Der doppelte Strafstaat: Die Krise des modernen Strafrechts in vergleichend-historischer Perspektive. Aus dem Englischen übersetzt von Alexander Mayr und Sascha Ziemann [1 ed.] 9783428583553, 9783428183555

Die Arbeit beschäftigt sich mit der massiven, oft willkürlichen und ständig wachsenden Strafmacht von Staaten, die sich

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German Pages 380 [381] Year 2022

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Der doppelte Strafstaat: Die Krise des modernen Strafrechts in vergleichend-historischer Perspektive. Aus dem Englischen übersetzt von Alexander Mayr und Sascha Ziemann [1 ed.]
 9783428583553, 9783428183555

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R ECHT UND PHILOSOPHIE Band 12

Der doppelte Strafstaat Die Krise des modernen Strafrechts in vergleichend-historischer Perspektive

Von

Markus D. Dubber

Duncker & Humblot · Berlin

MARKUS D. DUBBER

Der doppelte Strafstaat

Recht und Philosophie Herausgegeben von Prof. Dr. Eberhard Eichenhofer, Jena Prof. Dr. Stephan Kirste, Salzburg Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Michael Pawlik, Freiburg Prof. Hans-Christoph Schmidt am Busch, Braunschweig Prof. Dr. Klaus Vieweg, Jena Prof. Dr. Benno Zabel, Bonn

Band 12

Der doppelte Strafstaat Die Krise des modernen Strafrechts in vergleichend-historischer Perspektive

Von

Markus D. Dubber Aus dem Englischen übersetzt von Alexander Mayr und Sascha Ziemann

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Markus D. Dubber 2018 The Dual Penal State: The Crisis of Criminal Law in Comparative-Historical Perspective was originally published in English in 2018. This translation is published by arrangement with Oxford University Press. Duncker & Humblot is solely responsible for this translation from the original work and Oxford University Press shall have no liability for any errors, omissions or inaccuracies or ambiguities in such translation or for any losses caused by reliance thereon.

Alle Rechte an der deutschen Ausgabe vorbehalten © 2022 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: TextFormA(r)t, Daniela Weiland, Göttingen Druck: CPI buchbücher.de GmbH, Birkach Printed in Germany ISSN 2509-4432 ISBN 978-3-428-18355-5 (Print) ISBN 978-3-428-58355-3 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meinen Eltern

Vorwort Ich bedanke mich bei den folgenden Personen für ihre Unterstützung: Klaus Günther, Tatjana Hörnle und Bernd Schünemann für ihre großzügige Gastfreundschaft in Frankfurt a. M., Berlin und München; Michael Pawlik für die Aufnahme in die von ihm mitherausgegebene Reihe „Recht und Philosophie“; und, last not least, Alexander Mayr und Sascha Ziemann für ihre ausgezeichnete Übersetzungstätigkeit. Die Arbeit an der englischen Originalfassung wurde von der Alexandervon-Humboldt Stiftung, der Royal Society of Canada, dem Social Science and Humanities Research Council of Canada, dem Excellence Cluster „Formation of Normative Orders“ an der Goethe-Universität Frankfurt a. M. und dem Forschungskolleg Humanwissenschaften in Bad Homburg unterstützt. Die in dieser Übersetzung berücksichtigte Literatur steht auf dem Stand der im Jahre 2018 erschienenen englischen Originalausgabe. Toronto, Dezember 2021

Markus Dirk Dubber

Inhaltsverzeichnis Einführung: Die Krise des modernen Strafstaates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 A. Die Krise liberalen Strafens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 B. Staaten und Stadien der Verleugnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20

Teil I



Die Strafrechtswissenschaft und ihre Ablenkungen 27 Kapitel 1



Engagierte Forschung: Strafrecht und die Legitimation der Strafmacht 29

A. Einseitige Strafrechtsvergleichung: Die parochiale Universalität der Strafrechts­ wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35

Kapitel 2

Die Rhetorik des Strafrechts: Sloganismus und andere Bewältigungsmechanismen 60

A. Ontologismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 B. Sloganismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 C. Etikettismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 1. Rechtsgut – Eine Wissenschaft des Verbrechens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 2. „Positive Generalprävention“: Eine Wissenschaft der Strafen (und „Maßnahmen“) 85 3. Besitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 D. Taxonomismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 1. Die Taxonomie der Verbrechens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 2. Die Taxonomie der strafbaren Handlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 3. Der Badewannenfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 4. Die Taxonomie der Tatherrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 E. Parochiale Rechtswissenschaft als globale Polizeiwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . 145

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Inhaltsverzeichnis Teil II



Der doppelte Strafstaat: Zur kritischen Analyse des Strafrechts 151 Kapitel 3



Recht und Polizei als Herrschaftsmechanismen 153

A. Formen der kritischen Analyse: Kritik und Verschleierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 B. Der Umfang der Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 C. Recht und Polizei: Kognitive Spannungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174

Kapitel 4

Strafrecht und Strafpolizei im doppelten Strafstaat 186

A. Modernes Strafen zwischen rechtlicher Horizontalität und polizeilicher Vertikalität . 190 B. Das Strafparadoxon  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 C. Verbrechen und Bestrafung im Strafrecht und in der Strafpolizei . . . . . . . . . . . . . . . . 202 D. Zwischen Strafrecht und Strafpolizei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 1. Unbeachtliche Taten: Public Welfare Offenses, Violations, Ordnungswidrigkeiten 206 2. Andersartige Täter: Gewohnheitsverbrecher, Unzurechnungsfähige, Feinde . . . . 212 E. Rasse und Strafsklaverei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 F. Systemischer Vergleich: Ein polizeiliches Gegennarrativ des deutschen Strafens . . . 237 G. Wechsler und Freisler zur „Überlegung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 H. Packer und Jakobs über amerikanisches und deutsches Strafen . . . . . . . . . . . . . . . . . 261

Teil III



Amerikanisches Strafen zwischen Recht und Polizei: Eine kritische Genealogie 269 Kapitel 5



Amerikas interner Sonderweg 271

A. Strafpatriarchat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 B. Apolitisches Strafen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285

Inhaltsverzeichnis

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Kapitel 6

Thomas Jeffersons Virginia Criminal Law Bill 289

A. Verrat und Souveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 B. Präambel: Ein unerfülltes Versprechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 C. Livingston und der 13. Zusatzartikel zur amerikanischen Verfassung . . . . . . . . . . . . 311

Kapitel 7

Model Penal Code und War on Crime  315

A. Der Behandlungsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 B. Strafrechtliche Kodifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 C. Eine weitere verpasste Gelegenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 D. Nach dem Model Penal Code . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 1. Der „Krieg“ gegen das Verbrechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 2. Über den Krieg gegen das Verbrechen hinaus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 3. Ein vergleichender Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371

Abkürzungsverzeichnis ABA J.: Am. Inst. Crim. L. & Criminology: Am. J. Comp. L.: Am. J. Juris.: Am. J. Legal Hist.: Am. J. Soc.: Buff. Crim. L. Rev.: Buff. L. Rev.: Cal. L. Rev.: Cambridge L. J.: Can. Bar Rev.: Cardozo L. Rev.: Colum. Hum. Rts. L. Rev.: Colum. L. Rev.: Comp. Legal Hist.: Cornell L. Rev.: Crim. Just. Hist.: Crim. L. & Phil.: Crit. Q.: Duke J. Comp. & Int’l L.: Geo. L. J.: German L. J.: Harv. L. Rev.: Hastings L. J.: Hofstra L. Rev.: J. Comp. Legislation & Int’l L.: J. Crim. L. & Criminology: J. Int’l Crim. Just.: J. L. & Contemp. Probs.: Law & Hist. Rev.: Law & Phil.: Law Q. Rev.: Mich. L. Rev.: Mod. L. Rev.: N. Y. Times: New Crim. L. Rev.:

American Bar Association Journal American Institute of Criminal Law and Criminology American Journal of Comparative Law American Journal of Jurisprudence American Journal of Legal History American Journal of Sociology Buffalo Criminal Law Review Buffalo Law Review California Law Review Cambridge Law Journal Canadian Bar Review Cardozo Law Review Columbia Human Rights Law Review Columbia Law Review Comparative Legal History Cornell Law Review Criminal Justice History Criminal Law and Philosophy Critical Quarterly Duke Journal of Comparative & International Law Georgetown Law Journal German Law Journal Harvard Law Review Hastings Law Journal Hofstra Law Review Journal of Comparative Legislation and International Law Journal of Criminal Law and Criminology Journal of International Criminal Justice Journal of Law and Contemporary Problems Law and History Review Law and Philosophy Law Quarterly Review Michigan Law Review Modern Law Review New York Times New Criminal Law Review

Abkürzungsverzeichnis Nw. U. L. Rev.: Oxford J. Legal Stud.: Pa. Mag. History & Biography: Phil. & Pub. Affairs: Phil. Rev.: Rutgers J. L. & Religion.: Stan. L. Rev.: Sup. Ct. Rev.: U. Chi. L. Rev.: U. Pa. L. Rev.: U. Toronto L. J.: Wis. L. Rev.: Yale J. L. & Humanities: Yale L. J.:

Northwestern University Law Review Oxford Journal of Legal Studies Pennsylvania Magazine of History and Biography Philosophy & Public Affairs Philosophical Review Rutgers Journal of Law and Religion Stanford Law Review Supreme Court Review University of Chicago Law Review University of Pennsylvania Law Review University of Toronto Law Journal Wisconsin Law Review Yale Journal of Law & the Humanities Yale Law Journal

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Einführung: Die Krise des modernen Strafstaates Dieses Buch beschäftigt sich mit der massiven, oft willkürlichen und ständig wachsenden Strafmacht von Staaten, die sich vermeintlich dem rechtlich-politischen Projekt westlich-liberaler Demokratien verschrieben haben. Die normalisierte Ausübung von Strafgewalt in den Strafsystemen dieser aufgeklärt-modernen Staaten objektiviert tagtäglich genau die Personen, auf deren Autonomie als Rechtssubjekte die Legitimation staatlicher Macht insgesamt beruhen soll.

A. Die Krise liberalen Strafens Ich weiß nicht, ob das moderne, liberale rechtlich-politische Projekt richtig, rechtens oder gerecht ist, oder auch nur wie wir das beurteilen könnten. Da es jedoch eindeutig Staaten gibt, die sich mit diesem Projekt identifizieren – oder identifiziert werden wollen –, lohnt es sich, das andauernde Missverhältnis zwischen dem Ideal des liberalen Strafrechts und der Realität des modernen Strafens in diesen Staaten historisch und vergleichend, dogmatisch und institutionell, systemisch und konkret zu erfassen und zu verstehen. Ein besseres Verständnis für die Krise des liberalen Strafens sollte uns dabei helfen, sie anzugehen, wenn auch nicht sie zu „lösen“ (was auch immer das heißen würde), vorausgesetzt, wir meinen, dass es sich hierbei nicht nur um eine Frage kompetenter Regierung oder durchdachter Politik handelt, sondern um eine Sache der Gerechtigkeit und schließlich der Legitimität von Staatsmacht in einer liberalen Demokratie. Angenommen wir nehmen das liberale Projekt ernst, und das mag weniger offensichtlich sein, als die meisten von uns bereit wären einzugestehen, so sehe ich nicht, wie wir mit dem normalisierten Versagen leben können, die fundamentalen Herausforderungen des Strafrechts in unseren liberalen Staaten als solche zu erkennen, geschweige denn uns ihnen zu stellen. Wenn wir es nicht schaffen, tagtäglich die Herausforderung der prima facie-Illegitimität der Strafmacht des liberalen Staates zu erkennen, wie können wir dann hoffen, sie anzusprechen? Wenn wir sie nicht ansprechen, wie können wir dann hoffen, sie zu bewältigen? Und wenn wir sie nicht bewältigen, was sagt das dann über das moderne rechtlich-politische Projekt als Ganzes, wenn es an dem Willen und den Ressourcen fehlt, die einschneidendste Macht des Staates zu legitimieren, die am dringendsten einer Legitimation bedarf? Es mag sich herausstellen, dass das Missverhältnis zwischen der liberalen Idee und der strafstaatlichen Realität kein bloßes Anwendungs- oder Verwaltungs­

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Einführung: Die Krise des modernen Strafstaates 

problem ist, d. h. das Versäumnis, ein überzeugendes Programm legitimen staat­ lichen Strafens in die Tat umzusetzen. Vielleicht liegt das Problem jedoch viel tiefer, am Ursprung des Projekts des liberalen Strafrechts und damit auch des liberalen Rechts überhaupt, d. h. ein Versagen bei der Legitimierung der Begründung des liberalen Strafrechts. Möglicherweise stellt sich bei näherer Hinsicht heraus, dass niemand die Notwendigkeit einer radikalen Neukonzeption der Strafmacht sah. Oder diejenigen, die das neue Legitimationsproblem erkannten, entwickelten eine Konzeption, die das Kernproblem liberalen Strafens weder diagnostizierte noch ansprach, und riefen so ein falsches Selbstgefälligkeitsgefühl hervor, das die kontinuierliche Legitimation der staatlichen Strafmacht in all ihren Aspekten – materiell und prozessual, systemisch und individuell, als Drohung, Auferlegung und Anwendung von Strafgewalt  – behinderte, anstatt sie zu ermöglichen. Das Ergebnis wäre in beiden Fällen ein und dasselbe: ein normalisiertes, sich ständig erweiterndes und verschärfendes, prima facie illegitimes Regime staatlicher Strafgewalt. Die Vereinigten Staaten liefern seit einiger Zeit das umfangreichste und berüchtigtste Beispiel für ein staatliches Strafregime, das Amok läuft. Die Heimat einer ausgedehnten und brutalen pönalen Unschädlichmachungskampagne, dem sogenannten „war on crime“, kennzeichnet sich durch die höchste Inhaftierungsrate der Welt und die größte Gefängnisbevölkerung. Dies ist das Resultat sowohl einer „Überkriminalisierung“ (was soll bestraft werden?) beziehungsweise „Überbestrafung“ (wie hoch?), als auch der Einstellung einer bestenfalls böswilligen Vernachlässigung (malign neglect: Michael Tonry) gegenüber den verheerenden, unverhältnismäßigen alltäglichen Auswirkungen auf nicht-weiße Bevölkerungsgruppen – in der Stadt und auf dem Land, in Wohnungen, auf der Straße, zu Fuß oder im Auto, auf Polizeistationen, in Staatsanwaltschaften, Gerichtssälen und in Gefängnissen –, die eine nationale – und schließlich weltweite – Bewegung um das denkbar einfache, aber beunruhigenderweise alles andere als selbstverständliche Beharren auf „Black Lives Matter“ in Gang brachte. Die USA sind allerdings nur ein Beispiel, wenn auch ein besonders krasses. Andere Länder haben ihre Strafregelungen längst verschärft und verankert, indem sie die Entwicklungen in den Vereinigten Staaten allzu oft als bequeme Rechtfertigung für eine vergleichsweise weniger einschneidende, aber dennoch bedeutende Ausweitung der eigenen Strafmacht nutzen. Die aktuelle Krise des modernen Strafens ist weder auf die Vereinigten Staaten beschränkt, noch ist sie neu. Diese Punkte sind miteinander verbunden. Ich argumentiere in diesem Buch, dass die Krise des modernen Strafens genau das ist, eine Krise des modernen Strafens. Es ist keine innerstaatliche Krise, die sich in einem bestimmten, angeblich einzigartigen Land auswirkt, das andere Länder von außen mit Entsetzen beobachten, während sie ihre immer vollkommenere Umsetzung eines aufgeklärten liberalen Strafrechts weiter verfeinern. Stattdessen ist die Krise des modernen Strafens eine Krise des liberalen rechtlich-politischen Projekts als Ganzes, das auf unterschiedliche Weise jeden Staat berührt, der sich an ihm beteiligt.

A. Die Krise liberalen Strafens

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Die Anerkennung der Krise des modernen Strafens als ein supranationales Phänomen zwingt jeden Staat innerhalb des liberalen rechtlich-politischen Projekts, sich nach innen zu wenden und zu einer ernsthaften und ehrlichen kritischen Analyse seiner eigenen Antwort auf die ursprüngliche, grundlegende Herausforderung der Legitimation seiner Strafmacht zu verpflichten: Wie das Strafparadoxon als schärfste Ausformung des allgemeinen Machtparadoxons in einem liberalen Staat gelöst werden kann, d. h. der gewaltsame Eingriff in die Autonomie von Personen, auf der die Legitimität des Staates gerade beruht. Diese kritische Selbstanalyse würde in jedem Land anders ausfallen. Beispielsweise in Deutschland wäre das Ergebnis, eine gut etablierte Tradition der Selbstgefälligkeit zu hinterfragen, die von der Annahme der Überlegenheit gegenüber anderen Staaten ausgeht, einschließlich, aber nicht beschränkt auf die Vereinigten Staaten.1 Dieser privilegierte Standpunkt gründet sich auf zwei verwandte und weit verbreitete, wenn auch sicherlich nicht allgemein verbreitete Ansichten: erstens, dass die deutsche Rechtsordnung im Allgemeinen und das deutsche Strafrecht im Besonderen der Herausforderung der Staatsmacht in einer modernen liberalen Demokratie besser gerecht werden als jede andere Rechtsordnung; und zweitens, dass insbesondere das deutsche materielle Strafrecht auf eine lange und einzigartig ruhmreiche Geschichte rechtswissenschaftlicher Erkenntnisse zurückblickt, die weit über die Entstehung des modernen deutschen Verfassungsrechts nach dem Zweiten Weltkrieg hinausreicht. Diese tief verwurzelte wissenschaftliche Grundlage ist zentral für das Selbstverständnis der deutschen Strafrechtsforschung, die das Verfassungsrecht als einen relativen Neuankömmling betrachtet, dessen Anspruch auf Beachtung, wenn nicht sogar Vorrang, vor dem Strafrecht als impertinent gilt. Die Behauptung eines wissenschaftlichen Selbstverständnisses von zeitloser Objektivität und technischer Expertise trägt auch der ansonsten angesichts der Ereignisse von 1933–45 vielleicht überraschenden Vorstellung Rechnung, dass das deutsche Recht im Allgemeinen und das deutsche Strafrecht im Besonderen vielversprechende Kandidaten für substantielle Modelle liberaler Prinzipientreue sein könnten.

1 So wurde beispielsweise die Verständigung im Strafprozess („plea bargaining“) in Deutschland jahrzehntelang als eine typisch amerikanische, und typisch widerrechtliche, Praxis angeprangert. Siehe Dubber, American Plea Bargains, German Lay Judges, and the Crisis of Criminal Procedure, in: Stan. L. Rev. 49 (1997), S. 547; Weigend / Turner, The Con­ stitutionality of Negotiated Criminal Judgments in Germany, in: German L. J. 15 (2014), S. 81. Ein weiteres, weniger offensichtliches Beispiel ist die entschiedene Ablehnung einer Unternehmensstrafbarkeit nach 1945 als völlig unvereinbar mit dem Wesen des deutschen Strafrechts, aber symptomatisch für die dem angloamerikanischen Strafrecht innewohnende Prinzipienlosigkeit. Siehe Dubber, The Comparative History and Theory of Corporate Criminal Liability, in: New Crim. L. Rev. 16 (2013), S. 203; Dubber, Zur Geschichte und Theorie der Verbandsstrafbarkeit: Eine kritische Analyse aus rechtsvergleichender Sicht, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 98 (2016), S. 377.

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Einführung: Die Krise des modernen Strafstaates 

Dem deutschen Überlegenheitsgefühl im materiellen Strafrecht steht das amerikanische Überlegenheitsgefühl im Strafverfahren gegenüber.2 In den Vereinigten Staaten geht man davon aus, dass keine andere Rechtsordnung der Welt mit den in der Bill of Rights (die ersten zehn Zusätze der US-Verfassung, ratifiziert 1791) verankerten prozessualen Schutzvorschriften mithalten kann. Ironischerweise wurden diese vermeintlich unantastbaren Schutzvorschriften der New Republic unkritisch als bloße moderne Neuformulierungen lang vertrauter, vorrevolutionärer und eindeutig englischer Old World Normen dargestellt, die sich auf einen kurzen Ausschnitt aus einem langen und vage entworfenen, entschieden vormodernen und voraufklärerischen Dokument der mittelalterlichen englischen Politikgeschichte erstrecken, der Magna Charta von 1215 – die jetzt, in jahrhundertelanger Rückschau, allgemein als Ursprung der „rule of law“ verehrt wird.3 In den Vereinigten Staaten wird diese seltsam selbstverleugnende zeitübergreifende Perspektive bequem mit einem radikal verkürzten historischen Horizont kombiniert, der das Fehlen eines nennenswerten amerikanischen (Verfassungs-)Strafverfahrensrechts sowie die geringe Aufmerksamkeit gegenüber der bundesrechtlichen Bill of Rights, bis zur Erfindung eines amerikanischen Bundesverfassungsrechts zum Strafverfahren durch den U. S. Supreme Court in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, verschleiert (ganz zu schweigen davon, dass der Supreme Court begann, diese verfassungsmäßigen Begrenzungen kurz nach ihrer ersten Anerkennung in den 1950er und 1960er Jahren wieder zurückzuschrauben). Die gerühmten fundamentalen prozessualen Schutzvorschriften des amerikanischen Strafrechts sind also mit anderen Worten entweder zu alt, zu neu oder zu schwach, um entweder als amerikanisch, fundamental oder als Schutzvorschriften zu gelten. Aufgrund der Tatsache, dass sie der jahrzehntelangen massiven Kampagne der Unschädlich­machung, dem amerikanischen „war on crime“, nicht im Wege standen, empfehlen sie sich auch kaum als prozessuale Modelle liberaler Prinzipientreue. Die Legitimität der staatlichen Strafmacht als eine ständige Herausforderung zu sehen, die von allen modernen liberalen Staaten geteilt wird, erfordert nicht nur, sich selbst laufend kritisch zu hinterfragen. Vielmehr wird somit auch deutlich, dass diese Herausforderung aus zwei Gründen ein zentrales Element des liberalen rechtlich-politischen Projekts ist. Erstens ist Strafgewalt ein Aspekt der Staatsmacht in allen Staaten, auch in denen, die sich als Teil des liberalen rechtlichpolitischen Projekts betrachten. Der „war on crime“ und seine Variationen „toughon-crime“, „law-and-order“, „Verbrechensbekämpfung“ oder „Kampf gegen die Kriminalität“ sind zeitgenössische Manifestationen der Strafmacht in vermeintlich modernen liberalen Staaten. Die Androhung und Verhängung von staatlicher 2 Siehe Dubber, Criminal Process in the Dual Penal State: A Comparative-Historical Analysis, in: Brown u. a. (Hrsg.), The Oxford Handbook of Criminal Process, 2018. 3 Eine Bewunderung, die nicht von allen zu jeder Zeit geteilt wurde; Thomas Cromwell, zum Beispiel, soll sie als „Magna Farta“ bezeichnet haben. Siehe Jill Lepore, The Rule of History: Magna Carta, the Bill of Rights, and the Hold of Time, in: New Yorker v. 20. April 2015.

A. Die Krise liberalen Strafens

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Strafgewalt in massivem Umfang sind liberale Phänomene und nicht Merkmale von „anderen“, nicht-liberalen Gesellschaften. Zweitens ist der unbedachte Einsatz und die Ausbreitung von Strafgewalt in einem vermeintlich liberalen Staat besonders beunruhigend, da sich das liberale rechtlich-politische Projekt gerade durch sein Festhalten an der grundlegenden und anhaltenden kritischen Auseinandersetzung mit der Legitimität der Staatsmacht definiert und auszeichnet. Die unkritische Verwendung der schärfsten Form von Staatsmacht bedroht daher das liberale Projekt in seinem Kern und stellt die Unterscheidung zwischen angeblich liberalen Staaten und anderen in Frage. Um das volle Ausmaß, die Tiefe und den Umfang der Krise des Strafens in scheinbar liberalen Staaten zu verstehen, bedarf es einer Überwindung von zeit­ lichen und parochialen Einschränkungen. Anstatt uns auf das eine oder andere Land zu konzentrieren, wenden wir uns in diesem Projekt der historischen und vergleichenden Analyse zu. Nur auf diese Weise können wir die Ursprünge der Krise des modernen Strafens in den Ursprüngen des liberalen rechtlich-politischen Projekts selbst erkennen und gleichzeitig sehen, wie sich diese Krise in verschiedenen, an diesem Projekt beteiligten Staaten unterschiedlich manifestiert hat. Dieser vergleichende oder systemische Ansatz macht die inländische Analyse nicht überflüssig. Jedes Land hat seine eigene Strafgeschichte; das bedeutet jedoch nicht, dass dieses Narrativ für sich genommen sui generis oder außergewöhnlich (oder außergewöhnlicher als jedes andere)  ist: nicht jeder einzelne Weg ist ein Sonderweg. Die Länder der westlichen liberalen Tradition gehören zum gleichen genus, nämlich der Staaten, die das rechtlich-politischen Projekt der liberalen Demokratien nach westlichem Muster ausmachen. Das vorliegende Buch nimmt diese Gemeinsamkeit ernst. Anstelle der Ermittlung von strafrechtlichen Sonderwegen des einen oder anderen Staates bzw. der Abweichungen von einer imaginären Norm in die eine oder andere Richtung unternehmen wir eine vergleichend-historische Untersuchung der gemeinsamen Herausforderung des modernen Strafens auf einer allgemeinen Ebene des rechtlich-politischen Projekts moderner, liberaler Staaten. Diese vergleichend-historische Untersuchung ermittelt dann, wie diese Herausforderung in verschiedenen sich selbst als liberal betrachtenden Staaten konzipiert und bewältigt wurde. Aus dieser Perspektive erscheinen weder die Vereinigten Staaten noch Deutschland als Ausnahme, die sich durch ihr einzigartiges Scheitern oder ihren einzigartigen Erfolg gegenüber der Herausforderung des liberalen Strafens auszeichnen; vielmehr erscheinen beide als Beispiele für unterschiedliche Ansätze und Reaktionen (oder deren Abwesenheit) auf diese Herausforderung. Auch wenn dies an dieser Stelle klar sein sollte, ist dennoch hervorzuheben, dass die in dieser Studie praktizierte Art der vergleichend-historischen Analyse nicht davon ausgeht, dass eine Rechtsordnung gegenüber der anderen als überlegen anzusehen ist, in vergleichender oder historischer Ansicht. Anstatt ein nostalgisches oder einseitig-selektives Narrativ über den Verlust irgendeines goldenen Zeitalters bzw. über mehr oder weniger kontinuierliche Fortschritte nach irgend-

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Einführung: Die Krise des modernen Strafstaates 

einem transformativen Moment (die Veröffentlichung von Kants Rechtslehre? die Ratifizierung der Bill of Rights?) zu wiederholen, werden wir eine langfristige Betrachtung vornehmen und die langjährigen Spannungen zwischen fundamentalen Herrschaftsformen und Konzeptionen von (Straf-)Macht über Zeiträume und Ländergrenzen hinweg verfolgen, immer mit Blick auf das moderne liberale rechtlich-­politische Projekt und seine Wurzeln in der frühen Geschichte des westlichen rechtlich-politischen Denkens und Handelns.4

B. Staaten und Stadien der Verleugnung Eine breite vergleichend-historische Untersuchung der verschiedenen Antworten auf die Herausforderung des modernen liberalen Strafens offenbart ein systemisches Versagen. Es ist zunächst einmal systemisch, als es das liberale rechtlichpolitische Projekt als Ganzes umfasst. Die dazugehörenden Staaten unterscheiden sich in der Art und Weise, wie sie scheitern, und vielleicht auch wie sehr sie scheitern (obwohl dies meiner Meinung nach eine weniger interessante Frage ist, zumindest für die gegenwärtige Studie), aber nicht in der Frage, ob sie es versäumen, die Herausforderung der Strafmacht als schärfste Manifestation der Staatsmacht, die gegen die konstituierenden Personen ausgeübt wird, anzusprechen. Das Scheitern ist auch insofern systemisch, weil es jedem einzelnen lokalen Strafsystem insgesamt innewohnt: Zum einen umfasst das Scheitern jedes nationales Strafsystem als Ganzes (und nicht nur eine Phase oder einen Aspekt davon: Androhung, Anwendung, und Vollstreckung; materiell und prozessual) und zum anderen die sind die einzelnen Strafsysteme immer wieder, in einfallsreicher  – und gelegentlich ziemlich unterhaltsamer – Weise so angelegt, dass sie die Herausforderung liberaler Strafgewalt verbergen bzw. umgehen, statt sie anzugehen, geschweige denn zu lösen. Ein Großteil dieses Buches wird sich mit der Frage befassen, wie sich das Versäumnis, die Herausforderung des staatlichen Strafens in einer modernen liberalen Demokratie anzugehen, vergleichsweise (über die nationalen Rechtsordnungen hinweg) und historisch (innerhalb und über die nationalen Rechtsordnungen hinweg) manifestiert. Eine Rechtsordnung (hier: die Vereinigten Staaten) kann zwar generell die Herausforderung liberaler Staatsmacht – d. h. die Durchsetzung staatlicher Befugnisse in Anbetracht persönlicher Autonomie – anerkennen, nicht jedoch die spezifische und besonders deutliche Erscheinung dieser Herausforderung im Falle der Strafmacht des Staates berücksichtigen. 4

Vgl. Dubber, The Police Power: Patriarchy and the Foundations of American Government, 2005. Für einen Versuch, dieses Narrativ in einen breiteren methodologischen und historiografischen Kontext zu setzen, siehe Dubber, New Historical Jurisprudence: Legal History as Critical Analysis of Law, in: Critical Analysis of Law 2 (2015), S. 1; siehe auch Guldi / Armitage, The History Manifesto, 2014.

