre, erfüllte Freude ist erst dann möglich, wenn eine (Glaubens-)Gemeinschaft zwischen Menschen entstanden ist. Der vorliegende Vers nimmt Bezug auf V. 4; dort hatte der Älteste davon gesprochen, dass er sich sehr freue über die Glaubenden, die in der Wahrheit leben. Diese Freude ist aber nur der Anfang, denn sie wird erfüllt werden, wenn der Älteste die angeschriebene Gemeinde besucht und sie ihre Gemeinschaft im Glauben durch einen wechselseitigen Gedankenaustausch (»von Mund zu Mund«) bestärkt haben. Unausgesprochen ist, dass es hier natürlich nicht nur um die Gemeinschaft der Glaubenden über Ortsgrenzen hinweg geht, sondern auch um die Gemeinschaft mit Gott und Jesus Christus (vgl. 1Joh 1,3). Mit dem allerletzten V. 1 3 wird ebenfalls auf den Anfang des Briefes Bezug genommen. Die Begriffe Kinder und auserwählt waren bereits im ersten Vers aufgetaucht. Sowohl die Herrin, die angeschriebene Gemeinde (V. 1), als auch deren Schwester, die absendende Gemeinde (V. 13), sind auserwählt (vgl. auch 1Petr 5,13). Unausgesprochen ist das Subjekt der Erwählung Gott bzw. Jesus. Nicht zufällig betont Jesus in Joh 15,16: »Nicht ihr habt mich er-
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wählt, sondern ich habe euch erwählt und euch dazu bestimmt, dass ihr hingeht und Frucht bringt und eure Frucht bleibe.« Dass dieses Erwählungsbewusstsein der Gegenwartserfahrung der Gemeinden entgegensteht, ist bereits mehrfach angesprochen worden. Diese »Widerspruchserfahrung« wird sowohl von Johannes (erste Johannesbrief) als auch vom Ältesten (zweiter Johannesbrief) dadurch aufgearbeitet, dass beide die noch ausstehende Aufrichtung des endzeitlichen Heils betonen: Zufolge 1Joh 2,18 ist es bereits die letzte Stunde, während in 2Joh 8 davor gewarnt wird, das zu verlieren, was wir erarbeitet haben, sonst werde man eben nicht den vollen Lohn empfangen. Auffällig ist, dass der Älteste so tut, als habe eine ganze Gemeinde den Brief verfasst. Aber auch dies ist eine gebräuchliche Art des Briefschlusses. So grüßt auch Paulus am Ende mancher Briefe auf ähnliche Art und Weise (1Kor 16,19; 2Kor 13,12; Röm 16,16; Phil 4,21f). Dadurch wird die Gemeinschaft des Verfassers mit seiner Heimatgemeinde sowie der Adressatengemeinde betont. Adressaten- und Absendergemeinde sind Schwestern im Glauben. Der zweite Johannesbrief macht zwar den Eindruck eines echten Briefes, ist aber – in gleicher Weise wie der erste Johannesbrief – an eine Reihe von Gemeinden gerichtet und wird deshalb zu Recht als »katholischer« Brief bezeichnet. Der Verfasser, der sich Ältester nennt, stellt sich unter die Autorität des Verfassers des ersten Johannesbriefs und übernimmt immer wieder Formulierungen von ihm. Die theologische Ausrichtung ist dieselbe wie die des ersten Johannesbriefs, auch wenn an der einen oder anderen Stelle eigene Schwerpunkte gesetzt werden. Diese sind aber einer bestimmten Problematik geschuldet, die zwar im ersten Johannesbrief bereits auftaucht, die aber im Lauf der Jahre immer drängender geworden ist: Die Ausgetretenen versuchen die wenigen Standhaften abzuwerben, sie zu verführen. Dagegen betont der Älteste, was das Christsein im Kern ausmacht, und gibt Regeln, wie mit den Ausgetretenen, die sich zu rechtfertigen suchen, umzugehen ist. Dass man diejenigen, die die christliche Lehre nicht mitbringen, nicht grüßen dürfe, ist eine problematische Anweisung, die in der Gegenwart von den »Zeugen Jehovas« mitleidlos praktiziert wird, wobei es der Wachtturm-Gesellschaft weniger um die christliche Lehre (V. 9) geht, sondern um ihre eigene. Tatsächlich geht das Grußverbot des Ältesten auch auf die besondere Situation der Gemeinden zurück: Sie sind in ihrer Existenz gefährdet, weil der vom Staat ausgeübte Druck wächst. Menschen, die sich dem Druck durch Flucht, d.h. durch Lossagung von Christus, entziehen, bilden eine besondere Gefahr für die Gemeinde, weil durch die mannigfachen bisherigen Beziehungen ein
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weiterer Kontakt zu den Ausgetretenen auch die wenigen Standhaften zum Abfall verführen könnte. Das Grußverbot soll also stabilisierend auf die kleine Hausgemeinde wirken und kann von daher nicht auf die gegenwärtige Situation in Deutschland angewendet werden. Im Gegenteil: Gerade wenn sich der Älteste auf die christliche Lehre (V. 9) beruft, ist denjenigen, die den christlichen Gemeinden den Rücken kehren, im Besonderen Liebe entgegenzubringen. Denn auch sie sind immer noch Brüder (Geschwister), für die die christliche Lehre gilt: Gott ist die Liebe (1Joh 4,8.16).
Die Botschaft des zweiten Johannesbriefs
I.
Der Bezug zum ersten Johannesbrief
1.
Gemeinsamkeiten
Fast jeder Vers des zweiten Johannesbriefs hat inhaltliche Anklänge an Aussagen aus dem ersten Johannesbrief. Teilweise stimmen die Halbsätze sogar wörtlich überein, so etwa V. 12: damit unsere Freude erfüllt sei (vgl. 1Joh 1,4; vgl. auch Joh 16,24). Aber auch sonst ist die Wortwahl sehr eng an den ersten Johannesbrief angelehnt. Die im zweiten Johannesbrief zentralen Begriffe Wahrheit (vgl. 1Joh 2,21; Joh 8,32; 14,6.16f) und Gebot (1Joh 1,7; 3,11.23; 5,3; Joh 13,34; 15,12.17) sind bereits durch den ersten Johannesbrief und das Johannesevangelium eingeführt und bekannt. Die Verführer (V. 7) werden im ersten Johannesbrief noch falsche Propheten (1Joh 4,1) und Antichristen (1Joh 2,18.22; 4,3) genannt, die die Gemeinde verführen (1Joh 2,26; 3,7). Dabei schwankt der Älteste ähnlich wie Johannes zwischen Singular und Plural (V. 7; vgl. 1Joh 2,18). Es ist hier also bereits erkennbar, dass sich der Älteste mit seinem Schreiben darum bemüht, das Problem auf den Punkt zu bringen. Auch die Frage, ob das verkündigte Gebot ein altes oder neues ist, wird von beiden Schriften kurz behandelt (V. 5; vgl. 1Joh 1,7). Aus dem Johannesevangelium übernimmt der Älteste auch die Information, dass das Gebot vom Vater stamme (V. 4; vgl. Joh 10,18). 2.
Unterschiede
Neu im zweiten Johannesbrief ist der Begriff der Lehre Christi (V. 9.10). Und auffällig ist auch, dass das zentrale Thema des ersten Johannesbriefes, das Wort vom Leben (1Joh 1,3), kaum angesprochen wird. Wenn der Älteste das irdische Leben eines Glaubenden bezeichnen will, spricht er vom Wandel (V. 4.6; vgl. 1Joh 1,7; 2,6). Stattdessen geht es im zweiten Johannesbrief vor allem um das Thema Wahrheit (V. 1–4). Dieses wird zwar im ersten Johannesbrief durchaus vorbereitet (vgl. 1Joh 1,6.8; 2,4.5.8.21.27; 3,18. 19; 4,6; 5,6.20), ist aber nicht so zentral wie im Schreiben des Ältesten.
192 II.
Die Botschaft des zweiten Johannesbriefs
Die Situation
Die äußere Situation hat sich gegenüber dem ersten Johannesbrief nicht grundlegend verändert. Dies wird deutlich anhand der mannigfaltigen Anspielungen auf Formulierungen und theologische Vorstellungen aus dem ersten Johannesbrief. Wenn sich aber der Älteste veranlasst sieht, ein weiteres Schreiben dem ersten Johannesbrief an die Seite zu stellen, dann geschieht das deshalb, weil er offenbar der Meinung ist, dass ein bestimmtes Problem immer drängender geworden ist und deshalb erneuter Klärung bedarf. Es ist das Problem der Verführer, d.h. derjenigen, die die Gemeinde verlassen hatten, weitere Gemeindeglieder dazu aufforderten, es ihnen gleichzutun – nicht zufällig bezeichnet der Älteste seine Gegner mit diesem Begriff (im ersten Johannesbrief war diese Bezeichnung noch nicht aufgetaucht). Der äußere Druck bestand für die Gemeinde nach wie vor darin, wegen ihrer scheinbar jüdischen Lebensweise angezeigt zu werden. Diese Anzeige konnte, sobald sich herausstellte, dass die Angezeigten keine Juden waren, eine Anklage wegen »Gottlosigkeit«, gegebenenfalls sogar wegen »Hochverrats« nach sich ziehen. Die Rolle der Juden im Prozess Jesu nach Joh 19 macht deutlich, dass diese sich offenbar gerne als gesetzestreue Staatsbürger zu präsentieren suchten, wenn der Evangelist sie sagen lässt: Wir haben keinen König außer dem Kaiser (Joh 19,15; vgl. die historische Situation des ersten Johannesbriefs oben S. 138–141). Dies bewirkte eine starke Abwanderungsbewegung der Judenchristen von den christlichen zu den jüdischen Gemeinden im Römischen Reich. Doch damit nicht genug! Diejenigen, die sich wieder ihrer jüdischen Mutterreligion zugewandt hatten, scheinen unter den verbliebenen Christen ihre Handlungsweise gerechtfertigt und geradezu für die Abwanderung zur jüdischen Gemeinde geworben zu haben. Dadurch könne man der Gefährdung entgehen und würde doch denselben Gott anbeten, würde also nach wie vor Gott haben (V. 9). Dies wird im ersten Johannesbrief nur am Rande deutlich (1Joh 2, 26; 3,7). Deshalb sieht der Älteste die Notwendigkeit, hier noch einmal warnend seine Stimme zu erheben. Seine Argumentation ist dabei sorgfältig aufgebaut. Nach dem Eingangsteil und dem Kompliment, das das Wohlwollen der Adressaten hervorrufen soll (V. 4), verständigt er sich zunächst über das Liebesgebot, das für ihn das Gebot der Solidarität mit den Glaubensgeschwistern ist (V. 5 und 6). Danach wird die Gefahr benannt, die von den Verführern ausgeht; dabei benennt der Älteste mit Worten des ersten Johannesbriefes (1Joh 4,2) die Einstellung seiner Gegner: Sie leugnen, dass in Jesus der erwartete Messias (= Chris-
Die Botschaft des zweiten Johannesbriefs
193
tus) ins Fleisch gekommen bzw. kommend ist (V. 7) und behaupten, trotz ihrer Ablehnung Jesu den Gott noch zu haben (V. 9). Deshalb fügt der Älteste hier eine Warnung vor dem Heilsverlust ein (V. 8). Im folgenden Vers taucht erstmals der Begriff Lehre Christi auf; damit bezeichnet der Älteste den Glauben an Jesus Christus, der einen Christen zum Christen macht (V. 9). Danach geht es um den konkreten Umgang mit den Verführern (V. 10 und 11) – solche Verhaltenstipps wurden im ersten Johannesbrief noch nicht gegeben. Aus dieser Beobachtung ist in der Forschung der Schluss gezogen worden, es läge ein unterschiedlicher Umgang mit den Gegnern vor: Johannes führe im ersten Johannesbrief eine theologische Auseinandersetzung, während der Älteste im zweiten Johannesbrief ausschließlich organisatorische Maßnahmen vorschreibt. Doch (1) ist das angesichts der Verse 4–6 nicht richtig, (2) setzt der zweite Johannesbrief eine Kenntnis des ersten und damit dessen theologische Argumentation zweifellos voraus. Der Abschluss des Briefes ist dann mit Schlussgrüßen und Abschlussformel recht klassisch gehalten. III.
Adressaten und Absender
Wenn der zweite Johannesbrief wirklich den ersten voraussetzt, sind die Adressaten dieselben wie die des ersten Johannesbriefes. Sie sind – auch aufgrund der Empfänger der sieben Sendschreiben in Offb 2 und 3 – im Westen Kleinasiens zu suchen. Dabei spricht alles dafür, dass sich trotz der angegebenen Adresse und des Absenders auch der zweite Johannesbrief an möglichst viele Gemeinden richtet. Denn bei genauerem Zusehen ist weder die Adressen- noch die Absenderangabe wirklich konkret. Der Absender nennt sich Ältester und beansprucht anders als der Verfasser des ersten Johannesbriefs nicht, Augen- und Ohrenzeuge des irdischen Jesus sowie Auferstehungszeuge gewesen zu sein. Stattdessen stellt er seine Autorität dadurch her, dass er Formulierungen aus dem ersten Johannesbrief übernimmt und dadurch inhaltlich zu überzeugen versucht. Indem er sich selbst Ältester (Presbyter) nennt, tut er so, als sei er der (eigentlichen) Adressatengemeinde bekannt. Da es aber einen konkreten Adressaten nicht wirklich gibt, ist auch der Absender nicht wirklich zu erkennen. IV.
