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German Pages [224] Year 2016
Die Botschaft des Neuen Testaments Herausgegeben von Walter Klaiber
Hanna Roose Der erste und zweite Thessalonicherbrief
Neukirchener Theologie
Hanna Roose
Der erste und zweite Thessalonicherbrief
2016
Neukirchener Theologie
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 Neukirchener Verlagsgesellschaft mbH, Neukirchen-Vluyn Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Andreas Sonnhüter, Niederkrüchten Lektorat: Volker Hampel, Neukirchen-Vluyn DTP: Volker Hampel, Neukirchen-Vluyn Gesamtherstellung: Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany ISBN 978–3–7887–2991–2 (Print) ISBN 978–3–7887–2992–9 (E-Book-PDF) www.neukirchener-verlage.de
Vorwort
Dieser Band der »Botschaft des Neuen Testaments« kommentiert sowohl den 1. als auch den 2. Thessalonicherbrief. Das ist nicht selbstverständlich. Gerade im deutschsprachigen Forschungskontext zum Neuen Testament ist es durchaus üblich, die beiden Briefe an die Gemeinde in Thessalonich getrennt zu behandeln. Denn während der 1. Thessalonicherbrief in der Regel als der älteste Brief des Paulus (und seiner Mitarbeiter Silvanus und Timotheus) gilt, vermutet die Mehrheit hinter der gleich lautenden Verfasserangabe im 2. Thessalonicherbrief einen pseudonymen Autor, der in deutlichem zeitlichen Abstand sein Schreiben verfasste. Dieser Kommentar schließt sich hier an. Er kommt aber stärker von der Einsicht her, dass sich die Thessalonicherbriefe – unabhängig davon, wie man in Fragen der Autorschaft und der Entstehungszeit entscheidet – in manchen Punkten sehr ähnlich sind. Diese Ähnlichkeit fordert dazu heraus, beide Briefe nicht nur je für sich, sondern auch gemeinsam in den Blick zu nehmen. Denn wer immer einen der beiden Briefe kennt und den anderen kennenlernt, wird aufgrund der Ähnlichkeiten an den bereits bekannten Brief erinnert. Mit anderen Worten: Die Briefe sind intertextuell verzahnt. Diese intertextuelle Verzahnung spielt in dem Kommentar eine wesentliche Rolle. Mit dem 1. Thessalonicherbrief schauen wir wahrscheinlich auf das älteste uns erhaltene Schreiben des entstehenden Christentums. Welche Art von Theologie begegnet uns hier? Was beschäftigt die Adressatinnen und Adressaten? Welche Fragen sind aktuell und: Was davon könnte für uns heute weiterhin aktuell sein oder wieder aktuell werden? Der 1. Thessalonicherbrief unterscheidet scharf zwischen denjenigen, »die keine Hoffnung haben« (1Thess 4,13), und denjenigen, die »in der Hoffnung auf unseren Herrn Jesus Christus« (1Thess 1,3) leben. Diese scharfe Trennung mutet uns heute eher fremd an. Sie stellt uns aber immer wieder neu die Frage, worauf wir hoffen und spricht uns zu, worauf wir hoffen dürfen. Der 2. Thessalonicherbrief gilt gemessen an den anderen neutestamentlichen Schriften eher als unbedeutend: pseudepigraph,
VI
Vorwort
kurz, spät. Was der Brief zu den »letzten Dingen« zu sagen hat, bleibt undeutlich und rätselhaft. Eine Reihe von Auslegungen postuliert eine unauflösbare Spannung zwischen der (paulinischen) Eschatologie des 1. Thessalonicherbriefes und der nichtpaulinischen Eschatologie des 2. Thessalonicherbriefes. Dieser Kommentar versucht, den 2. Thesalonicherbrief als ein Schreiben, das Eingang in unseren Kanon gefunden hat, in seiner Eigenständigkeit und in seiner Bezogenheit auf den 1. Thessalonicherbrief wertzuschätzen. Wer den 2. Thessalonicherbrief kennt, liest den 1. Thessalonicherbrief mit anderen Augen – und er soll ihn auch anders lesen. Dieser These geht der Kommentar in intertextueller Perspektive nach. Er zeigt damit exemplarisch auf, wie sich Bedeutungsspielräume durch die Beistellung weiterer Texte verschieben können. Ich danke ganz herzlich Dr. Walter Klaiber, der mich dazu eingeladen hat, diesen Kommentar in der Reihe »Botschaft des Neuen Testaments« zu schreiben. Er hat mit wertvolle inhaltliche Rückmeldungen gegeben. Danken möchte ich auch »meinen« Studierenden, die das Manuskript gelesen und mich auf Unklarheiten aufmerksam gemacht haben. Mein Dank gilt schließlich insbesondere Dr. Volker Hampel für die äußerst sorgfältige Lektorierung des Textes. Bochum, 20. Juni 2016
Hanna Roose
Inhalt
Vorwort .............................................................................
V
Der erste Thessalonicherbrief ..............................................
1
1,1
Der Briefkopf .................................................
3
1,2 – 5,24
Der Hauptteil .................................................
10
1,2 – 3,13
Danksagung ...................................................
11
1,2–10
Dank für die Erwählung der Gemeinde ..........
12
2,1–12
Paulus, Silvanus und Timotheus erinnern an ihren Gründungsaufenthalt ...........................
25
Dank für die Aufnahme der Botschaft als Wort Gottes in der Gemeinde .................................
36
2,17–20
Gescheiterte Besuchspläne ..............................
46
3,1–5
Die Sendung des Timotheus ..........................
51
3,6–9
Die Gegenwart: Nach der Rückkehr des Timotheus ..............................................................
55
3,10–13
Die Zukunft: Abschließende Fürbitte .............
57
4,1 – 5,24
Paränese .........................................................
61
4,1–8
Aufforderung zur Heiligung des Lebens ........
62
4,9–12
Aufforderung zur Vervollkommnung der geschwisterlichen Liebe ......................................
70
Trost angesichts des eschatologischen Schicksals verstorbener Gemeindemitglieder ............
74
5,1–11
Von den Zeiten und Stunden .........................
85
5,12–24
Das Gemeindeleben .......................................
96
5,25–28
Der Briefschluss .............................................
103
2,13–16
4,13–18
Inhalt
VIII Die Botschaft des 1. Thessalonicherbriefes – eine Zusammenfassung ........................................................................
107
Der 1. Thessalonicherbrief im Licht antiker Erwartungen
107
II. Die Rolle von Paulus, Silvanus und Timotheus ............
109
III. Kernelemente der theologischen Botschaft des 1. Thessalonicherbriefes ..........................................................
111
IV. Die Lage der Gemeinde in Thessalonich .......................
114
V. Die Bedeutung der Botschaft heute .............................
116
Der zweite Thessalonicherbrief ...........................................
119
1,1–2
Der Briefkopf .................................................
121
1,3 – 3,16
Der Hauptteil .................................................
126
1,3 – 2,17
Danksagung ...................................................
127
1,3–12
Die erste Danksagung ....................................
127
2,1–17
Was geschehen wird .......................................
138
2,1–12
Das konkrete Anliegen des Briefes .................
138
2,13–14
Die zweite Danksagung ..................................
168
2,15–17
Mahnung und Gebetswunsch .........................
171
3,1–5
Gebetsbitte und Gebetswunsch ......................
174
3,6–12
Die Unordentlichen .......................................
179
3,13–16
Abschließende Anweisungen ..........................
187
3,17–18
Der Briefschluss .............................................
191
Die Botschaft des 2. Thessalonicherbriefes – eine Zusammenfassung ........................................................................
193
I.
Wer schrieb den 2. Thessalonicherbrief? ......................
193
II.
Worin besteht der Zweck des 2. Thessalonicherbriefes?
197
III. Kernelemente der theologischen Botschaft des 1. Thessalonicherbriefes .........................................................
199
I.
Inhalt
IX
IV. Die Lage der Adressatinnen und Adressaten ...............
200
Der 1. Thessalonicherbrief im Licht des 2. Thessalonicherbriefes ..................................................................
201
1. Der 1. Thessalonicherbrief und die »Unordentlichen« ....................................................................
201
2. Der 1. Thessalonicherbrief und das Gericht mit doppeltem Ausgang ..............................................
202
3. Der 1. Thessalonicherbrief und die gedehnte Naherwartung .............................................................
203
4. Der 1. Thessalonicherbrief und die Bedrängnisse ..
204
VI. Wie lesen die Vertreter des Slogans aus 2Thess 2,2c den 1. Thessalonicherbrief? .........................................
204
VII. Die Bedeutung der Botschaft heute ............................
205
Weiterführende Literatur ...................................................
207
Abkürzungen .....................................................................
209
Register wichtiger Begriffe .................................................
211
V.
Der erste Thessalonicherbrief
1,1 Der Briefkopf
1
Paulus und Silvanus und Timotheus an die Gemeinde der Thessalonicher, die in Gott, dem Vater, und im Herrn Jesus Christus ist: Gnade sei mit euch und Friede! In der Antike gab es für Briefe bestimmte Konventionen. Insbesondere Anfang und Ende eines Briefes waren – wie es auch heute noch bei Briefen ist – stark formalisiert. Der Anfang eines Briefes, das sogenannte Präskript, besteht in der Antike aus drei Elementen: der Angabe des Absenders, der Angabe der Adressaten und einem Gruß. Üblich war die Formulierung »Zum Gruß!«, wie wir sie auch in Apg 15,23 finden. Juden benutzten jedoch anstelle dieser Formulierung gerne den Friedensgruß. Diese antike Grundform lässt sich in 1Thess 1,1 unschwer wiedererkennen: Absender sind Paulus, Silvanus und Timotheus, Adressat ist die Gemeinde der Thessalonicher, dem Friedensgruß geht ein Gnadenwunsch voraus. Die Absender: Paulus ist uns aus weiteren neutestamentlichen Briefen und aus der Apostelgeschichte bekannt. Er wurde vom Verfolger der Anhänger Jesu zum Apostel (Gal 1; Phil 3,5–7; Apg 8– 9) und gründete viele neue Gemeinden. Von seiner Tätigkeit als Verfolger schweigt der 1. Thessalonicherbrief allerdings. Im Gegenteil: Paulus charakterisiert sich in 1Thess 2,15 als von »den Juden« Verfolgten. Auf dem sogenannten Apostelkonzil in Jerusalem (48 n.Chr.) wurde Paulus die Mission der »Unbeschnittenen«, also der Nicht-Juden, anvertraut (Gal 2,7). Paulus ist ein römischer Name und bedeutet »klein«. In seinen Briefen bezeichnet der Apostel sich ausnahmslos als »Paulus«. Die Apostelgeschichte spricht zunächst (aber nicht nur vor seiner Berufung, vgl. Apg 13,9) von »Saulus«, dann von »Paulus«. »Saulus« verweist vielleicht auf Saul, den ersten israelitischen König aus dem Stamm Benjamin (1Sam 10,17–27). Im Philipperbrief gibt Paulus an, aus dem Stamm Benjamin (dem kleinsten der Stämme) zu stammen (Phil 3,5). Silvanus ist wahrscheinlich identisch mit Silas. Es handelt sich einmal um die latinisierte, einmal um die gräzisierte Form desselben aramäischen Namens. Den Angaben der Apostelgeschichte zufol-
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1Thess 1,1
ge stammte Silas aus der Gemeinde in Jerusalem (Apg 15,22). Er gehörte danach zu den Überbringern des sogenannten »Aposteldekrets« an die Gemeinde in Antiochien (Apg 16,22.27–29), in dem Minimalanforderungen an Heidenchristen für das Zusammenleben mit Judenchristen formuliert wurden. In der antiochenischen Gemeinde hielt sich auch Paulus auf. Die Apostelgeschichte koppelt das Aposteldekret direkt an das Apostelkonzil, was historisch wohl nicht zutrifft. Paulus erwähnt dieses Dekret in seiner Schilderung des Apostelkonzils jedenfalls nicht (Gal 2,1–10). Daher ist unklar, warum Silas nach Antiochien kam. Jedenfalls begegnete er dort Paulus. Silas begleitete Paulus dann – wiederum nach der Darstellung der Apostelgeschichte – auf dessen sog. Zweiter Missionsreise (Apg 16–18). Auf dieser Reise gründete Paulus (mit Silas) die Gemeinde in Thessalonich. 1Thess 2,2 zufolge kamen sie aus Philippi. Laut Apg 16,19.25.29 gerieten sie hier in Gefangenschaft und wurden wundersam von Gott befreit. Sie gründeten anschließend die Gemeinde in Thessalonich und blieben dann eine gewisse Zeit dort (1Thess 2,1–12), bevor sie weiterzogen und sich dabei auch zeitweise trennten. Timotheus kam durch Paulus zum Glauben an Jesus Christus (vgl. 1Kor 4,17) und war wohl der engste Mitarbeiter des Apostels. Nach Darstellung der Apostelgeschichte stammte Timotheus aus Lystra in Lykaonien, einer Landschaft in Kleinasien, dem Gebiet der heutigen westlichen Türkei (Apg 16,2). Sein Vater war Grieche, seine Mutter Judenchristin (Apg 16,1). Paulus – so heißt es in Apg 16,3 – ließ Timotheus beschneiden »mit Rücksicht auf die Juden« (Apg 16,3). In Phil 2,19–22 betont Paulus, wie sehr er Timotheus vertraut. Was das konkret heißen kann, geht z.B. aus 1Thess 3,2 hervor. Dort erfahren wir, dass Paulus und Silvanus Timotheus von Athen aus nach Thessalonich schicken, um die Gemeinde zu stärken. Timotheus wird hier als »unser Bruder und Gottes (!) Mitarbeiter am Evangelium« bezeichnet. Nach der Darstellung von Apg 18,5 trifft Paulus in Korinth wieder mit Silas und Timotheus zusammen, die aus Makedonien kommen. Dazu passt, dass Paulus in 2Kor 1,19 davon erzählt, dass er mit Silvanus und Timotheus in Korinth das Evangelium, also die frohe Botschaft, verkündigt. Diese Angaben könnten auf Korinth als Abfassungsort für den 1. Thessalonicherbrief hindeuten. Als Zeitpunkt für die Abfassung ergibt sich daraus wahrscheinlich das Jahr 50 n.Chr. Denn in diesem Jahr traf Paulus in Korinth ein. Nach einer gewissen Zeit wird er vor dem Statthalter Gallio angeklagt (Apg 18,12). Aufgrund einer Inschrift lässt sich die Amtszeit des Gallio auf die Zeitspanne vom Frühsommer 51 bis zum Frühsommer 52 n.Chr. datieren. Paulus, Silvanus und Ti-
1Thess 1,1
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motheus hätten den 1. Thessalonicherbrief demnach kurz nach ihrem erneuten Zusammentreffen in Korinth verfasst. Der 1. Thessalonicherbrief gibt also drei Absender an. Hat der Brief damit auch drei (gleichrangige) Verfasser? Oder ist Paulus der eigentliche (alleinige) Verfasser, während Silvanus und Timotheus lediglich als Mitabsender fungieren, die mit der paulinischen Botschaft übereinstimmen? Die Frage ist in der Forschung umstritten. Sie ist von entscheidender Relevanz, weil sich an ihr entscheidet, welches Bild wir uns von der Rolle des »frühen« Paulus machen und inwiefern wir es im 1. Thessalonicherbrief mit »genuin paulinischer« Theologie zu tun haben. Tritt uns im 1. Thessalonicherbrief ein Paulus entgegen, der untergeordnete Mitarbeiter hat und der den Inhalt seines Briefes allein hervorbringt und verantwortet? Oder müssen wir uns Paulus zur Abfassungszeit des 1. Thessalonicherbriefes eher als einen unter dreien vorstellen, der zusammen mit Silvanus und Timotheus ein kollektives Schreiben verfasst und verantwortet? Betrachten wir dazu zunächst den textlichen Befund: – Paulus wird an erster Stelle genannt. Darin könnte sich eine gewisse Vorrangstellung ausdrücken. Diese Vermutung kann durch zwei – »negative« – Beobachtungen untermauert werden: Wir haben keine Briefe überliefert, in denen Paulus an zweiter oder dritter Stelle als Absender bzw. Verfasser genannt wäre. Wir haben keine Briefe überliefert, in denen Silvanus oder Timotheus an erster Stelle als Absender bzw. Verfasser genannt wären. – Paulus, Silvanus und Timotheus werden genannt, ohne dass einer von ihnen titulare (oder andere) Zusätze erhält. Das ist insbesondere im Vergleich zu späteren Paulusbriefen auffällig: In 1Kor 1,1; 2Kor 1,1 Gal 1,1 und Röm 1,1 tituliert Paulus sich als Apostel. Wir haben keine Briefe überliefert, in denen Silvanus oder Timotheus im Briefkopf als Apostel tituliert würden. Die schlichte Form der Absenderangabe ohne Zusätze zu den genannten Namen in 1Thess 1,1 kann als Zeichen für das hohe Alter des Briefes und für die Gleichrangigkeit der drei genannten Absender gewertet werden. – Im 1. Thessalonicherbrief taucht nur an drei Stellen ein »ich« auf. In 2,18 hebt Paulus sich explizit aus der Gruppe der drei heraus. In 3,2 heißt es zunächst, dass »wir« Timotheus sandten, in 3,5 wird dieselbe Aussage singularisch formuliert. Gemeint ist hier wahrscheinlich Paulus. Denn er wird als einziger (wenn auch nur einmal) aus der Gruppe der drei herausgehoben (2,18), und er steht in 1,1 an erster Stelle. In 5,27 taucht ebenfalls der Singular auf. Ansonsten findet sich durchgehend der Plural. Dieser durchgängige Gebrauch ist gegenüber (anderen) paulinischen Briefen
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1Thess 1,1
auffällig, die ebenfalls mehrere Absender nennen (1Kor 1,1; 2Kor 1,1; Gal 1,2; Phil 1,1; Phlm 1,1), im Briefcorpus dann jedoch deutlich häufiger in der 1. Person Singular formulieren. Dieser Befund, der in den genannten Briefen im Einzelnen schwer zu erklären ist, legt nahe, den 1. Thessalonicherbrief im Unterschied zu diesen Briefen als kollektives Schreiben mit drei Verfassern zu betrachten. Das »Wir« ist dann als echter Plural und nicht als »schriftstellerischer« mit singularischer Bedeutung zu verstehen. Das heißt: Paulus ist bei der Abfassung des ältesten uns überlieferten urchristlichen Briefes einer in einer Gruppe von dreien. Er ist (noch) nicht der alles überragende Apostel, von dem uns weitere Briefe überliefert sind und der die christliche Theologie wie kein anderer biblischer Verfasser geprägt hat. Allerdings wird er in 1Thess 1,1 bereits an erster Stelle genannt, und in 2,18 ist es Paulus, der explizit aus der Gruppe der drei herausgehoben wird. Aber er muss eben herausgehoben werden, weil er zunächst als einer von dreien auftritt. Anders als in anderen Schreiben erscheinen Paulus, Silvanus und Timotheus in 1,1 als weitgehend gleichwertig. Die nicht-titulare Reihung und das fast durchgängige »Wir« sprechen m.E. dafür, Silvanus und Timotheus nicht nur als CoAbsender, sondern weitgehend auch als Co-Autoren des 1. Thessalonicherbriefes anzusehen. Ich deute das als Zeichen für das Alter des Schreibens. In späteren Briefen tritt Paulus profilierter als einzelner Apostel hervor. Wie die sozialgeschichtliche Wirklichkeit »hinter« dieser Selbstdarstellung aussah, bliebe dann im Einzelfall immer noch zu prüfen. Im Thessalonicherbrief treten Silvanus und Timotheus aber (noch) fast gleichrangig neben Paulus auf. Der 1. Thessalonicherbrief ist demnach weitgehend als »kollektives« Schreiben anzusehen, das Paulus nicht allein, sondern gemeinsam mit Silvanus und Timotheus verantwortet. Diese These impliziert methodische Konsequenzen: Wir müssen damit rechnen, dass der 1. Thessalonicherbrief als frühes, kollektives Schreiben noch nicht »typisch« paulinische Theologie formuliert, wie sie uns im Brief an die Gemeinden in Galatien oder im Römerbrief überliefert ist. Andersherum gewendet: Der 1. Thessalonicherbrief ist nur bedingt für die Rekonstruktion paulinischer Theologie heranzuziehen. Vielleicht gibt er sogar eher Aufschluss über die Theologie, wie sie die Gemeinde in Antiochien vertrat. Für die Einzelauslegung ergibt sich daraus, dass ich versuche, den 1. Thessalonicherbrief zunächst für sich sprechen zu lassen, und andere (paulinische) Briefe nur zurückhaltend heranziehe. Die Adressaten: Das griechische Wort für Gemeinde, ekklesia, ist kein spezifisch christlicher Begriff. Er bedeutet zunächst Versammlung. In Apg 19,32.39 bezeichnet das Wort im Zusammenhang mit
1Thess 1,1
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der Schilderung des Aufruhrs der Silberschmiede in Ephesus die öffentliche, planlose Zusammenkunft der Schmiede, von denen die meisten noch nicht einmal nicht wussten, warum sie zusammengekommen waren (Apg 19,32). Vielleicht sollten die ersten griechischen Zuhörerinnen und Zuhörer hier die öffentliche Versammlung im Unterschied zu geheimen Mysterienfeiern, wie sie damals üblich waren, assoziieren. Der Begriff ekklesia konnte als Türöffner gegenüber der heidnischen Umwelt fungieren. Er eignete sich insofern besser als der Begriff synagoge, der für jüdische Versammlungen gebräuchlich war. Dort, wo im Neuen Testament die ersten Christinnen und Christen gemeint sind, geht die Bedeutung von ekklesia über den profanen Sprachgebrauch hinaus. Denn er bezeichnet nicht nur die Versammlung an sich, sondern auch die Gemeinschaft derjenigen, die zur Versammlung gehören (vgl. 2Kor 8,1.18). Hierin zeigt sich alttestamentliche Tradition. Denn im Alten Testament wird das Volk Gottes an einigen Stellen »Versammlung des Herrn« oder auch »Gemeinde des Herrn« genannt (z.B. Dtn 23,2–9). Die griechische Übersetzung des hebräischen Alten Testaments benutzt an diesen Stellen das Wort ekklesia. In die Richtung dieser Tradition könnte auch der Zusatz »die in Gott, dem Vater, und im Herrn Jesus Christus ist« weisen. Er verleiht der Gemeinde eine besondere Qualität und Würde: Die Gemeinde ist verankert in Gott, dem Vater, und – hier zeigt sich die Differenz zur synagoge – in dem Herrn Jesus Christus. Die Gemeinschaft mit ihrem Herrn bildet den Höhepunkt der Schilderung der Wiederkunft Jesu Christi in 1Thess 4,13–17. Die ekklesia, an die der Brief sich richtet, wird mit drei Zusätzen zunehmend genauer eingegrenzt: Sie befindet sich in Thessalonich, sie ist – wie die jüdischen Versammlungen, aber im Unterschied zu anderen religiösen Versammlungen – verankert in Gott, dem Vater, und sie beruft sich – im Unterschied zu jüdischen Versammlungen – auf Jesus Christus als ihren Herrn. Im Einzelnen: Während andere Paulusbriefe den Ausdruck ekklesia mit einem Ort oder einer Landschaft verbinden, in dem sich die Gemeinde befindet (etwa: »an die Gemeinde Gottes in Korinth«, 1Kor 1,2; »an die Gemeinden in Galatien«, Gal 1,2), bezeichnet der 1. Thessalonicherbrief die Adressaten als »die Gemeinde der Thessalonicher«. Vielleicht klingt in dieser Formulierung der Gedanke an, dass die Adressatinnen und Adressaten des Briefes die Gesamtheit der Bewohnerinnen und Bewohner von Thessalonich repräsentieren. Thessalonich ist heute die zweitgrößte Stadt Griechenlands. Um die Zeitenwende war sie die Hauptstadt der Provinz Makedonien mit ca. 30.000 Einwohnern. Thessalonich war ein Verkehrsknotenpunkt und damit auch die wichtigste Hafenstadt und das
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1Thess 1,1
Handelszentrum Makedoniens. Daneben war Thessalonich auch ein kulturelles und religiöses Zentrum, in dem unterschiedliche pagane Kulte gepflegt wurden. Archäologische Ausgrabungen haben einen kleinen Serapistempel zu Tage gebracht mit mehr als 70 Inschriften auf die Göttinnen und Götter Isis, Serapis, Osiris und Dionysos. Auch der Kult der Kabiren (»große Götter«) wurde in Thessalonich gepflegt. Kabirus wurde als Stadtgottheit verehrt. Jüdisches Leben lässt sich zu dieser Zeit in Thessalonich archäologisch nicht nachweisen. Die Apostelgeschichte berichtet allerdings davon, dass Paulus in Thessalonich in der Synagoge predigt (Apg 17,1–4). In der Forschung ist umstritten, ob diese Erzählung historisch plausibel ist oder nicht. Möglich wäre ja auch, dass Juden in Thessalonich ansässig waren, ohne für uns erkennbare archäologischen Spuren zu hinterlassen. Gott wird im Briefkopf als »Vater« charakterisiert. Die Gottesprädikation »Vater« begegnet auch in 1Thess 1,3; 3,11.13. Bereits im Briefkopf beschreiben die Verfasser das Verhältnis zwischen Gott und den Gemeindemitgliedern in Thessalonich als dasjenige eines Vaters zu seinen Kindern. Daraus sprechen sowohl Autorität als auch wohlwollende Fürsorge. Gott kommt von Anfang an in seiner Beziehung zu den Seinen in den Blick. Die Seinen sind sie, weil er sie »erwählt« (1,4) bzw. »berufen« (2,12; 4,7; 5,23–24) hat und sie »geheiligt« sind »vor Gott, unserem Vater« (3,13). Jesus Christus ist der »Herr«. Diese Art der Adressierung erinnert die Gemeindemitglieder in Thessalonich daran, wer sie sind und auf wen sie sich gründen. Der Friedensgruß beginnt mit einem Wortspiel. Üblich war in griechischen Briefen die Formulierung chairein (»grüßen«). Es handelte sich dabei um eine nahezu inhaltsleere Floskel, ähnlich wie die heutige Briefanrede »Liebe/r …«. Die paulinischen Briefe wandeln dieses chairein in charis (»Gnade«) um (vgl. 1Kor 1,3; 2Kor 1,1). Dadurch gewinnt der Gruß an theologischer Tiefe. Im Griechischen fehlt das Verb, wörtlich übersetzt heißt es also: »Gnade euch und Friede!« Man kann diese Formulierung als Zusage verstehen im Sinne von: »Gnade ist mit euch und Friede!« oder im Sinne eines Wunsches: »Gnade sei mit euch und Friede!« Da es sich um den Briefeingang handelt, scheint die zweite Übersetzung angemessener. Wir kennen sie auch aus der gottesdienstlichen Liturgie. Dabei ist zu bedenken, dass die Briefe in den gottesdienstlichen Versammlungen vorgelesen wurden. In dem Wunsch schwingt aber die Zusage bereits mit. Denn der Friedenswunsch bezieht sich auf das alttestamentlich-jüdische Schalom. Schalom meint ein Wohlergehen in der Gemeinschaft mit Gott, ein Wohlergehen, das nur Gott schenken kann. Insofern meint Gnade hier auch nicht nur die
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Vergebung von Schuld, sondern in erster Linie die Zuwendung Gottes, des Vaters, zu den Seinen, die das Leben der Christinnen und Christen bestimmt. Der Briefkopf setzt trotz seiner formalisierten Schlichtheit gleich zu Beginn besondere Akzente: Der Briefkopf nennt drei Absender (Paulus, Silvanus, Timotheus), ohne einen von ihnen durch bestimmte Zusätze hervorzuheben. Vielleicht ist der Brief daher als kollektives Schreiben anzusehen. Die Gemeinde in Thessalonich wird durch ihre Zugehörigkeit zu und ihre Gemeinschaft mit Gott, dem Vater, und dem Herrn Jesus Christus besonders ausgewiesen. Der Friedensgruß ist getragen von der Zusage, dass Gott seiner Gemeinde in Gnade und Frieden nahe ist.
1,2 – 5,24 Der Hauptteil
Im Hauptteil entfalten die Verfasser ihre Botschaft. Dabei geht es nur zu einem geringen Teil um Informationsvermittlung (vgl. vor allem 4,13–18). Viel wichtiger ist die beabsichtigte kommunikative Wirkung des Briefes. Er soll die Dreiecksbeziehung zwischen den Verfassern, der Gemeinde in Thessalonich und Gott bzw. Jesus Christus untermauern und festigen. Diese Dreiecksbeziehung wird von Beginn an evoziert, wenn es heißt: »Wir danken Gott immer für euch alle …« (1,2). Außerhalb dieser Dreiecksbeziehung stehen »die Heiden, die Gott nicht kennen« (4,5), also die, »die keine Hoffnung haben« (4,13), weil sie – im Unterschied zu denen, die zu Jesus Christus gehören, im Zorngericht vernichtet werden (1,10). Die Beziehung zwischen Gott und der Gemeinde ist wesentlich durch ihre Erwählung charakterisiert (1,4). Die Beziehung zwischen den Verfassern und Gott hingegen ist primär durch den Dank gekennzeichnet, den Paulus, Silvanus und Timotheus angesichts der Gemeinde Gott gegenüber empfinden. Die Beziehung zwischen den Missionaren und der Gemeinde ist damit indirekt als eine asymmetrische angelegt. Die Missionare stehen gleichsam als Dankende und Fürbittende zwischen Gott und Gemeinde. Grundlage der Beziehung zwischen den Missionaren und der Gemeinde ist ihre (kurze) gemeinsame Vergangenheit, die die Verfasser in der Danksagung (1,2 – 3,13) ausführlich vergegenwärtigen. Diesem Beziehungsgefüge kann – so verdeutlicht der zweite, paränetische (ermahnende, tröstende) Teil (4,1 – 5,24) – auch der Tod nichts anhaben. Denn die verstorbenen Gemeindemitglieder werden – so wissen die Missionare zu verkünden – vor der Ankunft des Herrn auferstehen und zusammen mit den Lebenden zum Herrn entrückt werden (4,13–18), während die »anderen, die keine Hoffnung haben« (4,13), für das Zorngericht bestimmt sind (5,9).
1,2 – 3,13
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1,2 – 3,13 Danksagung Die Danksagung für die Adressatinnen und Adressaten ist ein typisches Element in paulinischen Briefen. Sie dient erstens der Wertschätzung der Adressatinnen und Adressaten (denn sie sind Gegenstand des Dankes), zweitens dem Werben um Wohlwollen bei den Adressatinnen und Adressaten und drittens der inhaltlichen Orientierung, indem einzelne Aspekte anklingen, die auch im weiteren Verlauf des Briefes eine Rolle spielen. Die Wertschätzung der Gemeinde zu Beginn von Briefen ist keine reine Floskel. Das zeigt das Fehlen einer Danksagung zu Beginn des Briefes an die Gemeinden in Galatien, das von Beginn an auf die großen Spannungen zwischen Paulus und den Gemeindemitgliedern hinweist. Das Werben um Wohlwollen (captatio benevolentiae) sowie die inhaltliche Weichenstellung zu Beginn von Schreiben sind typische Merkmale antiker Briefe (encomium). Im 1. Thessalonicherbrief ist die Danksagung als Bericht eines Dankgebets gestaltet. Dieser Bericht ist außergewöhnlich lang. Er
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1Thess 1,2–10
setzt – formal äußerst ungewöhnlich – in 2,13 nochmals mit der Formulierung »Und darum danken wir auch Gott unaufhörlich« ein und endet erst in 3,11–13 mit einer Fürbitte der Missionare für die Gemeinde. Diese außergewöhnliche Länge des Dankgebets weist darauf hin, dass der Dank für Paulus, Silvanus und Timotheus eng mit ihrem Gesamtanliegen verbunden ist. Daher lohnt es sich, genau hinzusehen, wie das Dankgebet im Einzelnen gestaltet ist. Wofür danken die Verfasser? Diese Frage zielt auf Vergangenes. Wie rekonstruieren die Verfasser ihre bisherige Geschichte mit der angesprochenen Gemeinde? Was wird hier ausgewählt, was wird den Thessalonichern also erneut in Erinnerung gerufen? Die Art der Auswahl lenkt den Blick gleichzeitig in die Zukunft: Das wofür die Absender danken, weisen sie als Fundament einer Perspektive für die Zukunft aus. Denn trotz der positiven Gesamteinschätzung gilt, dass der Glaube der Thessalonicher noch nicht ausgereift ist, sondern der Ergänzung bedarf (1Thess 3,10). Die Gemeinde der Thessalonicher steht noch am Anfang, sie ist im Werden und bedarf der Vergewisserung und Ermutigung. Die Danksagung beginnt in 1,2–10 mit einem vergegenwärtigenden Rückblick auf die Bekehrung der Gemeindemitglieder, die sich in der bleibenden Erwählung (1,4), in der Leidensgemeinschaft mit den Missionaren und Jesus Christus (1,6) sowie in ihrer Vorbildfunktion für andere Gemeinden (1,7–8) äußert. Anschließend geht es um die gemeinsame Erinnerung an das Auftreten der Missionare bei ihrem Gründungsaufenthalt in Thessalonich (2,1– 12) und um die Leidenssituation, die daraus für die Thessalonicher in Analogie zum Leiden der Missionare resultierte (2,13–16). 2,17 lenkt den Blick auf die Zeit seit der Abreise von Paulus, Silvanus und Timotheus. In diesem Zusammenhang interpretieren die Autoren zunächst ihre Trennung von der Gemeinde (2,17–20). Es folgt eine Rekapitulation der Ereignisse seit der Abreise (3,1–9) mit abschließenden Gebetswünschen, die eine erneute persönliche Begegnung in Gottes Hand legen (3,10–13). 1,2–10 Dank für die Erwählung der Gemeinde 2
Wir danken Gott immer für euch alle, indem wir in unseren Gebeten eurer gedenken; indem wir nicht aufhören, 3uns an euch zu erinnern vor Gott, unserem Vater, an euer Werk des Glaubens, an eure Mühe in der Liebe und an eure Standhaftigkeit in der Hoffnung auf unseren Herrn Jesus Christus; 4(denn) wir wissen, von Gott geliebte Brüder (und Schwestern), dass ihr erwählt seid; 5denn die
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frohe Botschaft, die wir verkündigen, ist zu euch gekommen – nicht allein durch das Wort, sondern auch in der Kraft, durch den heiligen Geist und voller Gewissheit; ihr wisst ja, wie wir uns bei euch verhalten haben, das geschah um euretwillen. 6 Und ihr seid unserem Beispiel gefolgt und dem des Herrn, indem ihr das Wort trotz großer Bedrängnis mit der Freude des heiligen Geistes aufgenommen habt, 7sodass ihr zu einem Vorbild für alle Glaubenden in Mazedonien und Achaja geworden seid. 8Denn von euch aus ist das Wort des Herrn nicht nur nach Mazedonien und Achaja vorgedrungen, sondern überall ist euer Vertrauen in Gott bekannt geworden, sodass wir (eigentlich) gar nichts dazu zu sagen brauchen. 9Denn man erzählt sich überall, wie wir von euch aufgenommen worden sind und wie ihr euch bekehrt zu Gott habt, weg von den Götzen, um dem lebendigen und wahren Gott zu dienen 10 und seinen Sohn vom Himmel her zu erwarten, den er von den Toten auferweckt hat, Jesus, der uns rettet vor dem kommenden Zorngericht. Eine erste in sich geschlossene Einheit zeigt sich in 1,2–10. Der Dank (1,1–5) ist hier vermischt mit einer Zusage (1,6–10). Das Dankgebet beginnt mit einer offenbar typisierten Charakterisierung christlichen Lebens (1,3). Es folgt eine Schilderung dessen, wie sich die Erwählung der Gemeinde vollzogen hat (1,4–5). Die Zusage ab 1,6 skizziert das Verhalten, das durch die Verkündigung des Evangeliums bei den Thessalonichern bewirkt wurde, und 1,7–8 gehen darauf ein, wie die Erwählung der Thessalonicher auf die Gläubigen in Mazedonien und Achaja ausstrahlt. Die Passage schließt mit der Wiedergabe dessen, was »man« sich »überall« von der Gemeinde in Thessalonich erzählt (1,9–10). Wichtige Elemente sind dabei, wie Paulus, Silvanus und Timotheus von den Thessalonichern aufgenommen wurden, und die (damit zusammenhängende) Bekehrung der Adressatinnen und Adressaten zu Gott und Jesus Christus. In 1Thess 1,2–10 kommen also drei – zunehmend größere – Personengruppen vor: erstens Paulus, Silvanus und Timotheus, zweitens die Gemeinde der Thessalonicher und drittens die (alle) Gläubigen in Mazedonien und Achaja (»man«). Diese Gruppen werden nacheinander zum grammatikalischen Subjekt von Hauptsätzen. Dem ersten Hauptsatz »wir danken Gott« (1,2a) sind drei Partizipien untergeordnet: das Gedenken in 1,2b, das Erinnern in 1,3 und das Wissen in 1,4–5. 1,6 setzt mit einem neuen Hauptsatz ein, der nun nicht mehr Paulus, Silvanus und Timotheus zum Subjekt hat (»wir«), sondern die Gemeinde in Thessalonich (»ihr«). Ihr Glaube strahlt aus auf die Gemeinden in Mazedonien und Achaja
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(1,7–8). In 1,9 wird diese »christliche Allgemeinheit« (»man«) zum Subjekt eines Hauptsatzes. Das Verhältnis zwischen den einzelnen Gruppen ist das der Nachahmung bzw. des Vorbildes, der imitatio. Die Gemeinde der Thessalonicher ist dem Beispiel von Paulus, Silvanus und Timotheus gefolgt (1,6), und sie ist ihrerseits zum Vorbild für die Gemeinden in Mazedonien und Achaja geworden (1,7). Die drei Gruppen verbindet die »Hoffnung auf unseren Herrn Jesus Christus« (1,3), auf »Jesus, der uns dem kommenden Gericht Gottes entreißt« (1,10). Die Parusie Christi erhält damit ein großes Gewicht. Sie bildet den Zielpunkt der Darstellung. Der Dank, den Paulus, Silvanus und Timotheus an Gott richten, macht von Beginn an deutlich, dass die erfolgreiche Gründung der Gemeinde die Sache Gottes ist (2 2 ). Die griechische Zeitform des Verbs »danken« sowie der Ausdruck »immer für euch alle« betonen, dass es sich bei dem Dank nicht um ein punktuelles, zeitliche eng begrenztes Unterfangen handelt, sondern um eine ständige Haltung und Aufrechterhaltung des Dankens. Der griechische Ausdruck für »gedenken« (mneian poieisthai) meint dabei »konkret vergegenwärtigen«. Die Ausführungen dazu, was konkret vergegenwärtigt werden soll, bleiben allerdings recht unkonkret. Deutlich wird immerhin, dass die Gemeinde als vorbildlich charakterisiert wird (s.u.). Wichtig ist wohl vor allem der Akt des Gedenkens, des Erinnerns selbst. Er spielt im 1. Thessalonicherbrief eine wichtige Rolle (vgl. 1,5; 2,1–2.5.9–11; 3,6; 4,2). Impliziert ist bei den Appellen des zustimmenden Erinnerns die Antwort: »Ja, so war es.« Die Gemeinschaft der Thessalonicher ist eine Erinnerungsgemeinschaft. Aus der vergegenwärtigenden Erinnerung an eine gemeinsame Vergangenheit konstituiert sich ihre Identität. Anschließend (3 3 ) führen die drei Verfasser inhaltlich aus, was sie »vor Gott unserem Vater« vergegenwärtigen. Sprachlich besteht der Vers aus einer Fülle von Genitiven, deren Zuordnung nicht ganz einfach ist. Deutlich ist aber, dass es um eine Charakterisierung vorbildlichen christlichen Lebens geht. Dieses vorbildliche Leben, das die Gemeinde in Thessalonich offenbar führt, zeichnet sich durch drei Elemente aus: durch »euer Werk im Glauben«, durch »eure Mühe/Opferbereitschaft in der Liebe« und durch »eure Standhaftigkeit in der Hoffnung«. Die drei Begriffe Glaube, Liebe, Hoffnung begegnen als Trias öfter in (pseudo-)paulinischen Briefen. Die wohl bekannteste Stelle steht im sogenannten Hohelied der Liebe im 1. Korintherbrief: »Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber am größten unter ihnen ist die Liebe.« (13,13). Hier begegnen die drei Begriffe absolut, also
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ohne einen Zusatz, der sie genauer beschreiben würde. Die Liebe gilt als Steigerung von Glaube und Hoffnung. Demgegenüber ist die Reihenfolge in 1Thess 1,3 eine andere: Glaube, Liebe, Hoffnung. Die Hoffnung ist inhaltlich qualifiziert als diejenige »auf unseren Herrn Jesus Christus«. Gemeint ist also die Parusie, von der dann in 1,10 explizit die Rede ist. Insofern liegt die Vermutung nahe, dass im 1. Thessalonicherbrief die Hoffnung den höchsten Stellenwert hat. In Kol 1,4–5 begegnet die Trias von Glaube, Liebe und Hoffnung ebenfalls im Rahmen der Danksagung. Hier werden die drei Begriffe jeweils durch eine untergeordnete Bestimmung präzisiert. Die Rede ist vom »Glauben an Jesus Christus«, von der »Liebe, die ihr zu allen Heiligen habt« und von der »Hoffnung, die für euch im Himmel bereit liegt«. In 1Thess 1,3 sind umgekehrt Glaube, Liebe und Hoffnung jeweils einem übergeordneten Begriff untergeordnet: Während es wörtlich heißt: »euer Werk des Glaubens«, »Mühe der Liebe« und »Standhaftigkeit der Hoffnung«, geht es inhaltlich genauer um »euer Werk im Glauben«, um »eure Mühe in der Liebe« und um »eure Standhaftigkeit in der Hoffnung«. Eine ähnliche grammatikalische Struktur findet sich in 1Thess 5,8, wobei Glaube und Liebe hier demselben übergeordneten Begriff zugeordnet sind (»Panzer des Glaubens und der Liebe«), während die Hoffnung einen eigenen übergeordneten Begriff zugewiesen bekommt (»Helm der Hoffnung auf das Heil«). Auch das könnte auf die größere Bedeutung der Hoffnung im 1. Thessalonicherbrief hinweisen. Betrachten wir die drei Elemente in 1,3 nun im Einzelnen: Die Formulierung »euer Werk im Glauben« mag zunächst stutzig machen. Denn sie erinnert an eine paulinische Redeweise, die zwischen »Werken« und »Glauben« einen Gegensatz aufbaut. »… damit wir gerecht werden durch den Glauben an Jesus Christus und nicht durch Werke des Gesetzes« schreibt Paulus in Gal 2,16. Werke können nicht gerecht machen, das kann nur der Glaube. Die Formulierung in 1Thess 1,3 hingegen denkt Werk und Glauben zusammen. Gemeint ist, dass der Glaube in Werken wirksam wird. Dahinter steht also die Überzeugung, dass Glaube sich in Verhalten niederschlägt und so beobachtbar wird. Warum macht Liebe Mühe? Das griechische Wort, das hier benutzt wird (kopos), taucht in 1Thess 2,9; 3,5 und 5,12 in Verbindung mit der Verkündigung des Evangeliums auf. Diese Verkündigung macht Mühe, sie ist durchaus beschwerlich. Sie geschieht – so könnte man vielleicht sagen – aus Liebe zu den Menschen, aus dem Wunsch, den anderen für den Glauben zu gewinnen. Diese Bedeutungsnuance könnte auch in 1Thess 1,3 mitschwingen. Liebe wäre demnach nicht nur eine Haltung, sondern ein aktives Tun. Vor-
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bildliches christliches Leben wäre grundsätzlich – nicht nur mit Blick auf Apostel – missionarisch. Warum braucht die Hoffnung Standhaftigkeit? Das griechische Wort für »Standhaftigkeit« (hypomone) begegnet auch in apokalyptischer Literatur dort, wo es um das Durchhalten angesichts von Leiden geht. In den sogenannten Überwindersprüchen der Offenbarung wird denjenigen, die überwinden, endzeitlicher Lohn versprochen (Offb 2,7.11.17.26–28; 3,5.12.21). Die Hoffnung meint konkret die Erwartung der Wiederkehr Jesu Christi, also der Parusie, von der in 1Thess 4,13–17 ausführlich die Rede sein wird. Schon hier wird deutlich, dass die Parusie für die Glaubenden ein Ereignis sein wird, für das es durchzuhalten gilt. Gemeint ist also eine aktive Haltung, die angesichts von Schwierigkeiten und Bedrohungen nicht nachgibt, weil sie eine konkrete Hoffnung vor Augen hat. Das Gedenken von Paulus, Silvanus und Timotheus geschieht »vor Gott, unserem Vater«. Im griechischen Text schließt diese Angabe den dritten Vers ab, was in der deutschen Übersetzung kaum wiederzugeben ist. Dadurch erhält die Angabe eine gewisse Betonung. Die Gottesbeziehung erscheint damit als die Grundbedingung für gelingendes christliches Leben. Als drittes Element des Dankes rufen Paulus, Silvanus und Timotheus den Gemeindemitgliedern nun (44 ) ihre Erwählung in Erinnerung. Die Verbindung zum Hauptsatz »wir danken« besteht am ehesten in der Angabe eines Grundes: Wir danken, weil wir wissen, dass Gott euch erwählt hat. Das Element der Erwählung bildet den Höhepunkt der Dreierreihe innerhalb der Danksagung, und es schlägt gleichzeitig die Brücke zum Folgenden. Denn ab Vers 5 erfahren wir, welche Ereignisse die Erwählung bestätigen und nach außen manifest machen: Die frohe Botschaft wirkt auf mannigfaltige Weise in der Gemeinde (5), die Gemeinde ahmt Paulus, Silvanus und Timotheus trotz großer Bedrängnis nach (6) und ist ihrerseits zum Vorbild für andere Gemeinden geworden (7). Die Erwählungszusage wird von einer direkten Anrede an die Gemeinde eingeleitet (»von Gott geliebte Brüder [und Schwestern]«). Der griechische Ausdruck ist wörtlich mit »Brüder« zu übersetzen. Zwei Aspekte sind an dieser Anrede bemerkenswert: Erstens steht im Hintergrund das Bild einer Familie, in der die Rolle des Vaters mit Gott (1,1.3) und die Rolle der Geschwister mit den Missionaren und der Gemeinde besetzt sind. Die Anrede der Gemeindemitglieder als »Brüder« suggeriert eine hierarchische Beziehung zwischen Gottvater einerseits und den Missionaren sowie der Gemeinde andererseits. Sie suggeriert gleichzeitig eine symmetrische Beziehung zwischen den Missionaren und den
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Gemeindemitgliedern. Diese Symmetrie wird jedoch indirekt ausgehebelt, indem sich die Missionare als Dankende (1,2) zwischen die Gemeinde und Gott stellen. Deutlich wird das auch in 2,11, wo sich die Missionare selbst (!) mit einem Vater vergleichen, der seine Kinder ermahnt. In 3,10 maßen sie sich dementsprechend ein Urteil über den Glaubensstand der Gemeinde an. Zweitens sprechen die Missionare mit der Anrede »Brüder« nur männliche, freie (also nicht versklavte) Gemeindemitglieder an. Das bedeutet jedoch nicht, dass es in der Gemeinde keine Frauen gab. Die weiblichen Gemeindemitglieder sind indirekt mit gemeint, sodass ich »und Schwestern« in Klammern bei der Übersetzung hinzufüge. Die Perspektive ist jedoch eine androzentrische. Direkt und explizit angeredet sind nur die Männer. Die Anrede führt bei den Adressierten zu erhöhter Aufmerksamkeit. Sie unterstreicht die Hinwendung Gottes zur Gemeinde (vgl. 2Thess 2,13 und alttestamentlich – bezogen auf Benjamin – Dtn 33,12). Die göttliche Liebe zur Gemeinde ist verbunden mit der Zusage ihrer Erwählung. Dieser inhaltliche Zusammenhang zwischen Liebe und Erwählung findet sich auch in 2Thess 2,13; Röm 9,11–13 und Kol 3,12. Das griechische Nomen eklog (Erwählung) ist in der griechischen Übersetzung des Alten Testaments, der Septuaginta, in dem hier vorliegenden theologischen Sinn nicht belegt. Die Vorstellung der Erwählung ist jedoch alttestamentlich breit bezeugt, und zwar entweder kollektiv mit Bezug auf ganz Israel oder individuell bezogen auf seinen König oder einen Priester (vgl. Jes 44,2; Ps 89,3; 1Sam 2,28). Später, in frühjüdischer Literatur, erweitert sich der Sprachgebrauch: Die Auserwählten können nun auch eine kleine Gruppe innerhalb Israels sein (grHen 1,1.3.8; TestJob 4,11). Angesichts dieses traditionsgeschichtlichen Befundes ist die Zusage an die Thessalonicher in doppelter Weise erstaunlich: Erstens ist 1Thess 1,9 zu entnehmen, dass die Gemeinde der Thessalonicher sich (vornehmlich) aus Heidenchristen zusammensetzt. Denn es handelt sich um Menschen, die sich von den Götzen abgewandt haben – eine Aussage, die nur auf Heidenchristinnen und Heidenchristen zutrifft. Die Erwählungszusage, die sich in alttestamentlich-jüdischer Tradition exklusiv mit (einem Teil aus) dem Volk Israel als dem Volk Gottes verbindet, ist hier also an eine (überwiegend) heidenchristliche Gemeinde gerichtet. In Röm 9–11, der einzigen anderen Passage, in der Paulus den Begriff eklog verwendet, bezieht er ihn auf (einen Rest aus) Israel und Jakob (Röm 9,11; 11,5.7.28). Zweitens ist erstaunlich, dass Paulus, Silvanus und Timotheus die Erwählungszusage an Heidenchristen in 1Thess 1,4 als Selbstverständlichkeit einführen. Eine genauere Erklärung halten sie offenbar nicht für nötig. Angesichts dieses
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erstaunlichen Befundes werden in der Wissenschaft unterschiedliche Thesen diskutiert: Einige Exegeten verweisen auf die – in großem zeitlichen Abstand vom 1. Thessalonicherbrief verfasste – Darstellung der Gemeindegründung in Thessalonich, wie sie in der Apostelgeschichte überliefert ist. Apg 17,1ff erzählt, dass Paulus an drei Sabbaten in der Synagoge von Thessalonich predigte. Dazu heißt es: »Einige von ihnen ließen sich überzeugen und schlossen sich Paulus und Silas an, außerdem eine große Menge gottesfürchtiger Griechen, darunter nicht wenige der vornehmsten Frauen.« (Apg 17,4). Demnach gehörten auch Juden und heidnische Sympathisanten der jüdischen Religion (»gottesfürchtige Griechen«) zur christlichen Gemeinde in Thessalonich. Die Annahme (einer größeren Anzahl) von judenchristlichen Gemeindemitgliedern mindert die Spannung zwischen der alttestamentlich-jüdischen Traditionsgeschichte des Erwählungsgedankens und seinem Gebrauch in 1Thess 1,4. Denn sie gehören ja auch nach jüdischem Verständnis zum erwählten Volk Gottes. Die Zusage würde dann (nur) ausgeweitet auf die Heidenchristen. Bemerkenswert bleibt jedoch, dass die Verfasser im Zusammenhang mit dieser Zusage speziell die heidenchristlichen Mitglieder adressieren (1,9). Wie mögen die heidenchristlichen Adressatinnen und Adressaten, die nicht mit der alttestamentlich-jüdischen Tradition der Erwählung vertraut waren, die Erwählungszusage verstanden haben? Diese Frage verweist uns auf zeitgenössische Dokumente aus der Alltagswelt der Thessalonicher. Der papyrologische Befund ergibt, dass eklog im paganen Bereich die Wahlfreiheit meint, die bei Vertragsabschlüssen dem stärkeren Vertragspartner zusteht. Für das mögliche Verständnis von 1Thess 1,4 bedeutet das: Gott steht als dem stärkeren Vertragspartner die Wahlfreiheit zu. Er hat »aus freien Stücken« die Gemeindemitglieder erwählt. Vielleicht benutzen Paulus, Silvanus und Timotheus zu Beginn ihres Schreibens für eine Vorstellung, die ihnen aus der alttestamentlich-jüdischen Tradition vertraut ist, mit Bedacht einen Begriff aus dem paganen Bereich. Der Sprachgebrauch wäre dann ähnlich zu erklären wie die Verwendung des Begriffs ekklesia für die Gemeinde. Beide Begriffe können als Türöffner gegenüber der heidnischen Umwelt fungieren. Die Tragweite dieses Sprachgebrauchs ist im Zusammenhang mit eklog in 1,4 allerdings deutlich weitreichender und ungleich problematischer. Denn er wirft die Frage auf, was mit der Erwählung Israels geschieht. Nimmt Gott sie (teilweise) zurück, weil nun die Christinnen und Christen aus Juden und Heiden diejenigen sind, denen seine Liebe und seine Erwählung gilt? 1Thess 2,14–16 muss wohl in dieser Richtung gedeutet werden (s. dort). Zu einem späteren Zeitpunkt
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reflektiert Paulus im Kontext seiner weiterentwickelten Theologie diese Frage eingehend und betont, dass Gott die Erwählung Israels nicht zurücknimmt (Röm 9–11). In 1Thess 1,4 geht es den Verfassern zunächst um etwas anderes: Sie formulieren zum Eingang des Briefes eine stärkende Zusage an die Gemeinde. Die gegenwärtige Heilswirklichkeit der Thessalonicher ist dadurch bestimmt, dass sie von dem Gott, der sie liebt und an den sie seit kurzem glauben (so müsste man im Blick auf die heidenchristlichen Gemeindemitglieder wohl betonen), erwählt sind. In der Zukunft wird sich die Erwählung so auswirken, dass Jesus Christus die Adressatinnen und Adressaten vor dem kommenden Zorngericht rettet (1,10). Erwählung bedeutet also, von Gott aus dem Unheilszusammenhang, in dem die Welt kurz vor ihrem Ende steht, herausgehoben zu sein. Woran lässt sich erkennen, dass die Gemeinde von Gott geliebt und erwählt ist? Zunächst einmal daran, dass in ihr die frohe Botschaft, so wie Paulus, Silvanus und Timotheus sie ihnen verkündet hat, wirkt (5 5 ). Das Evangelium kommt nur in der von den Missionaren verkündeten Form in den Blick. Nirgendwo wird es unabhängig von der Verkündigung der drei thematisiert. Offensichtlich können nur sie das ergänzen, was noch fehlt (3,10). Das Evangelium ist nicht nur eine verbale Botschaft, es kommt nicht nur »im Wort«, sondern auch »in der Kraft«, es wird also konkret erfahrbar. Vielleicht sind damit wunderhafte Ereignisse in der Gemeinde gemeint (vgl. Röm 15,19). Der unmittelbare Kontext (1,6) legt nahe, dass die »Macht« bzw. die Wirksamkeit der Evangeliumsverkündigung darin besteht, dass die Gemeindemitglieder das Wort trotz großer Bedrängnis mit Freude aufgenommen haben. Im Hören der frohen Botschaft empfangen die Gemeindemitglieder den heiligen Geist (vgl. Gal 3,2). Die »Kraft« schafft Gewissheit, sie ermöglicht es den Gemeindemitgliedern, das Wort trotz widriger Umstände anzunehmen. Diese »Kraft« der Evangeliumsverkündigung geht letztlich auf Gott zurück, denn ihm gebührt dafür Dank (1,2). Abschließend betonen Paulus, Silvanus und Timotheus, dass sie bei ihrer Tätigkeit nicht sich selbst, sondern die Adressatinnen und Adressaten im Blick haben. Nun richtet sich der Blick darauf, was die Gemeindemitglieder angesichts der Wirksamkeit des Evangeliums getan haben und immer noch tun (66 ): Sie sind dem Beispiel von Paulus, Silvanus und Timotheus und dem des Herrn Jesus Christus gefolgt, und zwar indem sie die Botschaft angenommen haben. Von 1,4 her könnten wir fragen: Wie hängt diese Annahme mit der Erwählung zusammen? Anders gefragt: Wie viel Raum lässt Gottes Erwählung dem menschlichen Willen? Können sich Erwählte der Annahme
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der Botschaft auch verweigern und ist umgekehrt die Annahme der Botschaft eine eigene menschliche Leistung? Die neutestamentliche Forschung diskutiert diese Fragen mit Blick auf die paulinischen Briefe kontrovers. Bezogen auf den 1. Thessalonicherbrief sind zwei Beobachtungen interessant, die in unterschiedliche Richtungen weisen: Einerseits ist von göttlicher Erwählung, Bestimmung und Berufung nur im Zusammenhang mit Menschen die Rede, die bereits der Gemeinde angehören (1,4; 2,12; 4,7; 5,9.24). Das könnte im Sinne einer göttlichen Vorherbestimmung (Prädestination) gedeutet werden, bei der die Erwählung die Annahme der Botschaft durch die erwählte Person zwangsläufig mit einschließt. Die »Kraft« des Wortes Gottes würde dann (auch) darin bestehen, dass sie die Annahme des Wortes Gottes nicht nur ermöglicht, sondern bewirkt. Andererseits ermahnen Paulus, Silvanus und Timotheus die Adressatinnen und Adressaten dazu, angesichts des Endgerichts »wach und nüchtern« zu sein (5,6). Das könnte bedeuten, dass die Gemeindemitglieder ihren Status als Erwählte, der sie eigentlich vom Endgericht befreit (vgl. 1,10), eigenmächtig verspielen können. Wie dem auch sei, die Wirkung des Evangeliums entfaltet sich gegen Widerstand, unter »Bedrängnis«. Das heißt: Das Bekenntnis zu Jesus Christus hat für die Thessalonicher einen hohen Preis: Die Gemeindemitglieder erleiden »große Bedrängnis«. Worin diese »große Bedrängnis« besteht, wird an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt – die Thessalonicher werden gewusst haben, was gemeint ist. 2,14–16 und 3,3–4 geben uns vielleicht weiteren Aufschluss (s. dort). Deutlich ist, dass die Bedrängnis von Heiden ausgeht. Das griechische Wort für Bedrängnis (thlipsis) hat ein weites Bedeutungsspektrum, es begegnet aber auch in spezifischerer Bedeutung zur Bezeichnung der »Wehen«, die vor dem Ende der Welt über die Menschheit kommen und die es durchzustehen gilt (vgl. Röm 5,3; 8,35–36; 12,12; Offb 7,14). Im 1. Thessalonicherbrief werden die Bedrängnisse aber nicht erkennbar in einen apokalyptischen Kontext eingebunden. Ursächlich sind vielmehr die Anfeindungen durch nicht-christliche Nachbarn (2,14). Für uns heute ist (zum Glück) schwer vorstellbar, dass eine Glaubensentscheidung, die wir oftmals als »Privatsache« ansehen, einschneidende Folgen für das Alltagsleben haben konnte. Was Bekehrung in neutestamentlicher Zeit für das soziale Leben der oder des Bekehrten bedeuten konnte, erhellt ansatzweise 1Petr 4,3–4: »Denn lange genug habt ihr die vergangene Zeit nach dem Willen der (heidnischen) Völker zugebracht, als ihr ein Leben führtet in Ausschweifung und Begierde, ihr habt getrunken, geprasst, gezecht und frevelhaften Götzendienst getrieben. Das befremdet sie (die
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heidnischen Völker), wenn ihr nicht in diesem Strom der Leidenschaften mit schwimmt, und sie lästern.« Natürlich haben wir es hier mit einer parteiischen, ja polemischen Sicht auf das pagane Leben und die Reaktion von Heiden angesichts von Bekehrungen zu tun. Deutlich wird aber, wie einschneidend die Bekehrung das Leben eines Menschen veränderte. Er nahm an bestimmten sozialen (gesellschaftlichen und kultischen) Zusammenkünften nicht mehr teil. Dieser Rückzug aus dem gesellschaftlichen Leben verursachte bei den Heiden Befremden und provozierte üble Nachrede. Einen ähnlichen Hintergrund dürfen wir wohl auch für 1Thess 1,6 annehmen. Ein theoretisch denkbarer »Ausweg« aus diesem Leid wäre die Rückkehr zu den heidnischen Göttern. Vielleicht ist es das, was Paulus, Silvanus und Timotheus im Stillen fürchten, sodass sich schließlich Timotheus auf den Weg nach Thessalonich macht, um zu erfahren, wie es um die Gemeinde steht (3,1). Die Missionare stellen die Möglichkeit der Rückkehr zu den heidnischen Göttern gar nicht erst zur Disposition, sondern verknüpfen in 1,6 die Bedrängnis mit der Freude, die der heilige Geist spendet. Sie ermöglicht die Annahme der Botschaft trotz der großen Bedrängnis. Indem die Gemeinde die Gottesbotschaft trotz damit verbundener Leiden mit Freude annimmt, handelt sie faktisch wie Paulus, Silvanus und Timotheus, die gerade in Philippi angefeindet wurden (2,2), und letztlich wie Jesus, der am Kreuz starb. Die Verfasser implizieren also, dass auch Jesus seine Leiden mit Freude ertrug. Die synoptischen Evangelien zeichnen hier durchaus ein anderes Bild von der Passion Jesu. Paulus, Silvanus und Timotheus geht es in 1,6 aber um den Zusammenhang von Leid und Freude, der auch an anderen Stellen bei Paulus bezeugt ist (2Kor 6,10; 8,2). Dadurch, dass die Gemeinde in Thessalonich der Freude, die der heilige Geist spendet, trotz ihrer Bedrängnis Raum gibt, ist sie ihrerseits den Glaubenden in Mazedonien und Achaja zum Vorbild geworden (7 7 ). Sie reiht sich also ein in die Abfolge der Vorbilder, die Leid in Freude ertragen: Jesus Christus ist Vorbild für Paulus, Silvanus, Timotheus; diese sind Vorbilder für die Gemeinde der Thessalonicher, die wiederum Vorbild für die Glaubenden in Mazedonien und Achaja ist. Mazedonien und Achaja sind zwei Provinzen, die im Gebiet des heutigen Griechenland liegen: Mazedonien (mit den Städten Thessalonich und Philippi) im Norden, Achaja (mit der Stadt Korinth) im Süden. Der folgende Vers 8 überbietet den vorherigen: Die Gemeinde der Thessalonicher strahlt nicht nur in ihre Umgebung (Mazedonien und Achaja) aus, sondern ihr Vertrauen in Gott ist »überall« bekannt geworden. Von der Gemeinde in Thessalonich aus ver-
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breitet sich großräumig »das Wort des Herrn«. Diese Wendung kann sich entweder auf Gott oder auf Jesus Christus beziehen. Für den Bezug auf Gott könnte zum einen sprechen, dass von ihm im weiteren Verlauf des Verses und im folgenden Vers die Rede ist, zum anderen, dass in 2,13 zweimal vom »Wort Gottes« die Rede ist, ohne dass ein Bedeutungsunterschied zur Wendung »Wort des Herrn« in 1,8 auszumachen wäre. Möglich ist allerdings auch der Bezug auf Jesus Christus. Dann wäre sowohl die Botschaft, die Jesus verkündet hat, als auch (wohl stärker) die Botschaft über Jesus Christus im Blick. Wie vollzieht sich die Verbreitung des Wortes des Herrn? Machen sich die Gemeindemitglieder nun ihrerseits auf den Weg, um missionarisch tätig zu werden? Von solch einer Tätigkeit hören wir allerdings nichts. Eher ist wohl gemeint, dass sie regen Kontakt zu anderen Gemeinden haben, sodass sie als Vorbild im Glauben (vgl. 1,3) bekannt werden (vgl. Phil 4,16). Das griechische Wort pistis kann mit »Glauben« oder mit »Vertrauen« übersetzt werden. Die Übersetzung mit »Vertrauen« kann deutlich machen, dass mit »Glauben« kein defizitäres Wissen gemeint ist (im Sinne von: »Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube …«), sondern eine vertrauensvolle (persönliche) Beziehung. »Überall« ist sicher eine Übertreibung, die aber den Überschwang von Paulus, Silvanus und Timotheus deutlich macht. Dieses Vertrauen in Gott, das sich in der Verbreitung der Botschaft von Jesus Christus zeigt, wird in 1,9–10 inhaltlich weiter gefüllt. Vers 9 nimmt die hyperbolische (übersteigerte) Formulierung aus dem vorigen Vers auf und verallgemeinert, dass »man« sich »überall« von den Thessalonichern erzählt. Zwei wesentliche Ereignisse werden nun abschließend in Erinnerung gerufen: Die Thessalonicher haben Paulus, Silvanus und Timotheus aufgenommen und sich zu Gott bekehrt. Tatsächlich handelt es sich dabei um ein und dasselbe Ereignis. Denn die Aufnahme der Missionare wird als Annahme ihrer Botschaft verstanden. Die Kehrseite dieser Vorstellung ist später in der Aussendungsrede des matthäischen Jesus überliefert, wo es heißt, dass diejenigen, die die Apostel nicht aufnehmen, Unheil über sich bringen und am Tag des Gerichts vernichtet werden (Mt 10,12–15). Genaueres zur Aufnahme der Missionare in Thessalonich erfahren wir in 1Thess 2,1–12. 1Thess 2,13 präzisiert, worauf es bei der Annahme des Wortes ankommt: Die Thessalonicher haben das Wort als wirkmächtiges Gottes- und nicht als Menschenwort aufgenommen. Die drei Verfasser beanspruchen, in 1,9b–10 die Formulierungen von nicht näher bestimmten anderen Personen wiederzugeben (»man erzählt sich«). Dabei blicken sie allerdings – so 1,9a – auf ihr eigenes Wirken in Thessalonich zurück. Das hat in der For-
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schung zu unterschiedlichen Thesen geführt: Begegnet uns in 1, 9b–10 eine alte urchristliche Missionspredigt, die die drei Verfasser in Gänze übernehmen? In diese Richtung könnten z.B. Apg 14,15–17; 17,22–31 weisen, wo Lukas davon erzählt, dass Paulus und Barnabas heidnischen Männern ihre missionarische Tätigkeit erläutern: »Wir bringen euch das Evangelium, damit ihr euch von diesen nichtigen Dingen (weg) zu dem lebendigen Gott bekehrt …« (14,15) Oder formulieren die Verfasser in 1Thess 1,9b–10 weitgehend selbst, wobei sie aber geprägte Begriffe aus der frühjüdischen Tradition aufnehmen? Dafür könnte sprechen, dass 1Thess 1,9–10 sprachliche Bezüge zu wesentlichen anderen Teilen des 1. Thessalonicherbriefes aufweisen (s. unten). Unbestritten finden sich in 1Thess 1,9–10 gehäuft griechische Ausdrücke, die in der frühjüdischen Tradition beheimatet (und zum Teil für Paulus, wie wir ihn aus anderen Briefen kennen, untypisch) sind: sich bekehren zu (epistrephein), wahr (althinos), Gott dienen (douleuein the), erwarten (anamenein), von den Toten (ek [tn] nekrn), kommender Zorn (org h erchomen). Interessant ist in diesem Zusammenhang die jüdische Erzählung von Joseph und Aseneth, die sich zum Judentum bekehrt. Ihre Bekehrung wird ebenfalls mit dem Begriff epistrephein ausgedrückt (JosAs 11,11; 54,10), und sie bekehrt sich zum »lebendigen und wahren Gott« (JosAs 54,6). In 1Thess 1,9 geht es ebenfalls um die Bekehrung zum Gott Israels. Das Dienen (douleuein the) bezeichnet in der griechischen Übersetzung des Alten Testaments, der Septuaginta (LXX), den Gottesdienst. Eine neutestamentliche Parallele bietet die Rede vom Dienen in Mt 6,24, wo es heißt: »Niemand kann zwei Herren dienen: Entweder wird er den einen hassen und den anderen lieben, oder er wird an dem einen hängen und den anderen verachten.« »Dienen« bezieht sich also nicht nur punktuell auf die Dauer einer gottesdienstlichen Versammlung, sondern es meint umfassender die Bindung an Gott in allen Lebensbereichen. Der Zorn Gottes ist eine alttestamentlich-jüdisch geprägte Redeweise (z.B. Ex 4,14; Jer 37,3), die in späterer Zeit für das göttliche (Vernichtungs-)Gericht steht (z.B. Ez 22,24; Zeph 1,15.18), von dem die Gerechten verschont bleiben (äthHen 62,11–13; 84,4–6; AssMos 10,1–10). Johannes der Täufer mahnt eindringlich zur Umkehr, bevor der vernichtende Zorn Gottes zuschlägt (Mt 3,7 / Lk 3,7). Paulus, Silvanus und Timotheus verwenden also traditionell geprägte Ausdrucksweisen, um das Fundament des Christusglaubens, das die Absender mit den Adressatinnen und Adressaten und mit allen anderen Christusgläubigen verbindet, zu formulieren. Eidla meint die Gottheiten, die in Götterbildern repräsentiert werden. Durch die Kontrastierung der eidla mit »dem le-
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bendigen und wahren Gott« ist klar, dass es dabei um »falsche« Götter, also um Götzen, geht. Die negative Färbung des Begriffs eidlon knüpft an jüdische Götzenpolemik an, in der die eidla z.B. als tot bezeichnet werden (Jer 16,18). Indem Bekehrung als eine Bewegung weg von den falschen Göttern hin zu dem einen lebendigen und wahren Gott beschrieben wird, fokussieren die Verfasser das Gläubigwerden in der Erfahrung von Heidenchristinnen und Heidenchristen, die vorher nicht zum Synagogenverband gehört haben. Beschrieb 1Thess 1,9 die Bekehrung zum Gott Israels, so benennt Vers 1 0 den spezifischen Kern des christlichen Bekenntnisses: Jesus, den Sohn Gottes, den Gott von den Toten auferweckt hat. Der Sohnestitel, der uns heute so geläufig ist, im 1. Thessalonicherbrief aber nur an dieser einen Stelle auftaucht, wirft Fragen auf. Denn vom Sohn Gottes heißt es, dass die Glaubenden ihn vom Himmel (wörtlich – wiederum in jüdisch geprägter Redeweise: von den Himmeln) her (zum Gericht) erwarten. Diese Vorstellung verbindet sich traditionsgeschichtlich eigentlich mit dem Menschensohn, sodass hier aus traditionsgeschichtlicher Sicht eher der Menschensohntitel zu erwarten wäre (vgl. Dan 7,13; Mk 13,26). Jesus Christus kommt in 1Thess 1,10 allerdings gerade nicht als Richter. Denn über 1,3 hinaus – wo es auch schon um die »Hoffnung auf unseren Herrn Jesus Christus« ging – benennt 1,10 die Funktion, die Jesus Christus bei der Parusie ausübt: Er rettet die Seinen vor dem kommenden Zorngericht. Vom Zorn Gottes im Zusammenhang mit dem Endgericht spricht Paulus auch im Römerbrief (Röm 1,18; 2,5.8; 3,5; 4,15; 5,9; 9,22; 12,19; 13,4–5). Anders als dort steht im Zentrum der Christologie gemäß 1Thess 1,10 aber nicht das Kreuz mit dem Sterben Jesu Christi »für uns«, sondern seine Parusie. Sie bedeutet für die Seinen die Rettung vor dem Vernichtungsgericht, das den anderen gilt. 1Thess 1,10 spricht also nicht von einem allgemeinen Weltgericht mit doppeltem Ausgang, bei dem die einen gerettet und die anderen vernichtet werden (vgl. Mt 25,31–46), sondern von einem Vernichtungsgericht, in das die Christustreuen gar nicht erst hineinkommen. Das unterstreicht die Parusieschilderung in 1Thess 4,13–17 (s. dort). Schon hier deutet sich an, dass Gott und Jesus Christus im 1. Thessalonicherbrief verschiedene Funktionen wahrnehmen: Gott ist Richter über die Welt und die in ihr lebenden Menschen, Jesus Christus rettet die Seinen vor diesem Gericht. Dieser Befund wird sich im Durchgang durch den Brief bestätigen. Trotzdem sind und bleiben Gott und Jesus Christus auf das Engste miteinander verbunden. Denn Jesus Christus ist – so stellt 1,10 auch klar – der Sohn Gottes.
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Die Vorstellung eines göttlichen Zorngerichts mag für uns heute eher problematisch sein. Denn sie kann als Drohung verstanden werden, die dem (christlichen) Bild eines »liebenden Gottes für alle« widerspricht. Im 1. Thessalonicherbrief hat die Gerichtsvorstellung aber in erster Linie eine tröstende Funktion: Paulus, Silvanus und Timotheus stärken die Adressatinnen und Adressaten, indem sie ihnen versichern, dass der Zorn Gottes nicht sie treffen wird, sondern die anderen, die sie jetzt wegen ihres Bekenntnisses zu Jesus Christus bedrängen (vgl. 1,6). Christinnen und Christen werden so – vielleicht entgegen dem äußerlichen Anschein – zu einer privilegierten Gruppe. Ihre Identität bestimmt sich wesentlich dadurch, dass sie als einzige dem kommenden Zorngericht entgeht. Ihre Entscheidung, sich zu Jesus Christus zu bekehren, war also richtig, obwohl sie deshalb angefeindet werden. Paulus, Silvanus und Timotheus beginnen ihr Schreiben mit einer ausführlichen Danksagung, die keine Floskel ist, sondern in ihrem ersten Teil die noch junge Gemeinde der Thessalonicher in ihrer schwierigen Situation ermutigen und in ihrer Bekehrungsentscheidung bestärken soll. Die Heilsgegenwart der Gemeinde ist dadurch gekennzeichnet, dass Gott sie liebt und erwählt hat (1,4). Ihre Heilszukunft ist durch die Parusie Jesu Christi bestimmt, der kommen wird, um sie vor dem göttlichen Zorngericht zu retten (1,10). Impliziert ist, dass in diesem Zorngericht diejenigen, die die Gemeindemitglieder aufgrund ihrer Bekehrungsentscheidung anfechten und bedrängen (1,6), vernichtet werden. 2,1–12 Paulus, Silvanus und Timotheus erinnern an ihren Gründungsaufenthalt 1
Denn ihr wisst selbst, Brüder (und Schwestern), dass unser Eingang bei euch nicht substanzlos war; 2sondern obwohl wir zuvor in Philippi gelitten hatten und misshandelt worden waren, wie ihr wisst, fanden wir in unserem Gott den Mut, euch das Evangelium Gottes zu sagen – unter hartem Kampf. 3Denn unser Zuspruch verdankt sich nicht einer Täuschung oder einer unreinen Gesinnung, auch nicht einer List; 4sondern wir tun es, weil Gott uns für Wert erachtet hat, mit dem Evangelium betraut zu werden, also nicht um den Menschen, sondern um Gott zu gefallen, der unsere Herzen prüft. 5 Denn wir sind niemals mit Schmeicheleien aufgetreten, wie ihr wisst, noch mit versteckter Habgier – Gott ist Zeuge –, 6wir haben auch keine Ehre bei den Menschen gesucht, weder bei euch noch bei anderen, 7obwohl wir euch als Apostel Christi hätten zur Last fallen
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können, sondern wir verhielten uns freundlich unter euch, wie eine Amme, die ihre (leiblichen) Kinder versorgt, 8so wandten wir uns euch liebevoll zu und wollten euch nicht nur am Evangelium Gottes teilhaben lassen, sondern auch an unserem eigenen Leben. Denn wir hatten euch lieb gewonnen. 9Ihr erinnert euch doch, Brüder (und Schwestern), an unsere Mühe und Plage: Wir haben nachts und tagsüber gearbeitet, um keinem von euch zur Last zu fallen, und wir verkündeten unter euch die frohe Botschaft Gottes. 10Ihr könnt es bezeugen und Gott, wie heilig und gerecht und untadelig wir euch, den Glaubenden, gegenüber waren. 11So wisst ihr auch, wie wir euch – (und zwar) einen jeden von euch wie ein Vater seine Kinder – 12 ermahnt, getröstet und ermutigt haben, euer Leben so zu führen, wie es Gottes würdig ist. Ihr seid ja von Gott berufen zu seinem Reich und seiner Herrlichkeit. Mehrfach appellieren Paulus, Silvanus und Timotheus an das, was die Gemeinde bereits weiß bzw. woran sie sich erinnern soll (1.2. 5.9.11). Die Verfasser blicken zurück auf eine Zeit, die sie mit den Angeredeten verbindet. Sie stellen den Erfolg ihres Gründungsaufenthaltes ebenso heraus wie die mit ihm verbundenen Widrigkeiten. Der Erfolg war also hart erkämpft, er verlangte von den Missionaren vollen Einsatz. Umso wichtiger ist es – so die implizite Botschaft –, dass dieser Erfolg nicht aufs Spiel gesetzt wird, während die drei abwesend sind. Die Missionare verbinden mit ihrer Rekapitulation des Gründungsaufenthaltes also eine bestimmte Botschaft. Auffällig ist, dass in 2,1–12 in Verbindung mit den drei Missionaren Motive auftauchen, die sich in 4,1–12 in Verbindung mit indirekten Ermahnungen an die Gemeindemitglieder wiederfinden: Es geht dabei um die Abgrenzung von Unreinheit (akatharsia; 2,3; 4,7), den Wunsch, Gott zu gefallen (2,4; 4,1), die Abgrenzung von Habgier (pleonexia 2,5; pleonektein 4,6) und die Forderung nach Arbeitsfleiß (2,9; 4,11–12). In dieser Parallelität zeigt sich, dass die Gemeinde dem Beispiel der Missionare gefolgt ist (1,6) und weiterhin folgen soll. Paulus, Silvanus und Timotheus sind schon bei ihrem Gründungsaufenthalt mit gutem Beispiel vorangegangen. Zunächst blicken Paulus, Silvanus und Timotheus auf ihren erfolgreichen Anfang mit den Thessalonichern zurück. Sie betonen, dass die Gemeinde davon ja bereits weiß. Vers 1 stellt mit dem Wort »Eingang« eine Stichwortverbindung zu 1,9 her. Das Wort hat einen aktiven und einen passiven Aspekt: Es meint also sowohl die Tätigkeit der Missionare bei ihrem Gründungsaufenthalt (also die Verkündigung des Evangeliums) als auch die Annahme
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ihrer Botschaft durch die Gemeinde, in der sich das Erwählungshandeln Gottes an ihnen zeigt (1,4) und das über ihr eschatologisches Schicksal entscheidet (1,10). Der »Eingang« steht damit (metonymisch) für die Botschaft. Das griechische Wort kenos ist in der obigen Übersetzung mit »substanzlos« wiedergegeben. Die Lutherübersetzung schreibt an dieser Stelle »vergeblich«. Dann würde es sich auf den Erfolg der Missionstätigkeit beziehen. Möglich ist jedoch auch, das negierte Adjektiv auf die Qualität der Botschaft zu beziehen, im Sinne von »nicht substanzlos« (vgl. 1Kor 15,14; Eph 5,6; Kol 2,8). Das passt gut zu Vers 2 , wo der Versicherung, keine substanzlose Botschaft verkündigt zu haben, die Aussage entspricht, in Gott den Mut zur Verkündigung gefunden zu haben. Vers 2 blickt zunächst noch weiter zurück, auf die Zeit der Missionare in Philippi. Nochmals appellieren die drei Missionare daran, dass die Gemeindemitglieder auch um diese Umstände bereits wissen. Sie erzählen also nichts Neues, denken sich womöglich im Nachhinein etwas aus, sondern erinnern an das, was sie bereits erzählt haben müssen. In Philippi haben die Missionare gelitten. Wenn es anschließend heißt, dass sie trotzdem in ihrem Gott den Mut fanden, in Thessalonich das Evangelium zu verkündigen, dann lässt sich daraus schließen, dass in Philippi ihre missionarische Tätigkeit der Grund für die Misshandlungen war. In 1,6 war schon davon die Rede, dass die Annahme des Wortes mit Bedrängnis verbunden ist. Hier führen die Missionare aus, wie sich das in ihrem Fall konkret geäußert hat. Von einem Aufenthalt von Paulus, Silas (Silvanus) und Timotheus in Philippi berichtet Apg 16,11–40. Nach dieser Schilderung werden Paulus und Silas auf dem Markt gefangengenommen (16,19), weil Paulus einen Wahrsagegeist aus einer Frau ausgetrieben hat (16,18). Paulus und Silas werden daraufhin geschlagen (16,22) und ins Gefängnis geworfen (16,23). Sie beten zu Gott und loben ihn (16,25). Plötzlich ereignet sich ein Erdbeben, die Gefängnismauern stürzen ein, die Fesseln lösen sich, die beiden sind frei (16,26). Gott hat die Seinen befreit. Von diesem spektakulären Ereignis hören wir in 1Thess 2,2 nichts. Hier heißt es sehr viel schlichter, dass die Missionare litten und misshandelt wurden, dass sie aber trotzdem in ihrem Gott den Mut fanden, weiterzumachen. Das Possessivpronomen unterscheidet nicht den Gott der Missionare von dem Gott anderer Leute, sondern es betont die Verbundenheit von Paulus, Silvanus und Timotheus mit ihrem Gott, an den nun auch die Gemeindemitglieder in Thessalonich glauben (und der also auch ihnen Mut spenden kann). Dass Glauben und Leiden um Christi willen nicht nur bei denjenigen, die missionarisch tätig sind, sondern auch bei denjenigen, die die Botschaft annehmen, zusam-
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mengehören, ist in dem Brief an die Gemeinde in Philippi deutlich formuliert (Phil 1,29–30). Sowohl die Missionare als auch die Glaubenden befinden sich in einem »Kampf«. Vers 3 qualifiziert den »Zuspruch«, also das Evangelium (vgl. 2,2. 4), indem er eine dreifache Abgrenzung vornimmt. Dabei geht es nicht primär um den Inhalt des Zuspruchs, sondern um die Motive, aus denen heraus die Missionare verkündigt haben. Sie wollten die Thessalonicher erstens nicht täuschen. Der Vorwurf der Täuschung (plan) begegnet einerseits bei populärphilosophischen Wanderpredigern, andererseits im Zusammenhang mit falschen Propheten. In Micha 3,5 ist ein Gotteswort gegen Propheten überliefert, »die mein Volk täuschen, die predigen, es werde gutgehen, wenn man ihnen zu essen gibt; wer ihnen aber nicht ins Maul gibt, dem predigen sie, es werde ein Krieg kommen«. Falsche Propheten reden demnach den Leuten nach dem Mund, um Essen zu bekommen, und sie rächen sich mit unbequemen Botschaften, wenn sie nichts bekommen. Im 2. Korintherbrief heißt es: »Wir gelten als Betrüger (planoi) und sind doch wahrhaftig.« Wurden Paulus, Silvanus und Timotheus in Thessalonich mit ähnlichen Vorwürfen konfrontiert? In Vers 9 betonen die drei, dass sie Tag und Nacht gearbeitet haben, um niemandem zur Last zu fallen. Anders als die falschen Propheten aus Micha 3,5 sind sie also keine Schmarotzer (und also auch keine falschen Propheten). Die Rede von der »unreinen Gesinnung« taucht alttestamentlich ebenfalls im Zusammenhang mit falscher Prophetie auf (Sach 13,2–3). Das griechische Wort akatharsia kann auch mit »Unreinheit« übersetzt werden und lässt dann sexuelle Unreinheit oder den Götzendienst anklingen (1Makk 13,48; 14,7). Neutestamentlich verbindet Offb 2,20–21 in der Figur der Isebel eindrücklich sexuelle Unreinheit (sie verführt andere dazu, Unzucht zu treiben, und treibt selbst Unzucht), Falschprophetie (sie sagt, sie sei eine Prophetin) und Götzendienst (sie verführt andere dazu, Götzendienst zu treiben). In 1Thess 4,7 heißt es, dass Gott »nicht zur Unreinheit (akatharsia), sondern zur Heiligung« beruft. Schließlich heißt es in 1Thess 2,3, dass Paulus, Silvanus und Timotheus mit ihrer Verkündigung keine »List« anwenden. Die drei handeln nicht aus Berechnung und Eigennutz, sie wollen ihre Adressatinnen und Adressaten nicht hereinlegen. 2Kor 12,16 verbindet die Beteuerung, niemandem zur Last zu fallen, mit der Versicherung, niemanden mit List in ein Netz zu locken. Mit den drei Stichworten »Täuschung«, »unsaubere Gesinnung« und »List« rufen Paulus, Silvanus und Timotheus also einen breiteren Traditionszusammenhang auf. Inwiefern sie Rückschlüsse auf konkrete Vorwürfe seitens der Thessalonicher zulassen, ist schwer zu entscheiden.