B. Staaten und Stadien der Verleugnung

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Eine andere Rechtsordnung (hier: Deutschland) mag hingegen die allgemeine und spezifische Herausforderung anerkennen, verwechselt dann im nächsten Schritt jedoch die Anerkennung der Herausforderung mit ihrer Lösung und kann sie auf diese Weise nicht bewältigen. Noch beunruhigender wäre es, wenn die ursprüngliche Formulierung der Herausforderung bei näherer Betrachtung bereits das Scheitern – und vielleicht die Unmöglichkeit – ihrer Lösung anzeigte. Die ursprüngliche Formulierung der Herausforderung könnte sich bestenfalls als unvollständig und im schlimmsten Fall sogar als inhaltsleer erweisen. (Wir werden uns besonders intensiv mit der Bedeutung des Begriffs der „Sklaverei-­ Strafe“ in grundlegenden Texten verschiedener Phasen des liberalen Strafprojekts befassen.)5 Wie unterschiedliche nationale Rechtsordnungen die Herausforderung der Strafmacht in einem liberal-demokratischen Staat formulieren (oder nicht), ist das eine. Wie sie versagen, es anzusprechen, ist das andere. Auf der systemischen Ebene mag man es versäumen anzuerkennen, dass die allgemeine Frage nach der liberalen Staatsmacht auch die Strafmacht des Staates umfasst, entweder kategorisch oder in Einzelfällen. Infolgedessen könnte man die Strafmacht des gesamten Staates außerhalb des Bereichs der der Legitimitätskon­ trolle unterliegenden Staatsmacht verorten (siehe die US-Konzeption der Strafmacht als Beispiel für die „Polizeimacht“ des Staates (police power), die im Folgenden ausführlich diskutiert werden soll).6 Die Objekte der Strafgewalt erscheinen mit anderen Worten gar nicht erst als Teil des liberalen rechtlich-politischen Projekts. Als bloße Objekte staatlicher Macht betrachtet, konnte ihre Strafbehandlung eine persönliche – subjektive – Autonomie nicht verletzen, die ihnen erst gar nicht zugesprochen wurde.7 In einer weniger ambitionierten Version dieser Konzeption der Strafmacht würden nur bestimmte Objekte der Strafmacht als außerhalb des rechtlich-poli­ tischen Projekts und damit außerhalb des Rahmens der Herausforderung liberaler Strafmacht behandelt. Inwieweit sich eine ambitioniertere von der weniger ambitionierten Version unterscheidet, ist abhängig von der Anzahl der strafrechtlichen Objekte, die sich entweder permanent oder vorübergehend außerhalb des liberalen Projekts befinden. Je nach Klassifizierungsschema können sich strafrechtliche Objekte sogar auf beiden Seiten der Linie befinden, sogar auf Grundlage derselben Handlung und vielleicht sogar zeitgleich (siehe die Unterscheidung zwischen 5

Siehe Kapitel 4, Abschnitt E. Siehe Kapitel 3–4. 7 Diese Art von Strafregime agiert also mit einer (widerlegbaren oder unwiderlegbaren) Vermutung von Objektheit – nicht zu verwechseln mit der Schuldvermutung, die stattdessen Schuldfähigkeit und damit Subjektheit unterstellt. Zur Unterscheidung zwischen dem „due process“ und dem „crime control“-Modell des Strafprozesses von Herbert Packer als Widerspiegelung des Unterschieds zwischen systemischer Unschuldsvermutung (presumption of innocence) und Schuldvermutung (presumption of guilt), siehe Kapitel 4, Abschnitt G. 6

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Einführung: Die Krise des modernen Strafstaates 

„Strafe“ und „Maßnahme“ im zweispurigen deutschen Sanktionensystem, die ebenfalls im Folgenden erläutert wird).8 Alternativ oder zugleich könnte man es versäumen, in der Ausübung der Strafmacht die Zufügung von Strafgewalt zu sehen. Demzufolge könnte man beispielsweise strafrechtliche Sanktionen nicht als „Strafe“ i. e. S. bezeichnen, sondern vielmehr als eine Art „Besserung“ (correction: Korrektur), „Reformierung“ vielleicht auch „Rehabilitation“ oder etwa allgemeiner als „Behandlung“, unbestimmter als „Maßnahmen“. Die Verwendung des Begriffs „Behandlung“ kann den Schmerz im Zusammenhang mit der Verhängung einer Strafsanktion verdecken und so die Notwendigkeit einer Legitimation von vornherein überflüssig machen. (Ironischerweise beschäftigt sich die „Straftheorie“ (punishment theory) in bestimmten Spielarten mit der Rechtfertigung der Strafe als „harte Behandlung“ (hard treatment), wobei die „Härte“ der „Behandlung“ vermutlich den eine Rechtfertigung überflüssig machenden Euphemismus der Formulierung abschwächen soll). Auch wenn das Etikett „Behandlung“ zumindest in einigen Fällen Raum für die Zufügung von (wenn auch nicht mehr physischen, dann vielleicht psychischen) Schmerzen ließe, so kann es doch die Verhängung einer Strafsanktion als gewalttätigen Akt ver­ decken; obgleich eine solche Behandlung „schmerzhaft“ ist, heißt dies nicht, dass die Verabreichung eines übelkeitserregenden Cocktails aus verschriebenen Medikamenten oder gar die Durchführung eines indizierten chirurgischen Eingriffs als „gewalttätig“ eingestuft werden würde. Die von Strafvollzugsexperten diagnostizierte „Behandlung“ einer Störung oder Anomalie – sagen wir „kriminelle Gefährlichkeit“ – würde also nicht einmal die Frage nach der Legitimität staatlicher Gewalt aufwerfen. Die Verabreichung einer „pönal-korrigierenden Behandlung“ (peno-correctional treatment) die von Anfang an – und wenn nur sub rosa – auch die weniger schmackhafte Alternative zur Rehabilitation, die Sicherung (Unschädlichmachung), beinhaltete, erscheint stattdessen als wohltätige und wohlwollende Ausübung ärztlicher Fachkompetenz.9 Es macht vorerst kaum einen Unterschied, ob die Herausforderung des Paradoxons der Strafe durch die Leugnung von Gewalt, von Schmerz oder der Not 8

Siehe Kapitel 2, Abschnitt C. 2. Diese Neuklassifizierung verlagert eigentlich nur den Schwerpunkt der Legitimation auf die strafrechtliche Einwilligung des „Patienten“ in seine „Behandlung“. Der springende Punkt ist, dass die Neueinstufung dazu diente, der Frage der Legitimation zu entgehen, und nicht, dass sie bei näherer – oder auch nur oberflächlicher – Betrachtung erfolgreich gewesen wäre, wenn sich jemand darum gekümmert hätte, eine solche durchzuführen. Man beachte, dass das Muster-Strafgesetzbuch des Model Penal Code (ein Paradebeispiel für ein kodifiziertes behandlungsorientiertes Strafregime) Verletzungen, die von Ärzten im Rahmen ihrer Behandlung am Patienten zugefügt werden, nicht unter der Überschrift der Einwilligung (§ 2.11 Model Penal Code) behandelt, sondern als ein Beispiel für die „Anwendung von Gewalt durch Personen mit besonderer Verantwortung für die Pflege, Disziplin oder Sicherheit anderer“ neben der Disziplinargewalt von Eltern, Lehrern, Kapitänen, Zugbegleitern und vor allem Gefängnisbeamten (§ 3.08 Model Penal Code); siehe § 3.08(4)(b) Model Penal Code (tatsächliche oder mutmaßliche Einwilligung erforderlich). 9

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wendigkeit einer Untersuchung der Legitimität aller verbleibenden wohlwollend verschriebenen und verabreichten positiven Schmerzen umgangen wird. Nicht einmal die Drohung oder Verhängung der Todesstrafe, wie sich herausstellt, hat ein unüberwindbares Hindernis für eine systemische Verschleierung dargestellt. Im Gegenteil, das amerikanische Regime der Todesstrafe an der Wende des 21. Jahrhunderts ist ein besonders eindeutiges und eindringliches Beispiel für das Versäumnis eines modernen liberalen Staats sich – mit Hilfe von diversen Ausweich- und Ablenkungsmanövern – der Herausforderung eines liberalen Strafens zu stellen. Man könnte damit beginnen, die Sanktion der Todesstrafe im Allgemeinen als eine – zugegebenermaßen – extreme Form von „pönal-korrigierender Behandlung“ anzusehen.10 Durch die Verabreichung eines tödlichen Drogen­cocktails, der laut Ronald Reagans unbedenklich sei, gerade weil er die verurteilte Person so schmerzlos tötet, wie der Tierarzt („human“) ein verletztes Pferd einschläfert, war man bemüht, ihre Verwaltung schmerzlos zu machen.11 Jedes anhaltende Unbehagen – egal wie unangebracht es sein möge–, das Individuen am tatsächlich tödlichen Ende des Hinrichtungsprozesses erleben mögen, könnte (wenn auch nur vorübergehend)12 auf verschiedene Weise abgelenkt werden. So könnte das Gewehr eines zufällig ausgewählten Mitglieds des Erschießungskommandos mit einer Platzpatrone geladen werden. Eine modernere Version dieser Methode könnte einen Computer so programmieren, dass er zufällig auswählt, welche von zwei Personen den Schalter umgelegt oder den Knopf gedrückt hat, der tatsächlich den Prozess der Verabreichung der tödlichen Injektion in Gang gesetzt hat.13 Das aufwendig choreographierte „Ausführungsprotokoll“ (execution protocol) am Ende des amerikanischen Todesstrafregimes ist eine skurriler und makabrer Versuch, die Gewalt auch aus dem am wenigsten vermeidbaren Anwendungsfall der extremsten Strafgewalt zu entfernen: ein Versuch, der so aufschlussreich ist, wie seine Zwecklosigkeit unvermeidbar ist.14 Tatsächlich erlaubt das amerikanische Regime der Todesstrafe, als Ganzes betrachtet, jedem Teilnehmer (vom Staats­ anwalt zur Jury zum Prozessrichter, zum Berufungsrichter zum bundesstaatlichen Habeas-Richter zum bundesstaatlichen Berufungsrichter zum Gefängnisleiter etc.) die wesentliche Strafhandlung oder Handlungen in beide Richtungen entlang des prozessualen Spektrums oder in beide Richtungen gleichzeitig (außer natürlich an jedem Ende des Prozesses) zu verschieben – wenn und soweit erforderlich, um zwischenmenschliche Empathie zu beseitigen, die für die Objekte staatlicher Strafmacht bestehen bleiben könnte, die systemisch aus dem gemeinsamen rechtlich-­ 10 Siehe Herbert Wechsler & Jerome Michael, A Rationale of the Law of Homicide (Parts I & II), in: Colum. L. Rev. 37 (1937), S. 701, 1261. 11 Siehe Markus D. Dubber, The Pain of Punishment, in: Buff. L. Rev. 44 (1996), S. 545. 12 Ari Berman, Werner Herzog Goes ‚Into the Abyss‘ of Capital Punishment, in: The Nation v. 11. Nov. 2011 (Interview mit Fred Allen, dem pensionierten Leiter des mobilen „Festnahmeteams“ im „Todeshaus“ des Gefängnisses in Huntsville, Texas). 13 Siehe Dubber, The Pain of Punishment (Fn. 11). 14 Siehe Stephen Trombley, The Execution Protocol, 1993.

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Einführung: Die Krise des modernen Strafstaates 

politischen Unterfangen entfernt worden waren und deren strafrechtliche „Behandlung“ jeglicher Konnotation von Strafgewalt entzogen worden ist.15 Die Konzentration auf den schärfsten Punkt des scharfen Endes des Stabs staatlicher Strafmacht, den Moment, absichtlich den Tod einer anderen Person als Strafe herbeizuführen, veranschaulicht auch eindrucksvoll den Unterschied zwischen der abstrakten Drohung mit Strafgewalt wegen der Verletzung einer materiellen Norm des Strafrechts und der Verhängung dieser drohenden Gewalt gegen eine bestimme Person, durch eine bestimmte Person, in einer bestimmten Weise, zu einem bestimmten Zeitpunkt, an einem bestimmten Ort. Die Legitimation der staatlichen Strafmacht erfordert die Legitimation beider Aspekte des staatlichen Strafsystems, der Norm und ihrer Anwendung, des materiellen und des prozessualen Strafrechts. Ob der Versuch, die Herausforderung der Strafmacht in einem liberalen Staat anzugehen, erfolgreicher sein wird als der Versuch, ihr zu entgehen, bleibt abzuwarten. Ein liberaler Staat kann sich aber vor diesem Versuch nicht verschließen, wenn er seiner angeblich existentiellen oder zumindest charakteristischen Verpflichtung, seine eigene Macht einer strengen und kontinuierlichen kritischen Legitimationsanalyse zu unterziehen, treu bleiben will – oder zumindest so betrachtet werden will. Das liberale Strafen, wie es sich in dem riesigen und komplexen Unternehmen der staatlichen Strafmacht in all seinen institutionellen, dogmatischen und konzeptionellen Aspekten manifestiert, von der Bedrohung über die Verhängung bis hin zur Vollstreckung von Strafgewalt, ist von einer Kultur der akritischen Selbstgefälligkeit durchdrungen. Die Legitimität des staatlichen Strafrechtssystems wird einfach nur angenommen, entweder weil es keiner Legitimation bedürfe oder weil seine Legitimität offensichtlich sei, oder weil seine Legitimität von jemandem irgendwo, irgendwann einmal festgestellt worden sei. Das staatliche Strafsystem reduziert sich auf diese Weise auf ein alltägliches System der (willkürlichen16) Durchsetzung, in dem die (bestenfalls) angemessene Anwendung etablierter Normen, deren Legitimität außer Frage steht, erfolgt. * * * Dieses Buch hat drei Teile. In Teil I werden wir einige der Wege untersuchen, auf denen die Herausforderung des Strafparadoxons in zeitgenössischen, demokratisch liberalen Staaten verschleiert und umgangen wurde. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf semantischen, taxonomischen oder formalistischen Ablenkungen und 15 Siehe allgemein Markus D. Dubber, The Sense of Justice: Empathy in Law and Punishment, 2006; siehe auch Robert Weisberg, Deregulating Death, in: Sup. Ct. Rev. 1983, S. 305. 16 Vgl. John Beattie, Crime and the Courts in England 1600–1800, 1986, S. 404 (zum englischen Strafprozess des 18. Jahrhunderts: „shot through with discretionary powers“) mit Kenneth Culp Davis, Administrative Law, 2. Aufl. 1979, S. 216 (zum amerikanischen Strafprozess der 1970er Jahre: „shot through with excessive and unnecessary discretionary power“ inklusive „the seemingly ever present discretionary power not to enforce“).

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Ableitungen, die in verschiedenen Aspekten der Struktur, Lehre und Theorie auftreten und den staatlichen Strafkomplex ausmachen, ergänzen und fördern. Einige dieser rhetorischen Mittel haben wir bereits in Aktion gesehen, wenn auch nur am Rande: die grundsätzliche Unterscheidung zwischen „Strafe“ und „Maßnahme“ (und anderen scheinbar nicht-punitiven, gewaltfreien oder schmerzfreien Klassifizierungen), die groß angelegte Tabuisierung der ersteren (z. B. im amerikanischen Musterstrafgesetzbuch des sog. Model Penal Code17) und die Verschmelzung beider zu einem zweispurigen System (z. B. im deutschen Strafgesetzbuch). Weitere Anwendungsbeispiele werden im Laufe dieses Buches auftauchen. Insbesondere erfolgt eine Darstellung von der Entstehung und sorgfältigen Beibehaltung ganzer dogmatischer Konstruktionen, die Legitimationsprobleme durch Etikettierung lösen, bis hin zur semantischen Ableitung legitimer Herausforderungen in Einzelfällen, in denen die Leugnung einer Ausübung von Strafmacht eine besondere, symbolische Bedeutung hat (z. B. durch Kennzeichnung von Unternehmenssanktionen als Nicht-Strafen). Unsere Beschäftigung mit den rhetorischen Schritten auf verschiedenen Abstraktions- und Differenzierungsebenen, die die moderne liberale Strafmacht von der fundamentalen, kontinuierlichen und umfassenden Überprüfung ihrer Legitimität in allen Aspekten isoliert haben, wird sich auf das deutsche Strafrecht konzentrieren, dem das in taxonomischer Hinsicht besonders einfallsreich und einflussreich gelungen ist. Das soll nicht heißen, dass das amerikanische Strafrecht dieser semantischen Vermeidungsstrategie abgeneigt war, sondern nur, dass es weniger produktiv war, diese Art von veränderbaren Linien in den dogmatischen Sand zu zeichnen. Das sollte nicht überraschen; es ist weniger notwendig, innere taxonomische Mauern in einem System zu errichten, das eine grundlegende Unterscheidung zwischen Straftätern und den Subjekt-Objekten der liberalen Selbstverwaltung traf, indem es die Objekte der strafrechtlichen Macht insgesamt aus dem legitimatorischen Projekt entfernte und damit sich die Notwendigkeit einer weniger dramatischen Unterscheidung innerhalb dieses Projekts ersparte. In Teil II werden wir uns dann mit der Frage befassen, wie wir die existenzielle, systemische Herausforderung der Strafgewalt in einem modernen, demokratisch liberalen Staat formulieren und bewältigen können. Die Analyse des doppelten Strafstaates betrachtet die Strafgewalt aus parallelen Perspektiven, die zwei Formen staatlicher Herrschaftsmechanismen entsprechen, Recht und Polizei, die für den Rechtsstaat bzw. den Polizeistaat charakteristisch sind. Die vergleichend-­ historische Analyse spielt in diesem Projekt eine Schlüsselrolle, sowohl bei der Konstruktion und Genealogie des doppelten Strafstaats als auch bei seiner Anwendung auf verschiedene Aspekte des Strafens in verschiedenen Rechtsordnungen; 17

Zum einflussreichen Model Penal Code des American Law Institute von 1962 siehe ­ arkus D. Dubber, Einführung in das US-amerikanische Strafrecht, 2005; Richard Martin M Honig, Entwurf eines amerikanischen Musterstrafgesetzbuches, 1965 (Sammlung ausserdeutscher Strafgesetzbücher in deutscher Übersetzung, Bd. 86).

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Einführung: Die Krise des modernen Strafstaates 

der Umfang der Untersuchung ist nicht jurisdiktionsspezifisch, sondern systemisch und liegt auf der Ebene des gemeinschaftlichen rechtlich-politischen Projekts der modernen demokratischen Staaten. Die Konzeption des doppelten Strafstaates und die Unterscheidung zwischen Recht und Polizei als zwei Formen der staatlichen Herrschaft im Allgemeinen, stehen im Zusammenhang mit dem historischen Ursprung dieses Projekts an der Wende des 19. Jahrhunderts. Die Untersuchung der Strafmacht ist daher insbesondere eine Untersuchung der modernen Strafmacht im Einklang mit der Verfolgung des Ideals des liberalen Rechts, dem sich Staaten verschrieben haben, die sich als Teilnehmer an dem modernen rechtlich-poli­tischen Projekt betrachten – oder von anderen als solche angesehen werden wollen. Der Zweck einer vergleichend-historischen Analyse des doppelten Strafstaates besteht nicht nur darin, bestimmte Merkmale einer bestimmten Rechtsordnung bzw. mehrerer Rechtsordnungen zu untersuchen oder zu beurteilen, und infolgedessen inwieweit diese Rechtsordnungen ihrerseits die gemeinsame Idee des liberalen Rechts umgesetzt habe, sondern letztlich auch darin, das definierte Ideal selbstkritisch zu beurteilen. In Teil III wenden wir diesen dualistischen Ansatz bei der Arbeit an einer Genealogie des amerikanischen Strafens an, die als eine Reihe von Versäumnissen beschrieben wird, das strafrechtliche Paradoxon des liberalen Staates zu umreißen, geschweige denn es anzugehen oder sogar zu lösen (was auch immer das bedeuten mag), beginnend mit der ersten und besten Gelegenheit, die Strafmacht des Staates durch Recht grundlegend zu überdenken: Thomas Jeffersons Bemühungen um eine Kodifizierung des Strafrechts in seinem Gesetzentwurf „Virginia Bill for Proportioning Crimes and Punishments in Cases Heretofore Capital“ (1779). Zum Schluss werfen wir einen vergleichenden Blick auf die Genealogie des modernen deutschen Strafens, ausgehend von der etwa zeitgleichen Erkenntnis, das Strafen in einem Staat, der der neuen liberalen Idee des Rechts verpflichtet ist, neu konzipieren zu müssen. Diese Anerkennung ist längst der selbstgefälligen Überzeugung gewichen, dass das Strafparadoxon in Deutschland zu dieser Zeit ein für alle Mal aufgelöst wurde. Auf diese Weise vermischte man Formulierung mit Lösung, Theorie mit Praxis und Anspruch mit Umsetzung, was dazu führte, dass die Herausforderung, Strafgewalt in einem liberalen Staat zu legitimieren, von einer kontinuierlichen Anforderung (zur kritischen Überprüfung auf systemischer und individueller Ebene) zu einem historischen Kuriosum reduziert wurde.