Gottes Gebot
Gleich zu Beginn lobt der Älteste die Adressaten dafür, dass er unter ihnen Gemeindeglieder findet, die in der Wahrheit leben nach
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Die Botschaft des zweiten Johannesbriefs
dem Gebot, das wir vom Vater empfangen haben (V. 4). Damit kann sich jeder in der Gemeinde angesprochen fühlen. Diese Formulierung macht zugleich deutlich, dass es eben auch in oder am Rande der Gemeinden Menschen gab, die nicht nach dem Gebot leben. Dabei setzt der Älteste voraus, dass seine Adressaten wissen, was denn das Gebot Gottes ist. Dennoch erwähnt er in seinem Schreiben beide Gebotsteile (vgl. 1Joh 3,23) noch einmal. Zunächst benennt er aber die gegenseitige Liebe (V. 5), um dann in den folgenden beiden Versen deutlich zu machen, dass er unter dem Liebesgebot auch das Bekenntnis zu Jesus als den im Fleisch kommenden Messias versteht. Hier ist insofern eine kleine Veränderung gegenüber dem ersten Johannesbrief zu beobachten, weil der Älteste sowohl das Solidaritätsgebot innerhalb der Gemeinde als auch das Gebot zum offenen Bekenntnis zu Jesus Christus unter dem Begriff Liebe zusammenfasst. Auch verzichtet er darauf, das Neue des Liebesgebotes zu erwähnen (1Joh 2,8), sondern betont lediglich (wie in 1Joh 2,7) das Alter, um dessen Bedeutung herauszuheben. V.
Die Wahrheit
Anders als im ersten Johannesbrief spielt die Gabe des Lebens im vorliegenden Schreiben anscheinend keine Rolle. Stattdessen betont der Älteste gerade zu Beginn des Briefes den Begriff Wahrheit: Er und alle, die die Wahrheit erkannt haben, lieben seine Adressaten in der Wahrheit wegen der Wahrheit, die in uns bleibt (V. 1– 2). Und nach V. 4 freut er sich über diejenigen, die in der Wahrheit wandeln. Der Begriff Wahrheit ist ihm so wichtig, dass er ihn an die traditionelle Formel von V. 3 ausdrücklich anfügt. Der Wahrheitsbegriff des Ältesten unterscheidet sich dabei nicht von dem des ersten Johannesbriefes. Wahrheit ist auch für ihn kein Für-wahr-Halten eines Glaubenssatzes, sondern die feste Gewissheit, im Glauben zu dem einzig wahren Gott und seinem wahrhaftigen Sohn zu gehören (vgl. 1Joh 5,20). Damit braucht der Begriff »Leben« für den Ältesten, der, wie in der Auslegung deutlich geworden ist, ja die Kenntnis des ersten Johannesbriefs voraussetzt, nicht erneut genannt zu werden. Denn mit dem Begriff Wahrheit spielt er unter anderem auf das Jesuswort aus Joh 14,6 an: »Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater denn durch mich.« Das endzeitliche Heil, das ewige Leben, gibt es für den Ältesten nur im Glauben an Jesus, aus dem die innergemeindliche Solidarität, die gegenseitige Liebe, folgt. Das ist seiner festen Überzeugung nach die Wahrheit, in der die Glaubenden wandeln sollen.
Die Botschaft des zweiten Johannesbriefs
195
Auch wenn der Älteste das (ewige) Leben als zentrale Heilsgabe Gottes für die Seinen nicht ausdrücklich erwähnt, steht es doch im Hintergrund. Dies hat die Verwendung des Begriffs Wahrheit (V. 1–4) ebenso gezeigt wie die des Lohns (V. 8). Weil der Älteste die Kenntnis des ersten Johannesbriefs voraussetzt, kann hier kein Widerspruch konstruiert werden. VI.
Der Umgang mit den Verführern
Mit seinen »Tipps zum Umgang mit den Verführern« geht der Älteste deutlich über den ersten Johannesbrief hinaus. Zunächst verbietet er, sie im Haus aufzunehmen. Dieses Verbot ist mitunter nicht einfach durchzuführen, weil die Gegner frühere Gemeindeglieder waren, die sich aufgrund des äußeren Drucks wieder der jüdischen Gemeinde zugewandt hatten. Das heißt: Man kannte sich und war gemeinschaftliche Veranstaltungen gewohnt. Das Verbot hatte aber noch einen weiteren Hintergrund: Die Gottesdienste der damaligen Zeit waren alle Hausgottesdienste. Das Verbot, die Gegner ins Haus aufzunehmen, ist also auch ein ausdrückliches Verbot, sie an den christlichen Gottesdiensten teilnehmen zu lassen. Auf diese Art und Weise sollte verhindert werden, dass sie vor Gemeindegliedern um Verständnis für ihre Handlungsweise werben und diese so zum gleichen Handeln verführen können. Nicht einmal ein »Freue dich!« darf man ihnen zurufen. Dieses Grußverbot ist begründet im Inhalt des Rufes. Freude kann man nach Johannes und nach Meinung des Ältesten nur empfinden, wenn Gemeinschaft hergestellt ist. So ist das Ziel des ersten Johannesbriefs die Herstellung einer Gemeinschaft zwischen Verfasser und Adressat, damit die Freude erfüllt sei. Genauso sieht das auch der Älteste, der aber den Gedankengang umkehrt: Wer sein Gegenüber grüßt, also ihm ein Freue dich! zuruft, d.h. wer mit ihm zusammen Freude empfindet, hat Gemeinschaft mit ihm. Deshalb dürfen diejenigen, die von der christlichen Gemeinde offen oder heimlich wieder abgerückt sind, auch nicht gegrüßt werden. Sonst würde man mit ihren bösen Werken Gemeinschaft haben. Was unter bösen Werken zu verstehen ist, wurde im ersten Johannesbrief am Beispiel von Kain, der seinen Bruder abgeschlachtet hatte, deutlich gemacht (1Joh 3,12). Dem Ältesten geht es in seinem Schreiben um eine »Frontbegradigung«. Es gab einige in den angeschriebenen Gemeinden, die aus seiner Sicht eben nicht in der Wahrheit lebten, weil sie nach außen beteuerten, Juden zu sein, aber die offene Abgrenzung zu den (frü-
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Die Botschaft des zweiten Johannesbriefs
heren) christlichen Brüdern nicht konsequent vollzogen. Sie gingen nach wie vor zu den christlichen Versammlungen, wollten auch weiterhin die frühere Gemeinschaft teilen und waren nicht bereit, die in ihrer christlichen Zeit geknüpften persönlichen Bindungen aufzugeben. Darin sieht der Älteste aber die Gefahr der Verführung für die bisher Standhaften: Wenn sie weiterhin in Kontakt mit den früheren Judenchristen blieben und deren Handlungsweise zu verstehen suchten, wird die christliche Gemeinde nicht nur ihr Profil verlieren, sondern bald auch ganz verschwinden. Seine »Tipps zum Umgang mit den Verführern« sind also der Sorge um den Bestand der christlichen Gemeinde(n) überhaupt geschuldet und aus heutiger Sicht aufgrund der christlichen Lehre (V. 9), wonach Gott die Liebe ist (1Joh 4,6.18), zu kritisieren. VII.
Die bleibende Bedeutung des zweiten Johannesbriefes
Das Gebot, die Menschen, die sich von der christlichen Gemeinde abgewandt haben, nicht mehr zu grüßen, ist nicht ganz unproblematisch. In der Praxis der Zeugen Jehovas wird dieser Vers dazu verwendet, Ausgetretene wie Luft zu behandeln. Tatsächlich wird man diese Anweisung nicht ohne deren historischen Kontext betrachten dürfen. Die christlichen Gemeinden, die der Älteste kennt, drohen auseinanderzubrechen. Christsein ist gefährlich und aus gesellschaftlicher Sicht unmodern. Immer mehr Menschen kehren der Gemeinde den Rücken und werben die wenigen Standhaften auch noch ab. An dieser Stelle setzt der Älteste ein und erinnert in dem, was er schreibt, an den ersten Johannesbrief. Er ruft ebenso das Gebot der gegenseitigen Liebe in Erinnerung wie auch die Notwendigkeit, Jesus als den auf die Erde (im Fleisch) kommenden und gekommenen Messias zu bekennen. Dies ist bis heute das Zentrum jeder christlichen Gemeinde, auch und besonders in den Gegenden der Welt, in denen die Christen Gefährdung und Verfolgung ausgesetzt sind. Aus Sicht des Ältesten haben diejenigen die Gemeinschaft und damit den Grund zur Freude zerstört, die die Gemeinde verlassen haben. Deshalb wäre es nicht nur falsch, sie mit Freue dich! zu grüßen, sondern man würde mit denjenigen, die keinen Lohn (V. 8) erhalten werden, gemeinsame Sache machen. Im Hinblick auf das eigene Heil ist also von dem genannten Gruß abzusehen. In einer Gesellschaft, in der Christen nicht verfolgt werden, ist das Verbot der Einladung ebenso wie Verbot des Grußes gegenüber Ausgetretenen nicht nur nicht nachvollziehbar, sondern auch nicht im Sinne der Nächstenliebe – und damit zu kritisieren. Bietet doch
Die Botschaft des zweiten Johannesbriefs
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gerade der Kontakt mit denjenigen, die sich von der christlichen Gemeinde abgewandt haben, die Möglichkeit, seinen eigenen Glauben vor anderen glaubwürdig zu bezeugen! Insofern täte man dem Ältesten Unrecht, wenn man ihn auf seine Richtlinien zum Umgang mit Ausgetretenen reduzieren würde. Viel wichtiger sind seine Erinnerungen an das Gebot der Liebe untereinander und an das Bekenntnis zu Jesus als dem gekommenen Christus. Dies ist es, was das Christsein ausmacht. Diese christliche Wahrheit darf nicht verloren werden; schließlich ist voller Lohn verheißen.
Der dritte Johannesbrief
Einleitung
Noch kürzer als der zweite (246 griechische Wörter) ist der dritte Johannesbrief (218 griechische Wörter). Beide Briefe weisen sehr viele Gemeinsamkeiten auf. Bereits im Aufbau entsprechen sie sich sehr genau: Auf ein Vorwort (2Joh 1–3; 3Joh 1) folgt eine Danksagung (2Joh 4; 3Joh 2–4), ehe der Hauptteil (2Joh 5–10; 3Joh 5–12) einsetzt. Schließlich wird das Schreiben beendet mit einem klassischen Briefschluss (2Joh 12f; 3Joh 13–15), in dem die Besuchsabsicht geäußert und Schlussgrüße bestellt werden. Auch die Wortwahl ist vielfach sehr ähnlich – teilweise sogar gleich. Daher spricht sehr viel dafür, dass der Verfasser des dritten Johannesbriefs derselbe ist, der auch den zweiten verfasst hat, zumal er sich hier wie dort (jeweils in V. 1) Ältester nennt. Allerdings finden sich im dritten Johannesbrief auch einige Wörter, die sonst in den Schriften, die nach Johannes benannt sind (Evangelium, Briefe, Offenbarung), überhaupt nicht auftauchen. Drei davon finden sich auch im gesamten übrigen Neuen Testament nicht: das in V. 9 und 10 verwendete Verb für annehmen, anerkennen (V. 9) bzw. aufnehmen (V. 10), das ebenfalls in V. 10 auftauchende Verb für Unsinn reden, hetzen, verleumden und die Bezeichnung des Diotrephes als der erste sein wollend (V. 9). Wegen dieser sprachlichen Besonderheiten könnte man sehr wohl für den dritten Johannesbrief einen eigenen Verfasser vermuten, der sich unter die Autorität des Ältesten, des Verfassers des zweiten Johannesbriefs, stellt. Dieser habe bewusst die Form und teilweise auch die Formulierungen des zweiten Johannesbriefs nachgeahmt. Trotzdem geht die weit überwiegende Anzahl der Forscher davon aus, dass die beiden kleinen Johannesbriefe vom Ältesten und damit von demselben Verfasser geschrieben worden sind. Auch in der vorliegenden Auslegung wird er als Ältester bezeichnet, auch wenn Zweifel daran bestehen, dass es der gleiche Älteste wie der des zweiten Johannesbriefs ist (zur Frage nach dem Ältesten s. oben S. 159–163 und 193). Anders als der zweite Johannesbrief scheint der dritte kein Gemeinde-, sondern ein Privatbrief zu sein, der sich an einen nicht weiter bezeichneten Gaius richtet. Zugleich betrifft jedoch das, was der Älteste zu sagen hat, die ganze Gemeinde – schließlich werden in V. 3 und 5 die Brüder und in V. 4 die Kinder des Ältesten erwähnt. Deshalb hat dieser Privatbrief auch gemeindliche Bedeutung; und
202
Kolumnentitel
dies ist wohl auch der Grund für die Verwendung in den urchristlichen Gemeinden und die Weiterverbreitung des Briefes. Diese ist zugleich die Voraussetzung für die Aufnahme einer Schrift in das Neue Testament. Der Grund, weshalb der Älteste an diesen Gaius schreibt, kann entweder darin begründet liegen, dass er ein besonderes Vertrauensund Freundschaftsverhältnis zu diesem hat. Es wäre aber genauso denkbar, dass der Älteste deshalb an Gaius schreibt, weil dieser in seiner Ortsgemeinde offenbar eine besonders wichtige Rolle spielt. Theoretisch vorstellbar wäre auch, dass beide Gründe zugleich zutreffen. Jedenfalls möchte ihn der Älteste dazu bewegen, auf seine Gemeinde Einfluss zu nehmen. Überblickt man die gesamte Argumentation des Schreibens, ist davon auszugehen, dass mit dem dritten Johannesbrief ein echter Brief vorliegt, der auf ein konkretes Problem in einer konkreten Gemeinde Bezug nimmt. Allein die Tatsache, dass in dem kurzen Brief drei konkrete und teilweise auch seltene Namen (Gaius, Diotrephes, Demetrius) genannt werden, spricht für diese Interpretation. Anders als im zweiten Johannesbrief ist der Grund für die Abfassung nicht ein viele Gemeinden betreffendes Problem; vielmehr geht um einen ganz konkreten Konflikt, dessen Hintergrund nur mit Mühe zu erhellen ist, der aber – auch wegen der Tatsache, dass im dritten Johannesbrief auf den zweiten verwiesen wird (V. 9) – wahrscheinlich mit dem zweiten zusammenhängt.