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Im folgenden Vers 4 legen die Missionare ihre tatsächlichen Beweggründe dar. Dabei setzen sie aber nicht bei sich selbst, sondern bei Gott an: Gott hat sie für Wert erachtet, mit dem Evangelium betraut zu werden. Ihre missionarische Autorität gründet also in Gott. Sie verkünden – anders als Wanderphilosophen und Falschpropheten – nichts Eigenes. Das griechische Wort dokimaz bedeutet »für Wert erachten«, »prüfen«. Es taucht am Ende des Verses wieder auf. Die Rede davon, dass Gott »unsere Herzen prüft«, nimmt die Tradition auf, nach der Gott die Herzen der Menschen, also ihre inneren Beweggründe, kennt. Bekannt ist hier der Psalm 139, in dem es heißt: »Herr, du erforschst mich und kennst mich … Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz; prüfe mich und erkenne, wie ich’s meine.« Der Zusammenhang macht deutlich, woran Paulus, Silvanus und Timotheus konkret denken: Sie wollen nicht den Menschen gefallen und ihnen nach dem Mund reden. Ihnen geht es bei ihrer missionarischen Tätigkeit auch nicht um ihr eigenes Ansehen, um ihre eigene Ehre (2,6) oder Autorität (2,7). Der Beweggrund für die missionarische Tätigkeit besteht vielmehr darin, dass die drei Gott gefallen wollen. Denn er hat sie für Wert erachtet und mit der Mission betraut. In 2,15 wird es von »den Juden« heißen, dass sie Gott nicht gefallen, und in 4,1–8 wird es darum gehen, wie die Thessalonicher leben sollen, »um Gott zu gefallen«. Gott zu gefallen ist Ausdruck einer engen Gottesbeziehung. Bei Paulus, Silvanus und Timotheus äußert sich das Gefallen in der missionarischen Tätigkeit (die »die Juden« behindern; 2,14–16), bei den Gemeindemitgliedern in der Meidung von Unzucht und Habgier (4,1–8). Die Verse 5 –6 betonen noch einmal, welche Beweggründe den Missionaren nicht unterstellt werden dürfen. Dabei appellieren die Missionare zum wiederholten Male an das, was die Gemeindemitglieder (eigentlich) bereits von ihnen wissen: Die Rede von den »Schmeicheleien« verstärkt die Bestreitung, den Menschen gefallen zu wollen, von der gerade die Rede war. Die »Habgier« wird in 4,6 als Laster genannt, das die Gemeindemitglieder meiden sollen. Paulus, Silvanus und Timotheus geben explizit an, bei ihrem Gründungsaufenthalt nicht aus »versteckter Habgier« gehandelt zu haben. Diese Aussage verstärken sie dadurch, dass sie Gott als Zeugen anrufen – der ja ihre Herzen prüft (vgl. 2,4). Es geht ihnen auch nicht um Ehre bei den Menschen. Diese Ehre, die hier in engem Zusammenhang mit Habgier auftaucht, ist vielleicht ebenfalls primär materiell zu verstehen (s.u.). Damit nehmen die Missionare zum dritten Mal das Motiv des »Menschengefallens« aus 2,4 auf. Vers 7 a lautet in der Lutherübersetzung: »Obwohl wir unser Gewicht als Christi Apostel hätten einsetzen können«. Diese Über-
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setzung sieht 7a als Verstärkung von Vers 6: Die Missionare betonen, dass es ihnen nicht um Ehre vor den Menschen geht, indem sie darauf hinweisen, dass ihnen als Aposteln Christi diese Ehre eigentlich durchaus gebührt. Sie hätten sich auf ihren Status, ihre Würde als Apostel Christi, berufen können, sie hätten so die Ehrerbietung einfordern können, die ihnen eigentlich gebührt – aber sie haben darauf verzichtet. Denn es geht ihnen eben nicht um Ehre vor den Menschen. Die apostolische Würde käme dann als Gegenstück zur (mütterlichen) Liebe zu stehen. Diese Interpretation deutet das griechische Wort baros (wörtlich: Gewicht, Last) positiv als »Würde«. In dieser positiven Bedeutung ist das Wort aber kaum belegt. Es taucht an prominenter Stelle zum Beispiel in Gal 6,2 auf: »Einer trage des anderen Last (ta bar).« Im unmittelbaren Kontext unserer Stelle, nämlich in 1Thess 2,9, taucht derselbe Wortstamm im Sinne von »finanzieller Belastung« auf: Die Missionare haben ihren eigenen Lebensunterhalt durch Arbeit bestritten, »um keinem von euch zur Last zu fallen« (epibarsai). Ich folge hier dem Vorschlag, auch Vers 7a in diesem Sinne zu verstehen, und übersetze: »obwohl wir euch als Apostel Christi hätten zur Last fallen können«. Dann implizieren die Missionare in 7a nicht, dass ihnen apostolische Würde zusteht, sondern dass sie eigentlich Anspruch auf Lebensunterhalt durch die Missionierten haben, darauf jedoch bei den Thessalonichern verzichteten. Diese Deutung wirft also auch ein bestimmtes Licht auf den Gebrauch von apostolos: Im 1. Thessalonicherbrief ist dies die einzige Stelle, an der das Wort »Apostel« auftaucht, und zwar im Plural, bezogen auf »wir«. An keiner anderen Stelle im Neuen Testament werden Silvanus und Timotheus als Apostel tituliert. 1Kor 9,1; 15,8 und Apg 1,22 legen zudem nahe, dass Apostel Auferstehungszeugen sein mussten. Das trifft auf Timotheus jedoch nicht zu. Auslegungen, die in Paulus den alleinigen Verfasser des 1. Thessalonicherbriefes sehen, beziehen den Aposteltitel in 2,7 exklusiv auf Paulus, insbesondere mit dem Argument, dass Paulus den Aposteltitel in kollektiven Absenderangaben stets ausschließlich für sich verwendet (1Kor 1,1; 2Kor 1,1; Gal 1,1–2). Ich sehe den 1. Thessalonicherbrief hingegen als kollektives Schreiben (s. zu 1,1). Insofern beziehe ich die Bezeichnung »Apostel Christi« an dieser Stelle »gleichberechtigt« auf Paulus, Silvanus und Timotheus. Fraglich ist jedoch aus meiner Sicht, inwiefern hier bereits ein dezidiert titularer Gebrauch vorliegt, der »Apostel« als einen Legitimitäts- oder Autoritätsbegriff verwendet. In einem erweiterten Gebrauch kann Paulus in Briefen, in denen er sich im Briefkopf als Apostel tituliert, von Gemeindegesandten als »Aposteln« sprechen (2Kor 8,23; vgl. Röm 16,7). Vielleicht hat sich der Sprach-
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gebrauch erst in einem späteren Stadium (nach der Abfassung des 1. Thessalonicherbriefes) geschärft und in einen titularen sowie einen nicht-titularen Gebrauch ausdifferenziert. Speziell von Aposteln Christi ist außer in 1Thess 2,7 bei Paulus nur noch in 2Kor 11,13 die Rede. Vielleicht sind hier (noch) schlicht Menschen im Blick, die – zu Recht (1Thess 2,7) oder zu Unrecht (2Kor 11,13) – für sich beanspruchen, von Jesus Christus gesandt zu sein (apostolos bedeutet wörtlich »Gesandter«). In dieser Funktion – so lässt der Kontext von 1Thess 2,7 implizit erkennen (2,5.9) – haben sie eigentlich Anspruch auf Unterhalt durch die Missionierten. Die Ehre, den Aposteln Christi gebührt, ist also vielleicht ganz materiell, im Sinne von »Anspruch auf Lebensunterhalt«, zu verstehen. Der zweite Versteil 7 b nimmt den Hauptsatz aus Vers 5 wieder auf und entfaltet nun positiv, wie sich die Apostel bei ihrem Gründungsaufenthalt verhalten haben. Sie vergleichen sich dabei mit einer Amme. Das vorangehende Wort, das dieses Verhalten umreißt, ist textkritisch unsicher, d.h. es wird in den Handschriften unterschiedlich überliefert. Ursprünglich ist entweder das griechische Wort für »kindlich, unmündig« (npioi) oder »freundlich, liebevoll« (pioi). »Liebevoll« ergibt einen besseren Sinn, was nahe legen könnte, dass das unpassende »kindlich« beim Abschreiben »verbessert« wurde. Möglich ist aber auch, dass »liebevoll« die ursprüngliche Lesart ist, die durch einen Fehler beim Abschreiben entstand, bei dem das »N« des vorherigen Wortes verdoppelt wurde. Das ist insbesondere deshalb gut vorstellbar, weil das Griechische damals in Großbuchstaben ohne Wortzwischenräume notiert wurde. Die Art des Verhaltens der Apostel ist in jedem Fall durch das nachfolgende Bild eindrücklich charakterisiert: Die Amme sorgt liebevoll für ihre Kinder. Ammen versorgten die ihnen anvertrauten Kinder nicht nur während der Stillzeit, also während der ersten zwei Jahre, sondern oft darüber hinaus, sodass eine enge Verbindung zwischen Amme und Kind entstand. Merkwürdig ist, dass ausdrücklich von »ihren« (eigenen, leiblichen) Kindern die Rede ist. In der Lutherübersetzung heißt es daher: »wie eine Mutter ihre Kinder pflegt«. Aber vielleicht liegt gerade in dieser Spannung die Spitze des Vergleichs. Die Amme kümmert sich – als bezahlte Lohnarbeiterin – um die ihr anvertrauten Kinder. Sie kümmert sich unentgeltlich um ihre eigenen, leiblichen Kinder. Denkbar ist also, dass die Missionare hier gerade darauf abheben, dass die thessalonische Gemeinde den leiblichen Kindern einer Amme entspricht, insofern die Apostel für ihre missionarischen Mühen in Thessalonich von den Missionierten keinen Lebensunterhalt einfordern. Die Apostel sehen die Gemeindemitglieder als ihre Kinder, denen sie sich liebevoll – und unentgeltlich – zuwenden.
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Diese liebevolle Zuwendung greift Vers 8 auf. Die Missionare betonen abschließend: »Denn wir hatten euch lieb gewonnen.« Im Rahmen dieser Liebe verknüpft der Vers die Teilhabe am Evangelium Gottes mit der Teilhabe am Leben der Apostel. Warum? Wahrscheinlich weil das Leben der Apostel, die ja Apostel Christi sind, vom Evangelium Gottes erfüllt ist. Teilhabe am Evangelium Gottes und Teilhabe am Leben der Apostel greifen also ineinander. Für die Apostel geht es ebenso wie für die Gemeindemitglieder darum, Gott zu gefallen (2,4; 4,1). Vers 9 setzt mit einem weiteren Appell an die Erinnerung der Adressatinnen und Adressaten ein. Damit fordern die Verfasser gleichzeitig erhöhte Aufmerksamkeit ein. Nun machen sie explizit, was sie in Vers 7 bereits angedeutet haben. Offenbar ist ihnen wichtig, dass sie sich für ihre missionarische Tätigkeit nicht haben bezahlen oder aushalten lassen. Sie sind niemandem in Thessalonich zur Last gefallen. Darin klingt an, dass es Wanderprediger gab, die genau das taten – und denen einige genau das zum Vorwurf machten. Dazu muss man bedenken, dass bestimmte Wanderprediger nicht unbedingt die Mittel oder die Möglichkeiten hatten, ihre missionarische Wandertätigkeit selbst zu finanzieren. Sie waren auf die Gastfreundschaft der Menschen angewiesen. Fischer z.B. konnten ihren Beruf auf der Wanderschaft kaum ausüben. In der sogenannten Aussendungsrede ist die Gastfreundschaft vorausgesetzt (Mt 10,5–15). Die Didache, eine frühchristliche Gemeindeordnung (entstanden gegen Ende des 1., Anfang des 2. nachchristlichen Jahrhunderts), die keinen Eingang in das Neue Testament gefunden hat, lässt erkennen, dass es hier zu Problemen kam, weil Wanderprediger die Gastfreundschaft ausnutzten, um nicht arbeiten zu müssen. Hier erfolgen daher detaillierte Bestimmungen: »Jeder aber, der kommt im Namen des Herrn, soll aufgenommen werden; dann aber werdet ihr (ihn) durch kritische Beurteilung erkennen; denn ihr habt Einsicht nach rechts und nach links. Wenn der Ankömmling ein Durchreisender ist, helft ihm, so viel ihr könnt; er soll aber bei euch nur zwei oder drei Tage bleiben, wenn es nötig ist. Wenn er sich aber bei euch niederlassen will, und er ist ein Handwerker, soll er arbeiten und soll er essen. Wenn er aber kein Handwerk versteht, dann trefft nach eurer Einsicht Vorsorge, damit er als Christ ganz gewiss nicht müßig bei euch lebe. Wenn er aber nicht so handeln will, dann ist er einer, der mit Christus Schacher treibt; vor solchen hütet euch!« (Did 12,1–5).
Die Bestimmungen aus der Didache gab es zur Abfassungszeit des 1. Thessalonicherbriefes noch nicht. Die Problematik deutet sich hier jedoch – an dieser Stelle aus der Sicht umherziehender Apostel – bereits an. Paulus war nach Apg 18,3 Zeltmacher, also Hand-
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werker. Paulus, Silvanus und Timotheus begeben sich in 1Thess 2,7–9 auf eine Gratwanderung: Einerseits sind sie der Meinung, dass sie als Apostel Christi Ehrerbietung (und finanzielle Unterstützung) verdienen (1Thess 2,7). Dazu passt, dass Paulus nach Phil 4,16 in Thessalonich Unterstützung aus Philippi erhalten hat (Phil 4,16). Andererseits wollen sie sich nicht dem Vorwurf ausgesetzt sehen, nur um des Geldes wegen zu predigen. Sie betonen daher, dass sie auf eine Option verzichteten, die ihnen eigentlich offengestanden hätte, nämlich sich für ihre missionarische Tätigkeit entlohnen zu lassen. Stattdessen arbeiteten sie selbst, und zwar Tag und Nacht (im Griechischen heißt es andersherum Nacht und Tag), also ständig, ohne Unterbrechung. Die Predigt des Evangeliums Gottes vollzog sich unter ständiger (handwerklicher) Arbeit. Wie wir uns das konkret vorzustellen haben, bleibt unklar. Haben die drei beim Arbeiten gepredigt? Zum Teil wohl schon. Wichtiger aber ist der generelle Duktus der Aussage: Paulus, Silvanus und Timotheus haben während ihres Gründungsaufenthaltes in Thessalonich schwer gearbeitet: Sie haben es geschafft, ihre missionarische Tätigkeit auszuführen, ohne jemandem (finanziell) zur Last zu fallen. Deshalb kann ihnen niemand zum Vorwurf machen, nur um des Geldes wegen zu predigen. Letztlich geht es also um die Glaubwürdigkeit ihrer missionarischen Tätigkeit. Zur Bekräftigung rufen die drei Missionare die Adressatinnen und Adressaten sowie Gott als Zeugen an (1 1 0). Sie waren bei ihrem Gründungsaufenthalt in Thessalonich »heilig, gerecht und untadelig«. Die Reihung hat einen formelhaften Klang. »Heilig« bezieht sich auf das Verhältnis zu Gott. Das Verhalten der Missionare war Gott angemessen. »Gerecht« bezieht sich auf das Verhalten gegenüber den Menschen: Die Missionare waren rechtschaffen. »Untadelig« bezieht sich auf das Eschaton, also auf das eschatologische Ende. Laut 5,23 geht es für die Gemeinde darum, untadelig für die Ankunft des Herrn Jesus Christus zu sein. Entsprechend heißt es in 3,13, dass die Gemeindemitglieder gestärkt werden sollen, damit sie »untadelig seien in Heiligkeit vor Gott« (s. dort). Die Missionare sind hier bei ihrem Gründungsaufenthalt mit gutem Beispiel vorangegangen, die Gemeinde ist ihrem Beispiel nachgefolgt (1,6). Vers 1 1 setzt wiederum neu ein, indem er an das erinnert, was die Adressatinnen und Adressaten bereits wissen. Das »So« verbindet den Vers allerdings mit der vorangehenden zusammenfassenden Kennzeichnung des Wirkens der Missionare. Paulus, Silvanus und Timotheus vergleichen ihr Verhältnis zur Gemeinde mit demjenigen eines Vaters zu seinen Kindern (vgl. 1Kor 4,14–21; Gal 4,19). Darin drückt sich ein exklusives Verhältnis aus, zu dem auch Au-
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torität und ein hierarchisches Gefälle gehören. Das Bild vom Vater bildet das Pendant zum Bild der Amme, die für ihre Kinder sorgt (7). Dazu ist zu bedenken, dass Heidinnen und Heiden, die sich in erster Generation zu Jesus Christus bekehrten, den Rückhalt ihrer Familie oftmals verloren. Die Missionare rücken nun – nach jüdischer Tradition – in die Rolle der Mutter (vgl. 2,7) bzw. des Vaters ein. Die Mutter kümmert sich in großer emotionaler Zuneigung um die jüngeren Kinder, der Vater unterweist die älteren. Denn die Weiterführung des Vergleichs in Vers 1 2 legt nahe, an die Rolle eines jüdischen Familienvaters zu denken, dem es oblag, die Kinder zu einer ethischen Lebensführung zu erziehen, die Gott angemessen ist. Die Missionare »ermahnen, trösten und beschwören« die Gemeindemitglieder. Die drei Verben liegen in der Bedeutung eng beieinander. Vielleicht hat »ermahnen« ein weiteres Bedeutungsspektrum als die beiden anderen Verben, sodass die beiden letzten Verben das erste explizieren. Die Dreiheit in der Ausdrucksweise ist stilistisch sicherlich beabsichtigt (vgl. 1,3; vgl. 5,8), um die Intensität der Aussage zu steigern. Wichtiger aber ist, zu welchem Zweck die Missionare die Gemeindemitglieder »ermahnen, trösten und beschwören«: Es geht darum, dass sie ihr »Leben so führen, wie es Gottes würdig ist«. Was das konkret heißt, wird hier noch nicht entfaltet. Im Blick ist vielmehr die Gottesbeziehung, die das Fundament für das gottgemäße Verhalten bildet. Vers 12 schließt deshalb mit der Versicherung, dass Gott die Adressatinnen und Adressaten berufen hat. Das griechische Wort kale (rufen) bezeichnet dort, wo Gott der Rufende ist, den eschatologisch bedeutsamen Heilsvorgang. Das Rufen benennt nicht nur einen Vorgang, es ist selbst ein Vorgang, der etwas verändert oder sogar erschafft. Ganz deutlich wird das im Buch Jesaja, wo es im Zusammenhang mit Gottes schöpferischem Handeln heißt: »Ich rufe und es steht da.« (Jes 48,13; vgl. Röm 8,30). Die Zusage in 1Thess 2,12 erinnert an 1,4, wo davon die Rede war, dass die Gemeindemitglieder erwählt sind (vgl. auch 4,7; 5,9; 5,23–24). Gott beruft »zu seinem Reich und seiner Herrlichkeit«. Berufung ist hier also nicht danach entfaltet, wovor sie rettet (vor dem Zorngericht Gottes, vgl. 1,10), sondern worauf sie positiv gerichtet ist: auf das Reich und die Herrlichkeit Gottes. Insbesondere in der Rede vom »Reich« bzw. von der »Herrschaft« (griechisch: basileia) Gottes klingt die eschatologische Gottesreichbotschaft an, die laut synoptischer Überlieferung zentral ist für die Botschaft Jesu. So fasst Mk 1,15 die Botschaft Jesu programmatisch mit folgenden Worten zusammen: »Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahegekommen. Kehrt um und glaubt an das Evangelium!« Im 1. Thessalonicherbrief wird die Rede von dem Gottesreich von der Erwar-
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tung der baldigen Wiederkunft Jesu Christi weitgehend überlagert (vgl. 1,10; 3,13; 4,13–18; 5,2–3). Durch die Rede vom Reich Gottes wird Gott an dieser Stelle jedoch implizit als König tituliert, dem auch die Missionare in ihrer Rolle als Vater unterstellt sind. Während Gott in 1,3 also als Vater tituliert wird, erscheint er hier indirekt als König, während die Missionare in die Vaterrolle einrücken. Wenn einerseits gilt, dass die Berufung auf ein eschatologisches Ziel ausgerichtet ist, so gilt andererseits, dass sie sich gegenwärtig in einem bestimmten Lebenswandel zeigen soll. Dieser Gedanke taucht auch in 4,3–8.9–12 auf (s. dort). Die Funktion des Abschnitts 2,1–12 ist in der Forschung umstritten. Auslegungen, die sich insbesondere auf die Verse 1–6 stützen, sehen die Missionare in einer Verteidigungshaltung und vermuten, dass bestimmte Gruppen, etwa thessalonische Juden (vgl. 2,14–16; Apg 17), ihnen Vorwürfe machten. Die Vorwürfe werden dann aus der Verteidigung (re-)konstruiert: Die Missionare hätten eine unreine Gesinnung, sie wollten nur den Menschen gefallen und seien habgierig. Paulus, Silvanus und Timotheus richten sich nun allerdings nicht direkt an ihre Kritiker, sondern sie wenden sich an die Gemeinde, die – so müsste man unterstellen – von den Vorwürfen gehört hat. Auslegungen, die sich vor allem auf die Vergleiche in den Versen 7–9.10–12 konzentrieren, stellen die beziehungsbildende Pragmatik des Abschnitts in den Vordergrund. Die Missionare rücken die Adressatinnen und Adressaten in die Rolle der (braven) Kinder, die sich der Zuwendung von Vater und Mutter gewiss sind und ihren Ermahnungen folgen. Es geht also um mehr als eine briefliche Selbstempfehlung und eine Vergewisserung der Freundschaft. Auslegungen, die sich primär auf die Verse 9–12 stützen, sehen die Funktion des Abschnittes in der Paränese. Letztlich ginge es darum, die Adressatinnen und Adressaten zu einem gotteswürdigen Leben zu ermahnen. Dazu entwerfen die Missionare sich selbst als ideale, ethische Vorbilder, die es nachzuahmen gilt. Allerdings fehlt die explizite Aufforderung zur Nachahmung, sie wird (stattdessen) der Gemeinde schon attestiert (1,6; 2,14). In 2,1–12 blicken Paulus, Silvanus und Timotheus zurück auf ihren Gründungsaufenthalt in der Gemeinde. Sie beschwören also ihre gemeinsame Vergangenheit mit den Adressatinnen und Adressaten. Die Missionare betonen, dass Gott sie für Wert erachtet und ihnen das Evangelium, also die frohe Botschaft, anvertraut hat. Sie sind der Gemeinde während ihres Aufenthaltes (finanziell) nicht zur Last gefallen. Ihre Beziehung zur Gemeinde ist wie diejenige einer Amme,
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die als Mutter (unentgeldlich) ihre leiblichen Kinder versorgt, und wie diejenige eines (jüdischen) Vaters, der seine Kinder ermahnt. Während sich die Missionare in der Anrede »Brüder« (und Schwestern) auf eine Stufe mit den Adressatinnen und Adressaten stellen, kommt in der Bildlichkeit von Mutter und Vater eine emotional aufgeladene, aber auch hierarchische Verhältnisbestimmung zum Ausdruck. Die Missionare stellen die angemahnte ethische Lebensführung der Gemeinde in einen eschatologischen Horizont und erinnern die Gemeindemitglieder an ihre Berufung. 2,13–16 Dank für die Aufnahme der Botschaft als Wort Gottes in der Gemeinde 13
Und darum danken wir auch Gott unaufhörlich, dass ihr das Wort, das seinen Ursprung in Gott hat und das ihr durch unsere Verkündigung empfangen habt, nicht als Menschenwort angenommen habt, sondern als das, was es in Wahrheit ist: als Wort Gottes, das in euch, den Glaubenden, wirkt. 14Denn ihr, Brüder (und Schwestern), habt die Gemeinden Gottes in Judäa nachgeahmt, die in Christus Jesus sind, indem ihr dasselbe von euren eigenen Landsleuten erlitten habt wie jene von den Juden: 15Die haben den Herrn Jesus und die Propheten getötet und uns verfolgt, und sie gefallen Gott nicht und sind allen Menschen feind. 16Die hindern uns daran, den Heiden zu verkünden, damit sie gerettet werden. So machen sie ständig das Maß ihrer Sünden voll. Aber das Zorngericht ist schon ganz und gar über sie gekommen. Paulus, Silvanus und Timotheus sprechen erneut von ihrem Dank, der Gott gebührt (1 1 3; vgl. 1,2). Grund des Dankes ist die Annahme ihrer Verkündigung als Gotteswort durch die Gemeinde. Im Römerbrief (10,14–18) geht Paulus auf den Zusammenhang von Verkündigung und Glaube ausführlicher ein. »Der Glaube [das Vertrauen] gründet in der Verkündigung, die Verkündigung im Wort Christi.« (Röm 10,17). Um die Annahme der Verkündigung und ihre Wirksamkeit ging es auch schon in 1,5. In diesem Vers betonen die Verfasser: Ihre Verkündigung geschieht zwar durch Menschen, sie geht aber auf Gott zurück. Nur deshalb kann sie auch in den Glaubenden wirksam werden. In 1,5–6 deutete sich schon an, dass die »Kraft« bzw. die Wirksamkeit des Evangeliums sich dadurch auszeichnet, dass es trotz widriger Umstände angenommen wird. In 1,6 bezeichneten die Verfasser diese widrigen Umstände sehr allgemein mit thlipsis (Bedrängnis). In 2,14–16
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konkretisieren sie die Bedrängnis in verstörender, polemischer Schärfe gegen »die Juden«. In den Versen 1 4–16 verändern sich abrupt Ton und Thema: Der Ton war bisher sehr harmonisch, erfüllt von Dank und der Verbundenheit zwischen den Verfassern und der Gemeinde in Thessalonich. Doch nun folgt unvermittelt eine durch und durch negative Aussage über »die Juden«. Dieser scharfe Angriff auf »die Juden« erscheint auch inhaltlich unmotiviert. Die Verfolgungen, der die Gemeinde in Thessalonich ausgesetzt ist, gehen nicht von »den Juden«, sondern von den (heidnischen) Landsleuten der Thessalonicher aus (s.u.). Thematisch war von »den Juden« bisher überhaupt keine Rede, der 1. Thessalonicherbrief enthält – anders als andere neutestamentliche Schriften – auch keine Schriftzitate aus dem Alten Testament. Paulus, Silvanus und Timotheus gehen mit keiner Silbe auf ihre Zugehörigkeit zu »den Juden« ein. In Röm 9–11 äußert sich Paulus zudem sehr viel differenzierter und positiver über das Schicksal der Juden: Während 1Thess 2,16c die Vernichtung Israels konstatiert, spricht Röm 11,26 von der Gewissheit der Rettung ganz Israels. Dieser atmosphärische und thematische Wechsel sowie die inhaltliche Spannung zu Röm 9–11 haben zum Teil zu der Vermutung geführt, dass die Verse (13–) 14–16 ursprünglich nicht Bestandteil des 1. Thessalonicherbriefes waren, sondern dem Brief als sogenannte Interpolation später – und zwar unter dem Eindruck der Zerstörung des Jerusalemer Tempels durch die Römer im Jahr 70 n.Chr. – von uns unbekannten Personen hinzugefügt wurden. Dann müssten wir diese Verse, die eine schwere Bürde für den jüdisch-christlichen Dialog darstellen, nicht Paulus (und Silvanus und Timotheus) anlasten. Bestandteil des christlichen Kanons blieben sie allerdings trotzdem. Insofern kommen wir als Christinnen und Christen aus der Verantwortung im Umgang mit diesen Versen nicht heraus, indem wir sie zu einem späteren Zusatz erklären. Es fragt sich ohnehin, ob die genannten Beobachtungen die schwere Beweislast für eine Interpolation tragen können. Denn betrachtet man 2,13–16 genauer, so zeigt sich, dass einer Herauslösung der problematischen Verse aus dem ursprünglichen Brief andere Beobachtungen entgegenstehen. Die Verse fügen sich durchaus in den Zusammenhang des Briefes ein: Die pauschalisierende Rede von »den Juden« als einer geradezu fremden Größe erscheint angesichts der nicht-jüdischen Adressatinnen und Adressaten (1,9) folgerichtig. Die Angabe »in Judäa« ist formal parallel zur Angabe »in Mazedonien und Achaja« (1,7.8): Jeweils nennen die Verfasser den Namen der römischen Provinz. Die Rede vom »Zorn« Gottes findet sich auch in 1Thess 1,10 und 5,9. Das Motiv, »Gott
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zu gefallen«, findet sich auch in 2,4 und 4,1. Gewichtig ist das Motiv der Nachahmung, das prominent auch in 1,6–8 auftaucht. Insgesamt ist 2,13–16 eng mit 1,2 – 2,12 verbunden: Erstens beginnen beide Passagen mit der Formulierung »wir danken Gott«, zweitens handeln beide Abschnitte von der Annahme der Botschaft durch die Gemeinde, die drittens zur Nachahmerin erklärt wird, und viertens sprechen beide Abschnitte vom »Zorn(gericht)«. Antithetisch stehen sich dabei zum einen diejenigen, die sich von den Götzen zu Gott bekehrt haben (1,9), und »die Juden« (2,14), zum anderen die Rettung vor dem kommenden Zorngericht der einen (1,10) und die Vernichtung im Zorngericht der anderen (2,16) gegenüber. Deshalb sind die Verse m.E. als Bestandteil des ursprünglichen Briefes anzusehen. Die Gemeinde in Thessalonich ist nicht nur dem Beispiel von Paulus, Silvanus und Timotheus sowie demjenigen des Herrn gefolgt (1,6), sondern sie folgen auch dem Beispiel der Gemeinden in Judäa (2,11 4). Während diese Aussage in 1,6 auf die Annahme des Wortes trotz großer Bedrängnis zielte, geht es in 2,14 in etwas anderer Akzentuierung um das Ertragen von Leiden, das der Gemeinde von außen (aufgrund ihres neuen Glaubens) zugefügt wurde. Die Verfasser ziehen nun einen Vergleich ein: So wie die Gemeinde in Thessalonich unter ihren Landsleuten gelitten hat, haben die Gemeinden in Judäa unter »den Juden« gelitten. Verglichen werden also einerseits die Leidenden, konkret die Gemeinde in Thessalonich mit den Gemeinden in Judäa, andererseits diejenigen, die Leid zufügen, also die Landsleute der Thessalonicher mit »den Juden«. Das Leiden der Gemeinde in Thessalonich entspricht dem Leiden der Gemeinden in Judäa. Das Verhalten der »eigenen« Landsleute entspricht dem Verhalten »der Juden«. Wer ist mit den »eigenen Landsleuten« gemeint? Der griechische Begriff für »Landsleute« (sumphyletai) taucht im Neuen Testament nur an dieser Stelle auf und ist auch im profanen Griechisch ein eher seltenes Wort – was seine Deutung erschwert. Phyl bedeutet »Volk« oder »Stamm«. Die Forschung diskutiert vor allem kontrovers, ob mit den »eigenen Landsleuten« nur Heiden oder auch (vor allem?) Juden gemeint sind. Methodisch ist bei dieser Frage zwischen Überlegungen zur historischen Plausibilität und Beobachtungen zur Art der Darstellung in 1Thess 2,14 zu unterscheiden. Denn es könnte sein, dass die Verfasser den Konflikt in erster Linie nicht historisch »korrekt« wiedergeben wollen, sondern typisiert – um ihn so auf eine bestimmte Art und Weise deuten zu können. Historisch ist es unwahrscheinlich, dass in der großen Hafenstadt Thessalonich überhaupt keine Jüdinnen und Juden ansässig waren,
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wenn auch jüdisches Leben im ersten nachchristlichen Jahrhundert archäologisch nicht sicher nachweisbar ist. Nimmt man die Darstellung in Apg 17 hinzu, die davon berichtet, dass Paulus und Silas in der Synagoge predigen, woraufhin sich ihnen einige Juden und Gottesfürchtige anschließen, andere Juden sich aber ereifern, sodass es zum Konflikt kommt, dann legt sich nahe, unter den Landsleuten in 1Thess 2,14 auch (überwiegend?) Juden zu vermuten. Z.B. ließe sich dann ein Szenario (re-)konstruieren, nach dem Paulus von Juden in Thessalonich zur Flucht gezwungen worden sei. Die Charakterisierung der Gemeinde in 1Thess 1,9 bezieht sich demnach auf die Gottesfürchtigen, von denen Apg 17 spricht. Die Angriffe gegen Paulus dürften dann auch auf diejenigen »abgefärbt« haben, die sich aufgrund seines missionarischen Wirkens der Gemeinde angeschlossen hatten. Wir hätten es dann in 1Thess 2, 14–16 überwiegend mit einem innerjüdischen Konflikt zu tun. Vielleicht meinen die »Landsleute« in 1Thess 2,14 aber auch diejenigen männlichen Vollbürger, die Mitglied in den städtischen »Phylen« von Thessalonich waren – einer Organisationsform der griechischen Gemeinden, die in römischer Zeit weitverbreitet war. Die Mitgliedschaft war mit der Teilnahme an paganen religiösen Kultfeiern verbunden. Juden waren in der Regel in diesem Sinn keine Vollbürger und damit auch nicht Mitglied in den Phylen. Zudem mieden Juden auch von sich aus die Teilnahme an paganen religiösen Kulten. Die »eigenen Landsleute« wären demnach Heiden, also keine Juden. Das Umfeld der thessalonischen Gemeinde wäre nicht-jüdisch geprägt. Dafür spricht die Verwendung eines Kompositums von phyl. Denn das Wort hat eine ethnische Bedeutung. In 1,9 charakterisieren die Verfasser die Gemeinde in Thessalonich als heidenchristlich. Dem Parallelismus in 2,14 zwischen den Gemeinden in Judäa und »den Juden« würde dann der Parallelismus zwischen der heidenchristlichen Gemeinde in Thessalonich und den heidenchristlichen »eigenen Landsleuten« entsprechen. Der Anfeindung von Judenchristen durch Juden in Judäa entspräche die Anfeindung von Heidenchristen durch Heiden in Thessalonich. Apg 17 wäre in dem Fall nicht in 1Thess 2,14–16 einzulesen. So wie 1Thess 1,9 die Gemeinde als eine heidenchristliche adressiert, würde 1Thess 2,14–16 den Konflikt der Gemeinde mit den »eigenen Landsleuten« ebenfalls als einen zwischen Heiden und Heidenchristen charakterisieren. Das schließt nicht aus, dass es in der Gemeinde auch (einige) Judenchristen gab und dass in Thessalonich auch (einige) Juden lebten. Die Verfasser würden den Konflikt typisiert darstellen – und durch die Parallelisierung vielleicht andeuten, dass Juden die eigentlichen Urheber der Verfolgungen durch die heidnischen Landsleute sind.
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An dieser Stelle ist ein Blick auf Gal 2 informativ. Paulus berichtet hier im Rückblick von dem sogenannten Apostelkonzil. Es fand im Jahr 48 n.Chr. in Jerusalem statt, also ca. zwei Jahre vor der Abfassung des 1. Thessalonicherbriefes. Auf dem Konzil ging es um die Frage, ob sich Heiden, die zum Glauben an Jesus Christus kommen, beschneiden lassen müssen. Paulus schreibt, dass ihm »nichts auferlegt« wurde (Gal 2,6). Mit anderen Worten: Die Jerusalemer Autoritäten stimmten Paulus offenbar darin zu, dass Heidenchristen sich nicht beschneiden lassen müssen. Interessant ist in unserem Zusammenhang die Aufteilung der Mission(sgebiete), die auf dem Apostelkonzil nach der Darstellung des Paulus beschlossen wurde: »Wir [Paulus u.a.] sollten zu den Heiden (ta ethn) gehen, sie [Petrus, Jakobus, Johannes] zu den Beschnittenen [also den Juden].« (Gal 2,9). Hier begegnet eine schematisierte Aufteilung, die mit den geographischen Verhältnissen und den biblischen Zeugnissen kaum in Einklang zu bringen ist. Denn Juden lebten in fast allen Orten und Städten, in denen Paulus Gemeinden gründete. Die Apostelgeschichte erzählt, dass Paulus in Synagogen predigte. Paulinische Gemeinden – z.B. die Gemeinden in Galatien – setzten sich aus jüdischen und nicht-jüdischen Menschen zusammen. Insofern spricht einiges dafür, dass wir es in Gal 2,9 ebenfalls mit einer typisierten Beschreibung zu tun haben, die hinsichtlich der zukünftigen Missionstätigkeit eine ähnlich schablonenhafte Teilung der Menschen in Juden und Heiden vornimmt wie 1Thess 2,14–16. Der Sprachgebrauch und die Fokussierung sind dabei unterschiedlich: Gal 2,9 spricht nicht von »den Juden«, sondern von den Beschnittenen – wahrscheinlich, weil die Beschneidung das zentrale Thema des Apostelkonzils war. Um die Missionstätigkeit gegenüber den Heiden geht es aber sowohl in Gal 2,9 als auch in 1Thess 2,14–16. Denn »die Juden« werden im Galaterbrief deshalb so scharf verurteilt, weil sie die Mission von Paulus, Silvanus und Timotheus unter den Heiden (ebenfalls als ethn bezeichnet) behindern und ihnen so die Rettung vorenthalten (2,16). Die Verse 1 5 und 1 6 konzentrieren sich nun ganz auf »die Juden«. Insofern bilden diese beiden Verse einen Exkurs. Denn es geht in ihnen um einen Konflikt, der mit der Gemeinde in Thessalonich, die ja von ihren Landsleuten bedrängt wird, direkt gar nichts zu tun hat. Im Zusammenhang mit Vers 16 wird es um die Frage nach dem Zweck dieses Exkurses für die Adressatinnen und Adressaten gehen. Vers 1 5 zählt fünf »Vergehen« auf: Sie – also »die Juden« – haben den Herrn Jesus getötet, sie haben die Propheten getötet, sie haben »uns«, also Paulus, Silvanus und Timotheus, verfolgt, sie gefallen Gott nicht, und sie sind aller Menschen
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feind. Der erste Vorwurf ist neutestamentlich auch in Mt 23,34– 36 / Lk 11,49–51; Mk 12,1–9 und Apg 7,52 belegt. Er gründet wahrscheinlich in einer urchristlichen Tradition, die das alttestamentlich-frühjüdische Motiv des Prophetenmordes (vgl. 1Kön 19,10.14; Neh 9,26 u.ö.), das in 1Thess 2,15 als zweiter Vorwurf auftaucht, mit dem Tod Jesu verband. Aus historischer Sicht ist zu betonen, dass es die Römer waren, die Jesus zum Kreuzestod verurteilten. »Die Juden« – so der dritte Vorwurf – haben »uns« verfolgt. Paulus ist damit vom Verfolger (vgl. Phil 3,6) zum Verfolgten geworden. Das »uns« schließt in jedem Fall Silvanus und Timotheus ein, kaum aber die Adressatinnen und Adressaten. Denn erstens stellt Vers 14 ja »die Juden« und die judäischen Gemeinden den »eigenen Landsleuten« und der Gemeinde in Thessalonich gegenüber, woraus sich ergibt, dass auf eine Verfolgung der Gemeinde durch »die Juden« gerade nicht abgehoben ist. Zweitens spricht aus der Abfolge von Prophetenmord und Verfolgung ein prophetisches Selbstverständnis der Verfasser. Wer sie verfolgt, behindert das Wort Gottes (vgl. 2,3–4). Die letzten beiden Vorwürfe nehmen zwei bekannte antijüdische Motive aus der Antike auf: Die Rede davon, dass die Juden Gott nicht gefallen, nimmt den antiken Vorwurf des Atheismus auf. Er erwuchs aus dem jüdischen Monotheismus, der dazu führte, dass die Juden alle paganen Götter als Götzen ablehnten. Deshalb nahmen sie meistens auch nicht an paganen kultischen Versammlungen oder an gesellschaftlichen Versammlungen mit kultischen Obertönen teil, was ihnen bei den Nicht-Juden zusätzlich den Vorwurf der Menschenfeindlichkeit einbrachte. Tacitus, ein römischer Geschichtsschreiber aus dem 3. Jahrhundert n.Chr., schreibt von den Juden, dass sie untereinander zusammenhielten, allen anderen Menschen gegenüber aber feindselig gesinnt seien. Menschen, die dem Judentum beitreten wollten, werde als erstes beigebracht, die Götter zu verachten, das Vaterland zu verleugnen und Eltern, Kinder und Geschwister gering zu schätzen (Hist V,5,1–2). Den Adressatinnen und Adressaten des 1. Thessalonicherbriefes dürften diese antiken Klischee durchaus bekannt gewesen sein. Der Vorwurf der Vaterlandsverleugnung findet sich in 1Thess 2,15 allerdings nicht explizit. Soll er aufgrund der Kenntnis der schablonenhaften antiken Vorwürfe gegen »die Juden« mitgehört werden? Dann hätten wir es indirekt mit einer Begründung für eine Judenverfolgung durch die römischen Behörden zu tun. Oder ist der Vorwurf der Illoyalität gegenüber dem römischen Staat in 1Thess 2,15 bewusst ausgespart, weil es den Verfassern gar nicht um das Verhältnis »der Juden« zum römischen Staat geht? Wie dem auch sei, im Kontext des 1. Thessalonicherbriefes erhalten die genannten anti-
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ken Vorwürfe, die letztlich an dem Monotheismus des Judentums Anstoß nehmen, eine neue Schärfe. Denn der Monotheismus ist ja eigentlich das, was die Gemeindemitglieder in Thessalonich mit den Juden verbindet. Insofern ist es gut denkbar, dass sich die neu bekehrten thessalonischen Gemeindemitglieder von Seiten ihrer Landsleute ähnlichen Vorwürfen ausgesetzt sahen, wie Nicht-Juden sie »normalerweise« gegen Juden erhoben. Denn auch sie bekannten sich nun plötzlich zu einer monotheistischen Religion. In 1Thess 4,1 geht es um die Befolgung ethischer Richtlinien, »um Gott zu gefallen«. Diese Formulierung lässt vermuten, dass sich die Gemeinde in Thessalonich von Seiten »ihrer Landsleute« durchaus dem Vorwurf ausgesetzt sah, den Göttern, vielleicht insbesondere der Stadtgottheit Kabirus, eben nicht zu gefallen. Dazu passt auch, dass es Paulus, Silvanus und Timotheus bei ihrer ersten Ermahnung (auch) darum geht, dass die Gemeindemitglieder nicht so leben wie die »Heiden, die Gott nicht kennen« (4,5). Um aus den antiken Vorwürfen gegen Juden überhaupt »christliche« machen zu können, bedarf es einer entscheidenden Umformulierung: In 1Thess 2,15 heißt es nicht: Sie gefallen den Göttern nicht, sondern: sie gefallen Gott nicht. Damit wird »den Juden« in antikem Gewand die Zugehörigkeit zu dem einen wahren Gott (und damit ihre Erwählung) abgesprochen. Im Zuge von 1,4.10 ist so das Urteil über sie eigentlich schon gesprochen. 1Thess 2,15 trägt damit in außergewöhnlicher Schärfe sämtliche Vorwürfe gegen »die Juden« aus dem Urchristentum und der Antike zusammen. Vers 1 6 ergänzt einen weiteren Vorwurf: »Die Juden« hindern »uns« daran, den Heiden, also den nicht-jüdischen Völkern, zu verkündigen. Wer ist mit »uns« gemeint? Schließen Paulus, Silvanus und Timotheus sich in dem »wir« abschließend mit ihren Adressatinnen und Adressaten gegen »die Juden« zusammen? Dafür könnten zwei Beobachtungen sprechen. Erstens hieß es in 1,8, von der Gemeinde aus sei das Wort des Herrn über Mazedonien und Achaja hinaus vorgedrungen. Die Behinderung der Heidenmission, die »den Juden« in 2,16 vorgeworfen wird, träfe in diesem Sinn auch sie. Zweitens hatten sich die Verfasser auch in 1,10 angesichts des eschatologischen Gerichtshorizontes, der auch in 2,16 thematisch wird, mit den Adressatinnen und Adressaten zusammengeschlossen (»der uns rettet«). Ich denke trotzdem, dass die Verfasser in 2,16 die Behinderung der Heidenmission speziell auf ihr Wirken beziehen, und zwar aus drei Gründen: Erstens ist an keiner Stelle im 1. Thessalonicherbrief von einer aktiven Missionstätigkeit der Gemeinde die Rede, und auch 1,8 ist m.E. nicht in diesem Sinne zu verstehen (s. dort). 2,1–12 handeln dagegen breit von der Missionstätigkeit von Paulus, Silvanus und Timo-
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theus. In 2,2.4 steht lalein, das griechische Wort, das auch in 2,16 die Verkündigung bezeichnet, in Verbindung mit diesen Dreien. Zweitens arbeiten die Verse 14–16 mit einem doppelten Analogieschluss (s.u.): So wie »die Juden« die judäischen Gemeinden verfolgt haben, verfolgen die Landsleute der Gemeinde in Thessalonich die Gemeindemitglieder. So wie »die Juden« ihr eschatologisches Schicksal bereits ereilt hat, wird es auch die nicht-jüdischen Landsleute ereilen. Diese rhetorische Strategie impliziert, dass eventuelle Behinderungen der Gemeinde durch Juden gar nicht explizit in den Blick kommen können – in diesem Sinne ist 2,16 dann auch zu lesen. Drittens spricht die Darstellung des Apostelkonzils in Gal 2 für die Deutung von »uns« in 1Thess 2,16 auf Paulus, Silvanus und Timotheus: Darin erscheint die Heidenmission (in pauschaler Gegenüberstellung zur Judenmission) als eine Aufgabe umherreisender Missionare – nicht sesshafter Gemeinden (Gal 2,9). Wie dem auch sei, die Tirade gegen »die Juden« steuert in 2,16 auf ihren Höhepunkt zu. Jetzt kommt pointiert der eschatologisch-endzeitliche Horizont in den Blick. Paulus versteht die Heidenmission nach Gal 1,16 als seine zentrale Aufgabe, die ihm von Gott in der Berufung anvertraut wurde. Nach Gal 2,9 handelt es sich um eine Aufgabe, die ihm aufgrund der Vereinbarungen im Apostelkonzil auch »offiziell« zukommt. Die Behinderung der Heidenmission, von der 1Thess 2,16 spricht, ist deshalb so gravierend, weil sie die Heiden der Vernichtung im Zorngericht preisgibt. Denn nach 1,10 rettet Jesus Christus (nur!) die Seinen vor dem kommenden Zorn. Die Strafe für »die Juden« entspricht nun in gesteigerter Form der Konsequenz, die ihre Behinderung der Mission für die nicht-bekehrten Heiden haben wird: Das Zorngericht wird über die Heiden kommen, es ist schon über »die Juden« gekommen. Mit der Behinderung der Heidenmission machen »die Juden« das Maß ihrer Sünden ständig voll. Hinter dieser Rede steht eine jüdische Tradition, die unter anderem im frühjüdischen 2. Buch der Makkabäer prägnant formuliert ist: »Denn unser Herrscher [Gott] sieht uns nicht so langmütig zu wie den anderen Völkern, die er hingehen lässt, bis sie das Maß ihrer Sünden erfüllt haben, und sie dann bestraft; sondern er wehrt uns, dass wir’s nicht so weit treiben mit unseren Sünden und er uns zuletzt vernichtend bestrafen müsste.« (6,14).
Der Text unterscheidet zwischen den Juden und den (nicht-jüdischen) Völkern. Gott behandelt beide Gruppen unterschiedlich: Die Völker (Heiden) lässt Gott gewähren, bis das Maß ihrer Sün-
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den voll ist. Dann bestraft er sie vernichtend. Bei den Juden ahndet er Sünden sofort, er »wehrt« ihnen. Diese kleinen Strafen gelten als gnädige Zurechtweisung, als pädagogische Maßnahme, die letztlich dem Heil dient. Wie ordnet sich hier 1Thess 2,16 ein? 2,16c formuliert mit dem »Zorn« die göttliche Strafe an »den Juden«, die schon über sie gekommen ist. Handelt es sich dabei nach Ansicht der Verfasser des 1. Thessalonicherbriefes um eine pädagogische Maßnahme, die »den Juden« letztlich zum Heil dient, oder handelt es sich um die endgültige, vernichtende Bestrafung, die nach 2Makk 6,14 eigentlich nur den Heiden in der Zukunft zukommt? Die Forschung gibt auf diese Frage unterschiedliche Antworten. Eine Position sieht in dem Zorngericht in 1Thess 2,16 nicht das endgültige, eschatologische Endgericht, sondern eine innergeschichtliche Strafe, die umgekehrt die Funktion hat, »die Juden« vor dem endgültigen Vernichtungsgericht zu bewahren. Im Alten Testament finden wir in der Tat Belege dafür, dass der Zorn Gottes gegen Israel zeitlich begrenzt ist (z.B. Hos 14,4). Es gibt in der Forschung auch Versuche, ein geschichtliches Ereignis zu benennen, das die Verfasser des 1. Thessalonicherbriefes hier als göttliche Strafe gegen »die Juden« deuten, etwa die Vertreibung von Juden aus Rom im Jahr 49 n.Chr. Gegen diese Art der Deutung spricht entscheidend der Sprachgebrauch in 1Thess 1,10 und 5,9. Beide Verse bezeichnen mit org – dem Begriff, den auch 2,16 benutzt – das eschatologische Gerichtshandeln Gottes. Doch auch der steigernde Zusatz »ganz und gar« spricht gegen eine Deutung des »Zorns« in 2,16 auf innergeschichtliche, zeitlich begrenzte, Strafen. Wenn aber org in 2,16 das endgültige Gerichtshandeln Gottes meint, dann handelt Gott hier gegenüber Israel so, wie er eigentlich gegenüber den Heiden handelt (vgl. 2Makk 6,14). Sprachlich wird bei dieser Deutung die Verbform (ephthasen) zum Problem. Denn sie bezeichnet eigentlich ein Ereignis, das schon eingetroffen ist. Aber wie kann das eschatologische Zorngericht, das sonst als zukünftig vorgestellt ist (vgl. 1Thess 1,10), schon vollzogen sein? Einige Neutestamentler deuten das Verb in 2,16 angesichts dieser Schwierigkeit futurisch, im Sinne einer prophetischen Redeweise, die ein zukünftiges Ereignis (hier: das göttliche Zorngericht) vorwegnimmt, um deutlich zu machen, dass es mit Sicherheit eintreffen wird. Das ist sprachlich jedoch schwierig. Ein interessantes Gegenstück zu 1Thess 2,16 bildet Mt 12,28 / Lk 11,20: Hier heißt es aus dem Munde Jesu, dass »die Gottesherrschaft schon zu euch gekommen ist«. Verb und Verbform entsprechen 1Thess 2,16. In beiden Versen geht es darum, dass ein Ereignis von eschatologischer Qualität (Zorn bzw. Herrschaft Gottes) bereits eingetroffen ist. Wie beim
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Zorn Gottes stellt sich auch bei der Herrschaft Gottes die Frage: Wie kann ich erfahren, dass sie bereits gekommen ist? Mt 12,28 / Lk 11,20 verweisen in diesem Zusammenhang auf die Dämonenaustreibungen durch Jesus: In diesen punktuellen Ereignissen wird erfahrbar, dass die Gottesherrschaft sich schon Bahn bricht. Vielleicht dürfen wir Ähnliches für die Aussage in 1Thess 2,16 vermuten: Punktuelle Ereignisse (bei denen Juden verfolgt, angefeindet werden etc.) werden dahingehend gedeutet, dass der Zorn schon über »die Juden« gekommen ist. Der Zusatz »ganz und gar« geht dabei über Mt 12,18 / Lk 11,20 hinaus. Wir kommen so in 1Thess 2,16 zu einer Aussage über »die Juden«, die an Radikalität nicht zu überbieten ist: Gott hat an »den Juden« schon jetzt so gehandelt, wie er nach jüdischer Tradition (2Makk 6,14) in Zukunft an den Heiden handeln wird: Sein Zorn ist bereits »ganz und gar«, also unwiderruflich, über sie gekommen. Welche Funktion hat diese Schärfe im Zusammenhang des 1. Thessalonicherbriefes? Juden kommen in dem Brief sonst gar nicht vor. Es geht Paulus, Silvanus und Timotheus gar nicht um »die Juden«, sondern er funktionalisiert sie für einen Analogieschluss: So wie es »den Juden« ergangen ist, wird es auch den Landsleuten der thessalonischen Gemeinde ergehen. Das Zorngericht über »die Juden« wird so – paradoxerweise – zum Hoffnungszeichen für die Gemeinde in Thessalonich. Gerade weil das Zorngericht schon über »die Juden« hereingebrochen ist, gibt es keinen Zweifel daran, dass es auch über die nicht-jüdischen Landsleute hereinbrechen wird. So wie sich beide – Juden und Landsleute – im Hinblick auf die Verfolgung der Gemeinden entsprechen, entsprechen sie sich auch in ihrem eschatologischen Schicksal: Beiden gilt die endgültige Vernichtung. Im Blick auf die Adressatinnen und Adressaten handelt es sich in 1Thess 2,16 also um eine indirekte Zusage: Seid getrost, diejenigen, die euch jetzt bedrängen, sind der Vernichtung preisgegeben – so wie »die Juden«, die uns verfolgt haben. Der Trost ergeht also auf Kosten »der Juden«. Der Abschnitt 2,13–16 beginnt mit dem Dank dafür, dass die Gemeinde in Thessalonich die Verkündigung von Paulus, Silvanus und Timotheus als Gotteswort (und nicht als Menschenwort) aufgenommen hat. Er ergeht sich dann in einer harschen Tirade gegen »die Juden« und endet mit einer radikalen Gerichtsaussage gegen sie. Der Zorn Gottes ist demnach über »die Juden« gekommen, weil sie die Heidenmission behindern und – so ist aus 1,10 zu schließen – die nicht missionierten Heiden damit der eschatologischen Vernichtung preisgeben. Die eschatologische Vernichtung »der Juden« wird der Gemeinde in Thessalonich zum Hoffnungszeichen. Denn das jüdi-
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sche Schicksal wird unweigerlich auch die Landsleute der Thessalonicher treffen, die die Gemeinde jetzt verfolgen. Wie stellen wir uns heute zu diesen Versen? Zwei Anfragen bleiben, eine im Hinblick auf die nicht missionierten Heiden, die andere im Hinblick auf »die Juden«. 1,10 lässt keinen Zweifel daran, dass nicht missionierte Heiden im endzeitlichen Zorngericht vernichtet werden. Deshalb werden »die Juden« dafür, dass sie die Heidenmission behindern, ihrerseits mit eschatologischer Vernichtung bestraft. Diese »Logik« wirft für uns die Frage auf, warum Jesus Christus nicht wenigstens auch diejenigen Heiden rettet, deren Missionierung »die Juden« verhindert haben. Denn sie können ja offensichtlich nichts dafür, dass sie nicht missioniert worden sind. Der Text stellt diese Frage nicht – so unbefriedigend das für uns heute sein mag. Er verwendet die Gerichtsvorstellung vielmehr dazu, speziell die bedrängten (thessalonischen) Christinnen und Christen in ihrem Glauben zu bestärken. Denn sie sind – so versichert ihnen der 1. Thessalonicherbrief – gegenüber allen anderen privilegiert. Das zeigt sich in ihrer Erwählung (1,4) und ihrer Rettung vor dem kommenden Zorngericht (1,10). Die Verse 15 und 16 dürfen nicht als zeitlos gültige Aussagen über »die Juden« gelesen werden. Trotz seiner historischen Bedingtheit bleibt 1Thess 2,14–16 als Bestandteil des christlichen Kanons ein hochproblematischer Text. Sein Zweck (der Gemeinde in Thessalonich Trost zu spenden) heiligt keineswegs die Mittel (die pauschale, unwiderrufliche, vernichtende Verurteilung »der Juden« in Gottes Namen). Die Schärfe der Polemik hinterlässt Ratlosigkeit. 2,17–20 Gescheiterte Besuchspläne 17
Wir aber, Brüder (und Schwestern), die wir für eine kurze Zeit verwaist sind, weil ihr uns fern seid – fern mit den Augen, nicht mit dem Herzen –, bemühten uns um so mehr, euch persönlich wiederzusehen. 18Deshalb wollten wir zu euch kommen, ich aber, Paulus, einmal und zweimal, aber der Satan hinderte uns daran. 19Denn wer ist unsere Hoffnung, unsere Freude, unser Ruhmeskranz, wenn nicht auch ihr – vor unserem Herrn Jesus bei seiner Ankunft? 20Ihr seid ja unsere Ehre und unsere Freude. Nachdem in 2,14 die Adressatinnen und Adressaten angeredet wurden (»denn ihr«), schlagen die Missionare in Vers 1 7 die Brücke zu sich (»wir aber«). Sie beklagen, dass sie von der Gemeinde in Thessalonich getrennt sind. Diesen Zustand bezeichnen sie als »verwaist«. Das Bild impliziert die schmerzhafte Trennung wider
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Willen. Es kann sowohl die Trennung der Kinder von ihren Eltern als auch umgekehrt die Trennung der Eltern von ihren Kindern meinen. Allerdings – hier findet die Metapher ihre Grenze – ist die Trennung von der Gemeinde nicht – wie bei Waisen – dauerhaft. Es geht »nur« um eine Trennung »für eine kurze Zeit«, »nicht mit dem Herzen«, sondern »nur« »fern mit den Augen«. Gerade die emotionale Bindung macht die Trennung jedoch so schmerzhaft. Die Entfernung der Gemeinde von den Missionaren bedeutet nicht einfach eine »technische« Schwierigkeit (sie können einander nicht mehr sehen), die es durch Kommunikation zu überwinden gilt. Die Angabe »für eine kurze Zeit« vermittelt den Eindruck, dass die Gemeinde zur Abfassungszeit des 1. Thessalonicherbriefes erst kurze Zeit bestand. Die Zeitangabe würde sich dann auf den Zeitraum zwischen dem Gründungsaufenthalt, von dem ja gerade die Rede war (2,1–12), und der Abfassung des Briefes beziehen. Der Vers kann so gedeutet werden, dass die Missionare schneller als erwünscht abreisen mussten. Jedenfalls deutet 3,10 darauf hin, dass das Missionswerk noch nicht abgeschlossen war. Weil die Bindung an die Gemeinde so stark ist, bemühten sich die Missionare umso mehr, die Gemeinde persönlich wieder zu sehen. In 3,5 erfahren wir, dass Timotheus von Paulus nach Thessalonich gesandt wurde, um in Erfahrung zu bringen, wie es um die Gemeinde steht. Er ist zum Zeitpunkt der Abfassung des 1. Thessalonicherbriefes bereits mit guten Nachrichten zu Paulus zurückgekehrt. Paulus selbst konnte allerdings noch nicht wieder nach Thessalonich reisen, wie Vers 18 ausführt. In Vers 1 8 ist der Wechsel von »wir« zu »ich, Paulus« auffällig. Die erste Person Singular begegnet im Brief außerdem in 3,5 (im Zusammenhang mit der Sendung von Timotheus zur Gemeinde in Thessalonich) und in 5,27. Von 2,18 her liegt es nahe, das »ich« in diesen beiden Versen ebenfalls auf Paulus zu beziehen. Ansonsten begegnet im 1. Thessalonicherbrief zur Bezeichnung der Verfasser durchgängig das »wir«. Dieser weitgehend konsequente Gebrauch des »wir« unterscheidet den 1. Thessalonicherbrief von allen anderen paulinischen Briefen, insbesondere von den beiden Briefen an die Gemeinde in Korinth, vom Galaterbrief und vom Römerbrief (vgl. den Kommentar zu 1Thess 1,1). In 1Thess 2,18 wird Paulus durch den Zusatz »ich aber, Paulus« aus der Gruppe des »wir« explizit herausgehoben. Er wollte die Gemeinde mehr als einmal wieder besuchen. Umgekehrt bedeutet das, dass er im 1. Thessalonicherbrief grundsätzlich fraglos zur Gruppe der »wir« gerechnet wird, denn sonst müsste er an dieser Stelle nicht mit Namensnennung hervorgehoben werden. Direkt im Anschluss wechselt der Vers wieder in die Wir-Form: Der Satan hinderte »uns« daran, die
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1Thess 2,17–20
Gemeinde zu besuchen. Dieser auffällige Wechsel spricht dafür, das »wir« im 1. Thessalonicherbrief als einen echten Plural zu verstehen (vgl. 1,1). Das heißt: Paulus, Silvanus und Timotheus wollten die Gemeinde wiedersehen; Paulus sogar mehr als einmal. Paulus und Silvanus wurden (mehrfach) daran gehindert. Timotheus hingegen – so erfahren wir in 3,5 – war erneut bei der Gemeinde. Das änderte aber nichts daran, dass die Missionare die Gemeinde erneut sehen wollen (3,12). Die Rede vom »Satan« mag uns heute merkwürdig erscheinen. Sie drückt aus, dass die Verfasser der Meinung sind, nicht durch Zufall an einem Besuch gehindert worden zu sein. Eine planvolle, widergöttliche Macht war hier am Werk. Paulus spricht auch in Röm 1,13; 15,22 davon, an Besuchen in der Gemeinde der Adressatinnen und Adressaten gehindert worden zu sein – dort jedoch, ohne »den Satan« zu erwähnen. In 2Kor 12,7 schreibt Paulus, dass ihm als Bote des Satans ein Stachel ins Fleisch gegeben wurde. Der Satan nimmt also Einfluss auf sein persönliches Geschick. Diese Überzeugung zeigt sich auch in 1Thess 2,18. Der Vers impliziert, dass die drei der Meinung sind, in den Kampf zwischen Gott und Satan direkt einbezogen zu sein. Denn Gott hat ihnen das Evangelium anvertraut (2,4). Was insbesondere Paulus konkret an dem Besuch in Thessalonich hindert, erfahren wir nicht. Wichtig ist allein, dass der Satan das missionarische Wirken behindert. Darin gleicht sein Wirken demjenigen »der Juden«, wie es in 2,16 beschrieben wurde. Indirekt wird das Handeln »der Juden« also mit dem Satan in Verbindung gebracht. Durch diese implizite Verbindung zwischen »Juden« und »Satan« (vgl. Joh 8,44) verschärft sich der hochproblematische antijudaistische Charakter der Passage weiter. In den Versen 1 9 und 2 0 stellen Paulus, Silvanus und Timotheus eine rhetorische Frage (»wer ist …«), die sie in Vers 20 selbst beantworten (»ihr selbst«). Sie betonen so, welch hohe Bedeutung die Gemeinde »vor unserem Herrn Jesus, wenn er kommt« für die drei hat. Vers 19 schließt an den vorhergehenden mit »denn« an. Die Bedeutung der Gemeinde wird so indirekt zum Grund dafür erklärt, dass der Satan die Missionare an einem erneuten Besuch hindert. Aufgezählt werden in dem Zusammenhang Hoffnung, Freude und Ruhmeskranz. Wie ist das zu verstehen? Deutlich ist zunächst, dass Vers 19 die Parusie, die Wiederkunft Jesu Christi, in den Blick nimmt. Der griechische Begriff der Parusie taucht außerdem in 3,13; 4,15 und 5,23 auf, außerhalb des 1. Thessalonicherbriefes zudem in 2Thess 2,1.8 und paulinisch (nur noch) in 1Kor 15,23. Die Parusie kann bei Paulus auch die Ankunft anderer Personen meinen (1Kor 16,17; 2Kor 7,6f; 10,10; Phil 1,26; 2,12). Die Ankunft Jesu Christi wird in 1Thess 4,13–18 aus-
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führlich beschrieben. Im Alten Testament wird das Kommen Gottes durchgängig verbal ausgedrückt. Eine auf Gott bezogene, vorchristlich-jüdische Verwendung von »Parusie« ist erst – vereinzelt – in Texten nachzuweisen, die in griechischer Sprache verfasst wurden (z.B. TestJud 22,2). Der Parusie-Begriff hat einen pagan-hellenistischen Ursprung. Im Hintergrund steht eine politische Terminologie, die die (glorreiche) Ankunft eines weltlichen Herrschers, etwa in einer Stadt, beschreibt. Die Parusie eines weltlichen Herrschers – z.B. zu dessen Herrschaftsantritt – war für die betreffenden Städte mit aufwendigen Feierlichkeiten und kostbaren Geschenken für den Herrscher verbunden. Straßen mussten ausgebessert und Reittiere gestellt werden. Die Bedeutung der Herrscherparusie ist auch daran ablesbar, dass die römischen Kaiser Nero und Hadrian anlässlich ihrer Parusie »Adventsmünzen« (Advent = Ankunft) prägen ließen. Diesen politischen Begriff, der ein spezifisches, innerweltliches und sich wiederholendes Ereignis bezeichnet, bezieht der 1. Thessalonicherbrief auf das endzeitliche, einmalige Kommen Jesu Christi. Die Erwartung solch einer eschatologischen Wiederkunft findet sich im Neuen Testament ebenso ohne den Begriff der Parusie, z.B. in Mk 14,62, aber auch in 1Thess 1,10. Wahrscheinlich ist die Vorstellung vom endzeitlichen Kommen des Menschensohns, von dem in Mk 13,26; 14,62 die Rede ist, älter als die Bezeichnung dieses Ereignisses mit dem hellenistisch geprägten Begriff der Parusie. Der 1. Thessalonicherbrief tituliert Jesus im Zusammenhang mit der Parusie nicht als Menschensohn, sondern durchgehend als »(unseren) Herrn« (Kyrios; 2,19; 3,13; 4,15; 5,23). In dieser Titulierung drückt sich eine pointierte Neuinterpretation der Parusie aus: Die Gemeinde in Thessalonich erwartet nicht die Ankunft eines weltlichen Herrschers (Kyrios), sondern die Parusie ihres Herrn Jesus Christus. Der Brief gebraucht gegenüber seinen überwiegend heidnischen Adressatinnen und Adressaten also einen paganen Begriff, der ihnen aus der Herrscherideologie vertraut ist und nach ihrer Bekehrung eine radikal neue Bedeutung erfährt.
Inwiefern aber ist die Gemeinde angesichts der Parusie Jesu Christi für die drei Missionare Hoffnung, Freude und Ruhmeskranz? Soll hier recht unspezifisch die hohe Wertschätzung der Gemeinde zum Ausdruck gebracht werden? Die griechischen Wörter für »Ruhmeskranz« (stephanos kauchses) tauchen in paulinischen Briefen ansonsten im Bildfeld des sportlichen Wettkampfes auf: Der Gewinner erhält den Siegeskranz, den Ruhm (vgl. 1Kor 9,25; Phil 2,16; 4,1). Er ist Bestandteil der Siegerehrung. Allerdings taucht der »Ruhmeskranz« hier im Zusammenhang mit der herrscherlichen Parusie auf. Er ist Ausdruck der Huldigung des Herrschers. Die Gemeinde ist hier also vorgestellt als ein Geschenk an den Herrn, das die Apostel ihm bei seiner Parusie überbringen. Insofern wird unter anderem die Gemeinde in Thessalonich ihr Ruhm bei der Parusie Jesu Christi sein. Umstritten ist, ob zusätzlich ein Gerichtsszenarium im Hintergrund steht. Implizieren Paulus, Silvanus und Timotheus also, dass
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1Thess 2,17–20
sie damit rechnen, in ein Gericht zu kommen, in dem das Urteil über sie davon abhängt, in welchem Zustand die Gemeinde ist? Kommt Jesus Christus – anders als in 1,10 und 4,13–17 beschrieben – also doch (auch) als Richter? Das »vor« (emprosthen) könnte so verstanden werden. In dieser Bedeutung ist es insbesondere im Matthäusevangelium (Mt 10,32.33; 25,32) und in 2Kor 5,10 zu finden. Allerdings ist dieses Verständnis insbesondere im Kontext des 1. Thessalonicherbriefes nicht zwingend. In 2Kor 5,10 heißt es zwar, dass »wir alle« »vor dem Richterstuhl Christi offenbar werden müssen, damit jede und jeder den Lohn für das erhält, was sie oder er im Leben gemacht hat, sei es gut oder schlecht«. Allerdings fehlt der Zusatz des »Richterstuhls« in 1Thess 2,19. Das »vor« ist hier auf Christus bezogen, in 3,13 findet sich ein entsprechendes »vor«, jedoch bezogen auf Gott. Das spricht gegen eine feststehende Wendung, die das Endgericht nach den Werken meint. »Vor« taucht vielmehr auch in 1Thess 1,3 und (verkürzt) in 3,9 im Zusammenhang von Danksagung und Freude auf und bezeichnet dort die unmittelbare Nähe zu Gott. Diese Bedeutung ist wohl auch für 2,19 (und 3,13) anzunehmen. So ergibt sich ein stimmiges Bild mit 1,10 und 4,13–17, die von einer Richterfunktion Jesu Christi nichts wissen. Insofern ist anzunehmen, dass auch 2,19 nicht von Jesus Christus als dem Richter spricht, sondern von dem Wunsch der Missionare, bei der Ankunft des Retters möglichst gut da zu stehen. Dieser Wunsch gilt auch der Gemeinde (3,13; vgl. 5,23). Der Abschnitt gipfelt in der Zusicherung, dass die Gemeinde für sie »Ehre und Freude« sei (2,20). Die Zusage ist präsentisch formuliert: Ihr seid (bereits jetzt) für uns »Ehre und Freude«. Gleichzeitig sind sie Gegenstand der Hoffnung. Denn sie erscheinen in 2,19 im Zusammenhang mit der eschatologischen Hoffnung angesichts der Parusie. »Freude« taucht hier wörtlich auf, »Ehre« metaphorisch in der Rede vom »Ruhmeskranz«. Die Zusage an die Gemeinde ist also verbunden mit einer impliziten Aufforderung, weiterhin so zu leben, dass sie den Missionaren »Freude und Ehre« bringen. Paulus, Silvanus und Timotheus bedauern, vom »Satan« daran gehindert worden zu sein, die Gemeinde wieder zu besuchen. Insbesondere Paulus betont das. Die drei Missionare sehen sich in den Kampf zwischen Gott und Satan hineingestellt. Der Ausgang dieses Kampfes steht für sie aber schon fest. Angesichts der Parusie, aber auch schon jetzt, ist die Gemeinde für die Missionare Grund zur Freude.