Teil I

Die Strafrechtswissenschaft und ihre Ablenkungen

Kapitel 1

Engagierte Forschung: Strafrecht und die Legitimation der Strafmacht Nachdem wir in der Einleitung einen ersten Versuch unternommen haben, die Herausforderung der Legitimation der Strafmacht des Staates in einer modernen liberalen Demokratie zu formulieren  – oder zumindest zu problematisieren  –, prüfen wir im nächsten Schritt, wie auf diese gewaltige Herausforderung reagiert werden kann.1 Besondere Aufmerksamkeit widmen wir der Frage, wie die Strafrechtsforschung versucht hat, das Strafparadoxon eines liberalen Staates zu lösen – oder auch nicht. Vor allem soll der Fokus auf der deutschen Strafrechtsforschung liegen, die von vielen (nicht nur in Deutschland)  als das fortgeschrittenste und anspruchsvollste Projekt der Strafrechtsforschung des letzten Jahrhunderts angesehen wird. Hierzu sind insbesondere eine Reihe von Konstruktionen (bzw. „Entdeckungen“), die als die wichtigsten Errungenschaften dieses Projekts angesehen werden, zu untersuchen. Auf den Punkt gebracht – um denen, die wenig Geduld für gelegentliche Abstiege in die Tiefen eines Strafrechtssystems haben, das von Generationen von Wissenschaftlern und ihren Schülern akribisch aufgebaut und gepflegt wurde, die Möglichkeit zu geben, direkt zu Teil II überzugehen – das nicht so erstaunliche Fazit wird sein, dass die deutsche Strafrechtsforschung nicht das Modell einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Strafrecht in einem modernen liberalen demokratischen Staat ist, das sich rechtsvergleichend hoffnungsvolle (nicht nur angloamerikanische) Strafrechtswissenschaftler, die der Kleingeistigkeit ihrer eigenen Strafrechtsforschung entgehen wollen, wünschen könnten. Das soll nicht heißen dass die deutsche Strafrechtsforschung nicht gut gerüstet wäre, um wichtige Beiträge zum multilateralen transnationalen Austausch zu leisten, der notwendig wäre, um der komplexen Herausforderung zu begegnen, das liberale Strafen als Recht auf der geeigneten, systemischen Forschungsebene zu legitimieren: nicht als Modell, nicht einmal „primus inter pares“, sondern als ein Teilnehmer unter anderen an einem gemeinsamen modern-liberalen rechtlich-politischen Projekt.2 1 Wir werden in Teil II einen zweiten Versuch unternehmen, in dem wir die Herausforderung in Bezug auf die Unterscheidung zwischen Recht und Polizei als grundlegende Formen der Herrschaft formulieren. 2 So etwas wie eine einzige monolithische Einheit namens „Deutsche Strafrechtswissenschaft“ gibt es nicht. Es gab und gibt zu jeder Zeit konkurrierende Versionen vieler (vielleicht der meisten?) Bestandteile des Projekts der deutschen Strafrechtswissenschaft (sorgfältig nach ihrem relativen Einfluss kategorisiert), von denen wir einige erwähnen werden, auch wenn

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Kap. 1: Engagierte Forschung 

Teil I kann trotz seiner Beschränkung auf das deutsche Strafrecht auch für die Leser von Interesse sein, die sich wenig für das deutsche Strafrecht im Besonderen oder gar für die Strafrechtsvergleichung im Allgemeinen interessieren, da die von uns untersuchten rhetorischen Manöver nicht nur im deutschen Strafrecht zu finden sind. Generationen deutscher Strafrechtsprofessoren mögen zielstrebig solchen Verschleierungstaktiken wie Taxonomismus, Etikettismus und Sloganismus verpflichtet und besonders produktiv bei der Entwicklung von Lehrmethoden, die für diese ablenkenden Aufgaben optimiert wurden, gewesen sein, aber sie waren sicherlich nicht allein (wie wir sehen werden, wenn wir gelegentlich vergleichende Blicke auf angloamerikanische Techniken werfen). Auch der Positivismus ist keine allein deutsche Grundhaltung im Strafrecht oder anderen Rechtsgebieten – selbst wenn dieser eine weitaus zentralere und insbesondere entlastende Rolle in der deutschen als in der angloamerikanischen juristischen Zeitgeschichte gespielt hat.3 Die etatistische Ader in der deutschen Strafrechtsforschung und ihre schwindende, aber immer noch resonante Vorliebe für Ontologisierung mögen ausgeprägter sein als anderswo; aber das Ziel ist es nicht, eine abschließende Liste der Besonderheiten des deutschen Strafrechts zusammenzustellen, sondern lediglich seinen potenziellen Beitrag zum Projekt der Formulierung und Bewältigung der Legitimationsfrage des gesamten liberalen Strafrechts zu ermitteln. Erörterungen über methodologische Fragen der Forschungsarbeit laufen immer Gefahr, sich zu ernst zu nehmen und sich dann als traurige Nabelschauen zu entpuppen; noch schlimmer, Studien über engagierte Forschung beweisen oft ihre eigene Nutzlosigkeit. Es hilft daher, die eingeschränkte Rolle zu berücksichtigen, die Forscher im Allgemeinen und Strafrechtsprofessoren im Besonderen in genau der Gesellschaft spielen, die Gegenstand unserer Untersuchung ist: Die moderne liberale Demokratie, in der „Experten“ im Vergleich zu allen anderen Bürgern nicht ein Mehr an Legitimation haben, sich an der öffentlichen Debatte über grund­ wir uns auf die „herrschenden“ Versionen konzentrieren werden. Auch diese herrschenden Versionen unterscheiden sich im Laufe der Zeit; das eindimensionale Narrativ der deutschen Strafrechtswissenschaft ist die schlichte Abfolge herrschender Versionen verschiedener systemischer Komponenten, die sich im Laufe der Zeit zur wissenschaftlichen Wahrheit hin entwickeln. Noch grundlegender ist, dass es in der Geschichte der deutschen Strafrechtswissenschaft immer auch kritische Interventionen gegeben hat, die von alternativen Visionen des Projekts einer Strafrechtswissenschaft angetrieben wurden. (Neuerliche Beispiele, mit völlig unterschiedlichen Perspektiven: Wolfgang Naucke, Über die Zerbrechlichkeit des rechtsstaatlichen Strafrechts: Materialien zur neueren Strafrechtsgeschichte, 2000; Bernd ­Schünemann, Strafrechtsdogmatik als Wissenschaft, in: Bernd Schünemann u. a. (Hrsg.), Festschrift für Claus Roxin zum 70. Geburtstag am 15. Mai 2001, 2001, S. 1 ff.; Klaus Günther, Schuld und kommunikative Freiheit: Studien zur individuellen Zurechnung strafbaren Unrechts im demokratischen Rechtsstaat, 2005; Günther Jakobs, Zur Theorie des Feindstrafrechts, in: ­Henning Rosenau / Sanyun Kim [Hrsg.], Straftheorie und Strafgerechtigkeit, 2010, S. 167 ff.) Diese Interventionen – nicht als Ausnahmen, sondern als Alternativen interpretiert – eröffnen die Möglichkeit eines parallelen, kritischen Narrativs  – oder auch mehrfache Narrative!  – des deutschen Strafrechts und seiner Erforschung. 3 Vgl. Ingo Müller, Hitler’s Justice: The Courts of the Third Reich, 1992, mit Robert M. Cover, Justice Accused: Antislavery and the Judicial Process, 1984.

Kap. 1: Engagierte Forschung 

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legende rechtlich-politische Fragen wie die Konzeption und Ausgestaltung der Strafmacht des Staates zu beteiligen.4 Aber auch nicht ein Weniger. Letztendlich richtet sich der Erfolg des liberalen Projekts im Allgemeinen und des liberalen Strafprojekts im Besonderen nicht nach der Festlegung einiger Verhaltensnormen, egal wie spezifisch oder allgemein, kohärent, konsistent, umfassend oder systematisch diese sein mögen. Vielmehr führen die Fähigkeit und die Bereitschaft von staatlichen Entscheidungsträgern, „ihr“ unvermeidliches und notwendiges Ermessen unter einem ständigen selbstkritischen Blickwinkel auszuüben, zum Erfolg. Indem es beispielsweise bei der Bewegung „Black Lives Matter“ in den USA heute (auch) um den Einsatz exzessiver Polizeigewalt geht, wird diese nur dann erfolgreich sein, wenn das Leben schwarzer Menschen für die Polizisten, die sich – ob selbst verursacht oder nicht, ob allein oder nicht, ob sie von Body Cams aufgenommen wurden oder nicht – in einer die Ausübung eines Ermessensspielraums notwendigen konkreten Situation befinden, tatsächlich von Bedeutung ist. Ist dies der Fall, so stellt sich im nächsten Schritt die Frage, wie sie mit der überwältigenden und beängstigenden Macht über Leben und Tod umgehen, die von liberalen Staaten des 20. Jahrhunderts in die Hände eines zunehmend militarisierten, bewaffneten und hyper-maskulinisierten Polizeiapparates übergeben wurden, angefangen von Bundespolizeibehörden über die örtlichen Polizeidienststellen bis hin zum Sicherheitspersonal amerikanischer Universitäten (die heute eine halbautomatische 9mm-Pistole zusammen mit einem Satz von Generalschlüsseln für Studierende bei sich tragen mögen, die sich aus ihren Wohnheimzimmern ausgesperrt haben). Dennoch haben diejenigen, die außerhalb des alltäglichen Betriebs der Maschinerie der staatlichen Strafmacht stehen (was der U. S. Supreme Court gerne „the often competitive enterprise of ferreting out crime“ nennt), auch eine Rolle zu spielen, wenn es darum geht, eine kritische Analyse staatlicher Macht im Allgemeinen und der staatlichen Strafgewalt im Besonderen zu formulieren, zu verlangen, zu ergänzen und zu schärfen. Laien, wenn auch nur episodisch und bestenfalls symbolisch (im schlimmsten Fall apologetisch), können diese externe kritische Funktion wahrnehmen und in Einzelfällen (oder in Deutschland über eine Reihe von Fällen während ihrer Amtszeit) direkt oder indirekt die Funktionsweise der Strafjustiz beeinflussen. Mit Blick auf die umfangreichen und vielfältigen Ermessensspielräume professioneller Systemteilnehmer kann im Idealfall ein lebhafter und gut informierter öffentlicher Diskurs einen ständigen Hintergrund der kritischen Wachsamkeit außerhalb der Reichweite der Beteiligung von Laien bieten – sei es privat oder öffentlich, in Gassen und Gängen, in Verhörräumen und bei Staatsanwaltschaften, in Gefängniszellen und Beratungszimmern. Tatsächlich trifft diese systemexterne Kritikfunktion allerdings auf Bedingungen nahezu völliger Intransparenz bei gleichzeitiger fast absoluter Ohnmacht, unterbrochen durch gelegentliche und begrenzte Momente der „Beratung“ in „Gemeindeversammlungen“, 4 Siehe Markus D. Dubber, Die Anspruchslosigkeit des awissenschaftlichen Strafrechts, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 121 (2009), S. 977.

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Kap. 1: Engagierte Forschung 

oder auch direkter, aber diffuser bei Wahlen (von einigen, wenigen öffentlichen Bediensteten, zumindest in den USA). Forscher und insbesondere Universitätsprofessoren sind als speziell privilegierte Mitglieder der Öffentlichkeit mit der erforderlichen Ausbildung, den erforder­ lichen Ressourcen und der notwendigen Freiheit in einer einzigartigen Position, um einen wesentlichen Beitrag zur kritischen Analyse der Ausübung staatlicher Gewalt, insbesondere der staatlichen Strafgewalt, zu leisten. Es geht hier um nichts anderes als die Neukonzeption einer engagierten gesamten Strafrechtsforschung – einschließlich der Strafrechtsdogmatik – als Schlüsselkomponente eines gemeinsamen transnationalen, systemischen Projekts der juristischen Forschung in modernen liberalen Demokratien. In der angloamerikanischen Wissenschaft zur „Straftheorie“ gibt es vielversprechende Anzeichen für eine Bewegung in diese Richtung. Es wird hier seit kurzem häufiger daran erinnert, dass Strafe eine staatliche Angelegenheit ist und als solche, und nicht bloß als angewandte Moralphilosophie, gewinnbringend „theoretisiert“ werden könnte. Aber darauf hinzuweisen, dass die politische und rechtliche Theorie etwas Geeignetes über die schärfste Nutzung staatlicher Macht im Namen des Rechts zu sagen haben könnte, ist die eine Sache. Es ist eine andere, eine Theorie des staatlichen Strafens dann auch durch Recht auf der Grundlage einer Reihe von Überlegungen nicht nur über staatliche Macht, sondern auch über das Recht zu entwickeln. George Fletcher begann sein Buch „Rethinking Criminal Law“ aus dem Jahr 1978 mit der Ankündigung, dass das „Strafrecht eine Form der politischen und moralischen Philosophie“5 sei und stellte die seines Erachtens „zentrale Frage“ des Strafrechts: Wie die „Ausübung der staatlichen Gewaltmacht gegen freie und autonome Personen“ zu rechtfertigen ist.6 Trotz dieses vielversprechenden Eröffnungscredos eines Buches, das allgemein als Meilenstein in der Entwicklung der (anglo-) amerikanischen Strafrechtstheorie und Strafrechtsvergleichung angesehen wird, verblieb die angloamerikanische Strafrechtsforschung weitgehend auf vertrauten Wegen der oben erwähnten „Straftheorie“ als angewandter Moralphilosophie und beschäftigte sich darüber hinaus mit der Erforschung verschiedener „allgemeiner Grundsätze des Strafrechts“. Dieses Vorhaben, nennen wir es „Strafrechtstheorie“, würde zum Beispiel verschiedene Konzepte von „mens rea“7 vorschlagen und untersuchen. Dieses Projekt hielt sich weitgehend von einer detaillierten Auseinandersetzung mit der Strafrechtsdogmatik und -rechtsprechung fern, zum einen um seine Berechtigung als „Theorie“ zu untermauern und zum anderen um seine Missbilligung der Gerichte – einschließlich des U. S. Supreme Court – wegen ihres mangelnden Interesses an der Anerkennung besagter theoretisch abgeleiteter Straf 5

George P. Fletcher, Rethinking Criminal Law, 1978, S. xix. Ebd. 7 S. Markus D. Dubber / Tatjana Hörnle, Criminal Law: A Comparative Approach, 2014, S. 223 ff.; Markus D. Dubber, Einführung in das US-amerikanische Strafrecht, 2005, S. 51 ff. 6

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rechtsgrundsätze und des traurigen Zustands des angloamerikanischen Strafrechts insgesamt zum Ausdruck zu bringen. „Rethinking Criminal Law“ selbst folgte seinem eigenen Credo nicht. Stattdessen trug es hauptsächlich zum Projekt „Strafrechtstheorie“ bei. Allerdings mit zwei wesentlichen Ergänzungen: durch die Einnahme einer vergleichenden und, weniger einflussreich, einer historischen Perspektive. Im ersten Teil gab Fletcher einen historischen Überblick über die Entwicklungen in der englischen Rechtsdogmatik, wie sie im Richterrecht bei Diebstahl und Tötungsdelikten belegt sind. Im Rest des Buches präsentierte er eine lebhafte Diskussion über die sogenannte strafrechtlichen Prinzipien aus verschiedenen vergleichenden Perspektiven, insbesondere anhand der deutschen Strafrechtsdoktrin, die – anders als die angloamerikanische Rechtsprechung – eine ganze Reihe von fundamentalen Prinzipien entdeckt zu haben schien. Dies war eindeutig eine andere, theoretisch ambitionierte Sichtweise auf die vertrauten Themen, die die angloamerikanische Strafrechtsliteratur seit einiger Zeit beschäftigt hatten. Aber das Buch schaffte es nicht – oder versuchte es nicht einmal ernsthaft – „politische“ Perspektiven in das Gespräch einzubringen, das in seinen Spuren „Straftheorie“ und „Strafrechtstheorie“ stecken blieb. Die „zentrale Frage“ seiner Einführung, nach der „Rechtfertigung der Ausübung der staatlichen Gewaltmacht gegen freie und autonome Personen“, blieb offen. Fletchers Ausflug in die historische Analyse des englischen Richterrechts als „Metamorphose“ von einem „Muster der Kriminalität“ („manifest“) zum Anderen („subjective“), so stimulierend sie auch sein mag, hatte wenig Einfluss auf die angloamerikanische Strafrechtsforschung. Das gleiche Schicksal, das einige Jahrzehnte zuvor auch Jerome Halls historischer Erkundung der Diebstahlsdogmatik beschieden war.8 (Ironischerweise erregte Fletchers Darstellung allerdings die Aufmerksamkeit des höchsten Gerichts des Staates New York, das sie in einer führenden Entscheidung zur Auslegung des Diebstahlparagraphen des New Yorker Strafgesetzbuchs zitierte.9) 8 Jerome Hall, Theft, Law and Society, 1935. Zu dieser Zeit löste Fletchers Abhandlung über „die Metamorphose des Diebstahls“ eine äußerst kritische Reaktion aus, die in keinem Verhältnis zu seinen eher bescheidenen Ambitionen zu stehen schien. Lloyd L. Weinreb, Manifest Criminality, Criminal Intent, and the „Metamorphosis of Larceny“, Yale L. J. 90 (1980), S. 294. Jüngst zeigten einige Strafrechtsforscher erneutes Interesse an Fletchers historischem Beitrag. Siehe z. B. Nicola Lacey, In Search of Criminal Responsibility: Ideas, Interests, and Institutions, 2016; Lindsay Farmer, Making the Modern Criminal Law: Criminalization and Civil Order, 2016; Guyora Binder, Felony Murder, 2012; siehe auch Stuart P. Green, Thirteen Ways to Steal a Bicycle: Theft Law in the Information Age, 2012. 9 People v. Olivo, 52 N. Y.2d 309 (1981). Fletchers Unterscheidung zwischen manifester und subjektiver Kriminalität könnte durchaus eine umfassende dualistische Analyse begründen, obwohl sie ursprünglich entwickelt wurde, um einen paradigmatischen Wechsel der Kriminalitätsart in der Geschichte des Rechts des Diebstahls zu erfassen. Siehe George P. Fletcher, The Metamorphosis of larceny, in: Harv. L. Rev. 89 (1976), S. 469. Tatsächlich könnte sich Fletchers Unterscheidung dann bei näherer Betrachtung als Ausdruck der umfassenden Unterscheidung zwischen Polizei und Recht erweisen, wobei das Auftreten subjektiver Kriminalität das Erscheinen des Ideals des modernen Rechts im strafrechtlichen Kontext widerspiegelt.

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Kap. 1: Engagierte Forschung 

Die vergleichende Analyse war für Fletchers Projekt zentraler als der historische Ansatz und hatte einen größeren Einfluss auf die angloamerikanische Strafrechtsforschung. Sie fügte verlockende Bezüge zur deutschen Strafrechtsdogmatik und -forschung hinzu und spiegelte den selbstbewussten normativen Ansatz und Stil einer Tradition wider, die in ihren erforschten, ja „wissenschaftlichen“ Leistungen gesichert ist. Sie erweiterte auch den Anwendungsbereich der „Strafrechtstheorie“ über die Erforschung von mens rea hinaus auf Überlegungen zu Themen wie der Unterscheidung zwischen Rechtfertigung und Entschuldigung im Rahmen der Analyse der Strafbarkeit (eine „Entdeckung“, die in der Regel als eine der wichtigsten Errungenschaften der deutschen Strafrechtswissenschaft10 gefeiert wird – und schnell zum Dauerbrenner der Strafrechtsvergleichung avancierte) und, weniger zentral, zwischen dem „allgemeinen Teil“ (zur Festlegung allgemein anwendbarer Grundsätze der Strafbarkeit, wie etwa mens rea) und dem „besonderen Teil“ des Strafrechts (zur Definition von Straftaten, wie zum Beispiel die Tötungsdelikte). Die Aufnahme einer vergleichenden Note in die altbekannte Diskussion über die „Strafrechtstheorie“ hat sich jedoch mehr suggestiv als ertragreich erwiesen. Fletchers Buch mag den Appetit von (einigen) angloamerikanischen Strafrechtsforschern auf die Errungenschaften des deutschen Strafrechts und der Strafrechtsforschung geweckt haben. Die Umsetzung dieser Leistungen, ob real oder imaginär, lässt allerdings angesichts der unausweichlichen (sprachlichen sowie kulturellen und stilistischen) Schwierigkeiten des kritischen Umgangs mit ihnen immer noch auf sich warten. Abgesehen von der Aufnahme neuer Themen für die theoretische Reflexion (z. B. die Unterscheidungen zwischen Rechtfertigung und Entschuldigung sowie zwischen dem allgemeinen und besonderen Teil) ist das Versprechen der deutschen Strafrechtsdogmatik und -forschung weitgehend unerfüllt geblieben, da die erhofften deutschen Lösungen (oder zumindest taxonomischen Ansätze) für knifflige dogmatische oder theoretische Probleme (von legitimatorischen ganz zu schweigen) ausblieben. Beispiele sind das Rechtsgutsprinzip (als vermeintlich überlegene Alternative zum vielfach geschmähten „harm principle“ oder Schadensprinzip), die bereits erwähnte Theorie der positiven Generalprävention (als neuer Eintrag in die bereits lange – und wohlbekannte – Liste der „Straftheorien“), der Taxonomismus der abstrakten, konkreten und „abstrakt-konkreten“ Gefährdungsdelikte (als Mittel zur Organisation von Formen der Vorfeldstrafbarkeit), die Lehre vom dolus eventualis (als Mittel der Umgestaltung, oder zumindest der Umbenennung, aber sicherlich nicht zur Klärung der leidigen Debatte über „mens rea“), und einen weiteren biegsamen Begriff der Teilnehmerstrafbarkeit (als Mittel der Taxonomisierung – und ganz nebenbei der Ausweitung – der Teilnehmerstrafbarkeit, insbesondere im internationalen Strafrecht). 10

Wenn nicht gar in allen Bereichen des modernen Denkens überhaupt. Vgl. Enrique Gimber­ nat Ordeig, Sind die bisherigen dogmatischen Grunderfordernisse eines Allgemeinen Teils geeignet, dem heutigen Stand der Kriminalität, der Strafzumessung und des Sanktionensystems zu genügen, in: Hans-Joachim Hirsch (Hrsg.), Krise des Strafrechts und der Kriminalwissen­ schaften?, 2001, S. 152, 165 („eine der großen Errungenschaften der Geisteswissenschaften“).

A. Einseitige Strafrechtsvergleichung

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Diese vergleichende Wissbegier ist auch in einem anderen, problematischeren Sinne begrenzt: Sie deutet nur in eine Richtung, wobei angloamerikanische Wissenschaftler auf Antworten oder zumindest Erkenntnisse aus dem deutschen Strafrecht und der Forschung hoffen, nicht umgekehrt.11 Der Gedanke, dass deutsche Strafrechtler aus irgendeinem Grund ihre Aufmerksamkeit auf das angloamerikanische Strafrecht richten, ist absurd, außer vielleicht für die Verwendung als beunruhigend wirkliche Dystopie, ein glücklicherweise weit entferntes, wissenschaftliches, dogmatisches und politisches Gräuel.12 Gelegentliche Ausflüge in die vergleichende Analyse haben bisher zu keiner signifikanten Veränderung geführt, ganz zu schweigen von einem erheblichen Fortschritt (wie auch immer er gemessen werden mag) in der angloamerikanischen „Straftheorie“ oder „Strafrechtstheorie“. Der deutlichste Einfluss könnte taxonomisch oder, um es freundlicher auszudrücken, analytisch sein: Im Vergleich zu den letzten 50 Jahren sind angloamerikanische Strafrechtsforscher (und in weitaus geringerem Maße Gerichte und andere Produzenten von Strafrechtslehre, statt von „Theorie“) heute wesentlich geneigter, sich auf die Unterscheidung zwischen Rechtfertigung und Entschuldigung (und zwischen einem allgemeinen und einem besonderen Teil) zu berufen – vielleicht sogar zum Teil aufgrund vergleichender Blicke in Richtung des deutschen Strafrechts.

A. Einseitige Strafrechtsvergleichung: Die parochiale Universalität der Strafrechtswissenschaft Die Gründe, warum das deutsche Strafrecht trotz Fletchers (und anderer) Bemühungen um eine wohlwollende vergleichende Einführung einen bestenfalls taxonomischen Einfluss auf die traditionelle angloamerikanische „Strafrechttheorie“ und 11

Gelegentlich warnen deutsche Strafrechtswissenschaftler vor den Gefahren der provinziellen Isolierung, einschließlich eines Verlusts des globalen Einflusses. Siehe z. B. Kai Ambos, Zur Zukunft der deutschen Strafrechtswissenschaft: Offenheit und diskursive Methodik statt selbstbewusster Provinzialität, in: Goltdammer’s Archiv für Strafrecht 163 (2016), S. 177. 12 Das heißt nicht, dass das deutsche Strafrecht keine lange rechtsvergleichende Tradition hat. So ist es z. B. seit langem üblich, internationale dogmatische Untersuchungen zur Vorbereitung großer Strafrechtsreformprojekte und in Einzelfällen sogar zur Unterstützung des Bundesverfassungsgerichts durchzuführen (siehe z. B. das wichtige Inzesturteil des BVerfG, BVerfGE 120, 224 (2008), das die vom Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht zusammengestellte internationale Erhebung in der Mehrheitsmeinung und in der abweichenden Meinung zitiert). Diese deskriptiven Erhebungen bieten eine kaleidoskopische Betrachtung des „ausländischen“ Strafrechts als eine Art Panoramakulisse für die Leistungsfähigkeit der deutschen Strafrechtswissenschaft. Siehe allgemein Markus D. Dubber, Strafrechtsvergleichung, in: Mathias Reimann / Reinhard Zimmermann (Hrsg.), The Oxford Handbook of Comparative Law, 2006, S. 1287. Für eine interessante Episode weniger einseitiger vergleichender Beschäftigung siehe den kurzen Höhepunkt strafrechtsvergleichender Wissbegierde in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg unter angloamerikanischer Besatzung (und Gerichtsbarkeit). Siehe z. B. Adolf Schönke, Materialien zum englisch-amerikanischen Strafrecht, 1948.

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Kap. 1: Engagierte Forschung 

„Straftheorie“ ausgeübt hat, gehen über die offensichtlichen sprachlichen Hürden hinaus. Jedenfalls sind sie auf bestimmte Merkmale des Instituts des deutschen Strafrechts und insbesondere der deutschen Strafrechtsforschung – oder der „deutschen Strafrechtswissenschaft“ – zurückzuführen. Es lohnt sich, diese Merkmale besser zu verstehen, um das Versprechen des deutschen Strafrechts nicht nur für das angloamerikanische Strafrecht besser zu beurteilen, sondern auch – was viel wichtiger ist – für das transnationale Projekt, das dieses Buch antreibt (und übrigens auch das Projekt, das Fletcher in der Einführung zu „Rethinking Criminal Law“ angekündigt hat, aber dann nicht weiterverfolgt hat): die kritische Analyse der Legitimität der staatlichen Strafmacht in einem liberalen demokratischen Staat. Eine vergleichende Analyse des deutschen Strafrechts wird kaum vorgefertigte Antworten auf die grundsätzliche Herausforderung des liberalen Strafens finden, da sich das deutsche Strafrecht insgesamt nicht mit grundlegenden Fragen der Legitimität der staatlichen Strafmacht befasst. Vielmehr widmet sich das deutsche Strafrecht seit einiger Zeit vorwiegend der dogmatischen Analyse, und insbesondere einem sehr formalistischen taxonomischen Stil dogmatischer Analyse. Dieses Projekt versteht sich als eingebettet in einer einzigartig differenzierten wissenschaftlichen Untersuchung von fortgeschrittenen und detaillierten Fragen, die angemessen sind für ein Jahrhunderte langes institutionelles und kommunales Programm staatlich geförderter wissenschaftlicher Forschung und Entdeckung, das mindestens bis zur Wende des 19. Jahrhunderts zurückreicht (d. h., im Moment der Aufklärung und dem Ursprung des Projekts des modernen Rechts, sowie – nicht zufälligerweise – der modernen Universität).13 Die Idee einer Rechtswissenschaft ist für das Vorhaben des deutschen Rechts im Allgemeinen und des deutschen Strafrechts im Besonderen von zentraler Bedeutung. Hier ist nicht der richtige Ort, um eine kritische Analyse des deutschen Begriffs der modernen Rechtswissenschaft vorzunehmen. Eine (sehr) kurze Übersicht wird ausreichen.14 (Ich lasse die Möglichkeit einer selbstkritischen und kontextabhängigen Konzeption der Rechtswissenschaft außer Acht.15)

13

Wie die Insellage der deutschen Strafrechtsforschung zieht auch ihre Fokussierung auf ein hermetisch abgeschlossenes doktrinäres System bei Vernachlässigung von Grundsatz­fragen gelegentlich Kritik unter deutschen Forschern auf sich. Diese Kritik kann auch in pädago­ gischer Hinsicht geäußert werden, als ein Beharren auf der Bedeutung von „Nebenfächern“ wie Geschichte, Philosophie und Kriminologie in der Juristenausbildung. 14 Siehe auch Markus D. Dubber, The Promise of German Criminal Law: A Science of Crime and Punishment, in: German L. J. 6 (2005), S. 1049; Dubber, Die Anspruchslosigkeit des awissenschaftlichen Strafrechts (Fn. 4); vgl. Michael Pawlik, Strafrechtswissenschaftstheorie, in: Michael Pawlik / Rainer Zaczyk (Hrsg.), Festschrift Günther Jakobs, 2007, S. 469; Günther Jakobs, Strafrecht als wissenschaftliche Disziplin, in: Christoph Engel & Wolfgang Schön (Hrsg.), Das Proprium der Rechtswissenschaft, 2007, S. 103. 15 Siehe Markus D. Dubber, Legal History as Legal Scholarship: Doctrinalism, Interdisciplinarity, and Critical Analysis of Law, in: Markus D. Dubber / Christopher Tomlins (Hrsg.), The Oxford Handbook of Legal History, 2018, S. 99.