Die Auslegung
1 Das Vorwort 1
Der Älteste an Gaius, den Lieben, den ich lieb habe in Wahrheit.
Absender und Adressenangabe entsprechen im vorliegenden Brief formal genau dem zweiten Johannesbrief. Allerdings wird hier eine konkrete Person als Adressat genannt: Gaius. Nach Apg 19,29; 20,4 war ein Gaius aus Derbe in Kleinasien der Begleiter des Paulus gewesen; dieser wurde im Rahmen eines Aufruhrs gegen Paulus, der von einem gewissen Silberschmied Demetrius in Ephesus angezettelt worden war (vgl. 3Joh 12), verhaftet. Später – offenbar wieder freigelassen – begleitete Gaius Paulus weiter durch Mazedonien (Apg 20,4). Ein anderer Gaius, der aus Korinth zu stammen scheint, wird von Paulus in 1Kor 1,14 erwähnt, weil Paulus ihn getauft hatte. Und nach Röm 16,23 war ein Gaius der Gastgeber des Paulus, der die Gemeinde von Rom grüßen lässt. Ob der im vorliegenden Schreiben erwähnte Gaius der in der Apostelgeschichte erwähnte Gaius aus Derbe ist oder sonst irgendwie mit Paulus in Kontakt gekommen ist, lässt sich nicht wahrscheinlich machen, da Gaius in der damaligen Zeit ein sehr beliebter römischer Vorname war, den sich auch Griechen gerne zulegten. Dem Verfasser des zweiten Johannesbriefs war es mit Sicherheit bewusst, dass die Formulierung, jemanden in Wahrheit zu lieben, in der ihm vorliegenden Tradition nur im Hinblick auf die Liebe zu Gott gebräuchlich war (2Joh 1; vgl. PsSal 6,6; 10,3; 14,1). Deshalb hatte er auch von der Liebe des Ältesten zur Adressatengemeinde, der Herrin, gesprochen. Dagegen wird im dritten Johannesbrief plötzlich die Person des Gaius als Objekt der Liebe in Wahrheit genannt. Damit tut der Älteste so, als wäre Gaius ein Glied der Adressatengemeinde des zweiten Johannesbriefs. Vorlage für diese Redeweise ist aber weniger die Tradition aus den Psalmen Salomos, sondern eigentlich nur der Vers 2Joh 1, weil deutlich gemacht werden soll, dass Gaius einer aus der in 2Joh angeschriebenen Gemeinde ist. Im vorliegenden Schreiben wird das Liebesgebot – anders als im Evangelium oder in den beiden anderen Johannesbriefen – nicht
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erwähnt. Trotzdem macht der Älteste bereits im ersten Vers deutlich, dass es für ihn wichtig und nach wie vor gültig ist. Wie im zweiten Johannesbrief sind Liebe und Wahrheit auch hier zentrale Begriffe. Allerdings wirkt die Formulierung im vorliegenden Vers wie eine feststehende Formel, durch welche das Wohlwollen des Adressaten hervorgerufen werden soll. Hintergrund der Behauptung von der »wahren Liebe« des Ältesten gegenüber Gaius ist dann wie in 2Joh 1 das alttestamentliche Verständnis von Wahrheit, wonach es hier um Verlässlichkeit und Gewissheit geht, der der Angesprochene trauen kann (vgl. oben S. 194f). Wie schon im zweiten Johannesbrief taucht auch hier bereits im Vorwort das zentrale Thema auf: Wahrheit. Und in gleicher Weise wie bisher versteht der Älteste diese weniger als Glaubenswahrheit, sondern – wie der Fortgang zeigen wird – als gelebte Wahrheit (vgl. V. 3, 4 und 12). 2–4 Eingangsteil (Proömium) 2
Mein Lieber, ich wünsche, dass es dir in allen Dingen gut gehe und du gesund seist, so wie es deiner Seele gut geht. 3 Denn ich habe mich sehr gefreut, als die Brüder kamen und Zeugnis gaben von deiner Wahrheit, wie du ja wandelst in der Wahrheit. 4 Ich habe keine größere Freude als die, zu hören, dass meine Kinder in der Wahrheit leben. Die Anrede scheint – anders als in 1Joh 2,7; 3,2.21; 4,1.7.11, wo sie stets im Plural auftaucht – für den Verfasser eine feststehende und möglicherweise fast sinnentleerte Formel zu sein (vgl. 3Joh 5.11). Im ersten Johannesbrief, als die Adressaten im Plural angesprochen waren, war noch der familiäre Bezug herauszuhören. Paulus hatte seine Adressaten häufig als geliebte Brüder (vgl. 1Kor 15,58; Phil 4,1; 1Thess 2,8; vgl. auch Apg 15,25; Eph 6,24; Kol 4,7.9; 1Tim 6,2; Jak 1,16.19; 2,5; 1Petr 2,11; 4,12; 2Petr 1,15) angesprochen. Die Anrede mein Lieber bzw. Geliebter (im Singular) ist vor dem dritten Johannesbrief lediglich im Buch Tobit belegt. Dort bezeichnet Edna ihren jüdischen Glaubensbruder Tobit als geliebter Bruder (Tob 10,13; vgl. ApkEsr 31,7.23; 32,7.28). Tatsächlich hat auch die Anrede Geliebte im Plural stets einen verwandtschaftlichen Bezug, das heißt: Mit Geliebte werden etwa leibliche Kinder oder Brüder angesprochen. Der Älteste verwendet also ganz bewusst diese Anrede, um dadurch auf die Vorstellung der Gotteskindschaft anzuspielen – wie sie im
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ersten Johannesbrief ausgeführt ist – und die brüderliche Verbundenheit mit Gaius zum Ausdruck zu bringen. Der Wunsch nach Wohlergehen ist in antiken Briefen zwar nicht so ausführlich, aber inhaltlich doch belegt. Auf die Nennung von Absender und Empfänger folgt der Anfangsgruß; dieser kann auch die Form eines Wunsches haben. So schreibt ein gewisser Askes etwa im Jahr 100 n.Chr. an seinen Bruder Serenos direkt nach der Angabe von Absender und Adresse unter Verwendung von teilweise gleichen Wörtern wie im vorliegenden Vers: »Vor allem wünsche ich dir, dass du gesund bist …« (Michael Hofmann, Antike Briefe, 108f). In lateinischen Briefen begegnet häufig die Formel: »Wenn es dir gut geht, ist es recht, mir geht es auch gut« (Si vales valde, bene est, ego etiam valeo). Nach Spr 13,13 ist aber derjenige gesund, der die Gebote fürchtet. Genau dies wird im Folgenden Gaius auch bescheinigt, wenn der Älteste ihn als treu handelnd beschreibt. Auffällig ist hier der doppelt ausgedrückte Wunsch nach gut gehen und gesund sein; zudem wird noch einmal besonders die Seele erwähnt. Mit demselben griechischen Wort war in 1Joh 3,16 das Leben bezeichnet worden, das ein Glaubender für seine Brüder einzusetzen habe – genauso wie Jesus nach Joh 13,37f; 15,13 sein Leben für die Seinen eingesetzt hat. Wenn der Älteste hier seinem Adressaten Gaius wünscht, dass es ihm und seiner Seele gut gehen solle, so setzt er damit eine Unterscheidung zwischen dem körperlichen und dem geistlichen Leben voraus. Die Verwendung des Begriffs, der hier mit Seele wiedergegeben wird, erinnert an den Gebrauch in vielen Psalmen (vgl. Ps 25,1; 30,4; 42,2f; 54,5f u.ö.). Anders gesagt: Mit dem vorliegenden Begriff (hier mit Seele übersetzt) ist nicht mehr (wie noch in 1Joh 3,16 und im Johannesevangelium) das geistliche und das körperliche Leben gemeint, sondern eben nur noch das geistliche, das Leben vor Gott. Der Älteste wünscht also Gaius Wohlergehen und Gesundheit an Leib und Seele. Der folgende V. 3 nimmt mit dem Verweis darauf, dass sich der Älteste sehr gefreut habe, Bezug auf 2Joh 4. War dort Grund für die Freude das Auffinden von Glaubenden, die in der Wahrheit leben nach dem Gebot, das wir vom Vater empfangen haben, so wird jetzt die Freude des Ältesten damit begründet, dass Brüder Zeugnis gegeben haben davon, wie Gaius in der Wahrheit lebt. Im dritten Johannesbrief wird ganz bewusst die Redeweise des zweiten Johannesbriefs nachgeahmt. Was dort allgemein gesagt wurde, wird jetzt auf Gaius heruntergebrochen: Er ist es, der – wie die Brüder berichten – in der Wahrheit lebt. Hier wie dort ist mit Wahrheit nichts anderes als der Glaube an denjenigen gemeint, der nach Joh 14,6 von sich gesagt hat: Ich bin der Weg und die Wahrheit und
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das Leben. Niemand kommt zum Vater außer durch mich. Wahrheit ist auch für den Ältesten des dritten Johannesbriefs eine feste Gewissheit, die Glaubens-Wahrheit in Jesus Christus, die sich in entsprechenden guten Taten äußert. Formal ahmt der Älteste auch die Sprache des ersten Johannesbriefes nach, insofern hier Worte aus dem Gerichtswesen verwendet werden (Wahrheit, bezeugen). Inhaltlich bezieht sich dieser Gedanke auf V. 12. Dort wird Demetrius bescheinigt, über ihn hätten alle, ja sogar die Wahrheit selbst Zeugnis abgegeben. Das heißt aber: Das Zeugnis von der Wahrheit ist das zentrale Thema des dritten Johannesbriefs. Dieses abgelegt zu haben (und danach zu leben), wird sowohl Gaius (V. 3) als auch im Grunde Demetrius (V. 12) bescheinigt. Entsprechend deutlich stellt sich dann die Frage, wer nicht entsprechend diesem Zeugnis von der Wahrheit lebt. Mit dem Zeugnis der Wahrheit ist aber aufgrund von Joh 19,35; 21,24 zweifellos die Botschaft des Johannesevangeliums gemeint. Und wie bereits im ersten und im zweiten Johannesbrief ist die Nachricht von der Freude des Absenders nicht einfach nur eine Information über eine bestimmte Gemütsbewegung. Freude ist nur dann möglich, wenn eine Gemeinschaft zwischen Absender und Adressat hergestellt ist (vgl. 1Joh 1,3f; 2Joh 12). Wenn also der Älteste im vorliegenden Vers von seiner Freude spricht, weiß er sich in der Gemeinschaft mit Gaius. Durch die Rede vom Bezeugen der Wahrheit des Gaius durch die »Brüder« übernimmt der Älteste einen wichtigen Begriff aus dem ersten Johannesbrief (1Joh 1,2; 4,14; 5,6–11), mit dessen Hilfe Johannes angedeutet hatte, dass die Verkündigung der christlichen Botschaft einem Bezeugen vor einem weltlichen Richter gleichkommt. Dieser juristische Aspekt klingt hier jedoch nicht mehr an; stattdessen geht es dem Ältesten auch hier lediglich um eine Nachahmung der Ausdrucksweise des Johannes. Allerdings fällt auf, dass das Gebot nirgendwo im dritten Johannesbrief erwähnt wird. Offenbar hat der Formulierung Wandel in Wahrheit (vgl. 3Joh 1.3.4. 8.12) die Rede vom Gebot für den Ältesten abgelöst. Hintergrund des Verses sind die Berichte der Brüder – diese sind wahrscheinlich urchristliche Wandermissionare –, die aus der Gemeinde des Gaius zu ihrer aussendenden Gemeinde, in der auch der Älteste beheimatet ist, zurückgekehrt sind und diesem von Gaius berichtet haben. Vergleichbares wird in Apg 13,1–3 und 14,27 sowie in Lk 10,1.17 erzählt. Der Älteste bezeichnet sie ohne Weiteres als Brüder. Diese offenbar inzwischen feststehende Bezeichnung für die Glaubenden, die ursprünglich aus der Vorstellung der Gotteskindschaft (siehe erster Johannesbrief) stammt, scheint sich, wie
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der folgende Vers zeigt, verselbstständigt zu haben. Mit anderen Worten: Mit »Bruder« bezeichnen sich die Christen gegenseitig. Der Begriff Christen (griech. christianoi; vgl. Apg 11,26) ist noch nicht erfunden. Im anschließenden V. 4 dehnt der Älteste das Lob auf die ganze Gemeinde aus. Wenn er dabei von seinen Kindern spricht, scheint dies im Widerspruch zu stehen zu 1Joh 3,1.2.9.10; 5,2. Dort gelten die Glaubenden als Kinder Gottes. Anders als in 1Joh 2,1.12.18.28; 3,7.18; 4,4; 5,21 verwendet der Älteste auch nicht die Verkleinerungsform (Kinderchen), sodass man sich zu fragen hat, welches Kindschaftsverhältnis der Älteste hier voraussetzt. Am wahrscheinlichsten liegt dieser für die johanneische Literatur einzigartigen Redeweise die Tatsache zugrunde, dass der Älteste die Angesprochenen getauft, mindestens aber bekehrt und damit die Gemeinde des Gaius gegründet hat. Auf jeden Fall scheint er ein besonderes Verhältnis zu ihnen zu haben – deshalb lässt er auch am Schluss des Briefes jeden mit Namen grüßen (V. 15). Der Wandel seiner Kinder in Wahrheit hat die übergroße Freude des Ältesten zur Folge – auch hier ist als »Zwischenglied« die Gemeinschaft vorzustellen, die durch den gemeinsamen Wandel in der Wahrheit entstanden ist. Diese ist es eigentlich, die die Freude hervorruft (vgl. 1Joh 1,3f). Unklar ist, ob der Älteste mit seinen Kindern die gesamte Gemeinde des Gaius bezeichnet haben will oder ob es nur ein Teil aus dieser Gemeinde ist. Wahrscheinlich ist es eher Letzteres, weil die Auseinandersetzung mit Diotrephes (V. 9–11) innerhalb der Adressatengemeinden stattfindet. 5–12 Hauptteil: Das Problem der Aufnahme der Brüder 5–8 Das Lob für Gaius 5