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3,1–5 Die Sendung des Timotheus 3,1–5 lenken den Blick zurück auf die Sendung des Timotheus nach Thessalonich. Die Missionare – und insbesondere Paulus – wurden vom Satan daran gehindert, die Gemeinde in Thessalonich nach seinem Gründungsaufenthalt wieder zu besuchen (2,17–18). Deshalb schickte Paulus (mit Silvanus) Timotheus. Die Sendung war doppelt motiviert: Einerseits dadurch, dass die Missionare es nicht mehr ausgehalten haben (die Gemeinde nicht mehr zu sehen) (1), andererseits durch ihre Zweckbestimmung (2–3a). Diese Struktur greift Vers 5 in der Ich-Form (die wohl auf Paulus zu beziehen ist) wieder auf. Vers 3b.4 schließt die Missionare und die Gemeindemitglieder in einer Leidensgemeinschaft zusammen. 1
Deshalb, weil wir es nicht länger aushalten konnten, beschlossen wir, allein in Athen zurückzubleiben, 2und schickten Timotheus, unseren Bruder und Gottes Mitarbeiter am Evangelium Christi, um euch zu stärken und in eurem Glauben zu ermutigen, 3damit keiner in diesen Bedrängnissen erschüttert werde. Ihr wisst ja selbst, dass wir dazu bestimmt sind. 4Denn schon damals, als wir noch bei euch waren, sagten wir es euch voraus, dass wir in Bedrängnis geraten würden – und so ist es gekommen, und ihr wisst es. 5Darum habe ich es auch nicht länger ausgehalten und habe (ihn) geschickt, um zu erfahren, wie es um euren Glauben steht, ob der Versucher euch etwa versucht hat und unsere Mühe vergeblich war. Mit »deshalb« schließt Vers 1 an den vorangehenden Abschnitt an. Dort hatten die Missionare – und insbesondere Paulus – davon geschrieben, dass ihre Besuchspläne durchkreuzt wurden. Sie berichten nun davon, dass dieser Zustand der Trennung unerträglich wurde. Deshalb wurde Timotheus nach Thessalonich geschickt. »Wir« – so heißt es – »beschlossen …, allein in Athen zurückzubleiben«. Das »allein« ist pluralisch auf das »wir« bezogen. Wer ist damit gemeint? Einige Ausleger beziehen die pluralische Formulierung singularisch auf Paulus (vgl. den Kommentar zu 1,1). Er war in Athen ganz allein, ohne Mitarbeiter. Vers 1 und Vers 5a sagen dann im Prinzip dasselbe, obwohl der eine Vers pluralisch, der andere singularisch formuliert. Aus dem Wechsel vom Plural in den Singular schließen andere Auslegungen, dass in Vers 1 ein echter Plural steht. Von der Absenderangabe her, die ja Paulus, Silvanus und Timotheus nennt (1,1), liegt es nahe, das »wir« in 3,1 auf Paulus und Silvanus zu beziehen. Sie blieben – ohne Timotheus (und ohne andere Mitarbeiter) – in Athen zurück. Diese Darstel-
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1Thess 3,1–5
lung stimmt insofern mit der Darstellung in der Apostelgeschichte überein, als es dort heißt, dass Paulus von Beröa nach Athen reiste (Apg 17,14–15). Allerdings blieb Timotheus zusammen mit Silas (Silvanus) zunächst in Beröa (Apg 17,14). Paulus traf erst in Korinth wieder mit ihnen zusammen (Apg 18,5). 1Thess 3,1–2 lassen demgegenüber darauf schließen, dass Paulus und Silvanus Timotheus von Athen aus nach Thessalonich schickten. Hier bleiben also gewisse Unstimmigkeiten in den Darstellungen. Paulus und Silvanus reden nun in der dritten Person über ihren Mitabsender Timotheus (22 ). Sie schickten ihn nach Thessalonich. Wir erfahren nicht, warum Timotheus offenbar das gelang, woran Paulus schon zweimal gehindert wurde (2,18). Vielleicht wählen die Verfasser mit der Abfassung des 1. Thessalonicherbriefes die schriftliche Form des Briefes auch ganz bewusst, nicht nur – wie rhetorisch suggeriert – als Notlösung angesichts der Schwierigkeiten, nach Thessalonich zu gelangen. Denn das schriftliche Medium des Briefes wirkt anders als das mündliche Medium der Predigt (vgl. 2Kor 10,10). Das zeigt die Aufforderung am Ende des Schreibens, den Brief »allen Geschwistern« vorzulesen (5,27; s. dort). Timotheus jedenfalls stellte zunächst den persönlichen Kontakt zur Gemeinde nach dem Gründungsaufenthalt erneut her. Er tritt auch in 1Kor 4,17 und in Phil 2,19.23 als Gesandter des Paulus auf. Als Gesandter war er mit Vollmacht ausgestattet. Paulus und Silvanus bezeichnen ihn als »unseren Bruder«. Damit reiht Timotheus sich wohl nicht einfach in die »Brüder (und Schwestern)« ein, als die die Gemeindemitglieder mehrfach angeredet werden (z.B. 1,4; 2,1.9.17), sondern das »unser« drückt eine besondere Nähe zwischen den drei Missionaren aus. Timotheus ist außerdem »Gottes Mitarbeiter am Evangelium Christi«. Er wird also nicht als Mitarbeiter des Paulus vorgestellt (so Röm 16,21), sondern als Gottes Mitarbeiter. Ähnlich heißt es in 1Kor 3,9: »Wir sind Gottes Mitarbeiter.« Die Formulierung in 1Thess 3,2 stellt Timotheus und Paulus (sowie Silvanus) also auf eine Stufe. Andererseits hat Paulus (mit Silvanus) offenbar die Autorität, Timotheus loszuschicken. Dessen geglückter Besuch macht einen erneuten Besuch aller drei nicht überflüssig (3,10.11). Insofern erscheint Timotheus den anderen beiden – und insbesondere Paulus – doch untergeordnet. Die Betonung durch die Charakterisierung als »Gottes Mitarbeiter am Evangelium Christi« liegt aber darauf, dass die missionarische Botschaft Gotteswort ist (vgl. 2,13). In 2,2 war vom »Evangelium Gottes« die Rede, hier vom »Evangelium Christi«. Inhaltlich ist dasselbe gemeint. Der Genitiv »Christi« lässt sich als Genitivus objectivus (Botschaft, die Christus zum Inhalt hat) und als Genitivus subjectivus (Botschaft, die Christus verkündet) verstehen. Ti-
1Thess 3,1–5
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motheus hat bei seinem Besuch eine bestimmte Aufgabe: Er soll die Gemeinde stärken und im Glauben trösten bzw. ermutigen. Ähnliche Aussagen finden sich z.B. in Röm 1,11–12; Apg 15,32. 1Thess 3,2 weist drei Elemente auf, die auch in (anderen) paulinischen Briefen nachweisbar sind: 1. die Sendung eines (Brief-)Boten, 2. die Empfehlung des Boten und seiner Qualitäten sowie 3. die Bezeichnung seines Auftrags. Diese Elemente finden wir in Röm 16,1–2 bezogen auf Phoebe, in 1Kor 4,17; 16,10–11 bezogen auf Timotheus, in 2Kor 8,6.17–24 bezogen auf Titus, in Phil 2,25–29 bezogen auf Epaphroditus und in Phlm bezogen auf Onesimus. In diesen Briefen lässt das skizzierte Muster wahrscheinlich Rückschlüsse hinsichtlich der Frage zu, wer den Brief jeweils überbracht hat. Dazu ist zu bedenken, dass die Antike kein öffentliches Postwesen kannte. Briefe wurden durch Boten überbracht, die eigens losgeschickt wurden, oder Personen mitgegeben, die aus anderem Grund auf dem Weg zum Zielort waren. Auch in 1Thess 3,2 liegen alle drei Elemente vor: Timotheus wurde geschickt (1), er wird als »unser Bruder und Gottes Mitarbeiter am Evangelium Christi« empfohlen und er erhielt den Auftrag, die Gemeinde zu stärken und zu ermutigen. Aus dieser Struktur schließen einige Ausleger, dass Timotheus bei seinem Besuch einen Brief überbrachte. Allerdings kann es sich dabei nicht um den 1. Thessalonicherbrief gehandelt haben. Denn während sich die genannten Belege aus den (anderen) paulinischen Briefen auf aktuelle Sendungen beziehen, liegt der Besuch des Timotheus zum Zeitpunkt der Abfassung des 1. Thessalonicherbriefes in der Vergangenheit. Einige Ausleger nehmen daher an, dass Timotheus bei seinem Besuch den 2. Thessalonicherbrief überbringt, der dann älter wäre als der 1. Thessalonicherbrief. Wer den 1. Thessalonicherbrief überbringt, bleibt unklar. Explizit hören wir in 3,2 nichts von einem Brief. Wahrscheinlich war Timotheus mit einer mündlichen Botschaft betraut, die er in Thessalonich überbrachte. Möglich ist auch, dass er – in mündlicher oder schriftlicher Form – konkrete Anfragen mitbrachte, auf die der 1. Thessalonicherbrief in 4,9 – 5,11 eingeht. Der Auftrag an Timotheus, die Gemeinde zu stärken und zu ermutigen, erging angesichts von nicht weiter konkretisierten »Bedrängnissen« (3 3 a). Unklar bleibt, ob es sich um Bedrängnisse handelt, die die Missionare erlitten haben (vgl. 2,15–16.18), oder um solche, die die Gemeinde erlitten hat bzw. noch erleidet. Vielleicht ist auch beides im Blick. Denn die Leiden der Missionare und diejenigen der Gemeinde gehören eng zusammen. In 1,6 wurde die Gemeinde dafür gelobt, dass sie dem Beispiel der Missionare gefolgt ist, indem sie das Wort trotz großer Bedrängnis aufgenommen hat. Aus 2,14 ging hervor, dass die Gemeinde von ihren Landsleuten
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1Thess 3,1–5
bedrängt wurde – so wie die Missionare von den Gemeinden in Judäa bedrängt wurden. In 3,3a klingt nun an, dass die Gemeinde aufgrund der Bedrängnisse doch (in ihrem Glauben) erschüttert werden könnte. Wie begründet diese Furcht ist, wissen wir nicht. Es ist aber durchaus vorstellbar, dass bei den Gemeindemitgliedern angesichts gesellschaftlicher Repressalien, die Menschen monotheistischen Glaubens trafen (s. Kommentar zu 2,14–16), Zweifel genährt wurden, ob ihre Entscheidung, sich zu bekehren, die richtige war. Vielleicht waren es auch die Leiden der Missionare, die die Gemeindemitglieder an der Durchsetzungskraft ihrer Botschaft zweifeln ließen. Die Missionare begegnen diesen Zweifeln, indem sie betonen, dass die Bedrängnisse nichts Überraschendes sind. Im Gegenteil: Sie sind von Gott gesetzte Notwendigkeit, göttliche Bestimmung (3 3 b). Das »uns« in 3b ist daher wahrscheinlich nicht nur auf die Missionare zu beziehen, sondern es schließt die Angeredeten mit ein. Zweimal hintereinander appellieren die Verfasser an die Erinnerung der Gemeindemitglieder (33 b. 4): Schon bei ihrem Gründungsaufenthalt hätten sie den Neubekehrten angekündigt, dass sie leiden müssten – und nun sei es eben so gekommen. Die Leiden disqualifizieren die missionarische Botschaft also nicht als falsch oder durchsetzungsschwach. Die Gemeindemitglieder sind hinsichtlich der Konsequenzen ihrer Entscheidung auch nicht im Dunkeln gelassen worden. Leiden und Annahme des Wortes Gottes gehören vielmehr untrennbar zusammen. Die Aussage, dass die Bedrängnisse über »uns« gekommen seien, bezieht sich wahrscheinlich wiederum nicht nur auf die Missionare, sondern es schließt die Missionare mit den Gemeindemitgliedern zu einer Leidensgemeinschaft zusammen (vgl. 1,6). Vers 5 wiederholt zwei Aspekte aus den ersten beiden Versen: Das Nicht-mehr-Aushalten und das Schicken. Während der zweite Vers das Objekt des Schickens explizit benennt (Timotheus), fehlt dem entsprechenden Verb in Vers 5 das Objekt. Zudem formuliert der Vers nicht – wie die Verse 1 und 2 – im Plural, sondern im Singular. Handelt es sich also um zwei getrennte Vorgänge? Das ist aufgrund der Parallelität der Aussage unwahrscheinlich. Insofern wird man in Vers 5 Timotheus als Objekt ergänzen dürfen. Der Brief spricht also zweimal von demselben Vorgang, allerdings einmal pluralisch, einmal singularisch. Das erinnert an 2,18, wo davon die Rede war, dass »wir« zu euch kommen wollten und Paulus dann aus dieser Gruppe der drei herausgehoben wird. Von 2,18 her (und von der Reihenfolge der Absenderangaben in 1,1) liegt es dann nahe, hinter dem »ich« in 3,5 ebenfalls Paulus zu vermuten. Er schickte Timotheus nach Thessalonich. Die »Bedrängnisse« tauchen hier in personalisierter Form wieder auf: Die Rede ist von ei-
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nem »Versucher«. Das erinnert an die Rede vom Satan, der insbesondere Paulus daran gehindert hat, erneut nach Thessalonich zu kommen (2,18). Während der Satan etwas verhindert, versucht der Versucher, etwas herbeizuführen, in diesem Fall den Abfall vom Glauben, also die Rückkehr zu den »Götzen« (vgl. 1,9). Die Missionare befürchteten, dass ihre »Mühe« (der missionarischen Arbeit) vergeblich war (vgl. 1,3 und 5,12). Ihre Furcht war also radikal. Zwischen dem Gründungsaufenthalt der Missionare und dem Abfassungszeitpunkt des Briefes hat es einen weiteren persönlichen Kontakt gegeben, und zwar durch Timotheus. Er wurde geschickt, um die Gemeinde in ihrem Glauben zu stärken. Die Missionare befürchteten, dass einzelne (oder viele?) Gemeindemitglieder versucht waren, zu ihrem alten Glauben zurückzukehren. Denn Glauben ist mit Bedrängnissen verbunden. 3,6–9 Die Gegenwart: Nach der Rückkehr des Timotheus 3,6–9 beschreiben die Gegenwart, also den Zeitpunkt der Abfassung des Schreibens: Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass Timotheus mit guten Nachrichten von der Gemeinde zurückgekehrt ist. Die Missionare sind daher getröstet, zuversichtlich und dankbar. Vers 6 gibt Auskunft darüber, was Timotheus den beiden anderen Missionaren von der Gemeinde berichtet hat. Die Verse 7–9 gehen darauf ein, was diese Botschaft bei den Missionaren bewirkt hat: Trost, Aufleben, Freude. 6
Inzwischen aber ist Timotheus von euch zu uns zurückgekommen und hat uns erfreuliche Nachricht gebracht von eurem Glauben und eurer Liebe und davon, dass ihr uns immer in guter Erinnerung haltet und euch danach sehnt, uns zu sehen, wie auch wir uns danach sehnen, euch zu sehen – 7darum wurden wir ermutigt, Brüder (und Schwestern), was euch angeht in all unserer Not und Bedrängnis – durch euren Glauben; 8denn jetzt leben wir (auf), wenn ihr fest steht im Herrn. 9Wie können wir also Gott euretwegen genug danken für all die Freude, mit der wir uns über euch freuen vor unserem Gott? Die radikale Furcht, die aus 3,5 sprach, hat sich mit der Rückkehr des Timotheus weitgehend als grundlos erwiesen (66 ). Timotheus bringt Paulus und Silvanus gute Nachrichten. Das griechische Wort, das die Verfasser hier benutzen, ist euaggelizesthai. Dieses Verb meint sonst im Neuen Testament die Verkündigung der frohen Botschaft, also des Evangeliums (z.B. Röm 1,15). Nur an dieser
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1Thess 3,6–9
Stelle ist es nicht auf die frohe Botschaft von Gott und Jesus Christus, sondern auf gute Nachrichten bezüglich einer Gemeinde bezogen. In diesem ungewöhnlichen Sprachgebrauch schwingt wahrscheinlich mit, dass sich der gute Zustand der Gemeinde Gott (und seiner Erwählung) verdankt (vgl. 1,4). Das, was Timotheus von der Gemeinde berichtet, erinnert an den Dank, den die Missionare zu Beginn des Briefes angesichts der positiven Entwicklung der Gemeinde formuliert haben (1,2–3). War in 1,3 von Glaube, Liebe und Hoffnung die Rede, so in 3,6 von Glaube und Liebe. Der Hoffnungsaspekt, der ja die (eschatologische) Zukunft betrifft, kommt in 3,10–13 (und – ausführlich – in 4,13–18; 5,1–11) zur Sprache. In 3,10 ist davon die Rede, dass am Glauben der Gemeinde noch etwas fehlt. Vielleicht deutet sich im Zusammenhang von 3,6.10 an, dass es vorrangig der Hoffnungsaspekt ist, der am Glauben noch fehlt. Dann wäre die Hoffnung bewusst nicht Gegenstand der positiven Nachrichten, die Timotheus von der Gemeinde bringt. Um den Hoffnungsaspekt geht es ausführlich – offensichtlich als Reaktion auf eine Anfrage aus der Gemeinde – in 4,13–18. In 1,2 hieß es, dass die Missionare in ihren Gebeten der Gemeinde gedenken (mneian). Umgekehrt heißt es in 3,6, dass die Gemeinde die Missionare in guter Erinnerung hält (mneian). Nicht nur das Gedenken, sondern auch der Wunsch, einander zu sehen, ist reziprok. Unklar bleibt, wie viel Zeit zwischen der Rückkehr des Timotheus und der Abfassung des 1. Thessalonicherbriefes vergangen ist. Der enge Zusammenhang zwischen 1,2–3 und 3,6 lässt aber darauf schließen, dass die Missionare ihr Schreiben unter dem Eindruck der positiven Nachrichten des Timotheus verfassen. Wo treffen die Missionare wieder zusammen? 3,6 macht dazu keine explizite Angabe. In 3,1 war davon die Rede, dass Paulus und Silvanus allein in Athen zurückblieben. Ist diese Ortsangabe auch für 3,6 anzunehmen? Oder weist das Fehlen einer Ortsangabe in 3,6 eher darauf hin, dass im Unterschied zu 3,1 nicht Athen gemeint ist, sondern der Abfassungsort des Briefes? Die Apostelgeschichte stellt es so dar, dass Paulus, Silvanus und Timotheus in Korinth wieder zusammentreffen (Apg 18,5). Korinth könnte daher der Abfassungsort des 1. Thessalonicherbriefes sein (vgl. den Kommentar zu 1,1). Die positiven Nachrichten des Timotheus bewirken, dass die Missionare ermutigt sind (7 7 ). Dasselbe Verb (parakale) benutzten die Verfasser, um den Auftrag des Timotheus zu beschreiben (3,2). Nun werden sie selbst ermutigt. Wiederum zeigen sich reziproke Strukturen. Diese Ermutigung ist umso wichtiger angesichts der – unspezifisch bleibenden – Not und Bedrängnisse der Missionare. Das, was so ermutigend wirkt, ist der Glaube der Gemeinde, der in betonter Endstellung steht.
1Thess 3,10–13
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Vers 8 kehrt zur Gegenwart (also der Zeit der Abfassung des Briefes) zurück. »Jetzt« leben die Missionare auf. Dem Glauben entspricht das »Feststehen im Herrn«. Diese Formulierung (vgl. Phil 4,1) bildet das Pendant zur Befürchtung, die Gemeindemitglieder könnten durch die Bedrängnisse in ihrem Glauben erschüttert werden (3,3). So heißt es in 1Kor 16,13: »Steht fest im Glauben!« Seit die Missionare wissen, dass die Gemeinde fest im Glauben steht, leben sie auf, sie fassen neuen Mut und sind von quälender Sorge befreit. Die Erleichterung mündet in Vers 9 in eine rhetorische Frage. Kein Dank ist groß genug, als dass er der Freude angesichts der positiven Entwicklung und des gegenwärtigen Zustands der Gemeinde gerecht werden könnte. Und: Dieser Dank gebührt allein Gott. Mit dem Dank lenkt der Vers den Blick zurück zur Eingangsdanksagung (1,2). 2,13 hatte diese bereits wieder aufgenommen. In 3,9 ist die Wiederaufnahme der Danksagung durch inhaltliche Anspielungen in 3,6 auf 1,2–3(.4) vorbereitet (s.o.). Die Freude angesichts der positiven Entwicklung der Gemeinde wird so zum Höhepunkt der langen Danksagung des 1. Thessalonicherbriefes. Sie umfasst die gesamte Geschichte der Gemeinde einschließlich ihrer Bedrängnisse. In 1,6 war davon die Rede, dass die Annahme des Wortes trotz großer Bedrängnis mit der Freude des heiligen Geistes erfolgte. Am Schluss der Danksagung ist nun davon die Rede, dass die Gemeinde trotz Not und Bedrängnis weiterhin fest im Herrn steht. In der Formulierung »vor unserem Gott« drückt sich die enge Verbundenheit der Missionare mit Gott aus. Die Freude hat ihren Ursprung letztlich in Gott, der hinter allem missionarischen Wirken steht, das sich auch gegen Widerstände behauptet. In Vers 10 geht die Danksagung daher folgerichtig in ein Gebet um die Zukunft der Gemeinde über. Timotheus hat im Blick auf »Glaube« und »Liebe« gute Nachrichten von der Gemeinde überbracht. Genauso wie die Missionare an die Gemeinde denken und sich nach ihr sehnen, denkt die Gemeinde – nach Darstellung der Verfasser – an die Missionare und sehnt sich nach ihnen. Ihren Dank für diese guten Nachrichten adressieren die Missionare an Gott. 3,10–13 Die Zukunft: Abschließende Fürbitte Die Verse 10–13 schauen in die Zukunft. Die drei Missionare schließen den ersten Briefteil feierlich ab. Dieser Abschluss beginnt mit dem Gebetswunsch der Verfasser, die Gemeinde wiedersehen
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1Thess 3,10–13
zu können (10–11). Sie bitten anschließend für die Gemeinde darum, dass diese in der Liebe wächst (12). Schließlich kommt mit der Parusie die eschatologische Zukunft in den Blick, bei der die Gemeinde untadelig dastehen soll. Der Abschnitt schließt mit der Fürbitte um Stärkung und Untadeligkeit der Gemeinde bei der Parusie (13). 10
Tag und Nacht bitten wir inständig darum, dass wir euch von Angesicht sehen und an eurem Glauben ergänzen, was ihm noch fehlt. 11 Er selbst aber, Gott, unser Vater, und unser Herr Jesus, möge unseren Weg zu euch lenken. 12Euch aber lasse der Herr wachsen und er schenke euch Überfluss in der Liebe zueinander und zu allen, wie auch wir sie zu euch haben. 13So sollen eure Herzen gestärkt werden und untadelig sein in Heiligkeit vor Gott, unserem Vater, wenn Jesus kommt, unser Herr, mit allen seinen Heiligen. Bisher ist die Gemeinde mehrfach (indirekt) gelobt worden: Sie ist dem Beispiel der Missionare gefolgt (1,6), sie ist ihrerseits Vorbild für andere Gemeinden (1,7), sie hat die missionarische Botschaft als Gotteswort aufgenommen (2,13), Timotheus hat positive Nachrichten über den Zustand der Gemeinde überbracht (3,6). Dennoch – so verdeutlicht der mit Vers 1 0 einsetzende Gebetswunsch – fehlt noch etwas am Glauben der thessalonischen Gemeinde. Was genau das ist, wird nicht gesagt. Dieses Defizit wird aber als Grund dafür angegeben, dass die Missionare die Gemeinde trotz des beruhigenden Berichts durch Timotheus persönlich (»von Angesicht«) sehen möchten. Tag und Nacht bitten sie darum. Aus dieser Bitte spricht eine gewisse Nachordnung des Timotheus hinter Paulus (und Silvanus). Sein persönlicher Besuch hat offenbar noch nicht »gereicht«. Konkrete Besuchspläne scheint es jedoch nicht zu geben. Vielmehr richten die Missionare ihren Wunsch an Gott und legen ihre Besuchspläne damit in Gottes Hand. in Vers 1 1 knüpft inhaltlich an Vers 10 an: Die Missionare möchten die Gemeindemitglieder wiedersehen. Gott und Jesus sollen den Weg der Missionare zur Gemeinde lenken. In 2,18 war davon die Rede, dass der Satan insbesondere Paulus daran gehindert hat, nach Thessalonich zurückzukehren. Damit mag zusammenhängen, dass die Missionare ihren Besuchswunsch in die Hand Gottes und Jesu legen. Sie mögen dafür sorgen, dass ihr Wunsch, den die Missionare sich aus eigener Kraft nicht erfüllen können, Wirklichkeit wird. Indirekt könnte das bedeuten, dass die Missionare keinen eigenen Anstrengungen mehr unternehmen, um nach Thessalonich zu kommen. Sie kündigen nicht ihre Ankunft an – wie andere Briefe das mit dem Begriff der Parusie tun (1Kor 16,17; 2Kor 7,6–7;
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10,10; Phil 1,26; 2,12) –, sondern die Ankunft des Herrn Jesus Christus (1Thess 3,13). Die eigenen Besuchspläne verblassen offenbar angesichts der unmittelbaren Parusieerwartung (4,15.17). Konsequenterweise lenken die Verfasser den Blick damit auf die (eschatologische) Zukunft (11 2). Baten die Verfasser bisher für sich, bitten sie nun für die Gemeinde. Der Vers enthält die indirekte Aufforderung an die Gemeindemitglieder, in der Liebe zu wachsen. Formuliert ist das allerdings als Fürbitte, die sich an Gott richtet. »Wachsen« und Etwas-geschenkt-Bekommen sind Vorgänge, bei denen der oder die Betroffene passiv bleibt. Während 1,3 mit der Rede von der »Mühe in der Liebe« Liebe als ein aktives (missionarisches) Tun charakterisiert (s. dort), nimmt 3,12 Liebe als ein Geschenk in den Blick. Die erwählten Gemeindemitglieder sind von Gott geliebt (1,4). Paulus, Silvanus und Timotheus haben die Thessalonicher bei ihrem Gründungsaufenthalt lieb gewonnen (2,8). Auch in 3,12 versichern die Missionare, dass sie die Gemeinde lieben. In diese Zusagen ist die indirekte Aufforderung eingebettet, andere zu lieben. Dabei ist die Differenzierung interessant, nach der es nicht nur darum geht, die Liebe zueinander zu pflegen, sondern »alle« zu lieben. Wer sind hier »alle«? In 4,9 findet sich die Differenzierung zwischen der Liebe untereinander (unter den thessalonischen Gemeindemitgliedern) und »allen Brüdern (und Schwestern)« in ganz Mazedonien. In 3,12 heißt es demgegenüber schlicht »alle«. Das ist noch umfassender gemeint als in 4,9. Es geht nicht nur um Gemeindemitglieder, wo auch immer sie wohnen mögen, sondern auch um diejenigen, »die Gott nicht kennen« (4,5). In 3,12 liegt also – anders als in 4,9 (s. dort) – keine implizite Binnenethik vor, sondern es gilt, alle zu lieben. Das erinnert an die radikale Forderung der Bergpredigt, auch die Feinde zu lieben und für die Verfolger zu bitten (Mt 5,44). Vers 1 3 gibt das Ziel dessen an, was Paulus, Silvanus und Timotheus für die Gemeinde in Thessalonich erbitten. Es geht um die Stärkung der Herzen und deren Untadeligkeit. Die Untadeligkeit ist dabei durch den Zusatz »in Heiligkeit« näher bestimmt. »Heiligkeit« bezeichnet – im Unterschied zum Prozess der »Heiligung«, die in 4,1–8 Thema sein wird (s. dort) – als nomen qualitatis die Eigenschaft des Heiligseins (vgl. Röm 1,4; 2Kor 7,1). Die Untadeligkeit in Heiligkeit markiert den Zielpunkt des Wachstumsprozesses der Gemeinde, um den die Verfasser Gott bitten. Das Handeln im Prozess der »Heiligung«, um das es in 4,1–8 gehen wird (s. dort), bestimmt sich von diesem Zielpunkt her. Untadelig waren Paulus, Silvanus und Timotheus nach 2,10, als sie bei der thessalonischen Gemeinde waren. Untadelig sollen die Gemeindemitglieder bei der Ankunft des Herrn sein (5,23). Im Blick ist also letztlich eine unta-
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delige, durch nichts gestörte, Gottesbeziehung. Impliziert die Formulierung »vor Gott« in 3,13, dass die Christinnen und Christen im Zusammenhang mit der Parusie einem göttlichen Beurteilungsgericht unterzogen werden, in dem sie dann entweder für untadelig befunden werden oder eben nicht? Eine ähnliche Frage stellte sich – ebenfalls im Zusammenhang mit der Parusie – schon im Zusammenhang mit 2,19 (s. dort). Die zugrunde liegende Vorstellung wäre dann derjenigen in 2Kor 5,10 vergleichbar, wo es heißt, dass »wir alle« »vor dem Richterstuhl Christi offenbar werden müssen, damit jede und jeder den Lohn für das erhält, was sie oder er im Leben gemacht hat, sei es gut oder schlecht«. Allerdings fehlt der Zusatz des »Richterstuhls« in 1Thess 3,13. In 2,19 ist ein entsprechendes »vor« auf Christus bezogen, in 3,13 jedoch auf Gott. Das spricht gegen eine feststehende Wendung, die das Endgericht nach den Werken meint. »Vor« taucht vielmehr auch in 1Thess 1,3 und (verkürzt) in 3,9 im Zusammenhang von Danksagung und Freude auf und bezeichnet dort die unmittelbare Nähe zu Gott. Diese Bedeutung ist wohl auch für 3,13 anzunehmen. So ergibt sich ein stimmiges Bild mit 1,10 und 4,13–18: Die Christinnen und Christen kommen nicht in das Zorngericht, sondern werden von Jesus Christus davor gerettet. Für die Christinnen und Christen ist die Parusie ein Heilsereignis. Sie kommen – ohne durch ein Gericht hindurchgehen zu müssen – direkt in die unmittelbare Gemeinschaft mit Jesus Christus (4,17) und treten untadelig vor Gott (3,13). Die Parusie wird in 3,13 beschrieben als das Kommen unseres Herrn Jesus »mit allen seinen Heiligen«. Umstritten ist, wer mit den »Heiligen« in 3,13 gemeint ist. In anderen paulinischen Briefen bezeichnet das Wort ausschließlich Menschen, genauer: Gemeindemitglieder (vgl. Röm 1,7; 1Kor 1,2; 2Kor 1,1; Phil 1,1). Dieser Sprachgebrauch legt nahe, auch in 3,13 die »Heiligen« auf Christinnen und Christen zu beziehen, die Jesus bei seiner Wiederkunft begleiten. In der Didache, einer frühchristlichen Gemeindeordnung, ist diese Vorstellung belegt (Did 16,7). Allerdings hören wir in 1Thess 4,13–18 nichts davon, dass Jesus Christus bei seiner Parusie von Christinnen und Christen begleitet wird. Die Didache bezeugt ein späteres Entwicklungsstadium, das für den 1. Thessalonicherbrief wohl noch nicht vorausgesetzt werden darf. Bezeugt ist bereits alttestamentlich die Vorstellung, dass Engel Gott begleiten (Sach 14,5; Dan 7,18ff). Das spricht für eine Deutung der »Heiligen« in 1Thess 3,13 auf Engel, auch wenn das im paulinischen Kontext ein ungewöhnlicher Sprachgebrauch ist. 1Thess 4,16 spricht von einem Erzengel, dessen Stimme bei der Parusie erschallen wird. Von weiteren Engeln ist nicht explizit die Rede. Trotzdem lässt sich 3,13 spannungsloser mit 4,13–18 in Einklang bringen, wenn die »Heili-
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gen« auf Engel und nicht auf Christinnen und Christen gedeutet werden. Die Engel unterstreichen die Herrlichkeit des wiederkommenden Herrn. Die Missionare treten in diesem Abschnitt indirekt mit großer Autorität auf. Sie erlauben sich ein Urteil über den gegenwärtigen (Glaubens-)Zustand der Gemeinde. Als Fürbittende treten sie – ebenso wie als Dankende – zwischen die Gemeinde und Gott. Die Missionare legen ihre Besuchspläne in Gottes Hand. Drückt sich darin ihre Erwartung aus, dass die Parusie unmittelbar bevorsteht? Immerhin wünschen sich die Missionare für die Gemeinde, dass diese (weiter) wächst in der Liebe – was ja durchaus Zeit beansprucht. Die ausführliche Danksagung mit ihrem ausgewählten und gedeuteten Rückblick auf die Erwählung/Bekehrung im Zuge des Gründungsaufenthalts sowie auf die Sendung und Rückkehr des Timotheus schließt mit einem Blick auf die glanzvolle Parusie Jesu Christi. 4,1 – 5,24 Paränese Mit 4,1 beginnt der zweite große Briefteil (4,1 – 5,24). Nach der langen Danksagung in 1,2 – 3,13 geht es jetzt um verschiedene Probleme, die das neue Leben für die Bekehrten mit sich bringt. Der Briefteil wird daher als paränetisch (von griechisch: paraine: auffordern, ermahnen) charakterisiert. 4,1 leitet den zweiten Teil gleich mit zwei Verben der Aufforderung ein (»wir bitten und ermahnen euch«), die in 4,10; 5,12.14 wieder aufgenommen werden. Durch die Ermahnungen beanspruchen die Missionare Autorität und besonderes ethisches Wissen für sich. Ein wichtiges Gliederungssignal in dem Großabschnitt ist das griechische Wort peri, das so viel wie »über, von« bedeutet. Es markiert in 4,9.13; 5,1 jeweils ein neues Thema innerhalb des Abschnitts. Paulus, Silvanus und Timotheus sprechen damit verschiedene Fragen an, die die Gemeinde vielleicht vorher an sie herangetragen hat – möglicherweise in schriftlicher Form oder als mündliche Anfragen, die Timotheus bei seiner Rückkehr von der Gemeinde überbracht hat (vgl. 3,6). 4,13–18 und 5,1–11 beschäftigen sich mit Fragen nach der Wiederkunft Christi und dem Tod von Gemeindemitgliedern. Sie enthalten also eine Lehre bezüglich der Eschatologie (»letzten Dinge«). Die Missionare treten hier als diejenigen auf, die mit besonderem Wissen um eschatologische Dinge ausgestattet sind. Trotzdem können auch die Abschnitte 4,13–18; 5,1–11 zum paränetischen Teil gerechnet werden. Denn sie schließen jeweils mit der Aufforderung,
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einander angesichts dessen, was Paulus, Silvanus und Timotheus ihnen schreiben, zu trösten bzw. zu ermahnen (4,18; 5,11). 4,1–8 Aufforderung zur Heiligung des Lebens Nach ein paar einleitenden Worten (4,1–2) beschäftigen sich die Verfasser zunächst mit der Heiligung der Gemeinde (4,3–8). Anschließend geht es in 4,9–12 um die geschwisterliche Liebe (philadelphia). Inhaltlich sind beide Abschnitte in spezifischer Art aufeinander bezogen: In 4,3–8 geht es um die Abgrenzung der Gemeinde nach außen (sie soll sich nicht so verhalten wie die »Heiden, die Gott nicht kennen« 4,5), in 4,9–12 um ihren Zusammenhalt nach innen. Bezieht sich die Einleitung in 4,1–2 auch auf den zweiten (und weitere) Abschnitt(e) oder nur auf 4,3–8? Die Motivstruktur und inhaltliche Beobachtungen sprechen eher für die zweite Option. Denn 4,1–8 und 4,9–12 enthalten parallele Motive: Die Ermahnung erfolgt jeweils, damit die Gemeindemitglieder in ihrem Verhalten noch vollkommener werden (4,1.10). Die Verfasser formulieren zuerst eine allgemeine Aufforderung (4,3.9), die sie dann konkretisieren (4,4.11). Anschließend motivieren sie die Gemeindemitglieder dazu, entsprechend der Ermahnung zu leben, indem sie die »Außenwirkung« dieses Verhaltens beschreiben (4,5.12). Insbesondere die Parallelität von 4,1 und 4,10 spricht dafür, 4,1–2 nur auf 4,3–8 zu beziehen. Das heißt: Das Thema der Heiligung in 4,3–8 wird nicht nur schlicht mit peri, sondern ausführlich in 4,1–2 eingeleitet. Diese Besonderheit könnte darauf hinweisen, dass wir es bei der Heiligung – anders als bei den folgenden Themen – nicht mit einer Anfrage aus der Gemeinde zu tun haben. Die Verfasser verhandeln hier ein grundsätzlicheres Thema, das sie an den Anfang des paränetischen Teils stellen. Immerhin haben wir hier den einzigen Abschnitt im Neuen Testament, der die Heiligung (hagiasmos) der Christinnen und Christen ausdrücklich zum Thema macht. In diesem Zusammenhang taucht dann auch die Gerichtsvorstellung auf, die der Paränese in 4,1–8 zusätzlich besonderes Gewicht verleiht. 1
Im Übrigen, Brüder (und Schwestern), bitten und ermahnen wir euch im Namen Jesu, des Herrn: Wie ihr von uns gelernt habt, wie ihr leben müsst, um Gott zu gefallen – und so lebt ihr (ja auch) – damit ihr darin noch vollkommener werdet! 2Ihr wisst ja, welche Anordnungen wir euch im Namen Jesu, des Herrn, gegeben haben. 3 Dies ist nämlich der Wille Gottes, eure Heiligung, dass ihr euch von
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Unzucht fernhaltet 4dass jeder (und jede) von euch lernt, das Gefäß (des eigenen Körpers) in Heiligkeit und Ehre zu halten, 5nicht in leidenschaftlicher Gier wie die Heiden, die Gott nicht kennen. 6Niemand soll zu weit gehen und seinen Nächsten im Handel übervorteilen; denn Gott bestraft all diese Vergehen, wie wir euch schon früher gesagt und bezeugt haben. 7Denn Gott hat uns nicht zu einem Leben in Unreinheit berufen, sondern zu einem Leben in Heiligung. 8 Wer das verwirft, der verwirft nicht einen Menschen, sondern Gott, der euch seinen heiligen Geist gibt. Paulus, Silvanus und Timotheus reden die Gemeindemitglieder wieder mit »Brüder« an (1 1 ). Inwieweit in diesem Abschnitt die weiblichen Gemeindemitglieder mit gemeint sind, hängt mit der Auslegung von 4,4 zusammen (s. dort). Die Ermahnungen ergehen »im Namen Jesu, des Herrn«. Die Missionare beanspruchen an dieser Stelle also jesuanische Autorität. Bei der Befolgung der ethischen Richtlinien geht es um nicht weniger als darum, Gott zu gefallen. Diese Formulierung erinnert an den Vorwurf gegenüber »den Juden« in 2,15, sie würden Gott nicht gefallen. Die Parallele markiert einerseits eine Abgrenzung gegenüber »den Juden«. Im Blick ist hier aber (auch) die Abgrenzung gegenüber den Heiden als denen, »die Gott nicht kennen« (4,5). Der Zusammenhang von 4,1.5 und 2,15 lässt vermuten, dass sich die Gemeindemitglieder in Thessalonich als neu bekehrte Anhängerinnen und Anhänger einer monotheistischen Religion von Seiten »ihrer [heidnischen] Landsleute« (vgl. 2,14) dem Vorwurf ausgesetzt sahen, den Göttern (und insbesondere der Stadtgottheit Kabirus) nicht zu gefallen. Das klingt in 4,1 aber nur an. Der Fokus liegt hier auf der Zusicherung an die Gemeinde, dass sie bereits so lebt, wie sie es von Paulus, Silvanus und Timotheus gelernt hat. Die Verfasser wählen eine konziliante Form der Aufforderung und verbinden sie mit der Zusicherung, dass die Gemeinde bereits auf dem richtigen Weg ist. Sie soll sich (lediglich) weiter verbessern. Bevor die Verfasser (indirekt) einzelne Ermahnungen formulieren, charakterisieren sie diese als gemeinsames Fundament, auf dem sie und die Gemeinde stehen. Denn die Gemeinde weiß eigentlich bereits, wie sie leben soll (2 2 ). Paulus, Silvanus und Timotheus haben ihnen die Ermahnungen schon »im Namen Jesu, des Herrn« gegeben. Dadurch erinnern die Verfasser einerseits an ihre Legitimierung durch Jesus Christus, andererseits an das, was sie mit der Gemeinde verbindet. Sie implizieren, dass das, was nun folgt, durch Jesus legitimiert und von der Gemeinde bereits anerkannt ist. Sie gestalten die ethische Unterweisung als Vergegenwärtigung gemeinsamen ethischen Wissens.
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Vers (33 a ) gibt das Thema des ersten Abschnitts an: Es geht um die »Heiligung« (hagiasmos) der Gemeinde. Das griechische Wort, das neutestamentlich recht selten bezeugt ist (vgl. 1Kor 1,30; Röm 6,19.22; 2Thess 2,13; 1Tim 2,15; Hebr 12,14; 1Petr 1,2), taucht in unserem Abschnitt gleich dreimal auf; nämlich in 1Thess 4,3.4 und 7. In 4,8 findet sich ein Wort desselben Wortstammes, wenn vom heiligen Geist die Rede ist. Von dem kurzen Hauptsatz in 3a ist dann ein langes Satzgefüge abhängig, das bis Vers 6 reicht. Gott will die Heiligung der Gemeinde – so der Hauptsatz in 3a. Hier klingt alttestamentliche Tradition an: In Lev 20,26 sagt Gott seinem Volk zu, dass es ihm heilig ist und dass er es von den an deren Völkern abgesondert hat. Dieser Gedanke der privilegierten Absonderung bzw. Abgrenzung schwingt auch in 1Thess 4,3–8 mit, wie 4,5 deutlich macht. Anschließend entfalten Paulus, Silvanus und Timotheus, was Heiligung für die Gemeinde in Thessalonich konkret bedeutet. Sie formulieren also keine expliziten Ermahnungen, sondern beschreiben, wie sich die Heiligung der Gemeinde, die Gottes Willen entspricht, in ihrem Lebenswandel äußert bzw. äußern soll. Dabei geht es einerseits um Unzucht (3b–5), andererseits um Übervorteilung (6). Die erste Forderung, sich von Unzucht fernzuhalten, ist dabei noch recht allgemein gehalten (33 b). Unzucht (porneia) ist im jüdisch-christlichen Traditionsbereich eine Sammelbezeichnung für verbotenen Sexualverkehr. Jede Form vor- und außerehelichen Geschlechtsverkehrs fällt darunter. Porneia gilt als die Sünde der Heiden schlechthin (vgl. z.B. Weish 14,22ff; Jub 22,16–18; Kol 1,21; 2,13; 1Petr 1,14; 4,3–4). Dass Paulus der Unzucht als Sünde einen hohen Stellenwert einräumt, zeigt auch die Beobachtung, dass sie in sogenannten Lasterkatalogen, die diverse Sünden aufzählen, mehrfach an erster Stelle erscheint (vgl. 1Kor 5,10.11; 6,9; Gal 5,19). Das sogenannte Aposteldekret, das die Apostelgeschichte mit dem Apostelkonzil in Jerusalem (48 n.Chr.) verbindet, fordert von Heiden, die sich bekehren, dass sie sich von Unzucht fernhalten (Apg 15,29). Die Frage der Unzucht spielt also auch bei der Frage des Zusammenlebens von Juden- und Heidenchristen eine wichtige Rolle. Heiden müssen sich im Rahmen ihrer Bekehrung zwar nicht beschneiden lassen (vgl. Gal 2,6; Apg 15,19), sie werden aber in sexueller Hinsicht auf »jüdische Maßstäbe« verpflichtet. Das wirft die Frage auf: Lebten die Heiden tatsächlich so »unzüchtig«? Ein wesentlicher Aspekt, der wohl auch in 1Thess 4,3b–4 eine Rolle spielt, besteht darin, dass Prostitution in der damaligen nicht-jüdischen Gesellschaft weithin akzeptiert war. Insofern impliziert die Aufforderung an Heidenchristinnen und Heidenchristen, sich von Unzucht fernzuhalten, wohl tatsächlich,
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dass sie ihre bisherigen Moralvorstellungen und vielleicht auch ihren bisherigen Lebensstil verändern. Dieser Gedanke der Abgrenzung ist in Vers 5 explizit formuliert. Vorher aber wird die Aufforderung, sich von Unzucht fernzuhalten, wiederum konkretisiert. Wir haben es also in 3a–4 in doppelter Hinsicht mit einem Fortgang vom Allgemeinen zum Speziellen zu tun: Von der Heiligung der Bekehrten als Gottes Wille (3a) zum Fernhalten von Unzucht (3b) und weiter zu dem, was das genau bedeutet (4–5). Vers 4 spezifiziert, was hier mit »Unzucht« gemeint ist. Der griechische Vers wird sehr unterschiedlich übersetzt. Diese Bandbreite hat sprachlich eine doppelte Ursache: Erstens benutzen die Verfasser den griechischen Begriff skeuos, der wörtlich »Gefäß« bedeutet. Die Verfasser gebrauchen den Begriff an dieser Stelle metaphorisch – aber wie genau? Meinen sie den Körper des Menschen (vgl. Apg 9,15), der der Seele als Gefäß dient (vgl. 1Thess 5,23)? Oder meinen sie an dieser Stelle die Frau (vgl. 1Petr 3,7), in die hinein sich der männliche Same – wie in ein Gefäß – ergießt? Zweitens wird diskutiert, ob sich die verwendete Verbform ktasthai im Sinne einer andauernden Handlung (durativ) verstehen lässt, oder ob mit ihr der Beginn einer Handlung beschrieben wird (ingressiv). Deutet man skeuos als Frau und versteht das Verb ingressiv, so ergibt sich die Bedeutung »für sich eine Frau gewinnen«. Die Verfasser würden die unverheirateten Männer dazu auffordern, sich eine Ehefrau zu suchen (und nicht mehr zu Prostituierten zu gehen). Bei einem durativen Verständnis verschiebt sich der Akzent etwas. Es ginge nicht um die Frage der Eheschließung, sondern um die Frage der Eheführung: Der Mann soll seine Ehefrau (erneut) für sich gewinnen – etwa indem er ausschließlich mit ihr Geschlechtsverkehr hat. Die Aussage verschiebt sich, wenn wir skeuos im Sinne von »Körper« verstehen. Diese Deutung verbindet sich in der Regel mit einem durativen Verständnis der Verbform, sodass sich als Aussage ergibt: »den eigenen Körper (sexuell) kontrollieren«. Damit könnte sexuelle Enthaltsamkeit gemeint sein. Propagieren Paulus, Silvanus und Timotheus hier also dafür, keinen Geschlechtsverkehr außerhalb der Ehe zu haben, oder fordern sie – radikaler – absolute Enthaltsamkeit? Mir scheint eine Deutung von skeuos auf den Körper an dieser Stelle wahrscheinlicher zu sein, und zwar aufgrund der inhaltlichen Parallele in 1Thess 5,23, die – allerdings mit abweichender Begrifflichkeit – zwischen Geist, Seele und Leib unterscheidet. Die Anrede »Brüder« in 4,1 könnte dann auch an dieser Stelle inklusiv gelesen werden: Männer und Frauen sollen ihren Körper sexuell kontrollieren. Das indirekt geforderte Verhalten soll in Heiligkeit (hagiasmos) und Ehre geschehen. Mit hagiasmos taucht der Begriff aus der Überschrift in 3a nochmals auf.
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5 ), So unsicher die genaue Bedeutung von Vers 4 bleibt, deutlich ist (5 gegen was und gegen wen sich das geforderte Verhalten abgrenzt: Dem Fernhalten von Unzucht steht die leidenschaftliche Gier/Lust/ Begierde (epithymia) gegenüber, die nach Vers 5 die Heiden kennzeichnet (vgl. Röm 1,26). Gemäß der stoischen Affektenlehre ist die epithymia eine der vier Hauptaffekte, die es im Sinne eines tugendhaften Lebens zu kontrollieren gilt. Die Heiden zeichnen sich nach 1Thess 4,5 zudem dadurch aus, dass sie Gott nicht kennen. In dieser Begrifflichkeit spricht schon das griechische Alte Testament von den Nicht-Juden (Jer 10,25; Ps 78,6). Die Gemeinde hingegen kennt den Willen Gottes, der nach 1Thess 4,3–4 ja in der Heiligung und damit im Fernhalten von Unzucht besteht. Das heißt: Paulus, Silvanus und Timotheus knüpfen »gutes« ethisches Verhalten an die Kenntnis (des Willens) Gottes. Oder anders herum formuliert: Die Kenntnis (des Willens) Gottes zeigt sich im ethischen Verhalten. Vers 6a formuliert nicht mehr, was die Gemeinde tun soll (sich von Unzucht fernhalten), sondern sie gibt an, was die Adressatinnen und Adressaten nicht tun sollen (den Nächsten übervorteilen). Inhaltlich ist die Art des Anschlusses von 6a an 3b–5 umstritten: Wird hier die Thematik der Unzucht weitergeführt oder geht es um einen neuen Aspekt? Die Unsicherheit ergibt sich aus der Bedeutungsvielfalt des griechischen Wortes pragma, das in 6a auftaucht. Es kann sich grundsätzlich auf die vorhergehende Sache bzw. das vorige Thema beziehen, hier also auf die Unzucht. Dann könnte 6a darauf abheben, dass Männer ihre Brüder (also ihre Nächsten) nicht übervorteilen und ihre Ehen achten; konkret: dass sie nicht mit der Ehefrau eines anderen Geschlechtsverkehr haben. Gegen diese Deutung spricht allerdings das Verb pleonektein. Es meint das Streben nach materiellen Gütern und hat keine sexuellen Konnotationen. Ausgehend von pleonektein muss pragma daher m.E. hier im Sinne von »Geschäft«, »Handel« verstanden werden. 4,6a spricht demnach einen zweiten Aspekt neben der Unzucht an. Das Streben nach materiellen Gütern ist in 4,6a auf den »Bruder«, also den Nächsten, bezogen. Es geht also um die Übervorteilung des Nächsten auf materiellem Gebiet. Mit anderen Worten: Es geht um Habgier. In einer noch spezielleren Bedeutung meint pragma den Streit vor Gericht. In diesem Sinne ist das Wort in 1Kor 6,1 gebraucht. Für diese Deutung auch in 1Thess 4,6a könnte sprechen, dass in 6b von Gott als Richter über alle Dinge die Rede ist. Vielleicht schwingt der Gerichtsaspekt in 6a tatsächlich mit. Inhaltlich liegt er nahe. Denn wenn ich jemand anderen (materiell) übervorteile, tue ich ihm Unrecht. Dieses Unrecht ist allerdings nicht auf Fragen des Rechtsstreites einzugrenzen. Gemeint ist insgesamt die Gefährdung der sozialen Eintracht (in der Gemeinde). Versteckte Habgier haben
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Paulus, Silvanus und Timotheus bereits in 1Thess 2,5 angesprochen und explizit von sich gewiesen. Habgier als Laster begegnet paulinisch auch in Röm 1,29; 1Kor 5,10–11; 6,10. Unzucht und Habgier gelten in frühjüdischen (vgl. z.B. TestLev 14,5–6; TestDan 5,5–7) und neutestamentlichen (Kol 3,5; Eph 5,3.5; 2Petr 2,14) Texten mehrfach als die Laster schlechthin, die das Leben derer, die Gott nicht kennen, charakterisieren. Besonders eindrücklich ist hier Offb 17; 18. Der Seher Johannes stellt die Weltmacht Rom als Hure (Babylon) dar, die prachtvoll gekleidet und geschmückt ist und deren Untergang insbesondere die reichen Kaufleute bitter beweinen. Die Adressatinnen und Adressaten hingegen werden dazu aufgefordert, die Stadt zu verlassen, damit sie nicht mitschuldig werden an ihren Sünden (Offb 18,4). Paulus, Silvanus und Timotheus etablieren in 1Thess 4,3–6 also mit der Aufforderung, Unzucht und Habgier zu meiden, in jüdischer Tradition herausragende Unterscheidungsmerkmale, in denen sich das Leben der Neubekehrten von demjenigen der Heiden unterscheidet bzw. unterscheiden soll. Das gilt ungeachtet der Tatsache, dass Habgier auch in antiker Tradition als Sünde galt (z.B. Platon, Kriton 121B; Aristoteles, Pol V,2,4). Trotzdem etablieren Paulus, Silvanus und Timotheus auch die Habgier als Unterscheidungsmerkmal zu den Heidinnen und Heiden. Hierin zeigt sich das Interesse an klarer Abgrenzung gegenüber denjenigen, »die Gott nicht kennen«. Diese Abgrenzung muss sich (auch) auf der Ebene des Verhaltens zeigen. Der Aspekt der Abgrenzung erhält dadurch besonderes Gewicht, dass »der Herr« (kyrios) anschließend als Richter in Erinnerung gerufen wird (6 6 b). Anders als in 1,10 und 2,14–16 steht das Gericht hier nicht betont am Ende eines Sinnabschnittes, sondern es taucht mittendrin, im Zusammenhang mit der Abgrenzung von den Heiden, auf. Das griechische Wort ekdikos bezeichnet den Richter als Rächer, als den, der Vergehen bestraft (vgl. Röm 13,4; 2Kor 10,6). Es geht also nicht um die Vorstellung einer Belohnung (von guten Taten) im Gericht, sondern nur der Gedanke der Bestrafung ist im Blick. Die allgemeine Formulierung »das alles« bezieht sich zurück auf Unzucht und Habgier als den (heidnischen) Lastern schlechthin. Sie werden im Gericht vom Herrn bestraft. Zwei Fragen sind in diesem Zusammenhang umstritten: Wer ist mit dem »Herrn« gemeint – Gott oder Jesus Christus? Und: Handelt es sich um das heilsrelevante Endgericht oder um innerweltliche Strafen, die die Frage des endgültigen Heils nicht berühren? Zunächst zur ersten Frage: Für den Bezug von »Herr« auf Jesus Christus in 4,6b könnte sprechen, dass Vers 7 nicht mit »er« anschließt, sondern Gott explizit (als gegenüber 6b neues Subjekt) eingeführt wird. 4,1 betitelt Jesus Christus als »Herrn«. Allerdings ist von Jesus Christus in
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4,3–8 (explizit) nicht die Rede, sondern nur von Gott. Nach 1,10 hat der Sohn Gottes beim Endgericht eine andere Rolle: Er bestraft nicht, sondern rettet die Seinen vor dem göttlichen Zorn. Das spricht eher dafür, den »Herrn« in 4,6b auf Gott zu beziehen. Allerdings ist auch umstritten, ob es sich in 4,6b überhaupt um das Endgericht handelt, sodass fraglich ist, ob 1,10 als Parallele herangezogen werden darf. Im Zusammenhang mit 2,14–16 haben wir schon gesehen, dass die frühjüdische Tradition neben dem göttlichen Endgericht auch die Vorstellung innerweltlicher göttlicher Strafen kannte, die noch nicht endgültig über Heil oder Unheil entschieden. In 1Kor 11,29–32 findet sich diese Vorstellung einer innerweltlichen Züchtigung von Gemeindemitgliedern durch Gott in paulinischem Kontext. Ist sie auch in 1Thess 4,6b gemeint? Dafür könnte sprechen, dass der Begriff des »Zorns« hier – anders als in 1,10; 2,14–16 und 5,9 – nicht vorkommt und dass der Gerichtsgedanke – ebenfalls im Unterschied zu 1,10 und 2,14–16 – nicht in betonter Endstellung auftaucht. Dagegen könnte sprechen, dass die Vorstellung einer innerweltlichen Züchtigung ansonsten im 1. Thessalonicherbrief nicht vorkommt. Die Relevanz dieser Frage ist erheblich: Denn Paulus, Silvanus und Timotheus führen hier aus, was (ethisch) unter der Heiligung (4,1.4) zu verstehen ist. Sie sprechen also von und zu den Gemeindemitgliedern. Wenn in 4,6b das Endgericht gemeint ist, bedeutet das, dass die Gemeindemitglieder ihre Rettung vor dem kommenden Zorn (vgl. 1,10) riskieren, wenn sie Unzucht treiben und habgierig sind. In dem Fall müssen sie damit rechnen, dass der Herr ihnen gegenüber im Endgericht als Rächer auftreten wird. Die Ermahnung hätte also nicht nur ethische, sondern auch soteriologische (die Frage der Rettung vor dem göttlichen Zorn betreffende) Bedeutung. Wenn in 4,6b hingegen innerweltliche Züchtigung gemeint ist, steht die Heiligung – und damit die Rettung vor dem göttlichen Zorn – nicht zur Disposition; sie kann durch schlechtes ethisches Verhalten nicht »verwirkt« werden. Es geht dann etwa um die Frage, ob Gemeindemitglieder, die ihren Nächsten habgierig übervorteilt haben, mit weniger Ehre in die Gemeinschaft mit Jesus Christus aufgenommen werden (vgl. 4,17). In jedem Fall hat die Aussage in 4,6b nicht nur eine warnende, sondern auch eine tröstende Funktion. Denn sie versichert den Gemeindemitgliedern, dass Unzucht und Habgier – die ja primär das Verhalten derjenigen kennzeichnen, die Gott nicht kennen – nicht ungesühnt bleiben. Diese Gewissheit konnte die Neubekehrten in ihrer neuen Lebenslage, in der sie sich wahrscheinlich dem Spott durch ihre (heidnischen) Landsleute ausgesetzt sahen (vgl. 2,14–16), ermutigen und bestärken.
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Vers 7 schlägt mit der »Heiligung« einen Bogen zu Vers 3 und leitet den Schluss dieses Abschnitts ein. »Unrein« und »heilig« sind sonst Begriffe, die sich in kultischen Kontexten gegenüberstehen. Hier sind sie in einen ethischen Kontext transferiert. Von der Berufung der Gemeinde war schon in 2,12 die Rede (s. dort). Sie wird hier in ihrer Ausrichtung negativ und positiv beschrieben. »Unreinheit« (akatharsia) meint den sexuellen Bereich – wovon ja gerade die Rede war (4,4–5) – geht aber darüber hinaus. In 2,3 sprechen die Missionare sehr allgemein davon, dass sie nicht aus einer unreinen Gesinnung (ex akatharsias) heraus handeln. Dasselbe breite Bedeutungsspektrum ist für 4,7 anzunehmen. Ein Leben in »Unreinheit« ist das, was diejenigen kennzeichnet, »die Gott nicht kennen« (4,5), nach 4,4–6 also insbesondere Unzucht und Habgier. Demgegenüber sind die Gemeindemitglieder berufen zu einem Leben in Heiligung, also nach Gottes Willen (vgl. 4,3). Abschließend (8 8 ) reflektieren die Missionare den Fall, dass irgendjemand die indirekten Aufforderungen aus 4,3b–6 nicht anerkennt. Diese Nicht-Anerkennung würde sich nicht gegen (einen) Menschen richten – also nicht gegen Paulus, Silvanus oder Timotheus, sondern gegen Gott. Denn es geht um Gottes Willen (4,3). Das an die Missionare ergangene Wort ist nicht Menschenwort, sondern Gotteswort (2,13). Gott ist derjenige, der den heiligen Geist gibt. Die Gabe des heiligen Geistes steht offenbar mit konkretem Verhalten in Verbindung (vgl. 1Kor 6,19; Gal 5,16–25). Die Art dieser Beziehung lassen die Verfasser unausgesprochen. Es liegt aber nahe, in der Gabe des heiligen Geistes die Befähigung dazu zu sehen, in Heiligung zu leben (vgl. 1Thess 1,6). Ähnlich formuliert Ez 36,27: »Ich [der Herr] will meinen Geist in euch [Israel] legen und will bewirken, dass ihr meinen Gesetzen folgt und auf meine Gebote achtet.« Bei Ezechiel wird diese Gabe erst für die eschatologische Zukunft erwartet. Paulus, Silvanus und Timotheus beziehen sie in 1Thess 4,8 auf die Gegenwart und qualifizieren diese so als eschatologische (Heils-)Zeit, die allerdings auch unter dem Zeichen der (noch unerfüllten) Hoffnung auf die Parusie steht. In 4,1–8 formulieren Paulus, Silvanus und Timotheus indirekte Aufforderungen. Sie qualifizieren diese als Wille Gottes und betonen, dass die Gemeinde schon auf einem guten Weg sei und es (nur) darum gehe, noch vollkommener zu werden. Die indirekten Aufforderungen markieren eine deutliche Abgrenzung gegenüber denjenigen, die »Gott nicht kennen«. Sie dienen also auch der Stärkung der Gruppenidentität. Die Warnung vor Habgier in geschäftlichen Angelegenheiten ist heute angesichts der Finanzkrise hochaktuell, auch wenn sie im 1. Thessalonicherbrief auf einer individuellen Ebene
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formuliert ist. Die Verurteilung von Prostitution mag heute – insbesondere angesichts des modernen Menschenhandels junger Frauen – ebenfalls spontane Zustimmung finden. Schwieriger wäre es da schon mit der Aufforderung, sexuell enthaltsam zu leben (sollte das denn gemeint sein) oder sich nicht in sexueller Lust zu ergehen. Die Brandmarkung sexueller Lust als Sünde hat durchaus christliche Tradition. Die grundlegende Frage, wie wir unserem Körper die Ehre erweisen können und sollen, ist angesichts von Körperkult, Magerund Drogensucht, Organspende und Lebensmittelskandalen allerdings hochaktuell. Die Vorstellung von Gott als Vergelter oder sogar Rächer von Vergehen (4,6) mag uns heute problematisch erscheinen, insbesondere dann, wenn sie dazu benutzt wird, ethischen Forderungen Nachdruck zu verleihen. Bedenkenswert ist jedoch die Frage nach dem Zusammenhang von Berufung und Lebenswandel. Sicherlich wäre es zu begrüßen, wenn sich am Lebenswandel eines Menschen ablesen ließe, ob er christlich ist oder nicht. Muss das aber sein? Wie stellt Gott sich dazu, wenn es nicht so ist? 4,9–12 Aufforderung zur Vervollkommnung der geschwisterlichen Liebe 9
Von der geschwisterlichen Liebe aber ist es nicht nötig, euch zu schreiben, denn Gott hat euch selbst gelehrt, einander zu lieben, 10 und danach handelt ihr auch an allen Brüdern (und Schwestern) in ganz Mazedonien. Wir ermahnen euch aber, Brüder (und Schwestern), darin noch vollkommener zu werden, 11und eure Ehre darin zu suchen, euch ruhig zu verhalten und euch um eure eigenen Aufgaben zu kümmern und mit euren Händen zu arbeiten, wie wir es euch angeordnet haben, 12damit ihr ein anständiges Leben führt gegenüber den Außenstehenden und auf niemanden angewiesen seid. In Vers 9 setzen die Verfasser – durch peri (über, von) markiert – mit einem neuen Thema ein: der geschwisterlichen Liebe (philadelphia). Der Wortstamm phil- ist im profanen Griechisch weit verbreitet, im Neuen Testament tritt er gegenüber dem Begriff der agap zurück. Phileo hat im profanen Griechisch eine große Bedeutungsvielfalt: Das Verb kann mit »helfen«, »beistehen«, »sorgen für« übersetzt werden, es kann aber auch – anders als agap – die sinnliche Liebe meinen. Für den neutestamentlichen Gebrauch ist bei philadelphia der genuin griechische Gedanke der Freundschaft (philia) zentral, also einer sehr engen Verbindung zwischen Menschen, die nicht miteinander verwandt sind. Der in 4,9 verwendete Begriff der philadelphia könnte bei den heidenchristlichen
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Adressatinnen und Adressaten Assoziationen an dieses antike Freundschaftsideal hervorrufen. Der Begriff ist jedenfalls in hohem Maß anschlussfähig an das antik-griechische Ethos und konnte so auch »werbewirksam« sein. Die Verfasser setzen in 4,9 die philadelphia mit »einander lieben« (agapn) gleich. Sie knüpfen damit an ihre indirekte Aufforderung aus 3,12 an (s. dort). Dort ging es um die Liebe »zueinander und zu allen«. Der Zusatz »und zu allen« fehlt in 4,9. Hier ist stattdessen in Vers 10 von den »Brüdern (und Schwestern) in Mazedonien« die Rede. Diese Differenzierung lässt darauf schließen, dass die Lehre, »einander zu lieben«, in 4,9 auf die Liebe unter den Gemeindegliedern (in Thessalonich und darüber hinaus in ganz Mazedonien) zielt. Sie repräsentiert Binnenethik. Ein ähnliches Konzept findet sich alttestamentlich in der Aufforderung, den Nächsten zu lieben (Lev 19,18). Als Nächster gilt jedes Mitglied aus dem Volk Israel. Der Nächste kann auch als Bruder bezeichnet werden (Tob 4,13). Doch überschreitet das griechische Konzept der philia, das in der philadelphia anklingt, ethnische Grenzen: Die geschwisterliche Liebe kann jedem und jeder unabhängig von ihrer ethnischen (oder sozialen) Zugehörigkeit gelten. Weist das peri darauf hin, dass die Gemeinde bezüglich der philadelphia eine konkrete Anfrage an die Missionare gerichtet hat? In dem Fall würden die Verfasser diese Anfrage zwar aufgreifen, jedoch so, dass sie versichern, es sei nicht nötig, darüber zu schreiben. Insofern können wir die Anfrage auch nicht konkreter rekonstruieren. Die Funktion der Aussage besteht jedenfalls nicht darin, die Adressatinnen und Adressaten genauer über die philadelphia zu informieren. Sie zielt vielmehr darauf ab, die Gemeinde zu bestärken, und zwar in doppelter Hinsicht: Einerseits weiß die Gemeinde bereits alles über die philadelphia. Denn die Gemeinde ist bereits darin belehrt worden, sich untereinander zu lieben – und zwar nicht von irgendwem, auch nicht von den drei Missionaren (vgl. 2,13), sondern von Gott selbst! Die Gemeindemitglieder sind Schülerinnen und Schüler Gottes (vgl. Jes 54,13; Jer 31,34). Daraus spricht eine hohe Auszeichnung für die Gemeinde, die vielleicht mit ihrer Geistbegabung in Zusammenhang steht (1Thess 4,8). Die Gottgelehrtheit markiert einen prägnanten Unterschied zu denjenigen, »die Gott nicht kennen« (4,5). Andererseits praktiziert die Gemeinde die philadelphia bereits (1 1 0a), und zwar nicht nur in Thessalonich, sondern auch mit den Brüdern und Schwestern in Mazedonien. Ging es in 1,6–10 um den Glauben der Gemeinde, der nach Mazedonien und in die Achaja ausstrahlt, geht es hier um die Praxis, die ebenfalls die Gemeinden in der (gesamten) Provinz Mazedonien beeinflusst. Konkret wissen wir von einer Gemeinde in Philippi, wahrscheinlich gab es auch eine in Beröa (vgl. Apg 20,4).
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1Thess 4,9–12
Der Vers erweckt zumindest den Eindruck, dass diese urchristlichen Gemeinden zur Abfassungszeit des 1. Thessalonicherbriefes in engem Kontakt standen und es keine nennenswerten Spannungen zwischen ihnen gab. Hieß es in 4,9, dass es nicht nötig sei, von der geschwisterlichen Liebe zu schreiben, so setzt 1 0b mit der (neuerlichen) Anrede »liebe Brüder (und Schwestern«) und dem Verb »ermahnen« (parakale) neu ein. Dieser Aspekt wird am Ende von Vers 11 mit der Formulierung »wie wir es euch aufgetragen haben« nochmals aufgegriffen. Die Doppelung könnte darauf hinweisen, wie wichtig den Verfassern die Ermahnungen sind. Offenbar gibt es also doch etwas, was die Missionare meinen anmahnen zu müssen. 4,10b zielt zunächst allgemein darauf, dass die Gemeinde noch vollkommener wird (vgl. 4,1). Was das in diesem Fall konkret bedeutet, expliziert Vers 1 1. Die Konkretion in 4,11 enthält drei Elemente: Die Gemeinde soll ruhig leben, sie soll sich um die eigenen Aufgaben kümmern und sie soll mit den (eigenen) Händen arbeiten. In diesen Tätigkeiten soll sie ihre »Ehre« suchen. Wie sind die einzelnen Anordnungen zu verstehen? Diese Frage entscheidet sich wesentlich daran, ob man 4,11 im weiteren Kontext von 4,13–18 interpretiert oder im engeren Kontext von 4,9–12. Die Parusieschilderung in 4,13–18 zeugt von extremer Naherwartung. Versteht man die Aufforderungen in 4,11 im Horizont dieser eschatologischen Naherwartung, dann liegt die Vermutung nahe, dass die Gemeindemitglieder angesichts der Parusie, die sie fast täglich erwarteten, aufgehört hatten, ihrer geregelten Arbeit nachzugehen und so für die Sicherung ihres Lebensunterhaltes zu sorgen (4,12). Vielleicht versuchten sie stattdessen frenetisch, ihre Mitmenschen zu missionieren und mischten sich in deren Angelegenheiten. Und vielleicht betonen die Missionare deshalb, dass es möglich ist, missionarische Tätigkeit und Sicherung des Lebensunterhaltes zu vereinbaren (2,9). Allerdings klingen in Vers 11 keine eschatologischen Motive an. 4,13 setzt neu ein und stellt keine Verbindung zu 4,9–12 her. Insofern empfiehlt es sich m.E., den Abschnitt für sich sprechen zu lassen und 4,11 von 4,10b und von 4,12 (s.u.) her zu interpretieren. Die drei Aufforderungen stehen nicht für sich, sondern sie sind gerahmt. Einerseits sollen die Gemeindemitglieder Ehrgeiz entwickeln, Ehre suchen (10b). Es geht bei den geforderten Tätigkeiten um ihre Achtung vor sich selbst. Andererseits sollen sie vor den Außenstehenden ein rechtschaffenes Leben führen. Es geht also auch um ihr Ansehen vor der paganen Umwelt. Ein ruhiges Leben ist dann am ehesten eines, das bei »den Außenstehenden« möglichst wenig Anstoß erregt. Die eigenen Angelegenheiten bestehen vor allem darin, für den eigenen Lebensunterhalt zu sorgen, sodass
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die Gemeindemitglieder auf niemanden angewiesen sind. Die Sicherung des Lebensunterhaltes erfolgt durch die Arbeit mit den eigenen Händen. Vielleicht vollzog sich der Rückzug aus dem geregelten Arbeitsleben nicht im Vorgriff auf die Parusie, sondern als Folge der Bekehrung. Denkbar ist, dass die Bekehrten nicht mehr an Feiern mit religiös-kultischen Obertönen teilnehmen wollten. Solche Feiern wurden z.B. von Handwerksvereinen veranstaltet. Diese Haltung konnte Arbeitsbeziehungen beschädigen. Vielleicht legen die Verfasser deshalb Wert darauf, dass sich die Adressatinnen und Adressaten um ihre eigenen Aufgaben kümmern und die Kontakte nicht durch mangelhaftes Arbeitsverhalten weiter beschädigen. Wie gravierend die Missstände in Thessalonich tatsächlich waren, wissen wir nicht. Vielleicht hat Timotheus an diesem Punkt beunruhigende Nachrichten gebracht (vgl. 3,5–6). Insgesamt jedoch waren seine Nachrichten nach Aussage der drei Missionare gut (3,6). Bisher ist die Gemeinde wiederholt für ihren Glauben und ihr Verhalten gelobt worden (4,1.10; vgl. 3,12). In 4,9–12 geht es darum, dass sie »noch vollkommener« werden soll. Insgesamt lässt das nicht auf gravierende Missstände schließen. Vers 1 2 gibt die Zweckbestimmung der Ermahnungen an. Die Gemeindemitglieder sollen ruhig leben, sich um ihre eigenen Aufgaben kümmern und mit den (eigenen) Händen arbeiten, damit sie gegenüber den Außenstehenden ein rechtschaffenes Leben führen und auf niemanden angewiesen sind. Wie in 4,5 arbeiten die Verfasser mit der Unterscheidung zwischen den Gemeindemitgliedern (die »drinnen« sind) und denen, »die Gott nicht kennen« (4,5), also den Außenstehenden (4,12). In Fragen der Sexualmoral ziehen die Missionare eine deutliche Trennlinie zwischen beiden Gruppen: Die Gemeindemitglieder sollen sich deutlich von der Umwelt abgrenzen, indem sie sich von Unzucht fernhalten. Ganz anders hier: In Fragen der Arbeitsmoral sollen sich die Gemeindemitglieder die ethischen Maßstäbe der Umwelt (wie vor ihrer Bekehrung, also weiterhin) zu Eigen machen. Das (positive) Urteil der Außenstehenden über das Verhalten der Gemeindemitglieder ist hier offenbar von Bedeutung. Denen »draußen« gestehen die Missionare in Fragen der Arbeitsmoral ein gültiges Urteil zu. Denn – so kann man schließen – an diesem Punkt ist der Wille Gottes (4,1–3a) vereinbar mit dem antiken Ethos. Die kynisch-stoische Popularphilosophie hielt die Arbeit für die Bestimmung des Menschen. Menschen, die nicht ihrer Arbeit nachgingen, galten daher als diskreditiert. 1Thess 4,12 gibt keine explizite profane oder auch alttestamentlichjüdische Normenbegründung an, etwa im Zuge von Gen 2,15, also der Aufforderung Gottes an den Menschen, den Garten Eden zu
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bebauen und zu bewahren, sondern eine Zweckbestimmung: Es geht bei der Arbeitsmoral um das Ansehen der Gemeinde in ihrem Umfeld. Vielleicht steckt hier auch eine werbende Absicht dahinter. Außerdem wird deutlich, dass sich die Gemeinde nicht völlig abschotten soll. Sie soll ihren alltäglichen Geschäften nachgehen. Dabei treffen die Gemeindemitglieder natürlich mit »den Außenstehenden« zusammen und dort, wo es möglich ist, sollen Konflikte offenbar vermieden werden. In einigen Fällen ist es also durchaus möglich, Gott und den Menschen zu gefallen (vgl. 2,4; 4,1). Ging es in 4,3–8 um die Abgrenzung der Gemeinde nach außen (sie soll sich nicht so verhalten wie die »Heiden, die Gott nicht kennen« 4,5), so geht es in 4,9–12 um ihren Zusammenhalt nach innen. Der Umgang der Gemeindemitglieder untereinander soll durch die geschwisterliche Liebe, die philadelphia, geprägt sein. In dieses Verhältnis beziehen die Verfasser ausdrücklich auch andere Gemeinden in Mazedonien ein, nicht aber Menschen, die keiner Gemeinde angehören (anders 3,12). Während die Sexualmoral und die Geschäftsmoral in 4,3–8 zum Unterscheidungsmerkmal gegenüber den Heiden erhoben wurden, zielt die Arbeitsmoral auf Anerkennung durch die »anderen«. Die Verfasser ermutigen die Adressatinnen und Adressaten dazu, sich nicht aus ihren Arbeitsverhältnissen zurückzuziehen. Eine Tendenz, eben das zu tun, gab es vielleicht aufgrund der eschatologischen Naherwartung. Zu berücksichtigen ist aber vor allem, dass die Bekehrung auch Auswirkungen auf die Arbeitskontakte der Adressatinnen und Adressaten haben konnten, etwa weil sie nicht mehr an Innungsfesten mit kultischen Obertönen teilnehmen wollten. Angesichts dieser Problematik fordern die Verfasser dazu auf, weiterhin der geregelten Arbeit nachzugehen, um die Beziehungen zu Arbeitskollegen nicht weiter zu belasten. Die Verfasser bringen die Aufforderungen, sich ruhig zu verhalten, sich um die eigenen Aufgaben zu kümmern und mit den eigenen Händen zu arbeiten, in einen engen Zusammenhang mit der »Ehre«, mit anderen Worten: mit der Selbstachtung und der gesellschaftlichen Anerkennung. Die Fragen, wie Arbeit und (Selbst-)Achtung zusammenhängen, und diejenige, wie sie zusammenhängen sollten, sind hochaktuell. Die Verfasser fordern dazu auf, über Arbeit Selbstachtung und gesellschaftliche Anerkennung zu suchen. Es gibt heute sicherlich viele Menschen, die genau das versuchen. In modernen Gesellschaften, die keine Vollbeschäftigung garantieren können, werden aber spätestens die Grenzen der Tragfähigkeit dieses Konzepts deutlich. Es stellt sich die Frage, woran wir unsere Selbstachtung und unsere gesellschaftliche Anerkennung festmachen wollen und können.