A. Einseitige Strafrechtsvergleichung

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Die moderne (deutsche) Rechtswissenschaft beginnt mit Friedrich von Savigny und dem Anfang der historischen Jurisprudenz an der Wende des 19. Jahrhunderts. Nachdem die Rechtswissenschaft die Quellen des klassischen römischen Rechts von redaktionellen und exegetischen Erweiterungen durch „historische“ Untersuchungen befreit hatte, baute sie auf ihrer Grundlage ein umfassendes, kohärentes und konsistentes System der Rechtslehre auf. Diese Entwicklung nahm einen Großteil des 19. Jahrhunderts in Anspruch, und fand mit dem Deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch von 1900 seinen Höhepunkt. Seitdem gründet sich die Rechtswissenschaft auf die Struktur und die Bestimmungen dieses Gesetzbuchs, das trotz seiner Länge und Detailliertheit viele Interpretations- und Ergänzungsfragen offen lässt, „Lücken“, die von Rechtswissenschaftlern zu schließen sind: von deutschen Juraprofessoren.16 Dieser Vorgang ist als ein streng positivistisches Unterfangen konzipiert, bei dem Rechtswissenschaftler sich eng an maßgebliche Rechtsmaterialien halten, seien es Stücke des römischen Rechts oder moderne Gesetzbücher, während sie in einem hochgradig formalistischen taxonomischen Rahmen von Unterscheidungen und Klassifizierungen arbeiten. Die Bestandteile dieses doktrinären Taxonomismus können in Frage gestellt und sogar ab und zu abgeändert werden. Das Grunddesign des Projekts ist allerdings weitgehend über Kritik erhaben, um nicht mit der Begehung eines grundlegenden Kategorienfehlers beschuldigt zu werden, der durch eine Vermischung von Fragen über die „richtige“ rechtliche Analyse mit Fragen der „Politik“ oder anderer außergesetzlicher Bereiche entstehen kann. Sobald das dogmatische System etabliert ist, die Kategorien bereinigt und zu einem lückenlosen Ganzen organisiert sind, kann die Rechtswissenschaft ihre Aufmerksamkeit auf die korrekte Umsetzung dieses Systems durch die Teilnehmer am Rechtsregime, mithin die Richter, lenken. Die Anwendung des Systems durch (Berufs-)Richter nach der vorgeschriebenen rechtswissenschaftlichen Betriebsanweisung unterliegt dann der Überprüfung durch andere (Berufungs-)Richter und in seltenen Fällen wenn nötig auch persönlich durch Rechtswissenschaftler (also deutschen Juraprofessoren), die Kurzbewertungen von Urteilen in den entsprechenden Fachzeitschriften veröffentlichen (Urteilsbesprechungen). Die deutsche Strafrechtswissenschaft passt nicht besonders gut in dieses allgemeine Projekt der deutschen Rechtswissenschaft. Erstens war das Projekt der deutschen Rechtswissenschaft von Anfang an ein privatrechtliches Projekt. Savigny interessierte sich vor allem für das Privatrecht, kaum für das öffentliche Recht und schon gar nicht für das Strafrecht. Letzteres wurde traditionell in Abgrenzung zum öffentlichen Recht und zum Privatrecht behandelt, mit eigenen Lehrstühlen, Zeitschriften und Vereinigungen, obwohl jeder auf Nachfrage zustimmen würde, dass das Strafrecht eine Angelegenheit des öffentlichen Rechts und nicht des 16

Siehe z. B. die vergleichende Diskussion von Generalklauseln bei Albert Sacks / Henry M. Hart Jr., The Legal Process: Basic Problems in the Making and Application of Law, hrsg. von William N. Eskridge und Philip P. Frickey, 1994 (zuerst erschienen 1957).

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Kap. 1: Engagierte Forschung 

Privatrechts sei. (Das mangelnde Interesse an einer so grundlegenden Frage der Klassifizierung in einem wissenschaftlichen Programm, das ansonsten keine taxonomische Fragen scheut, ist etwas überraschend.17) Zweitens gab es im Strafrecht keine Analogie zum Bürgerlichen Gesetzbuch im Privatrecht. Es wurden keine Kostbarkeiten des römischen Strafrechts entdeckt und zum Aufbau des Lehrsystems abgeklopft. Nicht nur, weil es keinen strafrechtlichen Savigny gab, der nach ihnen suchte, sondern auch, weil er, wenn es ihn gegeben hätte, nichts dergleichen gefunden hätte, da die Römer wenig Begeisterung für das Strafrecht zeigten, zumindest nicht in Bezug auf die Rechtsdogmatik (im Gegensatz zu Fragen der Verwaltung und Anwendung). Die historische Analyse konzentrierte sich stattdessen auf das deutsche oder germanische Strafrecht, d. h. auf genau die Art von Quellen, die Savigny als unzureichend entwickelt und fortgeschritten ablehnte, um wissenschaftliche Aufmerksamkeit zu rechtfertigen. Schließlich wurde die Suche nach römischen Rechtsquellen im Privatrecht zum Teil durch das vermeintliche Fehlen eines respektablen deutschen Rechts in diesem Bereich ausgelöst. Savigny lehnte die Kodifizierung des Privatrechts Anfang des 19. Jahrhunderts ab, gerade weil das deutsche Recht nicht ausgereift genug war. Erst nach der mühsamen Wiederentdeckung, Reinigung und Systematisierung durch das Werk von Rechtswissenschaftlern wie ihm, sollte es erst ein Jahrhundert später so weit sein für ein deutsches bürgerliches Gesetzbuch (auf der Grundlage römischer Rechtsprinzipien). Das Strafgesetzbuch von 1871 hingegen war lediglich eine umbenannte Fassung des Norddeutschen Strafgesetzbuches, das wiederum auf dem Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten von 1851 basierte. Das Strafgesetzbuch wurde vom neu installierten deutschen Kaiser bei der Gründung des Deutschen Reiches 1871 einfach verkündet. Nicht zu vergleichen mit dem Deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch, das im Zuge eines jahrzehntelangen Prozesses der Abstimmung, Ausarbeitung und Revision entstand. Das Strafgesetzbuch war zudem wesentlich kürzer als das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch und hinterließ sehr viele Bereiche der Entwicklung der Rechtswissenschaft (d. h. den deutschen Strafrechtsprofessoren), weil es sie entweder gar nicht (wie z. B. die Definition der subjektiven Tatbestandsseite), vage oder unvollständig behandelte. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das deutsche Strafrecht nicht auf dem römischen Recht beruht, nicht aus der mühsamen Wiedergewinnung klassischer Rechtsquellen entstanden ist, die als Bausteine eines geschlossenen Systems ausgewählt und vorbereitet wurden, nicht auf einem zeitgemäßen, umfassenden Gesetzbuch beruht, das von einer Generation deutscher Rechtswissenschaftler sorgfältig

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Ironischerweise ordnen die Franzosen das Strafrecht ebenso selbstverständlich dem Zivilrecht zu, wenn auch aus ganz anderen Gründen. Siehe allgemein Markus D.  Dubber, Criminal Law Between Public and Private Law, in: R. A. Duff u. a. (Hrsg.), The Boundaries of the Criminal Law, 2011, S. 191.

A. Einseitige Strafrechtsvergleichung

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ausgearbeitet wurde, und nichts mit dem (interpersonellen) Privatrecht zu tun hat; stattdessen stellt es die schärfste Form des öffentlichen Rechts dar, die die ungefilterte Ausübung der gewaltigsten Macht des Staates gegen seine persönlichen Konstituenten ausübt. Und dennoch wird die deutsche Strafrechtswissenschaft als das gleiche formalistisch-positivistische Projekt des dogmatischen Systemaufbaus angesehen und dargestellt, das sich damit begnügt, innerhalb der (nicht besonders) engen Grenzen zu operieren, die durch (nicht besonders) autoritäre Verkündungen von Rechtsnormen im deutschen Strafgesetzbuch (nicht besonders) bestimmte werden, im kategorischen Gegensatz zur grenzen-, regel- und wissenschaftslosen Arena der Debatten über opportunistische Kriminalpolitik. Begleitet wird dieses materielle Strafrechtsprojekt von einem (recht aufwendigen und regelmäßig wiederaufgelegten) Benutzerhandbuch, das die korrekte Umsetzung seiner wissenschaftlichen Erkenntnisse garantiert und gleichzeitig die wissenschaftliche Entdeckung des Wesens des Verbrechens und strafrechtlicher Verantwortung untermauert, einschließlich der bereits erwähnten grundlegenden strukturellen Unterscheidung zwischen Rechtswidrigkeit und Schuld, zwischen Rechtfertigung und Entschuldigung: es ist nicht nur ein heuristisches Mittel oder ein analytisches Werkzeug, sondern ein – oder besser gesagt das – Strafbarkeitssystem im Taschenformat. Die deutsche mehr-(meistens drei-)stufige Analyse der strafrechtlichen Verantwortlichkeit (Tatbestandsmäßigkeit  – Rechtswidrigkeit – Schuld) ermöglicht nicht nur eine konsistente Anwendung der Normen des materiellen Strafrechts, sondern spiegelt auch die Natur der „Straftat“ wider. Sie liefert Ergebnisse, die doppelt richtig sind: korrekte Umsetzung des dogmatischen Systems und korrekte Manifestation des Wesens der Straftat. Eine Möglichkeit, das tief verwurzelte Selbstverständnis des deutschen Strafrechts als wissenschaftlich begründet zu begreifen, besteht darin, das Verhältnis des Strafrechts zum Verfassungsrecht zu berücksichtigen.18 Ein von Experten geleitetes Unterfangen („deutsches Strafrecht“), das sich als mindestens hundertjähriges wissenschaftliches Projekt des dogmatischen Systemaufbaus um einen autoritativen Rechtstext (das deutsche Strafgesetzbuch) einerseits und ein noch älteres und nicht weniger wissenschaftliches Projekt zur Erforschung der Natur von Verbrechen und Strafrecht andererseits versteht, dessen Kombination zu einer umfassenden Darstellung des Strafrechts geführt hat, die so fein differenziert wie korrekt ist, hat objektiv gesehen wenig Nutzen für ein zunehmend von (Verfassungs-)Richtern produziertes Rechtsgebiet, das sich in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat (mehr oder weniger) auf der Grundlage eines vorläufigen Verfassungsdokuments (dem Grundgesetz), das erst in der unmittelbaren Nachkriegszeit ausgearbeitet wurde und mit zwar wohlklingenden aber vagen Bestimmungen über die Unverletzlichkeit der Menschenwürde und das Recht auf freie Entfaltung der eigenen Persönlichkeit gefüllt ist.

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Siehe allgemein Dubber / Hörnle, Criminal Law: A Comparative Approach (Fn. 7), Kap. 3.

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Das Verfassungsrecht fungiert aus dieser Perspektive weder als der juristische oder begriffliche Rahmen für das Projekt des Strafrechts, noch agiert es als eine – und schon gar nicht als die – Quelle für die Prinzipien des Strafrechts. Stattdessen erzeugt das Strafrecht seine eigenen Prinzipien auf der Grundlage seiner langjährigen wissenschaftlichen Entwicklung. Inwieweit diese strafrechtlichen „Prinzipien“ – angesichts des tief verwurzelten Positivismus der deutschen Rechtswissenschaft – dann der staatlichen Strafrechtsmacht, wie sie in verbindlichen Gesetzen dargelegt ist, harte Grenzen setzen können, anstatt sie nur zu interpretieren und umzusetzen oder bestenfalls zu präzisieren, ist eine andere Frage. Jedenfalls ist es fast völlig gleichgültig, ob man sich die Mühe macht, die strafrechtlichen Grundsätze ex post und eher lässig an die eine oder andere Bestimmung (oder mehrere) der deutschen Verfassung zu hängen.19 „Verbrechen“ ist das, was es ist, und die strafrechtlichen Prinzipien sind das, was sie sind; wenn das Verfassungsrecht sie nicht aufnehmen kann, umso bedauerlicher für das Verfassungsrecht. Dieses Verhältnis zwischen Strafrecht und Verfassungsrecht ist in der Bundesrepublik bemerkenswert – und überraschend – stabil geblieben. (Niemand scheint in diesem Zusammenhang besonders daran interessiert zu sein, eine längere vergleichend-historische Betrachtungsweise des Verfassungsrechts oder der Verfassungsgrundsätze über 1949 (oder 1933) hinaus zu verfolgen; es scheint, als hätte das deutsche Verfassungsrecht erst mit dem Grundgesetz begonnen, während das Strafrecht zumindest auf die Wende des 19. Jahrhunderts zurückgeht, wenn nicht sogar auf den Beginn des Rechts selbst.) Generell hat sich das Bundesverfassungsgericht damit begnügt, die subsidiäre Rolle zu spielen, die strafrechtlich gewonnenen Prinzipien im Grundgesetz (wieder) zu entdecken, oft und am einfachsten (und normalerweise ohne nähere Erläuterung) im breit angelegten und unantastbaren Recht auf „Würde“. Um ein besonders bedeutsames und oft beschworenes „Prinzip“ zu nennen: Anfang der 1950er Jahre tauchte ohne Bezug auf das Verfassungsrecht das sogenannte Schuldprinzip (oder Schuldgrundsatz) in der strafrechtlichen Literatur auf, das bequemerweise bald eine Vielzahl von Normen untermauerte, in denen es um Schlüsselfragen des Vorsatzes, der Entschuldigung und vieles mehr geht – ironischerweise unterstützt durch ein viel zitiertes Urteil des Bundes­gerichtshofs für Strafsachen, einem Expertengericht, das im Gegensatz zum Bundes­verfassungsgericht ausschließlich mit Berufsrichtern besetzt ist.20 Erst später begann das Bundesverfassungsgericht zum Schuldprinzip Stellung zu nehmen. Es beschränkte sich auf die Erklärung, dass das Prinzip auf einer sich oft ändernden Liste von Verfassungsbestimmungen (und impliziten Verfassungsgrundsätzen, insbesondere dem Rechtsstaatsprinzip) beruht, einschließlich des Rechts auf Schutz der Menschenwürde und des Gesetzlichkeitsprinzips (als eine

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Siehe z. B. Tatjana Hörnle, Die verfassungsrechtliche Begründung des Schuldprinzips, in: Ulrich Sieber u. a. (Hrsg.), Strafrecht und Wirtschaftsstrafrecht: Dogmatik, Rechtsvergleich, Rechtstatsachen. Festschrift für Klaus Tiedemann zum 70. Geburtstag, 2008, S. 325. 20 Siehe BGHSt 2, 194, 200 (von 1952).

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Variante von nulla poena sine lege: nulla poena sine culpa).21 Eine so wichtige wissenschaftliche Entdeckung wie das Schuldprinzip musste irgendwo in der Verfassung untergebracht werden, wo genau, war dabei von keiner großer Bedeutung.22 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte war jedoch weniger bereit, den Erkenntnissen der deutschen Strafrechtswissenschaft und ihrer Ausprägung im deutschen Strafrecht einen verfassungsmäßigen Anstrich zu geben. Ein Beispiel ist die Entscheidung im Fall „M. gegen Deutschland“ (2009)23, bei dem es sich um eine weiträumige Ausnahme vom gerade erwähnten vermeintlich grundlegenden Schuldprinzip handelt: Nach dem deutschen zweispurigen Sanktionssystem gilt das Schuldprinzip nur für „Strafen“, nicht aber für „Maßnahmen“. Generell unterliegen „Maßnahmen“ – einschließlich der unbefristeten Sicherungsverwahrung – nicht den gleichen strafrechtlichen Grundsätzen wie „Strafen“. Dies gilt auch für das bereits erwähnte Gesetzlichkeitsprinzip (nulla poena sine lege). Die Frage im Fall von M. war die Verfassungsmäßigkeit der rückwirkenden Verlängerung der Sicherungsverwahrung von höchstens zehn Jahren auf einen unbegrenzten Zeitraum. Das Bundesverfassungsgericht hatte dieses Argument 2004 mit der Begründung abgelehnt, dass die Strafrechtswissenschaft kategorisch zwischen Strafen und Maßnahmen unterscheidet und das Verfassungsrecht nicht den Kategorienfehler begehen werde, sie gleich zu behandeln.24 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte war fünf Jahre später von dieser dem Strafrecht (und dem Gesetzgeber) gegenüber sehr rücksichtsvolle verfassungsrechtlichen Argumentation nicht beeindruckt, ignorierte die angeblich maßgebliche formale Unterscheidung und entschied, dass angesichts der Realitäten der Situation von Personen in der Sicherungsverwahrung die Grenze zwischen Strafe und Maßnahme eine rechtswissenschaftliche Differenzierung sei, die verfassungsrechtlich keinen Unterschied mache. Bei seiner zweiten Befassung mit der Problematik im Jahr 2011 bedankte sich das Bundesverfassungsgericht beim Europäischen Gerichtshof im Wesentlichen recht herzlich für seinen Input und entwickelte dann ein Kriterium, das genau die 21 Siehe allgemein Hörnle, Die verfassungsrechtliche Begründung des Schuldprinzips (Fn. 19); Dubber / Hörnle, Criminal Law: A Comparative Approach (Fn. 7), S. 102 ff. 22 Als das deutsche Bundesverfassungsgericht vor kurzem eine der großen Errungenschaften des deutschen Strafrechts – das Rechtsgutprinzip (eine rechtswissenschaftliche Version des „harm-principle“) – vernachlässigt zu haben schien, BVerfGE 120, 224 (von 2008) (InzestFall), waren die deutschen Strafrechtswissenschaftler so alarmiert, dass sie die abschließende Plenar-Podiumsdiskussion der nächsten Strafrechtslehrertagung (der „deutschsprachigen Strafrechtslehrerinnen und Strafrechtslehrer“) der Frage ihres schwindenden Einflusses widmeten: vgl. Dubber, Die Anspruchslosigkeit des awissenschaftlichen Strafrechts (Fn. 4) (Die deutsche Strafrechtsdogmatik zwischen Anpassung und Selbstbehauptung, Strafrechtslehrertagung in Hamburg, 24. Mai 2009); Markus D. Dubber, Policing Morality: Constitutional Law and the Criminalization of Incest, in: U. Toronto L. J. 61 (2011), S. 737. 23 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Urteil Nr. 19359/04 (vom 17. Dezember 2009), NJW 2010, 2495. 24 BVerfGE 109, 133 (von 2004).

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Unterscheidung verstärkte, die der EGMR für verfassungsrechtlich irrelevant erklärt hatte (und deren rechtswissenschaftliche Bedeutung anscheinend von ihm leider nicht vollständig erfasst worden war).25 Das BVerfG entschied nämlich, dass es von Verfassung wegen geboten sei, die Voraussetzungen des schuldunabhängigen präventiven Freiheitsentzugs präziser von der qualitativ anders gestalteten „Strafe“ zu unterscheiden (sog. Abstandsgebot). Im Ergebnis ähnelte diese Entscheidung dem bekannten Urteil des U. S. Supreme Court in der Entscheidung Kansas v. Hendricks26 von 1997, in der ein umstrittenes System der Sicherungsverwahrung für gewalttätige Sexualstraftäter in einer heftig kritisierten 5–4 Entscheidung aufrechterhalten wurde. Die Urteilsbegründung durch einen der konservativsten Richter des Gerichtshofs (Justice Clarence Thomas) stützte sich stark auf die gesetzgeberische Kategorisierung der angefochtenen Bestimmung als eine zivilrechtliche Unterbringung („civil commitment procedure“) im Betreuungsgesetz („Probate Code“) statt im Strafgesetzbuch des Staates Kansas. Die Hendricks-Entscheidung befasste sich mit der Anwendbarkeit des Doppelbestrafungsschutzes ne bis in idem sowie des Rückwirkungsverbots. Da jedoch die Sicherungsverwahrung im Fall Hendricks keine „Bestrafung“ darstellte, galt keines dieser beiden (Verfassungs-)Prinzipien. Zusammenfassend lässt sich folgendes sagen: Das deutsche Strafrecht als Wissenschaft verbindet ein tiefes und langdauerndes positivistisch-etatistischen Bekenntnis zum Recht im Allgemeinen und zum Strafrecht im Besonderen mit einem Selbstverständnis seiner Experten als Hüter der Objektivität, Vollstrecker der Korrektheit und Verfolger der Wahrheit (einschließlich, seit den 1930er Jahren, einer ontologisierenden Untersuchung des „Wesens“ von „Begriffen“ wie „Verbrechen“ und „Handlung“, die in der Grundstruktur und rhetorischen Haltung des deutschen Strafrechts weiterhin nachwirkt, trotz jüngerer Versuche, ihr eine geringere Bedeutung beizumessen), die sich der Ergänzung, Förderung und Umsetzung des oft beschworenen, jedoch stets mysteriösen, souveränen Strafwillens „des Gesetzgebers“ widmen. Natürlich sind Formalismus (und Varianten wie Taxonomismus, Etikettismus und Sloganismus) und Positivismus nicht nur im deutschen Recht oder im deutschen Strafrecht zu finden, wie auch die Entscheidung des U. S. Supreme Court im Hendricks-Fall zeigt. Dies ist ein wichtiger Punkt, den es zu beachten gilt, wenn wir nachfolgend auf einige Merkmale des deutschen Strafrechts im Detail eingehen. Die entscheidende Zugabe einer kräftigen Dosis an Ontologismus (Pseudooder nicht, in Anführungszeichen oder nicht), verbunden mit dem damit einhergehenden Beharren, den Markt der Wahrheit und Objektivität zu kontrollieren, ist eine andere Angelegenheit. Es ist eine Sache, Formalismus und Positivismus zu praktizieren; es ist eine andere, diese Praxis buchstäblich in eine Wissenschaft 25 26

BVerfGE 128, 326 (von 2011). U. S. Supreme Court, Kansas v. Hendricks, 521 U. S. 346 (1997).

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und, noch deutlicher, in eine zeitlose zur Selbstkritik unfähige Wissenschaft zu verwandeln, die sich mit dem vollen Ornat aus Expertise, Objektivität und direktem Draht zur Wahrheit schmückt. Diese Wahrheit liegt darüber hinaus jenseits des empirischen Bereichs der Falsifizierbarkeit und des rhetorischen Bereichs des kritischen Diskurses: Es ist also mehr intuitiv als konstatiert, und wird es eher angekündigt als argumentiert. In diesem Selbstverständnis der (deutschen) Strafrechtswissenschaft als Prozess des wissenschaftlichen Fortschritts wurden bereits am Anfang grundlegende Fragen der Legitimität angesprochen und gelöst. Die „Gründergeneration“ der (deutschen) Strafrechtswissenschaft (das etwa zeitgleiche Pendant zur Gründergeneration der amerikanischen New Republic) diskutierte gewichtige Themen wie die Meriten der „Generalprävention“ und der „Spezialprävention“ vor der Kulisse einer allgemeineren, „philosophischen“ Debatte über die Meriten retributiver und konsequentialistischer Rechtfertigungen von Strafe, indem sie Kant und Hegel auf der einen Seite gegen Beccaria (und in weit geringerem Maße Bentham) auf der anderen Seite ausspielten. Aus diesem erweiterten, intensiven Dialog entstand das Fundament der deutschen Strafrechtswissenschaft, von P. J. A. Feuerbach legte, der die Quadratur des Kreises fand, indem er kantianische und beccarianische Entdeckungen in einer Reihe von grundlegenden Werken – in seinem Strafrechtslehrbuch von 1801 und seinem bayerischen Strafgesetzbuch von 1813 – kombinierte (ob nun richtig oder auch nicht).27 Seit diesem Ursprung aus einer fruchtbaren Phase der wissenschaftlichen Grundlagenforschung wird die deutsche Strafrechtswissenschaft von einer langen Reihe deutscher Strafrechtswissenschaftler vorangetrieben und weiterentwickelt. Generationen von Strafrechtsprofessoren verfeinerten ihre wissenschaftlichen Handwerkskünste und gaben diese an Assistenten weiter, damit sie die Wissenschaft des Strafrechts weiterhin akribisch betreuen, Lücken im System identifizieren (und dann schließen), seine verschiedenen Elemente klassifizieren und gegebenenfalls neu einordnen, und seine konzeptionelle Einheit, innere Konsistenz und fundamentale Korrektheit perfektionieren und bewahren können, und so weiter und so fort. So – oder so ähnlich – lautet das Standardnarrativ der deutschen (Straf-)Rechtswissenschaft.28 Wir werden später Gelegenheit haben, einige seiner Aspekte näher zu beleuchten. Nehmen wir vorerst an, dass die Legitimationsfrage tatsächlich während der Gründerzeit der deutschen Strafrechtswissenschaft aufgeworfen, behandelt und gelöst wurde. Ferner übersehen wir zunächst einmal Komplikationen wie das Scheitern des bayerischen Gesetzbuchs von Feuerbach, das Wiederauf 27 Siehe z. B. Wolfgang Naucke, Kant und die psychologische Zwangstheorie Feuerbachs, 1962. 28 Siehe allgemein Eberhard Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Aufl. 1965, Nachdruck 1983). Für neuere Korrektive siehe Thomas Vormbaum, Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte, 4. Aufl. 2019; Arnd Koch u. a. (Hrsg.), Feuer­bachs Bayerisches Strafgesetzbuch: Die Geburt liberalen, modernen und rationalen Strafrechts, 2014.

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leben der „Spezialprävention“ während des Aufstiegs der progressiven Schule im späten 19. Jahrhundert und das Fortbestehen (und die Weiterentwicklung) der deutschen Strafrechtswissenschaft unter dem Nationalsozialismus. Es erscheint also das Bild eines Programms des Strafrechts und der Wissenschaft, das auf dem gemeinsamen wissenschaftlichen Konsens beruht, dass die Legitimität der staatlichen Strafmacht endgültig an der Wende des 19. Jahrhunderts begründet worden ist. Das bedeutet, dass die Frage der Legitimität seitdem nicht mehr Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen ist. Es bedeutet aber auch, dass die Legitimität der staatlichen Strafmacht seit zwei Jahrhunderten auf einer rechtlich-politischen Untersuchung von Professoren des Rechts und der Philosophie (und einem frühen politischen Ökonomen, Beccaria) beruht, die stattfand unter rechtlich-politischen Bedingungen und im Rahmen theoretisch-praktischer Alternativen ihrer Zeit, die sich grundlegend von denen in der Mitte des 19. Jahrhunderts (der Zeit der deutschen „Revolution“ 1848) unterscheiden, ganz zu schweigen von der Weimarer Republik, dem NS-Staat, oder der Bundesrepublik (einschließlich der Verabschiedung des Grundgesetzes von 1949 und der anschließenden Entwicklung des heutigen deutschen Verfassungsrechts). Es ist nicht sofort ersichtlich, warum die kritische Analyse der (alles andere als offensichtlichen) Legitimität der Strafgewalt eines modernen liberalen demokratischen Staates nicht anders vorgehen sollte als zum Beispiel eine Untersuchung über die (völlig unzweifelhafte)  Befugnis des souveränen bayerischen Königs, seine Untertanen zu bestrafen, durch einen Rechtsprofessor, der durch königliches Dekret vor zweihundert Jahren den Auftrag erhalten hatte, ein königlich-bayerisches Strafgesetzbuch zu entwerfen, das dann durch ein weiteres königliches Dekret verkündet wurde, nachdem es auf der Grundlage der Notizen eines (anderen) könig­lichen Beraters überarbeitet worden war.29 Noch schwieriger ist zu verstehen, warum es so sinnlos ist, diese Frage überhaupt zu stellen, aus der Sicht einer Wissenschaft des Strafrechts, die sich ihrer akribischen Vollständigkeit rühmt. Die Erklärung hängt, glaube ich, mit dem weit verbreiteten positivistischen und etatistischen Konsens zusammen, der die deutsche Strafrechtswissenschaft über seismische Systemverschiebungen und über eine Reihe von „Kämpfen“ hinweg charakterisiert hat, in denen verschiedene „Schulen“ von Professoren und ihren Anhängern gegeneinander antraten. Über den Positivismus der deutschen Justiz wurde bereits viel gesagt und geschrieben. Vor allem auch über Strafrichter, die während der NS-Zeit an der Interpretation und Umsetzung staatlicher Strafnormen mitgewirkt haben, die „den Willen“ „des Gesetzgebers“ widerspiegeln.30 Viel weniger wurde über den Positivismus der deutschen Professorenschaft gesprochen, d. h. der Konstrukteure und Hüter der deutschen Strafrechtswissenschaft der letzten 29

Die Geschichte (und Intrige) der Entstehung des bayerischen Strafgesetzbuches wird wunderbar erzählt bei Gustav Radbruch, Paul Johann Anselm Feuerbach: Ein Juristenleben, 1934. 30 Siehe z. B. Markus D.  Dubber, Judicial Positivism and Hitler’s Injustice, in: Colum. L.  Rev. 93 (1993), S. 1807 (Rezension von Ingo Müller, Hitler’s Justice: The Courts of the Third Reich, Übersetzung von Deborah Lucas Schneider, 1991).