Mein Lieber, du handelst treu in dem, was du an den Brüdern tust, zumal an fremden, 6 die deine Liebe bezeugt haben vor der Gemeinde; und du wirst gut daran tun, wenn du sie ausrüstest, wie es würdig ist vor Gott. 7 Denn um seines Namens willen sind sie ausgezogen und nehmen von den Heiden nichts an. 8 Solche sind wir nun verpflichtet aufzunehmen, damit wir Mitarbeiter an der Wahrheit werden. Der Neueinsatz in V. 5 wird durch die Anrede mein Lieber (vgl. V. 2) deutlich. Das hier verwendete Eigenschaftswort für Gaius kann
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sowohl treu, zuverlässig, glaubwürdig als auch gläubig bedeuten und wird in 1Joh 1,9 im Sinne von treu auf Jesus angewendet: Dieser zeigt seine Treue darin, dass er Sünden vergibt. Wenn der Älteste dieses Eigenschaftswort aufnimmt und hier auf Gaius anwendet, dann scheint er damit deutlich machen zu wollen: Gaius erfüllt den Anspruch von 1Joh 2,6, wonach man so leben solle wie Jesus (vgl. auch 1Joh 3,16 sowie Joh 14,12). Zugleich scheint hier nicht zufällig die zweite Bedeutung des griechischen Begriffes gläubig durch, weil die Weckung des Glaubens sowohl im Johannesevangelium als auch im ersten Johannesbrief ein zentrales Anliegen ist (vgl. nur Joh 20,31 und 1Joh 3,23, aber auch Joh 1,7; 4,39.41f.50; 5,24.47; 8,30f; 17,20 u.ö.). Die Treue bzw. der Glaube des Gaius zeigt sich in dem, was er den Brüdern tut. Gaius wird also bestätigt, dass sein Handeln dem entspricht, was Jesus selbst getan hätte. Weder wird in diesem Vers gesagt, was denn Gaius getan hat, noch um welche Art Brüder es hier geht. Der Fortgang der Argumentation wird erst zeigen, dass es sich bei den Brüdern um urchristliche Wandermissionare handelt. Nach der in Lk 10 überlieferten alten Aussendungsrede Jesu gingen diese Verkündiger jeweils zu zweit (Brüder) in unterschiedliche Städte und Orte (Lk 10,1). Diese Praxis scheint auch der Älteste hier vorauszusetzen. Dementsprechend werden die dem Glauben des Gaius entsprechenden Taten in der Aufnahme der – teilweise ihm selbst auch fremden – Brüder aus anderen Gemeinden und deren Ausrüstung (V. 6) sein. Tatsächlich fasst der Älteste die Taten seines Adressaten Gaius im folgenden V. 6 als Liebe zusammen. Genau diese Liebe hat nach Joh 13,15.34f; 15,12f Jesus von den Seinen erwartet. Die Bezeugung der Liebestaten des Gaius geschah vor der Gemeinde (ekklesía). Damit wird deutlich, dass es im dritten Johannesbrief – anders als in den beiden vorangegangenen Schreiben (1Joh und 2Joh) – vor allem um innergemeindliche Probleme geht. Der Begriff ekklesía war bisher in den Johannesbriefen noch nicht aufgetaucht. Dies ist deshalb etwas verwunderlich, weil er bei dem wesentlich älteren Paulus längst gebräuchlich war (vgl. nur 1Kor 1,1f; 10,23; 11,22; 15,9; 2Kor 1,1; Gal 1,13; 1Thess 2,14 u.ö.). Ursprünglich wurde mit diesem Begriff die Volksversammlung einer griechischen Stadt bezeichnet. Die Gemeinde, vor der das Zeugnis von Gaius‘ Liebe abgelegt wurde, könnte theoretisch die Haus- oder Ortsgemeinde des Gaius sein, aber ebenso die des Ältesten oder die Heimatgemeinde der umherziehenden Brüder. Am wahrscheinlichsten ist jedoch, dass es sich um die Gemeinde des Ältesten handelt. Dieser gibt ja mit seinem Schreiben die Information an Gaius, dass in der Gemeinde, aus der der Brief abgeschickt worden ist, vom vorbildlichen Handeln des Gaius Bericht erstattet worden ist.
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Was die Organisation der frühen christlichen Gemeinden betrifft, ist davon auszugehen, dass man sich in Wohnhäusern versammelte, sodass Hausgemeinden entstanden. Häufig diente der Name des Hausbesitzers zur Bezeichnung der sich in seinem Haus versammelnden Gemeinde. So erwähnt Paulus einen gewissen Gaius in Röm 16,23 als Gastgeber einer Gemeinde, also einer Hausgemeinde (vgl. auch 1Kor 1,16 und Kol 4,15). Dieser ist allerdings wohl kaum derselbe wie hier. Aufgrund von Röm 16,4 und Phlm 1 lässt sich vermuten, dass diese Hausgemeinden, die – genauso wie die Ortsgemeinden – ebenfalls ekklesía genannt wurden, die Basis für die Ausbildung von Ortsgemeinden bildeten. Von daher lässt sich zunächst nicht eindeutig bestimmen, ob der Älteste hier eine Haus- oder eine Ortsgemeinde im Blick hat. Der Auftrag, die bedürftigen Brüder auch materiell zu unterstützen in 1Joh 3,17 zeigt, dass sich auch Wohlhabende unter den Christen fanden. Wer aber unter diesen sein Haus als Versammlungsort zur Verfügung stellte, wird damit auch automatisch besondere Aufgaben innerhalb der Gemeinde, die sich in seinem Haus traf, übernommen haben. Gaius erweist seinen Glauben dadurch, dass er die wandernden Brüder für ihre Reise so ausrüstet, wie es vor Gott würdig ist. Die in 1Joh 3,17 geforderte materielle Unterstützung von Brüdern wird also von Gaius praktiziert. Umso auffälliger ist es, dass das Liebesgebot, das in den beiden anderen Schriften eine zentrale Stellung einnimmt, hier gar nicht erwähnt wird. Wenn der Älteste hier aber wie selbstverständlich von der Liebe des Gaius spricht, dann darf die Geltung des Liebesgebotes auch für den dritten Johannesbrief vorausgesetzt werden. Eine Begründung dieser Liebe durch das entsprechende Gebot scheint nicht (mehr) nötig. Anders war das noch im zweiten Johannesbrief der Fall gewesen (2Joh 4–6; vgl. 1Joh 3,22–24; 4,21; 5,2). Die Formulierung wie es Gottes würdig ist findet sich auch in 1Thess 2,12. Dort werden die Thessalonicher von Paulus ermahnt, ihr Leben zu führen, wie es Gottes würdig ist. Ähnlich ist die Argumentation im vorliegenden Vers. Das gotteswürdige Leben bedeutet, die wandernden Missionare aufzunehmen und dann weiter auszurüsten. Verbindet man den hier vorliegenden Sachverhalt mit 1Joh 3,17, wonach die Liebe Gottes nicht in demjenigen bleibt, der – obwohl wohlhabend – sein Herz vor dem bedürftigen Bruder verschließt, dann liegt hier eine praktische Anwendung der Anweisung vor: Es ist eigentlich Gottes Liebe, die in Gaius wirkt und ihn die wandernden Brüder unterstützen lässt (vgl. auch 1Joh 2,5). Dabei tut der Älteste so, als ob es klar wäre, wer Bruder ist und wer nicht. Das ist es aber offenbar gar nicht, wie man später an Diotrephes sehen kann.
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Völlig unvermittelt spricht der Älteste im folgenden V. 7 vom Auszug der Brüder um seines Namens willen. Es könnte hier sowohl der Name Gottes als auch der Name Jesu gemeint sein, aber wahrscheinlich geht es – ausgehend von 1Joh 2,12 (vgl. 1Joh 3,23; 5,13), wo vom Namen Jesu Christi gesprochen wird – in dieser Formulierung um Jesus bzw. den Sohn. Dass die Ausziehenden dies für seinen Namen tun, ist offenbar für den Ältesten zu einem feststehenden Ausdruck geworden (vgl. Röm 1,5 und bes. Apg 5,41; 9,16; 15, 26; 21,13). Auffällig ist, dass die Belege in der Apostelgeschichte durchweg vom Leiden und Sterben für seinen Namen sprechen, während es im Römerbrief um den Gehorsam des Glaubens unter den Heiden für seinen Namen geht. Das griechische Verb, das hier mit ausziehen wiedergegeben wird, verwendet der Johannesevangelist bevorzugt für das Ausgehen Jesu von Gott (Joh 8,42; 16,27f; 17,8; vgl. 13,3). So wie Jesus von Gott ausgegangen ist, verlassen die Missionare ihre Heimat(gemeinde) und ziehen in die Fremde. Sie scheinen nur das Nötigste dabeizuhaben (vgl. Lk 10,4) und sind auf gastfreundliche Aufnahme angewiesen (vgl. Lk 10,5–8). Dies ist auch der Grund, weshalb der Älteste Gaius so für dessen Verhalten lobt. Die Nachricht, dass die umherwandernden und verkündigenden Brüder nichts von den Heiden angenommen hätten, heißt positiv: Sie haben sich lediglich von Juden und getauften Heiden, d.h. von Christen, unterstützen lassen. Dies lässt auf einen judenchristlichen Hintergrund schließen, wonach die Heiden als unrein gelten. Tatsächlich wird dasselbe Wort im Neuen Testament nur noch in Mt 5,47; 6,7; 18,17 (vgl. auch Gal 2,14) jeweils in abwertendem Sinn verwendet. Anders als in der Aussendungsrede von Lk 10 essen die Ausgesandten also nicht einfach, was ihnen vorgesetzt wird (Lk 10, 7f), sondern machen ihre Unterkunft von der Frage abhängig, ob ihr Gastgeber Christ oder Jude ist. Der Älteste bewertet diese Praxis, von den Heiden nichts anzunehmen, nicht. Wenn die wandernden Missionare aber nichts von Heiden annehmen, verkleinert sich der Kreis derer, die ihnen Kost und Logis bieten können, erheblich. Umso wichtiger ist es, dass diejenigen, die sich zu einer christlichen Gemeinde zählen und es sich leisten können, diese Menschen unterstützen – so wie etwa Gaius es getan hat. Die Aufnahme dieser umherziehenden Brüder bezeichnet der Älteste in V. 8 als Verpflichtung. Wenn sich V. 6 und 7 immer wieder auf 1Joh 3,17 bezogen haben, so nimmt der vorliegende Vers jetzt Bezug auf 1Joh 3,16. Dort wird es als Verpflichtung des Glaubenden bezeichnet, sein Leben für die Brüder einzusetzen. Der Älteste sieht also in der Aufnahme der wandernden Brüder ein Beispiel für den Einsatz des Lebens bzw. der zur Verfügung stehenden Lebens-
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mittel. Ziel dieser Aufnahme ist es, Mitarbeiter an der Wahrheit zu werden. Bei Paulus dient der Begriff Mitarbeiter zur Bezeichnung der Personen, die mit und wie Paulus an der christlichen Verkündigung arbeiten (Röm 16,3.9.21; 1Kor 3,9.12–14; 2Kor 1,24; 8,23; Phil 2,30; 1Thess 3,2). Ähnlich ist die Bezeichnung auch hier verwendet: Wer die urchristlichen Missionare aufnimmt, hat Anteil an deren Missionswerk. Der Älteste nutzt diesen Ausdruck, um seinen zentralen Begriff unterzubringen, den er bereits in V. 1, 3 und 4 benannt hat: die Wahrheit (vgl. auch 2Joh 1–4). Mit Wahrheit ist durchgängig eine Glaubenswahrheit gemeint, die in der Wahrheit Gottes von der Sendung Jesu in die Welt wurzelt und ihre Ausprägung in den dieser Gottesliebe entsprechenden Taten der Glaubenden erfährt. 9–10 Die Kritik an Diotrephes 9