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4,13–18 Trost angesichts des eschatologischen Schicksals verstorbener Gemeindemitglieder 13
Wir wollen euch aber, Brüder (und Schwestern), nicht in Unkenntnis lassen über die Entschlafenen, damit ihr nicht traurig seid wie die anderen, die keine Hoffnung haben. 14Wenn wir nämlich glauben, dass Jesus starb und auferstand, so wird Gott auch die Entschlafenen durch Jesus mit ihm führen. 15Dieses nämlich sagen wir euch mit einem Wort des Herrn, dass wir, die Lebenden, die Übriggebliebenen bei der (bis zur) Ankunft des Herrn, den Entschlafenen nicht zuvorkommen werden. 16Denn der Herr selbst wird vom Himmel herabsteigen, wenn der Befehlsruf, die Stimme des Erzengels und die Posaune Gottes erklingen, und zuerst werden die Toten in Christus auferstehen. 17Dann werden wir, die Lebenden, die Übriggebliebenen, zugleich mit ihnen in die Wolken entrückt werden zur Einholung des Herrn in der Luft. Und so werden wir für immer bei dem Herrn sein. 18So tröstet euch untereinander mit diesen Worten. Die Ankündigung, die Brüder (und Schwestern) nicht in Unkenntnis über das Schicksal verstorbener Gemeindemitglieder lassen zu wollen (11 3), steht in auffälligem Kontrast zu den – formelhaften – Versicherungen aus 4,9 und 5,1, die darauf abzielen, dass es (eigentlich) nicht nötig sei, von der geschwisterlichen Liebe (4,9) bzw. den Zeiträumen und Zeitpunkten (5,1) zu schreiben. Insofern erhält der Abschnitt 4,13–18 besonderes Gewicht. Worin genau die Unkenntnis der Adressatinnen und Adressaten besteht, ist allerdings umstritten (s.u.). Deutlich ist immerhin, dass es (primär) um die »Entschlafenen«, also die Verstorbenen, geht. Aus dem Folgenden ergibt sich, dass speziell an die verstorbenen Gemeindemitglieder gedacht ist. Wahrscheinlich reagieren die Verfasser mit ihren Ausführungen auf eine konkrete Anfrage aus der Gemeinde. Die Rekonstruktion dieser Anfrage, die wir ja nicht explizit vorliegen haben, fällt in der Forschung unterschiedlich aus (s.u.). Die Unterweisung hinsichtlich der Entschlafenen hat eine seelsorgerliche Zielsetzung. Es geht den Verfassern darum, dass die Adressatinnen und Adressaten nicht traurig sein sollen. So heißt es auch abschließend in Vers 18, dass die Gemeindemitglieder einander trösten sollen, indem sie auf die Belehrung aus 4,14–17 zurückgreifen. Trauer kommt nach 4,13 nur den »anderen« zu, »die keine Hoffnung haben«. Von den »anderen« ist auch in 5,6 die Rede. Dort sind allgemein Nicht-Christen gemeint. Dieselbe Bedeutung wird man für 4,13 annehmen. Trauer wird als Hoffnungslosigkeit qualifiziert. Nicht-Christen zeichnen sich demnach generell dadurch aus,
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1Thess 4,13–18
dass sie traurig sind. Dabei geht es nicht darum, ob diejenigen, die nicht zur Gemeinde gehören, subjektiv Trauer empfinden; sondern es geht darum, dass sie »objektiv« (also aus der im Glauben an Jesus Christus gegründeten Perspektive der Verfasser) »keine Hoffnung haben« (ohne dass ihnen selbst dies bewusst wäre). Von der Hoffnung war schon in 1,3 und 2,19 die Rede – in 2,19 ausdrücklich in Verbindung mit der Parusie. In 5,8 ist von der »Hoffnung auf Rettung« die Rede. Die Hoffnung gründet in Jesus Christus, der (nur!) die Seinen vor dem kommenden Zorngericht rettet (1,10). Impliziert ist also durch den Kontext, dass diejenigen, die keine Hoffnung haben, ihrer eschatologischen Vernichtung entgegengehen. Ihr Schicksal ist in 4,14–17 aber nicht weiter im Blick. Es geht vielmehr um die Frage, ob bzw. inwiefern die verstorbenen Gemeindemitglieder nach wie vor zu denjenigen gehören, die – wie die lebenden Gemeindemitglieder – Hoffnung haben. Es geht also um ein innergemeindliches Problem. Trotzdem markieren die Verfasser zunächst eine Abgrenzung nach außen. Dadurch stärken sie rhetorisch die Einheit der verstorbenen und der lebenden Gemeindemitglieder. Denn – so ist bereits in 4,13 impliziert – sie gehören zusammen als diejenigen, die Hoffnung haben. Vielleicht ist die Abgrenzung auch dadurch motiviert, dass die thessalonische Gemeinde aufgrund der Todesfälle, die so kurz nach ihrer Hinwendung zu Jesus Christus (und ihrer Abwendung von paganen Göttern; vgl. 1,9) eintraten, dem Spott ihrer paganen Nachbarn ausgesetzt waren (vgl. 2,14). Es ist durchaus möglich, dass diese Nachbarn einen ursächlichen Zusammenhang zwischen der Abkehr von den paganen Göttern und dem Tod einzelner Gemeindemitglieder vermuteten. Vers 1 4 setzt Tod und Auferstehung Jesu als anerkannten Gemeindeglauben voraus. Beide Aspekte werden gleichrangig genannt. Das spricht für Aufnahme von Tradition. Denn der Tod Jesu spielt im weiteren Verlauf der Argumentation keine Rolle. Entscheidend ist die Auferstehung. Wahrscheinlich liegt hier ein traditioneller Bekenntnissatz zugrunde, dessen Wortlaut sich jedoch nicht mehr mit ausreichender Sicherheit rekonstruieren lässt. Das »wir« bezieht sich nicht nur auf die Verfasser, sondern es schließt die Gemeindemitglieder ein. An diesen anerkannten Gemeindeglauben knüpfen die Missionare eine Schlussfolgerung, die – grammatikalisch nicht ganz sauber – als Vergleichssatz formuliert ist. Dabei wird die Auferstehung Jesu für die Argumentation fruchtbar gemacht. Aus ihr schließen die Missionare, dass Gott sich durch (den auferstandenen) Jesus auch der Verstorbenen annehmen wird. Wenn die Gemeinde das eine glaubt (dass Jesus auferstanden ist) – was sie ja tut! –, dann »muss« sie auch auf das an-
1Thess 4,13–18
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dere vertrauen. Allerdings sparen die Verfasser die Formulierung »so glauben wir auch« oder ähnlich aus und formulieren direkt den Inhalt des Bekenntnisses. Durch den elliptischen Stil erscheint der Glaube als »objektive« Heilsgewissheit unabhängig vom subjektiven Vertrauen der Gemeindemitglieder. Vom ersten Teil des Verses her wäre nun aufgrund eines Analogieschlusses das Bekenntnis zu erwarten, dass – wie Jesus – so auch die Toten auferstehen (vgl. 1Kor 15,16). Dieser Gedanke ist aber nur impliziert. Explizit heißt es: Gott wird die Entschlafenen durch Jesus mit ihm führen. Der Vers zielt also nicht auf die Auferstehung der Toten, sondern auf das Mit-Führen der Entschlafenen und damit auf die Heilsgemeinschaft Christi mit den Seinen. Die Auferstehung der verstorbenen Christinnen und Christen, von der in Vers 16 explizit die Rede sein wird, ist also nicht Selbstzweck. Sie ist nur insofern von Interesse, als sie den Verstorbenen die eschatologische Gemeinschaft mit dem Auferstandenen ermöglicht. Im Mit-Führen klingt der Entrückungsgedanke an, der in Vers 17 breiter entfaltet wird. Dort ist dann auch pointiert von der Heilsgemeinschaft mit dem Herrn die Rede. Bereits in Vers 14 rückt so im Zusammenhang mit der Auferstehung Jesu der Gedanke der Gemeinschaft mit Jesus in den Vordergrund. Er bildet in Vers 17 dann den Fluchtpunkt der Ausführungen zur Parusie. Es geht also zunächst um das grundlegende Vertrauen darauf, dass Gott die Entschlafenen mit Jesus führen wird. Die Verfasser sichern ihren Adressatinnen und Adressaten zu, dass die verstorbenen Gemeindemitglieder vollen Anteil am Heil erhalten. Von Christinnen und Christen, die die Parusie lebend erreichen, ist zunächst gar nicht die Rede. Sie rücken erst ab Vers 15 in den Blick. Vorgeschaltet ist dem jedoch die generelle Versicherung, dass die verstorbenen Gemeindemitglieder bei der Parusie in die Gemeinschaft mit Jesus Christus geführt werden. Nachdem Vers 14 geklärt hat, dass die Entschlafenen an der eschatologischen Heilsgemeinschaft teilhaben werden, widmen sich die Verse 15–17 der Frage, ob die Lebenden gegenüber den Verstorbenen trotzdem einen relativen Vorteil haben. Vers 15 stellt dazu klar: Die Lebenden werden den Verstorbenen nicht zuvorkommen. Diese Aussage führt 1 5a als ein »Wort des Herrn« ein. Dieselbe Wendung »Wort des Herrn« fand sich in 1,8. Dort konnte mit dem »Herrn« entweder Gott oder Jesus Christus gemeint sein. In 15a ist der Bezug auf Jesus Christus eindeutiger. Denn im selben Vers ist von der »Ankunft des Herrn«, also der Parusie die Rede, bei der sich »Herr« eindeutig auf Jesus bezieht (vgl. 3,13). Möglich ist auch in 15a eine Interpretation der Genitivverbindung »Wort des Herrn« als Genitivus objectivus (das Wort, das von
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Jesus Christus handelt) oder als Genitivus subjectivus (das Wort, das Jesus Christus gesprochen hat). Das »Wort« kann schließlich eine konkrete Äußerung meinen oder allgemeiner die Botschaft Jesu Christi. Unsicher ist, wo dieses »Wort des Herrn« in 4,15b–17 zu lokalisieren ist. Findet es sich in Vers 15b mit anschließender Erläuterung durch die Verfasser in 16–17, oder geben umgekehrt die Verfasser in Vers 15b zunächst eine Zusammenfassung des Herrenwortes, das sie dann in den Versen 16–17 wiedergeben? Diese Frage ist auch deshalb so schwer zu entscheiden, weil uns ein entsprechendes Herrenwort an keiner Stelle (z.B. in den Evangelien) überliefert ist. Mt 24,30–31 weist zwar eine gewisse Nähe zu 1Thess 4,16–17 auf, näher steht den Versen aber 1Kor 15,52 – eine Stelle, die nicht als Herrenwort qualifiziert wird. Die Ankündigung in 15a lässt eigentlich erwarten, dass das Herrenwort direkt in 15b folgt. Die Verfasser würden dann 15b als Herrenwort charakterisieren und dieses im Anschluss eigenständig erläutern. Betrachten wir Vers 1 5b genauer: Während Vers 14 nur von den Entschlafenen handelte, ist in Vers 15b von zwei Gruppen die Rede: Einerseits von den Lebenden, den Übriggebliebenen, andererseits von den Entschlafenen. Die Bestimmung der zweiten Gruppe bereitet in der Auslegung wenig Probleme: Gemeint sind verstorbene Nachfolgerinnen und Nachfolger Jesu Christi, hier konkret: verstorbene Gemeindemitglieder. Die Bestimmung der ersten Gruppe ist schwieriger: Die Verfasser bezeichnen diese Gruppe zunächst mit einem betonten »wir«. Sicher ist, dass sie damit – im Unterschied zum unbetonten »wir« in 15a – nicht nur sich selbst meinen. Wer ist alles mit einbezogen? Sicherlich sind die Adressatinnen und Adressaten gemeint. Vielleicht ist das »wir« aber in einem noch weiteren Sinn zu verstehen, als »ekklesiales (kirchliches) wir«, das gegenwärtige und zukünftige Christinnen und Christen in den Blick nimmt. Dieses »wir« wird nun in doppelter Weise genauer qualifiziert, zunächst mit dem Partizip »die Lebenden«. Die Lebenden stehen den bereits Entschlafenen gegenüber. Das zweite Partizip »die Übriggebliebenen« ist auffällig. Das entsprechende griechische Wort kommt im Neuen Testament nur an dieser Stelle und in 4,17 vor, wobei sich diese Wortwahl in 4,17 von 4,15 her erklärt (s.o.). Das Motiv des Übrigbleibens findet sich alttestamentlich-jüdisch in apokalyptischen Kontexten. Die Vorstellung ist die, dass am Ende nur ein kleiner Rest (aus dem Volk Israel) die Bedrängnisse, die endzeitlichen »Wehen« überlebt, das Ende erreicht und am endzeitlichen Heil partizipiert. Die Übriggebliebenen sind also die Lebenden im Sinne von »Überlebenden«. Impliziert ist: Die meisten sterben vor dem Ende in den eschatologischen Drangsalen. Nur die Überlebenden haben am eschatologischen Heil An-
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teil. Im jüdischen 4. Buch Esra, das – wie der 1. Thessalonicherbrief – im 1. Jh. n.Chr. entstanden ist, sagt Gott: »Und jeder, der aus den vorher genannten Plagen errettet wurde, wird meine Wunder schauen. Denn mein Sohn, der Messias, wird sich mit denen offenbaren, die bei ihm sind, und uns, die Übriggebliebenen, glücklich machen …« (4Esr 7,27–28). Deshalb heißt es später: »Wisse also, dass die Übriggebliebenen weitaus seliger sind als die Gestorbenen« (4Esr 13,24). Dieser traditionsgeschichtliche Hintergrund ist wohl grundsätzlich für 1Thess 4,15.17 zu veranschlagen. Dafür spricht einerseits, dass sich auch hier die Gegenüberstellung von Übriggebliebenen und Gestorbenen findet, andererseits, dass die Parusieerwartung im apokalyptischen Milieu beheimatet ist. Umstritten ist, wie sich in 4,15.17 die Übriggebliebenen zu den (zur Abfassungszeit des 1. Thessalonicherbriefes) Lebenden verhalten. Sind beide Gruppen identisch oder schränkt der Zusatz »die Übriggebliebenen« die Gruppe der Lebenden ein? Mit anderen Worten: Gehen die Verfasser selbstverständlich davon aus, dass sie selbst und die (Mehrheit der jetzt lebenden) Gemeindemitglieder die (unmittelbar bevorstehende) Parusie erleben werden, oder rechnen sie damit, dass von den (jetzt und zukünftig) lebenden Christinnen und Christen nur ein kleiner Rest bis zur (früher oder später eintretenden) Parusie übrigbleiben wird? Haben sich die Verfasser also geirrt, weil sie mit dem unmittelbaren Eintritt der Parusie gerechnet haben, oder vertreten sie gar keine extreme Naherwartung? Grundsätzlich sollten wir biblischen Verfassern auch Irrtümer zugestehen und die Bibel als Gotteswort in Menschenwort verstehen, sodass die exegetische Aussage, dass sich ein biblischer Autor geirrt habe, nicht gleichbedeutend ist mit der dogmatischen Aussage, dass Gott sich geirrt habe. Im Fall von 1Thess 4,15–17 spricht aus exegetischer Sicht der jüdisch-apokalyptische Hintergrund für die These, dass die Verfasser »die Übriggebliebenen« in einschränkendem Sinn verstehen. Das Überleben stellt im Kontext dieser Tradition die Ausnahme dar. Von den Lebenden wird nur ein kleiner Teil überleben. Die Verfasser würden bei dieser Deutung keine extreme Naherwartung vertreten. Gegen diese Interpretation spricht jedoch, dass die Verfasser die Bedrängnis (thlipsis), von der sie sprechen (1,6; 3,3.7), gerade nicht in den apokalyptischen Kontext einbinden. Weder in 2,14– 16 noch in 4,13 – 5,11 kommt der Begriff vor, obwohl es sich in 2,14–16 geradezu angeboten hätte. Offenbar interpretieren die Verfasser die Bedrängnisse, von denen sie sprechen, nicht als eschatologische Endzeitwehen. Es ist auch nirgends davon die Rede, dass die Verfasser endzeitliche Wehen in naher oder ferner Zukunft erwarten. Dieses Element apokalyptischer Tradition scheint
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im 1. Thessalonicherbrief schlicht keine Rolle zu spielen. Das heißt dann aber: Die verstorbenen Gemeindemitglieder sind (in der Wahrnehmung der Verfasser) nicht irgendwelchen eschatologischen Bedrängnissen zum Opfer gefallen. Die lebenden Gemeindemitglieder sind dann aber auch keine Übriggebliebenen, keine Überlebenden im Sinne der dahinter stehenden apokalyptischen Tradition. Deshalb halte ich es für problematisch, die »Übriggebliebenen« in 4,15.17 so stark von ihrer apokalyptischen Tradition her zu verstehen. Denn für dieses Verständnis sind die eschatologischen Wehen konstitutiv, und gerade von ihnen hören wir im 1. Thessalonicherbrief nichts. Insofern aktualisieren die Verfasser m.E. in 4,15b die Tradition, die sie aufnehmen, nicht voll. Paulus, Silvanus und Timotheus rechnen sich selbstverständlich zu den Lebenden und ebenso selbstverständlich gehen sie davon aus, dass sie die Parusie erleben werden. Dieses Erleben der Ankunft des Herrn stellt für sie den »Normalfall« christlicher Existenz dar (vgl. 1Kor 15,51–52). In 4,13–17 beschäftigen sie sich mit den »Ausnahmefällen«, nämlich mit Gemeindemitgliedern, die vor dem Eintritt der Parusie – aus welchen Gründen auch immer – verstorben sind. Die Verfasser reagieren damit wahrscheinlich auf eine Anfrage aus der Gemeinde in Thessalonich. Ihnen gelten die Ausführungen in 4,13–17. Und es ist durchaus plausibel anzunehmen, dass in der überwiegend heidenchristlichen (vgl. 1,9) Gemeinde in Thessalonich seit ihrer Gründung erst einzelne Gemeindemitglieder gestorben waren. Die Gemeindegründung lag ja noch nicht lange zurück (2,17). Die Gemeinde war sich offenbar über das eschatologische Schicksal dieser verstorbenen Gemeindemitglieder nicht im Klaren. Diese Unsicherheit verursachte Traurigkeit (4,13). Wahrscheinlich wirkte sich diese Unsicherheit auch auf ganz praktische Dinge aus: Wie sollten die Toten bestattet werden? Wer konnte/durfte das machen? Welche Kleidung war zu diesen Anlässen angemessen? Auf welche Riten konnten sie zurückgreifen – nun, da sie sich von den Götzen abgewandt hatten (1,9)? Die Verfasser gehen hier ausschließlich auf den theologischen Aspekt ein. Ihre Darstellung liest sich wie eine Gegenthese zu 4Esr 13,24: Die Entschlafenen haben gegenüber den Lebenden gerade keinen Nachteil. Denn die Lebenden werden den Entschlafenen bei der Parusie nicht zuvorkommen. Beide Gruppen werden zugleich entrückt (4,17). Beide Gruppen erhalten gleichermaßen Anteil am eschatologischen Heil, konkret: an der Gemeinschaft mit dem Herrn (4,17). Die Verse 1 6 und 1 7 erläutern nun den genaueren Ablauf der Ereignisse, durch den sicher gestellt ist, dass die Lebenden gegenüber den Verstorbenen keinen Vorteil haben. Vers 1 6a benennt
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zunächst das Subjekt des eschatologischen Geschehens: Es ist der Herr, also Jesus Christus, der hier handelt, der die Macht in den apokalyptischen Ereignissen hat. Es geht um sein Herabsteigen vom Himmel, also um seine Wiederkunft, um seine Parusie. Der 1. Thessalonicherbrief verwendet im Zusammenhang mit der Parusie durchgehend den Kyrios-Titel (2,19; 3,13; 4,15; 5,23). Hier scheint eine sehr alte Tradition durch, nach der die Gemeinde das (Wieder-)Kommen des Herrn (also Jesu Christi) erbittet (Offb 22,20; vgl. 1Kor 16,22). Das apokalyptische Kolorit wird durch drei Motive ausgestaltet, die schildern, was passiert, wenn der Herr kommt: Der (göttliche) Befehlsruf ertönt, die Stimme des Erzengels und der Posaunenschall Gottes erschallen. Hinter diesen Endereignissen steht nach apokalyptischer Tradition Gott, der auch in 14b als Subjekt des Geschehens benannt ist. Vielleicht ist gemeint, dass der Befehlsruf Gottes mit der Stimme des Erzengels ergeht. Die Posaunen spielen im apokalyptischen Geschehen öfter eine Rolle, und zwar bereits in alttestamentlich-jüdischer Tradition (z.B. Jes 27,13; 4Esr 6,23; Mt 24,31; 1Kor 15,52; Offb 8,6ff). Das Motiv des Herabsteigens vom Himmel verbindet sich alttestamentlich-jüdisch mit Gott bzw. dem Messias (z.B. Micha 1,3; Jes 26,21; PsSal 18,5), neutestamentlich mit Jesus Christus als dem Menschensohn (Mk 13,26; 14,62). Dabei ist die Vorstellung meist die, dass Gott / der Messias / der Menschensohn (Jesus Christus) zum Gericht (über die Welt) kommen. Davon hören wir in 1Thess 4,16–17 bezeichnenderweise nichts. Stattdessen verknüpfen die Verse die Auferstehung mit der Entrückung. Für 1 6b.17a ist dabei das zeitliche Gefüge zentral. Das zeigen die Wörter »zuerst«, »danach« und »zugleich«. Es geht also darum, zwei Ereignisse nacheinander in eine zeitliche Reihenfolge zu bringen (»zuerst« und »danach«) und dann zwei Ereignisse zeitlich miteinander zu verbinden (»zugleich«). »Zuerst« erfolgt die Auferstehung der Toten »in Christus«. Als Pharisäer kannte Paulus wohl schon vor seiner missionarischen Tätigkeit als Christusnachfolger die Vorstellung von der Auferstehung der Toten (vgl. Mk 12,18–27). Der Zusatz »in Christus« in 1Thess 4,16 verdeutlicht, dass es nicht um eine allgemeine Totenauferstehung geht, sondern nur um die Auferstehung verstorbener Christinnen und Christen. Sie werden als erste vom eschatologischen Geschehen erfasst. Eine ähnliche Aussage findet sich in 1Kor 15,23.52. Auf die Auferstehung der Toten »in Christus« folgt nun für die Auferstandenen nicht das Gericht. Denn der Herr Jesus Christus rettet die Seinen ja vor dem Gericht (1,10). Wichtig ist den Verfassern vielmehr die Klarstellung, dass die Auferstehung der Verstorbenen vor der Entrückung stattfindet, sodass auch sie daran teilhaben können. Die Entrü-
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ckung geschieht »danach«. Sie ist traditionsgeschichtlich nicht mit der Auferstehungsvorstellung verknüpft. Sowohl im jüdischen als auch im paganen Traditionsbereich bezieht sich die Entrückung auf lebende Personen. Am bekanntesten ist vielleicht die Entrückung Henochs, von der Gen 5,24 knapp erzählt. Weish 4,10–11 nimmt dieses Motiv auf und bezieht es auf den Gerechten (vgl. auch Sir 44,16; Jub 4,23). Den heidenchristlichen Gemeindemitgliedern in Thessalonich waren vielleicht eher Ausschnitte aus der paganen Tradition bekannt. Bei Plutarch findet sich z.B. eine Beschreibung der Entrückung des Romulus: »Es war das siebenunddreißigste Jahr, dass Rom unter der Regierung des Romulus bestand, als am fünften Quintilis … der König ein öffentliches Opferfest vor der Stadt beim sogenannten Ziegensumpf feierte und der Rat und der größte Teil des Volkes zugegen war. Plötzlich entstand eine schwere Störung im Luftraum, eine Wolke senkte sich unter Sturm und Ungewitter auf die Erde herab, die Masse der übrigen floh voll Schreck und zerstreute sich, Romulus aber verschwand, und weder er selber noch sein Leichnam wurde gefunden. … Und Proculus, ein vornehmer Mann, sagte unter Eid aus, er habe Romulus gesehen, wie er gewaffnet zum Himmel auffuhr, und seine Stimme vernommen, wie er befahl, ihn Quirinus zu nennen.« (Plutarch, Numa 2; Übersetzung K. Ziegler, Plutarch. Große Griechen und Römer I, Zürich/Stuttgart 1954, S. 169).
Die Leistung der Verfasser des 1. Thessalonicherbriefes besteht also darin, dass sie zwei bisher getrennte Vorstellungen – diejenige der Auferstehung der Toten und diejenige der Entrückung Lebender – miteinander verknüpfen, indem sie die Auferstehung der Entrückung vorordnen und die Entrückung auf die Auferstandenen ausweiten. Die Lebenden werden wiederum – in Aufnahme der traditionellen Formulierung aus Vers 15 – als »Übriggebliebene« bezeichnet. Von einer Verwandlung der Lebenden im Zuge der Parusie ist hier – anders als später in 1Kor 15,52 – keine Rede. Der »Treffpunkt« mit dem Herrn liegt offenbar in den Wolken, in der Luft. Wolken tauchen traditionell im Zusammenhang mit Theophanien, also mit göttlichen Erscheinungen, auf (vgl. Ex 19,13.16; Ps 97,2; Mk 9,7). Der griechische Ausdruck für »Einholung« (apanthsis) kann unspezifisch als »Begegnung« verstanden werden. Dann wäre gemeint, dass Jesus Christus gar nicht bis ganz auf die Erde kommt, sondern die Entrückten ihn in der Luft treffen (und dort verbleiben?). Der Begriff kann aber auch die spezifische Bedeutung der »Einholung« als eines staatsrechtlichen Brauchs tragen, bei dem die Bürger einer Stadt einer hochgestellten Persönlichkeit bei ihrer Ankunft entgegenziehen und sie auf ihrem restlichen Weg in
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die Stadt hinein begleiten. Diese »Einholung« war mit beträchtlichem (materiellen) Aufwand für die Bewohnerinnen und Bewohner verbunden (s. Kommentar zu 2,19). Sie galt auch als Zeichen des Gehorsams gegenüber dem Herrscher. Legt man diese spezifische Bedeutung in 4,17 zugrunde, dann könnte gemeint sein, dass die Entrückten ihren Herrn von den Wolken aus zur Erde begleiten. Vielleicht ist aber an dieser Stelle gerade auf eine Differenz zwischen der Einholung eines weltlichen Herrschers und der Einholung Jesu Christi abgehoben: Während irdische Herrscher mit einem feierlichen Geleitzug in die Stadt einziehen, kehren die Entrückten nicht zur Erde zurück. Für diese Deutung könnte das für »entrücken« gebrauchte griechische Verb (harpaz) sprechen: Es hat den Beiklang »entreißen«. Die Lebenden und die Auferstandenen Christinnen und Christen werden der Erde samt ihren herrscherlichen Verhältnissen (endgültig) entrissen. Sie ziehen dem Herrscher nicht aktiv unter großem Aufwand entgegen, sondern werden (passiv) zu ihm entrückt. Diese Deutung passt zu 2,19. Dort war davon die Rede, dass die Gemeinde den Missionaren bei der Parusie zum »Ruhmeskranz«, zum ehrerbietigen Geschenk an den Herrn, wird (s. dort). Der Text in Vers 1 7b führt nicht weiter aus, was danach geschieht. Wichtig ist allein, dass mit der »Einholung« die eschatologische Gemeinschaft der lebenden und auferstandenen Christinnen und Christen mit dem Herrn vollzogen ist. Die Hoffnung der Christustreuen besteht genau darin, dass sie mit ihrem Herrn ewige, eschatologische Gemeinschaft haben werden. Die Grenze zwischen Leben und Tod, die die Gemeinde im Moment beunruhigt, ist aufgehoben. In 5,10 füllen die Verfasser diese eschatologische Gemeinschaft mit der Vorstellung eschatologischen Lebens. Die intensive Hoffnung auf diese eschatologische Gemeinschaft, die in der Gegenwart offenbar noch nicht realisiert ist, überstrahlt im 1. Thessalonicherbrief konkrete »irdische« Besuchspläne (vgl. 3,11). Vers 1 8 gibt schließlich das Ziel der eschatologischen Belehrung an: Die Gemeindemitglieder sollen getröstet werden, und sie sollen einander mit diesen Worten trösten. Damit schlägt der Text die Brücke zu Vers 13. Denn die Schilderung der Parusie erfolgte von vornherein mit dem Ziel, die Trauer der thessalonischen Christinnen und Christen angesichts ihrer Unwissenheit über das eschatologische Schicksal der verstorbenen Gemeindemitglieder zu lindern. Worin genau bestand diese Unsicherheit der Gemeinde? In der Forschung werden vor allem zwei Thesen diskutiert: 1. Die Gemeinde in Thessalonich wusste nichts von der Auferstehung verstorbener Gemeindemitglieder.
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2. Die Gemeinde in Thessalonich wusste nicht, wie sich die Auferstehung verstorbener Christinnen und Christen zur Erwartung der Entrückung verhält. Die erste These kann gut erklären, warum der Tod von Gemeindemitgliedern bei den Adressatinnen und Adressaten Unsicherheit und Trauer (im Sinne von Hoffnungslosigkeit!) auslöste: Wenn die Gemeinde nichts von der Auferstehung der Toten wusste, musste sie angesichts von Todesfällen in den eigenen Reihen verzweifeln. Dann müssten wir allerdings annehmen, dass Paulus, Silvanus und Timotheus bei ihrem Gründungsaufenthalt zwar von der Auferstehung Jesu (vgl. 4,14), nicht aber von der Auferstehung der Toten gesprochen hätten. Erklären ließe sich das vielleicht mit einer überstürzten Abreise oder mit einer extremen Naherwartung, die vor dem Eintreten der Parusie mit keinen weiteren Todesfällen rechnete. Beide Annahmen sind m.E. schwierig. Zudem fällt auf, dass die Ausführungen der Verfasser in 4,13–17 nicht auf die Auferstehung der Toten zielen. Diese Vorstellung hat lediglich eine Hilfsfunktion. Im Zentrum steht die Erwartung der Entrückung und der Gemeinschaft mit dem Herrn. Insofern spricht viel für die zweite These: Die Missionare hatten bei ihrem Gründungsaufenthalt offen gelassen, wie sich die Auferstehung der Toten zur Entrückung der Glaubenden verhält. Die thessalonischen Christinnen und Christen beschränkten die Entrückung im Anschluss an pagane Tradition auf die Lebenden und verbanden sie nicht mit dem Vertrauen in die Auferstehung der Toten. Je stärker die Thessalonicher die eschatologische Gemeinschaft mit dem Herrn an die Entrückung (und nicht an die Auferstehung) knüpften und diese Gemeinschaft als das eschatologische Heilsgut schlechthin ansahen, mussten Todesfälle in der Gemeinde trotz des Vertrauens in ihre Auferstehung problematisch werden. Deshalb setzen die Missionare in 4,14 damit ein, dass sie die Auferstehung Jesu an die Entrückung der Entschlafenen knüpfen. Wenn aber auch die Entschlafenen entrückt werden, stellt sich die Frage, wie sich ihre Entrückung zu derjenigen der Lebenden verhält. Darauf antwortet Vers 15b: Die Lebenden werden den Verstorbenen nicht zuvor kommen. Das Verhältnis von Auferstehung der Toten und Entrückung aller explizieren die Verfasser dann in 16–17. Dabei hat die Vorstellung von der Auferstehung der Toten durchgehend eine Hilfsfunktion. Zielpunkt ist die Gemeinschaft aller Glaubenden mit dem Herrn. Wie gravierend war die Unkenntnis der thessalonischen Christinnen und Christen? Es ist durchaus möglich, dass die Adressatinnen und Adressaten auch um ihrer selbst willen besorgt waren. Wenn andere vor der Parusie starben, konnte dasselbe auch ihnen passie-
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ren. Andererseits erweckt der Brief nicht den Eindruck, dass Paulus, Silvanus und Timotheus nach der Rückkehr des Timotheus (3,6) insgesamt noch um den Erfolg ihrer Mission in Thessalonich bangten. Während Paulus vor der Sendung des Timotheus besorgt war, dass ihre missionarische Arbeit vergeblich gewesen sein könnte (3,5), loben die Missionare die Gemeinde in ihrem Brief, den sie nach der Rückkehr des Timotheus verfassen, wiederholt: für ihre Standhaftigkeit im Glauben (1,6–8), für ihre Aufnahme der Botschaft als Wort Gottes (2,13), für ihre Nachfolge trotz des damit verbundenen Leids (2,14), für ihren Glauben und ihre Liebe (3,6), für ihren Lebenswandel (4,1) und ihre geschwisterliche Liebe (4,9–10). Will man das nicht alles als reine Rhetorik abtun, so ergibt sich der Eindruck einer missionarisch insgesamt recht stabilen Situation, in der die Unkenntnis über das eschatologische Schicksal verstorbener Gemeindemitglieder ein begrenztes, wenn auch theologisch tiefgreifendes Problem darstellt. In 4,13–18 finden wir eine bildreiche Beschreibung der Parusie. Diese Beschreibung dient nicht der Spekulation, sondern sie soll die Adressatinnen und Adressaten trösten. Offenbar standen für sie die Entrückung Lebender und die Auferstehung Verstorbener unverbunden nebeneinander. Dadurch konnte der Eindruck entstehen, dass die Verstorbenen den Lebenden gegenüber einen Nachteil hätten, und zwar in dem Maß, in dem sich die Erwartung der Gemeinschaft mit dem Herrn Jesus Christus mit seinem Kommen und der Entrückung zu ihm verband. Gegenüber den Ängsten der Gemeindemitglieder stellen die Missionare zunächst klar, dass »Gott auch die Entschlafenen durch Jesus mit ihm führen« wird (4,14). Anschließend gehen sie auf die Frage ein, wie das möglich ist und wie sich die Entrückung der Verstorbenen zu der Entrückung Lebender verhält. Die Auferstehung erfolgt vor der Entrückung, und beide Gruppen – Lebende und Auferstandene – werden zugleich zum Herrn entrückt. Diese Art bildhafter eschatologischer Ausführungen mag uns heute fremd erscheinen. Die Grundfrage, was mit uns und mit denen, die uns nahestehen, nach dem Tod passiert, hat jedoch nichts an Aktualität verloren. Welche Hoffnung haben wir diesbezüglich? Was trauen wir Gott und Jesus Christus hier zu? 5,1–11 Von den Zeiten und Stunden 1
Von den Zeiten und Stunden aber, Brüder (und Schwestern), ist es nicht nötig, euch zu schreiben. 2Denn ihr wisst selbst genau, dass der Tag des Herrn kommt wie ein Dieb in der Nacht. 3Wenn sie sagen:
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»Friede und Sicherheit!«, dann kommt plötzliches Verderben über sie wie die Wehe(n) über eine schwangere Frau, und sie können nicht entrinnen. 4 Ihr aber, Brüder (und Schwestern), lebt nicht in Finsternis, sodass euch der Tag wie ein Dieb überfällt. 5Denn ihr alle seid Kinder des Lichts und Kinder des Tages. Wir gehören weder der Nacht noch der Finsternis. 6So lasst uns nun nicht schlafen wie die anderen, sondern wachen und nüchtern sein. 7Denn die, die schlafen, schlafen nachts, und die, die betrunken sind, sind nachts betrunken. 8Wir aber, die wir zum Tag gehören, wollen nüchtern sein, bekleidet mit dem Panzer des Glaubens und der Liebe und mit dem Helm der Hoffnung auf Rettung. 9Denn Gott hat uns nicht zum Zorn(gericht) bestimmt, sondern zum Besitz der Rettung durch unseren Herrn Jesus Christus, 10der für uns gestorben ist, damit wir, (egal) ob wir wachen oder schlafen, zusammen mit ihm leben werden. 11Deshalb tröstet einander und richtet euch gegenseitig auf, wie ihr es ja schon tut. Die Versicherung, dass es nicht nötig sei, den Geschwistern von den »Zeiten und Stunden« zu schreiben (11 ), erinnert an 4,9. Während dort jedoch tatsächlich keine weitere Belehrung erfolgte, sondern den Adressatinnen und Adressaten zugesagt wurde, dass sie von Gott gelehrt seien, gehen die Verfasser an dieser Stelle ausführlich auf das Thema der »Zeiten und Stunden« ein. »Zeiten und Stunden« meinen dabei nicht zwei unterschiedliche Dinge, sondern sie sind als Ausdruck für ein und dieselbe Sache anzusehen (Hendiadyoin). Gemeint ist die vor dem eschatologischen Ende verbleibende Zeit. Die Wendung begegnet bereits im Alten Testament (z.B. Dan 7,12; Weish 8,8). In dem folgenden Abschnitt gehen Paulus, Silvanus und Timotheus insbesondere darauf ein, welche Bedeutung die »Zeiten und Stunden« für die Gegenwart der Gemeinde haben. Als Begründung dafür, dass es nicht nötig sei, der Gemeinde von den »Zeiten und Stunden« zu schreiben, gibt Vers 2 an, dass die Adressatinnen und Adressaten bereits wissen: Der Tag des Herrn kommt wie ein Dieb in der Nacht. Der Begriff »Tag des Herrn« ist alttestamentlich geprägt (Am 5,18.20; Jes 13,6.9; Ez 7,10; 13,5; Joel 2,1). Die alttestamentlichen Propheten beschreiben diesen Tag in bedrohlichen Farben. Bei Jesaja ist zu lesen: »Heulet, denn des Herrn Tag ist nahe; er kommt wie eine Verwüstung vom Allmächtigen … Denn siehe, des Herrn Tag kommt grausam, zornig, grimmig, die Erde zu verwüsten und die Sünder von ihr zu vertilgen.« Der Tag des Herrn ist also der Tag des göttlichen (Vernichtungs-) Gerichts, von dem letztlich nur Gottes Volk verschont bleibt: »Denn der Herr wird sich über Jakob erbarmen und Israel noch
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einmal erwählen und sie in ihr Land setzen.« (Jes 14,1). An diesen alttestamentlichen Stellen ist mit dem Herrn selbstverständlich Gott gemeint. In 1Thess 5,2 könnte auch Jesus Christus gemeint sein, denn in 4,15–17 war vom Kommen des Herrn – bezogen auf Jesus Christus – die Rede. Allerdings kommt Jesus Christus nach 1,10, um die Seinen, die von Gott erwählt sind (1,4), vor dem göttlichen Zorn zu erretten. Die (verstorbenen und lebenden) Jesustreuen werden auch nach 4,13–18 von Jesus Christus am Gericht vorbei gerettet. In 5,2–3 kommt mit der Rede vom »Tag des Herrn« jedoch die Kehrseite des eschatologischen Endes in den Blick: die Vernichtung der »anderen, die keine Hoffnung haben« (4,13). Insofern spricht einiges dafür, den »Herrn« hier in alttestamentlich-jüdischer Tradition auf Gott zu beziehen. Die Rede vom Tag des Herrn ist verbunden mit dem Bild eines Diebes, der (unerwartet) in der Nacht kommt. Dieses Bild, bezogen auf das endzeitliche Kommen des Herrn, wurzelt in der Jesustradition. Es begegnet in Lk 12,39; Mt 24,43; 2Petr 3,10; Offb 3,3; 16,15. Eine besonders enge Parallele bietet 2Petr 3,10, wo im Zusammenhang mit dem Bild vom Dieb in der Nacht wörtlich auch vom »Tag des Herrn« die Rede ist. Die Pointe des Bildwortes liegt darin, dass das eschatologische Ende unvermutet hereinbricht und dass es deshalb wichtig ist, jederzeit bereit, gewappnet zu sein. In welchem Verhältnis steht Vers 2 zu Vers 1? Einige Ausleger sehen hier eine ironische Bezugnahme: Vers 2 impliziere, dass jegliche apokalyptische Lehre von Zeiten und Stunden unerheblich sei. Wichtig sei dagegen die ständige Bereitschaft für den »Tag des Herrn«. Die Adressatinnen und Adressaten hätten es demnach nicht nötig, über Zeiten und Stunden belehrt zu werden, weil diese Lehre ohnehin nichts taugt. Andere Interpretationen betonen dagegen, dass die Pointe frühjüdischer und urchristlicher Apokalyptik keinesfalls in der genauen Berechnung des Zeitraums bis zum eschatologischen Ende liege, sondern darin, dass dieses Ende mit (göttlicher) Sicherheit kommt, allerdings zu einem Zeitpunkt, den nur Gott kennt, sodass ständige Wachsamkeit vonnöten sei. Vers 2 würde dann Vers 1 bestätigend und bekräftigend aufnehmen. Wer steht in Vers 3 hinter dem Ausruf »Friede und Sicherheit«? Einige Ausleger vermuten hier eine innerchristliche, »gegnerische« Gruppe. Von solch einer Gruppe hören wir im 1. Thessalonicherbrief ansonsten aber nichts. Wahrscheinlicher ist daher die Annahme, dass alle Nicht-Christen im Blick sind, also diejenigen, von denen die Verfasser sich und ihre Adressatinnen und Adressaten schon in 4,13 abgegrenzt haben. Diese Deutung wird durch Vers 6 gestützt, weil dort – wie in 4,13 – von »den anderen« die Rede ist. Dann aber meinen »Friede und Sicherheit« die trügerische Illu-
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sion von Frieden und Sicherheit. Denn eigentlich – so impliziert 1Thess 5,3 – befinden sich »die anderen« in höchster Gefahr. Ihnen droht am Tag des Herrn die göttliche Vernichtung. Die Konstellation erinnert an das Auftreten von Falschpropheten im Alten Testament. In Jer 6,13–14 ist zu lesen: »… und Propheten und Priester gehen alle mit Lüge um und heilen den Schaden meines Volks nur obenhin, indem sie sagen: »Friede! Friede!«, und ist doch nicht Friede.« (vgl. auch Jer 14,13; Ez 13,10; Mal 3,5). Auffällig ist vor diesem Hintergrund der Zusatz »und Sicherheit« in 1Thess 5,3. Das griechische Wort asphaleia taucht bei Paulus nur an dieser Stelle auf. Es begegnet aber (im Zusammenhang mit »Frieden«) in antiken Texten verschiedentlich dort, wo von der Befriedung der Welt durch Rom die Rede ist. Berücksichtigt man nun, dass in Thessalonich der römische Kaiser und römische Wohltäter (kultisch) verehrt wurden, dann ist wahrscheinlich, dass Paulus, Silvanus und Timotheus mit der Wendung »Frieden und Sicherheit!« auf die römische Friedenspropaganda anspielen. Einige Ausleger gehen hier noch einen Schritt weiter. Sie sehen in der Formulierung »Friede und Sicherheit!« einen geprägten römischen Slogan und schließen aus seiner Zitation in 1Thess 5,3 darauf, dass die Bedrängnis bzw. das Leid, von denen im Brief wiederholt die Rede ist (1,6; 2,14; 3,3–4), politisch motiviert waren. Inwiefern »Friede und Sicherheit!« tatsächlich einem geprägten Slogan entsprach, ist umstritten. Der Kontext von 1Thess 5,3 scheint mir eher auf einen allgemeineren, umfassenderen Horizont hinzudeuten. Die Wirklichkeit insgesamt ist von der illusionären Einschätzung von »Friede und Sicherheit« betroffen. Die Anfeindungen müssen daher nicht ausschließlich politisch motiviert gewesen sein. Der Ausdruck »Friede und Sicherheit« ist dabei vermutlich nicht wörtliches Zitat, sondern die Verfasser legen »den anderen« die Formulierung in den Mund und wecken damit Assoziationen an Schlagwörter aus der Propaganda der Pax Romana. Zwei konträre Beurteilungen der Wirklichkeit stehen sich also gegenüber: Während sich die Nicht-Christen in Sicherheit wähnen, gehen sie nach Ansicht der Verfasser der göttlichen Vernichtung entgegen. Das kommunikative Anliegen von Paulus, Silvanus und Timotheus besteht nun darin, ihre Adressatinnen und Adressaten bei der »christlichen« Sicht der Dinge zu behaften. Das Bild vom Dieb in der Nacht plausibilisiert dabei die Sicht der Verfasser. Denn es impliziert, dass gegenwärtig noch nichts von der Katastrophe zu erkennen ist, die auf »die anderen« zukommt: Der Dieb kommt unerwartet, nichts kündigt sein Kommen an. Insofern spricht die Einschätzung derjenigen, die sich in Frieden und Sicherheit wähnen, nicht dagegen, dass sie auf ihren Untergang zusteuern. Mit anderen Worten:
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Die Wirklichkeitsbeurteilung durch die Missionare ist gegenüber der Einschätzung durch die »anderen« immun. Dieser Zug taucht in frühjüdischen apokalyptischen Texten häufiger auf. So heißt es in der syrischen Baruchapokalypse: »Und es wird sein in jenen Tagen: die Einwohner der Erde werden alle in Ruhe miteinander leben, weil sie nicht wissen, dass mein Gericht gekommen ist.« (48,32). Erst in der Zukunft wird sich die Einschätzung der Verfasser für alle sichtbar als zutreffend erweisen. Deshalb stellen sie nun das kommende Schicksal der Gottlosen, der Ahnungslosen, dem eschatologischen Schicksal der Christustreuen, der Wissenden (vgl. 4,13–18; 5,2), diametral gegenüber. Dadurch erhalten die Adressatinnen und Adressaten eine privilegierte Position. Denn sie wissen schon jetzt um ihr eigenes Schicksal und dasjenige der »anderen«. Mit dem »plötzlich« (aiphnidios) (vgl. Lk 21,34) nimmt Vers 3 die Pointe aus Vers 2 auf. Das griechische Wort kommt im Neuen Testament nur noch in Lk 21,34 vor. Mit dieser Stelle Lk 21,34– 36 verbindet 1Thess 5,2–3 außerdem die Rede vom »Tag« und vom »fliehen«. Vielleicht greifen beide Texte auf dieselbe Tradition zurück, deuten diese aber unterschiedlich aus. Denn während Lk 21,34–36 ein offenes apokalyptisches Szenario beschreibt, bei der die Katastrophe über alle hereinbrechen wird (Vers 35) und die Angeredeten ihr nur durch bestimmte ethische Verhaltensweisen entkommen können, hat 1Thess 5,3 eine Situation im Blick, bei der – wie wir sehen werden – alles schon feststeht. Zur Beschreibung des Schicksals »der anderen« verwenden die Verfasser das Bild einer Schwangeren, über die (plötzlich) die Wehen kommen. Das Bild wurzelt in der alttestamentlichen Prophetie. So heißt es beim Propheten Jesaja: »Schrecken, Angst und Schmerzen wird sie [alle Menschen] ankommen, es wird ihnen bange sein wie einer Schwangeren.« (13,8a; vgl. Jer 4,31; 6,24; 13,21; 22,23; 30,5–7; Micha 4,9–10 u.ö.). Im Neuen Testament begegnet das Bild der (eschatologischen) »Wehen« in der synoptischen Endzeitrede (Mk 13,8; Mt 24,8). Während die Wehen dort jedoch die Vorzeichen des Endes darstellen, beschreiben sie in 1Thess 5,3 das Ende selbst, das »plötzlich«, gerade ohne erkennbare Vorzeichen, über diejenigen hereinbricht, die sich in »Frieden und Sicherheit« wähnen. Diese Verschiebung zieht Konsequenzen nach sich: In 1Thess 5,3 hat das Bild eine rein negative Ausrichtung. Die Geburt expliziert das tödliche Verderben (vgl. 1Kor 5,5; 1Tim 6,9), das über die Menschen kommen wird, die nicht zu Jesus Christus gehören. Im griechischen Text steht das Wort für »Wehe« im Singular. Das ist einzigartig im Neuen Testament (anders in Mk 13,8; Mt 24,8; Apg 2,24). Vielleicht erhält das Bild dadurch eine zusätzliche Fokussierung: Der längere Vorgang der Geburt, der ja am Ende (meistens)
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neues Leben hervorbringt, wird verkürzt auf sein (biologisch mögliches) negatives Ergebnis: den Tod von Kind und Mutter. Im Unterschied dazu betont Röm 8,23 gerade die Langwierigkeit der Geburt und das Vertrauen auf den positiven Ausgang. Die Wehen zwingen die Schwangere in die Knie, sie kann nicht fliehen, nicht entrinnen. Das Motiv der Schwangeren, die auf der Flucht vor endzeitlichen Bedrängnissen ist, findet sich auch in Mk 13,17–18; Mt 24,19–20; Lk 21,23. Während diese Texte jedoch die Perspektive der Fliehenden in ihrer Not einnehmen, schaut 1Thess 5,3 aus der Perspektive der Verfolger auf die Schwangere. Ihr sicherer Tod, ihr Verderben werden durch die Art der Verwendung des Bildes im Zusammenhang mit dem Schicksal der Gottlosen als angemessen dargestellt. Die Außenstehenden werden dem Tag des Herrn in ihrer gegenwärtigen Sorglosigkeit nicht entfliehen können. Damit sind indirekt die Adressatinnen und Adressaten gewarnt: Sie dürfen sich den Standpunkt der »anderen« nicht zu eigen machen, ansonsten droht ihnen ein furchtbares Schicksal. Die antithetische Struktur zwischen dem privilegierten Status der Christustreuen und der Hoffnungslosigkeit der Außenstehenden bestimmt auch die Verse 4–10. Die Verse 4 –5 arbeiten mit dem Gegensatzpaar von »Finsternis/Nacht« versus »Licht/Tag«. Von der Nacht war schon in Vers 2 im Zusammenhang mit dem Dieb die Rede, der auch in Vers 4 vorkommt. Insofern bildet Vers 4 mit der betonten Einleitung »ihr aber, Brüder (und Schwestern)« das Gegenstück zu Vers 3, in dem von denjenigen die Rede war, die sich in trügerischer Sicherheit wähnen. Gegenüber dieser Fehleinschätzung verdeutlichen die Verse 4 und 5 nun die tatsächliche Lage der Außenstehenden, indem sie ihr die Situation der Christustreuen gegenüber stellen. Die Christustreuen – so versichern die Missionare ihren Adressatinnen und Adressaten – sind »Kinder des Lichts und Kinder des Tages«. Sie gehören weder der Nacht noch der Finsternis. Deshalb – so ist impliziert – kann ihnen ein Dieb, der in der Nacht kommt, überhaupt nicht gefährlich werden. Die Art der Verwendung des Bildes vom Dieb unterscheidet sich damit von derjenigen in Lk 12,39–40. Dort ist darauf abgehoben, dass die Jünger, da sie nicht wissen, wann die Parusie (der Dieb) hereinbricht, in ständiger Wachsamkeit leben. In 1Thess 5,4 hingegen ist impliziert, dass der Dieb den Christustreuen gar nicht gefährlich werden kann. Der Dieb steht hier insofern eher für das mit dem Tag des Herrn verbundene göttliche Zorngericht an den Gottlosen. Der »Tag« meint in den Versen 4 und 5 also Unterschiedliches: Im Zusammenhang mit dem »Dieb« in Vers 4 steht er für den »Tag des Herrn«, also – in Verbindung mit den Versen 2–3 – für das göttliche Zorngericht an den Gottlosen. In Vers 5
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hingegen ist der »Tag« anders konnotiert: Er ist hier von der Formulierung »Kinder des Lichts« her zu verstehen. Sie findet sich im Neuen Testament an unterschiedlichen Stellen zur Bezeichnung von Christustreuen (vgl. Lk 16,8; Joh 12,36; Eph 5,8). Häufig findet sich die Wendung in Schriften aus Qumran zur Bezeichnung von Gruppenmitgliedern (z.B. 1QS 1,9; 2,16; 3,13.24.25). Zu einer anderen Deutung gelangt man, wenn man den »Tag« in Vers 5 – wie in Vers 4 – ebenfalls auf den »Tag des Herrn« in Vers 2 bezieht. Inwiefern sind die Christustreuen dann »Kinder des Tages«? Nach Röm 13,12–13 ist die Nacht, also die gegenwärtige Welt, vorgerückt, der Tag, also die bald kommende Heilszeit, ist nahe herbeigekommen. Der »Tag« steht hier also nicht für das eschatologische Vernichtungsgeschehen, sondern für das Heilsgeschehen. Nacht und Tag kommen in ihrem zeitlichen Nacheinander in den Blick. Die vorgerückte Nacht steht für eschatologische Naherwartung. In diesem Sinne müssten wir den »Tag« dann auch in 1Thess 5,5 verstehen. Die Christustreuen erwarten in Kürze den Tag des Herrn und das damit verbundene Heilsgeschehen. Sie befinden sich noch – so müsste man von Röm 13,12–13 her schließen – in der Nacht. Das aber passt schlecht zu 1Thess 5,5. Denn während Röm 13,12–13 den Kontrast zwischen Nacht und Tag zeitlich deutet und auf das Nacheinander von Welt und Heilszeit bezieht, deutet 1Thess 5,5 den Kontrast ekklesiologisch, als gegenwärtiges, antithetisches Gegenüber von Gottlosen und Christustreuen, das sich freilich in unterschiedlichen eschatologischen Schicksalen auswirken wird. Auf diesen Aspekt gehen dann die Verse 9–10 ein. Vorgeschaltet ist dem jedoch in 6 –8 die Aufforderung zu einer Lebensführung, die dem Status der Angeredeten als »Kinder des Lichts und des Tages« entspricht. Die exegetische Wissenschaft ordnet diese Passage verbreitet in das paulinische Schema von »Indikativ und Imperativ« ein. Es besagt, dass Gott bzw. Jesus Christus den Seinen zuerst die Rettung und das Heil zuspricht (Indikativ) und sie dann dazu auffordert, sich entsprechend ihres Status als Geretteter zu verhalten (Imperativ). Die Pointe liegt dann darin, dass Gott bzw. Jesus Christus ihre Rettung nicht von dem Verhalten der Menschen abhängig machen. Die Rettung erfolgt allein aus Gnade, die Menschen können sie sich also auch nicht verdienen. Die Pragmatik, also die kommunikative Zielsetzung, ist in 1Thess 5,4–8 allerdings eine andere. Hier geht es den Verfassern darum, die Adressatinnen und Adressaten als Gruppe stark zu machen, indem sie ihren Status demjenigen der Außenstehenden antithetisch gegenüber stellen. Die Ausführungen dienen dazu, die Angeredeten an die Deutung von Gegenwart und
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Zukunft, wie sie die Verfasser vertreten, zu binden. Die Pointe betrifft also nicht so sehr die Frage der individuellen Rettung und des daraus resultierenden angemessenen Verhaltens, sondern diejenige der Gruppenzugehörigkeit und dem damit verbundenen eschatologischen Schicksal. Das geforderte Verhalten macht diese Gruppenzugehörigkeit auch nach außen sichtbar (vgl. 4,5). Die Verfasser beginnen in Vers 6 deshalb mit einer Abgrenzung von den »anderen«, die (ahnungslos) schlafen. Sie greifen damit auf das Bildfeld von Nacht und Tag zurück und fordern dazu auf, zu wachen und nüchtern zu sein. Im Blick sind damit – anders als in 4,3–12 – nicht konkrete Verhaltensweisen, sondern grundsätzliche Haltungen. Das »Wachen« dient auch an anderen Stellen im Neuen Testament zur Bezeichnung einer christlichen Grundhaltung (vgl. Mt 24,42–43; 25,13; Mk 13,34.35.37; Lk 12,37; Offb 16,15; außerdem Did 16,1). Nüchternheit kann im Neuen Testament das Festhalten an der »wahren« Weltsicht bedeuten. Paulus fordert seine Adressatinnen und Adressaten in 1Kor 15,34 dazu auf, nüchtern zu werden und sich nicht von denjenigen in die Irre führen zu lassen, die die Auferstehung leugnen. In 2Tim 4,5 erscheint die Aufforderung, nüchtern zu sein, als Pendant zu Leuten, die »ihre Ohren von der Wahrheit abwenden und sich Fabeleien zuwenden« (vgl. auch 2Tim 2,26; 1Petr 1,13; 4,7; 5,8). Die Aufforderung zur Wachsamkeit taucht in Mt 24,43; Lk 12,37 und Offb 3,2–3 im Zusammenhang mit dem Bild vom Dieb auf. In Mt 24,43 und Lk 12,37 kommt der Dieb in der Nacht. Dort ist impliziert: Das Wachen und fällt in der Nacht besonders schwer. Dieser Gedanke ist in 1Thess 5,7 aufgenommen. Wer schläft und betrunken ist, ist es in der Nacht. Schlafende und Betrunkene bekommen nicht mit, was sich um sie herum tut. Sie sind sorg- und ahnungslos ihrem Schicksal ausgeliefert. Die Christustreuen sind dagegen Kinder des Lichts und des Tages (5,5). Diese antithetische Gegenüberstellung nimmt der Aufforderung in Vers 6 allerdings streng genommen den Wind aus den Segeln. Denn am Tag fällt es nicht schwer zu wachen und nüchtern zu sein. Andersherum formuliert heißt das aber auch: Das Wachen ist die Verhaltensweise, die dem Tag gemäß ist. Die Verfasser verlangen eigentlich nichts Besonderes von den Angeredeten. Ihre Aufforderung ergibt sich zwingend aus dem Status der Adressatinnen und Adressaten. Diesen Zusammenhang verstärken die Verfasser dadurch, dass sie sich und ihre Adressatinnen und Adressaten zu Beginn von Vers 8 mit einem betonten »wir aber, die wir zum Tag gehören« von denen abgrenzen, die in der Nacht schlafen und betrunken sind. Anschließend erläutern die Verfasser, was sie mit der Aufforderung meinen, nüchtern zu sein. Dazu greifen sie auf die
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Dreiheit von Glaube, Liebe und Hoffnung zurück, die den Hörerinnen und Hörern – in der gleichen Reihenfolge – schon aus 1,3 bekannt ist. Allerdings tauchen die Begriffe hier in anderen Nominalverbindungen auf. Während in 1,3 die Rede war von dem »Werk des Glaubens«, der »Mühe in der Liebe« und der »Standhaftigkeit in der Hoffnung«, schreiben die Verfasser in 5,8 von »dem Panzer des Glaubens und der Liebe und mit dem Helm der Hoffnung auf Rettung«. Die Rüstungsmetaphorik verweist auf Jes 59,17: »Er zieht Gerechtigkeit an wie einen Panzer und setzt den Helm des Heils auf sein Haupt …« Die Metaphorik greift im Kontext des 1. Thessalonicherbriefes die Anfeindungen durch die Umwelt auf (2,14–16), gegen die sich die Gemeindemitglieder behaupten müssen. Der Glaube kommt hier – rhetorisch geschickt – als »Panzer«, also als (göttliche) Hilfe zur Verteidigung, in den Blick, nicht als eigentlicher Grund für die Anfeindungen – was er realgeschichtlich betrachtet wohl war. Die Hoffnung ist zudem präzisiert als »Hoffnung auf Rettung«. Dadurch rufen die Verfasser in Erinnerung, dass der gegenwärtige Status als »Kinder des Lichts und des Tages« mit der Hoffnung auf ein heilvolles eschatologisches Schicksal eng verbunden ist (1,10; 4,13–18; 5,5). Vers 9 setzt mit »denn« neu ein und begründet, warum die Adressatinnen und Adressaten so leben sollen, wie in den Versen 6–8 angemahnt. Die Verfasser schließen sich erneut mit ihnen in dem betonten »uns« zusammen. Mit »nicht … sondern« bietet der Vers eine antithetische Struktur. Die Erwählungsaussage, die hier als »Bestimmung-zu-etwas« formuliert ist, dient der Grenzziehung gegenüber den »anderen«, die nicht erwählt und damit zu einem anderen eschatologischen Schicksal bestimmt sind (vgl. 4,7). Die eschatologischen Schicksale werden zum einen durch den (göttlichen) »Zorn«, zum anderen durch die »Rettung durch unseren Herrn Jesus Christus« charakterisiert. Eine ähnliche Gegenüberstellung fand sich bereits in 1,10, und in 4,14 war im Rahmen eines anerkannten Gemeindeglaubens davon die Rede, dass »Gott auch die Entschlafenen durch Jesus mit ihm führen« wird. Auffällig ist, dass der Vers nicht formuliert: »nicht zum Zorn(gericht) …, sondern zur Rettung durch unseren Herrn Jesus Christus«, sondern im positiven Glied das griechische Wort peripoisin einfügt. Das Wort kann entweder – aktivisch – mit »Erlangung/Erwerbung« oder – passivisch – mit »Eigentum/Besitz« übersetzt werden. Theologisch hängt an dieser Frage viel. Drei Auslegungen lassen sich idealtypisch unterscheiden: Erstens: Die Adressatinnen und Adressaten können bzw. müssen nach Meinung der Verfasser aktiv zu ihrer Errettung beitragen, indem sie »wachen und nüchtern« sind (vgl. 5,6). Zweitens: Gott hat die Adressatinnen und
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Adressaten von vornherein im Sinne einer Prädestination zur Rettung bestimmt, es geht also um eine unwiderrufliche göttliche Entscheidung, um eine Bestimmung zur Rettung, die durch nichts verwirkt werden kann. Drittens: Die göttliche Bestimmung schließt die Möglichkeit des Menschen ein, das Heilsangebot (im Glauben an Jesus Christus) anzunehmen oder aber abzulehnen. Dann wäre impliziert, dass Menschen, die zu ihren heidnischen Göttern (vgl. 1,9) zurückkehren, die Hoffnung (auf Rettung) verlieren (vgl. 1,3; 5,8). Ich tendiere zur dritten Deutung. Denn sie fügt sich am besten zu 1,10; 3,5; 4,14 und 5,8. Jesus Christus tritt im 1. Thessalonicherbrief durchgängig als Retter der Seinen auf (1,10; 4,14). Er bürgt dafür, dass die Hoffnung auf Rettung in den Besitz des Heils übergehen wird. Das gilt jedoch nur für diejenigen, die zu ihm gehören, die – mit 5,8 gesprochen – »bekleidet [sind] mit dem Panzer des Glaubens und der Liebe und mit dem Helm der Hoffnung auf Rettung«. Die Seinen sind »Kinder des Tages«, insofern dürfte es ihnen nicht schwer fallen, zu wachen und nüchtern zu sein (5,4–5). Möglich ist es aber. Wir hatten gesehen, dass mit »wachen« eine christliche Grundhaltung angesprochen ist, keine konkreten Verhaltensweisen. Insofern nimmt Vers 9 die Abkehr von Jesus Christus als eine – wenn auch unwahrscheinliche – Option in den Blick und warnt indirekt davor. In diese Richtung weist schließlich 3,5. Dort war davon die Rede, dass Paulus wissen wollte, wie es mit dem Glauben der Gemeindemitglieder stünde, »ob der Versucher euch etwa versucht hat und unsere Mühe vergeblich war«. Dort klingt die Furcht an, die Gemeindemitglieder könnten zu ihren Göttern zurückkehren und so das Missionswerk zunichtemachen. Vers 1 0 macht dann deutlich, dass die Hoffnung auf Rettung kein vages Wunschdenken ist. Jesus Christus ist bereits »für uns gestorben«, er ist bereits für »uns« eingetreten. Das Heilsangebot steht, es darf nur nicht durch die Abkehr von Jesus Christus verspielt werden. Mit dieser bereits vollbrachten Heilstat verbürgt er die zukünftige Lebensgemeinschaft mit ihm (vgl. 4,17). Die Auslegung der Wendung »(egal) ob wir wachen oder schlafen« ist wiederum umstritten. Man kann die Verben entweder von 5,6 her verstehen – wofür zunächst aufgrund der kontextuellen Nähe einiges spricht. Dann hebt Vers 10 die Aufforderung an die Adressatinnen und Adressaten aus Vers 6 auf. Es ist letztlich egal, ob sie wachen oder schlafen. Theologisch lässt sich das so deuten, dass das Verhalten der Christinnen und Christen für ihre Rettung ohne Bedeutung ist. »Wachen« und »schlafen« wären dann wohl keine Bezeichnungen für Grundhaltungen, sondern für bestimmte sittliche Verhaltensweisen. Die Aufforderung, einander zu trösten (5,11),
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könnte sich bei dieser Auslegung auf die Zusicherung beziehen, dass die Adressatinnen und Adressaten gerettet sind, egal wie sie sich verhalten. Oder man versteht die Verben als Beschreibungen zweier innergemeindlicher Gruppen. Dann läge eine Bedeutungsverschiebung gegenüber 5,6 vor, weil es nicht mehr um »die anderen« und »uns« ginge, sondern um zwei Gruppen innerhalb der Gemeinde. Infrage kommen durch Rückbezug auf 4,15–17 die Lebenden und die Verstorbenen. Dieser Bezug wird dadurch wahrscheinlich, dass 5,10 mit der Formulierung, dass »wir … zusammen mit ihm leben werden« auf 4,17 zurückverweist. 5,10 bekräftigt dann, dass es egal ist, ob Christinnen und Christen bei der Parusie noch leben (»wachen«) oder bereits verstorben (»schlafen«) (und auferstanden) sind. Vers 1 1 benennt – ähnlich wie 4,18 – die kommunikative Funktion der eschatologischen Ausführungen. Sie sollen dazu dienen, dass die Gemeindemitglieder einander trösten und aufrichten. In dem griechischen Wort oikodomeite (»aufrichten«) steckt das Wort oikos (»Haus«). Die Gemeinde gleicht einem Haus, das die Gemeindemitglieder aufbauen (vgl. 1Kor 3,9–14; 8,1; 10,23 u.ö.). Während sich 4,13–18 mit dem eschatologischen Schicksal lebender und verstorbener Gemeindemitglieder beschäftigt und die »anderen« nur kurz erwähnt (4,13), stellt der Abschnitt 5,1–11 die Gemeindemitglieder den »anderen« (5,6) gegenüber und kontrastiert beide Gruppen. Die Kehrseite der eschatologischen Rettung – also das eschatologische Verderben – kommt nun in den Blick (5,3). Diese Kontrastierung dient auch dazu, die Adressatinnen und Adressaten bei der Weltsicht der Verfasser zu behaften. Die »anderen« wähnen sich in Sicherheit, ihnen geht es gut (5,3). Die Adressatinnen und Adressaten hingegen leben durch ihren Glauben in Bedrängnis (1,6; 2,14). Das nimmt der Botschaft der Missionare aber nicht ihre Glaubwürdigkeit. Denn der »Tag des Herrn« kommt ohne Vorzeichen, wie ein »Dieb in der Nacht«. Die Grenzziehung zwischen »drinnen« und »draußen« wird eschatologisch untermauert. Letztlich treten dabei in 5,1–11 zwei kommunikative Anliegen in Spannung zueinander. Einerseits wollen die Verfasser die Gruppenidentität stärken und daher eine deutliche Grenze zwischen »drinnen« und »draußen« ziehen. Dieses Anliegen führt dazu, dass die Grenze zum Teil als unverrückbar und unüberschreitbar erscheint. Die Gemeindemitglieder sind »Kinder des Lichts und Kinder des Tages« (5,5). Andererseits wollen die Verfasser ihre Adressatinnen und Adressaten eindrücklich davor warnen, wieder zu ihren alten Göttern zurückzukehren. Dazu müssen sie diese Möglichkeit jedoch überhaupt erst einmal – zumindest indirekt – einräumen. In diesen Zusammenhang gehört die Ermah-
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nung, nicht zu schlafen, sondern zu wachen und nüchtern zu sein (5,6). Die Gemeindemitglieder müssen an ihrer christlichen Grundhaltung festhalten, wenn sie in den Genuss des zukünftigen, eschatologischen Lebens mit Jesus Christus kommen möchten. 5,12–24 Das Gemeindeleben Ethische Weisungen sind typisch für Briefschlüsse. Sie deuten nicht darauf hin, dass es um die Gemeinde schlechter steht als bisher deutlich wurde (vgl. 4,9.10). Inwiefern wir in diesem Abschnitt einen konkreten Einblick in das Gemeindeleben der Thessalonicher bekommen, ist umstritten. Zumindest die Verse 12 und 13 lassen aber erkennen, dass es in der Gemeinde Personen gibt, die sich in besonderer Weise um die anderen Gemeindemitglieder kümmern, ohne jedoch bereits ein fest etabliertes Amt innezuhaben. Diese Funktionsträger werden auch nicht in eine bestimmte Relation zu den Missionaren gesetzt. 12
Wir bitten euch, Brüder (und Schwestern): Erkennt die an, die sich um euch mühen, die für euch im Auftrag des Herrn sorgen und euch den rechten Weg zeigen. 13Betrachtet sie über alle Maßen mit Liebe aufgrund ihres Tuns. Haltet Frieden untereinander! 14 Wir ermahnen euch aber, Brüder (und Schwestern): Zeigt den Unordentlichen den rechten Weg, ermutigt die Ängstlichen, kümmert euch um die Schwachen, seid mit allen geduldig. 15Seht zu, dass niemand einem anderen Böses mit Bösem vergilt, sondern jagt immer dem Guten nach, untereinander und allen gegenüber. 16 Freut euch immer, 17 betet unaufhörlich, 18 seid in allem dankbar; denn das ist der Wille Gottes in Christus Jesus für euch. 19 Löscht den Geist nicht aus. 20 Verachtet prophetische Äußerungen nicht. 21 Alles aber prüft, das Gute haltet fest. 22 Haltet euch von jeder Gestalt des Bösen fern. 23 Er selbst aber, der Gott des Friedens, heilige euch ganz und gar; er bewahre unverletzt euren Geist, eure Seele und euren Körper, [sodass ihr] untadelig seid bei der Parusie unseres Herrn Jesus Christus. 24 Treu ist, der euch ruft; er wird es auch tun. Der Abschnitt setzt mit einer erneuten Anrede ein (11 2; vgl. 4,1). Paulus, Silvanus und Timotheus bitten darum, dass die Adressatinnen und Adressaten diejenigen anerkennen, die sich in besonderer
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Weise in der und für die Gemeinde engagieren. Mit Partizipien – hier als Nebensätze wiedergegeben – beschreiben die Verfasser drei Funktionen dieser Personen, die sie jeweils auf die Gemeinde beziehen (»euch«): Sie mühen sich um die Gemeinde, sie sorgen für die Gemeindemitglieder im Auftrag des Herrn und sie zeigen ihnen den rechten Weg. Die Art der Beschreibung lässt nicht auf etablierte Ämter innerhalb der Gemeinde schließen: Es finden sich keine Amtsbezeichnungen, sondern Beschreibungen von Funktionen, die bestimmte Leute aus der Gemeinde in Verantwortung für die gesamte Gemeinde übernehmen. Das »Mühen« (kopin) meint im Griechischen harte Arbeit. Es ist also an einen Einsatz für die Gemeinde gedacht, der den Betroffenen einiges abverlangt (vgl. 1Kor 16,16; Röm 16,6.12). Das zweite Partizip (proistamenos) – hier übersetzt mit »sorgen für« – wird in Vereinen der paganen Umwelt durchaus titular – also zur Bezeichnung eines Amtes – verwendet. Eine ähnliche Verwendung findet sich in 1Tim 5,17, wobei auch in diesem Brief, der deutlich später als der 1. Thessalonicherbrief anzusetzen ist, noch keine feste Amtsbezeichnung vorliegt. Die Bezeichnungen sind auch hier noch flexibel (vgl. 1Tim 3,4–5.12). Im 1. Thessalonicherbrief fällt auf, dass das Partizip erst an zweiter Stelle steht. Wären »institutionalisierte« Gemeindeleitungen gemeint, dann wäre zu erwarten, dass dieses Partizip an erster Stelle stünde. So aber entfaltet das Partizip eher das Sich-Mühen um die Gemeinde; es ist also im Sinne eines »Sorgen für« oder auch eines »Beschützens« zu verstehen (vgl. Röm 16,2). Dieses Sorgen geschieht im Auftrag des Herrn. Dadurch erhält es besonderes Gewicht und besondere Autorität. Das dritte Partizip (»den rechten Weg zeigen«) hat im frühjüdischen Sprachgebrauch unter anderem die Bedeutung des gütigen »Zurechtrückens« des Gerechten durch Gott (PsSal 13,9). Das geschah vermutlich am ehesten durch die Lehre (vgl. Kol 1,28), hier vielleicht konkret durch die eschatologische Belehrung in 5,1–11. Das Verhältnis zwischen den Funktionsträgern und den anderen Gemeindemitgliedern bestimmt Vers 1 3 durch den Begriff der Liebe. Es geht also nicht um Gehorsam gegenüber formalen Autoritäten, sondern um eine liebende Werkschätzung dessen, was die Funktionsträger für die Gemeinde tun. Anschließend rufen die Verfasser dazu auf, untereinander Frieden zu halten. Der Blick richtet sich jetzt auf das Verhältnis der Gemeindemitglieder untereinander, das von Frieden bestimmt sein soll. Zu diesem Frieden gehört jedoch auch die Wertschätzung dessen, was die Funktionsträger für die Gemeinde tun. Die Verse 12 und 13 lassen eine junge Gemeinde erkennen, die noch keine festen Ämter kennt. Paulus, Silvanus und Timotheus versuchen, die Stellung der vorhandenen
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Funktionsträger zu stärken, ohne dabei an eine »Einsetzung« der betreffenden Personen durch sie zu erinnern. Das lässt darauf schließen, dass es eine solche »Einsetzung« von Einzelpersonen in bestimmte Ämter in der Gemeinde noch nicht gab. Die Missionare haben offenbar vor ihrer Abreise keine Funktionsträger eingesetzt, sie haben niemanden beauftragt, sondern diejenigen, die den anderen den rechten Weg zeigen, haben die genannten Aufgabe erst nach deren Abreise (freiwillig) übernommen (vgl. 1Kor 16,15). Dabei fällt auf, dass z.B. die Aufgabe, anderen den rechten Weg zu zeigen, in Vers 14 allen Gemeindemitgliedern zukommt. Das spricht gegen eine scharfe und auf Dauer gestellte Aufgabenteilung in dieser frühen Phase der Gemeinde. Der 1. Thessalonicherbrief spricht durchgängig die gesamte Gemeinde an. Ihre Funktionsträger treten nur in 5,12–13 erkennbar hervor, sie »verschwinden« ansonsten ganz in ihrer Gemeinde. Vers 1 4 setzt mit einer neuen Anrede ein. Ist also ein anderer Personenkreis angesprochen als in 5,12? In Frage kämen dann die Funktionsträger, von denen in den vorangehenden Versen die Rede war. Gegen diese Begrenzung der Anrede spricht jedoch Vers 15b, der an die gesamte Gemeinde gerichtet ist. Deshalb liegt es nahe, die Anrede in Vers 14 ebenfalls auf die gesamte Gemeinde zu beziehen. Sie markiert gegenüber Vers 12 nicht eine Eingrenzung des Adressatenkreises, sondern hebt die sich anschließenden Mahnungen hervor. Die Anrede komplettiert diejenige aus Vers 12 zur »Langform«, die in 4,1 vorliegt. Die Gesamtgemeinde bekommt nun drei Aufgaben zugewiesen, die sich auf bestimmte Gruppen innerhalb der Gemeinde beziehen: die Unordentlichen, die Ängstlichen und die Schwachen. Unordentlich ist, wer sich gegen die Ordnung stellt. Viele Auslegungen beziehen das vor allem auf die Erwerbstätigkeit der Gemeindemitglieder. Sie deuten die Unordentlichen also im Zusammenhang mit der Aufforderung, »mit euren Händen zu arbeiten« (4,11). Einige von den Gemeindemitgliedern gingen demnach nicht mehr ihrer Arbeit nach. Waren sie also faul? Meinten sie, angesichts der unmittelbar bevorstehenden Parusie sei es unnötig und sinnlos, noch zu arbeiten? Oder waren sie in Erwartung der Parusie im Gegenteil voll mit anderen Dingen beschäftigt, zum Beispiel mit der Missionierung möglichst vieler Menschen vor dem Ende? Betonen die Missionare deshalb an anderer Stelle, dass sich die missionarische Tätigkeit durchaus mit dem eigenen Broterwerb vereinbaren lässt (2,9)? Von solchen missionarischen Tätigkeiten einiger Gemeindemitglieder hören wir allerdings (ansonsten) nichts. Wer sich genau hinter den Unordentlichen verbirgt, wissen wir nicht. Auch der Zusammenhang mit 4,11 ist nicht sicher und eher vom 2. Thessalonicherbrief
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her eingelesen (vgl. 2Thess 3,6.7.11). Interessant ist aber, dass die Gesamtgemeinde ihnen gegenüber eine Aufgabe übertragen bekommt, die nach 5,12 auch den Funktionsträgern zukommt. Ebenso wenig, wie wir sagen können, wer genau mit den Unordentlichen gemeint ist, wissen wir, was die Angst der Ängstlichen auslöste. Hier können natürlich auch ganz verschiedene, individuelle Gründe im Hintergrund stehen. Während die fehlende Hoffnung ein Kennzeichen derer ist, die nicht zu Jesus Christus gehören (4,13), kann Angst durchaus einzelne Gemeindemitglieder befallen. Das wird nicht als Zeichen defizitären Glaubens gedeutet, sondern als Aufruf an die Brüder und Schwestern, die Betreffenden zu ermutigen. Worin die Schwäche der Schwachen besteht, bleibt ebenfalls offen. Der Aufruf zielt darauf, die Schwachen nicht aus dem Blick zu verlieren, sondern die Verbindung zu ihnen zu halten. Die abschließende Aufforderung, mit allen geduldig zu sein (makrothymeite), erinnert an 1Kor 13,4. Danach ist die Geduld, die Langmut, Kennzeichen der Liebe (makrothymei). Vers 1 5 wird im Ton schärfer. Das »seht zu« entspricht einer Warnung. Gewarnt wird davor, Böses mit Bösem zu vergelten. Das spielt auf das ius talionis an, also auf den Grundsatz, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, wie er z.B. in Ex 21,23–25 formuliert ist: »Entsteht ein dauernder Schaden, so sollst du geben Leben um Leben, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß, Brandmal um Brandmal, Beule um Beule, Wunde um Wunde.« Ursprünglich diente dieser Grundsatz der Eingrenzung von Vergeltung. Es war danach nicht erlaubt, den Verlust eines Lebens mit der Tötung mehrerer Lebewesen zu ahnden. Das Judentum wandte sich zum Teil vom Grundsatz des ius talionis ab. »Sprich nicht: Wie einer mir tut, so will ich ihm auch tun und einem jeglichen sein Tun vergelten.« (Spr 24,29). Der matthäische Jesus kontrastiert den Grundsatz in der Bergpredigt mit der positiven Aufforderung, dem Bösen keinen Widerstand zu leisten und auch die andere Wange hinzuhalten (Mt 5,38–39). Das Verbot, nach dem Grundsatz der Vergeltung zu handeln, wird auch in Röm 12,17 und 1Petr 3,9 mit der Aufforderung verbunden, sich den Menschen im Guten zuzuwenden. So ist es auch in 1Thess 5,15. Das Verbot ist zunächst im Singular formuliert; es wendet sich – eindringlich – an jede einzelne Person. Die Aufforderung, dem Guten nachzujagen, wechselt dann in den Plural. Sie ist umfassend formuliert: »immer«, »untereinander« und »allen gegenüber« soll die Jagd nach dem Guten stattfinden. Vielleicht weitet sich der Blick mit dem »allen gegenüber« über den Horizont der Gemeinde hinaus. In den Versen 16–22 folgen kurze, fundamentale Mahnungen und implizite Ermutigungen (das erfüllen zu können, was angemahnt
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wird). Unterbrochen sind sie von dem Verweis auf Gottes Willen in Christus Jesus »für euch« in Vers 18b (vgl. 4,3). Zunächst (11 6– 18a ) geht es um die grundlegende Haltung gegenüber Gott im Glauben, die durch Fröhlichkeit, Gebet und Dankbarkeit bestimmt ist. Dabei ist die Aufforderung, fröhlich zu sein, eigentlich paradox. Die Verfasser können sie aussprechen, weil alle, die zu Jesus Christus gehören, Grund zur Freude haben. Denn sie haben Hoffnung – im Unterschied zu den »anderen, die keine Hoffnung haben« (4,13). Nach Gal 5,22 ist die Fröhlichkeit eine »Frucht des Geistes«, sie ist also ein Geschenk Gottes. Daher gehört die Fröhlichkeit zum Gebet und zur Dankbarkeit. In 4,3 wurde der Wille Gottes als Heiligung expliziert, die sich in konkreten Verhaltensweisen im alltäglichen Leben – z.B. im »Meiden von Unzucht« – ausbuchstabierte. An dieser Stelle (11 8b) meint der Wille Gottes die Ausgestaltung des Lebens vor Gott in Gebet, Dankbarkeit und Freude. Das »für euch« in betonter Schlussstellung unterstreicht, dass der Wille Gottes den Adressatinnen und Adressaten zugutekommt. Er will ihr Bestes. In den Versen 1Thess 5,11 9–22 rückt die Frage in den Blick, wie mit den Erscheinungsweisen des Geistes umzugehen sei. Die letzten beiden Verse gehören insofern zusammen, als 21b und 22 entfalten, was die Adressatinnen und Adressaten, nachdem sie alles einer Prüfung unterzogen haben, mit dem Guten und dem Bösen tun sollen. Die Mahnungen, den Geist nicht auszulöschen und prophetische Äußerungen nicht zu verachten, lassen erahnen, welch bedeutende Rolle diese in urchristlichen Gemeinden spielen konnten. Wir kennen ähnliche Phänomene heute am ehesten aus charismatischen Gemeinden. Im Neuen Testament vermittelt insbesondere der 1. Korintherbrief einen Eindruck davon, wie der Geist in der Gemeinde wirken konnte. Der Geist offenbart sich danach in unterschiedlichen Kräften: z.B. der Gabe, gesund zu machen (1Kor 12,9), der Gabe der (unverständlichen) Zungenrede, der Gabe der prophetischen Rede (1Kor 12,10), oder aber – sehr viel unspektakulärer – in dem Bekenntnis zu Jesus Christus (1Kor 12,1–3). Wie sich die Kraft des Geistes nach der Einschätzung von Paulus, Silvanus und Timotheus in Thessalonich auswirkte, wissen wir nicht. Die Aufforderung, den Geist nicht auszulöschen, kann entweder auf die Haltung gegenüber besonders geistbegabten Mitgliedern der Gemeinde bezogen werden. Dann wäre gemeint, dass die Adressatinnen und Adressaten diese Personen nicht daran hindern sollen, die Gaben des Geistes in sich wirken zu lassen, also z.B. Menschen gesund zu machen oder in Zungen zu reden. Oder die Aufforderung ist auf die eigene Person zu beziehen. Dann wäre gemeint, dass die Adressatinnen und Adressaten die Erscheinungs-
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weisen des Geistes bei sich selbst nicht unterdrücken sollen. Vers 2 0 greift nun eine Erscheinungsform des Geistes besonders heraus: die prophetische Rede. Sie soll in der Gemeinde Gehör finden. Prophetische Rede hat nach 1Kor 14,3 die Funktion der Erbauung, sie soll die Hörerinnen und Hörer ermutigen. Im späteren Urchristentum gibt es – neben Aposteln, Evangelisten, Hirten und Lehrern (vgl. Eph 4,11) – offenbar bestimmte Personen, die als von Jesus Christus eingesetzte Propheten gelten. Solch eine an bestimmte Personen gebundene Aufteilung der Funktionen finden wir in 1Thess 5 noch nicht. Grundsätzlich hat jedes Gemeindemitglied das Potenzial zu prophetischer Rede. Interessant ist, dass die Verfasser die Wertschätzung prophetischer Rede mit der Mahnung verbinden, (die Äußerungen) zu prüfen (22 1). Von der Gabe, die Geister zu unterscheiden, redet wiederum der 1. Korintherbrief (12,10). Konkreter werden die Verfasser in 1Thess 5,21 nicht. Die Anweisung birgt Konfliktpotenzial. Was gilt, wenn einer Äußerung, die beansprucht, vom Geist gewirkt zu sein, der prophetische Charakter aufgrund einer Prüfung abgesprochen wird, die ebenfalls beansprucht, geistgewirkt zu sein? Im jüdischen Kontext meint das »Gute« dasjenige, was Gottes Willen entspricht (vgl. 1Thess 5,18b). Vers 2 2 geht darauf ein, wie die Adressatinnen und Adressaten mit dem Bösen verfahren sollen: Sie sollen es meiden. Entsprechend hieß es in 4,3, dass sie Unzucht meiden sollen. Das Böse zu meiden bedeutet, nach dem Willen Gottes zu leben. In ihrer Gegenüberstellung von »gut« und »böse« wirken die Verse 21–22 sehr radikal. Es gibt keine Zwischentöne, keinen neutralen Raum. Im Angesicht Gottes gibt es nur »schwarz« gegenüber von »weiß«, nur Hoffnungslosigkeit gegenüber von Hoffnung, nur »böse« gegenüber von »gut«. Die Verse 2 3–24 formulieren – darin 3,11–13 ähnlich – einen Gebetswunsch. Die Titulierung Gottes als »Gott des Friedens« erinnert an 1,1. Der Wunsch nach Heiligung in 5,23 greift 3,13 und 4,3–8 auf. Mit 3,13 verbindet 5,23 auch der Wunsch, bei der Parusie des Herrn untadelig dazustehen. War in 3,13 davon die Rede, dass die »Herzen« untadelig sein sollen, so heißt es in 5,23, dass Geist, Seele und Leib untadelig sein sollen. Diese Formulierung ist offen für zwei unterschiedliche Beschreibungen des Menschen. Möglich ist einerseits, dass die Verfasser hier ein dreidimensionales Menschenbild vertreten: Der Mensch »besteht« aus Geist, Seele und Leib. Eine solche Dreiteilung findet sich in (anderen) paulinischen Briefen allerdings nicht. Sie wäre ein Spezifikum des 1. Thessalonicherbriefes. Möglich ist andererseits, dass der Mensch mit dem Wort »Geist« (pneuma) bereits vollständig beschrieben ist, wie wir es in (anderen) paulinischen Briefen lesen (vgl. Gal 6,18;
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Phil 4,23; Phlm 25). Diese umfassende Beschreibung würde anschließend durch »Seele« und »Leib« zweidimensional entfaltet. Schwierig an dieser Interpretation ist, dass sich die Formulierung »Seele und Leib« als umfassende Beschreibung für den Menschen in (anderen) paulinischen Briefen nicht findet, wohl aber in jüdischer Literatur. Vers 24 bekräftigt und bestätigt den Wunsch aus Vers 23. Auf Gott ist Verlass, er ist treu. Deshalb haben die Missionare die berechtigte Hoffnung, dass ihr Gebetswunsch in Erfüllung geht. 5,12–24 erlauben uns einen kleinen Einblick in die Gemeindestruktur in Thessalonich. Die Verse zeichnen das Bild einer jungen Gemeinde, die noch keine festen Amtsträger hat, in der jedoch bestimmte Personen bestimmte Funktionen ausüben. Prophetische Rede wird in der Gemeinde hoch geschätzt, sie soll aber auch geprüft werden. Die Gemeinde scheint von vielen unserer landeskirchlich verfassten Gemeinden weit entfernt. Gegenüber hierarchischen und manchmal verkrusteten großkirchlichen Strukturen hat das Bild dieser jungen, lebendigen, weitgehend »egalitären« Gemeinde einen gewissen Charme. Der 1. Thessalonicherbrief vermittelt aber auch einen Eindruck davon, wie verletzlich und weitgehend ungeschützt diese Gemeinde ist – einerseits durch die Spannungen mit der Umwelt, andererseits durch Unsicherheiten, die das neue Leben und die neue Lehre betreffen.