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zwei Jahrhunderte (laut dem Selbstverständnis dieses langjährigen wissenschaftlichen Fortschrittsprogramms). Das nahezu einstimmige Beharren der deutschen Richter nach dem Krieg, dass sie nicht mehr als ihre positivistische Pflicht als Richter in einem Rechtsstaat getan hätten, die vorgegebenen hoheitlichen Anweisungen umzusetzen, könnte mindestens drei Reaktionen hervorrufen. Erstens könnte man die Behauptung in Frage stellen, dass der Positivismus tatsächlich das richterliche Verhalten zwischen 1933 und 1945 bedingt hat. Der Positivismus, so könnte man meinen, ließ den Richtern deutlich mehr Spielraum, als sie zugaben. Noch beunruhigender scheint es, dass die Richter oft genug weit über das hinausgingen, was der positivistische Gehorsam gegenüber „dem Gesetz“ erforderte, und sie den interpretatorischen Spielraum fanden und nutzten, um die fragliche Norm zu schärfen, anstatt sie „nur“ anzuwenden oder gar abzuschwächen. Zweitens, und wesentlich spannender (und vielleicht auch damit verbunden), könnte man argumentieren, dass die vermeintliche systemische Verpflichtung zum Positivismus nicht so tief und stark ausgeprägt war, wie es die Richter nach 1945 vorgaben. Wie wir in Kürze sehen werden, waren laute und energische Beschwerden von Juraprofessoren, einschließlich Strafrechtsprofessoren, über die angebliche Abweichung der Richter vom positiven Gesetz, bereits in den Jahrzehnten vor 1933 keine Seltenheit. Das Festhalten der allgemein erzkonservativen deutschen Justiz an dem angeblich eisernen Erfordernis des positivistischen Gehorsams scheint sich 1933, als die Weimarer Republik dem NS-Regime wich, deutlich verstärkt zu haben. Dann ist da noch, drittens, die wichtige Linie in der nationalsozialistischen Ideologie, die den Positivismus als ein abstrakt liberalistisches Grundprinzip der Staatsmachtseinschränkung durch Recht ablehnte. Sie wurde nicht nur von Staatsfunktionären, sondern auch von Juraprofessoren entwickelt und verteidigt. Es stellte sich – vielleicht nicht weiter überraschend – heraus, dass die nationalsozialistische Ideologie nur beim neuen nationalsozialistischen Recht die strikte Einhaltung „des positiven Rechts“ erforderte, im Gegensatz zu dem Gros der Rechtsnormen, die nach 1933 unverändert geblieben waren. Es stand den Richtern frei, letztere im Lichte vager Begriffe wie „dem gesunden Volksempfinden“, oder später noch einfacher, im Lichte staatlicher und parteipolitischer Richtlinien zur Lösung bestimmter Fragen oder zur Entscheidung in Einzelfällen (z. B. in Form eines vom NS-Justizministerium nach 1942 verteilten Pamphlets mit dem harmlosen Titel „Richterbriefe“) zu interpretieren oder zu ignorieren. Nichts davon bedeutet, dass andere Faktoren sich nicht auf das Verhalten der Justiz nach 1933 und insbesondere in den letzten Jahren des Regimes ausgewirkt haben könnten. Der Punkt ist vielmehr, dass das Bekenntnis zum Positivismus nicht das war, was es zu sein schien. Es geht, zumindest für die unsere Zwecke, nicht um die persönliche oder kollektive Schuld der deutschen Richter, insbesondere derer an ordentlichen und militärischen Strafgerichten (inklusive einer Anzahl von Ju-

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raprofessoren31), an den durch die staatliche Strafmacht begangenen Gräueltaten. Entscheidend ist vielmehr die Rolle der positivistischen Ideologie im deutschen Strafrecht vor, während und nach der NS-Zeit. Diese beiden Fragen – nach der Schuld und den Eigenschaften des Rechts, nicht nur wie es gemacht bzw. durchgesetzt, sondern auch wie sie erforscht, kommentiert und verwissenschaftlicht wurde – sind bei jeder Diskussion über das Rechtssystem während der NS-Zeit und dessen andauernder Relevanz schwer zu trennen, wie wir an verschiedenen Stellen in diesem Buch nochmals sehen werden. Vielleicht können sie am Ende nicht auseinandergehalten werden, aber einen Versuch ist es wert, zumindest um der Analyse willen; denn ein ernsthaftes Bestreben, die Bedeutung der Jahre 1933–45 zu erfassen, ist unerlässlich, um ein Verständnis vom heutigen deutschen Strafrecht und Strafrechtswissenschaft zu bekommen, insbesondere von deren potenziellem Beitrag zu der in diesem Buch verfolgten vergleichend-historischen Untersuchung der Möglichkeit eines liberalen Strafrechts. Deutsche Professoren waren natürlich daran beteiligt, die positivistisch-etatistische Ideologie zu etablieren und fortzusetzen, auch wenn sie nicht im Gericht saßen (ein altes Privileg, auf das sie sich nach eigenem Ermessen berufen); sie haben sich nicht nur in ihrer Lehre und ihren Veröffentlichungen dafür eingesetzt – zumindest bis zum Aufkommen einer demokratisch gewählten Legislative nach dem Ersten Weltkrieg, als „der Staat“ nicht mehr ihrem konservativen politischen Geschmack entsprochen hat –, sondern sie haben diese, weitaus profaner, immer dann in Anspruch genommen, wenn sie eine Verletzung ihres fundamentalen Grundprinzips erkannt und angeprangert haben: die angeblich bedingungslose Treue zum „Willen des Gesetzgebers“ (wie er, natürlich von universitären Rechtswissenschaftlern, interpretiert wurde). Für unsere Zwecke ist dieser „wissenschaftliche Positivismus“ der deutschen Professorenschaft, unabhängig von seiner Verbindung zum vertrauten (defensiven, post-1945) Einsatz des richterlichen Positivismus, von Interesse. Schließlich geht es uns darum, den möglichen Beitrag der deutschen Strafrechtsforschung – oder besser gesagt der deutschen Art und Weise der Strafrechtsforschung – zu einem transnationalen Projekt eines liberalen Strafrechts zu prüfen und nicht, die Verantwortung für nationalsozialistische Schreckenstaten auf die verschiedenen Mitwirkenden am nationalsozialistischen Strafrechtsregime in Ideologie und Praxis aufzuteilen. 31

Die deutschen Militärgerichte verhängten etwa 50.000 Todesurteile in etwa drei Millionen Verfahren zwischen 1933 und 1945. Siehe Michael Stolleis, „Hart aber gerecht“: Die Militärjustiz im Dienst des Nationalsozialismus, in: ders., Recht im Unrecht: Studien zur Rechtsgeschichte in Nazideutschland, 2006, S. 221. Stolleis konzentriert sich auf eine einflussreiche Abhandlung über das Militärstrafrecht während der NS-Zeit, die 1977 von zwei ehemaligen Militärstrafrichtern, Otto Peter Schweling und Erich Schwinge (als Herausgeber), veröffentlicht wurde; Schwinge hatte auch als Juraprofessor und wissenschaftlicher Kommentator zum Militärstrafrecht gearbeitet. Die Autoren beharrten darauf, dass das deutsche Militärstrafrecht im Allgemeinen den Grundsätzen des Rechtsstaates entsprochen habe. Nach dem Krieg diente Schweling als Oberstaatsanwalt am Bundesgerichtshof; Schwinge nahm seine akademische Laufbahn wieder auf, u. a. als Dekan der juristischen Fakultät und Rektor der Universität Marburg.

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Und doch wird die Frage nach der Verantwortung indirekt wieder auftauchen. Denn es stellt sich heraus, dass die Frage der strafrechtlichen Verantwortung ebenso wie – in geringerem Maße – der moralischen Schuld für nationalsozialistische Gräueltaten eine wesentliche Rolle bei der Evolution und Eigendarstellung der deutschen Strafrechtsdoktrin nach 1945 spielte. So wurden beispielsweise die entsprechenden Vorzüge verschiedener dogmatischer Ansätze zur Teilnehmerstrafbarkeit  – genauer gesagt, die Unterscheidung zwischen Täter und Teilnehmer, insbesondere Gehilfe – im Hinblick auf ihre (erwarteten oder tatsächlichen) Auswirkungen auf die Zuschreibung strafrechtlicher Verantwortung bei (den seltenen) Strafverfahren gegen NS-Leute bewertet. Besonderer Fokus lag hierbei auf den vielen Angeklagten, die behaupten konnten, höherrangige Befehle ausgeführt zu haben, von Mitgliedern der SS-Einsatzgruppen (die ab Ende der 1950er Jahre in Deutschland vor Gericht standen und in der Regel als Gehilfen und nicht als Haupttäter eingestuft wurden, was zu erheblichen Strafverkürzungen führte) bis zu Adolf Eichmann (der in Israel vor Gericht gestellt, für schuldig befunden und zum Tode verurteilt wurde). Darüber hinaus spielt die Frage der Vermeidung oder zumindest der Minderung moralischer Schuld unter Richtern und universitären Rechtswissenschaftlern in verschiedenen bemerkenswerten Episoden der unmittelbaren Nachkriegszeit des deutschen Strafrechts eine Rolle. So wurde beispielsweise der Auslöser und sogar der genaue Mechanismus für die bedeutsame und überraschende Annahme einer „subjektiven“ Version der Teilnahmelehre im Jahr 1940 durch das deutsche Reichsgericht (im berühmten Badewannen-Fall) erst nach dem Krieg in einem außergewöhnlichen Aufsatz „enthüllt“, und zwar von dem Richter, der behauptete, die Veränderung in der Rechtsprechung selbst bewirkt zu haben, um das Leben der Angeklagten zu retten.32 Dieser richterliche Enthüllungsbericht diente dann als Schlüsselbeweis des Autors in der autobiografischen Verteidigung seines NSJustizdienstes.33 Bemerkenswert ist auch die vollständige, kategorische und universelle Ablehnung einer Unternehmensstrafbarkeit durch deutsche Strafrechtsprofessoren, ebenfalls in der Nachkriegszeit, die dazu diente, den grundsätzlich prinzipientreuen Kern der deutschen Strafrechtslehre, -wissenschaft und -rechtsprechung auch in den dunkelsten Tagen der Nazizeit auf der einen Seite und die Unterlegenheit des prinzipienlosen, unwissenschaftlichen Strafrechts der angloamerikanischen Besatzer auf der anderen Seite nachzuweisen.34

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RGSt 74, 84 (von 1940). Die „subjektive“ Theorie erlaubte die Einordnung der Angeklagten als Gehilfin und nicht als Täterin, so dass die obligatorische Todesstrafe für Mord vermieden werden konnte. Siehe Kapitel 2, Abschnitt D. 33 Fritz Hartung, Jurist unter vier Reichen, 1971, S. 95–118. 34 Siehe Markus D. Dubber, The Comparative History and Theory of Corporate Criminal Liability, in: New Crim. L. Rev. 16 (2013), S. 203, 214–215, 232–233; ders., Zur Geschichte und Theorie der Verbandsstrafbarkeit: Eine kritische Analyse aus rechtsvergleichender Sicht, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 98 (2016), S. 377, 385–386.

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Die Fokussierung auf den richterlichen und nicht auf den professoralen Positivismus mag die größere Nähe der deutschen Richter zum operativen Tagesgeschäft des NS-Strafregimes widerspiegeln. Deutsche Strafrechtsprofessoren mögen die dogmatischen Mittel zwar zur Verfügung gestellt haben, eingesetzt wurden sie jedoch in konkreten Fällen erst durch Strafrichter – so oder ähnlich könnte die eher naive, und für universitäre Rechtswissenschaftler sowohl beunruhigend eigennützige als auch uncharakteristisch bescheidene Annahme lauten. Für unsere Zwecke ist es wichtiger, dass die besondere Aufmerksamkeit auf den richterlichen Positivismus ein wesentliches Merkmal des Selbstverständnisses der deutschen Strafrechtswissenschaft veranschaulicht: ihren unangefochtenen übergeordneten Anspruch auf Objektivität innerhalb des deutschen Systems staatlicher Strafmacht (und außerhalb dieses Systems, gegenüber anderen, unwissenschaft­ lichen und damit eindeutig untergeordneten Bemühungen um eine strafrecht­liche Forschung in anderen Ländern oder Rechtsordnungen). Als (selbst-)delegierte Übersetzer, Ausführende, Ergänzer, Lückenfüller, Rationalisierer, Systematisierer und Entwickler der verbindlichen Rechtsnormen des Souveräns, befinden sich die Rechtswissenschaftler an der Spitze der Strafrechtshierarchie, wenn auch natürlich noch unterhalb „des Gesetzgebers“ (in der Theorie, wenn auch nicht unbedingt in der Praxis, insbesondere bei einem Rechtsgebiet wie dem Strafrecht, dessen maßgeblicher Text – das deutsche Strafgesetzbuch – der wissenschaftlichen Vorstellung so viel Raum lässt, absichtlich oder nicht). Ihr Streben nach rein wissenschaft­ lichen Erkenntnissen, auf der Suche nach objektiven Wahrheiten über Verbrechen und Strafbarkeit im Dienste der Durchsetzung des verschriftlichen Willens „des Gesetzgebers“, hebt sie von denjenigen staatlichen Vertretern ab, deren Aufgabe (nur) darin besteht, die staatlichen Normen korrekt anzuwenden, wie sie vom Souverän verkündet und durch das Kader der Rechtswissenschaftler wissenschaftlich erläutert und ergänzt werden. Während Rechtswissenschaftler Objektivität verkörpern, haben Richter nicht so viel Glück. Die richterlichen Ermessensspielräume werden durch eine strenge positivistische Verpflichtung zur Anwendung, und nur zur Anwendung, hoheit­ licher Normen eingeschränkt. Die Verletzung dieser Pflicht birgt für die Richter die Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung wegen „Rechtsbeugung“.35 Das Ermessen der Staatsanwälte ist nicht so sehr eingeschränkt, als vielmehr beseitigt durch das sogenannte Legalitätsprinzip, das allerdings durch die Ausnahmebefugnis gemildert wurde, bestimmte geringfügige Fälle im Hinblick auf das öffentliche Interesse einzustellen (Opportunitätsprinzip). Ganz unten in der strafrechtlichen Objektivitätshierarchie stehen Polizeibeamte, die bis heute ausnahmslos beim bloßen Verdacht einer Straftat ermitteln müssen. Der Kontrast zwischen dieser vermeintlichen Beseitigung des Ermessensspielraums für „Strafverfolgungs­ behörden“ – Staatsanwälte und Polizeibeamte – und dessen weit verbreiteter An 35

§ 339 StGB; siehe Dubber / Hörnle, Criminal Law: A Comparative Approach (Fn. 7), § 17.  B.

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wendung, einschließlich der lange verleugneten „amerikanischen“ (de facto wenn nicht de jure) Praxis der Prozessverständigung (plea bargaining), ist in jüngster Zeit unerträglich geworden, was zu – halbherzigen und bisher spektakulär erfolg­ losen  – legislativen und gerichtlichen Bemühungen um eine „Legalisierung“36 führte. Der juristische Positivismus ist eine Ideologie, die der Funktion einer Judikative innerhalb des staatlichen Strafvollzugsapparats entspricht, sich auf die Anwendung staatlicher Normen ohne unzulässiges Ermessen zu beschränken, wobei unzulässiges Ermessen in zwei Varianten erscheinen kann: übermäßiges Ermessen, das die Grenze zwischen der Anwendung und der Schaffung von Normen überschreitet, und unrichtiges Ermessen, das Fehler bei der Anwendung von staatlichen Strafnormen verursacht, die in autorativen Texten zum Ausdruck gekommen und durch universitäre Rechtswissenschaftler ergänzt worden sind. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Befürworter und Kritiker gleichermaßen der Ausübung richterlichen Ermessens während der NS-Zeit viel Aufmerksamkeit gewidmet haben. Die Beschwörung des richterlichen Positivismus verankerte das Argument, dass die Richter zur Wahrnehmung ihrer rein umsetzenden Funktion verpflichtet gewesen seien; sie konnten nicht eines Missbrauchs oder Nichtgebrauchs ihres Ermessens beschuldigt werden, da jede Ausübung ihres rechtschöpferischen Ermessens, wenn nicht unmöglich, dann doch zumindest unzulässig gewesen wäre. Vereinfacht ausgedrückt: Richter konnten kein Ermessen missbrauchen, das sie nicht hatten. Das Ermessen der Professoren hingegen hat keine ähnliche Aufmerksamkeit erregt, weder in Bezug auf das Verhalten von Strafrechtswissenschaftlern während der NS-Zeit, noch überhaupt. Diese moralische (und strafrechtliche) Immunität spiegelt den übergeordneten Status der Professoren in der staatlichen Strafrechtshierarchie als die Verkörperung von Objektivität und Expertise wider. Demzufolge ist es durchaus einsichtig, dass Strafrechtsprofessoren einzelne Richter beurteilen und deren Bemühungen, von ihnen erarbeitete wissenschaftliche Erkenntnisse zu verstehen und richtig anzuwenden, fast so kommentieren, als ob sie eine schriftliche Prüfung bewerteten. Stehen die Richter näher an den Objekten der staatlichen Strafmacht, so sind die Professoren näher an ihrem Subjekt: dem souveränen Staat. Der professorale Positivismus operiert auf einer höheren Ebene als der richterliche Positivismus. Es geht für sie nicht um das ordnungsgemäße Funktionieren des Staatsapparates; es geht um die Wissenschaft, das Streben nach Wahrheit und dem korrekten Recht und damit um die richtige Gestaltung des Apparates selbst. Der Rechtswissenschaftler verkörpert die Objektivität und fungiert als sein oberster Schiedsrichter. Die Objektivität des Rechtswissenschaftlers steht per definitionem, oder zumindest 36 Siehe Thomas Weigend / Jenia Iontcheva Turner, The Constitutionality of Negotiated Criminal Judgments in Germany, in: German L. J. 15 (2014), S. 81.

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per Titel und Beruf, außer Frage. Rechtswissenschaftler generieren die systema­ tischen Taxonomismen, die die Richter pflichtgemäß anwenden.37 Dieser positivistisch-wissenschaftliche Konsens im deutschen Strafrecht besteht seit über einem Jahrhundert. Das deutsche Strafrecht als positivistisch zu bezeichnen ist nicht neu; der Positivismus gilt seit langer Zeit als Markenzeichen der Idee der modernen deutschen Rechtswissenschaft, etwa seitdem Savignys (historischer) wissenschaftlicher Positivismus sich gegen die (philosophisch) spekulative Naturrechtstradition von Thibaut und anderen durchsetzte. (Gelegentliche Abweichungen von diesem positivistischen Credo werden tendenziell als unwissenschaftliche, ungewöhnliche und vorübergehende Ausrutscher abgetan.) Der tief verwurzelte Positivismus (ob gekünstelt oder nicht) des deutschen Strafrechts und insbesondere der deutschen Strafrechtswissenschaft ist ein Grund dafür, dass eine kritische vergleichend-historische Untersuchung der Legitimität der staatlichen Strafmacht durch Recht in einer modernen liberalen Demokratie dort kaum ein vielversprechendes methodisches Modell finden wird, geschweige denn vorgefertigte endgültige Antworten oder auch nur besonders ertragreiche Fragen. Die Verbindung zwischen Positivismus und Etatismus ist offensichtlich genug. Die Normen, die die Rechtswissenschaft interpretiert, sind staatliche Normen. Die Rechtswissenschaft ist damit beschäftigt, staatliche Befehle zu interpretieren und durchzusetzen. Der Zusammenhang zwischen Positivismus und Etatismus ist bei Strafnormen insofern besonders eng, als die Strafrechtsmacht des Staates besonders eng mit der souveränen Macht des Staates überhaupt verbunden ist. Ungehorsam gegenüber staatlichen Strafnormen wird als „Angriff“ (offense) auf die staatliche Autorität bestraft. Der Verstoß gegen eine staatliche Strafnorm bedeutet daher einen Verstoß gegen den Staat selbst. Der Staat ist immer das Opfer eines jeden Verstoßes gegen seine Normen. Diese Konzeption der Strafrechtswissenschaft als ausgeklügeltes Hilfsmittel zur korrekten Auslegung und Durchsetzung staatlicher Strafbefehle ist heute mit einer kritischen Haltung gegenüber der Grundlage, Breite und Tiefe der staat­lichen Strafmacht kaum noch vereinbar.38 Sie geht von der Annahme aus, dass diese 37 Es ist hilfreich, sich daran zu erinnern, dass Behauptungen eines tiefgreifenden Positivismus – richterlich und professoral – im deutschen Recht im Allgemeinen und im deutschen Strafrecht im Besonderen mit einem gewissen Vorbehalt zu genießen sind. Es geht uns hier darum, das Selbstverständnis und die Selbstdarstellung des deutschen Strafrechts als positivistisches Projekt zu dokumentieren. Nichts davon soll bedeuten, dass dieses Verständnis Sinn macht, dass es wünschenswert oder gerechtfertigt ist oder dass es der Realität entspricht. Siehe Kapitel 2, Abschnitt E; Dubber, Judicial Positivism and Hitler’s Injustice (Fn. 30). 38 Da deutsche Rechtsforscher (vermutlich in dem Bestreben, das Recht „richtig“ oder „überhaupt“ zu analysieren) dazu neigen, anderen Methoden der Analyse des Rechts den Status von „Hilfswissenschaften der Rechtswissenschaft“ zu verleihen, erweisen sich diese anderen Methoden daher doppelt als Hilfswissenschaften (doppelte Hilfswissenschaften?); Standardbeispiele sind Geschichte, Soziologie, Kriminologie, Philosophie und Wirtschaftswissenschaften, wenn auch nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. Die Liste variiert je nach Autor und Zeit.

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Macht jenseits jeglicher Legitimitätskontrolle liegt, entweder weil sie legitim war (wenn wir uns weiterhin der Annahme hingeben, dass diese Legitimitätskontrolle bereits zur Gründerzeit des modernen deutschen Strafrechts stattgefunden hat und erfolgreich abgeschlossen wurde) oder weil sie illegitim war (in dem Sinne, dass die Strafmacht einfach ein notwendiges – ontologisches? – Merkmal dessen war, was es bedeutet, ein Staat zu sein). Nehmen wir als erstes Beispiel die deutsche Debatte über Straftheorien, der oft dramatisierte „Schulenstreit“ um die Wende zum 20. Jahrhundert zwischen der „klassischen Schule“ (verbunden mit Karl Binding) und der „modernen Schule“ („geführt“ von Franz von Liszt). Dieser Schulenstreit wird tendenziell als ein Zusammenprall radikaler Gegensätze dargestellt, die den Retributivismus gegen den Konsequentialismus ausspielten und als Duell zweier lateinischen Mottos auftrat: quia peccatum est vs. ne peccetur. Die rhetorische Leidenschaft der Streitparteien sollte jedoch nicht einen zugrundeliegenden Konsens über die Art des Strafrechts und damit über das Anliegen der Strafrechtswissenschaft verdecken. Ein Konsens, der so tief verwurzelt ist, dass er nicht zur Kenntnis genommen wurde oder vielmehr selbstverständlich war. Sowohl Binding als auch Liszt waren engagierte Positivisten und Etatisten, wenn es um die staatliche Strafmacht ging. Ihr Streit betraf nicht die Grundlage und schon gar nicht die Legitimität der staatlichen Strafmacht; es ging um das richtige – und insbesondere wissenschaftlich richtige – Verständnis ihres Wesens bzw. Ziels. Binding, der symbolische Retributivist, bestand darauf, dass das „Recht auf Strafe“ nichts anderes sei als „das durch die Unbotmäßigkeit des Delinquenten verwandelte Recht auf Botmäßigkeit gegenüber dem Gesetz“. Der Zweck der Strafe war demnach „die Unterwerfung des Sträflings unter die Rechtsmacht zur Aufrechterhaltung der Autorität der verletzten Gesetze“. Mit einigem Pathos erklärte Binding darüber hinaus, die Strafe solle „die Vorstellung von der Heiligkeit und Unverbrüchlichkeit der mit ihr ausgestatteten Pflichten erhalten und verstärken“.39 Bis weit in das zwanzigste Jahrhundert hinein machten Liszt und seine Mitstreiter viel aus den „metaphysischen“, wenn nicht mystisch-religiösen Akzenten von Bindings weniger gemäßigten Äußerungen, die sie allgemein und vage mit der Apotheose des Staates in einigen (konservativen) Linien des Hegelianismus in Verbindung brachten. Liszt betonte, dass die staatliche Strafe ein Mittel zum

Für eine Aufstellung aus dem neunzehnten Jahrhundert siehe Hermann Ortloff, Methodologie oder Lehre des Studiums der Rechts- und Staatswissenschaft: nebst deutschen Studien- und Examenordnungen, 1863, § 9. Auch der Geltungsbereich der „Rechtswissenschaft“ verschiebt sich erheblich. Er wird oft synonym mit dem Studium der Rechtsdogmatik verwendet; alternativ wird die dogmatische Analyse als nur ein Teil der Rechtswissenschaft dargestellt, wobei in diesem Fall die „anderen“ Formen der Analyse oft als Handlanger der Rechtsdogmatik innerhalb der Rechtswissenschaft im weitesten Sinne fungieren. 39 Karl Binding, Das Problem der Strafe in der heutigen Wissenschaft, in: ders., Strafrechtliche und strafprozessuale Abhandlungen, Bd. 1, 1915, S. 61, 84, 86, 85.