Ich habe der Gemeinde kurz geschrieben; aber Diotrephes, der von ihnen der Erste sein will, erkennt uns nicht an. 10 Darum will ich ihn, wenn ich komme, erinnern an seine Werke, die er tut; denn er verleumdet uns mit bösen Worten und begnügt sich noch nicht damit: Er selbst nimmt die Brüder nicht auf und hindert auch die, die es tun wollen, und stößt sie aus der Gemeinde. Der Älteste setzt in V. 9 dadurch neu ein, dass er auf ein vorangegangenes Schreiben an die Gemeinde (ekklesía) verweist. Es ist in der Forschung breit diskutiert worden, ob damit der zweite Johannesbrief gemeint ist oder nicht. So wurde vermutet, der Älteste verweise hier auf ein verloren gegangenes Empfehlungsschreiben für Wandermissionare. Aber dann hätte er formulieren können: Ich habe den Brüdern ein Schreiben mitgegeben. Für den zweiten Johannesbrief als Bezug spricht, dass beide Schreiben formal sehr ähnlich sind. Außerdem müsste man nicht einen verloren gegangenen Brief behaupten, der vielleicht gar nicht geschrieben worden ist. Zudem lässt sich feststellen, dass sowohl für den zweiten als auch für den dritten Johannesbrief das Thema Wahrheit zentral ist (vgl. 2Joh 1–4; 3Joh 1.3.4.8.12). Möglicherweise war es auch die Erwähnung der Wahrheit in V. 8, die den Ältesten dazu bewogen hat, auf sein vorangegangenes Schreiben zu verweisen. Der erwähnte Brief hat zur Klärung beigetragen, denn die Handlungsweise des Diotrephes wird mit einem deutlichen aber abgegrenzt. Der Name Diotrephes, der übersetzt der von Zeus Genährte bedeutet, lässt auf einen heidenchristlichen Träger schließen. In den Epen des Homer war dieser Begriff noch ein Eigenschaftswort,
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das Homer gerne auf Könige anwandte; diese seien von Zeus genährt gewesen (vgl. Ilias 1,76; 2,98.196 u.ö.). Diotrephes‘ Handlungsziel wird mit einem vorher nicht belegten und deshalb wohl vom Ältesten »erfundenen« Verb beschrieben: der der Erste sein will. Offenbar ist Diotrephes nicht nur ein Hausherr, sondern sogar der Herr eines Hauses, in dem sich eine Hausgemeinde trifft. Es ist vielfach vermutet worden, dass sich mit dem Anspruch des Diotrephes bereits eine Art Bischofsamt ankündigt. Dies ist theoretisch möglich, aber aufgrund des Fortgangs der Argumentation (V. 10) eher unwahrscheinlich, wie noch zu zeigen ist. Vielmehr spricht die Formulierung dafür, dass Diotrephes das Bestreben unterstellt wird, er wolle die (Meinungs-)Herrschaft innerhalb einer Ortsgemeinde übernehmen. Im Hintergrund steht hier für den Ältesten die urchristliche Überlieferung vom Rangstreit der Jünger: Nach Markus hatten die Jünger gestritten, wer unter ihnen der Größte sei. Das dazugehörige Jesuswort lautet: Wenn jemand der Erste sein will, der soll der Letzte sein von allen und aller Diener (Mk 9,35; vgl. 10,44 sowie Mt 23,11f; Lk 22,26f). Im Johannesevangelium wird die Bedeutung der demütigen und hilfsbereiten Haltung bei der Fußwaschung deutlich. Dort sagt Jesus: Wenn nun ich, euer Herr und Meister, euch die Füße gewaschen habe, so sollt auch ihr euch untereinander die Füße waschen. Ein Beispiel habe ich euch gegeben, damit ihr tut, wie ich euch getan habe (Joh 13,14f). Dazu kommt, dass der erste Johannesbrief zweimal das für die Glaubenden vorbildhafte Leben Jesu betont (1Joh 2,6; 3,16). Mit dem Ausdruck der Erste sein wollend wird also das Verhalten des Diotrephes massiv kritisiert. Wenn er tatsächlich unter ihnen der Erste sein will, so zeigt dies: Gaius und Diotrephes wohnen nicht in derselben Stadt. Wäre Gaius direkt von dem angeblichen Streben des Diotrephes betroffen, hätte der Älteste geschrieben, er wolle unter euch der Erste sein. Diotrephes weigert sich, uns anzuerkennen. Offenbar hat er innerhalb der Gemeinde des Gaius bereits eine gewisse Führungsrolle inne. Das hier verwendete Verb kann auch annehmen, aufnehmen bedeuten; und diese Bedeutung hat es auch in V. 10. Im vorliegenden Zusammenhang geht es aber um die Anerkenntnis der Autorität des Ältesten (und der von ihm abgesandten Brüder sowie der absendenden Gemeinde). Mit dem Personalpronomen uns schließt sich der Älteste mit den Wandermissionaren ausdrücklich zusammen, denn diese hatte er selbst ausgeschickt. Inzwischen waren sie aber zu ihm zurückgekehrt und hatten Bericht von ihrer Abweisung erstattet (V. 3). Tatsächlich ist die Vorstellung, dass man mit der Aufnahme eines Ausgesandten zugleich den Sender aufnimmt bzw. mit der Ablehnung der Aufnahme zugleich den Sender ab-
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lehnt, im Johannesevangelium belegt (Joh 13,20). Durch die derartige Solidarisierung mit seinen Abgesandten wird die Handlungsweise des Diotrephes aus Sicht des Ältesten noch anstößiger. Dazu passt das bereits bei Plutarch belegte Eigenschaftswort erster sein wollend; denn dieses ist stets abwertend gemeint (Plutarch, Sol 29,3; Alc 2,2; Tranq 12). Der Älteste beabsichtigt, die Gemeinde des Diotrephes zu besuchen und kündigt in V. 1 0 diesen Besuch an. Dabei hat er vor, seinen Gegenspieler mit dessen Werken zu konfrontieren. Der erste Teil dieses Verses ist dabei noch völlig wertfrei und im Grunde sehr milde gehalten. Es sieht so aus, als wolle er lediglich Diotrephes vor Augen führen, wie er dessen Taten (die Abweisung der von ihm ausgeschickten Wandermissionare) beurteilt. Im zweiten Versteil wird der Älteste noch deutlicher, und er beginnt, die Handlungen des Diotrephes zu werten: er verleumdet uns mit bösen Worten. Das hier mit verleumden wiedergegebene Verb taucht sonst im gesamten Neuen Testament nicht auf und meint eigentlich schwatzen, doch durch den Zusatz mit bösen Worten ist klar: Der Älteste hat das Gefühl, von Diotrephes heruntergemacht zu werden. Das hier auftauchende Eigenschaftswort böse ist sowohl im ersten als auch im zweiten Johannesbrief deutlich negativ besetzt und bezeichnet die Taten derer, die nicht zur Gemeinde gehören: Nach 2Joh 11 dürfen diejenigen, die das Christusbekenntnis nicht ablegen, weder aufgenommen noch gegrüßt werden; denn wer ihnen einen Gruß (Freue dich!) zuruft, hat Anteil an seinen bösen (!) Werken (vgl. auch 1Joh 3,12 und die Bezeichnung des Kaisers bzw. des Teufels als böse in 1Joh 2,13f; 3,12; 5,18). Setzt man die Argumentation von 2Joh 10f (dort geht es ebenfalls sowohl um die Frage der Aufnahme in ein Haus als auch um böse Taten) mit den Handlungen des Diotrephes in Beziehung, so liegt tatsächlich die Vermutung nahe, dass dieser sich auf den zweiten Johannesbrief berufen hatte. Seine Position sieht folgendermaßen aus: »Die umherziehenden Leute sind keine Brüder mehr, sondern ins Judentum zurückgekehrte frühere Christen (vgl. die Auslegung zu 2Joh 10f). Dementsprechend ist klar, dass man diese auch nicht grüßen darf, denn deren Taten und Worte sind als böse anzusehen; und wer sie grüßt, hat nach 2Joh 11 Gemeinschaft mit ihnen und Anteil an deren Taten. Deshalb müssen auch die anderen Hausgemeinden des Ortes dazu angehalten werden, den Wanderern die Tür zu weisen und diese nicht zu grüßen. Wer es dennoch tut, hat nicht nur Anteil an deren bösen Werken, sondern auch die Gemeinschaft mit den anderen Christen am Ort verwirkt. Der Begriff Gemeinde (ekklesía) bezeichnet dann hier aller Wahrscheinlichkeit nach die Ortsgemeinde, die sich aus mehreren Haus-
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gemeinden zusammensetzt. Diotrephes, der Hausherr und Leiter einer solchen Hausgemeinde, versucht auf seine Weise, die anderen Leiter von Hausgemeinden in seinem Ort zu einem gemeinsamen Handeln zu bewegen. Wer sich seiner Meinung aber nicht anschließt, hat – nach seinem Verständnis von 2Joh 9–11 – die Gemeinschaft und damit die Ortsgemeinde verlassen und muss auch als ein solcher behandelt werden. Dagegen bringt sich der Älteste, der ja die Missionare ausgesandt hatte, in Stellung: Er nimmt das Eigenschaftswort böse, das Diotrephes offenbar auf die Werke der Ausgesandten (2Joh 11) bezogen hatte, auf und wendet es jetzt gegen Diotrephes selbst. Zwar spricht er hier nicht von bösen Werken des Diotrephes (vgl. 1Joh 3,12: dort werden die Werke Kains als böse bezeichnet), aber nach Meinung des Ältesten verleumdet er mit bösen Worten, indem er behauptet, die Ausgesandten seien nicht in der Lehre Christi geblieben, sodass man sie nicht im Haus aufnehmen dürfe. Dass sich Diotrephes damit nicht zufrieden gibt, sondern auch diejenigen in der Ortsgemeinde, die die Missionare aufnehmen, behindert, ja sogar versucht, sie aus der Ortsgemeinde auszuschließen, ist aus Sicht des Ältesten nicht hinnehmbar. Dabei wird die Weigerung des Diotrephes, die Wandermissionare aufzunehmen, vom Ältesten weder als Verstoß gegen ein Jesuswort (Wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinauswerfen; Joh 6,37) noch als Verstoß gegen das Liebesgebot gewertet (vgl. 2Joh 5; 1Joh 3,23; 4,21). Generell wird das Verhalten des Diotrephes gerade nicht nach theologischen Maßstäben beurteilt (er bezeichnet die Werke des Diotrephes auch nicht als böse). Der Unterschied zwischen dem Ältesten und Diotrephes besteht offenbar nur darin, dass der Älteste in den Wandermissionaren Brüder sieht (die er selbst ausgesandt hatte), und Diotrephes eben nicht. Vielmehr sind es für ihn Juden bzw. frühere Judenchristen, die die Binnenstabilität der Gemeinden gefährden, also ehemalige Brüder. Anders als es auf den ersten Blick aussieht, handelt es sich demnach bei dem Streit zwischen dem Ältesten und Diotrephes weder um eine Meinungsverschiedenheit im Hinblick auf die Lehre (unterschiedliche Anschauungen von Jesus) noch um unterschiedliche Auffassungen über den Aufbau einer Ortsgemeinde (Diotrephes will Weisungsbefugnis, während der Älteste dies ablehnt). Vielmehr handelt es sich um ein zum Streitpunkt ausgeweitetes Missverständnis. Diotrephes sah in den Fremden, die vor seiner Tür stehen und die von Heiden nichts annehmen wollen, keine Brüder, sondern zum Judentum zurückgekehrte ehemalige Judenchristen, die die Stabilität der Gemeinde(n) zerstören und nach 2Joh 9–11 weder im Haus aufzunehmen noch zu grüßen sind. Und alle in der
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Ortsgemeinde, die dies trotzdem tun, haben seiner Meinung nach Anteil an deren bösen Werken und haben sich dadurch im Grunde selbst von der christlichen Gemeinde entfernt. Nach Ansicht des Ältesten liegt Diotrephes hier völlig falsch, denn es sind echte Glaubensbrüder und -schwestern, deren Aufnahme er verweigert; außerdem spielt er sich als Vorgesetzter der anderen Hausgemeinden auf und verleumdet die Brüder, indem er ihnen unterstellt, sie wären keine Glaubensgeschwister (Christen). Denn damit begründet er ja die Ablehnung der Aufnahme. Der Streit zwischen Diotrephes und dem Ältesten ist deshalb mit manchen Fragezeichen behaftet, weil keine Stellungnahme dieses Mannes vorliegt. Sein Verhalten müsste ja irgendwie nachvollziehbar gewesen sein, muss aber aus den beiden kleinen Johannesbriefen (re)konstruiert werden. 11–12 Abschließende Mahnung und Empfehlung für Demetrius 11
Mein Lieber, ahme nicht das Schlechte nach, sondern das Gute. Wer gut handelt, der ist aus Gott; wer schlecht handelt, der hat Gott nicht gesehen. 12 Für Demetrius ist von allen und von der Wahrheit selbst Zeugnis abgelegt worden; und auch wir sind Zeugen, und du weißt, dass unser Zeugnis wahr ist. Mit der neuerlichen Anrede in V. 1 1 wendet sich der Älteste wieder direkt an Gaius. Formal hält er sich damit an den klassischen Aufbau antiker und neutestamentlicher Briefe: Auf die inhaltliche Darlegung folgen gegen Ende daraus resultierende Ermahnungen. Im vorliegenden Vers warnt der Älteste seinen Adressaten davor, das Schlechte, also seiner Meinung nach Diotrephes, nachzuahmen. Die Kreuzform unterstreicht die Eindringlichkeit (vgl. die ähnliche Argumentationsweise in 2Joh 6): Ahme nicht das Schlechte nach, sondern das Gute. Wer gut handelt, der ist aus Gott; wer schlecht handelt, der hat Gott nicht gesehen.