5,25–28 Der Briefschluss
Ähnlich wie der Briefkopf (vgl. den Kommentar zu 1,1) war in der Antike auch der Briefschluss stärker formalisiert. Typisch sind insbesondere die Elemente der Grüße und des Segens- bzw. Gnadenwunsches. Singulär ist die Beschwörung, den Brief vorzulesen. 25
Brüder (und Schwestern), betet (auch) für uns. 26Grüßt alle Brüder (und Schwestern) mit dem heiligen Kuss. 27Ich beschwöre euch bei dem Herrn, dass der Brief allen Brüdern (und Schwestern) vorgelesen werde. 28Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus sei mit euch. In den Versen 23–24 hatten die Missionare einen Gebetswunsch für die Gemeinde formuliert. Unklar ist, wie eng Vers 2 5 an diese Verse anschließt. Das »auch« ist textkritisch unsicher, d.h. es kommt in einigen Handschriften vor und fehlt in anderen. Deshalb ist unklar, ob das Wort zum ursprünglichen Textbestand gehört oder nicht. Inhaltlich wird durch das »auch« ein engerer Bezug zu den Versen 23–24 hergestellt. Die Fürbitte wäre gegenseitig: In den Versen 23–24 bitten die Missionare für die Gemeinde, laut Vers 25 soll die Gemeinde für die Missionare bitten. Der Inhalt der Fürbitte in Vers 25 wäre wohl aus den Versen 23–24 zu ergänzen: Die Gemeinde soll Gott darum bitten, dass auch die Missionare bei der Parusie untadelig sind. Streicht man das »auch«, ist der Bezug lockerer und der Inhalt des Gebets für die Missionare wird offen gelassen. In anderen Briefen bittet Paulus um das Gelingen seines missionarischen Werkes (vgl. Röm 15,30– 33; 2Kor 1,11). Denkbar ist, dass die Missionare auch in 5,25 auf diesen Gebetswunsch abzielen. Grüße sind in antiken und auch neutestamentlichen Briefschlüssen (wie bei uns heute) üblich. Der Kuss galt in der Antike als Zeichen der Gemeinschaft. Die paulinischen Briefe nutzen diese Form intensiv zur Kontaktpflege. In Röm 16,16; 1Kor 16,20; 2Kor 13,12 findet sich die Aufforderung, einander mit dem heiligen Kuss zu grüßen. Dasselbe ist wahrscheinlich in Vers 5,22 6 gemeint, wobei statt des »einander« ein »alle« gesetzt ist. Die Grüße, die die Missionare der Gemeinde auftragen, sollen vor allem den innergemeindlichen Zusammenhalt stärken. Die Besonderheit in 1Thess
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1Thess 5,25–28
5,26 besteht nun darin, dass die Missionare der Gemeinde in Thessalonich keine Grüße von anderen Personen übermitteln. Zum Vergleich: An die Gemeinde in Rom ergehen Grüße von »allen Gemeinden Christi« (Röm 16,16), von »Timotheus, Tertius, Gaius, Erastus, Quartus« (Röm 16,21–23). An die Gemeinde in Korinth übermittelt Paulus Grüße von »den Gemeinden in der Provinz Asien«, von »Aquila und Priska samt der Gemeinde in ihrem Haus«, von »allen Brüder« (1Kor 16,19–20) sowie von »allen Heiligen« (2Kor 13,12). Etwas Entsprechendes fehlt in 1Thess 5,26. Wenn wir annehmen, dass der 1. Thessalonicherbrief in Korinth geschrieben wurde, könnte das bedeuten, dass zwischen der korinthischen Gemeinde und der Gemeinde in Thessalonich zum Zeitpunkt der Abfassung des Briefes noch keine (persönlichen) Kontakte bestanden (vgl. den Kommentar zu 3,1). Der Befund könnte auch darauf hinweisen, dass die drei Missionare bei der Abfassung des Briefes keine weiteren Missionare bei sich hatten. Gegenüber Röm 16,3–15 fällt zudem auf, dass die Adressatinnen und Adressaten dort den Auftrag erhalten, ihrerseits namentlich genannte Personen zu grüßen. In 1Thess 5,26 kommt die Gemeinde durch die Bezeichnung »alle Brüder (und Schwestern)« zwar nicht als kollektive Größe, sondern in ihrer »Zusammensetzung« aus einzelnen Gemeindemitgliedern in den Blick; umso mehr fällt aber auf, dass hier keine Namen genannt werden. Der Befund lässt sich so deuten, dass die Missionare trotz ihrer Beteuerung, sich eng mit der Gemeinde verbunden zu fühlen (2,7.11), noch keine intensiven persönlichen Kontakte zu ihr aufbauen konnten. Die nachdrückliche Aufforderung (2 2 7), den Brief vorzulesen, steht in der ersten Person Singular (vgl. 2,18; 3,5). Die Reihenfolge der Absenderangabe im Briefkopf (1,1), bei der Paulus an erster Stelle genannt wird, sowie seine Hervorhebung in 2,18 sprechen dafür, das »Ich« in 5,27 auf Paulus zu beziehen. Der Wechsel in die erste Person Singular könnte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass Paulus die letzten Verse eigenhändig schreibt (vgl. 1Kor 16,21; Gal 6,11; 2Thess 3,17) und nicht mehr – wie vorher – einem Sekretär diktiert (vgl. Röm 16,22). Die Aufforderung ist für einen Briefschluss ungewöhnlich. Sie lässt darauf schließen, dass der Vorgang des Vorlesens (noch) nicht selbstverständlich war. Genau genommen setzt die Beschwörung einen doppelten Akt der Lektüre voraus. Zunächst sollen die Angeredeten (»euch«) den Brief lesen. Dann sollen sie ihn allen Brüdern und Schwestern vorlesen. Damit ist dreierlei impliziert: Erstens betont Paulus, dass der Brief wichtig ist. Alle Brüder und Schwestern sollen ihn kennen. Zweitens setzt Paulus mit seiner Beschwö-
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rung die Zustimmung der Erstlesenden zum Inhalt und zur Relevanz des Schreibens voraus. Indem sie den Brief vorlesen, verbürgen sie sich für seine Richtigkeit und seine Wichtigkeit. Drittens ist die Schriftlichkeit des Briefes offenbar von Bedeutung. Der Brief soll verlesen werden. Eine mündliche Wiedergabe seines Inhalts reicht nicht. Mit dem abschließenden Gnadenwunsch (22 8) formulieren Paulus, Silvanus und Timotheus ihren Gruß an die Gemeinde. Sie äußern darin den Wunsch, dass die Gnade Christi mit der Gemeinde sei. Üblich war in antiken Briefen der Schluss: »Leb(t) wohl!« Diesen Wunsch haben die Missionare durch einen spezifisch religiös gefüllten Wunsch ersetzt. Dieser konnte auch erweitert werden, wie 1Kor 16,23–24 zeigt. Der Gnadenwunsch verweist die Gemeinde abschließend auf ihren Herrn Jesus Christus, den sie erwartet. Der Briefschluss weist mit den Grüßen und dem Gnadenwunsch typische Elemente auf. Ungewöhnlich ist die Aufforderung, den Brief »allen Brüdern (und Schwestern)« vorzulesen. Die Missionare setzen damit die Zustimmung der Erstlesenden zum Briefinhalt voraus, und sie inszenieren das mehrmalige Lesen des Briefes. Bei den Grüßen fällt zweierlei auf: Erstens übermitteln die Missionare keine Grüße anderer Missionare. Zweitens fordern sie die Gemeindemitglieder nicht dazu auf, bestimmte, namentlich genannte Personen zu grüßen. Wahrscheinlich hatten die Missionare noch keine intensiveren persönlichen Kontakte zu Gemeindemitgliedern aufgebaut, und die Gemeinde hat ihrerseits (noch) keine anderen Missionare außer Paulus, Silvanus und Timotheus kennengelernt. Die Vernetzung der thessalonischen mit anderen Gemeinden und Missionaren scheint insofern trotz der – recht pauschalen – Aussagen in 1,7–8; 4,10 nur schwach ausgeprägt zu sein.
Die Botschaft des 1. Thessalonicherbriefes – eine Zusammenfassung
I.
Der 1. Thessalonicherbrief im Licht antiker Erwartungen
Wir können unseren Blick auf den 1. Thessalonicherbrief weiter schärfen, wenn wir fragen, welche antiken Erwartungen er erfüllt und welche er durchkreuzt. In diesem Zusammenhang haben wir bereits festgestellt, dass die Danksagung im Vergleich zu (anderen) paulinischen Briefen außergewöhnlich lang ist. Während sie z.B. im 1. Korintherbrief gerade einmal sechs Verse umfasst (1Kor 1,4– 9), reicht sie im 1. Thessalonicherbrief von 1,2 – 3,13, mit einem Neueinsatz in 2,13. Die ausführliche Danksagung hat die Funktion, das Beziehungsgefüge zwischen den Missionaren, der Gemeinde und Gott bzw. Jesus Christus kommunikativ zu festigen. Dabei stehen zunächst die Beziehungen zwischen den Missionaren und Gott bzw. Jesus Christus einerseits und diejenige zwischen den Missionaren und der Gemeinde andererseits im Fokus. Die Missionare danken Gott für die Gemeinde. Darin liegt natürlich implizit ein großes Kompliment an die Gemeinde. Insofern fungiert die Danksagung auch als captatio benevolentiae. Sie war in antiken Reden durchaus üblich, um sich das Wohlwollen des Publikums zu sichern. Man wird die Danksagung im 1. Thessalonicherbrief aber kaum auf diese rhetorische Funktion beschränken dürfen. In der Danksagung liegt vielmehr bereits eine theologische Botschaft. Wenn die Missionare nicht etwa der Gemeinde dafür danken, dass sie sich so gut entwickelt hat, sondern Gott, dann äußert sich darin die Überzeugung, dass sich Gründung und Schicksal der Gemeinde letztlich nicht dem Agieren der Missionare, sondern der Gnade Gottes verdanken. Der erinnernde Rückblick auf den bisherigen gemeinsamen Weg von Gemeinde und Missionaren steht damit nicht unter dem Vorzeichen des Eigen-, sondern des Gotteslobes. Diese Beobachtung ist allerdings um einen vielleicht nicht gleich sichtbaren Aspekt zu ergänzen. Die Beziehung zwischen Gemeinde und Gott bzw. Jesus Christus gründet in der Erwählung Gottes (1,4) und in der kommenden Rettung aus dem göttlichen Zorngericht durch Jesus Christus (1,10). In dieser Beziehung spielen die Missionare eigentlich keine tragende Rolle (mehr). Indem die Missionare jedoch in der Danksagung ihren gemeinsamen Weg mit der
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Die Botschaft des 1. Thessalonischerbriefes – eine Zusammenfassung
Gemeinde nachdrücklich in Erinnerung rufen und abschließend betonen, dass sie Gott inständig darum bitten, die Gemeinde wieder persönlich besuchen zu können, um ihr unvollendetes Missionswerk weiter voranzutreiben (3,10), reklamieren sie nachdrücklich einen bleibenden Platz in dem Beziehungsgefüge. Aus diesem kommunikativen Anliegen erklärt sich vielleicht die eigentümliche Spannung, dass die Missionare einerseits Gott für den erfreulichen Zustand, in dem sich die Gemeinde befindet, danken (1,3.6–8; 2,13– 14.19; 3,6–9), und die Missionare es dennoch für unbedingt erforderlich halten, dass sie (und keine anderen Missionare) wiederum nach Thessalonich reisen. Im Vergleich zu anderen neutestamentlichen Briefen fällt weiterhin auf, dass der paränetische Teil direkt an die Danksagung anschließt. Normalerweise findet sich dazwischen der eigentliche Hauptteil, in dem der oder die Verfasser wesentliche Informationen mitteilen. Im Römerbrief etwa endet die Danksagung in Röm 1,15, der paränetische Teil beginnt in 12,1. Im 1. Thessalonicherbrief sind diese Informationen – die es durchaus auch gibt, vor allem hinsichtlich der Frage nach dem Schicksal verstorbener Gemeindemitglieder (4,13–18) – in den paränetischen Teil integriert. Die thessalonischen Gemeindemitglieder sollen die Informationen nutzen, um einander zu trösten und sich aufzurichten (4,18; 5,11). Insofern stellt sich die Frage, inwiefern sich die besondere Form des 1. Thessalonicherbriefes von antiken paganen Brieftraditionen her erklären lässt. Naheliegend sind hier am ehesten der Freundschaftsund der Trostbrief. Für den Freundschaftsbrief spricht, dass die Missionare wiederholt ihre enge Verbundenheit mit der Gemeinde betonen (bes. 2,7–8). Sie beschwören das gegenseitige Vertrauen, das gegenseitige Gedenken (vgl. 1,2; 2,9) und den Hass auf die Feinde des anderen (vgl. 2,14–16). Allerdings orientiert sich der antike Freundschaftsbrief an dem Ideal der Freundschaft zwischen zwei freien, ebenbürtigen Männern. Im 1. Thessalonicherbrief geht es aber nicht um die Beziehung zwischen zwei (gleichberechtigten) Einzelpersonen, sondern um diejenige zwischen einer kleinen Gruppe von Missionaren und einer größeren Gruppe von Gemeindemitgliedern. Diese Beziehung ist von Paulus, Silvanus und Timotheus wohl auch nicht als gleichberechtigt gedacht. Das zeigen z.B. die Bilder des Verhältnisses der Amme zu ihren Kindern (2,7) bzw. des Vaters zu seinen Kindern (2,11). Die Missionare danken Gott für die Gemeinde (1,2; 2,13) und halten Fürbitte für sie (3,12; 5,23; vgl. aber 5,25). Sie erlauben sich ein Urteil über den Glaubensstand der Gemeinde (3,10). Auch die Ermahnungen in den Kapiteln 4 und 5 setzen ein Beziehungsgefälle voraus.
Die Botschaft des 1. Thessalonischerbriefes – eine Zusammenfassung
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Trostbriefe wurden in der Antike vor allem an Hinterbliebene verschickt. Die Verfasser schreiben typischerweise, dass sie von dem Tod des betreffenden Menschen gehört hätten und tief betrübt seien. Sie nennen also den Grund, weshalb der Adressat oder die Adressatin getröstet werden muss und bekunden ihr Mitgefühl. Anschließend bringen sie tröstende Argumente, z.B. den Hinweis darauf, dass alle Menschen sterben müssen. Viele Menschen müssen also die Erfahrung machen, eine(n) geliebte(n) Angehörige(n) zu verlieren. Das Einzelschicksal wird so in ein allgemeines Schicksal eingeordnet. Anschließend erklärt der Verfasser die Notwendigkeit des Briefes damit, dass er leider nicht persönlich anwesend sein könne. Es folgen Ermahnungen, sich nicht zu sehr in der Trauer zu verlieren und die Alltagsgeschäfte darüber nicht zu vernachlässigen. Die Aufzählung macht deutlich, dass der 1. Thessalonicherbrief durchaus mehrere Elemente eines Trostbriefes aufweist: Die Gemeinde ist traurig wegen des ungewissen Schicksals verstorbener Gemeindemitglieder (4,13–18). Sie wurde bzw. wird verfolgt (1,6; 2,1–4.13–16; 3,3–4). Insofern benötigt sie Trost. Die Missionare bedauern, dass sie nicht persönlich anwesend sein können. Ihr Mitgefühl äußern die Verfasser als Mit-Leiden (1,6; 2,2.15–16). In 3,3–4 weisen Paulus, Silvanus und Timotheus darauf hin, dass sie selbst und auch die Gemeindemitglieder dazu bestimmt seien, Bedrängnisse zu durchleiden. Der Gemeinde und sich selbst bescheinigen sie zu Beginn des Briefes, dass sie das gut gemeistert haben (1,6). Die Ermahnungen im paränetischen Teil könnten zumindest zum Teil im Kontext eines Trostbriefes gedeutet werden. Insbesondere 4,11 und 5,14 lassen sich als Aufforderung lesen, die alltäglichen Pflichten nicht zu vernachlässigen. Es finden sich also mehrere Elemente, die typisch für einen Trostbrief sind. Umso mehr fallen dann aber auch die Unterschiede auf: Die Parallelen wirken verstreut, sie sind im 1. Thessalonicherbrief offenbar nicht Struktur gebend. Ein wesentlicher Unterschied besteht darin, dass der 1. Thessalonicherbrief zu Beginn nicht deutlich auf ein Ereignis rekurriert, das Trost erforderlich macht. Im Gegenteil: Die Erwähnung von Leid in 1,6 wird sofort durch den Hinweis auf die Freude abgeschattet und »ent-dramatisiert«. II.
Die Rolle von Paulus, Silvanus und Timotheus
Der 1. Thessalonicherbrief gibt drei Absender an: Paulus, Silvanus und Timotheus. Im Brief taucht nur an drei Stellen die 1. Person Singular (»ich«) auf (2,18; 3,5; 5,27). Ansonsten ist durchgängig von »wir« und »uns« die Rede. Das ist gegenüber anderen paulini-
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schen Briefen auffällig. M.E. ist diese Auffälligkeit am ehesten so zu deuten, dass das »wir« im Sinne eines echten Plurals zu verstehen ist und auf Paulus, Silvanus und Timotheus (in 3,2 auf Paulus und Silvanus) oder auf die drei Missionare einschließlich der Adressatinnen und Adressaten verweist. Dann stellt sich einerseits die Frage, wie sich das Verhältnis der drei Missionare untereinander darstellt, andererseits die Frage, in welchem Verhältnis die Missionare zur Gemeinde stehen. Im Briefkopf enthalten die Namen der Absender keinerlei Zusätze. In 2,7 werden alle drei als »Christi Apostel« bezeichnet. »Christi Apostel« sind die Missionare wohl (noch) nicht in einem titularen Sinn. Die Bezeichnung zielt auf den Unterhaltsanspruch, auf den die drei verzichten, obwohl er ihnen zugestanden hätte (2,9). In 3,2 heißt es von Timotheus, er sei Gottes Mitarbeiter (und nicht etwa derjenige von Paulus). Das spricht alles für eine weitgehende Gleichberechtigung unter den drei Missionaren. Andererseits wird Paulus in 2,18 namentlich hervorgehoben. Diese Hervorhebung führt dazu, dass die Lesenden auch hinter dem »ich« in 3,5 und 5,27 Paulus vermuten. Er steht an erster Stelle in 1,1, er hat offenbar die Autorität, Timotheus nach Thessalonich zu schicken (3,5). Dieser Besuch des Timotheus stillt nicht das Verlangen von Paulus und Silvanus, die thessalonische Gemeinde persönlich zu besuchen – obwohl Timotheus sehr gute Nachrichten aus Thessalonich mitbringt. Insofern deutet sich eine Vorordnung des Paulus insbesondere gegenüber Timotheus, weniger ausgeprägt auch gegenüber Silvanus, an. Der Brief zeigt an dieser Vorordnung jedoch kaum Interesse. Paulus erscheint hier (noch) nicht als die überragende Persönlichkeit, die eine Gruppe von Mitarbeitern um sich schart. Ich betrachte die Botschaft des 1. Thessalonicherbriefes daher weitgehend als ein »Gemeinschaftsprodukt« von Paulus, Silvanus und Timotheus. Die Missionare reden die Gemeindemitglieder als »(liebe) Brüder« an (1,4; 2,1.9.14.17; 3,7; 4,1.13; 5,1.4.12.14). In dieser Anrede zeigt sich eine androzentrische Perspektive, insofern Frauen, die mit Sicherheit auch zur Gemeinde gehört haben, stillschweigend inkludiert sind. Gegenüber den Männern in der Gemeinde drückt die Anrede eine Gleichstellung aus. Gemeinsam bilden sie eine Familie, deren Vater Gott ist (1,1). Allerdings verschiebt sich diese Metaphorik in 2,7.11. Hier vergleichen sich die Missionare mit einer Amme, die als Mutter ihre leiblichen Kinder versorgt, und mit einem Vater, der seine Kinder unterweist. Die Bilder drücken eine liebevolle, fürsorgliche, aber auch autoritäre und hierarchische Beziehung aus. Diese Autorität beanspruchen die Missionare auch implizit und unhinterfragt, indem sie sich als Dankende (1,2; 2,13) und Fürbittende (3,12; 5,23) zwischen die Gemeinde und Gott stel-
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len, das Evangelium stillschweigend an ihre Verkündigung binden (1,5; 2,4), die Gemeinde hinsichtlich ihres Glaubensstandes beurteilen (3,10) und sie ermahnen (4,1–12; 5,12–22). III. Kernelemente der theologischen Botschaft des 1. Thessalonicherbriefes Der 1. Thessalonicherbrief fasst sein theologisches Programm in den Begriffen »Glaube, Liebe, Hoffnung« zusammen (1,3; 5,8). Der Aspekt der Hoffnung wird dabei am ausführlichsten behandelt (4,13 – 5,11). Wahrscheinlich gab er den Anlass zur Abfassung des Briefes. Gleich zu Beginn des Briefes wird der Glaube (pistos) als ein »Werk« charakterisiert (1,3). Damit ist gemeint, dass sich der Glaube in konkreten Verhaltensweisen zeigt und zeigen soll. Er erfordert auch deshalb ein konkretes Tun, weil er der »Bedrängnis« (1,6; 3,3–4) widerstehen muss. Die Bekehrung hat offenbar dazu geführt, dass die Bekehrten bedrängt werden (1,6). Der Glaube verdankt sich der Erwählung durch Gott (1,4). Sie bildet das Fundament der gegenwärtigen Heilswirklichkeit. Die glaubenden Gemeindemitglieder sind berufen (2,12; 4,7) und werden von Jesus Christus, der treu ist (pistos), gerufen (5,24). Hier zeigt sich besonders deutlich, dass Glaube im Sinne von Treue und Vertrauen zu verstehen ist, nicht etwa im Sinne von »Nicht-genau-wissen«. Mit der Zusage der Erwählung beziehen die Missionare eine alttestamentlich geprägte Tradition (der Erwählung von [Teilen aus] dem Volk Israel) auf eine Gemeinde, die sie als heidenchristlich charakterisieren (1,9). Die Erwählung zeigt sich darin, dass die frohe Botschaft auf vielfältige Weise in der Gemeinde wirkt (1,5), dass die Gemeinde die Missionare trotz großer Bedrängnis nachahmt (1,6) und dass sie ihrerseits zum Vorbild für andere Gemeinden geworden ist (1,7). Die Erwählung qualifiziert den Heilsstatus der Gemeindemitglieder in der Gegenwart. Die eschatologische Gemeinschaft mit Jesus Christus (4,13), das Leben mit ihm, sind jedoch Heilsgüter, die der Zukunft vorbehalten sind. Sie sind Gegenstand der »Hoffnung«. Der 1. Thessalonicherbrief spricht nicht davon, dass wir schon jetzt Gemeinschaft mit dem Herrn Jesus Christus haben. Gegenwärtig schützt der Glaube die Gemeindemitglieder wie ein Panzer (5,8). Sie sind so gerüstet, der Bedrängnis, die sie durchlitten haben (1,6; 2,14) und noch durchleiden (3,3–4), zu widerstehen. Diese Deutung des Glaubens als eines Schutzes in der Bedrängnis ist ein theologischer Reflex auf den religionssoziologischen Zusammenhang von Glaube und Bedrängnis, nach dem die
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Bekehrung überhaupt erst zu Ausgrenzung und Anfeindung Seitens der Umwelt führen kann. Die Liebe wird zunächst (1,3) als »Mühe« vorgestellt. Von 2,9; 3,5 und 5,12 her wird deutlich, dass die Verfasser mit der »Mühe« ihre missionarische Arbeit charakterisieren. Diese missionarische Arbeit muss sich gegen (satanischen; 2,18) Widerstand durchsetzen. Schon in Philippi sind Paulus, Silvanus und Timotheus aufgrund ihrer missionarischen Tätigkeit misshandelt worden. Dennoch machen sie weiter. Sie haben die Adressatinnen und Adressaten bei ihrem Gründungsaufenthalt lieb gewonnen (2,8) und sorgten sich nach ihrer Abreise um ihr weiteres Schicksal (3,1–5). Die Mission ist also Arbeit an und in Liebe, weil die Missionierten den Missionierenden ans Herz wachsen. Diese Liebe ist einerseits in eine symmetrische Beziehung eingeschrieben. Die Gemeindemitglieder sind »geliebte Brüder (und Schwestern)« (1,4), sie sind – wie auch die Missionare und andere Nachfolgerinnen und Nachfolger Jesu Christi – von Gott erwählt. Andererseits ist die Liebe der Missionare zu den Gemeindemitgliedern Bestandteil einer hierarchischen Beziehung. Denn die Missionare haben die Adressatinnen und Adressaten als ihre Kinder (2,7.11) lieb gewonnen (2,8). Die geschwisterliche Liebe kennzeichnet das Verhältnis der Gemeindemitglieder untereinander (4,9–10). In diesem Punkt ist die Gemeinde direkt »von Gott gelehrt« (4,9). Sie soll darin allerdings noch vollkommener werden. Die geschwisterliche Liebe beschreibt das Ethos, das den Zusammenhalt der Gemeinde gegenüber der Außenwelt stärkt. Diese Abgrenzung wird in ethischer Hinsicht durch die konkreten Ausführungen zum Prozess der »Heiligung« verstärkt (4,3–8). In diesem Prozess stehen nur die Erwählten, die Gottes heiligen Geist empfangen (4,8; vgl. 5,19), und so überrascht es nicht, dass die damit zusammenhängenden ethischen Ermahnungen darauf zielen, nicht so zu sein wie diejenigen, »die Gott nicht kennen« (4,5), und – im Unterschied zu ihnen – einst in »Heiligkeit« vor Gott zu stehen (3,13; vgl. 5,23). Demgegenüber gibt es jedoch auch Ermahnungen, die die Abgrenzung gegenüber der Umwelt abmildern. Die Gemeindemitglieder sollen gegenüber den Außenstehenden ein ehrbares Leben führen (4,12) und sie sollen »allen gegenüber« dem Guten nachjagen. Den in die Zukunft gerichteten Hoffnungsaspekt entfaltet der 1. Thessalonicherbrief breit in 4,13–18; 5,1–11. In diesen Passagen dominiert eine apokalyptisch-eschatologische Grundstimmung. Die thessalonische Gemeinde unterscheidet sich von denen, die »keine Hoffnung haben« (4,13), dadurch, dass sie Hoffnung haben (1,3; 5,8). Diese Hoffnung erfordert Standhaftigkeit (1,3). Denn sie muss sich gegen eine Weltwahrnehmung durchsetzen, die diese Hoff-
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nung (vermeintlich) gar nicht braucht. Die Gegenwart scheint dieser Hoffnung zu widersprechen. Denn in ihr werden diejenigen, die an Jesus Christus glauben, verfolgt (2,14), während diejenigen, die den »Götzen« treu geblieben sind (1,9), augenscheinlich in »Frieden und Sicherheit« leben (5,3). Dagegen hält der 1. Thessalonicherbrief daran fest, dass der »Tag des Herrn«, an dem die wahren Verhältnisse für alle offenbar werden, ohne erkennbare Vorzeichen hereinbricht (5,2). Die Verlässlichkeit der Hoffnung gründet in dem zurückliegenden Tod Jesu Christi »für uns« (5,10). Sie bezieht sich konkret auf die Rettung vor dem göttlichen Zorngericht durch Jesus Christus (1,10) und die eschatologische Gemeinschaft (4,17), das eschatologische Leben mit ihm (5,10). Die Missionare sprechen der thessalonischen Gemeinde zu, dass sie nicht ins Gericht kommen werden, wenn sie am Glauben an ihren Retter Jesus Christus festhalten (vgl. 5,9). Insofern ist es folgerichtig, dass das Gericht in der Parusieschilderung (4,13–17) nicht erwähnt wird. Jesus Christus kommt bald (4,15.17) als der Herr, der den Seinen – im Unterschied zu römischen Herrschern – wirklich und dauerhaft »Frieden und Sicherheit« bringt, und zwar in der Gemeinschaft mit ihm (4,17; 5,10). Dabei ist es unerheblich, ob die Gemeindemitglieder vor der Parusie versterben oder nicht. Denn die Auferstehung wird vor der Entrückung stattfinden. Die lebenden und die auferstandenen Christinnen und Christen werden »zugleich« entrückt (4,17; vgl. 5,10). Richter ist im 1. Thessalonicherbrief allein Gott. Sein Zorn vernichtet die Gottlosen (1,9; 2,16; 5,9). Er hat die einen zum Zorn, die anderen zum Heil bestimmt (5,9). Das göttliche Zorngericht gilt den anderen, denen, die in der Finsternis sind (5,4–5). Dies ist kein Gericht mit doppeltem Ausgang, bei dem also die einen ins Verderben und die anderen ins ewige Leben gehen (vgl. Mt 25, 31–46), sondern ein Vernichtungsgericht, das Verderben über alle bringt, die gerichtet werden (vgl. 1Thess 5,3). Deshalb hängt so viel daran, gar nicht erst ins Gericht zu kommen. »Die Juden« gehören nach 2,14–16 zu »den anderen«. Über sie ist schon das Gericht gekommen, das (vernichtende) Urteil über sie steht fest. Die Konzeption eines Vernichtungsgerichts für die »anderen« und einer heilbringenden Parusie für die lebenden und auferstandenen Nachfolgerinnen und Nachfolger Jesu Christi zementiert theologisch die gesellschaftliche Trennung zwischen »drinnen« und »draußen«, die die Gegenwart der Gemeinde maßgeblich kennzeichnet. Diese theologische Botschaft unterscheidet sich maßgeblich von der Botschaft (anderer) paulinischer Briefe. Es fehlen (noch) Ausführungen zur Lehre vom Menschen (Anthropologie) mit den Begriffen »Fleisch«, »Sünde« (im Singular! anders 2,16), »Freiheit« etc.
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Es fehlt eine Theologie, die dem Kreuzestod Jesu Christi entscheidende Bedeutung beimisst und darüber nachdenkt, wie der Mensch (von Gott) gerecht (gemacht) wird. Das Werk erscheint nicht als Gegenstück zum Glauben, sondern als sein Charakteristikum (1,3; anders Gal 2,16). Über das eschatologische Schicksal der Juden denkt Paulus in Röm 9–11 offenbar anders als in 1Thess 2,14–16. Im 1. Korintherbrief rechnet er mit einer Verwandlung von Lebenden und Verstorbenen bei der Auferstehung. Davon ist im 1. Thessalonicherbrief (noch) nicht die Rede. Wie lassen sich diese Besonderheiten erklären? Eine Reihe von Exegetinnen und Exegeten verweist in diesem Zusammenhang auf die Gattung des Briefes. Ein Brief liefert keine vollständige Theologie, sondern spricht in eine konkrete Situation hinein und thematisiert jeweils nur diejenigen Aspekte, die für diese Situation relevant sind. Andere Exegetinnen und Exegeten rechnen mit einer Entwicklung im paulinischen Denken und sehen im 1. Thessalonicherbrief das Zeugnis frühpaulinischer Theologie. Mir scheint dieses Modell im Blick auf den 1. Thessalonicherbrief plausibler zu sein. Denn wir stellen hier nicht nur fest, dass bestimmte (zentrale) theologische Themen fehlen, sondern auch, dass Paulus an bestimmten Punkten in späteren Briefen anders urteilt. Hinzu kommt m.E., dass der 1. Thessalonicherbrief ein Gemeinschaftsprodukt von Paulus, Silvanus und Timotheus ist. Alle drei haben ihre theologischen Deutungen in den Brief eingebracht. Die theologische Botschaft des 1. Thessalonicherbriefes ist aus sich heraus zu rekonstruieren, ohne theologische Gedanken späterer paulinischer Briefe einzulesen. IV.
Die Lage der Gemeinde in Thessalonich
Die Gemeinde in Thessalonich ist noch jung. Es gibt noch keine festen Amtsstrukturen (5,12–13). Die Missionare hatten noch nicht die Möglichkeit, persönliche Kontakte zu einzelnen Gemeindemitgliedern aufzubauen (5,26). Theologisch entspricht dem die Einschätzung der Missionare, dass an ihrem Glauben noch etwas fehlt (3,10) und dass sie der Stärkung bedürfen (3,2.13). Die Missionare schreiben sich als unverzichtbare Größen in die Beziehung zwischen Gott und Gemeinde ein. Sie schaffen eine metaphorische Familienfiktion, die der Stärkung der Gruppenidentität dient. Die klare Grenzziehung zwischen »uns« und den »anderen« (4,13; 5,6), zwischen »drinnen« und »draußen« (4,12) ist ein auffälliges Phänomen im 1. Thessalonicherbrief. Die »anderen« »kennen Gott nicht«, sie ergehen sich »in leidenschaftlicher Gier« (4,5). Sie haben »keine Hoffnung« (4,13) und wiegen sich in falscher Sicherheit
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(5,3). Als Kinder der Nacht »schlafen« sie (5,6) und werden vom Verderben überfallen (5,3). Die Gemeindemitglieder dagegen sind von Gott erwählt (1,4), sie sind »Kinder des Lichts und des Tages« (5,5), sie haben Hoffnung (1,3; 2,19; 5,8). Diese in Zügen dualistische Gegenüberstellung dient der Festigung der Gruppenidentität in einer Situation, in der die Gruppe sich einerseits noch festigen muss und in der sie andererseits Bedrängnissen von Seiten der Umwelt ausgesetzt ist (1,6; 2,13–16; 3,3–4). Fragt man nach der Ursache der Bedrängnisse, so wird man sicherlich auf Anfeindungen verweisen können, die die Bekehrung der Gemeindemitglieder mit sich brachte. Die Betroffenen brachen mit ihren bisherigen Göttern (1,9) und damit oft auch mit ihrer Familie und ihren Freunden, ihren Sitten und (Bestattungs-)Bräuchen. Wenn 4,12 als Zweckbestimmung der Arbeit mit den eigenen Händen angibt, dass die Adressatinnen und Adressaten ein ehrbares Leben vor denen, die »draußen« sind, führen sollen, dann klingt darin indirekt an, dass von der Bekehrung auch geschäftliche und gesellschaftliche Kontakte betroffen sein konnten, z.B. Mitgliedschaften in Handwerksvereinen. Religion war keine »Privatsache«. Soziologisch betrachtet gerieten die Bekehrten in eine fragile Situation, die einen starken Rückhalt in der Gruppe erforderlich machte. Versuche, die Art des mit der Gründung der Gemeinde aufbrechenden Konflikts in Thessalonich genauer zu bestimmen, gehen vor allem in zwei Richtungen. Einerseits vermuten Exegeten einen Konflikt der Gemeinde mit Juden, andererseits einen Konflikt mit dem Römischen Reich. Die erste These stützt sich primär auf 2,14–16. Dort wenden sich die Verfasser in aller Schärfe gegen »die Juden« und ziehen einen Vergleich zwischen der Verfolgung von Judenchristen in Judäa durch »die Juden« und der Verfolgung der Gemeinde in Thessalonich durch deren (heidnische) Landsleute. Einige Exegeten sehen in dieser scharfen Polemik einen Hinweis darauf, dass die Landsleute Juden waren (vgl. Apg 17) oder dass Juden als die eigentlichen Urheber der Verfolgungen durch die heidnischen Landsleute angesehen wurden. Die zweite These stützt sich unter anderem auf die Formulierung »Friede und Sicherheit« in 5,3. Einige Exegeten halten das für eine feststehende Parole, mit der damals die Leistungen Roms gelobt wurden. Paulus, Silvanus und Timotheus würden dann diese Parole ironisieren und dagegen ihre eigene Weltsicht setzen: »Friede und Sicherheit« bringt nicht der römische Kaiser, sondern der Herr Jesus Christus. Durch die Weigerung, römische Machtträger und Gottheiten religiös-kultisch zu verehren, gerät die Gemeinde unter religiös-politischen Druck. Ich versuche, die Lage der Gemeinde in Thessalonich zur Zeit der Abfassung des 1. Thessalonicherbriefes ohne Rückgriff auf die sehr
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viel später entstandene Apostelgeschichte zu rekonstruieren. 2,14– 16 verstehe ich so, dass die Missionare einen typisierten Vergleich ziehen: Der Anfeindung von Judenchristen durch Juden in Judäa entspricht die Anfeindung von Heidenchristen durch Heiden in Thessalonich. Demnach spiegelt der 1. Thessalonicherbrief m.E. keinen innerjüdischen Konflikt und auch keinen Konflikt zwischen der (überwiegend) heidenchristlichen Gemeinde und ihrem jüdischen Umfeld, sondern er spiegelt einen Konflikt zwischen der (überwiegend) heidenchristlichen Gemeinde und ihrem pagan-religiösen Umfeld. Dieser Konflikt beinhaltete sicherlich auch – aber nicht nur – Spannungen auf politischer Ebene. Der Ausdruck »Friede und Sicherheit« in 5,3 meint m.E. unspezifisch eine allgemeinpositive Weltsicht, die die Missionare als gefährliche Täuschung entlarven. In 2,14–16 fällt jedenfalls auf, dass der politische Vorwurf des Vaterlandsverrats gegen Juden gerade nicht auftaucht. Das wäre aber zu erwarten, wenn die Bedrängnisse, unter denen die Gemeinde leidet, speziell politisch motiviert gewesen wären. Die »Bedrängnis«, von der im Brief mehrfach die Rede ist, wird unterschiedliche Facetten gehabt haben, im familiären, freundschaftlichen, gesellschaftlichen, geschäftlichen, religiösen und politischen Bereich. Sie war so umfassend und unspezifisch, weil die Bekehrung einen radikalen Bruch mit nahezu allen bisherigen Bindungen darstellte. Diese ursächliche Verbindung zwischen Bekehrung und Bedrängnis klingt im Brief an (1,6; 3,3–4), sie wird aber nicht vertieft. Denn den naheliegenden Schluss, dass mit der Rückkehr zu den paganen Göttern auch die Bedrängnis ein Ende haben würde, lässt der 1. Thessalonicherbrief nicht zu. Die Gemeindemitglieder sind vielmehr zu der Bedrängnis »bestimmt« (3,3), so wie sie auch erwählt (1,4) und berufen (2,12; 4,7) sind. Nur deshalb sind sie nicht zum Zorn bestimmt (5,9), sondern zum Heil. Die »Hoffnung« erhält in diesem Zusammenhang entscheidendes Gewicht. V. Die Bedeutung der Botschaft heute Der 1. Thessalonicherbrief gibt uns Einblick in eine junge Gemeinde, für die Religion keine (begrenzte) Privatsache war, sondern alle Lebensbereiche berührte. Das Bekenntnis zu Jesus Christus erforderte vollen Einsatz, das ganze Leben veränderte sich dadurch. Von dieser Radikalität sind wir heute – zumindest was unsere landeskirchlichen Verhältnisse angeht – meistens weit entfernt. Der 1. Thessalonicherbrief kann uns bewusst machen, welche Gnade darin liegt, die eigene Religion frei ausüben zu dürfen, ohne staatliche (oder andere) Repressalien fürchten zu müssen. Der Brief lässt
Die Botschaft des 1. Thessalonischerbriefes – eine Zusammenfassung
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erahnen, wie es christlichen Gemeinden in Ländern gehen mag, in denen sie zu einer angefeindeten Minderheit gehören. Paulus, Silvanus und Timotheus richten indirekt aber auch eine Anfrage an uns: Wie viel sind wir bereit, für und in unseren Glauben zu investieren? Auf die »Bedrängnis«, die der Glaube an Jesus Christus mit sich bringt, reagiert der 1. Thessalonicherbrief mit einer klaren Abgrenzung zu denen, die der Gemeinde nicht angehören. Diese Abgrenzung betrifft sowohl die Gegenwart als auch die eschatologische Zukunft. Heute verlaufen die Grenzen zwischen »drinnen« und »draußen« in vielen christlichen Gemeinden viel unschärfer. Viele Menschen verstehen sich eher als Suchende. In dieser Situation ist eine eschatologische Botschaft, die den »anderen« die Vernichtung im Gericht in Aussicht stellt, problematisch. Positiv gelesen schärft sie jedoch auch den Ernst ein, der der theologischen Botschaft beigemessen wird: Es geht bei der Frage des Glaubens für den 1. Thessalonicherbrief um alles. Die Verse in 1Thess 2,14–16 mit ihrer pauschalen, polemischen Kritik an »den Juden« stellen für den jüdisch-christlichen Dialog eine schwere Bürde dar, die nicht leichter wird, wenn wir die Verse für einen späteren, unpaulinischen Zusatz halten oder einem spontanen Wutausbruch des Paulus zuschreiben. Der neutestamentliche Kanon enthält (glücklicherweise) deutlich differenziertere und positivere Aussagen zur eschatologischen Zukunft von Juden, insbesondere in Röm 9–11. Paulus hat sich in seinen Ansichten zu dieser Frage offenbar deutlich weiterentwickelt. Die Evangelische Kirche Deutschlands distanziert sich in einer Denkschrift mit dem Titel »Christen und Juden« aus dem Jahr 2000 explizit von der Judenmission. Dort heißt es: »Judenmission – sofern man darunter eine planmäßig durchgeführte, personell und institutionell organisierte Aktivität von Christen mit dem Ziel der Verbreitung christlichen Glaubens unter jüdischen Menschen versteht – gehört heute nicht mehr zu den von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und ihren Gliedkirchen betriebenen oder gar geförderten Arbeitsfeldern. Seit langem stehen stattdessen die Begegnung von Christen und Juden sowie der offene Dialog zwischen ihnen auf der Tagesordnung der Kirchen.« (Kap. 3.1.1).
Der zweite Thessalonicherbrief
1,1–2 Der Briefkopf
1
Paulus und Silvanus und Timotheus an die Gemeinde der Thessalonicher, die in Gott, unserem Vater, und im Herrn Jesus Christus ist: 2Gnade sei mit euch und Friede von Gott, dem [unserem] Vater und dem Herrn Jesus Christus! Der Briefkopf stimmt weitgehend wörtlich mit demjenigen aus 1Thess 1,1 überein. Während in 2Thess 1,1 explizit von Gott als »unserem Vater« die Rede ist, heißt es in 1Thess 1,1 etwas schlichter: »dem Vater«. Der Gnaden- und Friedenswunsch ist in 2Thess 1,2 etwas ausführlicher als in 1Thess 1,1, weil hinzugesetzt ist, von wem der Friede kommt. Alte Handschriften überliefern dabei unterschiedliche Fassungen: einerseits »dem Vater«, andererseits »unserem Vater«. Der Friede kommt laut 2Thess 1,2 zudem vom Herrn Jesus Christus. Daran ist bemerkenswert, dass der 2. Thessalonicherbrief fast durchgängig den Kyrios-Titel (Kyrios = Herr) verwendet. Jedes Mal, wenn von Jesus oder von Jesus Christus die Rede ist, begegnet auch der Kyrios-Titel. An weiteren Titeln findet sich nur ein absolutes »Christus« in 3,5. Das heißt: »Jesus« oder auch »Jesus Christus« kann im 2. Thessalonicherbrief offenbar nicht für sich allein stehen. »Kyrios« kann sich grundsätzlich auch auf Gott als den Herrn beziehen. In den Schriften des Alten Testaments ist das selbstverständlich so. Im 2. Thessalonicherbrief hingegen ist der Herr durchgängig Jesus (1,9; 2,2c.13a; 3,1.4.5.16b; wohl auch 3,3.16a). Dieser Befund ist gegenüber dem 1. Thessalonicherbrief auffällig und könnte darauf hinweisen, dass der 2. in einer Zeit abgefasst wurde (s.u.), in der der Kyrios-Titel bezogen auf Jesus stark an Bedeutung gewonnen hatte. Dazu passt, dass der 2. Thessalonicherbrief auch andere alttestamentliche Attribute auf Jesus überträgt (1,9.12; 2,13; 3,1.16a). Inhaltlich ergeben sich aus diesen Beobachtungen keine wesentlichen Unterschiede zwischen 1Thess 1,1 und 2Thess 1,1–2. Zur Auslegung von 2Thess 1,1–2 ist also zunächst auf die Auslegung zu 1Thess 1,1 zu verweisen. Auch der 2. Thessalonicherbrief gibt also drei Verfasser an. Wie im 1. reden die Verfasser von sich fast durchgängig (Ausnahmen: 2Thess 2,5; 3,17) im Plural. Allerdings tritt Paulus im Briefschluss (2Thess 3,17) prominent hervor (s. zur Stelle).
2Thess 1,1–2
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Die nahezu identische Formulierung der Briefköpfe in 1Thess 1,1 und 2Thess 1,1–2 ist diskussionswürdig. Eine so weitgehende Ähnlichkeit findet sich zwischen keinen anderen paulinischen Briefen, auch nicht zwischen dem 1. und 2. Korintherbrief, die ja ebenfalls dieselbe Adressatengemeinde angeben. Die Forschung hat zwei sehr unterschiedliche Erklärungen für diese Besonderheit hervorgebracht. Einige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nehmen an, der 2. Thessalonicherbrief sei unmittelbar nach – oder vor – dem 1. Thessalonicherbrief von denselben Autoren verfasst worden. Dazu muss man wissen, dass die Nummerierung und Reihung der Briefe, so wie sie jetzt im Neuen Testament begegnen, erst später vorgenommen wurden. Ein wesentliches Kriterium war die Länge der Briefe, sodass Nummerierung und Reihung nichts darüber aussagen, welcher Brief der ältere ist. Die wörtlichen Übereinstimmungen werden von diesen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern also mit der großen zeitlichen – und damit auch situativen – Nähe beider Briefe erklärt. Die Autoren hätten den einen Brief noch gut im Kopf gehabt, als sie den anderen schrieben. Dabei ist zunächst offen, ob der 1. oder der 2. Thessalonicherbrief der ältere ist. 1. Thessalonicherbrief
erinnern sich an
2. Thessalonicherbrief
Verfasser: Paulus, Silvanus, Timotheus
Verfasser: Paulus, Silvanus, Timotheus
Adressaten: Gemeinde in Thessalonich
Adressaten: Gemeinde in Thessalonich
Abfassungszeit: um 50 n.Chr.
Abfassungszeit: um 50 n.Chr.
Andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler führen die wörtlichen Übereinstimmungen auf literarische Abhängigkeit zurück, d.h. sie nehmen an, der 1. Thessalonicherbrief hätte bei dem (den) Verfasser(n) des 2. Thessalonicherbriefes gleichsam »auf dem Schreibtisch« gelegen. Nun schreibt man eigentlich nicht bei sich selbst ab. Die These der literarischen Abhängigkeit ist daher mit der weitreichenden Annahme verbunden, dass der 2. Thessalonicherbrief gar nicht von Paulus, Silvanus und Timotheus geschrieben wurde, sondern dass er eine »falsche« Verfasserangabe macht. Der Briefkopf allein kann die Beweislast für diese weitreichende Vermutung nicht tragen. Wir werden aber sehen, dass zu diesem ersten Indiz im Verlauf des 2. Thessalonicherbriefes weitere treten, die es m.E. wahrscheinlich machen, dass es sich bei dem 2. Thessalonicherbrief tatsächlich um ein »pseudonymes« Schreiben handelt,
2Thess 1,1–2
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also um ein Schreiben, das eine falsche Verfasserangabe macht. Die Frage, die uns beschäftigen wird, ist dann natürlich, zu welchem Zweck dieses Schreiben im Namen von Paulus, Silvanus und Timotheus verfasst wurde. Verweilen wir zunächst noch ein wenig beim Phänomen der Pseudonymität bzw. der Pseudepigraphie, also bei der These, dass bestimmte Schreiben »falsche« Verfasserangaben machen. Diese These wird auch für weitere neutestamentliche Briefe diskutiert, z.B. für die beiden Petrusbriefe. Wie ist es zu bewerten, wenn neutestamentliche Briefe – z.B. der 2. Thessalonicherbrief – »falsche« Verfasserangaben machen? Angesichts moderner Urheber- und Plagiatsdiskussionen mag uns dieses Vorgehen von vornherein sehr suspekt erscheinen. Aber wie verhielt es sich im ersten nachchristlichen Jahrhundert? Die Einschätzungen dazu gehen in der Forschung auseinander. Handelt es sich um Verfasserfiktionen ohne Täuschungsabsicht? Sollten die ersten Adressaten also gleich erkennen, dass der entsprechende Brief gar nicht von der Person stammt, die als Absender angegeben wird? Will die »falsche« Verfasserangabe nur – für alle erkennbar – deutlich machen, in wessen Tradition der Brief steht? Handelt es sich bei »falschen« Verfasserangaben um ein Verfahren, das in der Antike breit akzeptiert wurde? Oder will der »echte« Verfasser seine Adressaten bewusst täuschen und seine eigenen theologischen Gedanken als »paulinisch« etikettieren, damit sie mehr Autorität erhalten? Steht er dabei tatsächlich in paulinischer Tradition oder benutzt er (unter anderem) den Namen »Paulus«, um ganz »unpaulinische« Gedanken autoritativ vorzutragen? Handelt es sich bei der Pseudepigraphie gar um eine literarische Waffe im Streit um die Durchsetzung der (vermeintlich) »wahren« paulinischen Theologie? Das wäre der Fall, wenn wir – wie einige Exegetinnen und Exegeten vermuten – annehmen, dass der pseudepigraphe 2. Thessalonicherbrief den »echten« 1. Thessalonicherbrief verdrängen und sogar vollständig ersetzen sollte. Wichtig erscheint mir, in der Diskussion um Pseudepigraphie die historische Perspektive klar von der theologischen bzw. der kanonischen zu trennen. Aus historischer Perspektive können wir versuchen, Belege dafür zu suchen, dass ein bestimmtes Schreiben pseudepigraph ist. Unabhängig davon, zu welchem Ergebnis wir dabei kommen, gilt aber, dass dieses Schreiben Teil des biblischen Kanons ist. Diesen Kanon betrachtet das Christentum aufgrund einer theologischen Entscheidung als seine heilige Schrift – und zwar in Gänze. Die Entscheidung über den orthographen oder pseudepigraphen Charakter einer neutestamentlichen Schrift sagt also nichts über ihren theologischen »Wert« aus. Historisch mag man bedauern,
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2Thess 1,1–2
dass uns der 2. Thessalonicherbrief für die Rekonstruktion der paulinischen Theologie nicht mehr zur Verfügung steht, sofern wir ihn als pseudepigraphes Schreiben klassifizieren. Persönlich mag man finden, dass der 2. Thessalonicherbrief in theologischer Hinsicht nicht so viel zu bieten hat wie der 1. Thessalonicherbrief. Trotzdem gilt es zu bedenken, dass pseudepigraphe Schriften denselben kanonischen Status genießen wie orthographe. Alle diese Schriften fordern in gleicher Weise zur (durchaus auch kritischen) Auseinandersetzung heraus. Kehren wir zu 2Thess 1,1 zurück. Wenn es sich beim 2. Thessalonicherbrief um ein orthographes Schreiben handelt, bei dem die Verfasserangaben also »stimmen«, dann gilt für die Verfasser- und Adressatenfrage das, was zu 1Thess 1,1 schon ausgeführt wurde. Wenn wir den Brief jedoch als pseudepigraphes Schreiben betrachten, wollen die Angaben zu Verfassern und Adressaten neu bedacht sein. Beide Angaben haben dann primär eine intertextuelle Funktion. Der Briefkopf stellt durch die wörtliche Aufnahme von 1Thess 1,1 einen intertextuellen Bezug zum 1. Thessalonicherbrief her. Er ruft diesen Brief gleichsam als Bezugshorizont auf. Wer 2Thess 1,1 liest oder hört, wird an 1Thess 1,1 erinnert. Der 1. Thessalonicherbrief schwingt dann beim Hören oder Lesen des 2. Thessalonicherbriefes mit. Das setzt voraus, dass nicht nur der reale Verfasser (ich vermute hier eine einzelne – männliche – Person) des 2. Thessalonicherbriefes den 1. Thessalonicherbrief kannte, sondern auch die realen Adressatinnen und Adressaten des 2. Thessalonicherbriefes. Der 1. Thessalonicherbrief muss in ihrer Gemeinde bekannt gewesen sein. Das bedeutet aber nicht, dass die realen Adressatinnen und Adressaten des 2. Thessalonicherbriefes tatsächlich in Thessalonich ansässig waren. Das ist sogar eher unwahrscheinlich; jedenfalls, wenn wir annehmen, dass die »falschen« Angaben durchaus mit einer Täuschungsabsicht verbunden waren. Denn der reale Verfasser konnte es dann eigentlich erst nach dem Tod von Paulus, Silvanus und Timotheus wagen, einen Brief in ihrem Namen zu schreiben. Ansonsten hätten die drei den Brief zu leicht als »Fälschung« entlarven können. Das heißt: Wenn wir den 2. Thessalonicherbrief als pseudepigraphes Schreiben betrachten, verschiebt sich seine Abfassungszeit beträchtlich: Sie läge nicht mehr – wie beim 1. Thessalonicherbrief – etwa im Jahr 50 n.Chr., sondern deutlich später, vielleicht zwischen 90 und 100 n.Chr. Der Brief täte dann durch seine »falschen« Verfasserangaben indirekt so, als wäre er deutlich älter, als er tatsächlich ist. Im Hinblick auf die realen Adressatinnen und Adressaten des Briefes ergibt sich daraus das Problem, dass plausibel werden muss, warum der Brief erst jetzt, nach 40–50 Jahren, plötzlich »auftaucht«. Das aber wäre umso schwieri-
2Thess 1,1–2
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ger, wenn die realen Adressatinnen und Adressaten in Thessalonich wohnen würden. Wenn der 2. Thessalonicherbrief doch angeblich schon vor 40–50 Jahren an sie geschickt worden wäre, warum sollte er erst jetzt bei ihnen auftauchen? Eher denkbar ist daher, dass eine andere Gemeinde als diejenige in Thessalonich der reale Adressat des pseudepigraphen 2. Thessalonicherbriefes ist. Damit ergäbe sich folgende Konstellation: 1. Thessalonicherbrief (orthographes Schreiben)
verweist intertextuell auf
2. Thessalonicherbrief (pseudepigraphes Schreiben)
Reale Absender: Paulus, Silvanus, Timotheus
Fiktive Absender: Paulus, Silvanus, Timotheus Realer Absender: unbekannt
Reale Adressatinnen und Adressaten: Gemeinde in Thessalonich
Fiktive Adressatinnen und Adressaten: Gemeinde in Thessalonich Reale Adressaten: unbekannt
Reale Abfassungszeit: ca. 50 n.Chr.
Fiktive Abfassungszeit: ca. 50 n.Chr. Reale Abfassungszeit: 90–100 n.Chr.
Ich betrachte den 2. Thessalonicherbrief im Folgenden als pseudepigraphes Schreiben. Diese These werde ich im Zuge der Kommentierung des Briefes weiter untermauern. Ich werde aber an mehreren Stellen auch Deutungen vorstellen, die den 2. Thessalonicherbrief als echtes paulinisches Schreiben ansehen.
1,3 – 3,16 Der Hauptteil
Der Hauptteil des 2. Thessalonicherbriefes gliedert sich in die Danksagung (1,3 – 2,17) und den paränetischen Teil (3,1–16). Wie auch im 1. Thessalonicherbrief fehlt gegenüber (anderen) paulinischen Briefen ein »dogmatischer« Teil. Während dieser im 1. Thessalonicherbrief vor allem in den paränetischen Teil eingearbeitet ist, findet er sich im 2. Thessalonicherbrief integriert in die Danksagung. Weitere strukturelle Parallelen zum 1. Thessalonicherbrief sind auffällig: 1. Thessalonicherbrief
2. Thessalonicherbrief
1,2–3 1,6–7
Erste Danksagung
1,3 1,4
2,13
Zweite Danksagung
2,13
3,11.13
Überleitung zur Paränese
2,16.17
4,1 4,10–12
Bitte und Mahnung
3,1.6 3,10–12
5,14
Die Unordentlichen in der Gemeinde
3,6.7.11
5,23
Gebetswunsch
3,16
Nach U. Schnelle, Einleitung ins Neue Testament, Göttingen 42002, 368–369
Besonders auffällig sind die Parallelen, die vom »Normalschema« eines paulinischen Briefes abweichen: Hier sind insbesondere die doppelte, sehr lange Danksagung und das Fehlen eines eigenen »dogmatischen« Teils zu nennen. Insbesondere diese Parallelen stützen – neben wörtlichen Übereinstimmungen, die an den jeweiligen Stellen besprochen werden – die These, nach der die realen Verfasser des pseudepigraphen 2. Thessalonicherbriefes den 1. Thessalonicherbrief als literarische Vorlage genutzt haben. Sie übernahmen das »Gerüst« und fügten die Inhalte, die ihnen wesentlich waren, ein.
2Thess 1,3–12
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1,3 – 2,17 Danksagung In der Danksagung begegnen uns weitere auffällige formale Parallelen zum 1. Thessalonicherbrief. Wie dort ist auch hier die Danksagung ungewöhnlich lang und inhaltlich stark aufgeladen. Wie im 1. Thessalonicherbrief findet sich auch im 2. eine doppelte Danksagung: in 2Thess 1,3 und in 2Thess 2,13 (vgl. 1Thess 2,13). 2Thess 2,16.17 bietet dann – analog zu 1Thess 3,11–12 – den Übergang zur Paränese. Fragt man, wie die Danksagungen inhaltlich aufgeladen sind, fällt allerdings ein wesentlicher Unterschied auf: Im 1. Thessalonicherbrief schauen die Verfasser zurück. Sie rekapitulieren ihre gemeinsame Geschichte mit der Gemeinde. Im 2. Thessalonicherbrief schauen die Verfasser dagegen schon in der Danksagung nach vorn in die (eschatologische) Zukunft. Ihr Dank gilt Gott, dem gerechten Richter, der durch Jesus Christus Vergeltung üben wird an denen, die Gott nicht kennen. 1,3–12 Die erste Danksagung 3
Dank sagen müssen wir Gott immerzu für euch, Brüder (und Schwestern), wie es sich gehört. Denn euer Glaube wächst weiter, und eure gegenseitige Liebe nimmt bei euch allen zu, 4sodass wir uns in den Gemeinden Gottes rühmen wegen eurer Standhaftigkeit und (eures) Glaubens in all euren Verfolgungen und Bedrängnissen, die ihr ertragt; 5dies ist ein Anzeichen dafür, dass Gott gerecht richtet, dass auch ihr des Reiches Gottes würdig seid, für das ihr leidet. 6Ja, es ist gerecht bei Gott, denen mit Bedrängnis zu vergelten, die euch bedrängen, 7und euch, den Bedrängten, Ruhe zu geben mit uns, wenn der Herr Jesus sich vom Himmel her kommend offenbart mit den Engeln seiner Macht 8in flammendem Feuer, wenn er Vergeltung übt an denen, die Gott nicht kennen und die dem Evangelium unseres Herrn Jesus nicht gehorchen. 9Die werden als Strafe ewiges Verderben erleiden fern vom Angesicht des Herrn und der Herrlichkeit seiner Macht. 10Dies wird geschehen, wenn er an jenem Tag kommt, um verherrlicht zu werden inmitten seiner Heiligen und bewundert zu werden von allen, die an ihn glauben; denn ihr habt dem vertraut, was wir euch bezeugt haben. 11 Deshalb beten wir auch immerzu für euch, dass unser Gott euch eurer Berufung würdig mache und mit Macht allen Willen zum Guten und das Werk des Glaubens vollende. 12 So soll der Name unseres Herrn Jesus in euch verherrlicht werden und ihr in ihm, wie es der Gnade unseres Gottes und des Herrn Jesus Christus entspricht.
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2Thess 1,3–12
Der Abschnitt bildet im griechischen Text einen einzigen, komplizierten und inhaltlich stark befrachteten Satz. Den thematischen Kern bilden die Verse 5–10, die von den Versen 3–4 (der Danksagung) und 11–12 (einem Gebet) gerahmt werden. Die Wendung »Danksagen müssen wir« wirkt konventionell (vgl. 2Thess 2,13; anders 1Thess 1,2; 2,13) (33 ). Sie findet sich an keiner anderen Stelle des Neuen Testaments, wohl aber in späteren Schriften (Barn 5,3; 7,1; 1Clem 38,4). Vielleicht handelt es sich um liturgisch geprägte Sprache, wie sie in frühjüdischer Literatur begegnet. Dafür spricht auch die Fortsetzung »wie es sich gehört«. Dank wird so als die angemessene Antwort auf Gottes Geschenk von Glaube und Liebe charakterisiert. Der Dank soll »immerzu« erfolgen, also auch in Zeiten der Bedrängnis, von denen im Folgenden mehrfach die Rede sein wird. Die Anrede »Brüder« bezieht sich – wie schon in 1Thess 1,4 und öfter – stillschweigend auch auf Frauen. Sie begegnet im 2. Thessalonicherbrief mehrfach (2,1.13. 15; 3,1.6.13) und markiert den Beginn eines neuen Gedankens. Andere Anreden begegnen im 2. Thessalonicherbrief nicht. Begann die Danksagung in 1Thess 1,2 mit einem vergegenwärtigenden Rückblick auf die Bekehrung der Gemeindemitglieder, die sich in der bleibenden Erwählung (1,4), in der Leidensgemeinschaft mit den Missionaren und Jesus Christus (1,6) sowie in ihrer Vorbildfunktion für andere Gemeinden (1,7–8) äußert, so fehlt dieser Zusammenhang von Vergegenwärtigung – Danken und Beten in 2Thess 1,2. Die fiktiven Verfasser begründen ihre Danksagung mit dem wachsenden Glauben (der zunehmenden Treue) (vgl. 1Thess 4,9– 10) und der zunehmenden Liebe. Die Begriffe »Glaube« und »Liebe« lassen die Trias »Glaube«, »Liebe«, »Hoffnung« aus 1Thess 1,3 anklingen. Vor diesem Hintergrund fällt auf, dass der Begriff »Hoffnung« in 2Thess 1,3 – und im gesamten Schreiben mit Ausnahme von 2Thess 2,16 – nicht vorkommt. Der Verfasser dankt also nicht für die Hoffnung. Vielleicht deutet sich hier ein Defizit an: Die fiktiven (und realen) Adressaten haben keine – oder eher: nicht die richtige – Hoffnung. An die Stelle der Hoffnung – genauer: der »Standhaftigkeit in der Hoffnung« (1Thess 1,3), die im 1. Thessalonicherbrief eine wesentliche Rolle spielte – tritt im 2. Thessalonicherbrief die »Standhaftigkeit« (2Thess 1,4). Der Gedanke in Vers 4 , dass »wir uns in den Gemeinden Gottes rühmen«, erinnert zum einen an 1Thess 1,7–8. Dort hieß es, dass die Gemeinde in Thessalonich für andere Gemeinden zum Vorbild geworden ist. Dieser Gedanke ist in 2Thess 1,4 so aufgenommen, dass die fiktiven Verfasser in anderen Gemeinden stolz auf die Standhaftigkeit und den Glauben ihrer Adressaten verweisen. Die-
2Thess 1,3–12
129
se anderen Gemeinden sind nun nicht mehr – wie in 1Thess 1,8 – auf die Gebiete von Mazedonien und der Achaja beschränkt, sondern es heißt verallgemeinernd: »in den Gemeinden Gottes«. So können sich auch spätere Hörer und Leserinnen angesprochen fühlen. Das »Rühmen« ruft zum anderen im paulinischen Traditionszusammenhang mehrere Belege auf (vgl. Röm 5,11; 1Kor 1,31; 3, 21–22; 2Kor 1,14; 7,4.14; 9,2; Phil 2,16; 3,3; Gal 6,14; 1Thess 2,19). Inhaltlich besteht die größte Nähe zu den Belegen aus dem 2. Korintherbrief. Hier ist auch davon die Rede, dass Paulus sich nicht selbst rühmt, sondern stolz auf die Gemeinden verweist (2Kor 7,4.14; 9,2). In 1Thess 2,19 ist vom »Ruhmeskranz« die Rede. Paulus, Silvanus und Timotheus schreiben, dass unter anderem die Gemeinde in Thessalonich ihr Ruhm bei der Parusie Jesu Christi sein wird. Deutlich ist an dieser Stelle der eschatologische Bezug (hier: auf die Parusie), der auch in 2Thess 1,4 klar erkennbar ist. Dieser eschatologische Bezug ist in 2Thess 1,4 eindeutig auf das Gericht bezogen (2Thess 1,5ff). Im Blick auf 1Thess 2,19 wird diskutiert, ob ein Gerichtsszenarium im Hintergrund steht. Für den Vers im Kontext des 1. Thessalonicherbriefes lehnt dieser Kommentar eine Deutung auf das Gericht ab (s. zur Stelle). Liest man den Vers allerdings von 2Thess 1,4ff her, lässt sich 1Thess 2,19 durchaus als impliziter Hinweis auf das Gericht lesen; diese These gewinnt an Plausibilität, wenn wir davon ausgehen, dass der reale Autor des 2. Thessalonicherbriefes den 2. Korintherbrief (2Kor 5,10) kannte, der ja zur Abfassungszeit des 1. Thessalonicherbriefes noch nicht vorlag. Die Standhaftigkeit, die in 1Thess 1,3 auf die Hoffnung bezogen war, begegnet in 2Thess 1,4 – zusammen mit dem hier nachgeordneten Glauben – in Verbindung mit den Verfolgungen und Bedrängnissen, denen die Gemeinde ausgesetzt ist. Die Verbindung von Standhaftigkeit und Leiden bzw. Bedrängnissen ist insbesondere in den Spätschriften des Neuen Testaments bezeugt (Hebr 10,32–33; Offb 1,9; vgl. 13,10; 14,10–12; vgl. Jak 5,11; 2Tim 2,9–10; 3,10–11). Dabei kann es sich um die »endzeitlichen Wehen« handeln (vgl. Offb 12,2). Von Bedrängnissen (thlipseis) ist in 2Thess 1,4–10 gleich mehrfach die Rede (vgl. 1,6–7). Der Begriff ist für sich genommen unspezifisch, er stellt einen Sammelbegriff dar. Von »Bedrängnis« war auch zu Beginn des 1. Thessalonicherbriefes die Rede (1Thess 1,6), dort jedoch in auffallend anderer Zuspitzung. Thematisch geht es in 1Thess 1,6 um die Annahme des Wortes, und die Bedrängnis wird durch den Hinweis auf die (gegenwärtige) Freude des heiligen Geistes gleich wieder entdramatisiert. Unter diesem Vorzeichen stehen im 1. Thessalonicherbrief dann auch die Leiden, von denen in 1Thess 3,3–4 die Rede ist. Ganz anders in 2Thess 1,4–10: Hier werden die Bedrängnisse in den Kontext des endzeitlichen Gerichts
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2Thess 1,3–12
gestellt (vgl. Mk 13,19.24; Offb 7,14). Wie das geschieht, ist allerdings umstritten. In den Versen 5 –10 folgt nun die Schilderung des Endgerichts. Die ganze Szene erinnert in mehrfacher Weise an Jes 66,5ff.15ff. Gott richtet in diesem Text auf dem Zion die ganze Erde mit Feuer und Schwefel. Seine Ehre soll dabei allen Völkern offenbar werden. In 2Thess 1,5–10 ist es der wiederkommende Herr, also Jesus, der die Gottlosen straft und Vergeltung übt, während bzw. wofür er von den Christustreuen bewundert wird. Während die Parusieschilderung in 1Thess 4,13–17 das Gericht ausspart, erscheint es in 2Thess 1,5–10 als das Hauptanliegen. Vers 5 schließt in etwas unklarer Weise an Vers 4 an und spricht von einem »Anzeichen«. Was ist ein Anzeichen dafür, dass Gott gerecht richtet? Einige Exegetinnen und Exegeten sehen den Bezug in der Standhaftigkeit und dem Glauben der Gemeindemitglieder, von denen in 1,4 die Rede war. Sie verweisen auf Phil 1,27–30. Dort ist die Rede davon, dass die unerschrockene Haltung der Adressatinnen und Adressaten ihren Widersachern zum »Anzeichen« dafür wird, dass sie verloren sind. In Phil 1,28 richtet sich das »Anzeichen« also an die Ungläubigen, in 2Thess 1,5 hingegen an die Glaubenden. Die Thematik der Standhaftigkeit spielt im 2. Thessalonicherbrief in den folgenden Versen auch keine Rolle mehr. Es geht in den Versen 6 und 7 vielmehr um die Funktion der Bedrängnisse. Deshalb beziehen andere Exegetinnen und Exegeten das »Anzeichen« auf das Substantiv, das in 1,4 direkt voraus geht. Dieser Anschluss liegt auch grammatikalisch am nächsten. Das aber heißt: Die Bedrängnisse der Adressatinnen und Adressaten gelten nach Vers 5 als Anzeichen dafür, dass Gott gerecht richtet. Das wirkt zunächst befremdlich: Wie können die Bedrängnisse, die Gemeindemitglieder erleiden müssen, Anzeichen des gerechten Gerichts Gottes sein? Die Forschung verweist in diesem Zusammenhang auf die sog. »Leidenstheologie«, die im Hintergrund stehe. Die »Leidenstheologie« sieht Gott radikal als gerechten Richter. Das Konzept stellt in gewisser Weise eine Verschärfung des Prinzips der ius talionis dar. Dieses Prinzip rechnet am Ende der Zeiten mit einem gerechten Ausgleich und einer grundlegenden Umkehrung der Verhältnisse zwischen den Gottlosen, denen es jetzt gut und am Ende schlecht gehen wird, und den Gottestreuen, denen es jetzt schlecht, später aber gut gehen wird (s.u. zu 1,6–7). Die »Leidenstheologie« verschärft diesen Gedanken insofern, als nun die guten und schlechten Taten beim Endgericht nicht mehr einfach gegeneinander aufgewogen werden, wobei die »schwerere« Seite über das individuelle Schicksal entscheidet, während die »leichtere« Seite letztlich bedeutungslos ist. Vielmehr muss nun auch das, was in der
2Thess 1,3–12
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»leichteren« Waagschale liegt, abgegolten werden. Insofern ist es durchaus von Vorteil, bereits vor dem Endgericht von Gott für kleinere Verfehlungen bestraft zu werden. Denn sie fallen dann später nicht mehr ins Gewicht. Im Rahmen dieser Vorstellung können Bedrängnisse also – paradox – als Zeichen der Annahme durch Gott gelten, insofern Gott den Seinen dadurch die Möglichkeit eröffnet, ihre wenigen Sünden schon jetzt abzugelten, sodass ihnen das endzeitliche Heil ohne »Abstriche« zukommt. So bleiben bzw. werden sie des Reiches Gottes würdig und dürfen darauf vertrauen, dass sie an ihm in vollem Maß Anteil erhalten werden. Die Gottlosen hingegen, denen es jetzt gut geht, häufen ihre Schuld auf. Sie erwartet im Endgericht ein entsprechendes Urteil. Diese »Leidenstheologie« findet sich in frühjüdischen Schriften (2Makk 6,12–16 und syrBar 13,3–10; 48,48–50; 52,5–7; 78,5). Sie soll um 65–70 n.Chr. fest etabliert gewesen sein. Die syrische Baruchapokalypse verknüpft die Vorstellung der »Leidenstheologie« mit der Langmut Gottes. Nach syrBar 12,4 wird der Tag des Zorns, also das göttliche Gericht, von der Langmut Gottes zurückgehalten. Zugleich gilt nach syrBar 13,10 Leiden als Vorbedingung des Heils. Liest man diese Texte als »Leidenstheologie«, dann kommt die Langmut Gottes seinem bedrängten Gottesvolk zugute. Denn sie schafft ihm eine Bewährungszeit. Eine leidenstheologische Deutung von 2Thess 1 besagt dann, dass es dem Brief angesichts des göttlichen Endgerichts nicht um die Frage geht, wann es – endlich! – kommt (so z.B. Offb 6,10–11). Die Bedrängnisse sind im 2. Thessalonicherbrief – anders als in der Offenbarung – nicht als eschatologische Wehen gedeutet, die das zeitlich nahe Ende anzeigen. Die Verbindung der Bedrängnisse mit Verfolgungen (1,4) und Leid (1,5) erinnert an 1Thess 2,14, also an das Leiden, das die Landsleute der Gemeinde in Thessalonich bringen. Hier stehen diese Leiden in Verbindung mit einem Endgericht, dessen Urteil im Blick auf »die Juden« bereits feststeht. Der 2. Thessalonicherbrief rechnet dagegen damit, dass das Urteil insgesamt noch nicht feststeht. Diese Aussage zielt m.E. nicht so sehr darauf ab, die feststehende eschatologische Verurteilung »der Juden« zurückzunehmen. An »den Juden« zeigt auch der 2. Thessalonicherbrief – wie schon der 1. Thessalonicherbrief – kein eigenständiges Interesse. Die Aufnahme einer frühjüdischen Vorstellung (der Leidenstheologie) lässt sich m.E. auch nicht in dem Sinne deuten, dass der 2. Thessalonicherbrief sich durch eine Nähe zu nicht christusgläubigen jüdischen Gemeinden auszeichnet. Das Anliegen des Schreibens zielt vielmehr darauf, die Situation der (überwiegend heidenchristlichen) Adressatinnen und Adressaten angesichts von Bedrängnissen leidenstheologisch zu deuten: Das Schreiben sichert ihnen zu, dass die Gerechtigkeit Gottes auch schon in der Gegen-
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wart wirkt und die Gegenwart als Bewährungszeit für die Gottestreuen qualifiziert; eine Bewährungszeit, die ihnen zu Gute kommt, insofern sie ihre »Position« im Endgericht durch ihre Standhaftigkeit in den Bedrängnissen verbessern können. Das aber heißt: Anders als der 1. Thessalonicherbrief rechnet der 2. Thessalonicherbrief selbstverständlich damit, dass auch die Christustreuen in das Gericht kommen, das nun einen doppelten Ausgang hat (also nicht einseitig als Strafgericht vorgestellt ist). Angesichts dieses zukünftigen Gerichts sorgt Gott gegenwärtig für die Seinen, indem er ihnen über die Bedrängnisse die Möglichkeit eröffnet, mit »besten Aussichten« ins Gericht zu kommen. Die Verse 6–10 führen diesen Gedanken vor allem im Blick auf die Gottlosen weiter. In 6 –7a heißt es redundant: »denen mit Bedrängnis zu vergelten, die euch bedrängen, und euch, den Bedrängten, Ruhe zu geben mit uns«. Hinter dieser Vorstellung steht der jüdische Rechtsgrundsatz der vergeltenden Gerechtigkeit (ius talionis) (vgl. z.B. Jer 50,29). Er meint die Vorstellung eines umfassenden Ausgleichs zwischen Gottlosen (denen es gegenwärtig gut geht) und Gottestreuen (die gegenwärtig leiden müssen). Die angesprochenen Bedrängten – so formuliert es 2Thess 1,7 – werden gemeinsam mit den Verfassern eschatologische Ruhe erhalten. In ähnlicher Weise ist unter anderem in Apg 3,20; Hebr 3,11; 4,9.11 von eschatologischer Ruhe die Rede. In Offb 14,11 heißt es umgekehrt von denen, die das Tier anbeten (also den Gottlosen): »sie werden keine Ruhe haben Tag und Nacht«. Im Begriff der »Ruhe« ist eine weite Heilsvorstellung impliziert. Es geht um Befreiung vom Druck der Verfolgungen und Bedrängnisse, um Aufatmen, um Erholung, um Entspannung. In dem »mit uns« schließen sich die fiktiven Verfasser mit ihren Adressaten zusammen. Dieser Zusammenschluss greift in spezifischer Weise Vers 4 wieder auf, der davon handelte, dass die Verfasser lobend hinter ihrer Gemeinde stehen (vgl. 2Tim 4,8). Die Verse 7 b– 10 nehmen nun ausführlich das Endgericht in den Blick. Bisher war von Gott als gerechtem Richter die Rede. Mit Vers 7b wird Jesus zum Subjekt des Geschehens. Er offenbart sich bei der Parusie. Offenbarung meint hier – und im gesamten 2. Thessalonicherbrief – also kein gegenwärtiges Heilsgeschehen, sondern ist gleichbedeutend mit der Parusie. Wie der Herr Jesus kommt, wird dreifach präzisiert: Er kommt »vom Himmel her«, »mit den Engeln seiner Macht«, »in flammendem Feuer«. Auch nach 1Thess 1,10; 4,13–17 kommt Jesus bei der Parusie vom Himmel. 1Thess 3,13 spricht davon, dass der Herr Jesus kommt »mit allen seinen Heiligen«. Wahrscheinlich waren auch dort Engel gemeint (s. z.St.). Wer die Stelle von 2Thess 1,7 her liest, wird die Heiligen noch eher im Sinne von Engeln verstehen. In jedem Fall kommt Jesus nach
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2Thess 1,7 zum Gericht als machtvoller Herr, begleitet von Engeln (vgl. äthHen 1,3ff). Hierin liegt nun auch ein gewichtiger Unterschied zum 1. Thessalonicherbrief: Während 1Thess 4,13–17 die Gerichtsvorstellung ganz ausspart und 1Thess 1,10 davon spricht, dass der Sohn »uns rettet vor dem kommenden Zorngericht«, tritt Jesus im 2. Thessalonicherbrief als (Straf-)Richter an den Gottlosen auf. Werden wir in 1Thess 4,13–17 Betrachterinnen eines friedlichen »Kammerspiels«, erhalten wir hier eine monumentale, kraftvolle, aber auch düstere Schilderung der Parusie. Fokussierte 1Thess 1,10; 4,13–17 das Schicksal der Gottestreuen, so richtet sich in 2Thess 1,7–10 die Aufmerksamkeit auf das Schicksal der Gottlosen. Das heißt: Vergeltungsgericht und Parusie fallen – auch zeitlich – zusammen. In der Vergeltung schwingt der Aspekt der ausgleichenden Gerechtigkeit mit, von dem vorher explizit die Rede war. Jesus offenbart sich »in flammendem Feuer« (88 ). In Jes 66,15 ist davon die Rede, dass Gott »mit Feuer« zum Gericht über die Gottlosen kommt (vgl. Ps 50,3; 97,3–4). Dass der Gerichtstag mit Feuer in Erscheinung treten wird, ist biblisch breiter bezeugt, unter anderem auch in 1Kor 3,13.15. In 2Thess 1,8–10 wird das Schicksal der Gottlosen in der Gerichtsschilderung viel detaillierter ausgeführt (8–10) als das Schicksal der Gottestreuen (7b). Wen trifft die Strafe Jesu? 1,8 nennt diejenigen, »die Gott nicht kennen«, und diejenigen, die »dem Evangelium nicht gehorchen«. Sind damit zwei unterschiedliche Gruppen gemeint? Einige Exegeten deuten die erste Gruppe auf die Heiden (dafür spricht wesentlich 1Thess 4,5), die zweite Gruppe auf die Juden. Diese Aufteilung ist aber schwierig. Denn das Alte Testament kann durchaus auch von Israel sagen, dass es Gott nicht kenne (z.B. Jer 9,5). Andersherum gehorchen auch die Heiden nicht dem Evangelium. Insbesondere spricht jedoch der Kontext des 2. Thessalonicherbriefes selbst gegen eine Aufteilung der Gottlosen in zwei Gruppen. Denn in 1,6 wird all denen, die die Adressatinnen und Adressaten bedrängen, Vergeltung angekündigt. An einer weiteren Aufteilung dieser Gruppe in Juden und Heiden hat der Brief kein erkennbares Interesse. Wichtig ist allein, ob jemand sich zum Herrn Jesus Christus bekennt und seiner frohen Botschaft vertraut oder nicht (vgl. 1,10). Vers 9 führt aus, welche Strafe die Gottlosen erwartet. »Ewiges Verderben« meint dabei eine nicht aufhörende Qual. In 1Thess 5,3 war – in etwas anderer Zuspitzung – davon die Rede, dass »plötzliches Verderben« über die Gottlosen kommt. Umstritten ist die Übersetzung »fern vom Angesicht des Herrn und der Herrlichkeit seiner Macht«. Sie versteht die Präposition lokal. Möglich ist auch die Übersetzung »vom Angesicht des Herrn her« (kausal) oder auch »von dem Offenbarwerden des Angesichts des Herrn an« (temporal). Die ge-
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wählte lokale Übersetzung versteht die Formulierung in Anlehnung an Röm 9,3 als Genitiv der Trennung. Die Strafe besteht darin, dass die Gottlosen von Jesus Christus, dem Herrn, getrennt, also fern von ihm und seiner Herrlichkeit sind. Während also das eschatologische Schicksal der Christustreuen nach 1Thess 4,17 darin besteht, dass sie in ewiger Gemeinschaft mit ihrem Herrn leben, werden die Gottlosen mit ewiger Christus- und Gottesferne bestraft. Dieses Verständnis eröffnet uns heutigen Leserinnen und Lesern die Möglichkeit, die düstere Schilderung der ewigen Qual im (Höllen-)Feuer metaphorisch im Sinne von Christus- und Gottferne zu verstehen. Wie stark dieses metaphorische Verständnis der Rede von dem »flammenden Feuer« vom Verfasser intendiert war, bleibt allerdings offen. Von der »Herrlichkeit« bzw. dem »Verherrlichen« ist im 2. Thessalonicherbrief häufig die Rede – und zwar durchgängig in Verbindung mit dem Herrn Jesus (1,10.12; 2,14; 3,1). Das griechische Wort doxa lässt sich auch mit »Glanz«, »Ehre« und »Ansehen« übersetzen. Jesus Christus erscheint im 2. Thessalonicherbrief also nicht als derjenige, der sich in die tiefsten »Niederungen« menschlicher Existenz begeben hat (vgl. Phil 2,8), sondern als machtvoller Herr, dem als wiederkommendem Richter Ehre und Ansehen gebühren. 1 0 Vers 10 bringt jetzt nicht etwa das Pendant zur Christusferne der Gottlosen. Er verheißt den Christustreuen nicht ewige Gemeinschaft mit ihrem Herrn. Fokussiert wird nicht die Gemeinschaft mit dem Herrn, sondern die Verherrlichung und Bewunderung des Herrn inmitten der Heiligen und Glaubenden. Sie erscheint – in anderer Akzentuierung als im 1. Thessalonicherbrief – als positiver Fluchtpunkt des Schicksals der Christustreuen. Der Vers beginnt mit einer temporalen Bestimmung, die wie eine Wiederholung wirkt: »wenn er kommt« (vgl. 1,7). Sie wird durch den Zusatz »an jenem Tag« ergänzt, die im griechischen Text in betonter Endstellung platziert ist. Der Tag ist der Tag des Gerichts. Die Formulierung erinnert an 1Thess 5,2. Es folgt ein sogenannter Parallelismus, eine Stilfigur, die im Hebräischen häufig zu finden ist. Zwei Glieder werden dabei in Entsprechung zueinander gesetzt: Der Herr wird (a) verherrlicht inmitten seiner Heiligen und er wird (b) bewundert von allen, die an ihn glauben. Von Vers 7 her bietet es sich an, die »Heiligen« als Engel zu deuten (vgl. 1Thess 3,13). Der Gedanke erinnert an Ps 88,8 LXX. Das griechische Alte Testament (Septuaginta) formuliert dort, dass Gott »verherrlicht wird im Rat der Heiligen«. Die Bewunderung des Herrn durch die Glaubenden unterstreicht die Hoheit Jesu Christi. Genau diese Hoheit verdeutlicht aber auch, dass die Glaubenden letztlich Recht behalten: Sie haben den richtigen Weg eingeschlagen, trotz der Bedrängnisse, denen sie ausgesetzt waren. Insofern
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haben sie an der Durchsetzung der Gerechtigkeit Anteil. Der Zusatz »denn ihr habt dem vertraut, was wir euch bezeugt haben« setzt die Christustreuen noch einmal in positiven Gegensatz zu denjenigen, die »dem Evangelium unseres Herrn Jesus nicht gehorchen« (1,8). Er weist zudem auf die entscheidende Rolle von Paulus, Silvanus und Timotheus hin (»wir«). Die drei sind die für die Adressatinnen und Adressaten entscheidenden Zeugen. Ohne sie – bzw. ohne ihr mündliches und schriftliches (!) Zeugnis – würden die Angeschriebenen noch zu den Gottlosen gehören. Implizit ist damit die Gefahr thematisiert, die droht, wenn jemand die Gemeinde verlässt oder von ihr ausgeschlossen wird. In 3,14–15 klingt die Frage des Ungehorsams gegenüber dem vorliegenden Brief durch Gemeindemitglieder an: Wer der Botschaft des Briefes gegenüber nicht gehorsam ist, soll zurechtgewiesen, nicht aber für einen Feind gehalten werden. 11
Deshalb beten wir auch immerzu für euch, dass unser Gott euch eurer Berufung würdig mache und mit Macht allen Willen zum Guten und das Werk des Glaubens vollende. 12So soll der Name unseres Herrn Jesus in euch verherrlicht werden und ihr in ihm, wie es der Gnade unseres Gottes und (des) Herrn Jesus Christus entspricht.