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Zweck sein muss. Dieses Ziel war, nachdem die Strafbefugnis von der Familie auf die Friedensgenossenschaft und dann den Staat übergegangen war40, der Schutz der Rechtsordnung: „Die Staatsgewalt hat das Schwert der Gerechtigkeit in die Hand genommen, um die Rechtsordnung zu schützen gegen den Frevler, der an ihr sich vergreift.“41 Ein Vergehen „stört die Rechtsordnung des Staates“; die Strafe schützt die „Rechtsordnung des Staates“; daher hat der Staat die Befugnis zur Strafe.42 Zusammenfassend lässt sich sagen: Binding sah den Zweck des staatlichen Strafens in der „Aufrechterhaltung der Autorität der Gesetze“. Liszt hingegen darin, „die Rechtsordnung des Staates“ zu schützen. Binding verfolgte einen retrospektiven Ansatz, indem er sich auf peccatum statt peccetur, Vergeltung statt Prävention konzentrierte. Und Liszt gerade umgekehrt. Und doch hielten sich beide fest an derselben positivistisch-etatistischen Auffassung von Strafmacht: Verbrechen verletzte die Rechtsordnung des Staates und Strafe bestätigte und sicherte sie. Liszts Werk – und sein „modernes“ Erbe – werden in diesem Buch mehrfach wiederauftauchen. Es lohnt sich, Liszts Auffassung von staatlicher Strafmacht genauer zu betrachten, denn er wird – nicht zuletzt im Gegensatz zu Binding – seit langem als der liberale Gestalter der Entwicklung der deutschen Strafrechtswissenschaft überhaupt dargestellt.43 Das noch immer definitive Narrativ des deutschen Strafrechts (aus der Feder von einem der letzten Schüler Liszts, Eberhard Schmidt) betrachtet Liszt als die entscheidende Figur der letzten und höchsten Stufe in der Entwicklung der „modernen“ deutschen Strafrechtswissenschaft: die „rechtsstaatlich-soziale Epoche“, in der sich ein fortdauerndes Engagement für Rechtsstaatlichkeit und „Liberalismus“ einerseits mit der Anerkennung einer fortschrittlichen, selbstbewussten und wohlwollenden Vision des Staates, als „sozialer Wohlfahrtsstaat“ andererseits, verbanden.44 40

Franz von Liszt, Der Zweckgedanke im Strafrecht (1883), in: ders., Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, Bd. 1, 1905, S. 126, 139; siehe auch Karl Binding, Die Entstehung der öffentlichen Strafe im germanisch-deutschen Recht, 1909, S. 941, 944; Gustav Radbruch, Der Ursprung des Strafrechts aus dem Stande der Unfreien, in: Elegantiae Juris Criminalis: Vierzehn Studien zur Geschichte des Strafrechts, 1938 (2. Aufl. 1950), S. 1. 41 Liszt, Der Zweckgedanke im Strafrecht (Fn. 40), S. 150. 42 Ebd., S. 149, 177. 43 Das hat angefangen sich zu verändern. Siehe z. B. Wolfgang Naucke, Die Kriminalpolitik des Marburger Programms, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 94 (1982), S. 525; Vormbaum, Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte (Fn. 28), S. 118 ff.; ­Michael Pawlik, Das Unrecht des Bürgers: Grundlinien der Allgemeinen Verbrechenslehre, 2012, S. 73–74. 44 Für eine vielversprechende neuere historische Darstellung siehe Vormbaum, Einführung in die moderne Strafrechtsgeschichte (Fn. 28); siehe auch Vormbaums ausgezeichnete Sammlung historischer Quellenmaterialien: Thomas Vormbaum, Moderne deutsche Strafrechtsdenker, 2011. In Vorwegnahme des dualistischen analytischen Ansatzes, der in Teil II dargelegt wird, illustriert der Begriff „sozialer Rechtsstaat“ sehr schön die rhetorische Vermeidung durch ein Etikett: Die konstitutive Spannung zwischen Polizei und Recht wurde einfach dadurch gelöst, dass Polizei und Recht in einem einzigen Etikett zusammengefasst wurden: dem sozialen Rechtsstaat. Zum Etikettismus siehe Kapitel 2, Abschnitt C (z. B. „Polizeirecht“ und „Verwaltungsrecht“).

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Liszt fühlte sich mit der Idee eines mächtigen Staates mit einer entsprechend breiten und scharfen Strafmacht nicht weniger wohl als Binding (oder ihre Zeitgenossen). Sein „Fortschrittsdenken“ ging von einem souveränen Staat aus, dessen enorme Macht er auf Grundlage eines rigorosen Strebens nach wissenschaftlicher Wahrheit („Kriminologie“) und unterstützt durch ein wissenschaftlich konzipiertes Herrschaftssystem, einschließlich eines zentralen Strafregimes („Strafrecht“ und „Strafrechtspolitik“), rational nutzen wollte. So ist es nicht verwunderlich, dass Liszt ein großer Bewunderer Otto von Bismarcks war, der im späten 19. Jahrhundert mit der Gründung eines starken und äußerlich wie auch innerlich aggressiven, kaiserlichen Nationalstaates beschäftigt war.45 Bismarck baute das Deutsche Reich durch eine Reihe von Kriegen auf, die im Deutsch-Französischen Krieg von 1870−71 gipfelten, und baute einen mächtigen zentralisierten Verwaltungsstaat nach preußischem Vorbild auf, der weitgehend unabhängig von einer fühlbaren demokratischen Kontrolle agierte. Das Strafrecht spielte in Bismarcks grund­legendem Staatsprojekt insofern eine Schlüsselrolle, als die Verabschiedung eines deutschen Strafgesetzbuches 1871 die Gründung des neuen deutschen Staates durch die Kodifizierung seiner souveränen Strafmacht ankündigte und manifestierte, gemäß Bismarcks Versprechen, „mit eisernem Schritt [zu] zermalmen, was der Herstellung der deutschen Nation in ihrer Herrlichkeit und Macht“ entgegenstehe.46 Bemerkenswert ist, dass Liszt in seinem berühmten und oft (wenn auch selektiv) zitierten „Marburger Programm“ (1882) die oben genannte historische Darstellung (Familien – Friedensgemeinschaft – Staat) ergänzte, indem er sich auf die berüchtigte Ansicht Fichtes berief, dass die Tat des Täters seinen Ausschluss aus der „Rechtsgemeinschaft“ auslöst; der Täter wird buchstäblich zum Gesetzlosen („vogelfrei“). Der Staat besitzt nach Liszt die „zügellose Strafgewalt“.47 Aus konsequentialistischen Gründen kann er jedoch beschließen, diese grenzenlose Macht zu begrenzen, indem er dem Täter das „Recht, gestraft zu werden“48 und damit die Möglichkeit einräumt, „durch die Strafleistung sich das Verbleiben in der Rechtsgemeinschaft zu erkaufen“.49 Die willkürliche, konsequentialistische Selbstbeschränkung des Staates in seiner grenzenlosen Strafmacht würde, wenig überraschend, viel Raum für ein flexibles, scharfes und breites Strafregime lassen. Es gibt keinen Grund, präventive Maßnahmen aus dem Strafarsenal des Staates zu eliminieren. Das wäre etwa so ähnlich wie einem Arzt die prophylaktischen Maßnahmen zur Behandlung der diagnos-

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Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege (Fn. 28), S. 361. Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages des Norddeutschen Bundes, I.  Legislatur-Periode  – Session 1870, Bd. 2, 1870, S. 1121 (52. Sitzung v. 23. Mai 1870). 47 Liszt, Der Zweckgedanke im Strafrecht (Fn. 40), S. 150, 153. 48 Ebd. 49 Ebd., S. 25. 46

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tizierten Krankheit eines Patienten zu verweigern. Die Unschädlichmachung der Unverbesserlichen – d. h. von Tätern jenseits von Behandlung und Individual- oder Generalprävention – verlangt eine unbefristete Inhaftierung in speziellen Institutionen, bestehend aus der Erfahrung des unbestimmten bürgerlichen Todes, und gekennzeichnet durch monotone Zwangsarbeit, die gelegentlich von Episoden der Züchtigungsdisziplin unterbrochen wird: „Sie besteht in ‚Strafknechtschaft‘ mit strengstem Arbeitszwang und möglichster Ausnutzung der Arbeitskraft; als Disziplinarstrafe wäre die Prügelstrafe kaum zu entbehren; obligatorischer und dauernder Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte müßte den unbedingt entehrenden Charakter der Strafe scharf kennzeichnen.“50

In Schmidts 1947 veröffentlichtem konventionell-historischem Narrativ ging die von Liszt geprägte goldene, rechtsstaatlich-soziale Ära der deutschen Strafrechtswissenschaft mit Beginn der NS-Zeit zu Ende. Gleichzeitig setzte sich Liszts Einfluss jedoch nach 1933 fort – und wurde sogar noch verstärkt – als das NS-Regime mehrere Kernpunkte von Liszts „modernem“ Programm in Kraft setzte, vor allem und am schnellsten das zweispurige System von „Strafen“ und „Maßnahmen“, das im Rahmen einer umfassenden auf „gefährliche Gewohnheitsverbrecher“ abzielende Reform von 1933 eingeführt wurde und bis heute in Kraft bleibt. Mithin genau auf die Verbrecher bzw. Unverbesserlichen, die Liszt versuchte unschädlich zu machen, in genau der Weise, wie Liszt es anstrebte, sie unschädlich zu machen – durch eine unbefristete Haftstrafe. Auf diese Weise passt Liszt auch in ein Narrativ eines deutschen Strafrechts und einer deutschen Strafrechtslehre, die die NS-Zeit überlebt haben, wenn nicht unberührt, so doch zumindest ungebrochen in ihrem wissenschaftlichen Geist. Schließlich sind, laut dieses Narrativs, nicht alle zwischen 1933 und 1945 in Betracht gezogenen und beschlossenen Strafrechtsreformen mit einem wissenschaftlichen Projekt des Strafrechts unvereinbar. Wie könnte es anders sein, wenn viele 50

Liszt, Der Zweckgedanke im Strafrecht (Fn. 40), S. 170. Zur Strafsklaverei siehe Kapitel 4, Abschnitt E (Beccaria, Kant, Bentham, Feuerbach, Fichte). Ironischerweise stellte Radbruch die körperliche Züchtigung von Leibeigenen in den Mittelpunkt seiner Darstellung der Geschichte des Strafrechts und berief sich gleichzeitig auf Liszts Zustimmung zur Prügelstrafe, um in den frühen 1930er Jahren den Angriffen der neuen NS-Strafrechtler auf Liszts angebliche Milde gegenüber der Kriminalität, oder besser gesagt gegenüber den Kriminellen, entgegenzuwirken. Siehe Gustav Radbruch, Die geistesgeschichtliche Lage der Strafrechtsreform, in: Arthur Kaufmann (Hrsg.), Gustav Radbruch Gesamtausgabe, Bd. 9, bearbeitet von Rudolf Wassermann, 1992, S. 323, 326 (zuerst erschienen 1932). Das häufige Beharren von Progressiven in der Umgebung von Liszts – vor, während und nach der NS-Zeit – dass ihr Projekt nicht durch einen schwächlichen Liberalismus, sondern durch wissenschaftliche Diagnosen individueller Sozialgefährlichkeit motiviert war, ist kaum mit Liszts Ruf als liberaler Verfechter der Rechte des Einzelnen in Einklang zu bringen. Siehe z. B. Gustav Radbruch, Autoritäres oder soziales Strafrecht, in: Der Mensch im Recht: Ausgewählte Vorträge und Aufsätze über Grundfragen des Rechts, 1957, S. 63, 68–70 (zuerst erschienen 1933); siehe auch Eberhard Schmidt, Vergeltung, Sühne und Spezialprävention, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 67 (1955), S. 177, 181 („schwächliche Humanitätsduselei“).

A. Einseitige Strafrechtsvergleichung

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von ihnen schon lange vor 1933 von Liszt vorgeschlagen wurden und zudem nach 1945 bis heute weiter bestünden? Der vermeintlich radikale Abstieg im Jahr 1933 aus dem von Liszt dominierten goldenen Zeitalter der deutschen Strafrechtswissenschaft und die Umsetzung des Lisztschen wissenschaftlichen „Programms“, das fast unmittelbar nach der nationalsozialistischen Machtübernahme begann, ist jedenfalls ein seltsamer Zufall. Liszt wird von Schmidt und anderen im Allgemeinen als tadellos liberaler Verfechter des „Rechtsstaats“ dargestellt. Als Beweis, oder besser gesagt als rhetorische Ausschmückung, findet man häufig einen Hinweis auf Liszts angeblich selbsterklärende Behauptung, dass „das Strafgesetzbuch die magna charta des Verbrechers“ ist.51 Dieses Motto allein begründet jedoch kaum ein Bekenntnis zur „Rechtsstaatlichkeit“ in Strafangelegenheiten. Es fasst Liszts Versuch zusammen, zu erklären, welche Rolle die Strafrechtslehre und insbesondere ein Strafgesetzbuch in einer schönen neuen Welt der „Kriminalpolitik“ spielen könnte. Sollten wir nicht, wie Liszt 1893 seine progressiven Mitstreiter rhetorisch fragte, unsere Strafgesetzbücher durch einen einzigen Paragraphen ersetzen: „Jeder gemeingefährliche Mensch ist im Interesse der Gesamtheit so lange als nötig unschädlich zu machen“ – wenn wir nur den nötigen „Mut“ hätten? Seine Antwort: Das Strafgesetzbuch ist „paradoxerweise“ die „magna charta“ des Verbrechers, das ihn vor dem „allmächtigen Staat“ schützt, indem es die Ausübung dessen Strafmacht gegen ihn auf „gesetzliche Voraussetzungen“ innerhalb „gesetzlicher Grenzen“ beschränkt. Hier erinnert Liszt seine Kollegen in der „Internationalen Kriminalistischen Vereinigung“ – die er einige Jahre zuvor, 1889, gemeinsam mit einem belgischen und einem niederländischen Kollegen gegründet hatte –, daran, dass ihr enthusiastisches Streben nach neuen kriminologischen Ideen und Reformvorschlägen die traditionelle Strafrechtswissenschaft in Form der dogmatischen Forschung nicht zwangsläufig obsolet machte. Die insulare Strafrechtswissenschaft für nicht-­ dogmatische, sozialwissenschaftliche Untersuchungen zu öffnen, war eine Sache. Diesen engstirnigen Trend in der „Kriminalpolitik“ jetzt einfach umzukehren und das „Strafrecht“ zu verdrängen, eine andere. Jedenfalls kommt es letztlich nicht darauf an, was Liszt selbst über die Erwünschtheit irgendwelcher theoretischen oder rechtlichen Begrenzung dieses spannenden neuen Projekts der „Kriminalpolitik“ gefühlt oder gedacht haben möge.52 Es spielt in diesem Zusammenhang weder eine Rolle, wie sehr er auf diese Grenzen bestanden hat, noch wie früh oder oft. Entscheidend ist, ob sein „fortschrittliches“ positivistisches und etatistisches Projekt diese Grenzen aus sich selbst entwickeln 51 Franz von Liszt, Ueber den Einfluß der soziologischen und anthropologischen Forschungen auf die Grundbegriffe des Strafrechts, in: ders., Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, Bd. 2, 1905, S. 75, 80 (Hervorhebung im Original). 52 Vgl. Gerhard Werle / Moritz Vormbaum, Das Strafrecht an der Friedrich-Wilhelms-­ Universität: 1871–1945, in: Heinz-Elmar Tenort (Hrsg.), Geschichte der Universität Unter den Linden: 1810–2010, Bd. 5, 2010, S. 109, 115.

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Kap. 1: Engagierte Forschung 

konnte. Vielleicht ja, vorausgesetzt, diese Grenzen gehen nicht über formale Prinzipien wie Vorhersehbarkeit, Prospektivität, Spezifizität, Öffentlichkeit  – d. h. das Bündel von Maximen, das Liszt (und seine Mitstreiter und Anhänger) Rechts­ sicherheit genannt haben mögen – hinaus, die sich der Staat als oberster Träger der („objektivierten“) grenzenlosen Strafmacht selbst auferlegt und selbst kontrolliert. Aber in diesem Fall ist es wichtig, die Bescheidenheit und Flexibilität dieser Grenzen zu erkennen. Sie sind rein formell und sagen weder etwas über den Inhalt der Normen aus, die der Staat nach eigenem Ermessen ankündigen, überarbeiten, aufgeben oder wiederbeleben kann, noch über die Befolgung dieser Normen durch den Staat, die er schließlich – nach eigenem Ermessen – selbst erlassen hat. Sie sind mit einem Rechtsstaat (oder dem Prinzip der Legalität) ebenso vereinbar wie mit einem Staat oder einer anderen Organisation, die den wohlkalkulierten und vielleicht sogar weisen Vorgaben einer „Geschäftsführung“ (managerial direction: Fuller) unterliegen.53 Um auf die rhetorische Frage nach der Zukunft des Strafgesetzbuches und der traditionellen Strafrechtswissenschaft („die juristische Schule des Strafrechts“54) zurückzukommen, wirkt Liszts Antwort merkwürdigerweise unverbindlich. Er schwankt zwischen Vorhersage und Verordnung: Wird das Strafgesetzbuch (und die Strafrechtswissenschaft, die er als quasi gleichbedeutend behandelt), wie wir es kennen, überleben, oder sollte es überleben? In dieser Angelegenheit nimmt Liszt die Rolle eines externen wissenschaftlichen Beobachters ein, dessen Aufgabe sich auf die Beobachtung der Entwicklung staatlicher (Straf-)Macht beschränkt: „Der liberale Individualismus (…) hat uns die scharfe Begrenzung der staatlichen Straf­ gewalt gebracht; wird diese der hereinbrechenden sozialistischen Strömung Widerstand zu leisten vermögen? Ich begrüße diese Strömung; und ich würde sie selbst dann begrüßen, wenn sie das Strafgesetzbuch samt seinen Erklärern und Anwendern hinwegspülen sollte. [Hervorhebung hinzugefügt] Aber ich bin überzeugt, daß sie es nicht tun wird. Dem sozialistischen Staat wird die Strafe ebenso unentbehrlich sein, wie unserer heutigen Rechtsordnung, mag auch das Gesamtbild der Kriminalität ein anderes werden.“55

Erinnern wir uns, dass Liszt die staatliche Strafmacht als „Objektivierung“ der grenzenlosen Strafmacht innerhalb der Familie und der „Friedensgenossenschaft“ betrachtet. Die Aufgabe des Wissenschaftlers, ob als Rechtswissenschaftler oder als Politikwissenschaftler, als Strafrechtler oder als Kriminologe, wird durch die Art und Ausprägung der staatlichen Strafmacht definiert. Es handelt sich um eine interne beratende Rolle, nicht um eine externe kritische Rolle; Strafrechtler und Kriminologe erleichtern beide das ordnungsgemäße Funktionieren des (selbstverständlich legitimen) staatlichen Strafrechtssystems, wie es vom Staat umgesetzt 53

Siehe Lon L. Fuller, Morality of Law, 2. Aufl. 1964, S. 207–214. Liszt, Ueber den Einfluß der soziologischen und anthropologischen Forschungen (Fn. 51), S. 75, 80. 55 Ebd., S. 81. 54

A. Einseitige Strafrechtsvergleichung

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wird. Der Strafrechtsexperte (als Gesetzeshüter) hat ebenso wenig eine kritische Funktion wie der kriminalpolitische Experte: „Und solange sie bestehen bleiben, haben die Juristen in alter Weise ihr Handwerk zu üben. Sie haben als Rechtslehrer die Rechtsregeln, die der Staat aufgestellt (hat), nach der logischen Methode zusammenzufassen und zu zerlegen, sie im geschlossen systematischen Aufbau den Schülern zu überliefern. Sie haben als Rechtspfleger auf den gegebenen Einzel­ fall die Rechtsregel anzuwenden (und) an den einzelnen Tatbestand, das Verbrechen, als Rechtsfolge die Strafe zu knüpfen.“56

Um ein letztes Mal auf Liszts beunruhigende Frage nach dem Schicksal und der Erwünschtheit von Strafgesetzbüchern zurückzukommen, stellt sich heraus, dass Liszt es letztendlich trotz der rhetorischen Bezugnahmen auf „magna charta“ und dergleichen „begrüßen“ würde, wenn der Staat den notwendigen „Mut“ aufbrächte, sein Strafgesetzbuch „durch einen einzigen Paragraphen zu ersetzen: „Jeder gemeingefährliche Mensch ist im Interesse der Gesamtheit so lange wie nötig unschädlich zu machen“.57 Noch wichtiger: Selbst wenn er diese Entwicklung nicht begrüßen würde, hätte er nicht die Mittel (und auch nicht die Autorität) um sie zu kritisieren, weder als Strafrechtler noch als Kriminologe. Seine Aufgabe als juristischer und kriminologischer Wissenschaftler wäre es, jedes beliebige Strafgesetzbuch, das der Staat aufgrund seiner „allgemeinen Auffassung von Kriminalität“, unabhängig von Form und Inhalt, verabschiedet haben möge (oder auch nicht), zu interpretieren, zu verfeinern und umzusetzen. Letztendlich erscheint Liszts häufig zitierte Aussage, dass „das Strafgesetzbuch die magna charta des Verbrechers“ sei, die seinen langjährigen Ruf als eisernen Verfechter des „Rechtsstaats“ in der Geschichte der deutschen Strafrechtswissenschaft bestätigen soll (zusammen mit dem Ur-Gründungsvater, P. J. A. von Feuerbach, der den nullum crimen-Grundsatz ein Jahrhundert zuvor „entdeckte“),58 als ein leerer Slogan, als überzogene rhetorische Floskel, die Liszts ambivalentes, nur 56

Ebd., S. 81. Diese Vorstellung vom Mut zur wissenschaftlichen Überzeugung, die ihrer Zeit voraus ist, zieht sich durch die progressive Literatur um Liszt. Im späten neunzehnten Jahrhundert war die Zeit offenbar reif für die Idee der Spezialprävention (die im Streit zwischen Feuerbach und Grolman zwar wissenschaftlich „richtig“ war, aber ihrer Zeit ein Jahrhundert zuvor voraus war). Aber es war nicht ganz an der Zeit, das Strafgesetzbuch und die traditionelle Doktrin zugunsten eines radikal vereinfachten behandlungsorientierten Ansatzes aufzugeben. Angesichts des wissenschaftlichen Fortschritts standen die Chancen jedoch gut, dass „wir“ schon bald den Mut aufbringen würden, unsere altmodischen Sorgen über die Einhaltung juristischer Normen abzulegen und das wissenschaftlich korrekte strafrechtliche Regime umzusetzen. Auch hier sind die Parallelen zu Wechslers Projekt des Model Penal Codes aufschlussreich. Siehe auch den Aufruf zur Aufgabe der vermeintlichen „Sanftmut“ des 19. Jahrhunderts für die Rechte der Angeklagten zugunsten einer unverhohlenen Verfolgung des Schutzes sozialer Interessen in Sayres einflussreicher Verteidigung der verschuldensunabhängigen Haftung für „Gemeinwohldelikte“ (public welfare offenses) (siehe Francis Bowes Sayre, Public Welfare Offenses, Colum. L. Rev. 33 [1933], S. 55). 58 Paul Johann Anselm von Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts, 1801, § 20. 57

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Kap. 1: Engagierte Forschung 

bedingtes und lauwarmes Bekenntnis zu spürbaren „juristischen“ Beschränkungen der staatlichen Strafmacht im Angesicht des wissenschaftlichen Fortschritts verdeutlicht.59 Für unsere Zwecke macht diese Schlussfolgerung Liszts bon mot keineswegs unbedeutend. Im Gegenteil, die Leere seines magna charta-Slogans verdeutlicht, warum das deutsche Strafrecht und die deutsche Strafrechtswissenschaft keine fertigen Antworten auf die grundlegende Legitimationsherausforderung der Strafmacht in einem modernen liberalen demokratischen Staat bieten. Dies sollte bereits aus einer rechtsvergleichenden Perspektive nicht überraschen. Angesichts unvermeidbarer gewichtiger und gerne wiederholter Erklärungen – oft in Form großer rhetorischer Schnörkel, triefend vor Selbstgefälligkeit  – ist es schwierig genug, das eigene Strafrecht hinsichtlich seiner (selbstverständlich einzigartigen) Prinzipientreue, Tugend und Gerechtigkeit einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Die Normen und die dazugehörige Ideologie eines anderen Systems mit zynischer Säure (Oliver Wendell Holmes) zu waschen, gestaltet sich noch schwieriger. Vor allem dann, wenn man – vielleicht sogar verzweifelt – nach großen oder kleinen, systemischen oder spezifischen Antworten auf Fragen sucht, die das eigene System vielleicht nicht einmal formulieren konnte. An vergleichender Wissbegier ist natürlich nichts auszusetzen, in der Hoffnung, neue Perspektiven auf vertraute Themen zu eröffnen oder vielleicht ganz neue Probleme aufzudecken, einschließlich gemeinsamer Herausforderungen, die den Grundstein für einen gemeinsamen Diskurs über eine Auseinandersetzung mit ihnen setzen können. Das ist genau der vergleichend-historische Ansatz, der in diesem Buch verfolgt wird. Um es noch einmal zu sagen, es geht darum, die grundlegende Herausforderung der Möglichkeit einer legitimen Strafmacht in einem modernen liberalen Staat zu formulieren und sich ihr zu stellen (und, wenn möglich, sie zu bewältigen). Soweit sich Deutschland am modernen liberalen rechtlich-politischen Projekt beteiligt, ist sein Strafsystem ein angemessenes Thema vergleichend-historischer Betrachtung. Aber das deutsche Strafregime kann nicht als Antwort auf die gemeinsame Herausforderung gesehen werden – oder sich selbst sehen –, während andere Mitwirkende dieses gemeinsamen Projekts nur die Fragen stellen (wenn überhaupt). Das gemeinsame Projekt des legitimen Strafens im liberalen Staat muss als gemeinsam erkannt, konzipiert und konfrontiert werden. Der Diskurs sollte durch multilateralen Austausch geprägt sein; es muss ein Dialog sein, keine einseitige Lehrveranstaltung. Ich denke, dass das möglich ist. Aber es wird nicht einfach sein. Nicht nur, weil sich die deutsche Strafrechtswissenschaft zu lange als so überle 59

Ironischerweise erweist sich Liszts Beschwörung der „magna charta“ – unbeabsichtigt – als weniger anachronistisch als üblich. Die Magna Charta als Ursprung heutiger Vorstellungen einer rule of law als Schutz der Rechte des Einzelnen vor der staatlichen Macht zu behandeln und zu zitieren, ist ebenso weitverbreitet wie ahistorisch. Siehe Jill Lepore, The Rule of History: Magna Carta, the Bill of Rights, and the Hold of Time, in: New Yorker v. 20. April 2015.

A. Einseitige Strafrechtsvergleichung

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gen gegenüber anderen Traditionen der Strafrechtslehre angesehen hat, als dass ihre Vertreter der Versuchung wiederstehen könnten den internationalen Dialog nach einer angemessenen Höflichkeitspause mit der Aufdeckung der richtigen (d. h. deutschen) Lösung der diskutierten Probleme zu beenden. Hiermit verbunden, hat es die deutsche Strafrechtswissenschaft geschafft, sich selbst davon zu überzeugen, dass sie alle wichtigen (und nicht so wichtigen) Fragen des Strafrecht identifiziert und definitiv beantwortet hat, einschließlich der grundsätzlichen Frage nach der Legitimation staatlicher Strafmacht, wobei nur noch marginale Fragen für weitere wissenschaftliche Analysen (z. B. in Dissertationen und Habilitationen) offen bleiben. Ironischerweise gibt es jedoch vielleicht keinen besseren Hinweis darauf, die Art und Schwere des Strafparadoxons des liberalen Staates völlig missverstanden zu haben, als die Überzeugung, es ein für alle Mal gelöst zu haben. Die Legitimation der prima facie illegitimen Bedrohung und Anwendung der Strafgewalt des Staates gegen seine Bürger in allen Bereichen des Strafsystems, materiell und prozessual, abstrakt und angewandt, allgemein und spezifisch, ist ein fortlaufender und immerwährender Prozess und keine einmalige Aufgabe.