Dabei hat diese Warnung aber nur Sinn, wenn dem Ältesten klar ist, dass die Gefahr durchaus besteht, es Diotrephes gleichzutun. Die Position seines Gegners scheint also gar nicht so abwegig zu sein, wie es im Brief dargestellt wird. Deshalb spricht die Warnung vor der Nachahmung ebenfalls für die hier vorgestellte Rekonstruk-
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tion: Diotrephes handelt nach eigenem Verständnis gemäß der Vorgabe von 2Joh 9–11 und versucht, die anderen christlichen Hausbesitzer und Hausgemeindeleiter von der Richtigkeit seines Handelns zu überzeugen. Auch das Verb nachahmen macht deutlich, dass Diotrephes nicht die Macht eines Bischofs hat, der Menschen wirklich aus der Gemeinde werfen kann, wie V. 10 anscheinend unterstellt hat. In diesem Fall hätte der Älteste vor der Unterwerfung unter Diotrephes warnen müssen. Dieser hatte aber offenbar die christlichen Hausbesitzer seiner Ortsgemeinde lediglich dazu aufgefordert, es ihm gleichzutun, also ihn nachzuahmen. Davor warnt der Älteste und bezeichnet eine solche Nachahmung als schlechtes Tun. Der Älteste wechselt hier das Eigenschaftswort zur Bezeichnung von Diotrephes’ Werken: Statt böse (ponerós; V. 10; vgl. 2Joh 11) bezeichnet er diese jetzt als schlecht (kakós), aber er meint damit dasselbe. Der Grund für diesen Wechsel ist der, dass er im zweiten Teil des Verses den Gegensatz mit Hilfe der beiden feststehenden griechischen Verben schlecht handeln (kakopoieîn) und gut handeln (agathopoieîn) darstellen will. Eine vergleichbare Gegenüberstellung findet sich auch im ersten Petrusbrief (1Petr 3,17; vgl. auch 1Petr 2,14 und Lk 6,9). Dort versucht der Verfasser in gleicher Weise seine Adressaten zum gut handeln zu ermahnen (vgl. auch Röm 12,21). Noch einmal: Die Tatsache, dass der Älteste hier nicht unter Zuhilfenahme des Liebesgebotes argumentiert, lässt vermuten, dass dessen Geltung auch für Diotrephes außer Frage steht und kein Streitpunkt ist. Stattdessen stellt der Älteste Gaius vor die Wahl, entweder gut oder schlecht zu handeln. Eine dritte Möglichkeit gibt es für ihn nicht: Entweder man handelt wie Diotrephes oder wie Gaius. Und Gaius soll sich bitteschön auf keinen Fall durch die Handlungsweise des Diotrephes verunsichern lassen, sonst handelt er schlecht. Dabei teilt der Älteste die Vorstellung aus dem ersten Johannesbrief, wonach die Taten eines Menschen auf sein Inneres bzw. seine Herkunft schließen lassen: In 1Joh 3,10 wurde festgestellt, dass derjenige, der die Gerechtigkeit nicht tut, nicht aus Gott sei. Wer aber sündigt, habe Gott nicht gesehen (1Joh 3,6). Die Verwandtschaft mit den Aussagen des vorliegenden Verses ist unübersehbar. Setzt man voraus, dass dem Ältesten der erste Johannesbrief bekannt war, dann bedeutet dies: Gut zu handeln heißt für ihn, die Gerechtigkeit zu tun (1Joh 3,10), und schlecht zu handeln (also wie Diotrephes zu handeln) bedeutet zu sündigen (1Joh 3,6). Wenn diese Gleichsetzung richtig ist, dann bedeutet dies aber, dass – ohne dass es offen ausgesprochen wird – Diotrephes für den Ältesten ein
3Joh 11–12
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Sünder, d.h. ein vom Glauben Abgefallener, ist. Mit anderen Worten: Nach Meinung des Ältesten hat sich Diotrephes mit seinen Handlungen von der Gemeinde entfernt und müsste ausgestoßen werden (vgl. V. 10). Nur wenn er gut gehandelt, d.h. im Sinne des Ältesten gehandelt hätte, hätte er gezeigt, dass er aus Gott (geboren) ist, also so wie die Gemeindeglieder von Gott abstammt und damit Kind Gottes ist (vgl. die Auslegung von 1Joh 3,10). Durch die Gegenüberstellung von gut handeln und schlecht handeln mit der Andeutung der daraus sich ergebenden Folgen deutet der Älteste also ganz massive Vorwürfe gegenüber Diotrephes lediglich an, wie der Vergleich mit einschlägigen Parallelstellen aus dem ersten Johannesbrief zeigt. Der Grund für diese versteckten Vorhaltungen liegt vermutlich daran, dass er das Tischtuch zwischen sich und Diotrephes noch nicht ganz zerschnitten sieht. Er möchte ihn bei seinem angekündigten Besuch ja auch erst einmal an dessen Taten erinnern. Vielleicht ist es ja noch nicht zu spät für eine Einigung. Die Ermahnung für Gaius, weiterhin gut zu handeln, wird durch den Verweis auf Demetrius in V. 1 2 unterstrichen, der völlig unvermittelt und anscheinend dem Adressaten durchaus bekannt eingeführt wird. Der Name Demetrius (zu [der Göttin] Demeter gehörig) lässt ebenso auf dessen Herkunft aus dem Heidentum schließen. Dabei handelt es sich allerdings wohl kaum um den in Apg 19,24.28 erwähnten Silberschmied Demetrius aus Ephesus, zumal dieser ausdrücklich gegen die christliche Verkündigung Stellung bezieht. Nach Darstellung des vorliegenden Verses legen für Demetrius alle, ja sogar die Wahrheit selbst und schließlich auch der Älteste Zeugnis ab. Dass die Wahrheit als Zeugin wie eine Person benannt wird, ist eine völlig neue Vorstellung. Die Fülle der benannten Zeugen ist der Auffassung geschuldet, dass man nicht über sich selbst Zeugnis ablegen könne – sonst kann ja jeder alles behaupten (vgl. Joh 5,31; 8,13) –, sondern dass man mindestens zwei Zeugen benennen müsse (Joh 8,17; vgl. auch die Auslegung von 1Joh 5,6–8). Der Älteste spricht zuerst von allen, dann aber doch konkret von der Wahrheit selbst und schließlich von sich als Zeugen für Demetrius. Dem Ältesten geht es bei dem hier verwendeten Wahrheitsbegriff vor allem um die Glaubwürdigkeit des Demetrius. Dies hatte er im vorangegangenen Vers vorbereitet, indem er die beiden einzig möglichen Handlungsweisen aufgezeigt hat: Man kann nur entweder gut oder schlecht handeln. Das heißt für die Frage nach der Wahrheit im vorliegenden Zusammenhang: Man kann entweder Richtiges bzw. Wahres sagen oder lügen. Eine dritte Möglichkeit gibt es für ihn nicht.
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Demetrius ist also sowohl beim Ältesten selbst, aber auch bei allen ihm bekannten Christen hoch angesehen. Sein christlicher Glaube steht außer Frage – genauso wie der des Gaius. Hat doch in V. 3 der Älteste Vergleichbares von Gaius festgestellt: Die (zurückkehrenden) Brüder hätten von seiner Wahrheit Zeugnis abgelegt, wie er ja selbst in der Wahrheit wandeln würde! In der Forschung ist zuweilen vermutet worden, dass Demetrius einer der von Diotrephes abgewiesenen Wanderlehrer gewesen sein könnte. Dagegen spricht jedoch seine – wie sein Name verrät – heidnische Herkunft, die sich nicht mit der Notiz verträgt, dass die Wanderlehrer nichts von den Heiden angenommen hätten (V. 7). Ein Heidenchrist dürfte kein Reinheitsproblem damit haben, wenn er von Heiden etwas annimmt. Wenn aber nach der Kritik an der Handlungsweise des Diotrephes (V. 9f) das hohe Ansehen und der gute Ruf des Demetrius gelobt werden (V. 11), legt dies die Vermutung nahe, dass das vorliegende Schreiben auch ein Empfehlungsschreiben für Demetrius sein soll. Er ist der Überbringer des Briefes an Gaius, der im Vers dazwischen noch ermahnt worden war, es auf keinen Fall Diotrephes gleichzutun. Vielmehr soll er – und das möchte der Älteste mit diesem Vers ausdrücklich unterstrichen haben – Demetrius als Bruder ansehen, von dem die Wahrheit selbst Zeugnis ablegt. Zwischen dem Ältesten und Diotrephes scheint ja genau dies strittig zu sein: Wer ist aus Gott (V. 11) und lebt damit in der Wahrheit (V. 3) und ist Bruder (V. 5.10) und wer nicht und muss also abgewiesen werden? Für Demetrius legt der Älteste selbst auch Zeugnis ab, also »seine Hand ins Feuer«. Am Schluss des Verses wird Gaius noch einmal direkt angesprochen: Du weißt, dass unser Zeugnis wahr ist. Damit wird an Aussagen aus dem Johannesevangelium erinnert. Nach Joh 21,24 bekräftigt der angebliche Verfasser des gesamten Johannesevangeliums noch einmal die Wahrheit seines Zeugnisses (vgl. auch Joh 19,35). Diesen Anspruch auf Wahrheit erhebt auch der Älteste mit seiner Fürsprache für Demetrius. Deshalb hofft er sehr, dass Gaius sich nicht von Diotrephes verunsichern lässt (V. 11) und Demetrius mit dem beigefügten Schreiben, dem dritten Johannesbrief, aufnimmt. Die massive Beteuerung der Wahrheit des Zeugnisses durch alle, die Wahrheit selbst sowie den Ältesten lässt vermuten, dass auch die Position des Diotrephes für dessen Ortsgemeinde durchaus nachvollziehbar, verständlich und nachahmenswert war. Ein derartiger Empfehlungssatz für den Überbringer war im zweiten Johannesbrief überhaupt nicht nötig gewesen, weil dort das Problem, dass in manchen Hausgemeinden Brüder nicht aufgenommen wurden, noch gar nicht aufgetaucht war.
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13–15 Briefschluss 13
Ich hätte dir viel zu schreiben; aber ich wollte nicht mit Tinte und Feder an dich schreiben. 14 Ich hoffe aber, dich bald zu sehen; dann wollen wir mündlich miteinander reden. 15 Friede sei mit dir! Es grüßen dich die Freunde. Grüße die Freunde, jeden mit Namen. 13–14 Besuchsabsicht Fast genauso wie im zweiten Johannesbrief stellt der Älteste in V. 1 3 und 1 4 fest, dass er Gaius noch viel zu schreiben hätte, aber darauf hofft, ihn bald persönlich zu treffen, um mündlich miteinander reden zu können. Der erneute Wechsel von der Wir-Form (V. 8 und 12) zur Ich-Form zeigt, dass er sich jetzt wieder (wie auch am Anfang des Briefes in V. 1–4; vgl. auch V. 9.10) ganz persönlich an Gaius wendet. Die Ähnlichkeit mit den Formulierungen in 2Joh 12 legt nahe, dass es sich hierbei um feste Formeln handelt. Dieser Formel liegt das Wissen darüber zugrunde, dass ein Brief im Grunde nur ein Notbehelf ist und niemals einen persönlichen Besuch und ein persönliches Gespräch ersetzen kann. Nimmt man jedoch die Nachricht, dass der Älteste hofft, Gaius bald persönlich zu treffen mit der Information aus V. 10 zusammen, wo von einem Besuch des Ältesten bei Diotrephes in absehbarer Zeit gesprochen wird, legt sich folgende Vermutung nahe: Im Rahmen seines Besuches bei Diotrephes hofft der Älteste, auch Gaius sehen zu können. Daher ist es denkbar, dass sowohl Diotrephes als auch Gaius jeweils Leiter von Hausgemeinden in benachbarten Städten waren – dass sie mit Sicherheit nicht derselben Ortsgemeinde angehörten, wird in V. 9 deutlich. 15 Schlussgruß Der Brief schließt in V. 15 mit demselben Friedenswunsch, mit dem der Auferstandene nach Joh 20,19.21.26 (vgl. auch 2Joh 3) seine Jünger begrüßt. Dies ist für den Ältesten – auch wenn er damit seinen Brief auf traditionelle Weise beendet, wie die Schlusswünsche in 1Petr 5,14; Gal 6,16; Eph 6,23 und 2Thess 3,16 zeigen – keine Floskel, sondern ist angesichts des Konflikts mit Diotrephes sehr ernst gemeint. Seine Absicht, Diotrephes an dessen Taten lediglich
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zu erinnern (V. 10), ist auf diesen Friedenswunsch zurückzuführen. An einer weiteren Eskalation kann keiner Interesse haben. Dass der Älteste ganz am Schluss nur die Freunde und nicht die Brüder oder die ganze Gemeinde (wie in 2Joh 13) grüßen lässt, ist zuweilen so interpretiert worden, dass der dritte Johannesbrief ein anderes (späteres) Kirchenbild hat als der zweite. Doch dabei ist in Rechnung zu stellen, dass der dritte Johannesbrief – anders als der zweite – ein Privatbrief ist, der nicht an eine ganze Gemeinde gerichtet ist. Der Älteste lässt also nur Gaius und die Freunde, d.h. wohl diejenigen, die sich bei Gaius möglicherweise als Hausgemeinde treffen, grüßen. Ebenso bestellt er Grüße von den Freunden, also offenbar von denjenigen, die sich bei ihm, dem Ältesten, immer treffen. Tatsächlich lenkt der Begriff Freunde für diejenigen, die zu Jesus gehören, wieder zurück zum Johannesevangelium. Dort wird Lazarus von Jesus als Freund bezeichnet (Joh 11,11); und diejenigen, für die Jesus sein Leben einsetzt, sind seine Freunde (Joh 15,13–15). Die Redeweise vom Einsatz des Lebens für die Freunde geht auf das altgriechische (hellenistische) Freundschaftsideal zurück (vgl. Platon, Symp 179b; 208d). Es ist unklar, ob der Älteste mit der Wahl des Wortes »Freunde« auf dieses Ideal und die entsprechenden Verse im Johannesevangelium hinweisen wollte. Wahrscheinlich wollte er lediglich deutlich machen, dass es sich nur um einen inneren Kreis von Brüdern, wahrscheinlich nur um eine Hausgemeinde, handelt, an die die Grüße gehen. Dafür spricht auch, dass jeder mit Namen gegrüßt werden soll. Der dritte Johannesbrief ist auf jeden Fall ein echter Brief, d.h. er ist an einen konkreten Adressaten geschrieben und bezieht sich auf einen konkreten innergemeindlichen Fall. Er setzt den zweiten Johannesbrief und dessen Gültigkeit nicht nur im Hinblick auf den gleichen Aufbau, sondern auch inhaltlich – in V. 9 wird ausdrücklich auf ihn verwiesen – voraus. Anders als im ersten oder zweiten Johannesbrief wird hier kaum theologisch argumentiert – die einzige Ausnahme ist in V. 11 die Mahnung, nicht das Schlechte, sondern das Gute nachzuahmen. Der Hauptstreitpunkt zwischen den Gemeindeleitern scheint in der Frage zu bestehen, wer denn nun als Bruder zu bezeichnen ist und wer nicht. Zugleich kann der dritte Johannesbrief auch als Empfehlungsbrief für Demetrius, der offenbar den Brief zustellt (V. 12), bezeichnet werden. Das Hauptproblem des dritten Johannesbriefs ist das Verhalten des Diotrephes, von dem festgestellt wird, er wolle der Erste sein in der Gemeinde und verleumde den Ältesten und die von ihm ausgesandten Brüder mit bösen Worten. Der Eifer und der Ehrgeiz des Diotre-
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phes sind nach Überzeugung des Ältesten übertrieben und gehen in eine falsche Richtung. Das im vorliegenden Schreiben dargestellte Problem scheint auch deshalb so schwer zu sein, weil die üble Nachrede (neudeutsch: Mobbing) immer wieder dort auftreten kann, wo Menschen zusammen leben und arbeiten. Martin Luther hat genau dies in seiner Auslegung zum 8. Gebot angesprochen. Für ihn bedeutet »nicht falsches Zeugnis sagen wider den Nächsten«, man solle Gott fürchten und lieben, »dass wir unseren Nächsten nicht belügen, verraten, verleumden oder seinen Ruf verderben, sondern sollen ihn entschuldigen, Gutes von ihm reden und alles zum Besten kehren«. Das ist es, was der Älteste erreichen will, indem er Diotrephes an dessen Taten erinnert: alles zum Besten kehren. In dieser Absicht handelt er seinem Bruder (!) Diotrephes gegenüber liebevoll und vorbildlich.