Vers 10 hatte das endzeitliche Ziel umschrieben. Vers 1 1 schließt locker an diese Zielsetzung an und verbindet die Fürbitte mit einem »immerzu« gültigen Gebetswunsch. Gebetswünsche begegnen außerdem in 2,16–17 und in 3,16. Der Wunsch in 1,11 ist ein doppelter: Gott möge die Adressatinnen und Adressaten ihrer »Berufung würdig machen« und das »Werk des Glaubens vollenden«. Die Formulierung »Werk des Glaubens« begegnet im paulinischen Kontext nur in 2Thess 1,11 und 1Thess 1,3. In 1Thess 1,3 war gemeint, dass der Glaube in Werken wirksam wird. Er schlägt sich in Verhalten nieder und wird so beobachtbar. In welcher Bedeutung nimmt 2Thess 1,11 den Ausdruck auf? Zunächst: Die Verse 11–12 knüpfen an 3–4 an und rahmen so den Abschnitt 5–10. In Vers 5 war davon die Rede, dass die Angesprochenen »des Reiches Gottes würdig« seien. Derselbe Verbstamm (»würdig sein/machen«) begegnet in Vers 11. Hier geht es nicht um das zukünftige Reich Gottes, sondern um die zukünftige (s.u.) Berufung. Von Berufung war auch im 1. Thessalonicherbrief die Rede. Nach 1Thess 2,12 sind die Angeredeten bereits von Gott berufen. Auch nach 1Thess 4,7 liegt die Berufung der Adressatinnen und Adressaten in der Vergangenheit (vgl. auch 1Thess 1,4). Aus dieser Berufung ergeben sich unter anderem ethische Verpflichtungen, die insbesondere in 1Thess 4,1–12 thematisiert werden. Der Glaube soll sich in Werken zeigen (1Thess 1,3). Wie verhält es sich nun in 2Thess 1,11? Gerade im Vergleich
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mit 1Thess 4,7 ist folgendes auffällig: Es geht in 2Thess 1,11 nicht darum, dass die Angesprochenen sich selbst ihrer (zurückliegenden) Berufung würdig machen, ihr also durch ihr Verhalten (nachträglich) gerecht werden. Vielmehr wünscht sich der Verfasser, dass Gott sie allererst ihrer Berufung würdig mache. Das lässt vermuten, dass die Berufung nach 2Thess 1,11 noch aussteht. Sie ist – wie die Teilhabe am Reich Gottes (vgl. 1,5) – als ein zukünftiges Heilsgut vorgestellt. Das »Werk des Glaubens« kann dann in 2Thess 1,11 nicht dasselbe bedeuten wie in 1Thess 1,3. Eine ganze Reihe von Auslegern wertet diese Besonderheit als Indiz dafür, dass der 2. Thessalonicherbrief nicht (unter anderem) von Paulus, sondern von einem späteren Verfasser stammt. Er übernimmt einen – für den späteren Paulus untypischen – Ausdruck aus dem 1. Thessalonicherbrief und passt ihn in seine eigene Theologie ein. In 2Thess 1,11 tritt zum »Werk des Glaubens« der »Wille zum Guten« hinzu. Damit ist wohl gemeint, dass sich Glaube auch schon vor der Berufung im Wollen (und im Tun) des Guten verwirklicht. Beide – der Wille zum Guten und das Werk des Glaubens – sind bereits in der Gegenwart sichtbar, allerdings noch nicht in Vollendung (vgl. 1Thess 3,10). Diese Vollendung soll – so der Gebetswunsch der Verfasser – mit Gottes Macht herbeigeführt werden und die nötige Würde zur Berufung schaffen. Die Adressatinnen und Adressaten müssen diese Vollendung also nicht allein aus eigener Kraft leisten. Vers 1 2 spricht von der gegenseitigen (anders 1,10) Verherrlichung des Namens des Herrn Jesus in der Gemeinde und der Gemeinde im Herrn. Verherrlichung geschieht – so legt es Vers 11 nahe –, wenn der Wille zum Guten in die Tat umgesetzt wird und wenn der Name des Herrn Jesus in der Gemeinde bezeugt wird (vgl. Jes 66,5). Die Verfasser nehmen sich hier als Bittende ganz heraus. Nur in der doppelten Bezeichnung »unser Gott« in den Versen 11 und 12 sowie in der Formulierung »unseres Herrn Jesus« in Vers 12 schließen sich die Verfasser mit ihren Adressatinnen und Adressaten zusammen. Sie kommen so – ähnlich wie im 1. Thessalonicherbrief – als Mittler zwischen Gott und Jesus Christus einerseits sowie der Adressatengemeinde andererseits zu stehen. Wie in 2Thess 1,2 steht in 1,12 der Titel »Christus«. Er rahmt die Gerichtsszene, in der Jesus als der Kyrios (Herr) auftritt (1,7.8. 9). Genau genommen steht im griechischen Text: »unseres Gottes und Herrn Jesus Christus«. Der Artikel vor »Herrn Jesus Christus« fehlt. So kann der Eindruck entstehen, dass Gott und Jesus Christus identifiziert werden (vgl. Joh 20,28; 2Petr 1,1). Das ist aber wohl nicht gemeint. Deshalb ergänzt die obige Übersetzung den Artikel in Klammern. Das Fehlen des Artikels erklärt sich dadurch, dass die formelhafte Wendung »Gnade Gottes« (vgl. Röm 5,15; 1Kor 1,4;
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3,10; 15,10; 2Kor 2,12; 6,1 u.ö.) mit der Wendung »Herr Jesus Christus« kombiniert wird, die regelmäßig ohne Artikel steht (vgl. 1Thess 1,1; Gal 1,3; Phil 1,2 u.ö.). Die Pointe der Aussage besteht darin, dass sich in der gegenseitigen Verherrlichung die Gnade Gottes realisiert. Diese Verherrlichung setzt den Glauben der Angeredeten voraus, nicht zuletzt das Vertrauen darauf, dass sie trotz oder eben gerade wegen ihrer gegenwärtigen Leiden dem endzeitlichen Heil entgegengehen. Der 2. Thessalonicherbrief beginnt mit einem Paukenschlag. Direkt am Anfang lenkt das Schreiben den Blick auf das Endgericht. Anders als der 1. Thessalonicherbrief geht der 2. Thessalonicherbrief davon aus, dass auch die Christustreuen in das Gericht kommen werden. Insofern stellt sich die Frage, wie es um ihre »Chancen« im Gericht bestellt ist. Der 2. Thessalonicherbrief beantwortet diese Frage, indem er die Bedrängnisse, die die Gerechten erleiden, leidenstheologisch deutet. Sie dienen der Vorbereitung für das Endgericht, da sie läuternde Funktion haben. In dieser Vorstellung liegt ein erster Trost für die Adressatinnen und Adressaten. Sie können – so die Botschaft des 2. Thessalonicherbriefes – in dem Wissen um Gottes Gerechtigkeit mit Geduld auf das Endgericht warten – ja, es kann sogar von Vorteil für sie sein, wenn das Gericht noch auf sich warten lässt, weil ihnen das die Möglichkeit gibt, sich noch besser darauf vorzubereiten. Der theologische Sinn der gegenwärtigen Leiden besteht also darin, dass sie Ausdruck der Gerechtigkeit Gottes sind und die Gemeindemitglieder besser auf das göttliche Gericht vorbereiten. Ein zweiter Trost – der für heutige Leserinnen und Leser wahrscheinlich noch problematischer ist als der erste – besteht darin, dass die Gottlosen der Vernichtung entgegengehen. 2Thess 1 widmet sich ausführlich der Schilderung dessen, was die Gottlosen am Ende erwartet. Der Herr Jesus tritt als machtvoller (Straf-)Richter auf. Von seinem Leiden am Kreuz ist in diesem Zusammenhang keine Rede. Soziologisch spiegelt sich hier wohl die Sicht einer bedrängten Minderheit. 2Thess 1 ergänzt damit intertextuell 1Thess 1,10 (die Rettung der Christustreuen aus dem Gericht), 1Thess 4,13–17 (das Schicksal der lebenden und verstorbenen Christustreuen angesichts der Parusie) und 1Thess 5,1–11 (das Schicksal der Christustreuen angesichts des »Tags des Herrn«), indem das Kapitel das Schicksal der Gottlosen am »Tag des Herrn« in den Blick nimmt. Gleichzeitig sind damit die Weichen für die weiteren Kapitel gestellt. Das endgültige Schicksal der Christustreuen und der Gottlosen steht fest. Was davor noch passieren muss, ist Thema des 2. Kapitels.
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2,1–17 Was geschehen wird Das zweite Kapitel gliedert sich in drei Abschnitte: 1–12, 13–14 und 15–17. Thema des ersten Abschnitts ist die Parusie, allerdings gegenüber 1Thess 4,13–17 mit verändertem Fokus. Ging es dort um das Schicksal der verstorbenen Christustreuen, so führt 2Thess 2, 1–2 nach einer einleitenden Bitte an die Adressatinnen und Adressaten aus, was geschehen wird. Der Abschnitt endet mit der düsteren Ankündigung des Gerichts an denjenigen, die der Wahrheit nicht geglaubt haben. Demgegenüber sprechen die Verse 13–14 – ähnlich wie 1,3–10 in Form einer Danksagung – die Adressatinnen und Adressaten als Erwählte an. In 15–17 folgen die Aufforderung, standhaft zu sein, und der Wunsch, dass Jesus Christus und Gott die Angeredeten trösten mögen. 2,1–12 Das konkrete Anliegen des Briefes In 2Thess 2,1–12 kommen wir dem konkreten Anliegen des 2. Thessalonicherbriefes auf die Spur. Offenbar gibt es einige in der Gemeinde, die meinen, der »Tag des Herrn sei schon da« (2,2). So jedenfalls stellen es die Verfasser dar. Gegen diese Auffassung – wie auch immer sie genau zu verstehen ist – wendet sich der Brief. Die Weichen für die Entgegnung haben die Verfasser m.E. bereits im 1. Kapitel gestellt: Die gegenwärtigen Bedrängnisse in der Verfolgung sind Anzeichen des gerechten Gerichts Gottes – wann auch immer es kommen mag. Sie dürfen also nicht so gedeutet werden, dass sie – im Sinne endzeitlicher Wehen – die unmittelbare zeitliche Nähe der Parusie und des Gerichts anzeigen. Der Abschnitt untergliedert sich in die Verse 1–2, 3–4, 5–7 und 8–12. Die Verse 1–3a geben Thema und These an, die Verse 3b–12 liefern dafür die ausführliche Begründung. Die »Belehrung« über die Abfolge der Endereignisse ist also nicht Selbstzweck, sondern sie ist einem paränetischen Anliegen untergeordnet. Stilistisch sind die ersten beiden Verse recht umständlich formuliert. In den Versen 3b–4 findet sich ein Anakoluth, also ein unvollständiger Satz. Die Verse 5–7 unterbrechen den Zusammenhang, sodass Vers 8 als Fortsetzung von Vers 4 gelesen werden kann. 1
Wir bitten euch aber, Brüder (und Schwestern), hinsichtlich der Parusie unseres Herrn Jesus Christus und unserer Vereinigung mit ihm: 2Lasst euch nicht so schnell aus der Fassung bringen noch erschrecken – weder durch eine(n) Geist(offenbarung) noch durch ein
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Wort noch durch einen Brief, wie er von uns geschrieben wurde, wonach der Tag des Herrn schon da sei. 3 Lasst euch nicht verführen, auf keinerlei Weise! Denn wenn nicht zuerst der Abfall kommt und der Mensch der Gesetzwidrigkeit offenbart wird, der Sohn des Verderbens, 4der Widersacher, der sich überhebt über alles, was Gott heißt oder Heiliges, sodass er sich in den Tempel Gottes setzt und so tut, als sei er Gott. 5 Erinnert ihr euch nicht, dass ich euch dies sagte, als ich noch bei euch war? 6Und nun wisst ihr, was (ihn) noch aufhält, damit er (erst) zu seiner Zeit offenbar wird. 7Denn das Geheimnis der Gesetzwidrigkeit wirkt schon – allein, der bis jetzt Aufhaltende muss entfernt werden. 8Und dann wird der Gesetzwidrige offenbart werden, den der Herr (Jesus) mit dem Hauch seines Mundes vernichten und mit der Erscheinung seiner Parusie beseitigen wird, 9dessen Parusie in der Kraft des Satans geschieht, mit aller Macht und lügnerischen Zeichen und Wundern 10und mit jeder (Art der) Verführung zur Ungerechtigkeit für die Verlorenen, denn sie haben die Liebe zur Wahrheit nicht angenommen, durch die sie gerettet werden sollten. 11Darum schickt ihnen Gott die Macht der Verführung, sodass sie der Lüge glauben, 12damit alle gerichtet werden, die der Wahrheit nicht geglaubt haben, sondern an der Ungerechtigkeit Gefallen fanden. In Vers 1 markiert die Formulierung »wir bitten euch« ebenso wie die Anrede »Brüder (und Schwestern)« einen Neueinsatz (vgl. 1Thess 4,1; 5,12). Das griechische Verb kann auch mit »ermahnen« übersetzt werden. Das Thema des folgenden Abschnitts, der bis Vers 12 reicht, wird gleich anschließend benannt: Es geht um die Parusie (vgl. 1Thess 2,19; 3,13; 4,15; 5,23 und 2Petr 1,16) bzw. – so die inhaltlich parallele Formulierung – um die Vereinigung (vgl. Mk 13,27 / Mt 24,31) mit dem Herrn Jesus Christus. Damit ist intertextuell vorrangig 1Thess 4,13–17 aufgerufen. Dort gehen Paulus, Silvanus und Timotheus auf die Frage nach dem Schicksal der verstorbenen Christustreuen bei der Parusie ein. Sie betonen: Die verstorbenen stehen den lebenden Christustreuen bei der Parusie in nichts nach. Denn die lebenden und die verstorbenen Christustreuen werden »zugleich« entrückt. Letztlich zählt die ewige Gemeinschaft aller Christustreuen mit Jesus Christus: »Und so werden wir für immer bei dem Herrn sein.« (1Thess 4,17b). Diese Passage ruft 2Thess 2,1 in Erinnerung. Vers 2 wirft eine Reihe von Fragen auf, die für die Interpretation des ganzen Briefes von zentraler Bedeutung sind. Einigkeit besteht darin, dass hier der Abfassungszweck, also das konkrete Anliegen des Schreibens, deutlich wird. Die Adressatinnen und Adressaten
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sollen sich angesichts einer konkreten Problematik (s.u.) nicht so schnell aus der Fassung bringen (vgl. Apg 2,25, Zitat Ps 15,8) bzw. erschrecken lassen. Dasselbe Verb taucht im Zusammenhang mit den Vorzeichen des Endes in den sogenannten synoptischen Apokalypsen auf: Erschrecken lassen sollen sich die Christustreuen nach Mk 13,7 / Mt 24,6 auch nicht durch Kriege. Das Erschrecken, das im Blick ist, hat es also durchaus in sich. Die These, dass wir an dieser Stelle Einblick in die Situation der realen Adressatengemeinde erhalten, wird auch von denjenigen Auslegerinnen und Auslegern vertreten, die im 2. Thessalonicherbrief ein pseudepigraphes Schreiben sehen. Wir müssen dann annehmen, dass die realen Adressatinnen und Adressaten ihre eigene Situation in der Schilderung einer Problemlage wiedererkennen sollten, die der 2. Thessalonicherbrief explizit auf die Gemeinde in Thessalonich zu Lebzeiten von Paulus, Silvanus und Timotheus bezieht. Sofern die realen Adressatinnen und Adressaten die Intention des Textes nachvollziehen, verstehen sie ihre eigene schwierige Situation damit als eine, die keineswegs einmalig ist, sondern die in ganz ähnlicher Weise vor ihnen schon die Gemeinde in Thessalonich zu bewältigen hatte. Der Brief nennt drei mögliche Quellen für die angesprochene Irreführung, die Fassungslosigkeit und Erschrecken auszulösen droht: Geist(offenbarung), Wort und Brief. Mit der Geistoffenbarung ist ein Prophetenspruch gemeint. Das klingt für uns heute eher ungewöhnlich. Wir wissen aber unter anderem aus den Korintherbriefen, dass die prophetische Gabe in der Gemeinde ihren unbestrittenen Platz hatte. Im 1. Korintherbrief ist die Rede von unterschiedlichen Gaben, die urchristliche Gemeinden erhalten. Eine von ihnen ist die prophetische Rede (1Kor 12,10), die im Unterschied zur Zungenrede nicht in verständliche Sprache »übersetzt« werden muss, weil sie auch ohne eine solche »Übersetzung« für andere Gemeindemitglieder verständlich ist (vgl. 1Kor 14). Aber prophetische Rede kann »falsch«, »unwahr« sein. Deshalb bedarf es neben der Gabe der prophetischen Rede auch der Gabe, »die Geister zu unterscheiden« (1Kor 12,10). (Vermeintlich) Prophetische Rede kann also auch in die Irre führen. Davon ist in 2Thess 2,2 die Rede. Das zweite Element, »Wort«, kann jede Form der mündlichen Belehrung meinen, z.B. die Predigt. In 1Thess 4,15 ist vom »Wort des Herrn« die Rede, das Auskunft gibt über seine Parusie. Angesichts dieser Zusicherung sollen sich die Thessalonicher untereinander »mit diesen Worten« trösten (1Thess 4,18). Im Unterschied zur mündlichen Belehrung bezeichnet das dritte Element »Brief« in 2Thess 2,2 die schriftliche Verkündigung und Lehre. Das »wie von uns« bezieht sich mindestens auf das direkt vorangehende Nomen, hier »Brief«. Der Brief ist »wie von uns«.
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Das »von uns« legt nahe, in dem genannten Brief den 1. Thessalonicherbrief zu sehen. Denn im Kontext des 2. Thessalonicherbriefes verweist das »uns« auf Paulus, Silvanus und Timotheus (vgl. 1,1). Prüft man nun die uns überlieferten Briefe daraufhin, welche von ihnen diese drei als Verfasser angeben, stößt man auf den 1. Thessalonicherbrief. Kein weiterer der uns überkommenen Briefe gibt diese drei als Verfasser an. Dieser intertextuelle Bezug wird durch die Adressatenangabe »Gemeinde der Thessalonicher« entscheidend gestützt. Sie hebt den 1. Thessalonicherbrief von Beginn an markant als primären Bezugstext des 2. Thessalonicherbriefes hervor. Der Bezug wird dann fortlaufend durch strukturelle (s.o. zu 2Thess 1) und inhaltliche Anklänge – z.B. an die Parusie Jesu Christi – gestützt. Das »wie« kann rein sprachlich entweder ein »tatsächlich« oder aber auch ein »angeblich« implizieren. Die Wendung »wie durch uns« könnte also bedeuten: »durch einen Brief, der (angeblich) von uns kommt« – in dem Fall würde 2Thess 2,2 den 1. Thessalonicherbrief als Fälschung (dis-)qualifizieren. Die Zielsetzung des 2. Thessalonicherbriefes bestünde dann darin, den 1. Thessalonicherbrief – näher hin seine (eschatologische) Lehre – zu ersetzen. Die Wendung »wie durch uns« kann aber auch übersetzt werden mit: »durch einen Brief, wie er (tatsächlich) von uns geschrieben wurde«. In dem Fall würde 2Thess 2,2 auf den 1. Thessalonicherbrief als ein orthographes, also »echtes« Schreiben verweisen. Die Zielsetzung des 2. Thessalonicherbriefes bestünde dann darin, die eigene Auslegung des 1. Thessalonicherbriefes gegen andere Auslegungen desselben Briefes zu verteidigen, indem dem 1. Thessalonicherbrief eine verdeutlichende, ergänzende Schrift – nämlich der 2. Thessalonicherbrief – an die Seite gestellt wird. Ich halte diese zweite Möglichkeit für wahrscheinlicher. Erstens erscheint es mir fraglich, ob ein neu auftauchender Brief (der 2. Thessalonicherbrief) tatsächlich damit rechnen durfte, ein verbreitetes, als Paulusbrief anerkanntes Schreiben (den 1. Thessalonicherbrief) als Fälschung disqualifizieren zu können. Der Prozess der Kanonisierung, der beide Thessalonicherbriefe nebeneinanderstellt, ist jedenfalls einen anderen Weg gegangen. Zweitens halte ich es für unwahrscheinlich, dass ein Schreiben, das erst noch um Anerkennung werben muss (der 2. Thessalonicherbrief), sich deutlich erkennbar an ein Schreiben anlehnt (den 1. Thessalonicherbrief), das es gleichzeitig zu diskreditieren sucht. Aufgrund dieser Überlegungen versuche ich den 2. Thessalonicherbrief als »Leseanweisung« für den 1. Thessalonicherbrief zu interpretieren. Der 2. Thessalonicherbrief möchte – so meine These – eine bestimmte Deutung des 1. Thessalonicherbriefes gegen eine andere Deutung desselben Schreibens durchsetzen. Die Irreführung beruht auf einer bestimmten Interpretation des
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1. Thessalonicherbriefes. Diese Auslegung möchte der 2. Thessalonicherbrief korrigieren. Er will seinen Adressatinnen und Adressaten deutlich machen, wie der 1. Thessalonicherbrief »eigentlich« zu verstehen ist. Das heißt: Wir haben es mit drei unterschiedlichen Deutungen des 1. Thessalonicherbriefes zu tun: erstens mit einer Deutung, die fragt, wie Paulus, Silvanus und Timotheus ihren Brief um 50 n.Chr. verstanden wissen wollten. Diese Deutung wurde im ersten Teil des vorliegenden Kommentars entfaltet. Zweitens mit einer Deutung, die danach fragt, wie die Personen, die hinter der Parole aus 2Thess 2,2c standen (s.u.), den 1. Thessalonicherbrief gegen Ende des 1. nachchristlichen Jahrhunderts gelesen haben könnten. Denn sie berufen sich ja nach 2Thess 2,2 auf den 1. Thessalonicherbrief. Drittens mit einer Deutung, die danach fragt, welche Deutung des 1. Thessalonicherbriefes der 2. Thessalonicherbrief gegen die konkurrierende Interpretation, wie sie in 2Thess 2,2c anklingt, gegen Ende des 1. nachchristlichen Jahrhunderts stark machen möchte. Die intertextuellen Verweise des 2. Thessalonicherbriefes auf den 1. Thessalonicherbrief dienen also dazu, eine bestimmte Deutung des Briefes gegen eine andere Deutung desselben Schreibens durchzusetzen, ohne den 1. Thessalonicherbrief insgesamt verwerfen zu wollen. Die konkurrierenden Deutungen des 1. Thessalonicherbriefes werden einerseits im Durchgang durch den Text des 2. Thessalonicherbriefes entfaltet, andererseits wird die Deutung des 1. Thessalonicherbriefes durch den 2. Thessalonicherbrief am Ende dieses Kommentars in einem eigenen Abschnitt zusammenfassend dargestellt. Ging es in 2Thess 2,2b um die möglichen Quellen der Irreführung, so geht es jetzt um deren inhaltlichen Kern. Wiedergegeben wird er mit der Formulierung: »Der Tag des Herrn ist schon da«. 2Thess 2,2c impliziert, dass es in der Gemeinde in Thessalonich – ebenso wie in der Gemeinde der realen Adressaten – Personen gab, die erstens behaupteten, dass der Tag des Herrn schon gekommen sei, und die sich zweitens mit dieser Behauptung auf den 1. Thessalonicherbrief – den eben genannten »Brief wie von uns« – stützten. Fraglich ist hier einerseits, welche religiöse Anschauung sich hinter dem kurzen Slogan verbirgt – (wie) konnte jemand überzeugt davon sein, dass der Tag des Herrn schon da sei –, andererseits, inwiefern sich Verfechter dieser Überzeugung auf den 1. Thessalonicherbrief stützen konnten. Zu diesen Fragen findet sich in der Forschung eine Vielzahl unterschiedlicher Thesen. Sie gehen mehrheitlich von der Frage aus, wie sich die in 2Thess 2,2c schlaglichtartig beleuchtete Position religionsgeschichtlich verorten lässt. Ich setze im Gegensatz dazu bei meiner Darstellung von drei unterschiedlichen Thesen aus der Forschung bei inter- und intratextuellen Fragen an;
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also: Wie beziehen sich die Vertreter des Slogans auf den 1. Thessalonicherbrief? Was setzt der 2. Thessalonicherbrief dagegen? 1. Die erste darzustellende Position sieht in 1Thess 4,15.17 den primären Anknüpfungspunkt für die Parole aus 2Thess 2,2c. Die Argumentation läuft in etwa so: Paulus, Silvanus und Timotheus rechnen in 1Thess 4,15.17 selbstverständlich damit, die Parusie noch zu erleben. Zum Zeitpunkt der Abfassungszeit des pseudepigraphen 2. Thessalonicherbriefes sind die drei verstorben. Daraus schließen die Vertreter der Parole, der Tag des Herrn sei schon da. Gegen diese Überzeugung setze der 2. Thessalonicherbrief in 2,3– 12 eine Schilderung der Ereignisse bis zum Ende, die ihre Pointe darin habe, dass noch eine ganze Menge passieren müsse, bevor der Tag des Herrn wirklich da sei. Religionsgeschichtlich sei die Parole im enthusiastischen Prophetentum zu verorten. Enthusiastisch bedeutet hier, dass diese Propheten der Meinung waren, das Ende sei schon da. In Mk 13,22 warnt der markinische Christus vor »falschen« Propheten, die versuchen, die Auserwählten zu verführen (vgl. 2Thess 2,3). Diese Propheten werden – so Mk 13 – kurz vor dem Kommen des Menschensohnes (Mk 13,24–27) auftreten. In Mk 13,21 ist von Personen die Rede, die zu Unrecht behaupten, dass Christus schon da sei. Von daher liegt es nahe, bei den »falschen« Propheten in Mk 13,22 an enthusiastische Propheten zu denken. Sie stünden auch hinter 2Thess 2,2c. Für einen intertextuellen Bezug der Parole aus 2Thess 2,2c auf 1Thess 4,15.17 spricht, dass 2Thess 2,1 mit der Nennung der Parusie und der Zusammenführung des Herrn mit den Seinen innerhalb des 1. Thessalonicherbriefes den Abschnitt 4,13–17 als möglichen Bezugstext besonders hervorhebt. In der Tat liefert 2Thess 2,3–12 offenbar die Begründung dafür, dass der Tag des Herrn keineswegs schon da ist, sondern vorher noch Etliches passieren muss. Ich sehe jedoch vor allem zwei Schwierigkeiten: a) 1Thess 4,13–17 schildert recht detailliert, woran die Parusie des Herrn zu erkennen ist. Der Text liefert also ausreichend Argumente, die Auffassung, Christus sei schon da, zurückzuweisen. Es ist schon von daher unwahrscheinlich, dass enthusiastische Propheten sich auf 1Thess 4, 13–17 – oder einzelne Verse aus diesem Abschnitt – berufen hätten. Zumindest aber wäre zu erwarten, dass der 2. Thessalonicherbrief sich diese Argumente erkennbar zunutze macht. Das ist aber nicht der Fall. Vielmehr liefert der Brief in 2,3–12 eigene Argumente gegen die Parole, die eine ganz andere Art der Offenbarung des Herrn schildern. b) Die Formulierung »Tag des Herrn« ist apokalyptisch geprägt. Enthusiastische Propheten hätten sie kaum verwendet. Wir müssten also annehmen, dass die Parole die Position nicht getreu wiedergibt.
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2. Die zweite darzustellende Position sieht in 1Thess 2,14–16 den primären Anknüpfungspunkt für die Parole aus 2Thess 2,2c. Die Argumentation läuft in etwa so: Die Parole spricht davon, dass der Tag des Herrn schon da sei. Eine entsprechende präsentische Formulierung mit Bezug auf das Gericht findet sich in 1Thess 2,16 – dort mit dem griechischen Verb phthano: (zuvor) kommen. In apokalyptischen Texten wie dem Buch Daniel (in griechischer Fassung) taucht dieses Verb auf, um die Gegenwart eines speziellen Zeitpunktes, etwa eines besonderen, eschatologischen Ereignisses, zu qualifizieren (Dan 4,11.20.22.24.28; 7,13; 8,7; 12,12). Bezogen auf 1Thess 2,16 heißt das: Der Zorn Gottes ist schon über »die Juden« gekommen (1Thess 2,16). An diesen Bedeutungsaspekt knüpfen die Vertreter der Parole aus 2Thess 2,2c – allerdings mit einem anderen Verb – an: Nach Ansicht der Vertreter des Slogans ist die Gegenwart schon in bestimmter Weise vom Ereignis des »(Gerichts-) Tages« geprägt. Aber wie? Im Sinne von 1Thess 2,16: Präsentisch sei das Gericht speziell an »den Juden«. Der 2. Thessalonicherbrief setze sich – so argumentiert diese Position weiter – mit dieser Position kritisch auseinander; und zwar indem der Brief bereits im 1. Kapitel betont, dass das Gericht für alle – also auch für »die Juden« – noch in der Zukunft liegt. 2Thess 2 hat seine Pointe dann nicht darin, zu zeigen, dass vor dem tatsächlichen Ende noch viel geschehen müsse, sondern allein darin, dass das Gericht für alle noch in der (nahen oder fernen) Zukunft liegt. Insgesamt versuche der 2. Thessalonicherbrief demnach, die Gerichtskonzeption des 1. Thessalonicherbriefes – insbesondere seine Aussage, nach der das Gericht an »den Juden« bereits vollzogen sei –, zu revidieren. Diese Position differenziert nicht zwischen unterschiedlichen (möglichen) Deutungen des 1. Thessalonicherbriefes. Sie geht zumindest implizit davon aus, dass die Vertreter der Parole aus 2Thess 2,2c den 1. Thessalonicherbrief genau so verstünden, wie er (ursprünglich) »gemeint« gewesen sei. Deshalb stehen sich bei dieser Position nicht unterschiedliche Deutungen des 1. Thessalonicherbriefes gegenüber, sondern der 2. Thessalonicherbrief tritt in Widerspruch zum 1. Mit anderen Worten: Der 2. Thessalonicherbrief will den 1. Thessalonicherbrief im Rahmen dieser These ersetzen. Für 1Thess 2,16 als primären intertextuellen Bezugstext von 2Thess 2,2c spricht, dass zwischen beiden Texten in der Tat eine große inhaltlich Nähe besteht: Es geht jeweils um die Präsenz des Gerichts. Ein wesentlicher Unterschied zwischen beiden Versen liegt jedoch darin, dass 2Thess 2,2c – anders als 1Thess 2,16 – die Präsenz des Gerichts bzw. des Tags des Herrn nicht auf eine bestimmte Gruppe (»die Juden«) beschränkt. Nun könnte man vermuten, dass die Parole unvollständig wiedergegeben ist. Gegen eine (eigentlich ge-
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meinte, aber nicht formulierte) Einschränkung der Parole in 2Thess 2,2c auf »die Juden« spricht jedoch, dass der 2. Thessalonicherbrief – dessen Anliegen ja darin besteht, die Parole zu entkräften – m.E. kein erkennbares Interesse daran zeigt, die Aussagen über das eschatologische Schicksal speziell »der Juden« zu revidieren. Wenn aber die Begrenzung auf eine bestimmte Gruppe wegfällt, lässt sich die Aussage, dass der Tag des Herrn schon da sei (2Thess 2,2c), nicht mehr im Sinne von »Der Zorn Gottes ist schon über ›die Juden‹ gekommen« deuten. 3. Die dritte darzustellende Position, die ich hier vertreten möchte, sieht ebenfalls in 1Thess 2,16 den primären Bezugstext. Ich gehe bei der Ausdeutung dieses Bezugs allerdings in eine andere Richtung. Zentral ist aus meiner Sicht der Bezug zwischen Verfolgungen und Gericht. Mein Ausgangspunkt ist der Argumentationsgang des 2. Thessalonicherbriefes: Gleich zu Beginn des pseudepigraphen Schreibens werden die Verfolgungen, unter denen die Adressatinnen und Adressaten leiden, als Bedrängnisse qualifiziert, die Anzeichen des gerechten Gerichts Gottes sind (2Thess 1,5). Der 2. Thessalonicherbrief präsentiert also als erstes eine bestimmte Deutung der gegenwärtigen Verfolgungen, die sie in Beziehung zum Endgericht setzt. Das lässt zumindest vermuten, dass die Parole aus 2Thess 2,2c eine Glaubensüberzeugung spiegelt, die die Verfolgungen von Gottes- bzw. Christustreuen im Blick auf das Endgericht anders deutet als 2Thess 1. An diesem Punkt kommt 1Thess 2,14– 16 als primärer Bezugstext innerhalb der Parole aus 2Thess 2,2c ins Spiel. Denn dort ist nicht nur vom Gericht, sondern auch von Verfolgungen die Rede: Paulus, Silvanus und Timotheus sprechen von »den Juden« als denjenigen, die sie verfolgt haben (1Thess 2,15). Dasselbe hat die Gemeinde in Thessalonich von ihren Landsleuten erlitten (1Thess 2,14). Das heißt: Was die Verfolgung von Christustreuen angeht, stehen die (paganen) Landsleute »den Juden« in nichts nach. Die Anspielung auf 1Thess 2,14–16 in 2Thess 2,2c hebt also m.E. nicht auf die Frage der Unterscheidung zwischen »Juden« und »Nicht-Juden« im Hinblick auf ihr jeweiliges eschatologisches Schicksal ab. Im Fokus der Aufmerksamkeit steht vielmehr die Frage, wie die gegenwärtigen Verfolgungen von Christustreuen – sei es durch »Juden« oder durch »Heiden« – eschatologisch, genauer: im Blick auf das Endgericht, zu deuten sind. 2Thess 1 deutet die Verfolgungen – wie wir gesehen haben – leidenstheologisch als »Anzeichen des gerechten Gerichts Gottes«. Wir könnten daher dem genaueren Verständnis der Parole aus 2Thess 2,2c auf die Spur kommen, indem wir Folgendes prüfen: Gibt es eine frühjüdische bzw. frühchristliche Tradition, die Verfolgungen von Gerechten eschatologisch, also im Zusammenhang mit dem »Tag des Herrn«,
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deutet (sodass sie im Rahmen der Parole aus 2Thess 2,2c verortet werden können), sie aber nicht im Kontext der Leidenstheologie als Anzeichen des gerechten Gerichts Gottes zu verstehen sucht, wie es 2Thess 1 in kritischer Auseinandersetzung mit den Vertreterinnen und Vertretern der Parole unternimmt? Bei einer derartigen Prüfung stoßen wir auf die verbreitete Vorstellung, dass Verfolgung und Bedrängnis als Wehen zu bestimmen sind, die den Anbruch der Endzeit anzeigen (Mt 24,9). Die Geschehnisse der Endzeit sind demnach bereits in Gang gesetzt. Insofern bestimmt der »Tag des Herrn« bereits die Gegenwart. In diesem Sinne deute ich die Formulierung »ist schon da« in 2Thess 2,2c. Diese Auslegung verortet die Parole nicht im enthusiastischen (vgl. These 1), sondern im apokalyptischen Milieu. Dafür spricht, wie gesagt, die Formulierung »Tag des Herrn«. Die Interpretation stützt sich stark auf den Argumentationsaufbau des 2. Thessalonicherbriefes, der zu Beginn nicht auf die zurückliegende Zeit der Missionare mit ihren Adressatinnen und Adressaten schaut (vgl. 1Thess 1 und 2), sondern deutlich macht, wie die gegenwärtigen Verfolgungen und Bedrängnisse zu deuten sind. Erst unter diesem Vorzeichen kommt der Brief auf die Parole, die er bekämpfen will, überhaupt zu sprechen. Die Weichen sind damit von Beginn an gestellt. Die Pointe der Schilderung in 2,3–12 liegt demnach noch nicht darin, dass das Ende keineswegs nahe ist; sondern sie liegt darin, dass das Ende keineswegs nahe ist, sodass die gegenwärtigen Bedrängnisse auch nicht als Zeichen des unmittelbar bevorstehenden Endes gedeutet werden können. Die Pointe verschiebt sich damit gegenüber der ersten dargestellten Position. Diese Verschiebung wird dadurch argumentativ gestützt, dass 2Thess 2,3–12 von Bedrängnissen im Sinne von Endzeitwehen gar nichts weiß. Bei der »richtigen« Deutung der aktuellen Verfolgungen und Bedrängnisse geht es dem 2. Thessalonicherbrief in erster Linie nicht um die Frage, wann der Tag des Herrn kommt. Es geht dem Brief vielmehr – und darin ist der zweiten dargestellten Position Recht zu geben – um eine veränderte Gerichtskonzeption. Es geht um die Frage, wie der Tag des Herrn (und damit das Gericht) kommt. Anders als der 1. Thessalonicherbrief geht der 2. Thessalonicherbrief selbstverständlich davon aus, dass auch die Gerechten ins Gericht kommen. Hierin liegt m.E. die für das Verständnis des 2. Thessalonicherbriefes entscheidende Verschiebung gegenüber der Gerichtskonzeption aus dem 1. Thessalonicherbrief. Anders als die 2. These gehe ich also davon aus, dass nicht das Schicksal »der Juden«, sondern dasjenige der Christustreuen im Fokus des 2. Thessalonicherbriefes steht. Für sie stellt sich die Frage, wie sie im Gericht bestehen können. Nur aus diesem Grund kann der Gedanke, die Gegenwart stehe
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schon unter dem Eindruck vom Tag des Herrn, die Christustreuen überhaupt – ähnlich wie die Aussicht auf Krieg (vgl. Mk 13,7 / Mt 24,6) – erschrecken und in Angst versetzen (2Thess 2,2a). Auf diese erschrockene Frage gibt der 2. Thessalonicherbrief eine beruhigende Antwort: Die aktuellen Bedrängnisse zeigen nicht die zeitliche Nähe eines allgemeinen Gerichts (mit unter Umständen ungewissem Ausgang) an, sondern sie sind Anzeichen des gerechten Gerichts Gottes (1,5), der angesichts des Gerichts für die Seinen sorgt. Der 1. Thessalonicherbrief deutet – für sich genommen – die »Bedrängnisse« nicht eschatologisch – weder leidenstheologisch noch als Endzeitwehen. Ca. 40 Jahre nach seiner Abfassung dokumentiert der 2. Thessalonicherbrief eine Auseinandersetzung um die »richtige« Auslegung des 1. Thessalonicherbriefes. Die eschatologische Deutung der »Bedrängnisse« scheint dabei eine wesentliche Rolle zu spielen. Einig sind sich der Verfasser des 2. Thessalonicherbriefes und die Vertreter der Parole aus 2Thess 2,2c – so vermute ich – darin, dass die »Bedrängnisse« eschatologische Bedeutung haben und dass auch die Christustreuen ins Gericht kommen. Hierin zeigen sich beide Seiten apokalyptisch beeinflusst. Uneinig sind sie sich darin, wie genau die »Bedrängnisse« eschatologisch zu deuten sind. Wichtig ist diese Frage gerade vor dem Hintergrund der Überzeugung, dass auch die Christustreuen im Gericht werden bestehen müssen. Der 2. Thessalonicherbrief will damit m.E. die Gerichtskonzeption des 1. Thessalonicherbriefes keineswegs revidieren, sondern er liest den 1. Thessalonicherbrief von seiner eigenen, allgemeinen Gerichtskonzeption her und deutet ihn damit (unwissentlich?) um. Revidieren will der 2. Thessalonicherbrief vielmehr die Parole aus 2Thess 2,2c – und damit eine bestimmte Deutung des 1. Thessalonicherbriefes. Vers 3 a fasst das Anliegen dieses Abschnitts nochmals knapp zusammen und nimmt eine inhaltliche Bewertung vor: Die Meinung derer, die sagen: »Der Tag des Herrn ist schon da«, beruht auf einer Verführung, auf einer Täuschung. Eine ähnliche Warnung, sich nicht – durch »leere Worte« – verführen zu lassen, findet sich in Eph 5,6 und – in apokalyptischem Kontext – in Mk 13,5. Worin genau besteht in 2Thess 2,3a diese Täuschung? M.E. besteht sie in einer – im Sinne des 2. Thessalonicherbriefes – »falschen« Deutung der gegenwärtigen Bedrängnisse als Endzeitwehen. Die Bedrängnisse sind vielmehr – wie bereits entfaltet – als Anzeichen des gerechten Gerichts Gottes zu verstehen (1,5). Dazu passt, dass der Wortstamm des verwendeten Verbs »verführen« in Vers 10 im Zusammenhang mit der »Verführung zur Ungerechtigkeit« wieder auftaucht. Verführung und Täuschung haben also mit der Frage von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit zu tun.
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In den Versen 3 b –12 folgt nun eine Schilderung dessen, was »zuvor« (proton), also vor dem Eintreffen des Tags des Herrn, geschehen wird. Diese Schilderung entfernt sich vom 1. Thessalonicherbrief. Der Verfasser des 2. Thessalonicherbriefes greift hier auf apokalyptisches Material zurück, dessen Herkunft wir nicht genauer bestimmen können. Alle Ereignisse, die die Verse 3b–12 erwähnen, liegen vom Standpunkt des fiktiven Verfassers aus in der Zukunft. Die Abfolge und die Art der erwähnten Ereignisse bleiben in Teilen unklar, anderes lässt sich deutlicher erkennen. Vers 3 b beginnt als Bedingungssatz, der aber nicht zu Ende geführt wird, sondern in die Beschreibung des »Menschen der Gesetzwidrigkeit« übergeht und dann abbricht. Zwei zukünftige Ereignisse werden genannt: einerseits der »Abfall« (apostasia), andererseits das Offenbarwerden des »Menschen der Gesetzwidrigkeit«, der auch als »Sohn des Verderbens« bezeichnet wird. Das »zuerst« bezieht sich gleichermaßen sowohl auf den »Abfall« als auch auf das Offenbarwerden des »Menschen der Gesetzwidrigkeit«. Beide Ereignisse sind also zeitlich eng miteinander verbunden, sie erfolgen nicht nacheinander, sondern gleichzeitig. Das zeigen die Verse 9– 12, wo der »Gesetzwidrige« mit trügerischen Zeichen, mit Verführung und Lüge, in Verbindung gebracht wird. Was genau bedeutet hier »Abfall«? Das Wort apostasia (Apostasie) bezeichnet in einem engeren Sinn den Abfall speziell der Juden von der Tora, also vom mosaischen Gesetz. In dieser Bedeutung begegnet das Wort in Dan 11,32 und 1Makk 2,15. In Dan 11,32 gilt der »Abfall« (als Übertretung des Bundes) als ein Zeichen des Weltendes. In Apg 21,21 ist von dem Vorwurf an Paulus die Rede, er würde den Juden(christen) sagen, sie sollten ihre Kinder nicht beschneiden lassen – und sie somit zum »Abfall« überreden. Gerade in einem apokalyptischen Milieu kann der »Abfall« jedoch auch eine deutlich weitere, universale Bedeutung erhalten. Der »Abfall« ruft auf der ganzen Erde chaotische Zustände hervor, er zeigt an, dass das Ende bevorsteht. So findet der »Abfall« (vom Glauben) nach 1Tim 4,1 »in den letzten Zeiten« statt. Er ist ein Element von vielen, die die chaotischen Zustände vor dem Ende kennzeichnen (1Tim 3,1ff). Nach Mt 24,10 ist der Abfall von »vielen« ein Vorzeichen des Endes. In diesem endzeitlichen Kontext beschränkt sich der »Abfall« nicht speziell auf Juden. Er wird vielmehr zu einer generellen Erscheinung, die kosmische Ausmaße annimmt. Wie ist vor diesem Hintergrund der »Abfall« in 2Thess 2,3 zu deuten? Er geht einher mit dem Offenbarwerden des Menschen der Gesetzwidrigkeit und insofern mit der »Macht des Satans«, mit Täuschung, Verführung und Lüge (2Thess 2,9–12). Das heißt: Der »Abfall« bezieht sich nicht speziell auf die Übertretung der Gebote der Tora, sondern auf die Abkehr
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von der (christlichen) Wahrheit (2,12), wie sie im »Evangelium« (1,8; 2,14) überliefert ist. Es geht nicht speziell um den Abfall von der Tora, sondern genereller um die Abkehr vom (jüdisch-christlichen) Gott und seiner Wahrheit. Diese Abkehr – so die implizite Voraussetzung – führt zu ethischen Verfehlungen. Bereits der 1. Thessalonicherbrief stellt einen Zusammenhang zwischen Gottlosigkeit und ethischen Verfehlungen her, wenn Paulus, Silvanus und Timotheus den »Heiden, die Gott nicht kennen« »leidenschaftliche Gier« unterstellen (1Thess 4,5). Der »Abfall« bezeichnet damit ein religiöses Phänomen mit ethischen Implikationen. Wer fällt nach 2Thess 2,3b (von den göttlichen Geboten, vom Glauben, von der Wahrheit, vom »rechten Weg«) ab? Explizit sagt der Text das nicht. Sind hier speziell Christustreue im Blick, die unter dem Druck der endzeitlichen Anfeindungen von ihrem Glauben an Jesus Christus abfallen? Oder ist – was m.E. wahrscheinlicher ist – der Kreis weiter zu fassen, weil mit dem »Abfall« als einem kosmischen Phänomen auch der generelle Abfall von (ethischer) Ordnung gemeint ist? Der »Abfall« geht einher mit dem Offenbarwerden des »Menschen der Gesetzwidrigkeit«. Er ist gleichzeitig der »Sohn des Verderbens«. Die Ausdrucksweise ist – für das damalige Griechisch – ungewöhnlich und semitisch geprägt. Gemeint ist der Mensch, der gesetzeswidrig, also gegen das Gesetz, handelt; und der Sohn, der Verderben über andere bringt, der aber auch selbst letztlich im Verderben endet, wie es 2Thess 2,8 beschreibt. Dasselbe Wort für »Verderben« (apoleia) taucht in 2Petr 3,7 auf, um das endzeitliche Schicksal der Gottlosen zu beschreiben. Der bestimmte Artikel (der Mensch der Gesetzwidrigkeit, der Sohn des Verderbens) stellt diese Figur als Inbegriff jedweder ethischen Verfehlung dar. Sein Offenbarwerden steht in deutlichem Gegensatz zum Offenbarwerden des Herrn Jesus (1,7), der dem Gesetzwidrigen ein Ende bereiten wird (2,8). Das Offenbarwerden des Herrn Jesus wurde in 1,7–8 genauer beschrieben: Er wird vom Himmel her kommen, mächtig, begleitet von Engeln. Vom »Mensch[en] der Gesetzwidrigkeit« heißt es in 2,3b zunächst schlicht, dass er offenbar werden wird. In 2,9 wird die Parusie des Gesetzwidrigen dann jedoch noch genauer beschrieben. Zunächst beschreibt Vers 4 weiter den Menschen der Gesetzwidrigkeit. Er wird als »Widersacher« charakterisiert. Damit nimmt der Text die frühjüdische Tradition einer widergöttlichen, menschlichen Gestalt auf, die Ansprüche auf göttliche Verehrung erhebt. Ihr Auftreten gilt als Vorzeichen des nahen eschatologischen Endes. Im Buch Daniel heißt es z.B. von Antiochus IV. Epiphanes, der von 175–164 v.Chr. regierte:
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»Und der König wird tun, was er will, und wird sich überheben und großtun gegen alles, was Gott ist. Und gegen den Gott aller Götter wird er Ungeheuerliches reden, und es wird ihm gelingen, bis sich der Zorn ausgewirkt hat; denn es muss geschehen, was beschlossen ist. Auch die Götter seiner Väter wird er nicht achten; er wird weder den Lieblingsgott der Frauen noch einen anderen Gott achten; denn er wird sich über alles erheben.« (Dan 11,36–37).
Beim Vergleich von Dan 11,36–37 mit 2Thess 2,4 fällt eine interessante Verschiebung auf: Aus »alles, was Gott ist« und »Gott aller Götter« wird »alles, was Gott heißt«. Das klingt so, als wollte der Verfasser des 2. Thessalonicherbriefes strikt monotheistisch formulieren: Es gibt nur einen Gott. Der Verfasser von Dan 11,36–37 scheint dagegen mit der Existenz mehrerer Götter zu rechnen, die dem Gott Israels untergeordnet sind. Der Vorwurf an Antiochus geht dahin, dass er überhaupt keine Götter anerkennt und für sich selbst göttliche Ansprüche erhebt. In den Augen des Verfassers des 2. Thessalonicherbriefs gibt es keine paganen Götter, sie heißen nur so bzw. werden (fälschlicherweise) so genannt. Die Formulierung »alles, was Gott heißt oder Heiliges« schließt allerdings auch den jüdisch-christlichen Gott und seinen Gottesdienst mit ein. Der Widersacher lässt weder die paganen Götter etwas gelten, noch erkennt er – und darin zeigt sich seine eigentliche Gottfeindschaft – den jüdisch-christlichen Gott an. Er widersetzt sich allem, was Menschen – zu Recht oder zu Unrecht – Gott nennen. Ihm ist nichts heilig – außer er selbst. Diese anti-göttliche Haltung führt so weit, dass der Widersacher sich in den Tempel Gottes setzt und so tut, als sei er Gott. Mit dem »Tempel Gottes« muss der Tempel in Jerusalem gemeint sein. Er wurde im Jahr 70 n.Chr. von den Römern, genauer von Titus aus dem Geschlecht der Flavier und seinen Leuten, zerstört. Welche Ereignisse sind die historische Folie für die Ankündigung, dass sich der Widersacher in den Tempel Gottes setzt und so tut, als sei er Gott? a) In den Jahren 169–167 v.Chr. plünderte Antiochus IV. Epiphanes den Jerusalemer Tempel und machte ihn zu einem Tempel für den griechischen Gott Zeus Olympius (»Gott des Himmels«; vgl. 2Makk 6,2). Auf den Brandopferaltar ließ er einen Altar für Zeus bauen. Diese Tat bringt dem König in Dan 11,36–37 den Vorwurf ein, gar keine Götter zu achten. In Dan 11,31 heißt es dazu: »Und seine Heere werden kommen und Heiligtum und Burg entweihen und das tägliche Opfer abschaffen und das Gräuelbild der Verwüstung aufstellen.« Mit dem »Gräuelbild der Verwüstung« ist der neue Altar gemeint (vgl. 1Makk 1,54). In Mk 13,14 / Mt 24,15 spricht Jesus vom »Gräu-
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elbild der Verwüstung« als einem Zeichen für den Anbruch der Endzeit. b) In den Jahren 37–41 n.Chr. regierte Gaius Caligula. Der jüdische Schriftsteller Josephus berichtet von ihm, dass er habe sein wollen »wie Gott«. Er schickte Petronius nach Jerusalem, damit der im Jerusalemer Tempel Statuen von ihm aufstelle. Glücklicherweise kam es letztlich – aufgrund der Besonnenheit von Petronius und Caligulas Tod – nicht dazu. c) Im Jahr 63 n.Chr. eroberte der römische General Pompeius Judäa samt Jerusalem und betrat das Allerheiligste im Tempel. Die Psalmen Salomos nehmen im 17. Kapitel auf dieses Ereignis Bezug (PsSal 17,11–15). d) Im Jahr 68 n.Chr. starb Nero. Kurz nach seinem Tod verbreitete sich die Legende, er sei zu den Parthern geflüchtet und werde nach Rom zurückkommen (Nero redivivus). Während Neros Regierungszeit brach der Jüdisch-römische Krieg aus, der schließlich – im Jahre 70 – zur Zerstörung des Jerusalemer Tempels führte. Die jüdische Schrift der Sibyllinischen Orakel sagt wohl deshalb von Nero, dass er den göttlich gebauten Tempel eingenommen habe (Sib. Or. 5,150). 2Thess 2,4 bildet keinen dieser historischen Vorgänge genau ab. Von keinem der drei Herrscher wird berichtet, dass er sich tatsächlich in den Tempel Gottes gesetzt und so getan habe, als sei er Gott. Aber wahrscheinlich bilden diese Ereignisse den historischen Hintergrund für eine apokalyptische Schilderung, die das Böse im Rahmen der Endzeitereignisse noch weiter steigert. Der »Widersacher« ist eine übersteigerte menschliche Figur, in der sich die Erinnerung an unterschiedliche Herrscher niederschlägt. Sie steht für den Inbegriff der Gottlosigkeit. Ein ähnliches literarisches Verfahren findet sich in Offb 13. Hier schildert der Verfasser das »Tier aus dem Meer«, das Züge von vier Tieren aus Dan 7 in sich vereinigt, die dort vier aufeinanderfolgende Weltreiche symbolisieren. Diese Vereinigung der vier Tiere in einem einzigen soll die Zusammenfassung aller Weltreiche darstellen, und damit den Gipfel gottloser Macht auf Erden. An seiner Spitze steht auch in der Offb der Kaiser mit seinem Anspruch auf göttliche Verehrung.
Setzt Vers 4 voraus, dass der 2. Thessalonicherbrief zu einer Zeit entstand, als es den Jerusalemer Tempel noch gab? Dann müsste er vor dem Jahr 70 n.Chr. geschrieben worden sein. Diese Frage wird in der Forschung kontrovers diskutiert. Für einige Exegetinnen und Exegeten stellt sie ein Argument für die Echtheit des 2. Thessalonicherbriefes dar. Deshalb ist die Frage von wesentlicher Bedeutung. Die Schlussfolgerung ist aber nicht zwingend. 2,4 lässt sich auch
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mit der Annahme vereinbaren, der 2. Thessalonicherbrief sei pseudepigraph und nach 70 n.Chr. entstanden. Ich beschränke mich hier auf drei Argumentationslinien: – 2,4 spielt auf eine konkrete historische Phase an: auf die Herrschaft der Flavier, die den Tempel zerstören. Diese Phase liegt aus der Sicht der realen Adressatinnen und Adressaten des 2. Thessalonicherbriefes in der Vergangenheit (s.u. These 3). – Die Prophezeiung – die keine konkrete historische Phase in den Blick nimmt, sondern für die Zukunft mit einer maßlosen Steigerung der Gottlosigkeit rechnet – ist Teil der pseudepigraphen Fiktion. Sie besteht darin, dass Paulus, Silvanus und Timotheus den Brief zu einer Zeit schreiben, als der Jerusalemer Tempel noch steht. – Die Formulierung »sodass er sich in den Tempel Gottes setzt und so tut, als sei er Gott« impliziert nicht, dass der Verfasser tatsächlich mit diesem konkreten Ereignis rechnet und also auch mit dem Fortbestand des Jerusalemer Tempels. Sie steht vielmehr als Bild für die größtmögliche Steigerung der Gottlosigkeit eines Herrschers. Wie dargestellt sehe ich hinter 2,4 keine konkrete (vergangene oder gegenwärtige) historische Phase. Ich deute 2,4 als Versuch, unter Rückgriff auf die Erinnerung an unterschiedliche »gottlose« Herrscher ein Bild für die Zukunft (s.u.) zu entwerfen. In diesem Bild kombiniert der Verfasser die Erinnerung an diese einzelnen Herrscher, um auszudrücken, dass sich ihre Gottlosigkeit noch steigern wird. Vers 5 unterbricht die Beschreibung der Endereignisse mit dem Hinweis, dass »ich euch das sagte, als ich noch bei euch war«. Angesichts der Absenderangabe (1,1), die drei Personen (Paulus, Silvanus und Timotheus) nennt, ist die Einzahl (»ich«) auffällig. Gemeint ist im Zusammenhang des Textes wohl Paulus, der am Schluss des Briefes deutlich als derjenige hervorgehoben wird, der seine Briefe mit einem handschriftlichen Gruß versieht (3,17). Vers 5 verweist damit auf den Gründungsaufenthalt des Paulus und qualifiziert den Abfall (vom rechten Glauben) und die Offenbarung des Menschen der Gesetzwidrigkeit als Lehrinhalte, die den Adressatinnen und Adressaten bereits bekannt sein müssten. Während 2,2 mit der Rede vom »Brief wie von uns« auf den 1. Thessalonicherbrief als schriftliche Botschaft von Paulus, Silvanus und Timotheus verweist, geht es hier um die mündliche Botschaft des Paulus. Implizit ist damit der Anspruch verknüpft, dass der 2. Thessalonicherbrief in voller Übereinstimmung sowohl mit der mündlichen als auch mit der schriftlichen Überlieferung von Paulus (Silvanus und Timotheus) steht.
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Ging es in Vers 5 um die Erinnerung an die zurückliegende mündliche Botschaft des Paulus zu der Zeit, als er noch bei den Thessalonichern war, heben die Verse 6 –77 darauf ab, was die Adressatinnen und Adressaten »jetzt« wissen. In Vers 8 folgt dann das, was »dann« (zukünftig) geschehen wird. Inwiefern der Text hier auf ein Wissen anspielt, das der Verfasser bei seinen realen Adressatinnen und Adressaten tatsächlich als bekannt voraussetzt, ist umstritten. Vielleicht ist es Teil seiner pseudepigraphen Fiktion, seinen fiktiven Adressatinnen und Adressaten ein »Wissen« als bekannt zu unterstellen, von dem er weiß, dass es für die realen Adressatinnen und Adressaten neu ist. In dem Fall dient die Versicherung »und jetzt wisst ihr« der Autorisierung dessen, worum es im Folgenden geht. Denn – so die Implikation – das, was für die realen Adressatinnen und Adressaten neu erscheinen mag, war bereits der Gemeinde in Thessalonich bekannt. Was wissen die Adressatinnen und Adressaten? Sie wissen, »was (ihn) noch aufhält«. Einige Auslegungen beziehen das »Jetzt« auf diesen Satzteil und übersetzen: »was (ihn) jetzt noch aufhält«. Wörtlich heißt es: »das Aufhaltende«. Das Objekt dieser Tätigkeit, also das, was aufgehalten wird, bleibt ungenannt. Als direkter Bezug bietet sich der »Mensch der Gesetzwidrigkeit« an, von dem ja in 3b–4 die Rede war. Es gibt allerdings auch die These, dass hier der Herr Jesus Christus bzw. der Tag des Herrn im Blick sei (vgl. 2,1.2c). Indirekt trifft diese Auslegung mit Sicherheit zu, denn die eschatologischen Endereignisse münden ja in das Kommen des Herrn. Alles, was zur Verzögerung der Endereignisse beiträgt, trägt also indirekt zur Verzögerung der Parusie bei. Der direkte Bezug ist aber m.E. in den Versen 3b–4 und damit in dem »Menschen der Gesetzwidrigkeit« zu finden. Dieser Mensch wird – wie der Herr Jesus – offenbar (vgl. 1,7). Diese Aussage in 2,6 greift 2,3b auf. Das Offenbarwerden bezieht sich hier also auf den »Menschen der Gesetzwidrigkeit«. Das Offenbarwerden des Herrn Jesus klingt dabei im Gefolge von 1,7; 2,1 durchaus (kontrastiv) mit an. Der »Mensch der Gesetzwidrigkeit« wird – so heißt es weiter – (erst) »zu seiner Zeit offenbar«. Hier steht die Vorstellung einer (von Gott) festgesetzten Zeit im Hintergrund. Die Endzeitereignisse laufen nach einem göttlichen Plan ab, sie haben jeweils ihre (festgesetzte) Zeit. Die Frage, was unter »dem Aufhaltenden« zu verstehen ist, hat eine unübersehbare Fülle an Hypothesen hervorgebracht. Während in Vers 6 das Partizip neutrum steht (»das Aufhaltende«), begegnet in Vers 7 das Partizip maskulinum (»der Aufhaltende«). Vielleicht spiegelt diese Verschiebung die Rede vom »Menschen der Gesetzwidrigkeit« (2,6), die neben der Rede vom »Geheimnis der Gesetzwidrigkeit« (2,7) steht. Jeweils stehen sich eine personale
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Formulierung (der Mensch der Gesetzwidrigkeit – der Aufhaltende) und eine nicht-personale Formulierung (das Geheimnis der Gesetzwidrigkeit – das Aufhaltende) gegenüber. In dem Fall wäre die Verschiebung in der Rede vom »Aufhaltenden« ein weiteres Indiz dafür, dass als Objekt dieses Geschehens der »Mensch der Gesetzwidrigkeit« zu denken ist. Denn bezogen auf den »Herrn Jesus« haben wir keine solche Verschiebung von sächlicher zu personaler Rede in 2Thess 1–2. Wie dem auch sei, ich stimme mit der großen Mehrheit der Forschung darin überein, dass »das Aufhaltende« und »der Aufhaltende« inhaltlich dieselbe Größe bezeichnen. Welche Größe das ist, bleibt wie gesagt auch nach vielen Jahrhunderten Auslegungsgeschichte hoch umstritten. Ein wesentlicher Hinweis auf den mitzudenken traditionsgeschichtlichen Hintergrund liegt in der Formulierung »zu seiner Zeit«. Sie ist getragen von der Überzeugung, dass Gott Herr über die Zeit ist, auch wenn es den Gottestreuen manchmal nicht so erscheinen mag. Diese Vorstellung begegnet alttestamentlich in Hab 2,3; Jes 13,22; Ez 12,21–28. Der Habakuk-Text wird in einem Kommentar zu diesem Buch, der der Qumran-Gemeinschaft zugeschrieben wird, folgendermaßen ausgelegt (die kursiv gesetzten Passagen zitieren den Habakuk-Text): »Und Gott sprach zu Habakuk, er solle aufschreiben, was kommen wird über das letzte Geschlecht. Aber die Vollendung der Zeit hat er ihm nicht kundgetan. Und wenn es heißt: Damit eilen kann, wer es liest [Hab 2,2c], so bezieht sich seine Deutung auf den Lehrer der Gerechtigkeit, dem Gott kund getan hat alle Geheimnisse der Worte seiner Knechte, der Propheten. Denn noch ist eine Schau auf Frist, sie eilt dem Ende zu und lügt nicht [Hab 2,3a]. Seine Deutung ist, dass sich die letzte Zeit in die Länge zieht, und zwar weit hinaus über alles, was die Propheten gesagt haben; denn die Geheimnisse Gottes sind wunderbar. Wenn sie verzieht, so harre auf sie, denn sie wird gewiss kommen, und nicht wird sie ausbleiben [Hab 2,3b]. Seine Deutung bezieht sich auf die Männer der Wahrheit, die Täter des Gesetzes, deren Hände nicht müde werden vom Dienst der Wahrheit, wenn die letzte Zeit sich über ihnen hinzieht. Denn alle Zeiten Gottes kommen nach ihrer Ordnung, wie er es ihnen festgesetzt hat in den Geheimnissen seiner Klugheit.« (1QpHab VII,1–14a; zit. nach E. Lohse, Die Texte aus Qumran, 235–236).
Dieser frühjüdische Kommentar reflektiert das Phänomen der zeitlichen Verzögerung, indem er betont, dass »alle Zeiten Gottes … nach ihrer Ordnung [kommen]«. Gott hat also alles »im Griff«. Deshalb müssen die Gottestreuen nicht beunruhigt sein, wenn sie den Eindruck haben, dass die »Vollendung der Zeit« sich hinzieht. Die Verzögerung ist von Gott gewollt, sie unterliegt seiner Kon-
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trolle. Im Neuen Testament finden sich ähnliche Deutungen des Habakuk-Textes in Hebr 10,35–39 und 2Petr 3,8–9. Die Vorstellung, dass die Zeit – einschließlich der Endzeit – ganz in Gottes Hand steht, prägt die gesamte jüdisch-christliche Apokalyptik. Legt man diese theozentrische (Gott ins Zentrum stellende) Vorstellung an 2Thess 2,6–7 an, dann ergibt sich für das bzw. den Aufhaltende(n) Folgendes: Die Aufgabe des »Aufhalters« (Katechon) besteht darin, den »Menschen der Gesetzwidrigkeit« bis zu einem von Gott festgesetzten Zeitpunkt aufzuhalten. Die Gegenwart wird damit gedeutet als eine Zeit des Aufschubs für die Christustreuen, die Gott ihnen gewährt. Das bzw. der Aufhaltende ist also eine von Gott eingesetzte, befähigte Macht. Nun kann Gott bestimmte Mächte, z.B. die apokalyptischen Reiter (Offb 6,4.8) oder das Tier aus dem Meer (Offb 13,5.7) und das Tier aus der Erde (Offb 13, 14.15), durchaus dazu befähigen, während eines bestimmten Zeitraums Böses zu tun. Das ist beim Katechon allerdings nicht der Fall. Die aufhaltende Macht soll verhindern, dass der »Mensch der Gesetzwidrigkeit« vor »seiner Zeit« offenbar wird. Auszuschließen ist dabei, dass das bzw. der Katechon Gott selbst ist. Denn von Gott könnte nicht gesagt werden, dass er zu einem bestimmten Zeitpunkt »(aus der Mitte) entfernt werden muss« (2,7). Wer oder was genau diese von Gott zum Aufhalten befähigte Macht ist, sagt der Text nicht. Er hebt allein auf die Funktion dieser Größe ab, eben ihre aufhaltende Wirkung. Es geht dem Text damit zentral um die Qualifizierung der Gegenwart für die Christustreuen. Statt zu meinen, der Tag des Herrn sei schon da, können sie die ihnen gewährte Zeit des Aufschubs nutzen. Die Zeit arbeitet dabei für sie, gerade wenn und gerade weil sie gegenwärtig Bedrängnisse erleiden (2Thess 1,4.6.7). Denn – so haben die Adressatinnen und Adressaten im 1. Kapitel gehört – die Bedrängnisse sind für sie »Zeichen des gerechten Gerichts Gottes«. Sie stellen sicher, dass die Christustreuen im Gericht gut werden bestehen können. Das heißt: 2Thess 2,6–7 geht es nicht um eine Terminspekulation, wann genau der Tag des Herrn zu erwarten ist. Wichtig ist allein, wie die Gegenwart zu deuten ist: Noch nicht als eschatologische Endzeit, wohl aber als Zeit, die in Gottes Hand steht. Eine sehr einflussreiche Auslegungstradition geht bei der Frage der Deutung des Katechon einen entscheidenden Schritt weiter, indem sie das Aufhaltende bzw. den Aufhaltenden mit dem Römischen Reich identifiziert. Man spricht in diesem Zusammenhang von einer geschichtstheologischen Deutung. Im Rahmen dieser Deutung kann das Römische Reich (und damit das bzw. der Aufhaltende) sowohl als negative als auch als positive Größe gesehen werden. Entsprechend wird das bzw. der Aufhal-
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tende dann zu einer positiven Macht (die die endzeitlichen Bedrängnisse aufhält) oder zu einer negativen Macht (die die messianische Zeit Macht aufhält). Die Vorstellung vom Römischen Reich als einer negativen Größe geht auf die jüdische Apokalyptik zurück. Das Buch Daniel spricht von vier Weltreichen, die sich an Gottlosigkeit überbieten (Dan 2; 7). Das letzte und schlimmste Reich identifiziert das Buch Daniel wahrscheinlich mit dem Reich Alexanders bzw. mit dem Seleukidenreich, von dessen Herrscher Antiochus IV., der im Jahr 175 v.Chr. an die Macht kam, schon die Rede war. In der späteren jüdischen Literatur des ersten vorchristlichen Jahrhunderts rückt allmählich das Römische Reich in die Rolle des vierten Weltreiches ein. Es verkörpert alles Böse und Gottlose. Erst nach seinem Untergang – so die jüdische Überzeugung – kann die messianische Zeit anbrechen. Im Neuen Testament ist diese Tradition im Buch der Offenbarung am deutlichsten greifbar. Sie wirkt auf die Schilderung der Visionen von den apokalyptischen Tieren in Offb 13 und 17. Babylon als Chiffre für das gottlose Rom prägt Offb 17; 18. Versteht man das bzw. den Aufhaltende(n) aus 2Thess 2,6–7 im Rahmen dieser Tradition, dann verbirgt sich hinter dieser Größe das gottlose Römische Reich (vertreten durch konkrete römische Herrscher), das die Ankunft des Messias bzw. (christlicherseits) die Parusie des Herrn Jesus Christus aufhält. Die Vorstellung vom Römischen Reich als einer positiven Größe geht auf die jüdisch-christliche Praxis der Fürbitte für die weltliche Macht zurück. Im Neuen Testament ist hier 1Tim 2,1–2 wirkmächtig. Der Verfasser ermahnt seine Adressatinnen und Adressaten dazu, Fürbitte zu leisten »für die Könige und alle, die Macht ausüben, damit wir ein ruhiges und stilles Leben in aller Ehrfurcht und Würde führen können.« Der (römische) Staat gilt im Rahmen dieser Tradition als Garant für Ordnung und Sicherheit. Tertullian schreibt 197 n.Chr. in seiner Schrift »Apologeticum«: »Es gibt noch eine andere, höhere Notwendigkeit für uns Christen, für die Kaiser zu beten, ebenso für den festen Bestand des Reiches und die römischen Dinge: wir wissen, dass die gewaltige Katastrophe, die dem Erdkreis droht, ja dass das Ende der Welt, das entsetzliche Drangsale heraufbeschwört, nur durch die Frist aufgehalten wird, die dem Imperium Romanum gewährt ist. Daher wollen wir dies nicht auf die Probe stellen, und indem wir um Aufschub beten, fördern wir die Dauer Roms.« (zit. nach Trilling, Der 2. Thessalonicherbrief, 97–98). Im Rahmen dieser Tradition kann das bzw. der Aufhaltende auf das Römische Reich – bzw. konkrete römische Herrscher – als eine positive Größe gedeutet werden, die das Ausbrechen der endzeitlichen Drangsal aufhält.
Ich halte beide Varianten dieser geschichtstheologischen Deutung für problematisch. Denn der Text bietet m.E. keine ausreichenden Anhaltspunkte für eine genauere Identifizierung des Katechon. Ich denke vielmehr, die Reduktion dieser Größe auf ihre aufhaltende Funktion geschieht bewusst. (Römische) Herrscher liefern dagegen die Folie für die Darstellung des »Menschen der Gesetzwidrigkeit«.