Kapitel 2

Die Rhetorik des Strafrechts: Sloganismus und andere Bewältigungsmechanismen Gehen wir nun über Liszt und dessen Schlüsselrolle im vertraut linearen und beruhigenden Narrativ des deutschen Strafrechts hinaus. Wir verlassen Liszts Rolle als das Bindeglied zwischen Feuerbach, dem Begründer des liberalen deutschen Strafrechts, und dem modernen Staat, als der Strafrechtswissenschaftler, der das liberale deutsche Strafrechtsprojekt aus seiner ursprünglichen individualistischen laissez-faire-Phase des 19. Jahrhunderts in die rechtsstaatlich-soziale Ära des modernen Verwaltungssozialstaats brachte, in dem der scheinbare Widerspruch zwischen dem Liberalen und dem Sozialen, dem Individuum und dem Staat überwunden wurde. Konzentrieren wir uns statt dessen auf die strukturellen und rhetorischen Mittel, die den Aufbau und die Aufrechterhaltung eines derart beruhigenden Selbstverständnisses erleichtern, in dem die grundlegende Lösung für das Paradoxon einer liberalen Strafmacht durch eine endlose Reihe von wissenschaftlichen Fortschritten und Entdeckungen nur noch aktualisiert und verfeinert werden muss.1 Rhetorische Mittel wie Liszts „magna charta“-Slogan erfüllen eine wichtige Funktion in diesem Prozess unkritischer, innerer Selbstgefälligkeit (welche die Kehrseite des nach außen getragenen Überlegenheitsgefühls gegenüber anderen Systemen verkörpert). Nachdem Liszt vor über einem Jahrhundert im Sperrdruck erklärt hat, dass „das Strafgesetzbuch die magna charta des Verbrechers“ sei, erscheint er als das Vorbild für das liberale Strafrecht und Erbe Feuerbachs, dem Architekten des legitimen deutschen liberalen Strafstaats und Begründer von „nulla poena sine lege“ (und zwei weiteren – nicht ganz so leicht von der Zunge gehenden – lateinischen Slogans).2 Es ergibt sich der folgende Doppelschritt: Erstens haben das deutsche Strafrecht und seine Wissenschaft die Legitimitätsherausforderung des modernen liberalen demokratischen Staats längst erkannt und gelöst (siehe Feuerbach: „nulla poena sine lege“); zweitens wurde dieses Narrativ 1

Über das „Moderne“ in der modernen Strafrechtsgeschichte, siehe Markus D. Dubber, Colonial Criminal Law and Other Modernities: European Criminal Law in the Nineteenth and Twentieth Century, in: Heikki Pihlajamäki u. a. (Hrsg.), The Oxford Handbook of European Legal History, 2018, S. 1052; Markus D. Dubber, Grounding Criminal Law: Foundational Texts in Comparative-Historical Perspective, in: ders., Foundational Texts in Modern Criminal Law, 2014, S. 1. 2 Paul Johann Anselm von Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts, 1801, § 20.

A. Ontologismus

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auf den neuesten Stand gebracht (siehe Liszt: „das Strafgesetzbuch [ist] die magna charta des Verbrechers“). Um fair zu bleiben: Liszts Auffassung vom Strafrecht des 19. Jahrhunderts als Ausdruck der Sorge um die Interessen des einzelnen Angeklagten war damals weit verbreitet; er war einer von vielen progressiven Strafrechtlern in Deutschland und anderswo, auch in den Vereinigten Staaten, die an der Wende des 20. Jahrhunderts auf das hinwiesen, was sie als willkommene Wende hin zu einer stärkeren Betonung sozialer Interessen ansahen.3 Aber wir sind nicht hier, um über Liszt zu urteilen; wir sind hier, um das große Narrativ der Entwicklung des modernen liberalen Strafrechts in der Version der deutschen Strafrechtswissenschaft kritisch zu hinterfragen. Und in diesem Zusammenhang veranschaulicht die Rolle von Liszts Devise der magna charta auf anschauliche Art und Weise, was wir als die rhetorische Gattung des wissenschaftlichen Sloganismus bezeichnen könnten. Ohne den Versuch, eine umfassende Taxonomie von Gattungen zu konstruieren, die einem offenen und öffentlichen Diskurs über die Herausforderung der Strafmacht im modernen liberalen demokratischen Staat nicht dienlich sind, könnten folgende Kandidaten hinzukommen: Etikettismus, Taxonomismus und Ontologismus. Werfen wir also einen Blick auf diese Spielarten, beginnend mit dem Sloganismus, wie von Liszts vielbeachteter magna charta-Verkündigung veranschaulicht.

A. Ontologismus Zunächst jedoch noch eine kurze Anmerkung zum Ontologismus. Der Ontologismus wird keine eigene separate Behandlung erhalten, nicht weil er weniger bedeutsam wäre, sondern weil er in gewisser Weise sogar bedeutsamer ist: Er untermauert, wenn auch hier nur implizit, die anderen Manöver. Er verschärft den strafrechtlichen Diskurs und verleiht den Interventionen von Experten ein besonderes Gewicht, indem der Eindruck erweckt wird, dass nichts weniger als Sein, Wahrheit und Wesen auf dem Spiel stehen. Ein scheinbar einfacher Kategorienfehler führt letztlich zu einer Fehlinterpretation des Seins. Deutsche (und germanophile)  Strafrechtswissenschaftler werden sich heute kaum noch mit der Art von müßigen „ontischen“ Spekulationen beschäftigen, die von den 1930er Jahren bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts üblich waren. Betrachten wir zum Beispiel den seit langem bedeutenden Strafrechtswissenschaftler Hans Welzel. Bekannt ist er als der „Vater“ der „finalen Handlungslehre“, einer Großtheorie des Strafrechts, die sich aus dem – nicht einem – Begriff der 3 Siehe z. B. Francis Bowes Sayre, Public Welfare Offenses, in: Colum. L. Rev. 33 (1933), S. 55 („Das Umschwingen des Pendels“ von „individuellen“ zu „sozialen und öffentlichen Interessen“).

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Kap. 2: Die Rhetorik des Strafrechts 

Handlung entwickelt hat und das deutsche Strafrecht jahrzehntelang bestimmte. In einem Aufsatz „Die moderne Strafrechtsdogmatik und die Wertphilosophie“ – ursprünglich 1935 veröffentlicht,4 aber vierzig Jahre später in seinen „Abhandlungen zum Strafrecht und zur Rechtsphilosophie“ erneut veröffentlicht (im Wesentlichen unverändert) – überlegte Welzel, ob es „in Wahrheit nicht das Ontische in seinem ontischen Sosein selbst [ist], das ‚wertig‘ oder ‚wert‘ ist?“5 Nachdem Welzel die „Angst vor dem Ontischen“ (S. 78) anderer verwiesen hatte, verkündete er Folgendes (wieder 1975): „Vielmehr müssen die konkreten Lebensordnungen in der großen Einheit gesehen werden, in der sie ihre Wirklichkeit haben und die ihnen ihr begrenztes Recht und ihr gegenseitiges Verhältnis zuweist, nämlich in der Volksgemeinschaft mit den Notwendigkeiten der konkreten historischen Situation, die auf rechtlichem Felde vor allem in dem geäußerten Führerwillen, d. h. im Gesetz ihren sichtbaren Niederschlag finden.“ (S. 105)6

Selbst wenn deutsche Strafrechtswissenschaftler heute ihre privilegierten fachkundigen Erkenntnisse über „konkrete Lebensordnungen“ und dergleichen (selbst mit weniger offensichtlicher nationalsozialistischer Herkunft) nicht mehr ganz so eindeutig und unreflektiert preisgeben würden, so sind ontische Gewohnheiten doch schwer zu überwinden. Nehmen wir zum Beispiel Claus Roxin, den führenden deutschen Strafrechtswissenschaftler nach Welzel, bekannt als „Vater“ der „Tatherrschaftslehre“, einer weitreichenden und einflussreichen dogmatische Auseinandersetzung mit der Teilnehmerstrafbarkeit. Roxin soll in einem Aufsatz von 1962 die Ontologisierung à la Welzel endgültig widerlegt haben.7 Abgesehen von den Fragen, was es bedeuten würde, ontische Behauptungen über strafrechtliche Themen (oder sonst etwas) zu widerlegen, und ob der fragliche Artikel mehr als eine common sense-Kritik an den vermeintlichen dogmatischen Auswirkungen von Welzels ontischen Reflexionen über die Handlung (und nicht über die ontische Methode überhaupt) ist, genügt es, darauf hinzuweisen, dass Roxin selbst die Bedeutung der ontologischen Analyse in seinem berühmten magnum opus zur Strafbarkeit von Teilnehmern, Täterschaft und Tatherrschaft, das ein Jahr später, 1963, erschien (und seither mehrmals, und zwar unverändert, neu veröffentlicht wurde, zuletzt in 2015), anerkannt hat. In seiner eigenen Arbeit verwirft Roxin 4 Verzeichnis der Schriften von Hans Welzel in chronologischer Reihenfolge, in: Günter Stratenwerth u. a. (Hrsg.), Festschrift für Hans Welzel zum 70. Geburtstag am 25. März 1974, Bd. 1, 1974, S. 1. 5 Hans Welzel, Die moderne Strafrechtsdogmatik und die Wertphilosophie, in: Abhandlungen zum Strafrecht und zur Rechtsphilosophie, 1975, S. 70, 85. 6 Welzel zitiert nicht nur Schaffstein, Dahm, und Larenz (alles führende NS-Professoren), sondern auch Freisler (den späteren Präsidenten des Volksgerichtshofs). Ebd., S. 105; vgl. ­Michael Kubiciel, Welzel und die Anderen: Positionen und Positionierungen Welzels vor 1945, in: Wolfgang Frisch u. a. (Hrsg.), Lebendiges und Totes in der Verbrechenslehre Hans Welzels, 2015, S. 135. 7 Siehe z. B. Kai Ambos, 100 Jahre Belings „Lehre vom Verbrechen“: Renaissance des kausalen Verbrechensbegriffs auf internationaler Ebene?, in: Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik 2006, S. 464, 466.

B. Sloganismus

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die ontologische Spekulation nicht, sondern ergänzt sie nur mit einer „teleologischen“ Analyse, um eine „Synthese zugleich sinnerfassender wie sinngebender Betätigung“ (S. 25, § 5) zu schaffen, die sich auf den „Täter“ als „Zentralgestalt des handlungsmäßigen Geschehens“ konzentriert (§ 6). Der Ontologismus ging also weiter, wenn auch vielleicht etwas ängstlicher als zuvor. Es änderte sich der Analysand; während Welzel das Wesen „der Handlung“ erblickte, erfasste Roxin den Sinn „des Täters.“ Im Vergleich zu Welzels Glanzzeiten verbringen deutsche Strafrechtswissenschaftler heutzutage kaum noch Zeit damit, die dogmatisch-generative Kraft der ontologischen Reflexion zu nutzen. Der Sinn jedoch, dass die Kategorien und Konzepte der deutschen Strafrechtswissenschaft doch irgendwo, irgendwie in „ontischen Strukturen“, „der Natur der Dinge“ oder einer solchen konkreten Wirklichkeit verwurzelt sind, die nur durch tiefe juristisch wissenschaftliche Reflexion zugänglich ist – auch wenn diese Geistesleistung von einer früheren Generation geleistet worden sein mag  –, scheint immer noch deutsche Beiträge zum strafrechtlichen Diskurs zu unterliegen. Deutlich kann dies – verständlicherweise – in rechtsvergleichenden Diskussionen werden, deren Teilnehmer aus anderen Ländern (noch) nicht in den Genuss ähnlich durchdringender Einblicke in die Natur des „Handelns“, der „Herrschaft“, des „Täters,“ des „Vorsatzes“ oder der „Schuld“ gekommen sind. Dieser ontische Restbestand behindert eher die offene Debatte innerhalb einer rechtlich-politischen Gemeinschaft über grundlegende Begriffe des Strafrechts, ganz zu schweigen von dem Verhältnis zwischen diesen Begriffen und der Legitimität der staatlichen Strafmacht. Das gilt noch verstärkt sobald der Untersuchungsrahmen und der Diskurs – wie in diesem Buch – auf eine länderübergreifende systemische Ebene ausgedehnt wird, um jedes rechtlich-politische System einzubeziehen, das sich als Teil des Projekts zum Aufbau eines modernen liberalen demokratischen Staates versteht.

B. Sloganismus Liszts Behauptung, dass „das Strafgesetzbuch die magna charta des Verbrechers“ sei, kombiniert verschiedene Schlüsselmerkmale eines rechtswissenschaft­ lichen Slogans. Es handelt sich um eine allgemeine, prägnante, autoritative Aussage, die eindeutig als nachdrückliche und einprägsame Formulierung eines wichtigen Grundprinzips, ohne jegliche Qualifikationen (zeitlich, national, systemisch), gedacht ist. Außerdem ist sie hilfreich unbestimmt, fast schon mysteriös. Es ist zu beachten, dass die Aussage als Slogan weder eine Begründung enthält noch sie erfordert. Vielmehr handelt es sich um eine unkomplizierte, direkte Behauptung einer verbindlichen Tatsache, gefolgt von einer Reihe ähnlicher Behauptungen, einschließlich des Zitats einer früheren Behauptung von Liszt selbst, von

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Kap. 2: Die Rhetorik des Strafrechts 

denen jede einfach in unterschiedlicher Weise die Behauptungen wiederholt, die einer Erläuterung, Begründung und Rechtfertigung bedürfen würden: dass – und warum – es Einschränkungen der Strafrechtsmacht des Staates gibt, dass – und wie – diese Einschränkungen in der Strafrechtsdoktrin oder im Strafgesetzbuch oder beidem festgelegt sind, sowie dass – und wie – diese Einschränkungen zumindest mit dem Projekt einer progressiven Kriminologie vereinbar sind, wenn sie nicht von ihm gefordert werden. Jeder Versuch, einen wissenschaftlichen Slogan zu begründen, schmälert dessen Autorität, indem er andeutet, dass der Slogan einer Rechtfertigung bedürfe und nicht einer bloßen Bekanntgabe. Die Autorität des Slogans richtet sich in diesem Fall in erster Linie nach der Autorität des Sprechers. Hier ist die Autorität des Sprechers klar etabliert (damals und – noch wichtiger – im Nachhinein). Außerdem beruft sich Liszt auf mehrere andere Autoritätsquellen, eine persönlicher und zwei textueller Art. Die (zusätzliche) persönliche Autorität wird von P. J. A. von Feuerbach geliefert, vielleicht die einzige andere Person, deren Ansehen in der deutschen Strafrechtswissenschaft das von Liszt übersteigt. Feuerbachs Autorität wird indirekt und implizit als Urheber einer der textlichen Autoritätsquellen geltend gemacht: dem „nullum crimen sine lege“-Grundsatz. Dieses berühmte Motto selbst erscheint als deus ex machina in Feuerbachs Strafrechtslehrbuch von 1801, verkündet in einer Reihe von Behauptungen von scheinbar fundamentaler Bedeutung.8 In diesem Sinne greift Liszts „magna-charta“-Slogan auf die Autorität eines früheren Slogans zurück, der die Entwicklung der Strafrechtswissenschaft anschaulich darstellt, indem er Behauptungen aneinander reiht, von denen keine unabhängig unterstützt wird und jede einzelne ihre Autorität teilweise aus den anderen Gliedern der Kette schöpft. Diese Art der wissenschaftlichen Analyse wird als wissenschaftlicher Fortschritt bei jeder Entdeckung auf der Grundlage früherer Entdeckungen präsentiert, der im Laufe der Zeit zum Aufbau eines umfassenden Systems juristischer Kenntnisse führt. Sie beeinträchtigt allerdings eine kritische Analyse der Ausübung staatlicher Macht, die für die Legitimation der Strafmacht in einem modernen liberalen demokratischen Staat unerlässlich ist, indem sie sich auf autoritative Aussagen autoritativer Experten stützt, deren Autorität sich unter anderem aus ihrer Anerkennung des Status quo der staatlichen Strafbefugnis ableitet.9 Liszts Bemerkung zur magna charta war schließlich eine 8

Siehe Markus D. Dubber, The Legality Principle in American and German Criminal Law: An Essay in Comparative Legal History, in: Georges Martyn u. a. (Hrsg.), From the Judge’s Arbitrium to the Legality Principle: Legislation as a Source of Law in Criminal Trials, 2013, S. 365, 379 ff. 9 Es überrascht nicht, dass die positivistisch-etatistischen Attribute der Hauptfiguren des Narrativs des liberalen deutschen Strafstaates tendenziell weniger Beachtung finden als ihre vermeintlich kritisch-liberalen Züge. Siehe aber Kapitel 1 (Fn. 46) (Radbruch und Schmidt über die unterschätzte harte, unschädlichmachende Seite von Liszts strafrechtlichem Programm). Feuerbach und Liszt treten als Verfechter der Grenzen der staatlichen Strafmacht auf, nicht der staatlichen Macht selbst. Als wie liberal Feuerbach und Liszt jedoch gelten

B. Sloganismus

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Beobachtung darüber, was das Strafgesetzbuch ist und war, nicht was es sein sollte oder sein muss. Liszt ist also nicht nur ein Positivist und Etatist, sondern auch – und für unsere Zwecke besonders wichtig – ein Apologet staatlicher Strafmacht. Das Strafgesetzbuch ist die magna charta des Verbrechers, bis – und nur bis – der Staat etwas anderes bestimmt. Häufig werden juristische wissenschaftliche Slogans entweder in Latein formuliert oder enthalten zumindest den Hinweis auf einen lateinischen Begriff.10 Die Einbeziehung des Lateinischen ist nützlich, denn sie kennzeichnet den Slogan als die Verwendung eines wissenschaftlichen Terminus technicus, der von Wissenschaftlern für Wissenschaftler entworfen wurde. Als solches ist der Zugang für Nicht-Experten nicht möglich und wird so gegen die Kritik von Nicht-Experten abgeschirmt. Das Lateinische deutet für gewöhnlich auch auf eine Grundlage im römischen Recht hin, oder zumindest auf einen sehr langen, vielleicht jahrtausende­ langen Stammbaum. Sein scheinbares Alter und der vermeintliche Ursprung im römischen Recht verstärken gemeinsam die Autorität der Aussage. In diesem Fall wird auf ein konkretes historisches Dokument verwiesen, die Magna Charta von 1215. Der Verweis auf die „magna charta“ ist aus zwei Gründen nützlich (abgesehen von der Fassade der Autorität, die die Erwähnung eines lateinischen Wortes oder Satzes mit sich führt): Erstens hebt es die Expertise des Sprechers hervor, in diesem Fall seine Expertise in der rechtlich-politischen und insbesondere mittelalterlichen englischen Geschichte (egal, ob es überhaupt einen Hinweis darauf gibt, dass der Sprecher diese Expertise tatsächlich in Anspruch nehmen könnte und, wenn dem so wäre, die gleiche pauschale Aussage getroffen hätte). Zweitens, obwohl der genaue historische Ursprung der zitierten „magna charta“ nicht dargelegt wird, wie es sich für einen Slogan gehört, hätte man erwarten können, dass Leser von ihrem hohen Alter beeindruckt wären; als altes Dokument könnte sie wiederum beträchtliche Autorität beanspruchen, wenn auch nicht die Autorität der klassischen römischen Texte, an deren Erschließung ­Savigny und seine wissenschaftlichen Mitstreiter arbeiteten. Aber die Lisztsche „magna charta“ war natürlich viel mehr als ein altes Dokument. Sie war eine Idee oder, im vorliegenden Kontext, ein weiterer Slogan. Was wir hier also haben, ist ein doppelter Slogan, ein Slogan, der einen anderen Slogan zitiert. Der Verweis auf die „magna charta“ ist selbst ein impliziter Verweis auf bekannte Mottos wie „Die Magna Charta ist der Ursprung der Rule of Law!“ oder können, ist eine offene Frage. Dasselbe gilt für die liberalen Meriten der großen Denker – vor allem Beccaria und Kant – deren Konzept von liberaler staatlicher Strafmacht sie in der einen oder anderen Weise umgesetzt haben sollen. Der Faden der Strafsklaverei, der sich, über zwei Jahrhunderte hinweg und trotz vermeintlich kategorischer Unterschiede (Retributivismus vs. Konsequentialismus, peccatum vs. ne peccetur), durch ihr Werk zieht, rückt diese Frage in den Brennpunkt. Zu Beccaria, Kant, Feuerbach und Sklaverei siehe Kapitel 4, Abschnitt E. 10 Siehe z. B. Markus D. Dubber, Ultima Ratio as Caveat Dominus: Legal Principles, Police Maxims, and the Critical Analysis of Law (http://dx.doi.org/10.2139/ssrn.2289479) (3. Juli 2013).

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Kap. 2: Die Rhetorik des Strafrechts 

„Die Magna Charta ist die Wiege individueller Rechte!“ oder auf eine beliebige Variation über das allgemeine Thema, irgendein Grundprinzip oder lobenswertes Merkmal beispielsweise des angloamerikanischen Rechts des 19. (oder 21.!) Jahrhunderts – oder offenbar sogar des deutschen Rechts – mit diesem Dokument des englischen Mittelalters in Verbindung zu bringen. (Es lohnt sich, kurz innezuhalten, um die Ironie auch auf der Ebene der sloganistischen Rhetorik zu würdigen, dass hier die liberalen Merkmale des deutschen Strafrechtsgesetzbuches durch den emphatischen Verweis auf ein englisches Dokument aus dem 13. Jahrhundert hervorgehoben werden, zumal sich das deutsche Strafrecht – wie wir bald erfahren werden11 – schon lange seiner Überlegenheit gegenüber dem englischen Strafrecht sicher ist, nicht zuletzt auch in Anbetracht dessen Unvermögens, ein eigenes Strafrechtsgesetzbuch zu schaffen.) Die Inanspruchnahme eines (vorzugsweise) lateinischen Rechtsmottos braucht sich nicht auf seine Zitierung zu beschränken. Eine originellere und ambitioniertere Art, die Überzeugungskraft eines bekannten Slogans zu nutzen, besteht darin, ihn an die eigenen Bedürfnisse anzupassen. Feuerbachs Nullum Crimen-Motto (das erstmals 1801 als Bündel von drei Leitsätzen erschien) erwies sich in dieser Hinsicht bis weit in das zwanzigste Jahrhundert als besonders inspirierend, wie wir später sehen werden (z. B. nulla poena sine lege scripta, nulla poena sine lege praevia, und viele andere). Liszts Magna Charta-Verkündung hat zudem selbst Variationen inspiriert, wenn auch in wesentlich bescheidenerem Umfang.12 Slogans (lateinisch oder nicht) unklarer Herkunft, aber mit großem rhetorischen Gewicht sind natürlich nicht nur im deutschen Strafrecht zu finden. Man denke zum Beispiel an die „Palladien“ der Freiheit (Habeas Corpus und die Jury, um zwei weitere zu nennen, natürlich neben Magna Charta selbst) und an Mottos wie actus reus non facit reum nisi mens sit rea (eine Art lateinisches angloamerikanisches Schuldprinzip) und den „goldenen“ – und sogar den „silbernen“ – Faden, der die Geschichte des englischen Strafrechts „durchlaufen“ soll.13 Angloamerikanische Strafrechtler, die auf der Suche nach feierlichen Erklärungen strafrechtlicher Prinzipien sind, müssten daher nicht ihren Blick nach auswärts auf die deutsche Strafrechtswissenschaft lenken. Ohne vollständige Listen der angloamerikanischen und deutschen strafrechtlichen Grundsätze zusammengestellt zu haben, würde ich jedoch erwarten, dass die Letztere zumindest im Bereich des materiellen Strafrechts um einiges länger ausfallen dürfte als die Erstere. Wie bereits erwähnt, beziehen sich die angloamerikanischen strafrechtlichen Parolen eher auf Verfahrensfragen, während die deutschen prinzipiellen Verlautbarungen sich auf das materielle Strafrecht konzentrieren. 11

Siehe Kapitel 2, Abschnitt D. 1. Z. B. Bernd Schünemann, Strafrechtsdogmatik als Wissenschaft, in: Bernd Schünemann u. a. (Hrsg.), Festschrift für Claus Roxin zum 70. Geburtstag, 2001, S. 1, 11 (Schuldprinzip als „Magna Charta der Bürger“), S. 12 (ebenso), 12 Fn. 44 (Rechtsgutsprinzip). 13 Siehe Markus D. Dubber, The Schizophrenic Jury and Other Palladia of Liberty: A Critical Historical Analysis, Comp. Legal Hist. 3 (2016), S. 306. 12

B. Sloganismus

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In der angloamerikanischen Tradition werden rechtswissenschaftliche Slogans auch eher von Richtern oder früher von Traktatschreibern (z. B. Bracton, Coke, Blackstone) produziert, obwohl auch letztere ihre Erklärungen in der Regel den Richtern zuschreiben würden, wenn sie nicht selbst Richter waren (mit Ausnahme von Blackstone, der – etwa von Thomas Jefferson – für seine unzureichend bescheidene Auffassung der Rolle des Traktatschreibers kritisiert wurde14). Liszts Anrufung eines englischen Freiheitspalladiums, der Magna Charta, ist nicht nur deshalb bemerkenswert, weil sie einer Übung im vergleichenden oder zumindest nicht-parochialen wissenschaftlichen Sloganeering gleichkommt, sondern auch, weil sie sich nicht auf eine Passage in einem Gerichtserscheinung (oder einer Abhandlung) bezieht, sondern auf ein mittelalterliches Arrangement (in lateinischer Sprache) zwischen dem englischen König und seinen Baronen (oder, besser gesagt, auf die gesamte Vereinbarung, „die magna charta“, anstatt auf einen ihrer – vielen und vielfältigen – Inhalte). Bis heute wird die Magna Charta in der angloamerikanischen Tradition oft als nichts Geringeres als der Ursprung des englischen (und damit durch eine eigenartige Erweiterung auch des amerikanischen) Konstitutionalismus, wenn nicht sogar der Möglichkeit von Beschränkungen königlicher Macht überhaupt, beschworen. Diese Berufung auf die Magna Charta ist mit anderen Worten ein ausgezeichnetes Beispiel für einen Slogan, der einer Vielzahl von Zwecken dienen kann, nicht zuletzt der englischen (und damit wiederum der amerikanischen) Selbstbeweihräucherung, die „Rule of Law“, also die Rechtsstaatlichkeit, „erfunden“ zu haben. Dass Liszt ausgerechnet „das Strafgesetzbuch“ mit der sehr englischen Magna Charta in Verbindung bringt, ist wie gesagt insofern bemerkenswert, als dass England zu diesem Zeitpunkt (von Liszts Bemerkung, geschweige denn zu Zeiten der Magna Charta) noch gar kein Strafgesetzbuch hatte und auch seitdem ein solches nicht verabschiedet hat. Tatsächlich war ein von James Fitzjames Stephen ausgearbeiteter Entwurf eines Strafgesetzbuches nur wenige Jahre vor Liszts Bonmot abgelehnt worden. Es kann mit Sicherheit gesagt werden, dass in England keine zwingende Verbindung zwischen der Magna Charta (die für die Idee einer, wenn auch selbstauferlegten, Beschränkung königlicher Macht steht) und einem Strafgesetzbuch besteht. Im Gegenteil, aus der englischen Tradition heraus könnte ein Strafgesetzbuch mit der Magna Charta (oder vielmehr seinem oft beschworenen „Geist“) grundsätzlich unvereinbar erscheinen, da ein Strafgesetzbuch als Instrument der staatlichen Unterdrückung fungiert und ein umfassendes zentralisiertes, staatlich konstruiertes System von Strafnormen darstellt, das von staatlichen Bürokraten verwaltet und durchgesetzt wird. Strafgesetzbücher könnten also bei 14

Thomas Jefferson, Brief an John Tyler vom 17. Juni 1812, in: Andrew A. Lipscomb / Albert Ellery Bergh (Hrsg.), The Writings of Thomas Jefferson, Bd. 13, 1904, S. 166–167 („perverted … to the degeneracy of legal science“). Blackstone wurde schließlich doch noch Richter, aber erst nach der Veröffentlichung seiner Kommentare.