Die Botschaft des dritten Johannesbriefs
I.
Der Bezug zum zweiten Johannesbrief
Formal und inhaltlich weisen der zweite und dritte Johannesbrief sehr große Ähnlichkeiten auf. Dass beide von einem Mann verfasst worden sind, der sich der Älteste nennt, ist bereits erwähnt worden. Möglicherweise handelt es sich hierbei auch um dieselbe Person. Vor allem die klassischen Briefmerkmale am Anfang und Schluss sind auffällig gleich gestaltet: Adresse und Absender am Anfang, Besuchswunsch und Grüße am Schluss. Es wirkt so, als habe der Verfasser des dritten Johannesbriefs den zweiten vor sich gehabt. Der zweite ist aber auffällig allgemein gehalten, und es wird nicht deutlich, an welche Gemeinde er sich konkret richtet, sodass vermutet werden kann, diese Ungenauigkeit sei mit Absicht herbeigeführt, damit sich möglichst viele Gemeinden angesprochen fühlen können. Diese allgemeinen Aussagen werden dann im dritten Brief auf den aktuellen Konfliktfall bezogen. Wenn also im zweiten ganz allgemein davon gesprochen wird, dass der Älteste an die »Herrin« und deren Kinder schreibt, die ich lieb habe in Wahrheit (V. 1), so wird genau dieser Nebensatz im dritten Johannesbrief auf Gaius angewendet (V. 1). Und wenn im zweiten allgemein von der Freude des Ältesten darüber gesprochen wird, dass in der Adressatengemeinde Glaubende in der Wahrheit wandeln (V. 4), so wird dies im dritten Brief ebenfalls auf Gaius bezogen (V. 3). Die Parallelität der Schlussverse ist nicht zu leugnen: Auf die Nachricht, dass es noch viel zu schreiben gäbe, folgen (a) die Absichtserklärung eines baldigen Besuches und die Möglichkeit, mündlich miteinander zu reden, und (b) die Schlussgrüße. Auch inhaltlich bezieht sich der dritte Johannesbrief auf den zweiten, indem der Älteste in 3Joh 9 feststellt, er habe der Gemeinde bereits geschrieben. Wenn der hier erwähnte Brief nicht der zweite Johannesbrief sein soll, dann muss ein verloren gegangenes Schreiben behauptet werden. Doch auch der Inhalt spricht dafür, dass hier auf den zweiten Johannesbrief Bezug genommen wird, denn auch in diesem wird die Frage erörtert, ob und – wenn ja – welche Menschen ins Haus bzw. in die Hausgemeinde aufgenommen werden dürfen (2Joh 10f). Die Tatsache, dass der dritte Johannesbrief trotz seiner Kürze erstaunlich viele Wörter aufweist, die sonst nicht in den Schriften
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Die Botschaft des dritten Johannesbriefs
auftauchen, die einem Johannes zugewiesen werden (Johannesevangelium, erster bis dritter Johannesbrief, Johannesapokalypse), könnte dafür sprechen, dass der Verfasser des dritten Johannesbriefs den zweiten nur als Vorlage nutzt und sich unter die Autorität des Ältesten des zweiten Johannesbriefs stellt, obwohl er eigentlich ein anderer ist. Dagegen sprechen wiederum die konkreten Namen, die hier genannt werden (Gaius, Diotrephes, Demetrius). Der angeschriebene Gaius und der hochgelobte Demetrius müssen den Ältesten persönlich kennen. Insofern wird man nicht fehlgehen, wenn man vermutet: Der Verfasser von zweitem und drittem Johannesbrief ist derselbe. II.
Der Aufbau der frühchristlichen Ortsgemeinden
Da christliche Gemeinden in neutestamentlicher Zeit nicht über kirchliche Gebäude verfügten, versammelte man sich in Wohnhäusern von wohlhabenden christlichen Familien (vgl. 1Joh 3,17). Diese Hausgemeinden bildeten die Keimzelle für Ortsgemeinden. Dass dabei die Versammlungsorte nicht beliebig gewechselt wurden, lässt sich daraus erschließen, dass der Name des Hausbesitzers der Identifizierung der Christen diente (vgl. Apg 18,8f; Röm 16,23; 1Kor 1,16; Kol 4,15). Beide – sowohl Hausgemeinde (vgl. Röm 16,5; Phlm 1f) als auch Ortsgemeinde (vgl. 1Kor 1,2) – konnten als »Gemeinde« (ekklesía) bezeichnet werden. Häufig setzten sich die Ortsgemeinden aus mehreren Hausgemeinden zusammen. Derjenige, der sein Haus als Versammlungsort zur Verfügung stellte, übernahm dabei von vornherein besondere Aufgaben in der Gemeinde: Er lud zur Versammlung ein, begrüßte und hatte wohl auch die Leitung des Treffens und Gottesdienstes inne. Die besondere Stellung des Gastgebers ergab sich aus den gesellschaftlichen Unterschieden. In größeren Städten gab es mehrere Hausgemeinden, die auch ein Zusammengehörigkeitsgefühl entwickelten. Dabei fiel den Gastgebern und Leitern der Hausgemeinden auch in der Ortsgemeinde eine besondere Aufgabe zu. Die Hausgemeinden wussten sich als zusammengehörige Teile einer Orts-Ekklesía. III.
Die Situation
Der Konflikt, der sich im dritten Johannesbrief spiegelt, hängt mit der Frage zusammen, wie verschiedene Hausgemeinden innerhalb einer Ortsgemeinde gemeinsam auf dasselbe Problem reagieren können.
Die Botschaft des dritten Johannesbriefs
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Was die Kritik an Diotrephes betrifft, ist in der Forschung immer wieder die Vermutung geäußert worden, es läge bei ihm ein Bestreben vor, eine Art Bischofsamt in der immer größer werdenden Ortsgemeinde anzustreben. Deshalb wolle er immer der Erste sein und versuche, diejenigen Hausgemeindeleiter, die nicht in seinem Sinn handeln, aus der Ortsgemeinde zu stoßen (V. 9f). Dagegen setze der Älteste sein Konzept von der alten brüderlichen Verfasstheit und der prinzipiellen Gleichheit aller Gemeindeglieder. In der vorliegenden Auslegung ist das Verhalten des Diotrephes auf dem Hintergrund des zweiten Johannesbriefs, auf den der dritte ja zu verweisen scheint (3Joh 9), interpretiert worden. In diesem war festgehalten worden, dass alle, die die Lehre Christi nicht mitbringen, also keine Christen (mehr) sind, weder in die Häuser aufgenommen werden noch gegrüßt werden dürften (2Joh 9–11). Diotrephes handelt also exakt nach dieser Anweisung. Offenbar ist er der Überzeugung, die vor seiner Tür stehenden Missionare seien gar keine Christen und dementsprechend keine Brüder (mehr). Dass er dabei völlig aus dem Auge verloren hat, dass auch der vom christlichen Glauben abfallende Christ für Johannes immer noch als Bruder gilt (1Joh 2,9.11; 3,11–15), hat er entweder übersehen oder ist ihm egal. Im Grunde ist es dann auch logisch, dass er alle anderen Hausgemeindeleiter in seiner Stadt zu derselben Maßnahme bewegen möchte. Hierbei schießt er in zweierlei Hinsicht über das Ziel hinaus. Er versteht sich als eine Art Aufseher über andere Hausgemeinden und verleumdet zur Unterstreichung seiner Vorgaben die Wandermissionare und deren aussendende Gemeinde bzw. den Ältesten selbst als Nichtchristen. Dass er Diotrephes aber gerade nicht vorwirft, das Liebesgebot zu brechen, ist besonders wichtig. In 1Joh 4,20 wird noch ausdrücklich vermerkt, dass derjenige, der seinen Bruder hasst und trotzdem behauptet, Gott zu lieben, ein Lügner ist (vgl. auch 1Joh 2,9.11; 3,15.23; 4,21; 5,2; 2Joh 5f). Es wäre doch naheliegend gewesen, genau dies Diotrephes vorzuhalten! Aber im dritten Johannesbrief unterbleibt das. Stattdessen will der Älteste ihn lediglich an dessen Taten erinnern. Es geht offenbar darum, dass es zwischen dem Ältesten und Diotrephes lediglich eine unterschiedliche Auffassung darüber gibt, wer jetzt ein Bruder ist und wer nicht. IV.
Die Brüder
Die Brüder, von denen der Älteste spricht, sind ausgesandte Wandermissionare, die den Kontakt zwischen Orts- und Hausgemeinden aufrechterhielten. In der Aussendungsrede in Lk 10 wird die
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Die Botschaft des dritten Johannesbriefs
Praxis deutlich, dass in der Regel zwei gemeinsam ausgesandt wurden. Nach 3Joh 7 nahmen diese von den Heiden nichts an. Daraus ist zu schließen, dass es sich vornehmlich um judenchristliche Missionare handelte. Ein Heidenchrist hätte wohl kaum ein Problem damit gehabt, sich von Heiden verpflegen zu lassen. Dementsprechend ist der Heidenchrist Diotrephes aber der Meinung, dass derjenige, der von den Heiden nichts annimmt, kein wirklicher Christ, sondern ein möglicherweise zum Judentum zurückgekehrter ehemaliger Judenchrist ist. Diese dürfen aber nach 2Joh 10 nicht ins Haus aufgenommen werden. Wer sie grüßt, hat nach 2Joh 11 Anteil an deren bösen Werken. Der Eifer des Diotrephes ist begründet in seiner Sorge um die Stabilität der Gemeinden. V.
Adressaten und Absender
Der Absender des dritten Johannesbriefes nennt sich – wie der des zweiten – der Älteste. Möglicherweise handelt es sich tatsächlich um dieselbe Person. Im dritten Johannesbrief wird aber – vor allem wegen der Bezeichnung Kinder – deutlich, dass der Älteste selbst als Missionar tätig war und offenbar in der Adressatengemeinde des Gaius mehrere Menschen getauft hat. Deshalb konnte er von ihnen als meine Kinder (V. 4) sprechen, insofern sie seine Kinder im Glauben sind (vgl. die Kinder des Paulus in 1Kor 4,14; Phlm 10). Es wäre also vorstellbar, dass der Älteste einst der Hausgemeinde von Gaius vorstand, ehe er – aus welchem Grund auch immer – in eine andere Stadt umgezogen war. Sein Brief an die sich im Haus des Gaius treffende Hausgemeinde ist also ein Schreiben an Menschen, die er sehr genau kennt und größtenteils getauft hat. Das Problem, dass sich in der Ortsgemeinde aber aufgetan hat, war die Frage nach dem Umgang mit den umherziehenden Missionaren. Diotrephes hat da ganz deutlich Position bezogen, die dem Ältesten deshalb missfällt, weil er selbst solche Missionare ausgesandt hat. Gaius ist mit seiner Hausgemeinde ganz im Sinn des Ältesten mit den wandernden Christen umgegangen (V. 5–8). Es sieht so aus, als wäre der in V. 12 erwähnte Demetrius derjenige, der den Brief überbringen soll, denn dem Ältesten liegt sehr viel daran, deutlich zu machen, dass nicht nur alle, sondern auch die Wahrheit selbst und dann natürlich auch der Absenderkreis ein wahres (!) Zeugnis für diesen Mann ablegt. Auch im dritten Johannesbrief kann der Ort der Adressatengemeinde nicht exakt bestimmt werden. Es liegt aber aufgrund der inhaltlichen Verwandtschaft mit zu den beiden anderen Johannesbriefen nahe, diese ebenfalls im Westen Kleinasiens zu suchen.
Die Botschaft des dritten Johannesbriefs
VI.