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Auch hier ist jedoch m.E. keine konkrete Identifizierung mit einem bestimmten Herrscher intendiert. Die Schilderung hebt vielmehr darauf ab, dass mit dem »Menschen der Gesetzwidrigkeit« die größte vorstellbare Steigerung der Gottlosigkeit am Werk ist. Vers 7 schließt mit einer kausalen Verknüpfung (»denn«) an. Was wird hier wie begründet? Der Bezug ist nicht ganz eindeutig, lässt sich aber sinngemäß rekonstruieren: Das Offenbar-Werden des »Menschen der Gesetzwidrigkeit« »zu seiner Zeit« (2,6) unterliegt einer Voraussetzung: Das bzw. der Aufhaltende muss zunächst entfernt werden. Dann – so schließt Vers 8 an – wird der »Gesetzwidrige« offenbar. Der Bezug zwischen Vers 7b und Vers 8 ist also klar. Damit ergibt sich eine bestimmte Abfolge der Ereignisse: 1. Das bzw. der Aufhaltende hält den »Menschen der Gesetzwidrigkeit« zurück (2,6). 2. Das bzw. der Aufhaltende wird entfernt (2,7b). Damit ist die Voraussetzung für 3. erfüllt: 3. Der »Mensch der Gesetzwidrigkeit« wird »zu seiner Zeit« offenbar (2,6.8). Eine zusätzliche Information gibt Vers 7a: Das »Geheimnis der Gesetzwidrigkeit wirkt schon«. Obwohl also das bzw. der Aufhaltende den »Menschen der Gesetzwidrigkeit« »bis jetzt« zurückhält, wirkt »schon« sein »Geheimnis«. Mit anderen Worten: Die gesetzwidrige Macht bricht sich trotz des Aufhalters »schon« in Anfängen Bahn, und zwar als Geheimnis, also so, dass nicht alle sie erkennen und richtig deuten. In 2Thess 3,3 bittet der Verfasser entsprechend für die Adressatinnen und Adressaten darum, dass Gott sie stärke und vor dem Bösen bewahre. Als Orientierung dient die mündliche und schriftliche Lehre von Paulus, Silvanus und Timotheus (2,15). Offen sichtbar (offenbar) wird die gesetzwidrige Kraft erst, wenn das bzw. der Katechon entfernt ist. Im griechischen Alten Testament taucht dieselbe Formulierung für »entfernen«, die wörtlich mit »aus der Mitte tun« zu übersetzen ist, auf, um die Entfernung des Bösen, des Widerstands gegen Gott, zu bezeichnen (z.B. Ez 11,7.9; 14, 8.9). Dennoch sehe ich das nicht als ausreichendes Indiz an, um den »Katechon« als eine widergöttliche Größe zu bestimmen. Wichtig ist im Zusammenhang von 2Thess 2,6–7, dass es sich beim Katechon um eine von Gott befähigte Macht handelt, der allein Gott ihre Zeit zumisst. Der Anschluss »und dann« in Vers 8 verweist auf den Moment, in dem das bzw. der Katechon entfernt sein wird. Sowohl in Vers 7b als auch in Vers 8a steht dafür eine passivische Formulierung (»entfernt werden«, »offenbart werden«), die das Geschehen als Handeln Gottes ausweist. Die Entfernung des Katechon wird – so hieß es bereits in Vers 6 – zu »seiner Zeit« geschehen. Der Wirk-
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samkeit des »Geheimnisses der Gesetzwidrigkeit« – im Verborgenen (vgl. Vers 7a) – folgt damit eine Phase, in der der »Mensch der Gesetzwidrigkeit« offen und sichtbar tätig wird. Damit greift Vers 8 den Gedankengang aus den Versen 3–4 auf. Ab Vers 9 erfolgt eine genauere Beschreibung der offenen Wirksamkeit des »Menschen der Gesetzwidrigkeit«. Zuvor durchbricht Vers 8b jedoch die zeitliche Reihenfolge der Ereignisse, indem er das Ende, das Verderben des Widersachers darstellt. Hatte Vers 3 den Widersacher bereits als »Sohn des Verderbens« bezeichnet, erfahren die Adressatinnen und Adressaten nun, wie sich dieses Verderben ereignet. Durch diese Vorwegnahme seines schmählichen Endes stellt der Verfasser die Taten des Widersachers, die er in den Versen 9–10 schildert, unter ein bestimmtes Vorzeichen: Sie sind letztlich zum Scheitern verurteilt. Die Vernichtung des Widersachers erfolgt durch den Herrn Jesus. Der Name »Jesus« erscheint in einigen wichtigen Handschriften nicht, inhaltlich ist aber eindeutig, dass mit dem Herrn hier Jesus gemeint ist. Strukturell bildet Vers 8b einen sogenannten Parallelismus membrorum, das heißt: Zwei Satzhälften stehen parallel: Sie beschreiben dasselbe und verstärken sich gegenseitig. »Der Herr (Jesus) wird (den Widersacher) mit dem Hauch seines Mundes vernichten« steht also parallel zu »Der Herr (Jesus) wird (den Widersacher) mit der Erscheinung seiner Parusie beseitigen«. Zum ersten Teil: Der Herr wird den Widersacher »mit dem Hauch seines Mundes vernichten«. Stellt man sich dies bildlich vor, dann wird klar, dass schon die geringste Tätigkeit Jesu den Widersacher zu Fall bringt. Er hat Jesu Auftreten nichts entgegenzusetzen und fällt sofort um. Traditionsgeschichtlich geht das Bild auf Jes 11,4 zurück. Dort heißt es – bezogen auf den Spross, der aus dem Stamm Isais hervorgehen wird: »Er wird mit dem Stabe seines Mundes den Gewalttätigen schlagen und mit dem Odem seiner Lippen den Gottlosen töten.« Bezogen auf Jesus findet sich dieses Bild in Offb 19, 15.21. Gegenüber Jes 11,4 ist die Formulierung in 2Thess 2,8 zusammengezogen. Es ist keine Rede vom »Stab«, sondern direkt vom »Hauch seines Mundes«. Diese Formulierung erinnert auch an Ps 33,6, wo es von Gott heißt: »Der Himmel ist durch das Wort des Herrn gemacht und all sein Heer durch den Hauch seines Mundes.« Falls dieser Psalmvers mitschwingt, wäre in 2Thess 2,9 eine (weitere) Tätigkeit Gottes auf Jesus übertragen. Zum zweiten Teil: Für »Erscheinung« steht hier im Griechischen das Wort epiphaneia. Im griechisch-hellenistischen Bereich beschreibt dieses Wort die heilsame Ankunft eines Herrschers (vgl. Antiochus IV. Epiphanes, von dem schon die Rede war). Der Begriff ist inhaltlich so gut wie synonym zu »Parusie«. Die Formulie-
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rung »Erscheinung seiner Ankunft« begegnet nur an dieser Stelle im Neuen Testament. Die Doppelung ist vielleicht dadurch motiviert, dass die Parusie Jesu so gewichtiger erscheint als die Parusie des Widersachers, von der in Vers 9a die Rede sein wird. Die »Epiphanie der Parusie« benennt hier nicht nur den Zeitpunkt der Vernichtung des Widersachers, sondern vor allem das Mittel seiner Vernichtung (»durch«). Allein durch die Ankunft Jesu – so könnte man paraphrasieren – wird der »Sohn des Verderbens« vernichtet. Insofern steht »durch die Erscheinung seiner Parusie« parallel zu »mit dem Hauch seines Mundes«. Die »Waffen« sind hier – wenn man so will – noch weiter reduziert: Reichte in der ersten Hälfte des Parallelismus membrorum der »Hauch«, braucht es nun noch nicht einmal mehr diesen. Die bloße Erscheinung des Herrn reicht aus, um den Widersacher vollständig zu vernichten. Das Verb für »beseitigen« (katargeomai) begegnet auch in 1Kor 15,24.26, hier in Verbindung mit der Beseitigung aller Gewalten und Mächte. Impliziert ist, dass von dem Widersacher nichts zurück bleibt, er wird vollständig entfernt. 9 – 10a Vers 8 handelte davon, dass der »Gesetzwidrige« offenbart wird. Daran schloss sich ein erster Relativsatz an (»den der Herr (Jesus) mit dem Hauch seines Mundes vernichten und mit der Erscheinung seiner Parusie beseitigen wird«). Vers 9 fügt einen zweiten Relativsatz an, der sich ebenfalls auf den »Gesetzwidrigen« bezieht (»dessen Parusie in der Kraft des Satans geschieht …«). Gemeint ist jetzt also die Parusie des »Gesetzwidrigen«. Sie kommt unmittelbar neben der Parusie des »Herrn« (Jesus) zu stehen, von der ja am Ende von Vers 8 die Rede war. Während Vers 8 vom Offenbar-Werden des Gesetzwidrigen direkt zu seiner Vernichtung gesprungen ist, gehen die Verse 9–10 genauer darauf ein, wie der Gesetzwidrige in der ihm gewährten Zeit (vgl. 2,6) wirkt. Er kommt »in der Kraft des Satans«. Der Satan begegnet im Alten Testament als ein himmlisches Wesen, das Menschen vor Gott anklagt (vgl. bes. Hiob 1,6 – 2,7). Er kann auch als Verführer dargestellt werden (1Chr 21,1). Später wird er zum Anführer der gefallenen Engel und damit zum großen Feind Gottes (äthHen 54,6). Im Neuen Testament taucht der Satan mehrfach auf. In Röm 16,20 verheißt Paulus seinen Adressatinnen und Adressaten, dass Gott den Satan bald zertreten wird. Offb 12,9 erzählt ebenfalls von der Vernichtung des Satans, »der die ganze Welt verführt«. Nach der synoptischen Überlieferung wird Jesus vom Satan in der Wüste versucht (Mk 1,13; Mt 4,1–11). Der »Gesetzwidrige« entpuppt sich als ein Instrument des Satans. Er kommt mit Macht – allerdings, so wissen die Hörerinnen und Hörer bereits – mit einer Macht, die der göttlichen unterliegen wird (2Thess 2,8). Der »Gesetzwidrige«
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kommt außerdem mit »lügnerischen Zeichen und Wundern«. Insofern liegt es nahe, bei der Macht konkret an die Macht, Wunder zu tun, zu denken. Der Ausdruck »Zeichen und Wunder« ist stereotyp und begegnet bereits mehrfach im Alten Testament (z.B. Ex 7,3; Dtn 6,22; neutestamentlich z.B. in Apg 2,22.43). Das Kommen mit »lügnerischen Zeichen und Wundern« erinnert an das Auftreten falscher Christusse und falscher Propheten, von denen es in Mk 13,22 ebenfalls heißt, dass sie (falsche) Zeichen und Wunder tun. Der Zweck dieser falschen Zeichen und Wunder besteht nach Mk 13,22 darin, »die Auserwählten irrezuführen« (vgl. Dtn 13,2–6; Jer 23). Ganz ähnlich heißt es in 2Thess 2,10, dass der »Gesetzwidrige« »mit jeder Art der Verführung« kommt. Gegenüber Mk 13,22 fällt in 2Thess 2,10 jedoch zweierlei auf: Erstens geht es um die Verführung »zur Ungerechtigkeit«. Möglich ist auch die Bedeutung: »Verführung, die von Ungerechtigkeit inspiriert ist«. Der griechische Begriff adikia hat ein breites Bedeutungsspektrum. Neben »Ungerechtigkeit« kann es auch »Sünde« oder »Unrecht« bedeuten. Vielleicht kann man den Begriff hier auch mit »Gesetzwidrigkeit« übersetzen. Allerdings bezeichnet der 2. Thessalonicherbrief den »Gesetzwidrigen« mit einem anderen griechischen Wort (anomos). Der Bedeutungsumfang von adikia in 2,10 bestimmt sich eher von der Entgegensetzung zur »Wahrheit«, die in 2,12 (vgl. 2,10b) erfolgt. Zweitens richtet sich die Verführung durch falsche Zeichen und Wunder in 2Thess 2,10a nicht – wie in Mk 13,22 – an die Auserwählten, sondern an die Verlorenen. Wie ist diese Formulierung gemeint? Im Griechischen steht hier ein Partizip Präsens. Gemeint sind also diejenigen, die (noch) verlorengehen. Die Formulierung blickt gleichsam vom Ende her auf das Geschehen und nimmt diejenigen in den Blick, bei denen der »Gesetzwidrige« mit seiner Verführung Erfolg hat und noch haben wird. Das heißt, die Verführung richtet sich an alle, sie hat aber nicht bei allen Erfolg. Das ist in Vers 10b vorausgesetzt. Aktuell ist die Adressatengemeinde offenbar der Gefahr der Verführung ausgesetzt (2Thess 2,3a). Sie soll – und kann – sich dieser Gefahr aber offenbar widersetzen. Vers 1 0b liefert die Begründung dafür, warum einige (schließlich) verloren gehen: »Sie haben die Liebe zur Wahrheit nicht angenommen, durch die sie gerettet werden sollten.« Die Übersetzung macht deutlich, dass es nicht um eine Vorherbestimmung geht, bei der die Menschen keinen Einfluss darauf haben, ob sie gerettet werden oder nicht. Eigentlich sollten auch die Verlorenen gerettet werden. Aber sie haben dieses Angebot ausgeschlagen und »die Liebe zur Wahrheit nicht angenommen«. Bei der Wahrheit geht es nicht um ein bestimmtes (Tatsachen-)Wissen. Dazu könnte man kaum eine »Liebe« entwickeln. Vers 12 verbindet die Wahrheit mit Glauben
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und Vertrauen. Das rückt die Passage in die Nähe von 2Thess 1,8– 10. Hier hieß es, dass der Herr an denjenigen Vergeltung üben wird, »die Gott nicht kennen und die dem Evangelium unseres Herrn Jesus nicht gehorchen«. Diejenigen, die an ihn glauben, werden ihn dagegen bewundern. Denn – so heißt es abschließend in 2Thess 1,10 – »ihr habt dem vertraut [geglaubt], was wir euch bezeugt haben«. Liest man 2Thess 2,10b von diesem Text her, so ergibt sich daraus, dass mit der Wahrheit die Wahrheit des Evangeliums, der guten, von Paulus, Silvanus und Timotheus bezeugten Glaubensbotschaft, gemeint ist. Sie hat die Kraft, Menschen zu retten (vgl. 1Thess 1,10). Wer sie jedoch nicht annimmt, geht verloren. Vers 1 1 lässt sich ebenfalls von 2Thess 1,8–9 her lesen: Der Text sieht die Menschen in das Spannungsfeld zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen Liebe und Verführung, zwischen Glaube und NichtAnnahme, gestellt. Aus dem grundsätzlichen Charakter dieser Situation erklärt sich die Rede im Präsens. 2,11 geht jedoch insofern über 1,8–9 – und auch über 2,9–10 – hinaus, als es jetzt Gott ist, der die Macht der Verführung schickt. Damit ist eine dramatische Steigerung markiert. Denn Gottes Macht ist größer als die Macht des Satans, der der Herr ein Ende machen wird (2,8). Gegen Gottes Macht der Verführung wird keine erfolgreiche Gegenwehr möglich sein. Insofern ist mit dieser Aussage die Steigerung der Verführung, die die Zeit vor der Parusie des Herrn kennzeichnet, auf die Spitze getrieben. Auf die Frage, wie es kommt, dass einige Menschen der Lüge glauben (und nicht Gottes Wahrheit), antwortet 2Thess 2,11: Gott selbst steckt dahinter. Diese Antwort verankert alles – eben auch die Macht der Verführung – in Gott. Es gibt keine Macht außerhalb Gottes. Es geschieht letztlich nichts gegen seinen Willen. Nach 2Kön 22,23 hat Gott, der Herr, einen Lügengeist in den Mund der Propheten gegeben (vgl. Ez 14,9). Eine ähnliche Denkweise steht hinter der sogenannten Verstockungstheorie. Sie will erklären, warum bestimmte Teile des Volkes Israel die Botschaft der Propheten nicht annehmen (Jes 6,9–10) bzw. warum Jesus mit seiner Botschaft nicht alle überzeugen kann (Mk 4,12; vgl. Apg 28,26). Die Antwort lautet jeweils: Weil Gott selbst es so will. Er macht die Ohren einiger Menschen für seine Botschaft taub (verstockt sie). Mit dieser Antwort bleibt die Souveränität Gottes unangetastet. Trotzdem bleibt sie für uns anstößig. In 2Thess 2 wird durch diese Steigerung jedoch unmissverständlich klar, dass das eschatologische Drama in Gottes Hand liegt. Vers 1 2 führt das Schicksal derer, die auf der »falschen« Seite stehen, weiter aus: Sie werden (vom Herrn Jesus; vgl. 1,9) gerichtet werden. Von 2Thess 1 her ist klar, dass das Gericht für diese Menschen die Vernichtung bringen wird (1,8–9). Das Stichwort der
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»Ungerechtigkeit« taucht hier nochmals – wie in 2,10 – auf. Diejenigen, die der Verführung durch den Widersacher nicht widerstehen, werden im Gericht vernichtet. Von den Christustreuen ist an dieser Stelle zunächst nicht die Rede. Sie rücken ab Vers 13 wieder in den Blick. Aus 2Thess 1 ist bereits bekannt, dass auch sie in das Gericht kommen, dort aber die wunderbare Erscheinung des Herrn Jesus erleben (1,10). Ihre Rettung klingt in 2Thess 2,10 indirekt an. Wir hatten außerdem bereits gesehen, dass 1Thess 4,13–17 in 2Thess 2,1 anzitiert wird. Das Schicksal der Christustreuen wird damit in 2Thess 2 gleichsam als bekannt vorausgesetzt. Der Fokus liegt nun auf dem Schicksal der Gottlosen. Die Trennung zwischen beiden Gruppen ist dabei denkbar scharf gezogen. Es gibt kein »Dazwischen«, kein »Vielleicht«. Die Trennung vollzieht sich an der Stellung zur Wahrheit, also zum Evangelium. Blicken wir zurück auf 2,3b–12, so ergeben sich drei aufeinanderfolgende Phasen, die der biblische Text unterscheidet: Die geheime Macht der Gesetzwidrigkeit regt sich (2,7), sie wird aber noch zurückgehalten (2,6–7).
Der Zurückhaltende bzw. die zurückhaltende Macht wird beseitigt (2,7). Der »Mensch der Gesetzwidrigkeit« bzw. der »Gesetzwidrige« wird offenbar (2,3b.8). Es kommt zum Abfall (2,3b.9–11).
Jesus, der Herr, kommt und vernichtet den »Gesetzwidrigen« (2,8). Die Gottlosen werden gerichtet (2,12).
Wo befindet sich in diesem zeitlichen Tableau die (reale) Adressatengemeinde? Zu dieser Frage gibt es in der Forschung unterschiedliche Thesen, die ich zunächst in groben Zügen tabellarisch darstelle und dann diskutiere. Aufeinander folgende Etappen in 2,3b–12
Die geheime Macht der Gesetzwidrigkeit regt sich (2,7), sie wird aber noch zurückgehalten (2,6–7).
These 1 These 2 These 3
Zukunft Gegenwart Vergangenheit
Der Zurückhaltende bzw. die zurückhaltende Macht wird beseitigt (2,7). Der »Mensch der Gesetzwidrigkeit« bzw. der »Gesetzwidrige« wird offenbar (2,3b.8). Es kommt zum Abfall (2,3b.9– 11). Zukunft Zukunft Gegenwart
Jesus, der Herr, kommt und vernichtet den »Gesetzwidrigen« (2,8). Die Gottlosen werden gerichtet (2,12).
Zukunft Zukunft Zukunft
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Die erste These siedelt alle angekündigten Ereignisse in der Zukunft der Adressatinnen und Adressaten an. Demnach regt sich die geheime Macht der Gesetzwidrigkeit noch nicht. Auch die zurückhaltende Macht ist noch nicht am Werk, sondern eine zukünftige Größe. Nach dieser These liefern die Verse 3b–12 nur ex negativo eine Qualifizierung der Gegenwart, in die der Brief hinein geschrieben ist, indem sie festhalten, was alles noch nicht geschehen ist, aber vor dem Ende geschehen muss. Die Schilderung der zukünftigen Ereignisse dient als Begründung dafür, dass der Tag des Herrn noch (lange) nicht da ist (vgl. 2,2c). Die zweite These sieht in der ersten Phase eine Qualifizierung der Gegenwart der Adressatengemeinde. In ihr regt sich bereits die geheime Macht der Gesetzwidrigkeit. Sie wird in der Gegenwart der Adressatinnen und Adressaten noch zurückgehalten, zeigt sich also nur in Ansätzen. Die Verführung derjenigen, die meinen, der Tag des Herrn sei schon da (2,2c), wird in 2,3b–12 indirekt als eine solche Regung der geheimen Macht gedeutet, die zukünftig in großem Stil die Menschen verführen wird (2,10–11). Während die erste und die zweite These nicht explizit zwischen fiktiven und realen Adressatinnen und Adressaten unterscheiden, nimmt die dritte These bei dieser Unterscheidung ihren Ausgangspunkt. Sie liest den 2. Thessalonicherbrief als ein pseudepigraphes Schreiben und fragt getrennt nach der Gegenwart der fiktiven und derjenigen der realen Adressatinnen und Adressaten in 2,3b–12. Während für die fiktiven Angesprochenen die geschilderten Ereignisse in der Zukunft liegen, gehören sie für die realen Adressatinnen und Adressaten zum Teil bereits der Vergangenheit an. Allein die Parusie Christi mit dem Gericht steht noch aus. Nach dieser These dienen die Verse 3b–12 in erster Linie nicht dazu, die (relative) zeitliche Ferne des eschatologischen Endes zu verdeutlichen, sondern sie dienen dazu, die realen Adressatinnen und Adressaten vor Abfall und Gesetzwidrigkeit zu warnen, die in ihrer Gegenwart um sich greifen. Ein wesentlicher Irrtum besteht nach dieser These darin zu meinen, dass das Gericht an »den Juden« bereits stattgefunden habe (2Thess 2,2c in Verbindung mit 1Thess 2,14–16). Die Differenzierung zwischen fiktiven und realen Adressatinnen und Adressaten ist methodisch sinnvoll, sofern der 2. Thessalonicherbrief als pseudepigraphes Schreiben gilt. Die Frage, wie sich im 2. Thessalonicherbrief die fiktiven zu den realen Zeitebenen verhalten, ist jedoch komplex. Denn in 2Thess 2 stoßen im Blick auf die Pseudepigraphie zwei unterschiedliche literarische Gattungsmerkmale aufeinander. Einerseits haben wir es mit einem pseudepigraphen Brief zu tun. Pseudepigraphe Briefe sprechen in die Gegenwart ihrer realen Adressatinnen und Adressaten indirekt hinein,
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indem sie ihren fiktiven Adressatinnen und Adressaten eine Situation unterstellen, die mit der aktuellen Lage ihrer realen Adressatinnen und Adressaten große Ähnlichkeit hat. Bezogen auf 2Thess 2,2 heißt das: Die realen Adressatinnen und Adressaten sollen die fiktive Schilderung einer – in die Vergangenheit projizierten – Situation auf sich beziehen. Sie sollen in einem zurückliegenden Problem, das es zu Lebzeiten des Paulus in der Gemeinde von Thessalonich (angeblich) gab, ihr eigenes Problem erkennen. Anders sieht es in der pseudepigraphen Apokalyptik aus. Hier geben sich die realen Verfasser den Namen einer bedeutenden Persönlichkeit aus der Vergangenheit, um von einem fiktiven Standpunkt in der Vergangenheit aus die zukünftigen Ereignisse zu schildern. An einem bestimmten Punkt in dieser Schilderung – am Übergang vom Konkreten zum Allgemeinen – befindet sich die Gegenwart der realen Leserinnen und Leser. An diesem Punkt sollen die realen Adressatinnen und Adressaten im Rahmen einer fiktiven Schau, die in die Zukunft hinein entworfen ist, ihre eigene Gegenwart erkennen. Dieser Punkt markiert den Übergang von dem, was bereits passiert ist, zu dem, was in der Zukunft liegt. In Mk 13,23 wird dieser Punkt im Rahmen der synoptischen Apokalypse durch die Erinnerung an die zurückliegende Verkündigung markiert. Etwas Vergleichbares findet sich in 2Thess 2,5. Die dritte These deutet diese Parallele so, dass sich die Verse 2Thess 2,3b–4 auf die Gegenwart der realen Adressatinnen und Adressaten beziehen. Bezüge zwischen fiktiven und realen Zeitebenen in pseudepigraphen Schreiben Brief
Apokalypse
Eine in der Vergangenheit verortete Situation ist transparent für die Gegenwart der realen Adressatinnen und Adressaten.
Eine in der Zukunft verortete Situation ist transparent für die Gegenwart der realen Adressatinnen und Adressaten.
Die pseudepigraphe Fiktion arbeitet mit der Projektion der gegenwärtigen Situation in eine (fiktive) Vergangenheit.
Die pseudepigraphe Fiktion arbeitet mit der Projektion der gegenwärtigen Situation in die (fiktive) Zukunft.
Sie impliziert, dass die gegenwärtige Situation der realen Adressatinnen und Adressaten so oder ähnlich schon einmal das Leben einer urchristlichen Gemeinde geprägt hat.
Sie impliziert nicht, dass die gegenwärtige Situation der realen Adressatinnen und Adressaten so oder ähnlich schon einmal das Leben einer urchristlichen Gemeinde geprägt hat.
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Sie arbeitet mit einer Situationsanalogie: Eine im Brief beschriebene, fiktive Situation entspricht der aktuellen Situation der realen Adressatinnen und Adressanten.
165 Sie arbeitet nicht mit einer Situationsanalogie: Die Situation der realen Adressatinnen und Adressaten gilt als einmalig.
Was heißt das für die Auslegung von 2Thess 2? Wir haben es zweifellos mit einem Brief zu tun. Der Verfasser benutzt in diesem Brief in 2Thess 2,3b–12 apokalyptisches Material und gibt drei (!) Verfassernamen von bedeutenden Personen aus der Vergangenheit an (Paulus, Silvanus, Timotheus). Für das apokalyptische Genre ist das sehr ungewöhnlich. Insofern ist die Zuschreibung des 2. Thessalonicherbriefes an Paulus, Silvanus und Timotheus nur sehr bedingt vergleichbar mit der Zuschreibung apokalyptischen Wissens z.B. an Henoch. Zudem fehlt in 2Thess 2 das zentrale Moment der (visionären oder auditiven) Offenbarung (vgl. Offb 4,1 u.ö.). Pseudepigraphe Zuschreibungen sowie die Erinnerung an die zurückliegende Verkündigung finden sich auch in anderen (paulinischen und pseudo-paulinischen) Briefen (vgl. 1Thess 1,5; 2,1.9.11). Diese Beobachtungen sprechen m.E. dafür, 2Thess 2 in erster Linie im Kontext eines pseudepigraphen Briefes zu deuten. Einig ist sich die Forschung darin, dass 2Thess 2,2c transparent ist für die Gemeindesituation der realen Adressatinnen und Adressaten: Sie wissen von Leuten, die meinen, der Tag des Herrn sei schon da. Diese Ansicht qualifiziert der pseudepigraphe Brief als Verführung (2,3a). Wenn wir den 2. Thessalonicherbrief als pseudepigraphes Schreiben betrachten, dann muss die Verführung (2,3a) sowohl die (fiktive) Situation der Gemeinde in Thessalonich zur Zeit des Paulus als auch die Situation der realen Adressatinnen und Adressaten Ende des ersten nachchristlichen Jahrhunderts kennzeichnen. Vom Genre des pseudepigraphen Briefes aus ist es daher schwierig, beide Situationen bezogen auf die apokalyptische Schilderung zukünftiger Ereignisse auseinanderzureißen und an unterschiedlichen Stellen im apokalyptischen Tableau zu verorten, wie es die dritte These tut. Wir können jedoch fragen, wie sich die in 2,1–3a geschilderte Situation der Verführung zu der in 2,11 geschilderten Verführung verhält. In 2,1–3a impliziert der Verfasser, dass sich die Christustreuen gegen die Verführung wehren können. Ansonsten wäre die Ermahnung überflüssig. Die Verführer – also die Vertreter des Slogans »Der Tag des Herrn ist schon da!« – haben letztlich nicht die Macht, die Christustreuen in die Irre zu führen. Nach 2,11 hingegen sendet Gott die Macht der Verführung, die bei den Gottlosen »erfolgreich« ist. Sie verfallen der Macht des Irrtums. Der Gesetz-
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2Thess 2,1–12
widrige wird auftreten »mit jeglicher Verführung zur Ungerechtigkeit« (2,10) – während Gott nach 2Thess 1 derjenige ist, der Gerechtigkeit garantiert. Die Verführung zielt in 2,10 also – anders als in 3a – nicht auf die Frage, wann der Tag des Herrn kommt bzw. ob er schon da ist, sondern auf die Frage der Gerechtigkeit. Aufgrund dieser Differenz zwischen 2,1–3a und 2,9–11 halte ich die zweite These für am besten begründet. Die Gegenwart der realen (und fiktiven) Adressatinnen und Adressaten ist durch eine Verführung gekennzeichnet, der sie sich widersetzen können und die auf die Frage gerichtet ist, wann der Tag des Herrn kommt. Diese Verführung ist eine Regung des Geheimnisses der Gesetzwidrigkeit (2,7). Das Auftreten des Gesetzwidrigen (2,9) und die Sendung göttlicher Macht zur Verführung (2,11) liegen in der Zukunft. Verführung und Täuschung bilden in 2,1–12 die wesentlichen Elemente der (apokalyptischen) Qualifizierung von (Gegenwart und) Zukunft. Bemerkenswert ist angesichts von 2Thess 1, was gar nicht vorkommt: Nirgends ist die Rede von eschatologischen Wehen, die eine bestimmte Phase im Ablauf der endzeitlichen Ereignisse markieren. Sie werden überhaupt nicht erwähnt! Diese »Leerstelle« wird kaum ein Zufall sein, zumal 2Thess 1 die Bedeutung der aktuellen Bedrängnisse bereits entfaltet hat. Die Bedrängnisse sind »Anzeichen dafür, dass Gott gerecht richtet« (1,5). Mit 2Thess 2 wird man ergänzen dürfen: Sie sind kein Anzeichen für das baldige Ende, ja sie spielen für die Frage, wann der Tag des Herrn kommt, keine Rolle. In 2Thess 2,1–12 kommen wir der Situation der realen Adressatinnen und Adressaten am nächsten. Offenbar gab es in ihrer Gemeinde Menschen, die behaupteten, der Tag des Herrn sei schon da. Wer diese Leute genau waren und wie sie ihre Ansicht begründeten, können wir nur vermuten. Denn wir werden Zeuge dessen, wie sich der 2. Thessalonicherbrief mit dieser Ansicht auseinandersetzt. Dabei ist die »Rahmung« wichtig: Der Verfasser legt im ersten Kapitel das Fundament für seine Auseinandersetzung im zweiten Kapitel: Er beschreibt das Kommen des Herrn Jesus zum Gericht mit doppeltem Ausgang – einem Gericht also, aus dem die Christustreuen unbeschadet herauskommen, in dem die Gottlosen jedoch vernichtet werden. Die gegenwärtigen Bedrängnisse sind dabei »Anzeichen des gerechten Gerichts« (1,5). Sie stellen Gottes Gerechtigkeit nicht in Frage, sondern sind im Gegenteil im Kontext seiner Gerechtigkeit zu deuten. In 2Thess 2,1 lässt der Brief außerdem 1Thess 4,13–17 anklingen. Dort wird das eschatologische Schicksal der Christustreuen beschrieben. Ihre dort beschriebene Rettung (vgl. 1Thess 1,10) klingt in 2Thess 2,10 indirekt an.
2Thess 2,1–12
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2Thess 2,1–12 richtet sich nicht an die Vertreterinnen und Vertreter der zitierten Parole, sondern an die realen Adressatinnen und Adressaten, die sich mit dieser Parole konfrontiert sehen. Um die Parole zu widerlegen, weist 2Thess 2,3b–12 darauf hin, was vor dem Ende noch alles geschehen muss. Dabei geht es dem Brief nicht darum, einen exakten »Fahrplan« zu entwerfen. Wichtiger ist – neben dem Hinweis, dass vor der Parusie des Herrn noch einiges passieren wird – die Deutung der Gegenwart. Zentral ist dabei der Gedanke, dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ganz in Gottes Hand stehen. Er ist der Herr der Geschichte, dessen Ausgang unwiderruflich feststeht. Indirekt wird deutlich, dass die aktuellen Bedrängnisse nicht als eschatologische Wehen zu deuten sind, die die Nähe des Endes anzeigen würden. Bedrängnisse tauchen in der Schilderung 2,3b–12 überhaupt nicht auf! Die Gegenwart ist vielmehr eine Zeit, in der das »Geheimnis der Gesetzwidrigkeit« schon wirkt, der Gesetzwidrige selbst aber noch zurückgehalten wird (2,7). Die Verführung durch die Leute, die meinen, der Tag des Herrn sei schon da, kann aufgrund der engen textuellen Verbindung als eine solche Wirkung des Geheimnisses der Gesetzwidrigkeit verstanden werden. Es handelt sich aber noch nicht um die »Verführung zur Ungerechtigkeit« (2,10), die erst kommen wird, wenn der bzw. das Aufhaltende (Katechon) beseitigt ist (2,7). 2Thess 2,10–12 weist insofern eine logische Spannung auf, als der Text den Menschen einerseits vor die Entscheidung zwischen Wahrheit und Lüge stellt, andererseits jedoch auch diese Entscheidung letztlich in Gott verankert. Er schickt »die Macht der Verführung, sodass sie der Lüge glauben« (2,11). Dieser Widerspruch wird nicht aufgelöst. Er ergibt sich aus einem doppelten Anliegen des Textes: Einerseits appelliert der Text indirekt an die realen Adressatinnen und Adressaten, ihrerseits die »Liebe zur Wahrheit« anzunehmen – und sie auch angesichts von Verfolgung und Bedrängnis nicht wieder loszulassen. Andererseits lässt der Text keinen Zweifel daran, dass es keine Macht außerhalb Gottes gibt. 2Thess 2,1–12 ist ein Text, der die Kirche und die neutestamentliche Wissenschaft intensiv beschäftigt hat und weiter beschäftigt. In dem »Widersacher«, dem – wie er ihn nannte – »Antichristen«, sah Martin Luther ein Bild für den römisch-katholischen Papst. Er sah Freiheit und Evangelium unterdrückt durch das Papsttum. Das Papsttum habe sich – nach Luther – selbst überhoben »über alles, was Gott heißt oder Heiliges« (2,4). Die Päpste hätten sich in den Tempel Gottes gesetzt und so getan, als seien sie Gott (2,4). Luthers Interpretation von 2Thess 2 ist eng mit seiner eigenen Biographie verknüpft und erklärt sich aus seinem theologischen Grundanliegen. Sie setzt voraus, dass der »Antichrist« in der Gegenwart der Kirche wirkt. Ich
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2Thess 2,13–14
habe hier eine Interpretation versucht, die den ursprünglichen historischen Kontext des Textes ernst nimmt. Deutlich wurde dabei, dass der Widersacher eine religiös dimensionierte Figur ist, deren Auftreten der Verfasser des 2. Thessalonicherbriefes für die Zukunft erwartet. In ihr verschmelzen Erinnerungen an Herrscher, die das Frühjudentum in seiner religiösen Identität bedrohten. In diesem Aspekt liegt für viele heutige Christinnen und Christen ein hochaktueller Zug, sofern sie sich von politischen Machthabern wegen ihrer religiösen Identität bedroht fühlen. Ihnen spricht 2Thess 2 zu, dass diese Machthaber nicht das letzte Wort behalten werden. Spekulationen über die Identität des Katechon halten die Wissenschaft bis heute in Atem. Ich habe auf eine geschichtstheologische Deutung samt Identifizierung des Katechon mit einer konkreten historischen Gestalt verzichtet und den bzw. das Katechon ganz von seiner aufschiebenden Funktion her gedeutet. Sie markiert die Dehnung der Zeit, sodass klar ist, dass der Tag des Herrn noch nicht da ist (vgl. 2,2). Beim Katechon handelt es sich um eine von Gott befähigte Macht, der allein Gott ihre Zeit zumisst. 2,13–14 Die zweite Danksagung In 2,13–14 folgt – nach 1,3 – eine zweite Danksagung. Das ist formal sehr ungewöhnlich. Die Besonderheit erklärt sich durch die Anlehnung an den 1. Thessalonicherbrief, der ebenfalls zwei Danksagungen aufweist (1Thess 1,2–3; 2,13). Die Danksagung führt inhaltlich 2,10b–12 fort, indem sie neben das dort thematisierte Schicksal der Gottlosen dasjenige der Christustreuen stellt. Die Danksagung verbindet sich daher mit einer Art Zusammenfassung christlicher Existenz. 13
Wir aber müssen Gott immerzu für euch Dank sagen, vom Herrn geliebte Brüder [und Schwestern], weil Gott euch als erste [oder: von Anfang an] zur Rettung erwählt hat in der Heiligung durch den Geist und im Glauben an die Wahrheit. 14Dazu hat er euch berufen durch unsere frohe Botschaft zum Erwerb der Herrlichkeit unseres Herrn Jesus Christus. Vers 1 3 schließt an 2,10b–12 an. Dort war vom vernichtenden endzeitlichen Schicksal der Verlorenen die Rede. Wenn Vers 13 nun betont mit »wir aber« anschließt, lässt das zunächst vermuten, dass mit dem »Wir« die Christustreuen gemeint sind. Im weiteren Verlauf des Verses wird aber klar, dass sich das »Wir« auf Paulus, Silvanus und Timotheus bezieht. Sie müssen Gott dafür danken, dass
2Thess 2,13–14
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er »euch« – also die Adressatinnen und Adressaten – erwählt hat. Damit stellen sich die Missionare – ähnlich wie im 1. Thessalonicherbrief – zwischen Gott und die Angeschriebenen. Diese vermittelnde Rolle unterstreicht Vers 14, wenn von »unser[em] Evangelium« die Rede ist. Abgesehen von dem betonten »wir aber« ist die Formulierung identisch mit 2Thess 1,3a. Die Anrede »Brüder« – die auch die Schwestern im Glauben mit meint – ist in 2,13 erweitert zu: »vom Herrn geliebte Brüder [und Schwestern]. Mit dem »Herrn« ist Jesus Christus gemeint, denn Gott wird eindeutig im selben Vers davor und danach benannt. Die Erweiterung gegenüber 2Thess 1,3a lässt 1Thess 1,4 anklingen, wo es heißt: »von Gott geliebte Brüder [und Schwestern]«. Statt »Gott« setzt 2Thess 2,13 lediglich »Herr« – und meint damit Jesus Christus. Der mit »weil« angeschlossene Satz begründet, warum Paulus, Silvanus und Timotheus Gott danken müssen. Gott hat die Adressatinnen und Adressaten »zur Rettung erwählt«. Diese Aussage knüpft an 2,10 an, wo bereits indirekt von der Rettung der Christustreuen – im Kontrast zur Vernichtung der Gottlosen – die Rede war. Die Rettung nimmt den endgeschichtlichen Ausgang des christlichen Lebens in den Blick, die Erwählung seinen Anfang. In ähnlicher Weise sprach 1Thess 1,4 von der Erwählung der Christustreuen (s. dort). Die Rede von der Erwählung macht deutlich, dass Gott im Heilsgeschehen der (allein) Handelnde ist. Der bzw. die Erwählte bleiben passiv. Im Alten Testament begegnet das Motiv im Zusammenhang mit der Erwählung des Volkes Israel durch Gott (vgl. Dtn 26,18 in der griechischen Fassung der LXX). Die Erwählung zur Rettung erfolgt – hier sind die Textzeugen uneinheitlich – entweder »als erste« (aparchän) oder »von Anfang an« (ap archäs). Bei der ersten Variante bliebe unklar, worauf sich die Qualifizierung bezieht: als erste von wem? Es könnte gemeint sein, dass die fiktiven Adressatinnen und Adressaten, also die Gemeinde in Thessalonich, die ersten erfolgreich (christlich) Missionierten in Mazedonien seien. Historisch würde das jedoch nicht zutreffen. Die zweite Variante lässt den Beginn der Schöpfungserzählung anklingen (»am Anfang«). Dann wäre gemeint, dass Gottes erwählendes Handeln mit seinem Schöpfungshandeln in Zusammenhang steht (vgl. Eph 1,4). Wie die Erwählung zur Rettung erfolgt, wird nun doppelt präzisiert: »in der Heiligung durch den Geist und im Glauben an die Wahrheit«. Im griechischen Text steht jeweils eine Genitivverbindung, also »Heiligung des Geistes« und »Glauben der Wahrheit«. Bei der zweiten Wendung ist klar, dass es sich um einen Genitivus objectivus handelt: Es geht um den Glauben an die Wahrheit. In 2,12 war kontrastierend von denjenigen die Rede, »die der Wahrheit nicht geglaubt haben«. Gemeint ist also nicht das Zum-Glau-
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2Thess 2,13–14
ben-Kommen, sondern der Glaube an eine für wahr befundene Lehre. Sachlich schwingt wohl auch der Gehorsamsgedanke mit, den 1Petr 1,22 explizit formuliert: Es geht auch darum, der Wahrheit – die den Adressatinnen und Adressaten im Evangelium der Missionare (2Thess 2,14) überliefert ist – zu gehorchen. Die erste Genitivverbindung lässt zwei inhaltliche Auslegungen zu. Einerseits ebenfalls als Genitivus objectivus. Dann wäre der menschliche Geist gemeint, der von Gott geheiligt wird (vgl. 1Petr 1,2). Andererseits als Genitivus auctoris. Dann wäre Gottes Geist gemeint, der der Urheber der Heiligung ist. Ich halte diese Interpretation – gerade in Verbindung mit der Rede der Erwählung, bei der Gott der Handelnde ist –, für naheliegender und übersetze daher: »in der Heiligung durch den Geist [Gottes]«. Der Erwählung »zur Rettung« stellt Vers 1 4 die »Berufung« – zur Rettung – an die Seite. Gott hat die Seinen zur Rettung berufen. Die Berufung hat also bereits stattgefunden. Etwas anders klang das noch in 2Thess 1,11 (s. dort). In diesem Vers äußerten die Missionare den Wunsch, dass »unser Gott euch eurer Berufung würdig mache«. Die Berufung durch Gott stand demnach noch aus. Denn zunächst musste Gott die Adressatinnen und Adressaten ihrer (zukünftigen) Berufung würdig machen. Hier, in 2Thess 2,14, gilt die Berufung durch Gott nun als ein Heilsdatum, das bereits zurückliegt. Das entspricht der Theologie des 1. Thessalonicherbriefes. In 1Thess 2,12 (s. dort) ermahnen die Missionare die Gemeinde in Thessalonich dazu, »euer Leben so zu führen, wie es Gottes würdig ist«. Denn: »Ihr seid ja von Gott berufen zu seinem Reich und seiner Herrlichkeit.« (vgl. auch 1Thess 4,7). Während die Rede von der Berufung als einem bereits zurückliegenden Heilsdatum sich also glatt in die Theologie des 1. Thessalonicherbriefes fügt, sind zwei weitere Aspekte in 2Thess 2,14 umso ungewöhnlicher. Erstens: Die Berufung geschieht »durch unsere frohe Botschaft«. Die mündliche Botschaft der Missionare erscheint als göttliches Instrument der Berufung. Sie erhält damit allerhöchste Autorität und Bedeutung (vgl. 1,10; 2,5). Diese enge Verknüpfung der göttlichen Berufung mit der mündlichen Botschaft der Missionare übersteigt die Aussagen des 1. Thessalonicherbriefes. So erinnert die Formulierung durchaus an 1Thess 1,4b.5 (vgl. zur Hochschätzung der mündlichen Botschaft der Missionare auch 1Thess 2,2.8; 3,2). Dort war im Zusammenhang mit der Erwählung von der »frohen Botschaft, die wir verkündigen« die Rede. Die Art der Verknüpfung zwischen beiden Größen erfolgt aber anders als in 2Thess 2,14. In 1Thess 1,4b.5 begründet der Erfolg ihrer Mission ihr Wissen darum, dass die Adressatinnen und Adressaten von Gott erwählt sind. Die Mission ist hier aber nicht das Instrument der göttlichen
2Thess 2,15–17
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Erwählung. Zweitens: Die Berufung ist erfolgt »zum Erwerb der Herrlichkeit unseres Herrn Jesus Christus«. Die Verbindung von Berufung und Herrlichkeit erinnert an 1Thess 2,12 (vgl. auch 1Thess 5,9). Dort war allerdings die Herrlichkeit Gottes, in 2Thess 2,14 ist die Herrlichkeit Jesu Christi gemeint. Wesentlicher ist jedoch eine andere Beobachtung: In 2Thess 2,14 ist vom »Erwerb« der Herrlichkeit die Rede. Das impliziert ein aktives Handeln seitens der Christustreuen (vgl. Phil 2,12; Hebr 10,39). Woran genau der Verfasser dabei denkt, wird nicht deutlich. Aber offensichtlich haben wir es hier mit einer ähnlichen Spannung zu tun wie schon in 2Thess 2,10b–12: Einerseits liegt alles in Gottes Hand. Er erwählt die Seinen. Andererseits sind die Christustreuen aufgefordert, der Wahrheit (vgl. 2,13), also »unserer frohen Botschaft«, zu gehorchen, um (selbst?) die Herrlichkeit zu erwerben. Auch hier lässt sich die Spannung nicht auflösen, sondern wiederum als Ausdruck zweier widersprüchlicher Anliegen deuten: Einerseits handelt Gott vollkommen souverän, andererseits sind die Menschen ihrer Verantwortung für ihr Leben nicht enthoben. 2,15–17 Mahnung und Gebetswunsch 15
Steht also fest, Brüder (und Schwestern), und haltet an den Überlieferungen fest, über die ihr belehrt wurdet, sei es durch ein Wort, sei es durch einen Brief von uns. 16Er selbst aber, unser Herr Jesus Christus, und Gott, unser Vater, der sich uns in Liebe zugewandt und uns durch Gnade ewigen Trost und zuversichtliche Hoffnung gegeben hat, 17tröste eure Herzen und stärke euch in jedem Werk und Wort. Vers 1 5 spricht die Adressatinnen und Adressaten erneut direkt an (vgl. 2,13) und zieht die Schlussfolgerung aus Erwählung (2,13) und Berufung (2,14) für die Angeschriebenen: Sie sollen »fest stehen«. Diese Formulierung erinnert an 1Thess 3,8. Dort war das »fest Stehen« genauer qualifiziert durch den Zusatz »im Herrn«. In 2Thess 2,15 hingegen wird die Standhaftigkeit mit dem Festhalten an den Überlieferungen verbunden, über die die Adressatinnen und Adressaten belehrt wurden. Der 2. Thessalonicherbrief rückt damit in einen Traditionsstrom ein. Er bietet – seinem Anspruch nach – keine neue Lehre, sondern schließt an die »Überlieferungen« an. Das Festhalten an diesen Überlieferungen wird zu einem wesentlichen Element des Glaubens erklärt (vgl. Jud 3; 2Petr 2,21). Die Adressatinnen und Adressaten können sich angesichts der Bedrängnisse, in denen sie sich befinden (2Thess 1,4), auf die ihnen
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2Thess 2,15–17
überkommenen Überlieferungen verlassen. Die passivische Formulierung »über die ihr belehrt wurdet« lässt zunächst nicht erkennen, durch wen die Belehrung erfolgte: Ist speziell an die Belehrung durch Paulus, Silvanus und Timotheus gedacht, oder ist der Ausdruck weiter zu verstehen? Der Zusatz »sei es durch ein Wort, sei es durch einen Brief von uns« bezieht die gemeinten Überlieferungen in der Tat auf diejenigen, die Paulus, Silvanus und Timotheus zugerechnet werden. Das »von uns« qualifiziert dabei wahrscheinlich »Wort« und »Brief«. Ist ein bestimmter Brief gemeint, und wenn ja – welcher könnte das sein? Die Mehrheit der Forschung bezieht den Ausdruck »durch einen Brief von uns« auf den 1. Thessalonicherbrief. Dieser Bezug legt sich nahe, weil der 1. Thessalonicherbrief durch die Adressaten- und Verfasserangabe als Referenztext vorselektiert ist. Die Gemeinde in Thessalonich ist in der Tat durch den 1. Thessalonicherbrief belehrt worden. Diese Deutung impliziert, dass der 1. Thessalonicherbrief älter ist als der 2. – selbst wenn der 2. Thessalonicherbrief als »echt« angesehen wird. Inhaltlich bedeutet das: Der 2. Thessalonicherbrief bestätigt seinem Anspruch nach den 1. Thessalonicherbrief (und die mündliche Überlieferung der drei Missionare). Die eschatologischen Lehren beider Briefe gelten als vereinbar. Einige Auslegungen beziehen die Formulierung allerdings auf den 2. Thessalonicherbrief. Sie verweisen darauf, dass der gemeinte Brief in 2Thess 2,15 – anders als in 2Thess 2,2 – eindeutig als »unser Brief« qualifiziert wird. In 2Thess 2,2 hieß es dagegen: »durch einen Brief, wie er von uns geschrieben wurde« – wobei sprachlich sowohl ein »tatsächlich« als auch ein »angeblich« ergänzt werden konnte (s. zur Stelle). Einige Auslegungen sehen daher in 2Thess 2,2 einen Bezug auf den 1. Thessalonicherbrief (der als Fälschung qualifiziert werde) und in 2Thess 2,15 einen Bezug auf den 2. Thessalonicherbrief (der als der einzig »echte« Thessalonicherbrief ausgegeben werde). Diese Auslegung trägt dem Unterschied in der Formulierung zwischen 2Thess 2,2 und 2,15 Rechnung, sie ist aber mit der Fortsetzung »über die ihr belehrt wurdet« schwer vereinbar. Das Verb steht in der grammatischen Zeitform des Aorist, es bezeichnet also ein Ereignis in der Vergangenheit. Das wirkt bei einem Bezug auf den 2. Thessalonicherbrief merkwürdig. Denn die Adressatinnen und Adressaten lesen oder hören ja gerade noch den Brief, sie sind durch ihn noch gar nicht vollständig belehrt, weil sie ihn noch gar nicht vollständig kennen. Insofern scheint mir der Bezug auf den 1. Thessalonicherbrief an dieser Stelle schlüssiger.
Die Adressatinnen und Adressaten werden in 2,15 also einerseits auf mündliche und schriftliche Überlieferung (»Wort und Brief« – ohne bestimmten Artikel), andererseits speziell auf die schriftliche Überlieferung des 1. Thessalonicherbriefes (»von uns«) verpflich-
2Thess 2,15–17
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tet. Dabei kommt es natürlich auf die »richtige« Auslegung dieses Briefes an. Während die Vertreter der in 2Thess 2,2 zitierten Parole den 1. Thessalonicherbrief »falsch« verstehen, reklamiert der 2. Thessalonicherbrief die »richtige« Auslegung des 1. Thessalonicherbriefes für sich. An ihr können und sollen sich die Adressatinnen und Adressaten festhalten. In Vers 1 6 mündet die Mahnung in einen Gebetswunsch. Die Formulierung ist aus 1Thess 3,11 übernommen: Auch dieser Vers beginnt mit »er selbst aber« und nennt dann Gott, unseren Vater, und den Herrn Jesus. Demgegenüber ist die Reihenfolge in 2Thess 2,16 allerdings vertauscht: Hier wird zuerst »unser Herr Jesus Christus« genannt, anschließend »Gott, unser Vater«. Diese Umstellung spiegelt das große Interesse des 2. Thessalonicherbriefes an Jesus Christus, dem von Beginn an eine entscheidende Rolle im eschatologischen Endgeschehen zugeschrieben wird (2Thess 1). Der Inhalt des Gebetswunsches wird erst in Vers 17 formuliert. Vorher blickt der Verfasser zurück auf das Heilshandeln Gottes. Der Text verwendet dabei eine griechische Zeitform (Aorist), die auf ein bestimmtes Ereignis in der Vergangenheit hinweist: Gott hat sich »uns in Liebe zugewandt«. Aus dieser liebevollen Zuwendung erwachsen Trost und Hoffnung, die Gott uns gegeben hat. Die Verben stehen jeweils im Singular, sind also auf Gott zu beziehen. Vielleicht ist Jesus Christus als Subjekt des Handelns mitgedacht (auch er hat sich uns in Liebe zugewandt und uns Trost und Hoffnung gegeben), vielleicht ist er aber auch als Objekt bzw. als »Mittel« des göttlichen Handelns mitzudenken. Das konkrete Ereignis wäre dann das erste Kommen Jesu Christi: Gott hat sich uns im Kommen Jesu Christi in Liebe zugewandt, er hat uns in Jesus Christus Trost und ewige Hoffnung geschenkt. Ewig ist die Hoffnung, weil sie das zweite Kommen Jesu Christi (zum Gericht!) überdauern wird. Gott hat schon Trost gespendet. Gleichzeitig bittet Vers 1 7 um Trost. In 1Thess 4,18 fordern Paulus, Silvanus und Timotheus die Gemeinde dazu auf, einander im Wissen um das Kommen Jesu Christi und die zukünftige Gemeinschaft mit ihm zu trösten (vgl. 5,11). Diejenigen, die nicht an Jesus Christus glauben, werden als die beschrieben, »die keine Hoffnung haben« (4,13). Dieser Zusammenhang von Trost, Hoffnung und Parusie aus 1Thess 4,13–18 klingt auch in 2Thess 2,16–17 an (vgl. 2,1). 2Thess 2,17 erinnert außerdem an 1Thess 3,2, und zwar mit der Verbindung von »Trösten« und »Stärken«. In 1Thess 3,2 soll Timotheus die Thessalonicher »stärken und … ermutigen«. Für »ermutigen« und »trösten« steht im griechischen Text in 1Thess 3,2 und 2Thess 2,17 dasselbe Verb. In 1Thess 3,2 ging es um Ermutigung angesichts von Bedrängnissen (1Thess 3,3). Diese Bedeu-
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2Thess 3,1–5
tungsnuance schwingt wohl auch in 2Thess 2,17 mit (vgl. 2Thess 1,4.6.7). Die Reihenfolge der Verben ist in 2Thess 2,17 gegenüber 1Thess 3,2 vertauscht. Die Gegenüberstellung von Trost für »eure Herzen« und Stärkung »in jedem Werk und Wort« könnte sich auf die innere und die äußere Haltung der Glaubenden beziehen. Die Bitte um Stärkung erinnert an 1Thess 3,13. Dort baten Paulus, Silvanus und Timotheus um die Stärkung der Herzen. 2Thess 2,17 liest sich wie eine Entfaltung dieses Wunsches. In 2Thess 3,3 wird es dann heißen: Der Herr »wird euch stärken«. 3,1–5 Gebetsbitte und Gebetswunsch In 3,1–5 bereiten »Paulus, Silvanus und Timotheus« ihre Ermahnungen, die in 3,6–12 folgen, vor, indem sie die Bindung zwischen ihnen und ihren Adressatinnen und Adressaten verstärken. Ihrem Gebetswunsch für die Gemeinde (2,16–17) folgt nun eine Gebetsbitte: Die Gemeinde möge ihrerseits für sie beten (3,1). Denn sie stehen gemeinsam den »schlechten und bösen Menschen« (3,2) bzw. »dem Bösen« (3,3) gegenüber. »Paulus, Silvanus und Timotheus« äußern dann die Zuversicht, dass die Adressatinnen und Adressaten das tun werden, was sie anordnen (3,4). 1
Im Übrigen, liebe Brüder (und Schwestern), betet für uns, damit das Wort des Herrn sich ausbreite und verherrlicht werde – ebenso wie bei euch – 2und damit wir erlöst werden von den schlechten und bösen Menschen. Denn der Glaube ist nicht jedermanns (Sache). 3 Treu aber ist der Herr, der euch stärken und bewahren wird vor dem Bösen. 4Wir haben aber in dem Herrn Vertrauen zu euch (gefasst), dass ihr tut und tun werdet, was wir anordnen. 5Der Herr aber lenke eure Herzen auf die Liebe Gottes und auf die Standhaftigkeit (in der Erwartung) Christi. Das zweite Kapitel endete mit einem Gebet für die Adressatinnen und Adressaten. In Vers 1 bitten die (fiktiven) Verfasser ihrerseits darum, dass die Gemeinde für sie beten möge. Der Anschluss mit »im Übrigen, liebe Brüder (und Schwestern)« markiert einen Neueinsatz. Die Wendung »im Übrigen« begegnet auch in 1Thess 4,1. Hierin zeigt sich wiederum die Strukturparallelität zwischen dem 1. und 2. Thessalonicherbrief. 2Thess 2,17 griff auf 1Thess 3,11–13 zurück. 1Thess 4,1 und 2Thess 3,1 schließen jeweils mit »im Übrigen« an. Die Anrede »liebe Brüder (und Schwestern) stellt im ganzen 2. Thessalonicherbrief (wie schon im ersten) ein Gliede-
2Thess 3,1–5
175
rungssignal dar (vgl. 2Thess 1,3; 2,1.13.15; 3,6.13). Mit der Gebetsbitte stellen sich die (fiktiven) Verfasser (zunächst!; vgl. aber 3,4) mit den Adressatinnen und Adressaten auf eine Stufe. Die Bitte greift 1Thess 5,25 auf. Sie ist durchaus typisch und öfter am Ende von Briefen zu finden (2Kor 13,11; Gal 6,17; Eph 6,10; Phil 4,8). Während Paulus, Silvanus und Timotheus in 1Thess 5,25 allgemein darum bitten, dass die Thessalonicher für sie beten mögen, geben 2Thess 3,1 und 3,2 den Inhalt des Gebetes in zwei »damitSätzen« an. Im ersten dieser Sätze geht es um den Wunsch, dass sich das Wort des Herrn ausbreiten und verherrlicht werden möge. »Paulus, Silvanus und Timotheus« bitten also darum, dass ihre missionarische Tätigkeit Erfolg haben möge. Die Wendung »Wort des Herrn« findet sich im Neuen Testament nur noch in 1Thess 1,8. Dort stellten Paulus, Silvanus und Timotheus anerkennend fest, dass »das Wort des Herrn … nach Mazedonien und Achaja vorgedrungen« ist. Hier ging es nicht um ihre missionarische Tätigkeit, sondern um die positive Ausstrahlung der Gemeinde ins Umland. 2Thess 3,1 nimmt den Gedanken der Ausbreitung vom Wort des Herrn auf uns bezieht ihn durch die Bitte, »für uns« zu beten, auf die missionarische Tätigkeit der (fiktiven) Verfasser. Das griechische Verb bedeutet wörtlich: »laufen«. Paulus benutzt öfter das Bild des Läufers im Stadium (1Kor 9,24–27; Röm 9,16; Gal 2,2; 5,7; Phil 2,16). An diesen Stellen ist mit dem Läufer entweder Paulus oder der bzw. die Christustreue gemeint. In 2Thess 3,1 hingegen ist es das Wort des Herrn, das »läuft«. Im Hintergrund steht eher Ps 147,15 (»Sein Wort läuft schnell«; vgl. Ps 147,4 LXX). Das Wort des Herrn soll sich nicht nur ausbreiten, sondern auch verherrlicht werden. Das erinnert an 2Thess 1,10.12. 1,10 sprach davon, dass der Herr (zukünftig) verherrlicht wird, wenn er kommt. 1,12 kommt 3,1 formal insofern noch näher, als es dort ebenfalls um ein Gebet geht. Der Name des Herrn soll »in euch verherrlicht werden und ihr in ihm«. 2Thess 3,1 endet mit einem indirekten Kompliment an die Adressatinnen und Adressaten. Die Wendung »ebenso wie bei euch« impliziert, dass sich das Wort des Herrn bei den (fiktiven) Adressatinnen und Adressaten bereits ausgebreitet hat und verherrlicht wird. Dieses indirekte Lob erinnert wiederum an 1Thess 1,8. Der zweite »damit-Satz« in Vers 2 steht mit dem ersten in enger inhaltlicher Verbindung. Die Art der Verknüpfung erhellt sich aus Apg 13,46–49: Demnach verkündigen Paulus und Barnabas zunächst unter den Juden. Diese jedoch nehmen das Wort nicht an. Danach wenden sie sich an die Heiden. »Als die Heiden das hörten, freuten sie sich und verherrlichten das Wort des Herrn, und alle, die für das ewige Leben bestimmt waren, kamen zum Glauben. Das
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2Thess 3,1–5
Wort des Herrn aber breitete sich in der ganzen Gegend aus.« (Apg 13,48–49). Von der Ausbreitung und Verherrlichung des Wortes des Herrn war in 2Thess 3,1 die Rede. 2Thess 3,2 reflektiert nun gleichsam die Kehrseite der Medaille: Missionarische Tätigkeit trifft auch auf Widerstand. Paulus selbst verweist in 1Thess 2,1–2; Röm 15,30–31 und 2Kor 1,8–11 auf äußere Gefahren bei seiner Missionstätigkeit und bittet um entsprechende Fürbitte der Gemeinde zu Gott. Im 2. Timotheusbrief, einem späteren Schreiben, das Paulus als Absender nennt, werden die Bedrängnisse, unter denen der Apostel leidet, ausführlich thematisiert (3,10–13; 4,16–18). Auch die Apostelgeschichte schildert die missionarische Tätigkeit des Paulus als eine, die zu massiven Bedrohungen führt (Apg 13,45. 50; 14,5), und zwar auch in Thessalonich (Apg 17,5–9). Diese Passagen spiegeln die Erfahrung, dass Mission nicht immer zum Erfolg führt. Warum ist das so? Wichtig ist zunächst festzuhalten, woran es nicht liegen kann: Es liegt nicht an der (mangelnden) Qualität der Botschaft oder an der Unfähigkeit der Missionare. 2Thess 3,2 führt etwaige missionarische Misserfolge vielmehr darauf zurück, dass es schlechte und böse Menschen gibt, von denen die Missionare erlöst werden müssen. In dieser Formulierung klingt Ps 140,2 (Ps 139,2 LXX) an. Im Hintergrund steht einerseits die alttestamentliche Rede von der Bitte um Rettung (Ps 6,5; 7,2; 18,4; 31,16; 59,2), andererseits die frühjüdische Tradition vom leidenden Gerechten. Der leidende Gerechte wird zu Lebzeiten wegen seines Glaubens von den Gottlosen verspottet, nach seinem Tod jedoch von Gott ins Recht gesetzt. Diese alttestamentlich-jüdische Tradition findet sich ausführlich in Ps 22; 69; Weish 2,12–21; 5,1–5. Tod und Passion Jesu wurden unter anderem mithilfe der Tradition vom leidenden Gerechten gedeutet (Mk 15,22–37). Aber auch in Beschreibungen des Schicksals von Paulus klingt diese Tradition an (vgl. neben 2Thess 3,2 und Ps 140,2 auch 2Tim 4,17 und Ps 22,22). Paulus – so die implizite Botschaft – erleidet Ähnliches wie Jesus. Der zweite Teil des Verses stellt lapidar fest, dass der Glaube nicht jedermanns Sache ist. Seine Schärfe erhält diese Aussage dadurch, dass sie indirekt diejenigen, die nicht im Glauben stehen, mit den »schlechten und bösen Menschen« identifiziert. »Glaube« lässt sich – mit 2Thess 2,15 – als »Festhalten an den Überlieferungen«, wie sie die (fiktiven) Verfasser weitergeben, beschreiben. Eine schematische Einteilung der Menschen in Gute und Böse, Gerettete und Verdammte, fand sich schon in 2Thess 1,8–9; 2,12; vgl. 1Thess 4,5.13. Für uns heute ist die Gleichsetzung von Nicht-Christen mit bösen Menschen höchst problematisch. Sie ist nur zu verstehen in einer Situation, in der eine Minderheit, die sich bedroht fühlt, ihre Identität durch klare Abgrenzung nach »außen« sichern möchte.
2Thess 3,1–5
177
Der Feststellung, dass der Glaube nicht jedermanns Sache sei, stellt Vers 3 das Bekenntnis gegenüber: »Treu aber ist der Herr …«. Auf den Herrn ist – anders als auf die Menschen – Verlass. Der ganze Vers erinnert an 1Thess 5,24: »Treu ist, der euch ruft; er wird es auch tun.« Während der Gebetswunsch in 1Thess 5,24 auf Gott bezogen ist, überträgt 2Thess 3,3 ihn auf den Herrn Jesus. »Glaube« (pistis) (2Thess 3,2) und »treu« (pistos) (2Thess 3,3) haben im Griechischen denselben Wortstamm. Der Anschluss erfolgt also über eine Stichwortverbindung. Die Treue des Herrn ist auf seine Gemeinde gerichtet und zeigt sich in doppelter Hinsicht. Erstens: Er wird die Adressatinnen und Adressaten stärken. Diese Zusage nimmt den Gebetswunsch aus 2,17 auf. Zweitens: Er wird die Seinen vor »dem Bösen« bewahren. Dieses bzw. dieser »Böse« steht offenbar hinter den »schlechten und bösen Menschen« (3,2) – so wie der Satan (auch) hinter dem Gesetzwidrigen steht (2,8–9). Vers 4 schließt wiederum per Stichwortverbindung an: »Vertrauen fassen« (pepoitha) hat denselben Wortstamm (peith-) wie »Glaube« (pistis) (3,2) und »treu« (pistos) (3,3). Inhaltlich stellt sich die Verbindung etwa folgendermaßen dar: Der Herr – so sagte es Vers 3 – ist absolut vertrauenswürdig. Deshalb haben »Paulus, Silvanus und Timotheus« in dem Herrn Vertrauen zu den Adressatinnen und Adressaten gefasst. Dieses Vertrauen richten sie auf eine ganz bestimmte Erwartung: Die Angesprochenen tun, was die Missionare anordnen, und zwar in der Gegenwart ebenso wie in der Zukunft. Das griechische Verb paraggellein = anordnen impliziert Autorität. Es taucht auch in 1Thess 4,2 auf und leitet gemeinsam mit 1Thess 4,1 den paränetischen Teil ein. Hier geschehen die Ermahnungen und Anordnungen »im Namen Jesu, des Herrn« – was entfernt an die Formulierung »in dem Herrn« aus 2Thess 3,4 erinnert. In 1Thess 4,1–2 wurde den Anordnungen (paraggelia) dadurch die Schärfe genommen, dass Paulus, Silvanus und Timotheus der Gemeinde zusicherten: Sie leben schon so, wie sie leben müssen, um Gott zu gefallen. In vergleichbarer Weise heißt es in 2Thess 3,4, dass die Adressatinnen und Adressaten bereits das tun, was die (fiktiven) Verfasser anordnen. Dennoch liegt eine gewisse Schärfe in dem Vers: Um nicht zu den »schlechten und bösen Menschen« gerechnet zu werden, die nicht (wirklich) im Glauben stehen (3,2), müssen die Angesprochenen tun, was die (fiktiven) Verfasser anordnen. Es geht also durchaus darum, Gehorsam einzuschärfen. Damit ist der folgende paränetische Abschnitt (3,6–12) vorbereitet. Eingeschoben findet sich allerdings vorher ein weiterer Gebetswunsch (3,5). Vers 5 erinnert an 1Thess 3,11–13.
2Thess 3,1–5
178 1Thess 3,11–13 11
Er selbst aber, Gott unser Vater, und unser Herr Jesus, möge unseren Weg zu euch lenken. 12Euch aber lasse der Herr wachsen und er schenke euch Überfluss in der Liebe zueinander und zu allen, wie auch wir sie zu euch haben. 13So sollen eure Herzen gestärkt werden und untadelig sein in Heiligkeit vor Gott, unserem Vater, wenn Jesus kommt, unser Herr, mit allen seinen Heiligen.
2Thess 3,5 Der Herr aber lenke eure Herzen auf die Liebe Gottes und auf die Standhaftigkeit (in der Erwartung) Christi.
In 1Thess 3,11 heißt es: »Gott, unser Vater, und unser Herr Jesus, möge unseren Weg zu euch lenken«. In 2Thess 3,5 wird daraus der Wunsch, dass der Herr (Jesus) die Herzen lenke. Wie in 1Thess 3,12 ist also der Herr allein Subjekt des Satzes. Statt des Weges (der Missionare; 1Thess 3,11) sind es in 2Thess 3,5 die Herzen (der Adressatinnen und Adressaten), die der Herr lenken möge. Der Ausdruck »die Herzen lenken« findet sich im Alten Testament, z.B. in 1Chr 29,18, wo König David betet: »… lenke ihre [des Volkes Israel] Herzen auf dich [Gott]!« Gott möge dafür sorgen, dass die Israeliten ihre ganze Aufmerksamkeit auf Gott richten. In 2Thess 3,5 bitten die (fiktiven) Verfasser darum, dass der Herr (Jesus) die Aufmerksamkeit der Angesprochenen auf »die Liebe Gottes und auf die Standhaftigkeit (in der Erwartung) Christi« lenken. Beide Genitive können sowohl als Genitivus subjectivus als auch als Genitivus objectivus verstanden werden. Bezogen auf die erste Genitivverbindung könnte also sowohl die Liebe, die Gott empfindet, als auch die Liebe, die die Angesprochenen für Gott empfinden, gemeint sein. In 2,16 war von Gottes Liebe derart die Rede, dass Gott sich uns im Kommen Jesu Christi in Liebe zugewandt hat. Vielleicht ist der Ausdruck »Liebe Gottes« in 3,5 von diesem Vers her zu deuten, also als Genitivus subjectivus. Bezogen auf die zweite Genitivverbindung ergibt sich insofern ein noch weiteres Bedeutungsspektrum, als der griechische Ausdruck hypomone sowohl mit »Standhaftigkeit« als auch mit »Geduld« übersetzt werden kann. Derselbe Begriff begegnete zu Beginn des Briefes in 1,4. Dort war von der hypomone der Adressatinnen und Adressaten angesichts von Bedrohungen die Rede. Der ganze Abschnitt 1,3–10 blickte auf das Kommen des Herrn zum endzeitlichen Gericht. In 1,4 habe ich den Ausdruck mit »Standhaftigkeit« übersetzt. Parallel dazu wähle ich auch hier die Übersetzung »Standhaftigkeit«. M.E. ist wiederum die Standhaftigkeit der Adressatinnen und Adressaten im Blick.
2Thess 3,6–12
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Sie sind standhaft in ihrer Erwartung des Herrn (trotz gegenwärtiger Bedrängnis). Das heißt: Subjekt der »Standhaftigkeit« sind die Adressatinnen und Adressaten, ihr Objekt ist der Herr Christus. Diese Deutung berücksichtigt das starke Interesse des 2. Thessalonicherbriefes an der Parusie und dem Endgericht. 3,1–5 ist ein recht disparater Abschnitt, der insgesamt zur Paränese in 6–12 überleitet. In dieser Funktion ist die Verpflichtung der Adressatinnen und Adressaten auf die Anordnungen von »Paulus, Silvanus und Timotheus« (3,4) von entscheidender Bedeutung. Sie markieren ein hierarchisches Verhältnis zwischen den Missionaren – bzw. den Verfassern des Briefes – und den Adressatinnen und Adressaten. 3,6–12 Die Unordentlichen Der anschließende Abschnitt 3,6–12 handelt von den »Unordentlichen«. Er beginnt mit einer nachdrücklichen Aufforderung an die Adressatinnen und Adressaten, sich von ihnen fern zu halten. Diese Aufforderung wird anschließend ausführlich begründet (»denn« in den Versen 7, 10 und 11). In Vers 12 ist von einer Anordnung die Rede, die die Missionare an die »Unordentlichen« richten. Sie werden aber nicht direkt angesprochen. Der Abschnitt adressiert vielmehr durchgehend die Brüder (und Schwestern). Der Abschnitt lässt unterschiedliche Verse aus dem 1. Thessalonicherbrief anklingen: 1Thess 1,6 (»unserem Beispiel folgen«; vgl. 2Thess 3,9); 1Thess 2,9 (»Mühe und Plage«, »nachts und tagsüber gearbeitet«, »zur Last fallen«; vgl. 2Thess 3,8); 1Thess 3,4 (»als wir bei euch waren«; vgl. 2Thess 3,10); 1Thess 4,11–12 (»sich ruhig verhalten«; vgl. 2Thess 3,12; »anordnen«; vgl. 2Thess 3,6; »arbeiten«; vgl. 2Thess 11–12); 1Thess 5,14 (die »Unordentlichen«; vgl. 2Thess 3,6.7.11). Der 2. Thessalonicherbrief verbindet damit Elemente aus dem 1. Thessalonicherbrief, die dort unverbunden nebeneinanderstehen. 6
Wir ordnen euch aber, Brüder (und Schwestern), im Namen unseres Herrn Jesus Christus an: Haltet euch fern von allen Geschwistern, die ein unordentliches Leben führen und sich nicht an die Überlieferung halten, die sie von uns empfangen haben. 7Denn ihr wisst selbst, wie man unserem Vorbild nachfolgen muss. Wir haben bei euch kein unordentliches Leben geführt 8und nicht umsonst Brot von irgendjemandem gegessen. Sondern wir haben mit Mühe
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2Thess 3,6–12
und Plage nachts und tagsüber gearbeitet, um keinem von euch zur Last zu fallen. 9Nicht, dass wir kein Recht dazu gehabt hätten, sondern damit wir uns selbst euch als Vorbild geben, uns nachzuahmen. 10Denn auch als wir bei euch waren, ordneten wir euch dieses an: Wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen. 11Denn wir hören, dass einige unter euch unordentlich leben und nichts arbeiten, sondern Unnützes tun. 12Solchen Menschen aber ordnen wir an und ermahnen sie in dem Herrn Jesus Christus, in Ruhe (geordnet) zu arbeiten und ihr eigenes Brot zu essen. Vers 6 richtet eine nachdrückliche Aufforderung an die Adressatinnen und Adressaten. Sie werden als Brüder (und Schwestern) angesprochen. Diese Anrede markiert einen Neueinsatz (vgl. 2Thess 1,3; 2,1.13.15; 3,1.13). Implizit sind von den Brüdern (und Schwestern) diejenigen ausgenommen, um die es im Folgenden geht: diejenigen, »die ein unordentliches Leben führen«. Der Vers benutzt für die Aufforderung ein Verb, das schon in 3,4 vorkam und in 3,10.12 wiederum auftaucht. Dasselbe Verb findet sich in 1Thess 4,11 (vgl. 1Thess 4,2), wo es sich auf die mündliche Verkündigung von Paulus, Silvanus und Timotheus bezieht. In 2Thess 3,6–12 bezieht sich die Überlieferung auch auf das persönliche Beispiel, das die Missionare bei ihrem Gründungsaufenthalt gegeben haben (3, 7–9). Ansonsten findet sich das Verb paraggello (»anordnen«) in den paulinischen Schriften nur noch in 1Kor 7,10; 11,17). Die Aufforderung erfolgt mit aller höchster Autorität: »im Namen unseres Herrn Jesus Christus«. Inhaltlich besteht die Aufforderung darin, dass die Angesprochenen sich von den »Unordentlichen« fernhalten sollen. Wenn wir uns klarmachen, dass es sich bei den »Unordentlichen« aller Wahrscheinlichkeit nach um Gemeindemitglieder handelt, wird die Reichweite dieser Aufforderung deutlich: Während Mt 18,15–20 ein mehrstufiges Verfahren vorsieht, nach dem sündige Gemeindemitglieder zunächst zurechtgewiesen werden sollen, dann Zeugen hinzu gezogen werden sollen und das Mitglied erst danach »wie ein Heide und Zöllner« angesehen werden soll, hören wir von einem solch gestuften Verfahren in 2Thess 3 nichts: Die »Unordentlichen« sollen nicht zurechtgewiesen (so aber noch 1Thess 5,14), sondern gemieden werden. Das impliziert wohl nicht den Gemeindeausschluss, ist aber dennoch als gravierend anzusehen. Interessant ist an dieser Stelle auch ein Vergleich mit 1Kor 5, 9–11. Hier präzisiert Paulus seine Aufforderung an die korinthische Gemeinde, nichts mit den »Unzüchtigen« aus der eigenen Gemeinde zu schaffen zu haben. Sie sollen – anders als die »Unordentlichen« in 2Thess 3,6 – »aus eurer Mitte« fortgeschafft werden (5,13). Worin genau liegt das Anstößige der »Unordentlichen« in
2Thess 3,6–12 (3,6.7–10.11–12)
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2Thess 3,6–12? In Vers 6 werden sie doppelt qualifiziert: Sie führen ein unordentliches Leben und halten sich nicht an die Überlieferung, »die sie von uns empfangen haben«. Einige Textzeugen schreiben hier: »die ihr von uns empfangen habt«. So wären als Empfänger der Überlieferung bei der ersten Variante die »Unordentlichen«, bei der zweiten Variante die Adressatinnen und Adressaten genannt. In jedem Fall geht es um die Überlieferung »von uns«, also von Paulus, Silvanus und Timotheus (vgl. 2Thess 1,1) bzw. vom realen Verfasser. Welche Aspekte der Überlieferung hier konkret tangiert sind, bleibt (zunächst) unklar. Eine Auslegung verweist hier auf Gen 3,17–19. Dort spricht Gott nach dem Fall zu Adam: »Mit Mühsal sollst du dich von ihm [dem Acker] nähren dein Leben lang. … Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen …« Diese Verse mit ihrem Kerngedanken, dass der Mensch für seinen Lebensunterhalt arbeiten muss, waren in der jüdischen Tradition zur Entstehungszeit des 2. Thessalonicherbriefes präsent. Im jüdischen Buch Jesus Sirach heißt es z.B.: »Verachte die beschwerliche Arbeit nicht und den Ackerbau, den der Höchste gestiftet hat.« (7,16). »Unordentlich« meint bei dieser Auslegung: »gegen die Regel«, »ungeregelt«. Die »Unordentlichen« waren nicht bereit, für ihren Lebensunterhalt zu arbeiten.
Klar ist: Die Verhaltensweise der »Unordentlichen« widerspricht sowohl dem Willen Jesu als auch der Überlieferung der Missionare. Das verwendete griechische Wort, das hier mit »unordentlich« wiedergegeben ist, kann auch mit »zügellos«, »ungeregelt« oder »faul« übersetzt werden. Was für Leute wir uns unter den »Unordentlichen« konkret vorzustellen haben, bleibt also (zunächst) recht offen. Die folgenden Verse bringen jedoch einige Präzisierungen. Zur Begründung für die Aufforderung aus Vers 6 führen die folgenden Verse das Verhalten der Missionare bei ihrem Gründungsaufenthalt in der thessalonischen Gemeinde als positives Beispiel an. Vorangestellt ist in Vers 7 a die Zusage, dass die Adressatinnen und Adressaten wissen, wie sie den Missionaren nachfolgen sollen. Das erinnert an 1Thess 2,1; 3,3; 5,2 – wo Paulus, Silvanus und Timotheus jeweils an ein gemeinsames Wissen mit den Adressatinnen und Adressaten appellieren, und an 1Thess 1,6; 2,14 – wo von der Beispielfunktion der Missionare (die sich ihrerseits an dem Herrn Jesus Christus orientieren) für die Gemeindemitglieder die Rede war. Dieses Motiv findet sich auch in anderen paulinischen Briefen (1Kor 4,16; 11,1; Phil 3,17; 4,9a). Der 1. Thessalonicherbrief sprach auch davon, dass die thessalonische Gemeinde zum Vorbild für andere Gemeinden in Mazedonien und der Achaja ge-
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2Thess 3,6–12 (3,6.7–10.11–12)
worden ist (1,7) und dass die thessalonische Gemeinde ihrerseits den judäischen Gemeinden nachgefolgt ist (2,14). In der Zusage in 2Thess 3,7 steckt natürlich indirekt eine Aufforderung: Man »muss« dem Vorbild der Missionare nachfolgen (vgl. 1Thess 4,1). Was heißt das konkret? Vers 7 b leitet den Rückblick auf den Gründungsaufenthalt ein: Die Missionare haben »bei euch kein unordentliches Leben geführt«. Parallel zu dieser Aussage steht in Vers 8a zunächst eine negative Abgrenzung: Wir haben »nicht umsonst Brot von irgendjemandem gegessen«. »Brot« steht hier für Nahrung insgesamt. Diese Parallelität von 3,7b und 3,8a spricht dafür, dass die kritisierte »unordentliche« Lebensführung darin besteht, »umsonst« Brot von anderen Leuten – wahrscheinlich Gemeindemitgliedern – anzunehmen. Und »umsonst« bedeutet – nach 8 b – »ohne dafür zu arbeiten«. Ausführlich wird darauf verwiesen, dass die Missionare »mit Mühe und Plage nachts und tagsüber gearbeitet [haben], damit wir nicht irgendjemandem von euch zur Last fielen.« Diese Formulierung greift 1Thess 2,9 wörtlich auf. Dort ging es um die Verkündigung der frohen Botschaft Gottes. Paulus, Silvanus und Timotheus wollten sich nicht dem Vorwurf ausgesetzt sehen, nur wegen des Geldes zu predigen – obwohl sie grundsätzlich der Meinung waren, dass umherziehende Missionare die Unterstützung durch Sesshafte verdient haben (1Thess 2,7). Im Vergleich zu 1Thess 2,7–9 fällt nun in 2Thess 3,7–8 auf, dass Vers 8 1Thess 2,9 zwar in weiten Passagen wörtlich zitiert, dass aber die Verkündigung der frohen Botschaft in 2Thess 3,8 keine Rolle spielt. Das heißt: Die Vorbildfunktion der Missionare bezieht sich an dieser Stelle ausschließlich auf einen ganz bestimmten Aspekt der Lebensführung; nämlich für seinen Lebensunterhalt zu arbeiten. Dieser konkrete Aspekt ist – so muss man im Rückblick auf Vers 6 feststellen – Teil der missionarischen »Überlieferung«. Das ist auffällig. In den Pastoralbriefen werden Timotheus und Titus ermahnt, ein Vorbild für die Glaubenden zu sein – und zwar umfassend, »im Wort und in der Lebensführung« (1Tim 4,12), in »guter Pflichterfüllung« (Tit 2,7; vgl. 1Petr 5,3). Im Vergleich zu diesen Stellen wirkt 2Thess 3,6–8 außergewöhnlich, weil der Text einen ganz konkreten Aspekt der missionarischen Lebensführung zur »Überlieferung« erklärt. In Vers 9 insistieren die Missionare, dass sie ein Recht darauf haben, von der Gemeinde versorgt zu werden. Sie müssten für ihren Lebensunterhalt nicht arbeiten. Sie verzichten also auf etwas, das ihnen eigentlich zustünde. Das erinnert an 1Kor 9,4.6. Dort allerdings verzichten Paulus und Sosthenes auf dieses Recht, damit sie kein Hindernis für die Evangeliumsverkündigung darstellen (9,12). Anders stellt sich die Motivation in 2Thess 3,9 dar: Hier dient der Verzicht dazu, dass die Adressatin-
2Thess 3,6–12 (3,6.7–10.11–12)
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nen und Adressaten das präferierte Verhalten (nämlich für seinen Lebensunterhalt zu arbeiten) nachahmen. Die Verse 7–9 hatten das Verhalten der Missionare bei ihrem Gründungsaufenthalt in den Blick genommen, um die Anordnung aus Vers 6 zu begründen. Vers 1 0 bringt nun ein gegenüber dem Lebenswandel der Missionare neues Argument: Schon bei ihrem Gründungsaufenthalt hätte ihre Botschaft die Feststellung enthalten, dass, wer nicht arbeiten wolle, auch nicht essen solle. Wenn die Missionare jetzt die Befolgung dieser Sentenz einfordern, handeln sie daher – so ist impliziert – nur konsequent. Die Feststellung stellt ein Stück Spruchweisheit dar, das in ähnlicher Form an vielen Stellen auftaucht. Es ist allerdings kein Zitat aus uns bekannter Literatur. Während die Handarbeit in Griechenland missachtet wurde, wurde sie im Alten Testament und in frühjüdischer Literatur hoch geschätzt. In 1Thess 4,11 fordern Paulus, Silvanus und Timotheus die Adressatinnen und Adressaten dazu auf, »mit euren Händen zu arbeiten«. In 1Kor 4,12 beklagen Paulus und Sosthenes ihr Schicksal als Missionare, die sich abplagen und mit eigenen Händen arbeiten. Eph 4,28 fordert den Dieb dazu auf, zu arbeiten und mit den eigenen Händen etwas zu verdienen. Im Buch der Sprüche lesen wir: »Wer seinen Acker bebaut, wird Brot die Fülle haben; wer aber nichtigen Dingen nachgeht, ist ein Tor.« (Spr 12,11); und: »Ein Lässiger wird Hunger leiden.« (Spr 19,15). Parallelen finden sich auch im paganen Bereich, etwa in den Fabeln des Phaedrus, die aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert stammen: »Du arbeitest nicht? Deshalb hast du auch nichts, wenn du es brauchst.« (4,25,17). 2Thess 3,10 betont den Willen zur Arbeit und knüpft daran das Recht auf einen Lebensunterhalt. Der Vers hat in der christlichen Tradition eine breite Wirkungsgeschichte. In der Didache, einer urchristlichen Gemeindeordnung, heißt es: »Wenn er [der Missionar] sich aber bei euch niederlassen will, und er ist ein Handwerker, soll er arbeiten und soll er essen.« (12,3). In der Apostolischen Kirchenordnung heißt es mit deutlichem Bezug auf 2Thess 3,10: »So aber jemand bei euch nicht arbeitet, der soll auch nicht essen.« (Const Ap 13,1). Bei den Mönchen gilt die Arbeit – neben dem Beten – als Pflicht: »Ora et labora.« In den »Großen Regeln« des Basilius lesen wir: »Was brauche ich noch zu sagen, wie groß das Übel der Trägheit ist, da der Apostel ausdrücklich befiehlt, dass wer nicht arbeite, auch nicht essen solle?« Die Aufforderung zur Arbeit gilt aber auch Christinnen und Christen insgesamt – und das, obwohl (oder gerade weil) sie nach Gen 3,17–19 als echte Last qualifiziert ist. Die Brisanz der Verknüpfung von Arbeit und dem Recht auf Nahrung zeigt sich, wenn wir fragen, ob Menschen, die nicht arbeiten – z.B. alte Menschen, Menschen mit Behinderung, Arbeitssuchende, also kein Recht auf Nahrung haben. Hier hilft es auch nur bedingt, zwischen denen, die
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2Thess 3,6–12 (3,6.7–10.11–12)
nicht arbeiten können (und die 2Thess 3,10 gar nicht im Blick hat) und denjenigen, die nicht arbeiten wollen, zu unterscheiden. Das Recht auf einen angemessenen Lebensunterhalt wird man jedem Menschen – aufgrund seiner Menschenwürde – zugestehen. Nach Mt 25,31–45 zeichnen sich die Gesegneten immerhin dadurch aus, dass sie den Hungrigen und Durstigen zu essen und zu trinken geben – ganz unabhängig von der Frage, ob diese Menschen arbeiten können, arbeiten wollen – oder nicht.
Nach dem Exkurs zum Lebenswandel der Apostel bei ihrem Gründungsaufenthalt (3,7b–10) kehrt der Text in Vers 1 1 mit der Wendung »denn wir hören« zum Thema von 3,6 zurück. Das »denn« verknüpft beide Abschnitte: Weil Paulus, Silvanus und Timotheus davon gehört haben (logisch ist das Verb »hören« vorzeitig zu verstehen), dass es »Unordentliche« in der Gemeinde gibt, sind sie darauf eingegangen, wie sie in der Gemeinde gelebt haben. Das unordentliche Leben wird dahingehend spezifiziert, dass die Betreffenden »nichts arbeiten«. Es folgt eine Gegenüberstellung, die im Griechischen ein Wortspiel darstellt: ergazomenous und periergazomenous stehen sich gegenüber. Im Deutschen ist diese Gegenüberstellung mit dem Gegensatz von »arbeiten« und »Unnützes tun« wiedergegeben. Was genau ist mit dem »Unnützes tun« gemeint? In einem weiten Sinn könnte man darunter alles verstehen, was Menschen davon abhält, ihrer geregelten (und vergüteten) Arbeit nachzugehen. Sofern man einen Bezug zu 2,2c herstellen möchte (s.u.), könnte gemeint sein, dass einige in Erwartung des unmittelbaren Endes keinen Sinn mehr darin sehen zu arbeiten. Vielleicht ist aber auch eine spezielle Tätigkeit im Blick, und zwar die missionarische Arbeit (s.u.). Angesichts des unmittelbar bevorstehenden Endes (vgl. 2,2c) versuchen einige, noch möglichst viele Menschen zu missionieren und vernachlässigen dafür ihre Arbeit. Für diesen Zusammenhang könnte sprechen, dass Paulus, Silvanus und Timotheus betonen, bei ihrem Gründungsaufenthalt beides geschafft zu haben: Arbeit und Mission (3,7–8). Wahrscheinlich wird man dem rhetorischen Wortspiel aber nicht zu viel entnehmen wollen. Die Wendung »Unnützes tun« ist gewählt, weil sie klanglich eng bei »arbeiten« steht und einen wirkungsvollen Gegensatz schafft, ohne präziser etwas darüber aussagen zu wollen, was genau diese Leute treiben. Vers 6 adressierte diejenigen Gemeindemitglieder, die »ordentlich« leben und arbeiten. Sie wurden dazu aufgefordert, sich von jenen fernzuhalten, die ein »unordentliches« Leben führen. Mit Vers 1 2 kommen nun die »Unordentlichen« selbst in den Blick. Allerdings werden sie auch hier nicht direkt angesprochen. Die Anordnung erfolgt indirekt, in der 3. Person Plural. Das nachfolgende »ermahnen« scheint die Härte, die in einer »Anordnung« liegt, abzuschwä-
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chen. Allerdings erhält sie dadurch, dass sie »in dem Herrn Jesus Christus« ergeht (vgl. 2Thess 3,4.6; 1Thess 4,1), höchste Autorität. Inspiriert ist die Doppelung offensichtlich durch 1Thess 4,1–2.10b– 11. In 1Thess 4,11 wurde die Anordnung dadurch motiviert, dass die Gemeinde sich Ansehen in ihrem heidnischen Umfeld verschafft. Diese Motivation spielt in 2Thess 3,12 keine erkennbare Rolle. Die Formulierung »in Ruhe« (meta hesuxias) bekommt in diesem Zusammenhang die Bedeutung »geordnet« (vgl. 1Tim 2,2). Die Präzisierung steht im Gegensatz zum unnützen Treiben der »Unordentlichen«. Die Formulierung lässt wiederum 1Thess 4,11 anklingen. Dort wurden die Adressatinnen und Adressaten dazu aufgefordert, »euch ruhig zu verhalten (hesuxazein) und euch um eure eigenen Aufgaben zu kümmern«. Im Licht von 2Thess 3,12 rückt dieser Vers nun in die Thematik der »Unordentlichen« ein. Die Anordnung aus 2Thess 3,12 schließt damit, dass die »Unordentlichen« »ihr eigenes Brot« essen sollen. Indirekt erinnert diese Formulierung daran, dass die »Unordentlichen« den anderen Gemeindemitgliedern zur Last fallen (vgl. 3,8a), weil sie deren Brot essen anstatt ihren Lebensunterhalt selbst zu bestreiten. Wer ist mit den »Unordentlichen« gemeint? Grundsätzlich ist bei dieser Frage folgendes zu entscheiden: 1a) Handelt es sich bei den »Unordentlichen« um eine Gruppe, die tatsächlich in der (realen) Adressatengemeinde lebte? 1b) Oder ist der ganze Abschnitt 3,6–12 als eine literarische Fiktion zu lesen, die lediglich dazu dient, den Bezug zum 1. Thessalonicherbrief zu stärken, um den pseudepigraphen Brief besser als echtes paulinisches Schreiben ausgeben zu können? Wenn es sich bei den »Unordentlichen« um eine Gruppe handelt, die tatsächlich in der (realen) Adressatengemeinde lebte (1a), ist zu entscheiden: 2a) Steht ihre Verhaltensweise in irgendeinem Zusammenhang mit der eschatologischen »Irrlehre« aus 2Thess 2,2c, nach der der Tag des Herrn schon da sei? 2b) Oder handelt es sich bei den Vertretern des »Slogans« aus 2Thess 2,2c und den »Unordentlichen« um unterschiedliche Gruppen? Hinsichtlich der ersten Alternative neige ich zur zweiten Option (1b.). Vorausgesetzt ist dabei, dass es sich bei dem 2. Thessalonicherbrief um ein pseudepigraphes Schreiben handelt. Für die Lektüre von 2Thess 3,6–12 als einer literarischen Fiktion spricht m.E. zum einen die Pauschalität der Charakterisierung der »Unordentlichen«, zum anderen die Vernetzung der Passage mit unterschiedlichen Texten aus dem 1. Thessalonicherbrief. Die Passage über die »Unordentlichen« in 2Thess 3,6–12 erlaubt es so dem realen Verfasser, einen engen Bezug zu unterschiedlichen Stellen aus dem 1. Thessalonicherbrief herzustellen, die dort unverbunden nebeneinander stehen (s.o.). Damit verschiebt sich auch die Lektüre des 1. Thessalonicherbriefes, indem diese Stellen nun auch dort im Zusammenhang gelesen
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2Thess 3,6–12 (3,6.7–10.11–12)
werden: Die Aufforderung, den Unordentlichen den rechten Weg zu zeigen, steht in 1Thess 5,14 unauffällig neben einer ganzen Reihe weiterer Ermahnungen. Durch 2Thess 3,6–12 erhält sie nachträglich besonderes Gewicht. Dieses Gewicht erhöht sich auch dadurch, dass durch 2Thess 3,6–12 mehrere Stellen aus dem 1. Thessalonicherbrief mit 1Thess 5,14 verbunden werden: Die Unordentlichen sind nun im Kontext von 1Thess 4,11–12 diejenigen, die sich nicht ruhig verhalten, die sich nicht um die eigenen Aufgaben kümmern und die nicht mit den Händen arbeiten. 2Thess 3,6–12 stellt zudem eine Verknüpfung zu 1Thess 2 und damit zum Gründungsaufenthalt der Missionare in Thessalonich her: 2Thess 3,7 rekurriert darauf, wie die Missionare in Thessalonich gelebt haben. Das Thema »Arbeit« erlaubt nun eine Verknüpfung mit einem Aspekt, den die Missionare in 1Thess 2 im Zusammenhang mit ihrem Gründungsaufenthalt ansprechen: Sie haben in Thessalonich »nachts und tagsüber gearbeitet, um keinem von euch zur Last zu fallen« (1Thess 2,9). Genau diese Elemente greift 2Thess 3,8 auf. Vielleicht entspricht diesem literarischen Vorgehen auf der inhaltlichen Seite eine literarisch gestaltete »Überlieferungstheologie im Werden« (Trilling) mit den folgenden »Stationen«: 1. Bei der Gemeindegründung predigen die Missionare und sie geben Hinweise und das Vorbild zur rechten Lebensführung (vgl. 1Thess 2). 2. Im 1. Thessalonicherbrief erinnern sie an ihre Verkündigung und an diese Hinweise sowie ihr gutes Beispiel. 3. Im 2. Thessalonicherbrief erinnern sie nochmals an ihre »Überlieferung«, zu der ihr »Beispiel« konstitutiv dazugehört. Mit der Annahme, dass es sich bei 2Thess 3,6–12 um eine literarische Fiktion handelt, erübrigt sich die Frage, ob es sich bei den »Unordentlichen« um dieselbe Gruppe handelt wie bei den Vertretern des Slogans aus 2Thess 2,2c. Dennoch stelle ich einzelne Thesen aus der Forschung dar, die diese Frage diskutieren. Eine ganze Reihe von Exegetinnen und Exegeten geht von der Beobachtung aus, dass die »Unordentlichkeit« darin besteht, nicht (mehr) zu arbeiten (vgl. 3,11). Die Gemeinten arbeiten nicht mehr, weil sie – so die These – der Meinung sind, dass das eschatologische Ende unmittelbar bevorsteht, sich in der Gegenwart schon Bahn bricht (2,2c). Da lohnt es nicht mehr zu arbeiten. Eine Spezifizierung dieser These besagt, dass im Hintergrund einerseits die Tradition aus Gen 3,17–19 steht, nach der der Mensch arbeiten muss, um sich ernähren zu können, andererseits die eschatologische Tradition, nach der der Mensch im Eschaton weder hungern noch dürsten wird (z.B. Offb 7,16) und die Erde von sich aus Früchte hervorbringen wird, weil der Fluch aus Gen 3,17–19 aufgehoben ist (syrBar 73,1 – 74,1). Da die Vertreter des Slogans aus 2Thess 2,2c der Meinung sind, das Eschaton sei schon verwirklicht bzw. seine Verwirklichung stehe unmittelbar bevor, wollen sie nicht mehr arbeiten. In eine etwas andere Richtung geht die These, nach der die »Unordentlichen« nicht einfach gar nichts tun, sondern angesichts des unmittelbar bevorstehenden Endes alles daran setzen, noch möglichst viele Menschen dazu zu bewegen, sich zum Herrn Jesus Christus zu bekennen. Sie opfern ihrem missionarischen Eifer ihre geregelte Beschäftigung. Dagegen setzen Paulus, Silvanus und
2Thess 3,13–16
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Timotheus ihr eigenes Vorbild: Sie haben bei ihrem Gründungsaufenthalt beides »geschafft«, sind einer geregelten Arbeit nachgegangen und haben missioniert (3,7–8). Gegen einen engen Zusammenhang von 3,6–12 und 2,2c spricht von der literarischen Gestaltung her vor allem der Abschnitt 3,1–5, der die beiden Blöcke trennt, was schwer zu erklären wäre, wenn sie inhaltlich so eng zusammengehören sollten. Allerdings endet 3,5 mit einem eschatologischen Ausblick auf die Parusie. Es ist m.E. aber fraglich, ob dieser kurze Ausblick die Beweislast für einen engen Zusammenhang zwischen 3,6–12 mit der eschatologisch ausgerichteten Passage 2,1–12 tragen kann.
Formal verknüpft 2Thess 3,6–12 die (fiktive) Gemeindesituation der Adressatinnen und Adressaten mit derjenigen des 1. Thessalonicherbriefes. Eine wesentliche Funktion des Abschnittes liegt m.E. genau darin, durch die intertextuelle Verknüpfung des 2. Thessalonicherbriefes mit dem 1. Thessalonicherbrief die Fiktion der Echtheit des pseudepigraphen Schreibens zu erhöhen. Inhaltlich macht 2Thess 3, 6–12 das Vorbild der Missionare in puncto Broterwerb, das schon im 1. Thessalonicherbrief eine wichtige Rolle spielte (vgl. 1Thess 2,9), zum Bestandteil der »Überlieferung«, auf die die Adressatinnen und Adressaten verpflichtet werden. Die Thematik der »Unordentlichen« dient als Beispiel dafür, was es heißen kann, sich die Missionare als Vorbild zu nehmen. 3,13–16 Abschließende Anweisungen 13
Ihr aber, Brüder (und Schwestern), werdet nicht müde, Gutes zu tun. 14Falls aber eine Person unserem Wort in diesem Brief nicht gehorcht, merkt euch die und kommt nicht mit ihr zusammen, damit sie beschämt werde. 15Aber haltet sie nicht für eine Feindin, sondern weist sie geschwisterlich zurecht. 16Er aber, der Herr des Friedens, gebe euch Frieden in allem und auf alle Weise. Der Herr sei mit euch allen. Der Abschnitt ist dreigeteilt: Zunächst (Vers 13) erfolgt eine allgemeine Aufforderung an die Adressatinnen und Adressaten, Gutes zu tun. Anschließend formulieren die Verse 14–15 eine – recht vage gehaltene – Regel, wie mit einer Person umzugehen sei, die »unserem Wort in diesem Brief nicht gehorcht«. Der Abschnitt schließt mit einem zweiteiligen Gebetswunsch. Die Art der Einbindung des Abschnitts in den unmittelbaren Kontext wird unterschiedlich beurteilt. Einige Auslegungen sehen eine enge Verbindung mit 3,6–12. Sie beziehen die Verse 13–16 also auf die The-
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2Thess 3,13–16
matik der »Unordentlichen«. Das »Wort in diesem Brief« (3,14) meint dann die Aufforderung aus 3,6, sich von den »Unordentlichen« fernzuhalten. Andere Auslegungen – denen ich mich hier anschließe –, sehen in 3,13–16 einen eigenständigen Abschnitt, der sich nicht mehr speziell auf die »Unordentlichen« bezieht. Für eine deutliche Zäsur zwischen 3,12 und 3,13 spricht erstens die Formulierung »ihr aber«, zweitens die Anrede mit »Brüder (und Schwestern)«, die auch in 3,1 und 3,6 den Neueinsatz eines thematischen Abschnitts markiert, und drittens die Abweichung zwischen 3,12 und 3,14: Während die »Unordentlichen« in Ruhe (geordnet) arbeiten und ihr eigenes Brot essen sollen, sollen die in den Versen 13–14 Gemeinten ausgeschlossen und so beschämt werden. Während Vers 12 indirekt die »Unordentlichen« ansprach, wendet sich der Text in Vers 1 3 mit »ihr aber« den »ordentlichen« Gemeindemitgliedern zu. Die Aufforderung, Gutes zu tun, wird nicht weiter ausgeführt. Ähnlich allgemein gehaltene ethische Anweisungen finden sich auch am Ende anderer paulinischer und deuteropaulinischer Schreiben. Besonders eng an der Formulierung von 2Thess 3,13 ist Gal 6,9 (vgl. auch 1Kor 16,13–14). Gegenüber der sehr allgemeinen Aufforderung in 3,13 spricht der Text in den Versen 1 4–15 nun einen konkreteren Fall an. Es geht um Personen, die »unserem Wort in diesem Brief« – also dem 2. Thessalonicherbrief – nicht gehorchen. »Unser Wort« meint wohl die gesamte Botschaft des 2. Thessalonicherbriefes. Ihre Autorität und Gültigkeit werden durch die folgende Anweisung bekräftigt. Es geht also nicht um die Nicht-Befolgung einer konkreten Anweisung, sondern um die generelle Verpflichtung der Adressatinnen und Adressaten auf den Inhalt des 2. Thessalonicherbriefes. Gemeindemitglieder sollen sich Personen merken, die dem »Wort in diesem Brief« nicht gehorchen. Woran genau wäre das zu erkennen? Das lässt das Schreiben offen. Vielleicht geht es der Passage also in erster Linie gar nicht um eine konkrete Regel zur Gestaltung des Gemeindelebens, sondern um die Betonung der Autorität des 2. Thessalonicherbriefes. Wie dem auch sei – mit denen, die als »ungehorsam« (vor-)gemerkt sind, sollen die Gemeindemitglieder nicht zusammenkommen. Wozu soll das gut sein? Zweck der Maßnahme ist die Beschämung betroffener Personen, damit sich diese – so ist wohl impliziert – bewusst werden, dass sie auf dem falschen Weg sind. Interessant ist nun die Präzisierung, dass ausgeschlossene Personen nicht als »Feinde« oder »Feindinnen« zu betrachten seien. Sie sind also nicht vollständig ausgeschlossen, sondern gehören offen-
2Thess 3,13–16
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bar weiterhin zur Gemeinde. Sie sollen »geschwisterlich« zurechtgewiesen werden. Das erinnert an 1Thess 5,12–14. Es bleibt unklar, wie sich die Anweisung, nicht mit den »Ungehorsamen« zusammen zu kommen, zu derjenigen verhält, eben diese Personen zurechtzuweisen. Wie kann beides zugleich möglich sein? Und worauf lässt diese Spannung schließen? Geht es dem Text »nur« um eine allgemeine Haltung? Wurde die Regel überhaupt praktiziert, oder dient die ganze Passage in erster Linie dazu, die Autorität des Briefes zu betonen? Im Vergleich mit anderen neutestamentlichen Texten, in denen es um den Umgang mit »ausscherenden« Gemeindemitgliedern geht, stechen die Allgemeinheit und die innere Spannung der Regel jedenfalls ins Auge. In 1Kor 5,1–13 setzt Paulus sich mit der Frage auseinander, wie die Gemeinde mit einem Mann verfahren soll, der offenbar mit seiner Stiefmutter im Konkubinat lebt. Er empfiehlt keine seelsorgerlichen Gespräche, keine Versuche des Zurechtweisens, sondern: »Entfernt den Bösen aus eurer Mitte!« (1Kor 5,13). Hier ist deutlich ein konkreter Fall im Blick. Der Weg der Problemlösung ist für Paulus einzigartig. Der avisierte Ausschluss, die Exklusion des Mannes aus der Gemeinde, scheint sehr viel radikaler gedacht als in 2Thess 3,14–15. In Mt 18,15–18 findet sich ein vierstufiges Verfahren zum Umgang mit einem Gemeindemitglied, das an einem anderen gesündigt hat: Zunächst soll eine Zurechtweisung unter vier Augen erfolgen. Fruchtet das nicht, sollen ein oder zwei (Gemeindemitglieder) hinzugezogen werden, die als Zeugen fungieren. Erst wenn auch dieser Schritt nicht zum Erfolg führt, soll es der oder die Betroffene der Gemeinde sagen, die ihrerseits versuchen soll, Einfluss zu nehmen. Bleibt auch das ohne Erfolg, »so sei er für dich wie ein Heide oder ein Zöllner« – also wie einer von denen außerhalb der Gemeinde. Hier geht es um Unrecht, das einem Gemeindemitglied durch ein anderes angetan wird. Vor dem Ausschluss stehen eine ganze Reihe konkreter Schritte, die darauf zielen, das »sündige« Gemeindemitglied in der Gemeinschaft zu halten. Tit 3,10–11 empfiehlt die zweimalige Ermahnung eines »Sektierers«, bevor er gemieden werden soll.
Im Vergleich zu diesen Regeln wirkt 2Thess 3,14–15 merkwürdig unterbestimmt und spannungsreich. Vielleicht erklärt sich die Spannung aus dem doppelten Anliegen, einerseits die Autorität des eigenen Schreibens möglichst stark zu betonen (wer ihr nicht gehorcht, soll gemieden werden) und andererseits – in Anlehnung an 1Thess 5,12–14 – die Haltung gegenseitiger Zurechtweisung innerhalb der Gemeinde zu stärken. Der Gebetswunsch in Vers 1 6 spricht von dem »Herr[n] des Friedens«. Die Formulierung des Versanfangs ist aus 1Thess 5,23 übernommen, wo vom »Gott des Friedens« die Rede ist. »Friede«
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2Thess 3,13–16
ist nicht einfach Waffenruhe, sondern bezeichnet einen umfassenden, eschatologischen (also endzeitlichen) Heilszustand. Der Friedenswunsch, bezogen auf den Gott des Friedens, findet sich öfter am Ende von Briefen (vgl. Röm 16,20; 2Kor 13,11; Phil 4,9). Alttestamentlicher Vorläufer ist wahrscheinlich das Gebet: »Der Herr segne dich und behüte dich; Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig; Der Herr hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden.« (Num 6,24–26). Der Friedenswunsch beschließt den priesterlichen Segen, mit dem unsere Gottesdienste enden.
3,17–18 Der Briefschluss
Um die Frage der Autorität des Briefes geht es auch in 3,17 – wenn auch auf andere, deutlich formalere Weise. 17
Der Gruß (erfolgt) mit meiner, des Paulus, Hand. Das ist das Zeichen (der Echtheit) in jedem Brief: So schreibe ich. 18Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus sei mit euch allen! Wie bei uns heute war es auch damals üblich, Briefe mit Grüßen zu beenden. Vers 1 7 benennt – anders als z.B. Röm 16,3–15 – keine konkreten Personen, die gegrüßt werden (sollen). Der Gruß dient hier eher der (vermeintlichen) Authentifizierung des Schreibens. Dazu müssen wir uns vor Augen halten, dass Paulus seine Briefe nicht eigenhändig geschrieben, sondern einem Sekretär diktiert hat (vgl. Röm 16,22). Nur ganz am Schluss schreibt der Apostel selbst. So heißt es in 1Kor 16,21 – einem mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit echten Paulusbrief – ebenfalls: »Der Gruß (erfolgt) mit meiner, des Paulus, Hand.« Und den kurzen Philemonbrief schließt Paulus mit den Worten: »Ich, Paulus, habe (dies) mit eigener Hand geschrieben …« (Phlm 19) Das Zeichen der Echtheit, von dem in 2Thess 3,17 die Rede ist, ist dabei nicht die eigenhändige Unterschrift, sondern der Wechsel in der Handschrift in den letzten Versen (von derjenigen des Sekretärs zu derjenigen des Paulus). Wenn es anschließend heißt: »So schreibe ich«, erinnert das an Gal 6,11, wo Paulus schreibt: »Seht, mit welch großen Buchstaben ich euch (jetzt) geschrieben habe.« 2Thess 3,17 steht also einerseits in einer gewissen Tradition, weist jedoch andererseits Eigenheiten auf. Während der Hinweis auf den eigenhändigen Gruß in 1Kor 16,21 und Gal 6,11 die enge, persönliche Verbindung des Paulus zu seinen Adressatinnen und Adressaten unterstreichen soll, dient er in 2Thess 3,17 der Authentifizierung des Schreibens. Ob es sich dabei um eine echte oder eine vermeintliche Authentifizierung handelt, ist in der Forschung umstritten. Drei Interpretationsrichtungen lassen sich grob unterscheiden. 1. 2Thess 3,17 unterstreicht – wie in 1Kor 16,21 und Gal 6,11 – die Echtheit des Schreibens.
192
2Thess 3,17–18
2. 2Thess 3,17 unterstreicht die vermeintliche Echtheit des Schreibens, ist also Teil der pseudepigraphen Fiktion. Der Vers unterscheidet sich von 1Kor 16,21; Gal 6,11 und Phlm 19 dadurch, dass er den Aspekt der Echtheit zu stark betont. Der Zusatz »Das ist das Zeichen (der Echtheit) in jedem Brief: So schreibe ich« findet sich nämlich nur hier. Vers 17 – so die These – betont die Echtheit gerade deshalb so stark, weil der Brief nicht wirklich von Paulus stammt. 3,17 kann die Beweislast für diese These aber nicht allein, sondern nur in Verbindung mit anderen Beobachtungen tragen (s. zusammenfassend im Schlusskapitel). 3. 2Thess 3,17 unterstreicht die vermeintliche Echtheit des 2. Thessalonicherbriefes, um einen anderen Brief – wahrscheinlich den 1. Thessalonicherbrief (vgl. 2Thess 2,2) – als unechtes Schreiben zu diskreditieren. Die Betonung, dass jeder Brief dieses Zeichen trage, lenke den Blick auf den 1. Thessalonicherbrief. Und dort fehle ein entsprechender Hinweis auf ein entsprechendes Zeichen der »Echtheit«. Gegen die weitreichende dritte These spricht – neben dem positiven Verweis auf den 1. Thessalonicherbrief in 2Thess 2,15 – der plötzliche Wechsel in die erste Person in 1Thess 5,27. Er kann als Hinweis darauf gewertet werden, dass Paulus ab hier ebenfalls mit eigener Hand schreibt, ohne explizit darauf hinzuweisen. Die Adressatinnen und Adressaten hätten das ja an der Schrift auch so erkennen können. Dieser Einwand gegen die dritte These führt allerdings zu einer weiteren Anfrage an die Thesen zwei und drei: Hätten die Adressatinnen und Adressaten die Täuschung nicht sofort durchschaut, weil die letzten Verse gar nicht in einer anderen Schrift erschienen wären? Wir müssen annehmen, dass den realen Adressatinnen und Adressaten der 2. Thessalonicherbrief im Rahmen der pseudepigraphen Fiktion von Anfang an als (abgeschriebene) »Kopie« des Originals präsentiert worden ist. Das wäre insofern glaubhaft, als ja zwischen der fiktiven Abfassungszeit (zu Lebzeiten des Paulus, in zeitlicher Nähe zum 1. Thessalonicherbrief) und dem »Auftauchen« des Briefes in der realen Adressatengemeinde mehrere Jahrzehnte liegen. Der Gnadenzuspruch (1 1 8) stimmt nahezu wörtlich mit 1Thess 5,28 überein (s. dort). Das in 2Thess 3,18 hinzugefügte »allen« kann vielleicht als Verstärkung gegenüber 1Thess 5,28 verstanden werden. Der Gnadenzuspruch rahmt damit sowohl den 1. (1,1; 5,28) als auch den 2. Thessalonicherbrief (1,2; 3,18).
Die Botschaft des 2. Thessalonicherbriefes – eine Zusammenfassung
I.
Wer schrieb den 2. Thessalonicherbrief?
Sind Paulus, Silvanus und Timotheus als Verfasser des 2. Thessalonicherbriefes anzusehen, oder diktiert jemand anderes den Brief in ihrem Namen (vgl. 1,1)? Ich habe den Brief als ein pseudepigraphes Schreiben kommentiert. Die Gründe für diese Entscheidung sind folgende: Das literarische Verhältnis: Zwischen dem 1. und dem 2. Thessalonicherbrief finden sich auffällige strukturelle Parallelen (s. die Kommentierung zu Beginn des Hauptteils in 1,3). Dazu gehören auch Parallelen, die vom »Normalschema« eines paulinischen Briefes abweichen, insbesondere die doppelte, sehr lange Danksagung in 1Thess 1,2ff / 2Thess 1,3ff und in 1Thess 2,13 / 2Thess 2,13 sowie das Fehlen eines eigenen »dogmatischen« Teils zwischen Danksagung und Paränese (Ermahnung). Die Übernahme dieser besonderen Struktur des 1. Thessalonicherbriefes durch den 2. Thessalonicherbrief wirkt schematisch und lässt sich am besten mit der Annahme literarischer Abhängigkeit erklären. Das heißt: Der reale Verfasser des 2. Thessalonicherbriefes hat sich eng an den ihm vorliegenden 1. Thessalonicherbrief angelehnt und dessen Aufbau imitiert. Diese These lässt sich argumentativ weiter erhärten: Im 2. Thessalonicherbrief finden sich eine ganze Reihe wörtlicher Übernahmen aus dem 1. Thessalonicherbrief, die so in keinem anderen paulinischen Brief vorkommen. Das betrifft an strukturell zentralen Stellen den Briefkopf (1Thess 1,1 / 2Thess 1,1–2), den Übergang zur Paränese (1Thess 3,11 / 2Thess 2,16) und den Briefschluss (1Thess 5,26.28 / 2Thess 3,16.18). Auffällig sind dann z.B. die Formulierung »Werk des Glaubens« in 1Thess 1,3 / 2Thess 1,11, die Rede von »der Parusie unseres Herrn Jesus Christus« (1Thess 5,23 / 2Thess 2,1) und der Satz »Wir haben nachts und tagsüber gearbeitet, um keinem von euch zur Last zu fallen« (1Thess 2,9 / 2Thess 3,8). Für die These, dass es sich beim 2. Thessalonicherbrief um ein pseudepigraphes Schreiben handelt, ist aber nicht nur die Tatsache, dass es wörtliche Übernahmen speziell aus dem 1. Thessalonicherbrief gibt, bedeutsam. Entscheidender noch ist die Beobachtung,
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Die Botschaft des 2. Thessalonicherbriefes – eine Zusammenfassung
wie diese Übernahmen inhaltlich gefüllt werden. Hier zeigen sich an allen genannten Stellen inhaltliche Verschiebungen (s. auch im Kommentar): Das »Werk des Glaubens« wird im 2. Thessalonicherbrief zu einer Größe, die zeitlich vor der Berufung angesiedelt ist, die Parusie schließt das Gericht auch über die Nachfolgerinnen und Nachfolger Jesu Christi mit ein, die Arbeit ist der Vorbildfunktion der Apostel geschuldet, nicht in erster Linie der Verkündigung der frohen Botschaft. Die Liste ließe sich – gerade unter Rückgriff auf den griechischen Text – erweitern. Insbesondere William Wrede und Wolfgang Trilling haben hierzu detaillierte Untersuchungen vorgelegt. Wir haben es also einerseits mit engen strukturellen Parallelen und auffälligen wörtlichen Übereinstimmungen zwischen beiden Briefen zu tun, andererseits mit inhaltlichen Verschiebungen auch im Kontext der wörtlichen Übernahmen. Während die strukturellen Parallelen und die wörtlichen Übereinstimmungen zur Not damit erklärt werden könnten, dass Paulus – wie einige Auslegungen annehmen – eine Kopie des 1. Thessalonicherbriefes behalten und sich beim Verfassen des 2. Thessalonicherbriefes eng daran orientiert habe (warum?) oder aber den 1. Thessalonicherbrief noch sehr gut im Kopf gehabt habe (bis in den Wortlaut hinein?), verlieren diese Thesen doch durch die inhaltlichen Verschiebungen bei wörtlichen Übernahmen entscheidend an Überzeugungskraft. Die beste Erklärung des Befundes ergibt sich m.E. aus der Annahme, dass der 2. Thessalonicherbrief ein pseudepigraphes Schreiben ist, das in zeitlichem (und örtlichem) Abstand zum 1. Thessalonicherbrief entstanden ist und diesen als literarische Vorlage nutzt. Ergänzend kann 2Thess 3,17 die Annahme des pseudepigraphen Charakters unterstützen: Der Vers geht in seiner Betonung der Echtheit des Schreibens über 1Kor 16,21; Gal 6,11 und Phlm 19 hinaus. Der Zusatz »Das ist das Zeichen (der Echtheit) in jedem Brief: So schreibe ich« findet sich nur hier. Vers 17 – so die These – betont die Echtheit gerade deshalb so stark, weil der Brief nicht wirklich von Paulus stammt. Der Ton: Während der 1. Thessalonicherbrief den Eindruck erweckt, dass Paulus, Silvanus und Timotheus eine sehr persönliche und innige Beziehung zur Adressatengemeinde haben, wirkt der Ton im 2. Thessalonicherbrief deutlich unpersönlicher. In 1Thess 2 erinnern die Missionare ausführlich an ihren Gründungsbesuch in Thessalonich. Sie haben damals die Gemeinde lieb gewonnen (2,8). Sie haben sich verhalten »wie eine Amme, die ihre (leiblichen) Kinder versorgt« (2,7); ihr Verhältnis zur Gemeinde ist wie dasjenige eines Vaters zu seinen Kindern (2,11). Paulus wollte die Gemeinde unbedingt wieder besuchen (2,18); Timotheus hat das getan
Die Botschaft des 2. Thessalonicherbriefes – eine Zusammenfassung
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(3,2) und ist mit guten Nachrichten zurückgekehrt (3,6). Die Besuchspläne sind nach wie vor aktuell, verblassen aber angesichts der nahen Parusie (3,11). Der 2. Thessalonicherbrief erweckt demgegenüber den Eindruck einer gewissen Distanz zwischen den Missionaren und der Gemeinde. Obwohl die Angesprochenen als »Brüder (und Schwestern)« angesprochen werden, fehlen Bilder aus dem Bereich der Familie, die eine innige Beziehung ausdrücken. Die Adressatinnen und Adressaten werden vielmehr autoritativ auf die Botschaft der Missionare verpflichtet (2,15). Die »Unordentlichen« zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich nicht an die Überlieferung der Missionare halten (3,6). Sie sollen gemieden werden. Diejenigen, die nicht arbeiten, sollen auch nicht essen (3,7–10). Die Adressatinnen und Adressaten sollen sich also an der Lebensweise der Missionare ein Beispiel nehmen, die für ihren Lebensunterhalt arbeiten. Und schließlich: Gemeindemitglieder sollen sich Personen merken, die dem »Wort in diesem Brief« nicht gehorchen (3,14). Die Adressatinnen und Adressaten werden damit verbindlich auf den Inhalt speziell des 2. Thessalonicherbriefes verpflichtet. Ähnliches findet sich im 1. Thessalonicherbrief nicht. Dieser Unterschied im Ton kann die These stützen, dass es sich beim 2. Thessalonicherbrief um ein pseudepigraphes Schreiben handelt, bei dem die realen Adressatinnen und Adressaten ja nicht identisch sind mit der fiktiv angesprochenen »Gemeinde der Thessalonicher«. Die Theologie: Liest man den 2. Thessalonicherbrief für sich, zeigen sich gegenüber dem 1. Thessalonicherbrief einige Unterschiede in der Theologie: Während der 1. Thessalonicherbrief davon ausgeht, dass diejenigen, die Jesus nachfolgen, nicht ins Gericht kommen (1Thess 1,10; 4,13–17; 5,9), ist dies für den 2. Thessalonicherbrief selbstverständlich (2Thess 1,5–10). Jesus Christus erscheint bei der Parusie dementsprechend im 1. Thessalonicherbrief als Retter (der Seinen; 1Thess 1,10), im 2. Thessalonicherbrief als Richter (aller; 2Thess 1,5–10). Parusie (das zweite Kommen Jesu Christi) und Tag des Herrn (mit dem Gericht), die im 1. Thessalonicherbrief getrennte Größen sind, fallen im 2. Thessalonicherbrief zusammen. Mit der veränderten Gerichtsvorstellung im 2. Thessalonicherbrief rückt eine Frage ins Blickfeld, die der 1. Thessalonicherbrief nicht stellt: Wie werden die Nachfolgerinnen und Nachfolger Jesu Christi auf das allgemeine Gericht vorbereitet, wie können sie sich selbst vorbereiten, um in diesem Gericht mit doppeltem Ausgang, in dem die einen gerettet und die anderen vernichtet werden, zu bestehen? Ein wichtiges Konzept in diesem Zusammenhang ist die Leidenstheologie, die hinter 2Thess 1,5–7 steht: Gegenwärtiges Leiden un-
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Die Botschaft des 2. Thessalonicherbriefes – eine Zusammenfassung
ter den Adressatinnen und Adressaten wird als Zeichen des gerechten Gerichts gedeutet (2Thess 1,5). Denn so können die Christustreuen ihre geringen Sünden bereits vor dem Gericht sühnen. Dadurch wird auch die Gegenwart eschatologisch anders qualifiziert: Während Paulus, Silvanus und Timotheus die Parusie im 1. Thessalonicherbrief für die unmittelbare Zukunft erwarten (1Thess 4, 15.17), wird die Gegenwart im 2. Thessalonicherbrief zu einer Zeit möglicher Bewährung, die auch noch länger andauern kann (2Thess 2,1–12). Die Erwählung ist im 1. Thessalonicherbrief ein zurückliegendes Datum (1Thess 1,4), der 2. Thessalonicherbrief kann demgegenüber auch den Gebetswunsch formulieren, dass die Glaubenden für die (zukünftige) Berufung würdig gemacht werden (2Thess 1,11). Dass der 2. Thessalonicherbrief in dieser Differenz aber keinen unüberbrückbaren Gegensatz sieht, verdeutlichen 2Thess 2,13. 14, wo – ähnlich wie in 1Thess 1,4 – von einer zurückliegenden Erwählung (und Berufung) die Rede ist. Anders als der 1. Thessalonicherbrief verpflichtet der 2. Thessalonicherbrief seine Adressatinnen und Adressaten verbindlich nicht nur auf die mündliche Botschaft und das Vorbild der Apostel (2Thess 3,8), sondern auch auf den Inhalt speziell des 1. (2Thess 2,15) und des 2. Thessalonicherbriefes (2Thess 3,14). Die Ermahnung in 2Thess 2,2, sich nicht »durch einen Brief, wie er von uns geschrieben wurde«, »erschrecken« zu lassen, wirkt merkwürdig, wenn wir annehmen, dass der 2. Thessalonicherbrief tatsächlich von Paulus, Silvanus und Timotheus geschrieben wurde. Falls mit dem erwähnten Brief ein gefälschtes Schreiben gemeint sein sollte, müssten wir voraussetzen, dass den drei Missionaren in der kurzen Zeit zwischen der Abfassung des 1. und des 2. Thessalonicherbriefes zu Ohren gekommen wäre, dass in Thessalonich ein gefälschter Brief in Umlauf war, der sie als Verfasser angeben würde. An keiner Stelle sonst deutet sich aber an, dass die Frage pseudepigrapher Paulusschreiben zu Lebzeiten des Paulus ein Problem war. Zudem wäre zu erwarten, dass sich die drei Missionare vehementer gegen dieses Schreiben verwahren. Falls ein echter Paulusbrief gemeint sein sollte, wirkt der Hinweis merkwürdig unkonkret, insbesondere, wenn wir 2Thess 2,2 mit 1Kor 5,9 vergleichen, wo Paulus sehr konkret auf eine bestimmte Stelle eines früheren Schreibens eingeht und sie gegen Missverständnisse präzisiert. 2Thess 2,2 wirkt am stimmigsten, wenn wir annehmen, dass sich hier ein pseudepigrapher Autor auf den 1. Thessalonicherbrief bezieht und dessen Deutung durch die Vertreter des Slogans aus 2Thess 2,2c kritisiert. Damit sind wir bei der Frage, wozu der 2. Thessalonicherbrief geschrieben wurde.
Die Botschaft des 2. Thessalonicherbriefes – eine Zusammenfassung
II.
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Worin besteht der Zweck des 2. Thessalonicherbriefes?
Unter denjenigen, die den 2. Thessalonicherbrief als pseudepigraphes Schreiben ansehen, gibt es hinsichtlich der Frage, zu welchem Zweck der Brief verfasst wurde, zwei Thesen: 1. Der 2. Thessalonicherbrief soll den 1. ersetzen. 2. Der 2. Thessalonicherbrief soll den 1. im Sinne einer Leseanweisung ergänzen und eine falsche Deutung des 1. Thessalonicherbriefes korrigieren. Die erste These deutet 2Thess 2,2 im Sinne von »einen Brief, wie er (angeblich) von uns geschrieben wurde«. Sie sieht zwischen dem 1. und dem 2. Thessalonicherbrief unüberbrückbare inhaltliche Differenzen, insbesondere im Bereich der Eschatologie, also der Lehre über die »letzten Dinge«. Der 2. Thessalonicherbrief setze der unmittelbaren Naherwartung, die den 1. Thessalonicherbrief präge (insbesondere in 1Thess 4,15.17) – und auf die sich der Slogan in 2Thess 2,2c beruft –, die Überzeugung entgegen, dass vor dem »Ende« noch eine ganze Reihe von Ereignissen stattfänden (2Thess 2,3–12). Der 2. Thessalonicherbrief präsentiere sich selbst als den einzig »wahren« Thessalonicherbrief. Er versuche, den 1. Thessalonicherbrief zu verdrängen. Diese These differenziert kaum zwischen der Deutung des Schreibens zu Lebzeiten des Paulus und seiner nachpaulinischen Rezeption. Der Bedeutungsspielraum des Textes erscheint als relativ stabil (oder starr). Der pseudepigraphe Verfasser des 2. Thessalonicherbriefes sehe demnach keine Möglichkeit, den 1. Thessalonicherbrief für die eigene Aussageabsicht fruchtbar zu machen. Die enge literarische Anlehnung des 2. an den 1. Thessalonicherbrief diene also der Verdrängung des paulinischen Briefes. 2Thess 2,15 bezieht sich im Rahmen dieser These auf den 2. Thessalonicherbrief (s. zur Stelle), 3,17 dient gezielt dazu, den 1. Thessalonicherbrief als Fälschung zu »entlarven« (s. zur Stelle). Schwierig erscheint mir an dieser These – die Annahme, dass der Verfasser des 2. Thessalonicherbriefes es für möglich gehalten haben soll, ein in der realen Adressatengemeinde als Paulusbrief bekanntes Schreiben zu verdrängen, – die Deutung von 2Thess 2,15, – die Deutung von 2Thess 3,17, – die Annahme, dass sich der pseudepigraphe Verfasser literarisch an ein Schreiben anlehnt, das er verdrängen möchte, – die fehlende methodische Differenzierung zwischen (gleich bleibendem) Text und (unterschiedlichen) Deutungen. Die zweite These – der ich mich hier anschließe – bezieht die Stelle ebenfalls auf den 1. Thessalonicherbrief, deutet 2Thess 2,2 aber
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Die Botschaft des 2. Thessalonicherbriefes – eine Zusammenfassung
im Sinne von »einen Brief, wie er (tatsächlich) von uns geschrieben wurde«. Der 2. Thessalonicherbrief dient dem 1. als Leseanweisung. Nicht der Brief als solcher soll korrigiert werden, sondern eine bestimmte Deutung des Schreibens, nämlich diejenige, die in 2Thess 2,2c knapp anklingt. In 2Thess 2,15 verweist der pseudepigraphe Verfasser in positiver Weise auf den 1. Thessalonicherbrief und stellt sich in dessen Tradition. Die literarische Anlehnung an diesen Paulusbrief dient als intertextueller Verweis: Wer den 1. Thessalonicherbrief kennt und den 2. Thessalonicherbrief hört, wird aufgrund der Ähnlichkeit beider Schreiben beim Hören des 2. Thessalonicherbriefes an den Paulusbrief erinnert. Als Leseanweisung verschiebt der 2. Thessalonicherbrief den Bedeutungsspielraum des 1. Thessalonicherbriefes in eine bestimmte Richtung (s.u.). Diese These unterscheidet zwischen dem Text des 1. Thessalonicherbriefes und seinen möglichen Bedeutungen. Sie rechnet von daher mit mit drei unterschiedlichen Lesarten des 1. Thessalonicherbriefes: – der (von Paulus, Silvanus und Timotheus intendierten) »ursprünglichen« Lesart durch die Erstadressatinnen und Erstadressaten in Thessalonich, – der Deutung durch die Vertreter des Slogans in 2Thess 2,2, – der Deutung durch den pseudepigraphen Verfasser des 2. Thessalonicherbriefes. Die erste Lesart habe ich im ersten Teil dieses Kommentars nachzuzeichnen versucht. Die zweite Lesart habe ich im Kommentar zu 2Thess 2,2 zu rekonstruieren versucht. Die Vertreter des Slogans sind wahrscheinlich der Ansicht, dass Verfolgung und Bedrängnis als eschatologische Wehen zu bestimmen sind, die den Anbruch der Endzeit anzeigen (Mt 24,9). Die Geschehnisse der Endzeit sind demnach bereits in Gang gesetzt. Insofern bestimmt – ihrer Meinung nach – der »Tag des Herrn« bereits die Gegenwart. Der pseudepigraphe Verfasser des 2. Thessalonicherbriefes verfolgt eine doppelte Strategie, um diese Ansicht zu entkräften. Er formuliert erstens einen eigenen Abschnitt (2Thess 1,3 – 2,12), in dem er seine eigene eschatologische Lehre entfaltet. Und er rekurriert zweitens auf den 1. Thessalonicherbrief, indem er sich literarisch eng an ihn anlehnt und in 2Thess 2,1 den wichtigen eschatologischen Abschnitt 1Thess 4,13–17; 5,1–11 anzitiert. Er reklamiert den 1. Thessalonicherbrief damit für seine eigene eschatologische Lehre. Wie aber liest sich der 1. Thessalonicherbrief im Licht des 2. Thessalonicherbriefs? Dieser Frage gehe ich abschließend in einem eigenen Unterkapitel nach.
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III. Kernelemente der theologischen Botschaft des 2. Thessalonicherbriefes Der 2. Thessalonicherbrief beginnt mit dem Ende: Das erste Kapitel behandelt das Endgericht mit doppeltem Ausgang, bei dem »Gott gerecht richtet« (2Thess 1,5) und der Herr Jesus sich zum Gericht offenbart (2Thess 1,7). Die Anfangsstellung dieses Themas, das zeitlich gesehen doch erst am Ende kommt und gemäß der brieflichen Konventionen erst an späterer Stelle zu erwarten wäre, zeigt: Der gerecht richtende Gott steht im Zentrum der Theologie des 2. Thessalonicherbriefes. Und: Das Endgericht wirkt sich bereits in der Gegenwart aus. Für die Zukunft gilt: Im Endgericht wird es zu einer Umkehr der Verhältnisse kommen (2Thess 1,6–7). In diesem Gericht tritt auch der Herr Jesus auf (2Thess 1,7). Für die Gegenwart gilt: Die gegenwärtigen Bedrängnisse der Gottestreuen sind »Anzeichen dafür, dass Gott gerecht richtet« (2Thess 1,5). Gott bereitet die Seinen auf das Endgericht vor. Die Bedrängnisse, unter denen sie leiden, fungieren als Sühne für die kleinen Vergehen, die dann im Endgericht nicht mehr ins Gewicht fallen. Die Gottlosen hingegen häufen immer mehr Schuld auf (vgl. 1Thess 2,14–16) und werden im Endgericht vernichtet (2Thess 1,8– 9). Gott ist also nicht nur zukünftiger Richter, er ist auch Herr über die Zeit. Die Gegenwart wird als eine Zeit der Bewährung für die Gottestreuen qualifiziert, in der Gott präsent ist. Damit sind die Weichen für die weiteren Ausführungen gestellt. Das theologische Zentrum des 2. Thessalonicherbriefes liegt m.E. im ersten (und nicht, wie oftmals angenommen wird, im zweiten) Kapitel. Aufgrund des Gewichts, das dem Motiv der Bewährung zukommt, kann der 2. Thessalonicherbrief von der Berufung in doppelter Weise sprechen: einerseits als einem zurückliegenden Ereignis (2Thess 2,14), andererseits als einem zukünftigen Ereignis, für das Gott die Seinen würdig macht (2Thess 1,11). Die Bewährung der Gottestreuen zeigt sich vor allem daran, wie sie mit aktuellen Bedrängnissen und Verfolgungen umgehen. Dabei geht es einerseits – in apokalyptischer Terminologie – um die Frage des Abfalls, also – anders formuliert – darum, Gott weiterhin und trotz allem die Treue zu halten (2Thess 2,10–12). Andererseits geht es dabei um den konkreten Umgang mit der Ansicht, dass der Tag des Herrn schon da sei (2Thess 2,2c). Der 2. Thessalonicherbrief macht deutlich, dass vor dem Ende noch einiges passieren wird (2Thess 2,1–12); er vertritt insofern eine gedehnte Naherwartung. Der Ablauf bis zum Ende liegt ganz in Gottes Hand: Der Widersacher, der vorgibt, er sei Gott (2Thess 2,4), hat (nur) den Platz, den Gott ihm zuweist. Der bzw. das Aufhaltende ist eine Kraft, die in Gottes Macht steht
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(2Thess 2,6–7). Wichtiger ist aber: Der 2. Thessalonicherbrief qualifiziert die Gegenwart derart, dass die Frage nach dem »Termin« des Endgerichts in den Hintergrund tritt (s.o.). Die Bedrängnisse werden theologisch positiv besetzt und damit umgedeutet. Die Gottestreuen können gelassen auf das Ende warten. IV.
Die Lage der Adressatinnen und Adressaten
Die Lage der (realen) Adressatinnen und Adressaten ist dadurch bestimmt, dass es offensichtlich Leute in der Gemeinde gibt, die der Meinung sind, dass der »Tag des Herrn« schon da sei, dass die Geschehnisse der Endzeit bereits in Gang gesetzt seien (2Thess 2,2c). Der pseudepigraphe Verfasser sieht sich aufgrund dieser Leute dazu veranlasst, den 2. Thessalonicherbrief zu schreiben. Wichtig wird dabei die Frage, wie die aktuellen Bedrängnisse, unter denen die Gemeinde leidet (2Thess 1,4.6–7), zu deuten sind. Worin genau diese Bedrängnisse bestanden, wissen wir nicht. Umstritten ist in der Gemeinde offenbar, wie sie theologisch zu deuten sind: als »eschatologische Wehen« – und damit als Zeichen für den Anbruch der Endzeit (so die Vertreter des Slogans aus 2Thess 2,2c)? Oder als Chance, die eigene »Ausgangslage« im Endgericht zu verbessern (so der Verfasser des 2. Thessalonicherbriefes in 2Thess 1,5–10)? Beide Deutungsvarianten zu den Bedrängnissen stammen damit aus einem apokalyptisch geprägten Milieu. Das Kernanliegen apokalyptischen Denkens besteht dabei nicht darin, Zeitspannen und »Fahrpläne« bis zum Ende darzulegen, sondern sich theologisch mit der als drückend empfundenen Gegenwart auseinanderzusetzen. Die aktuellen Bedrängnisse – so die zentrale Botschaft des 2. Thessalonicherbriefes – haben für die Frage, wann der Tag des Herrn kommt, keine Aussagekraft. Wichtig ist allein, dass er kommt und dass er göttliche Gerechtigkeit bringt. Die aktuellen Leiden bereiten die betroffenen Gemeindemitglieder im Sinne einer Leidenstheologie auf das Endgericht vor. Viele Auslegungen sehen die Lage der realen adressierten Gemeinde außerdem durch das Problem der »Unordentlichen« charakterisiert (2Thess 3,6–12). Dieser Kommentar deutet die Passage demgegenüber als eine literarische Fiktion, die dazu dient, den Bezug zum 1. Thessalonicherbrief zu stärken, um den pseudepigraphen Brief besser als echtes paulinisches Schreiben ausgeben zu können. Für die Lektüre von 2Thess 3,6–12 als einer literarischen Fiktion spricht m.E. zum einen die Pauschalität der Charakterisierung der »Unordentlichen« (man würde wohl in jeder Gemeinde einige von ihnen finden), zum anderen die Vernetzung der Passage mit unterschied-
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lichen Texten aus dem 1. Thessalonicherbrief (s. zur Stelle). Die Passage über die »Unordentlichen« in 2Thess 3,6–12 erlaubt es so dem realen Verfasser, einen engen Bezug zu unterschiedlichen Stellen aus dem 1. Thessalonicherbrief herzustellen, die dort unverbunden nebeneinander stehen. Das Thema »Arbeit« erlaubt eine Verknüpfung mit einem Aspekt, den die Missionare in 1Thess 2 im Zusammenhang mit ihrem Gründungsaufenthalt ansprechen: Sie haben in Thessalonich »nachts und tagsüber gearbeitet, um keinem von euch zur Last zu fallen« (1Thess 2,9). Genau diese Elemente greift 2Thess 3,8 auf. Während der in 2Thess 2,2c zitierte Slogan also tatsächlich von Leuten aus der realen, adressierten Gemeinde propagiert wurde, hat die Gruppe der »Unordentlichen« m.E. keine spezifische Entsprechung unter den adressierten Personen. V. Der 1. Thessalonicherbrief im Licht des 2. Thessalonicherbriefes Wie nun stellt sich der 1. Thessalonicherbrief dar, wenn wir ihn durch die »Brille« des 2. Thessalonicherbriefes lesen? 1.
Der 1. Thessalonicherbrief und die »Unordentlichen«
Die »Unordentlichen« tauchen im 1. Thessalonicherbrief nur in 5,14 auf. Wodurch genau sich diese »Unordentlichen« auszeichnen, gibt der 1. Thessalonicherbrief für sich genommen nicht zu erkennen. Es kann sich um irgendein ordnungswidriges Verhalten innerhalb der Gemeinde handeln. Einen expliziten Bezug zwischen den »Unordentlichen« und der Erwerbsarbeit stellt erst der 2. Thessalonicherbrief her, und zwar in 2Thess 3,6–13. Dadurch schränkt der 2. Thessalonicherbrief den Bedeutungsspielraum der Rede von den »Unordentlichen« erheblich ein: Wer den 2. Thessalonicherbrief kennt und in ihm einen echten Paulusbrief sieht, wird auch bei den »Unordentlichen« des 1. Thessalonicherbriefes an die Frage der Erwerbstätigkeit denken. Der Verfasser des 2. Thessalonicherbriefes nimmt dazu Material aus dem 1. Thessalonicherbrief auf und lagert es an die Thematik der »Unordentlichen« an (vgl. 2Thess 3,6 / 1Thess 5,14; 2Thess 3,7–10 / 1Thess 2,7–12; 2Thess 3,11–12 / 1Thess 4,9–12. Durch dieses Verfahren entstehen nun auch innerhalb des 1. Thessalonicherbriefes Bezüge, die vorher so nicht da waren. Die »Unordentlichen« aus 1Thess 5,14 sind nun Personen, die – anders als Paulus, Silvanus und Timotheus (1Thess 2,7–12) – nicht für ihren eigenen Lebensunterhalt sorgen, indem sie mit ihren eigenen Händen arbeiteten (1Thess 4,11).
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2. Der 1. Thessalonicherbrief und das Gericht mit doppeltem Ausgang Indem der 1. Thessalonicher in den Horizont des 2. einrückt, verändert sich das Verhältnis von Parusie und Gericht. Für sich genommen schildert 1Thess 4,13–17 eine Parusie ohne Gericht. Das fügt sich zu 1Thess 1,10: Jesus wird die Seinen aus dem kommenden (göttlichen) Zorn, also bevor sie überhaupt ins Gericht kommen, erretten. Das (Vernichtungs-)Gericht gilt »den anderen, die keine Hoffnung haben« (1Thess 4,13). In dem Moment, in dem der 2. Thessalonicherbrief mit seiner Leidenstheologie als Leseanweisung an die Seite des 1. Thessalonicherbriefes tritt, verschiebt sich diese Vorstellung: Auch die Christustreuen kommen (nach der Auferstehung; 1Thess 4,16) in das göttliche Gericht mit doppeltem Ausgang, in dem sie aber – unter anderem aufgrund der Bedrängnisse, die sie aktuell erleiden – bestehen werden. Aus dem Vernichtungsgericht für die »anderen« wird ein Gericht mit doppeltem Ausgang für alle. Diese Verschiebung schlägt sich auch begrifflich nieder: Während der 1. Thessalonicherbrief vom (göttlichen) Zorn (orge) spricht, benutzt der Verfasser des 2. Thessalonicherbriefes die Ausdrücke, die mit »Gericht« übersetzt werden (krisis und endikesin). Wenn wir nun den 2. Thessalonicherbrief als Leseanweisung für den 1. in Anschlag bringen, zeigt sich: Vom 2. Thessalonicherbrief her lässt sich der 1. Thessalonicherbrief durchaus auch im Sinne einer allgemeinen Gerichtsvorstellung lesen. In 1Thess 1,10 könnte die Funktion Jesu darin bestehen, bei Gericht vor Gott für die Seinen einzutreten – oder selbst als Richter aufzutreten (vgl. 2Kor 5,10; Röm 2,16). Die Rede von der Errettung im zukünftigen Zorn in 1Thess 1,10 würde dann auf den positiven Gerichtsausgang für die Jesustreuen blicken. 2Thess 1 und 1Thess 4,13–17 behandeln aus Sicht des pseudonymen Verfassers zwei Seiten der Parusie, für die das endzeitliche Gericht mit doppeltem Ausgang konstitutiv ist. 2Thess 1 fokussiert das Schicksal der Gottlosen, 1Thess 4 das Schicksal der verstorbenen und lebenden Christustreuen. 2Thess 1 und 1Thess 4 lassen sich damit unter dem Aspekt der göttlichen Gerechtigkeit komplementär einander zuordnen: Während 2Thess 1 angesichts des Endgerichts das unterschiedliche Schicksal von Gottlosen und Gottestreuen thematisiert, betont 1Thess 4, dass die verstorbenen und die noch lebenden Christustreuen das gleiche positive eschatologische Schicksal erwartet. 2Thess 1,7 nimmt mit den »Bedrängten« die Christustreuen in den Blick (vgl. 2Thess 1,4). Sie sollen bei der Parusie »Ruhe« finden. 1Thess 4,13–17 erscheint wie eine Explikation
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dieser Aussage. Denn die ganze Passage zielt ja auf die eschatologische Gemeinschaft mit dem Herrn Jesus (1Thess 4,17), also – so könnte man von 2Thess 1,7 her formulieren – auf eschatologisch qualifizierte »Ruhe«. 2Thess 1,9 nimmt die Gottlosen in den Blick: Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie »fern vom Angesicht des Herrn und von seiner Macht und Herrlichkeit« verharren müssen und verderben. Die Christustreuen hingegen werden nach 1Thess 4,17b in ewiger Gemeinschaft mit Jesus Christus leben. 2Thess 1,10 spricht von der Verherrlichung Jesu Christi »inmitten seiner Heiligen« – gemeint sind wohl Engel (vgl. 1Thess 3,13). Diese Ankündigung erhält in 1Thess 4,16–17 in der Stimme des Erzengels, in der Posaune Gottes und in der Entrückung »dem Herrn entgegen« ihre Konkretion. 3.
Der 1. Thessalonicherbrief und die gedehnte Naherwartung
Gemäß 2Thess 2,1–12 liegen das Auftreten des Gesetzwidrigen (2,9) und die Sendung göttlicher Macht zur Verführung (2,11) noch in der Zukunft der realen Adressatinnen und Adressaten. Der 2. Thessalonicherbrief vertritt also keine brennende Naherwartung. An diesem Punkt sehen einige Auslegungen einen unüberbrückbaren Widerspruch zum 1. Thessalonicherbrief. Wer den 2. Thessalonicherbrief als Leseanweisung für den 1. betrachtet, muss also fragen: Lässt sich der Text des 1. Thessalonicherbriefes auch im Sinne einer gedehnten Naherwartung lesen? Insbesondere 1Thess 4,15.17 scheint einem solchen Verständnis im Wege zu stehen. Zu diesen Versen hatte ich festgehalten, dass Paulus, Silvanus und Timotheus sich selbstverständlich zu den Lebenden rechnen, und ebenso selbstverständlich gehen sie davon aus, dass sie die Parusie erleben werden. Dieses Erleben der Ankunft des Herrn stellt für sie den »Normalfall« christlicher Existenz dar (s. zur Stelle). Das heißt: Die drei Missionare rechnen damit, dass die Parusie bald eintreten wird. Als der 2. Thessalonicherbrief in seiner realen Adressatengemeinde »auftaucht«, sind mehrere Jahrzehnte vergangen. Paulus lebt nicht mehr. In dieser Situation gibt es hinsichtlich der Deutung von 1Thess 4,15.17 zwei Möglichkeiten: Entweder ist die Meinung die, dass Paulus, Silvanus und Timotheus sich geirrt haben. Der ganze Brief verlöre damit an Glaubwürdigkeit. Oder die Wendung »wir, die Lebenden, die Übriggebliebenen« wird auf zweifache Weise umgedeutet: Erstens: Das »wir« wird zum ekklesialen »wir«, es meint nicht nur gegenwärtige, sondern auch zukünftige Nachfolgerinnen und Nachfolger Jesu. Zweitens: Die Gruppe der »Lebenden« wird durch den Zusatz »die Übriggebliebenen« eingeschränkt. Vorausgesetzt ist, dass von den (jetzt und zukünftig) lebenden Christinnen
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und Christen nur ein kleiner Rest bis zur (früher oder später eintretenden) Parusie übrigbleiben wird. 2Thess 2,10 beschreibt diesen Prozess der Dezimierung: Es wird in der Zukunft bei vielen Nachfolgerinnen und Nachfolgern Jesu noch zum Abfall (vom rechten Glauben) kommen. 4.
Der 1. Thessalonicherbrief und die »Bedrängnisse«
Der 1. Thessalonicherbrief deutet – für sich genommen – die »Bedrängnisse« (thlipseis; 1,6; 3,3.4) nicht eschatologisch. In 1,6 wird die Bedrängnis mit »der Freude des heiligen Geistes« verbunden. Erst 2Thess 1 stellt eine enge Verbindung zwischen den »Bedrängnissen« (2Thess 1,4.6–7) und Verfolgungen her (2Thess 1,4.6). Im Licht des 2. Thessalonicherbriefes entsteht damit innerhalb des 1. Thessalonicherbriefes eine Verbindung zwischen 1Thess 1,6; 3, 3.4 einerseits und 1Thess 2,14–16 andererseits. Diese Verbindung bringt eine weitere Bedeutungsverschiebung mit sich: Die Bedrängnisse werden nicht nur als Verfolgungen qualifiziert, sondern sie erhalten auch eine eschatologische Bedeutung (1Thess 2,16). VI. Wie lesen die Vertreter des Slogans aus 2Thess 2,2c den 1. Thessalonicherbrief? Darüber, wie die Vertreter des Slogans aus 2Thess 2,2c den 1. Thessalonicherbrief verstanden haben bzw. verstanden wissen wollten, können wir nur begründete Vermutungen anstellen, denn sie haben kein eigenes Schreiben hinterlassen; uns liegt also keine Leseanweisung von ihnen für den 1. Thessalonicherbrief vor. Aus der Art, wie der 2. Thessalonicherbrief den 1. Thessalonicherbrief ergänzt, lassen sich allerdings vorsichtige Rückschlüsse darauf ziehen, welche Art der Deutung des 1. Thessalonicherbriefes der 2. Thessalonicherbrief korrigieren möchte. Im Zusammenhang mit der Auslegung von 2Thess 2,2c habe ich für 1Thess 2,14–16 als primären Bezugstext des Slogans votiert (s. zur Stelle). Wie deuten die Vertreter des Slogans 1Thess 2,14–16? Die Verfolgungen von Christustreuen führen dazu, dass das Maß der Sünden bei den Verfolgern voll wird. Ihr Schicksal im Endgericht ist damit besiegelt. Der »Tag des Herrn« ist da. Die Verfolgungen, unter denen die realen Adressaten nach 2Thess 1,4.(7) aktuell leiden, haben in den Augen der Vertreter des Slogans also eschatologische Bedeutung, und zwar wahrscheinlich im Sinne eschatologischer Wehen, die anzeigen, dass die Geschehnisse der Endzeit bereits unwiderruflich in Gang gesetzt worden sind (s. zur
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Stelle). Der 2. Thessalonicherbrief setzt die These dagegen, dass die aktuellen Leiden im Sinne einer Leidenstheologie zu deuten sind und insofern über die zeitliche Nähe oder Ferne des Gerichts nichts aussagen. Entscheidend ist für ihn nicht die Frage des »Wann«, sondern das Vertrauen auf Gottes Gerechtigkeit, die sich bereits in der Gegenwart zeigt und sich ultimativ am Tag des Herrn zeigen wird. VII.
Die Bedeutung der Botschaft heute
Der 2. Thessalonicherbrief gibt Zeugnis davon, wie im Urchristentum um die richtige Deutung von Paulusbriefen gerungen wurde. Die Mittel – nämlich unter anderem Paulus als Verfasser anzugeben – mögen uns als nicht legitim erscheinen. Die Voraussetzung allerdings, dass der 1. Thessalonicherbrief zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht einfach überholt ist und daher zur Seite gelegt werden kann, sondern dass er nur richtig zum Sprechen gebracht werden muss – diese Voraussetzung ist auch für uns heute bedenkenswert. Thema des 2. Thessalonicherbriefes ist die Gerechtigkeit Gottes, die angesichts von Verfolgung und Bedrängnis bei einigen Adressatinnen und Adressaten in Frage zu stehen scheint. Die Vertreter des Slogans aus 2Thess 2,2c deuten sie als Zeichen des unmittelbar uns unwiderruflich bevorstehenden Endes. Dagegen setzt der 2. Thessalonicherbrief das Bild von einem machtvollen, gerechten Gott, der bereits in der Gegenwart dafür sorgt, dass die Seinen im Gericht werden bestehen können. Die Bedrängnisse dienen demnach der Vorbereitung auf das Endgericht, da sie läuternde Funktion haben. In dieser Vorstellung liegt ein Trost für die Adressatinnen und Adressaten. Sie können in dem Wissen um Gottes Gerechtigkeit mit Geduld auf das Endgericht warten – ja, es kann sogar von Vorteil für sie sein, wenn das Gericht noch auf sich warten lässt, weil das ihnen die Möglichkeit gibt, sich noch besser darauf vorzubereiten. Die Zeit steht in Gottes Hand (2Thess 2,6.7). Die gegenwärtigen Leiden sind Ausdruck der Souveränität und Gerechtigkeit Gottes. Diese leidenstheologische Deutung liegt uns heute wahrscheinlich sehr fern. Wir werden in der Regel nicht bedrängt oder gar verfolgt aufgrund unseres Christseins. Die Vorstellung eines Endgerichts mit doppeltem Ausgang hat für uns oft kaum noch eine existentielle Bedeutung. Beides mag miteinander zusammenhängen. Jedenfalls fällt auf, dass die Endgerichtsvorstellung für Christinnen und Christen, die aufgrund ihres Glaubens verfolgt werden und sich unterdrückt fühlen, oft von zentraler Bedeutung
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ist. Schon aus Gründen der Solidarität sollten wir daher die Erwartung eines Endgerichts nicht vorschnell als überholt beiseiteschieben. Das Vertrauen in Gott, der letztlich Recht schafft und alles zurechtrückt, kann Menschen Kraft geben, die unter Ungerechtigkeit leiden. »Wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen« (3,10). Mit diesen Worten »zitiert« der 2. Thessalonicherbrief Paulus, Silvanus und Timotheus (vgl. 1Thess 4,11). Unsere Leistungsgesellschaft setzt den Willen zur Arbeit voraus. Was ist mit denjenigen, die diesen Willen nicht zeigen? Wie viel steht ihnen (trotzdem) zu? Und mit welcher Begründung? Die Meinungen darüber gehen in unserer Gesellschaft auseinander. Und wir unterstellen wohl manchmal auch Menschen einen mangelnden Willen zur Arbeit, obwohl dieser durchaus vorhanden ist. 2Thess 3,10 fordert zu einer innerchristlichen Kritik heraus: Jeder Mensch, ob arbeitswillig oder nicht, hat das Recht auf einen angemessenen Lebensunterhalt. Biblisch lässt sich hier Mt 25,31–46 anführen, wo sich die Gerechten unter anderem dadurch auszeichnen, dass sie Jesus (und damit den geringsten Brüdern!) zu essen gegeben haben.
Weiterführende Literatur
a)
Allgemeinverständliche Auslegungen
Otto Knoch, 1. und 2. Thessalonicherbrief (Stuttgarter kleiner Kommentar – Neues Testament 12.1/2), Stuttgart 21997. Franz Laub, 1. und 2. Thessalonicherbrief (Die Neue Echter Bibel 13), Würzburg 2000. Willi Marxsen, Der Erste Brief an die Thessalonicher (Zürcher Bibelkommentare – Neues Testament 11.1), Zürich 1979. Willi Marxsen, Der Zweite Brief an die Thessalonicher (Zürcher Bibelkommentare – Neues Testament 11.2), Zürich 1982. Paul-Gerhard Müller, Der Erste und Zweite Brief an die Thessalonicher (Regensburger Neues Testament), Regensburg 2001. Eckart Reinmuth, Der erste Brief an die Thessalonicher (Das Neue Testament Deutsch 8/2), Göttingen 1998, 105–156. Eckart Reinmuth, Der zweite Brief an die Thessalonicher (Das Neue Testament Deutsch 8/2), Göttingen 1998, 157–202. b)
Wissenschaftliche Auslegungen
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Weiterführende Literatur
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Wolfgang Trilling, Der zweite Brief an die Thessalonicher (EvangelischKatholischer Kommentar zum Neuen Testament XIV), Zürich u.a. / Neukirchen-Vluyn 1980. Ben Witherington III, 1 and 2 Thessalonians. A Socio-Rhetorical Commentary, Grand Rapids 2006. c)
Sonstige zitierte Literatur
Eduard Lohse (Hg.), Die Texte aus Qumran, Darmstadt 1971. Udo Schnelle, Einleitung ins Neue Testament, Göttingen 42002. Konrat Ziegler (Hg.), Plutarch. Große Griechen und Römer I, Zürich/ Stuttgart 1954.
Abkürzungen
Altes Testament Gen Ex Lev Num Dtn Jos Ri Rut 1/2Sam 1/2Kön 1/2Chr Esr Neh Est Hiob Ps Spr Pred Hld Jes Jer Klgl Ez Dan Hos Joel Am Obd Jon Mi Nah Hab Zef Hag Sach Mal
Buch Genesis = 1. Buch Mose Buch Exodus = 2. Buch Mose Buch Levitikus = 3. Buch Mose Buch Numeri = 4.Buch Mose Buch Deuteronomium = 5. Buch Mose Buch Josua Buch der Richter Buch Ruth Erstes und zweites Buch Samuel Erstes und zweites Buch der Könige Erstes und zweites Buch der Chronik Buch Esra Buch Nehemia Buch Ester Buch Hiob = Ijob Buch der Psalmen Buch der Sprüche Salomos = Sprichwörter Buch des Predigers = Kohelet Hohelied Salomos Buch Jesaja Buch Jeremia Klagelieder Jeremias Buch Ezechiel = Hesekiel Buch Daniel Buch Hosea Buch Joel Buch Amos Buch Obadja Buch Jona Buch Micha Buch Nahum Buch Habakuk Buch Zefanja Buch Haggai Buch Sacharja Buch Maleachi
Abkürzungen
210 Apokryphen Jud Weish Tob Sir Bar 1/2Makk StDan
Buch Judith Weisheit Salomos Buch Tobias Buch Jesus Sirach Buch Baruch Erstes und zweites Buch der Makkabäer Stücke zu Daniel
Neues Testament Mt Mk Lk Joh Apg Röm 1/2Kor Gal Eph Phil Kol 1/2 Thess 1/2 Tim Tit Phlm Hebr Jak 1/2 Petr 1/2/3Joh Jud Offb
Evangelium nach Matthäus Evangelium nach Markus Evangelium nach Lukas Evangelium nach Johannes Apostelgeschichte Brief an die Römer Erster und zweiter Brief an die Korinther Brief an die Galater Brief an die Epheser Brief an die Philipper Brief an die Kolosser Erster und zweiter Brief an die Thessalonicher Erster und zweiter Brief an Timotheus Brief an Titus Brief an Philemon Brief an die Hebräer Brief des Jakobus Erster und zweiter. Brief des Petrus Erster, zweiter und dritter Brief des Johannes Brief des Judas Offenbarung des Johannes
Andere Schriften 1QpHab 1QS 4Esr AssMos ÄthHen ConstAp Did GrHen Hist
Habakukkommentar (aus Qumran, Höhle 1) Gemeinderegel von Qumran (aus Höhle 1) 4. Buch Esra Assumptio Mosis (Himmelfahrt des Mose) Äthiopischer Henoch Constitutio Ecclesiastica Apostolorum (Apostolische Kirchenordnung) Didache (Lehre der zwölf Apostel) Griechischer Henoch Tacitus Historiae (Historien)
Abkürzungen
JosAs Jub LXX Numa Pol PsSal SyrBar TestDan TestJob TestJud TestLev
211 Joseph und Aseneth Jubiläen Septuaginta (griechisches Altes Testament) Plutarch, Numa Pompilius Aristoteles, Politik Psalmen Salomos Syrische Baruchapokalypse Testament Daniel Testament Hiob Testament Juda Testament Levi
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Register wichtiger Begriffe
214
Glaube 12.13.15.21.22.36.54.55.56.57.58.61.76.84.85.93.94.111.117.128. 130.134.135.136.149.160.161.169.176.177.194 Gnade 8.9.91.105.107.136 Gottesdienst 8.23.150.190 Heiligung 62.64.65.68.69 Hoffnung 14.15.16.45.46.49.50.56.69.75.76.83.84.85.87.93.94.100.101.102. 111.112.113.116.128.173 Juden 3.18.23.35.37.38.39.40.41.42.43.44.45.46.48.63.64.115.116.117.131. 144.145 Lehrer 101 Liebe 14.15.31.32.56.57.58.59.70.71.75.85.93.97.112.128.160.173.178 Missionar 10.19.22.23.26.27.29.31.32.33.35.40.47.53.54.56.58.61.69.72.85. 98.103.104.105.107.108.109.110.111.114.169.170.175.176.180.182.183. 184.186.195 Mühe/Arbeit 15.26.30.33.55.59.73.74.93.94.97.98.109.112.115.181.182. 183.184.186.195.200.201,206 Parusie 14.15.16.24.25.48.49.50.58.59.60.61.69.72.76.77.79.80.81.82.83.84. 85.90.95.98.103.113.129.130.132.133.138.139.143.156.158.159.179.195. 202.203.204 Rettung 195
24.37.38.40.46.68.76.91.92.93.94.95.107.113.133.166.169.170.176.
Satan 48.50.55.58.159.161.177 Segen 103 Sohn Gottes 24.68 Tag des Herrn 86.87.88.90.91.95.113.137.138.142.143.144.145.146.155. 163.165.166.167.200.205 Thessalonich 4.7.8.10.18.21.31.37.38.47.52.59.63.64.71.73.88.102.104.108. 110.114.116.124.125.140.153.164.169.172.176.181.186.194.196 Unordentliche
98.99.179.180.181.184.185.186.187.188.201
Zorn (Gottes) 10.19.23.24.25.34.37.38.43.44.45.46.60.68.76.86.87.90.93. 107.113.144.202