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Die Wahrheit
Der zentrale Heilsbegriff ist auch im dritten Johannesbrief (ähnlich wie im zweiten) die Wahrheit. Eine Bedeutungsverschiebung auch aufgrund der Kürze des Schreibens ist nicht festzustellen. Ähnlich wie in 1Joh 5,6–9 betont der dritte Johannesbrief die Wahrheit des Zeugnisses (V. 3 und 12). Dabei wird in V. 3 und 4 deutlich, dass es sich auch hier nicht um ein Für-wahr-Halten handelt, sondern um eine gelebte Glaubenswahrheit: Es geht um den Wandel in der Wahrheit. Wie im ersten Johannesbrief und im Johannesevangelium heißt Wandel in der Wahrheit, dass die Wahrheit von Jesus Christus als dem von Gott aus Liebe in die Welt gesandten Sohn ihre Auswirkungen hat im Reden und Leben der Glaubenden. So handelt Gaius nach Meinung des Ältesten so, wie ein Glaubender handeln soll, indem er die Brüder aufnimmt. Ganz besonders geht es im dritten Johannesbrief um diese Art der Bruderliebe, die in dem vor der eigenen Haustür stehenden Menschen den Glaubensbruder sieht und ihn dementsprechend gastlich aufnimmt. Neu im dritten Johannesbrief ist die Vorstellung, dass die Wahrheit selbst wie eine Person als Zeugin für einen Menschen (hier für Demetrius) auftreten kann (V. 12). VII.
Die bleibende Botschaft
Anders als im ersten und zweiten Johannesbrief wird im dritten weniger theologisch argumentiert. Es geht in erster Linie um innergemeindliche Probleme. Die zentrale Frage war, wie man mit Menschen umgehen soll, die vor der eigenen Haustür stehen und sich als christliche Wandermissionare ausgeben. Der Älteste spricht sich dafür aus, diese als Glaubensbrüder anzusehen und aufzunehmen. Dagegen ist Diotrephes der Meinung, hier Menschen vor sich zu haben, die entweder seine Gastfreundschaft ausnutzen wollen oder sich in seine Gemeinde einzuschleichen versuchen, um sie von innen durch das Säen von Zweifel und Zwietracht zu zerstören. Auf jeden Fall sieht er in diesen Menschen keine Brüder, sodass er versucht, auch andere Hausgemeinden am Ort von seiner Handlungsweise zu überzeugen. Die Informationen des Briefes machen deutlich, dass die Lösung von zwischengemeindlichen Problemen mit Hilfe eines Briefes kaum möglich ist. Deshalb plant der Älteste völlig zu Recht einen Besuch in absehbarer Zeit, bei dem er seinen Gegner an dessen Taten erinnern (V. 9) und die Irritationen ausräumen möchte. Gerade in einer christlichen Gemeinde sollte dies doch möglich sein! Von
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Die Botschaft des dritten Johannesbriefs
daher ist der dritte Johannesbrief bis heute noch ein Beispiel für die Beilegung innergemeindlicher, aber auch persönlicher Meinungsverschiedenheiten. Denn der Älteste handelt gemäß seiner ganz allgemeinen und bis heute gültigen Mahnung: Ahme nicht das Böse nach, sondern das Gute (V. 11)!
Weiterführende Literatur
Allgemeinverständliche Kommentare Balz, Horst, Die Johannesbriefe, in: H. Balz / W. Schrage, Die »Katholischen Briefe«. Die Briefe des Jakobus, Petrus, Johannes und Judas (Das Neue Testament Deutsch 10), Göttingen 1973, 156–222 Hauck, Friedrich, Die katholischen Briefe (Das Neue Testament Deutsch 10), Göttingen 1933 Loader, William R.G., The Johannine Epistles (Epworth Commentaries), London 1992 Ruckstuhl, Eugen, 1985, Jakobusbrief. 1.–3. Johannesbrief (Die Neue Echter Bibel Neues Testament 17–19), Würzburg 1985 Schunack, Gerd, Die Briefe des Johannes (Zürcher Bibelkommentare NT 17), Zürich 1982 Wissenschaftliche Kommentare Beutler, Johannes, Die Johannesbriefe (Regensburger Neues Testament), Regensburg 2000 Brown, Raymond E., 1982, The Epistles of John (The Anchor Bible), Garden City, N.Y. 1982 Bultmann, Rudolf, Die drei Johannesbriefe (Kritisch-Exegetischer Kommentar über das Neue Testament 14), Göttingen 1967 Culpepper, R. Alan, The Gospel and the Letters of John, Nashville 1998 Klauck, Hans-Josef, Der erste Johannesbrief (Evangelisch-Katholischer Kommentar XXIII/1), Zürich u.a. 1991 Klauck, Hans-Josef, Der zweite und dritte Johannesbrief (Evangelisch-Katholischer Kommentar XXIII/2), Zürich u.a. 1992 Lieu, Judith M., I, II & III John. A Commentary (The New Testament Library), Louisville / London 2008 Schnackenburg, Rudolf, Die Johannesbriefe (Herders Theologischer Kommentar NT 13 / 3), Freiburg i.Br. u.a. 1979 Schnelle, Udo, Die Johannesbriefe (Theologischer Handkommentar zum Neuen Testament 17), Leipzig 2010 Smalley, Stephen S., 1, 2, 3 John (World Biblical Commentary 51), Nashville 2007 Strecker, Georg, Die Johannesbriefe (Kritisch-Exegetischer Kommentar über das Neue Testament 14), Göttingen 1989 Vouga, François, Die Johannesbriefe (Handbuch zum Neuen Testament 15/3), Tübingen 1990
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Abkürzungen
Altes Testament Gen Buch Genesis = 1. Buch Mose Ex Buch Exodus = 2. Buch Mose Lev Buch Levitikus = 3. Buch Mose Num Buch Numeri = 4.Buch Mose Dtn Buch Deuteronomium = 5. Buch Mose Jos Buch Josua Ri Buch der Richter Rut Buch Ruth 1/2Sam Erstes und zweites Buch Samuel 1/2Kön Erstes und zweites Buch der Könige 1/2Chr Erstes und zweites Buch der Chronik Esr Buch Esra Neh Buch Nehemia Est Buch Ester Hiob Buch Hiob = Ijob Ps Buch der Psalmen Spr Buch der Sprüche Salomos = Sprichwörter Pred Buch des Predigers = Kohelet Hld Hohelied Salomos Jes Buch Jesaja Jer Buch Jeremia Klgl Klagelieder Jeremias Ez Buch Ezechiel = Hesekiel Dan Buch Daniel Hos Buch Hosea Joel Buch Joel Am Buch Amos Obd Buch Obadja Jon Buch Jona Mi Buch Micha Nah Buch Nahum Hab Buch Habakuk Zef Buch Zefanja Hag Buch Haggai Sach Buch Sacharja Mal Buch Maleachi Apokryphen 1/2Makk Erstes und zweites Buch der Makkabäer
232 Jdt Sir Tob Weish
Abkürzungen
Buch Judith Buch Jesus Sirach Buch Tobias Weisheit Salomos
Andere Schriften aus vorneutestamentlicher Zeit AthPol Aristoteles, Athenaion Politeia – Der Staat der Athener Epist Platon, Epistulae – Briefe GenAn Aristoteles, De Generatione Animalium – Über die Entstehung der Tiere Leg Platon, Leges – Gesetze Pol Aristoteles, Politika – Politik Symp Platon, Symposion – das Gastmahl Neues Testament Mt Evangelium nach Matthäus Mk Evangelium nach Markus Lk Evangelium nach Lukas Joh Evangelium nach Johannes Apg Apostelgeschichte Röm Brief an die Römer 1/2Kor Erster und zweiter Brief an die Korinther Gal Brief an die Galater Eph Brief an die Epheser Phil Brief an die Philipper Kol Brief an die Kolosser 1/2 Thess Erster und zweiter Brief an die Thessalonicher 1/2 Tim Erster und zweiter Brief an Timotheus Tit Brief an Titus Phlm Brief an Philemon Hebr Brief an die Hebräer Jak Brief des Jakobus 1/2 Petr Erster und zweiter. Brief des Petrus 1/2/3Joh Erster, zweiter und dritter Brief des Johannes Jud Brief des Judas Offb Offenbarung des Johannes Andere Schriften aus neutestamentlicher Zeit VitAd Vita Adae et Evae – Das Leben Adams und Evas Alc Plutarch, Alcibiades All Philo, Legum Allegoriae – Allegorische Erklärung der Gesetze Ant Flavius Josephus, Antiquitates – Jüdische Altertümer ApkAbr Apokalypse des Abraham Apol Tertullian, Apologeticum – Verteidigungsschrift Bell Flavius Josephus, De bello Judaico – Der Jüdische Krieg Dom Sueton, Domitian (Kaiserbiographie) Hist Tacitus, Historien
Abkürzungen
HistEccl HistRom Jos LegGai MortPers OdSal Op Praem Sol SpecLeg SyrBar TestGad TestJud TestLev TestNaph Tranq Vita VitMos
233 Eusebius von Caesarea, Historia Ecclesiastica – Kirchengeschichte Cassius Dio, Historia Romana – Römische Geschichte Philo, De Josepho – Über Joseph Philo, Legatio ad Gaium – Die Gesandtschaft zu Gaius Laktanz, De Mortibus Persecutorum – Von den Todesarten der Verfolger Oden Salomos Philo, De Opificio Mundi – Über die Weltschöpfung Philo, De Praemiis et Poenis – Über Belohnungen und Strafen Plutarch, Solon Philo, De specialibus legibus – Über die Einzelgesetze Syrische Baruchapokalypse Testament Gads Testament Judas Testament Levis Testament Naphtalis Plutarch, De Tranquillitate Animi – Über die Ruhe des Geistes Flavius Josephus, Vita Josephi – Das Leben des Joseph Philo, De Vita Mosis – Über das Leben des Mose
Register
Es werden nur die Stellen angeführt, an denen ausführlichere Erklärungen zu den genannten Begriffen zu finden sind. Antichrist 5.48.52–56.60f.89.91.96–98.145.178–1980.191 Bekenntnis 6f.26.29f.40f.55–58.83.90.94–101.105–108.110.114.116f. 119f.125.131.138.144–150.156.168.177f.180f.194.196f.213 Blut 25–32.64.69.77.84.119–123.126.147.150.178f Böser 5.42–48.52.61.74.76–78.97.102.107.119f.127.129.132–134.145. 154.185f Fleisch 5f.10.12.21.48–50.64.91.94–96.98.103.107.121.147f.178–180. 193f.196 Geist / Heiliger Geist 59f.88f.91–99.105–107.119–123.136.133.145.147. 152.160 Gemeinde/Gemeindeglieder 3–8.26–30.36–47.50–56.61–67.71f.75.78– 83.88.93f.99.110–117.119.123.125f.128.130.132.134–136.159–162.165– 180.183–188.191–197.201–203.206–220.223–226 Gericht 16.65.83.85f.108–111.117.122.126.130.132.134.138.144.146.149. 151.206 Gesetz 69–71.123 Glaube 8.12.17–22.27–32.35–42.64f.67–74.82.89–99.105–107.118–133. 145–148.150–156.159.168–174.176f.180–184.187f.193f.205.208–211 Heiden/Heidenchristen 4.78.94.99.102.124.135.138–140.142.144.169. 207.210f.214.217f.226 Herz 74.82–86.88.123.146 Irrlehre/Irrlehrer 57.94–96.148.182.185 Jakob 49 Jesus Christus 6.9–22.31f.55–61.89–96.103–107.109f.113–116.119–126. 129–133.137.144–150.154f.159.165f.168–173.175.177–184.192–194. 196f.205.208.210.212.214.220.227 Juden/Judentum/Israel 4.6f.32f.40.56.59.69.71f.75.94–96.98f.110–113. 117.126.138–142.144.167.183.185.192.195f.210.213f Kain 38.65.74–80.88.108.114f.130.185.195.214 Kinder (Gottes) 25.49.63–69.73–76.78f.86.88–93.102–104.111.113–117. 119f.128–131.137.151–153.168.173.180.207 Leben / ewiges Leben 9–11.14–1719–22.27.31.34–42.50f.57–65.79–81. 90–92.98f.102f.107–111.124–135.139f.146–151.169–173.180f.183.191. 194f.205f.209.220 Lehre 31.59.99.159.181–184.188f.191.193.196.214.225 Licht 23–26.33.36–42.75.100.174.186 Liebe / Bruderliebe / Liebe untereinander 18.21.26.34.36.39f.42.50.63. 66f.69.74f.77.79–81.83.88f.92.98.100f.104–106.108.113.116–118.120. 148f.15–156.172.175–177.182.197.227
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Register wichtiger Begriffe
Liebe Gottes / Liebe Christi 35.49.66f.74.79.81f.87.91.100.102.104f.107f. 148f.151f.156.170.172f.180.209.227 Liebesgebot 34.37.39.82.90.100.108.113.117f.149.155.174f.177.192.194. 203.209.214.216.225 Lügenpropheten / falsche Propheten 52.91.93f.180.191 Salbung/Salben/Gesalbter 31.40.54f.58–61.63.67f.91.103.124.152.160 Same (Gottes) 64f.69.72f.78.82.84.86.88.91.93.98.130f.151 Schauen (Gott schauen) 9.11–13.15.102.105–107 Sohn (Gottes) 7.9–11.18.20.25–27.31f.35.40.48f.52.54.56–58.63.66–68. 70.79.84.89f.92–96.100.102–108.119–121.123–125.132f.144f.147f.151. 155–156.165.170.172f.179.181–183.186.196.210.227 Sühne/Sühnung 16.27.32.41.81.102.104.150.154 Taufe 6.13.27–29.37.41.47.55f.58–60.67.79.86.92f.106.121.150.152 Teufel/Satan 30.35.44–46.48.52.68.72.72–76.80.99.112.124.132.134.145. 186.213 Vater 7.9.15.17–20.25.30f.37.40.42f.45–51.54.56.58.63–68.71–73.77.80. 83.86.88.91f.94f.98.102–107.111f.115.117.123f.137.144.151.171–174. 176.181–183.194.205f Verführer/Verführen 25.39.48.52.54.59.61.71f.89.94.96–99.112.123. 178–181.183–185.188f.191–193.195f. Wahrheit 25.28–31.33.35.52.54–57.60.65.72.74.82f.89–91.97–99.106. 112.120.122f.152f.156.161.165.168–175.177.182–184.191.194f.197. 203–207.211.215.217f.223.226f