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spielsweise für die Franzosen – oder bezeichnenderweise für die britischen Kolonien (!) – geeignet sein, aber nicht für die freiheitsliebenden, auf ihre Magna Charta pochenden frei geborenen Engländer selbst. So wurden Indien und andere britische Kolonien mit (von Engländern entworfenen) Strafgesetzbüchern regiert, aber nicht das englische Heimatland. In der Tat beruhte Stephens Plan für ein eng­lisches Strafgesetzbuch auf seinen (offensichtlich heilsamen) Erfahrungen mit dem in englischer Sprache verfassten indischen Strafgesetzbuch während seiner Tätigkeit im Indian Colonial Council, wo er ein ehrgeiziges Kodifizierungsprojekt leitete, einschließlich eines von ihm verfasstes, umfassendes Beweisgesetzbuches (Indian Evidence Act 1872).15 Für Liszt war die Vorstellung des Strafgesetzbuches als „magna charta des Verbrechers“ „paradox“; für viele Engländer wäre sie ein Gräuel gewesen. Im deutschen Recht waren Rechtsprofessoren – nicht Richter – mit großem Abstand die führenden Produzenten juristischer Mottos. Das ist nicht überraschend. Juristische Slogans sind, wie wir gesehen haben, weitgehend von der Autorität ihrer Autoren abgeleitet, und traditionell genossen die Richter den höchsten Status und die größte Autorität im angloamerikanischen Recht; in Deutschland wurde diese Position von Juraprofessoren in ihrer Eigenschaft als Rechtswissenschaftler wahrgenommen. Der relative Beitrag deutscher Gerichte (und nicht einzelner Richter, wie in der angloamerikanischen Tradition, da die überwiegende Mehrheit der veröffentlichten deutschen Entscheidungen nicht unterzeichnet sind und es keine abweichenden Meinungen gibt, außer beim Bundesverfassungsgericht) zur Produktion juristischer Slogans hat in den letzten Jahrzehnten etwas zugenommen.16 Und doch neigen deutsche Juraprofessoren, und insbesondere Strafrechtsprofessoren, immer noch dazu, gerichtliche Äußerungen nicht als originelle, rechtsgenerierende Beiträge darzustellen, sondern als Anlässe, aus einer Palette von Theorien, die die Strafrechtswissenschaft, d. h. Rechtsprofessoren, zusammenstellen, eine Wahl zu treffen (die dann je nach Vorliebe des Wissenschaftlers und Kommentators für die eine oder andere Theorie entweder begrüßt oder getadelt wird).

C. Etikettismus Der Etikettismus ist eng mit dem Sloganismus verwandt; tatsächlich könnte der Etikettismus wie der Taxonomismus (und vielleicht sogar der Ontologismus) als eine Form des Sloganismus gelten. Alle zusammen könnten ebenfalls als Va 15 Die Engländer zeigten kein großes Interesse an Stephens Versuch, die koloniale Idee der Strafrechtskodifizierung von den Kolonien ins Mutterland zu reimportieren. Größeren Erfolg hatte er in den britischen Kolonien. Siehe Martin L. Friedland, R. S. Wright’s Model Criminal Code: A Forgotten Chapter in the History of the Criminal Law, in: Oxford J. Legal Stud. 1 (1981), S. 307. 16 Vgl. Bernd Rüthers, Die heimliche Revolution vom Rechtsstaat zum Richterstaat: Verfassung und Methoden, 2014.

C. Etikettismus

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riationen des Formalismus erscheinen – oder vielleicht des Strukturalismus oder der „dogmatischen Botanik“.17 Die Etiketten selbst spielen hier keine Rolle. (Wie könnte es auch anders sein, in einer Diskussion über den Etikettismus.) Sie sollen bestimmte Merkmale der deutschen Strafrechtswissenschaft und des modernen Strafrechtsdiskurses im Allgemeinen erfassen, wobei der Schwerpunkt auf der Produktion von prinzipiellen Bekanntmachungen – oder Enthüllungen oder Entdeckungen – liegt, d. h. genau auf jenen weitreichenden Beiträgen, die geeignet erscheinen könnten, das transnationale Projekt zur Bewältigung der Herausforderung legitimer Strafmacht in einem modernen liberalen demokratischen Staat voranzutreiben. Der Etikettismus kommt in verschiedenen Formen vor. Für unsere Zwecke geht es um die Vergabe – und oft auch um die Schaffung – eines Etiketts, das dazu dient, ein inhaltliches Problem anzusprechen und insbesondere ein Problem oder zumindest eine Spannung zu lösen, auch indem es das betreffende Problem oder die jeweilige Spannung verschleiert. Der Etikettismus handelt von der Unfähigkeit oder mangelnden Bereitschaft, zwischen Form und Substanz sowie Etikett und Inhalt zu unterscheiden. Der Etikettismus ist, wie der Sloganismus, eine rhetorische Abkürzung: Das Anbringen eines Etiketts an eine Sache – eine Theorie, eine Institution, eine Praxis, ein Amt – macht sie dazu. Das Anbringen eines gemeinsamen Etiketts an zwei inkompatible Dinge beseitigt die Inkompatibilität oder verbirgt sie zumindest. Man könnte beispielsweise ein Etikett an eine Doktrin oder ganz allgemein an ein Phänomen anbringen und so das Objekt mit dem Etikett (und anderen ähnlich bezeichneten Objekten) identifizieren oder vielleicht von einem anderen (anders bezeichneten) Objekt unterscheiden. Zwei kurze Beispiele. Die Theorie der positiven Generalprävention, wie wir zuvor festgestellt haben, löst die heikle Frage nach der Rechtfertigung der Bestrafung dem Anschein nach durch ein Etikett. Es ist keine neue Theorie, sondern ein neues Etikett, das die unbedenklichen Teile bestehender Theorien sammelt (bzw. betont) und die bedenklichen weglässt (bzw. ausblendet). Das Zusammenfügen einer Liste von unbedenklichen Merkmalen inkompatibler Theorien zu einem einheitlichen Etikett trägt jedoch nicht dazu bei, die zugrunde liegende Inkompatibilität anzusprechen, geschweige denn zu lösen. Tatsächlich tut sie genau das Gegenteil: Sie schafft ein Bild einer glücklichen Koexistenz, die es seit Jahrzehnten, wenn nicht sogar seit Jahrhunderten nicht mehr gegeben hat. Infolgedessen trägt Theoriequa-Etikett nichts zu ihrem vermeintlichen Ziel, die Bestrafung zu rechtfertigen, bei. Sie beschreibt eine „positive“ staatliche Praxis, aus der die Merkmale entfernt

17 Zur Botanik siehe Markus D.  Dubber, Strafrechtsdogmatik als Botanik, in: Roland Hefendehl (Hrsg.), Empirische und dogmatische Fundamente, kriminalpolitischer Impetus: Symposium für Bernd Schünemann zum 60. Geburtstag, 2005, S. 245. Heute gibt es wahrscheinlich ebenso viele Meinungsverschiedenheiten darüber, was als Formalismus gilt, wie über dessen Vorzüge. Was darauf hindeutet, dass der Begriff irgendwann seinen analytischen Nutzen überlebt hat, auch wenn sein rhetorischer Wert gleichzeitig gestiegen sein mag.

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wurden, die einer dringenden Rechtfertigung bedürfen: nicht um die Drohung und die Ausübung von Gewalt gegen Täter geht es, sondern um die Stärkung der Loyalität der Gesetzestreuen. Sie ist keine Rechtfertigung der Bestrafung, sondern eine Beschreibung (bzw. Bezeichnung) der Nichtbestrafung. (Wir werden uns in Kürze näher mit der positiven Generalprävention als Etikettierung befassen.) Eine verwandte, besonders interessante und kühne Illustration des Etikettismus ist die Schaffung – und Benennung – ganz neuer institutioneller oder dogmatischer Unternehmungen oder „Lehren“, die gekennzeichnet sind, um ein Spannungsverhältnis zwischen verschiedenen Vorstellungen von Staatsmacht zu lösen. So verbindet beispielsweise die Anerkennung eines Rechtsgebiets „Polizeirecht“, wenn auch nur per Etikett, zwei grundlegende Formen der Herrschaft, Polizei und Recht, die diametral entgegengesetzte Vorstellungen von staatlicher Macht abbilden. Die eine verwurzelt in der im Wesentlichen grenzenlosen Autorität des Hausherrn über seine Haushaltsmitglieder und die andere in der Idee der Selbstverwaltung unter Gleichen. (Wir kommen auf diese grundlegende Unterscheidung in Teil II dieses Buches im Detail zurück.18) Das Etikett „Polizeirecht“ behauptet schlicht die Vereinbarkeit dieser beiden Vorstellungen von Macht und verkündet die Möglichkeit, dass das eine (Recht) das andere (Polizei) einschränkt, auch wenn das andere (Polizei) durch seine willkürliche Grenzenlosigkeit definiert ist und das erste im Widerspruch zu ihm definiert wurde, und zwar genau deswegen. „Polizeirecht“ ist schließlich dem weniger offensichtlich widersprüchlichen „Verwaltungsrecht“ gewichen, obwohl „Verwaltung“ einfach ein weniger normativ belastetes Synonym für „Polizei“ war – eine weitere Umetikettierung also. Wie der Sloganismus ist auch der Etikettismus nicht ein einzig und allein deutsches rhetorisches Mittel.19 Das wichtigste und unverhohlenste Beispiel für Etikettierung im strafrechtlichen Bereich ist die Verharmlosung der „Bestrafung“ und ihre weitgehende Ersetzung durch andere, scheinbar weniger anstößige Etiketten: Am wichtigsten die „Behandlungsmethoden“, aber auch „Korrektur“, „Reform(ation)“, „Besserung“, „Erziehung“ und „Disziplin“ sowie „Maßnahme“ oder sogar „Buße“ – einschließlich der Unterscheidung zwischen „Maßregeln der Sicherung und Besserung“ und „Strafen“ im deutschen zweispurigen System sowie zwischen nicht-strafrechtlichen und strafrechtlichen Geldsanktionen („Geldbuße“ vs. „Geldstrafe“) im (dezidiert nicht-strafrechtlichen) deutschen Recht der Unternehmenssanktionen.20

18 Siehe allgemein Markus D. Dubber, The Police Power: Patriarchy and the Foundations of American Government, 2005. 19 Die Etikette „Etikettenschwindel“ ist schön anschaulich. Er kann aber auch insofern irreführend sein, als er nicht die Anbringung eines Etiketts überhaupt, sondern die trügerische Art der Anbringung („Schwindel“) betont. 20 Markus D. Dubber, The Comparative History and Theory of Corporate Criminal Liability, in: New Crim. L. Rev. 16 (2013, S. 203.

C. Etikettismus

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Wie wir sehen werden, beschränkte sich die Verharmlosung von „Bestrafung“ nicht auf den deutschen Strafdiskurs. Wenn überhaupt, war das Projekt der behandlungsorientierten Umetikettierung in den Vereinigten Staaten ehrgeiziger, wo die Verfasser des Model Penal Code (1962),21 des mit Abstand einflussreichsten Kodifizierungsversuchs in der Geschichte des amerikanischen Strafrechts, darauf abzielten, „Strafe“ durch „Behandlung“ zu ersetzen, und das Wort „Strafe“ aus ihrem Strafgesetzbuch sowie dem Diskurs und der Dogmatik des Strafrechts zu entfernen.22 Das deutsche zweispurige System, das von der NS-Regierung auf der Grundlage langjähriger „progressiver“ Vorschläge kurz nach ihrer Machtübernahme eingeführt wurde, ergänzte die traditionelle „Strafen“-Spur um eine „Maßnahmen“-Spur, anstatt die Strafen für Maßnahmen ganz aufzugeben.23 Der Etikettismus kann die Schaffung und Zuordnung eines neuen Etiketts beinhalten (wie z. B. „Etikettismus“). Aber es gibt keinen Grund, das Phänomen (oder das Etikett) auf neue Etiketten zu beschränken. So oder so, ob neu oder alt, soll das Etikett im Etikettismus echte rhetorische Arbeit leisten. Von der Verschleierung über die Neuformulierung bis hin zur Lösung von Spannungen oder Problemen, dem Beenden einer Debatte oder einer Untersuchung, bevor sie begonnen hat, oder ihrer völligen Vermeidung. Der Etikettierschritt kann darin bestehen, ein vertrautes Etikett an ein vertrautes Objekt oder Phänomen anzubringen (z. B. „Handlung“ an „Besitz“); er kann darin bestehen, zwei, vorzugsweise inkompatible, vertraute Etiketten zu einem neuen zusammenzuführen (z. B. „Recht“ + „Gut“ = „Rechtsgut“) oder ein vertrautes Etikett, vielleicht durch Umkehren oder einfaches Hervorheben seiner Polarität (z. B. „positiv“ + „Generalprävention“ = „positive Generalprävention“), zu modifizieren. Wir haben bereits das kurz verschleiernd-palliative Potenzial der „positiven Generalprävention“ angesprochen. Werfen wir nun einen genaueren Blick auf diesen zentralen Begriff der deutschen Strafrechtswissenschaft aus dem Blickwinkel der Etikettierungsrhetorik, zusammen mit den beiden anderen gerade erwähnten Beispielen: [„Recht“ + „Gut“ = „Rechtsgut“] und [„Besitz“ = „Handlung“]. Alle drei rhetorischen Maßnahmen spielen eine Schlüsselrolle in der vergleichenden Geschichte des modernen angloamerikanischen und deutschen Strafrechts. Nach der Standardversion der deutschen Strafrechtswissenschaft ist die einzige Funktion des Strafrechts der Schutz von „Rechtsgütern“. Ihre Straftheorie begründet die strafrechtliche Sanktion im Namen des Schutzes von Rechtsgütern auf der Grundlage der „positiven Generalprävention“. Sowohl die Rechtsgutstheorie als auch die positive Generalprävention zählen zu den „großen Errungenschaften“ der deutschen Strafrechtswissenschaft und sogar der „Geisteswissenschaften“ im All-

21

Zum Model Penal Code s. Markus D.  Dubber, Einführung in das US-amerikanische Strafrecht, 2005. 22 Siehe Teil III. 23 Ebd.

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Kap. 2: Die Rhetorik des Strafrechts 

gemeinen.24 Als solche veranschaulichen sie eindrucksvoll den Stil des deutschen Strafrechts als Rechtswissenschaft.

1. Rechtsgut – Eine Wissenschaft des Verbrechens Die Bedeutung und der Sinn der Eigenartigkeit von Kriminalität – und damit implizit der angemessene Geltungsbereich des Strafrechts – hat die angloamerikanische Strafrechtslehre schon seit langem verwirrt. Nach einer weit verbreiteten Annahme geht es beim Strafrecht um die Prävention von Schäden.25 Die Frage, was eigentlich als „strafrechtlicher Schaden“ zählt – oder zählen sollte, bleibt dabei offen. An dieser Stelle mag der angloamerikanische Strafrechtler durchaus versucht sein, sich auf die Autorität von John Stuart Mill und sein bekanntes „harm principle“ (Schadensprinzip) zu berufen, wonach der Staat seine Zwangskraft nur nutzen kann, um zu verhindern, dass eine Person einer anderen schadet, aber nicht, dass sie sich selbst schadet, oder etwas tut oder denkt, was nicht dazu führt, einem anderen zu schaden, egal wie abscheulich die Handlung oder der Gedanke auch sein mag.26 Dieser Bezug auf Mill wirft jedoch mehr Fragen als Antworten auf. Warum sollte sich das Recht im Allgemeinen und insbesondere das Strafrecht mit „Schäden“ befassen und mit nichts anderem? Was hat es mit dem „Schaden“, im Gegensatz etwa zu „Angriff“ oder „Risiko“ oder „Beeinträchtigung“, auf sich, der staatliches Handeln legitimiert? Man könnte eine utilitaristische Geschichte von Vergnügen und Schmerz erzählen, bei der der Schaden die Zufügung von Schmerz ist, aber auch das hilft nicht weiter. Denn offensichtlich begründet nicht jede Art von Schmerz, egal welcher Qualität (psychologisch vs. physisch) oder Quantität (leicht vs. schwer), das Recht des Staates, das Strafrecht in Anspruch zu nehmen. Vermutlich müsste ein Narrativ über den Gegenstand des Strafrechts und über die Eigenart strafrechtlichen Schadens etwas über „Verbrechen“ und über „Recht“ zu sagen haben. Andernfalls könnten wir viel über Moral oder Ethik oder staatliches Handeln oder die Vielfalt des menschlichen Leidens erfahren, aber sehr wenig über das Strafrecht selbst.27 24 Enrique Gimbernat Ordeig, Sind die bisherigen dogmatischen Grunderfordernisse eines Allgemeinen Teils geeignet, dem heutigen Stand der Kriminalität, der Strafzumessung und des Sanktionensystems zu genügen, in: Hans-Joachim Hirsch (Hrsg.), Krise des Strafrechts und der Kriminalwissenschaften?, 2001, S. 152, 165. 25 Siehe z. B. Stephen Schulhofer, Harm and Punishment, in: U. Pa. L. Rev. 122 (1974), S. 1497. 26 John Stuart Mill, On Liberty, 1975, S. 10 f.; Bernard Harcourt, Mill’s On Liberty and the Modern „Harm to Others“ Principle, in: Markus D. Dubber (Hrsg.), Foundational Texts in Modern Criminal Law, 2014, S. 163; siehe auch Joel Feinberg, The Moral Limits of the Criminal Law, 1988; Claire Finkelstein, Positivism and the Notion of an Offense, in: Cal. L. Rev. 88 (2000), S. 335. 27 Vgl. Markus D. Dubber, Toward a Constitutional Law of Crime and Punishment, in: Hastings L. J. 55 (2004), S. 509 (mit einer auf Autonomie basierenden Theorie strafrechtlichen Schadens).

C. Etikettismus

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Und so könnte der rechtsvergleichend interessierte angloamerikanische Strafrechtler versucht sein, das deutsche Strafrecht zu berücksichtigen, anstatt auf Mill zurückzugreifen; denn die deutsche Strafrechtswissenschaft bietet eine Lehre vom Wesen des strafrechtlichen Schadens und dem Sinn des Strafrechts: die Rechtsgutstheorie.28 Das Rechtsgut ist eines der fundamentalen Begriffe, die dem deutschen Strafrechtsgefüge zugrunde liegen.29 Der Begriff ist so grundlegend und wesentlich, dass es für deutsche Strafrechtler schwierig ist, sich ein Strafrechtssystem ohne „Rechtsgut“ vorzustellen. Der Begriff des Rechtsguts erfüllt mehrere Funktionen, auf verschiedenen Ebenen innerhalb des deutschen Strafrechtssystems. Auf der Grund­ lagenebene zieht der Begriff des Rechtsguts die Grenzen des Strafrechts überhaupt; die Funktion des Strafrechts ist der „Schutz von Rechtsgütern“ und sonst nichts.30 Um den Umfang des Rechtsgutsbegriffs in der deutschen Strafrechtswissenschaft sowie die Vielfalt seiner Erscheinungsformen zu erfassen, betrachten wir die Behandlung des Themas in zwei führenden, etwa zeitgleichen und relativ repräsentativen Lehrbüchern. Hans-Heinrich Jescheck und Thomas Weigend zum Beispiel stellen fest, dass „das Strafrecht (…) die Aufgabe (hat), Rechtsgüter zu schützen“,31 und erklären dann, dass Rechtsgüter oder „Lebensgüter“ in zwei Formen vorliegen können. „Elementare Lebensgüter“, die „für das Zusammenleben der Menschen in der Gemeinschaft unerlässlich sind und daher durch die Zwangsgewalt des Staates durch öffentliche Strafe geschützt werden müssen“. Hierzu gehören zum Beispiel „das Menschenleben, die Körperintegrität, die persönliche Handlungs- und Bewegungsfreiheit, das Eigentum, das Vermögen, die Verkehrssicherheit, die Unbestechlichkeit der Amtsträger, die verfassungsmäßige Ordnung, der öffentliche Frieden, die äußere Sicherheit des Staates, die Unantastbarkeit von ausländischen Staatsorganen und Hoheitszeichen, die Sicherheit von nationalen, ethnischen oder kulturellen Minderheiten gegen Ausrottung oder unwürdige Behandlung, der internationale Frieden“.32

Neben diesen „elementaren“ Gütern gibt es auch noch solche, die „ausschließlich in tief verwurzelten sittlichen Überzeugungen der Gesellschaft bestehen, wie das Schutzgut der Strafvorschrift gegen Tierquälerei“33, und durch die „Aufnahme … in den Schutzbereich der Rechtsordnung“ „Rechtsgüter“ geworden sind. 28

Siehe Roland Hefendehl u. a. (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie: Legitimationsbasis des Strafrechts oder dogmatisches Glasperlenspiel, 2003. 29 Diethelm Kienapfel, Strafrecht: Allgemeiner Teil, 4. Aufl. 1984, S. 39 (Rechtsgutstheorie als „unverrückbarer Eckpfeiler“). 30 Siehe z. B. Armin Kaufmann, Die Aufgabe des Strafrechts, 1983, S. 5 („niemand in der Rechtswissenschaft bezweifelt ernsthaft, dass der Schutz von Rechtsgütern das Ziel des Strafrechts ist“); Kienapfel, Strafrecht: Allgemeiner Teil (Fn. 29) („trotz einiger Kritik bleibt das Rechtsgut eines der unverrückbaren Ecksteine der Strafrechtsdogmatik, heute mehr denn je“). 31 Hans-Heinrich Jescheck / T homas Weigend, Lehrbuch des Strafrechts: Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 1996, S. 7 (Hervorhebung im Original). 32 Ebd., S. 7. 33 Ebd.

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Im Gegensatz dazu bietet Claus Roxin in der dritten, etwa zeitgleich erschienenen, Auflage seines einflussreichen Lehrbuchs34 keine, nicht einmal exemplarische, Auflistung von Rechtsgütern. Trotzdem tauchen in der Diskussion des Rechtsgutsbegriffs hin und wieder Begriffe auf, die zu einem bestimmten Zeitpunkt als Rechtsgüter betrachtet wurden – in der Reihenfolge ihres Erscheinens im Text: „das Leben“, „die Körperintegrität“, „die Ehre“, „die Rechtspflege“, „die Sittlichkeit“, „die sexuelle Selbstbestimmung“, „das Eigentum“, „der Staat“, „die Währung“, „die herrschenden Moralauffassungen“, „die heterosexuelle Struktur der Geschlechtsbeziehungen“, „das ungestörte Funktionieren der Verwaltung“, „die Reinhaltung des deutschen Blutes“, „der öffentliche Friede“, „der freie Handel und Wandel“, „das werdende Leben“, „das Leben und Wohlbefinden des Tieres“, „die Umwelt“, „die öffentliche Ordnung“, „die Moral“, „die Reinhaltung von Boden, Luft, Wasser usw.,“ „die Vielfalt der Arten in Flora und Fauna“, „die Bewahrung einer intakten Natur“, „die Volksgesundheit“, „Lebenszusammenhänge“; die „Rechtmäßigkeit des Beweisverfahrens“.35

Und anders als bei Jescheck / Weigend wagt Roxin darüber hinaus eine Definition von Rechtsgut: „Rechtsgüter sind Gegebenheiten oder Zwecksetzungen, die dem einzelnen und seiner freien Entfaltung im Rahmen eines auf dieser Zielvorstellung aufbauenden sozialen Gesamtsystems oder dem Funktionieren dieses Systems selbst nützlich sind.“36

Während Jescheck / Weigend sich damit begnügen, ihrer Feststellung, dass das Strafrecht Rechtsgüter schützt, eine Liste von Rechtsgütern, die das (deutsche) Strafrecht tatsächlich schützt, folgen zu lassen, behauptet Roxin, dass der (von ihm definierte) Begriff des Rechtsguts an sich dem Gesetzgeber helfen soll, zu bestimmen, „was er bestrafen darf und was er straflos lassen soll“.37 Diese Spannung zwischen einem positivistischen und einem (möglicherweise) normativeren Ansatz für den Begriff des Rechtsguts ist so alt wie das Konzept selbst. Nach dem üblichen Narrativ wurde der Begriff des Rechtsguts von einem ansonsten eher unscheinbaren Strafrechtswissenschaftler namens Birnbaum in 34

Die folgende Diskussion basiert auf der dritten Ausgabe von Roxins Lehrbuch, die 1997, ein Jahr nach der fünften (und letzten) Ausgabe von Jescheck / Weigend, veröffentlicht wurde. Im Jahr 2006 erschien eine vierte Auflage von Roxins Buch, das wesentliche Änderungen erfuhr, auch in dem für unsere Zwecke relevanten Abschnitt (Änderungen, die der Autor im Vorwort ohne weitere Erklärung der „Weiterentwicklung eigener Konzeptionen“ zu diesem Thema zuschreibt; vgl. Claus Roxin, „Vorwort zur vierten Auflage“, in: ders., Strafrecht. Allgemeiner Teil, Bd. 1, 4. Aufl. 2006, S. VII, VII). Eine vergleichende Untersuchung der dritten und vierten Auflage (einschließlich der Frage, inwieweit die Unterschiede als „Weiterentwicklung“ und nicht als Bruch mit früheren Ausführungen zum Rechtsgut angesehen werden können) könnte sich als aufschlussreich für die neuere deutsche Strafrechts(dogmatik)geschichte – zwischen 1995 und 2005 – erweisen, würde uns hier aber zu weit führen. 35 Claus Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil, Bd. 1, 3. Aufl. 1997, S. 12−23. 36 Ebd., S. 15 (Hervorhebung im Original). 37 Ebd., S. 11.

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einem 1834 veröffentlichten Artikel „entdeckt“ (der allerdings nicht den Begriff Rechtsgut enthält).38 In diesem Artikel attackierte Birnbaum P. J. A. Feuerbachs Theorie des Verbrechens als Verletzung von „subjektivem Recht“. Birnbaum zufolge argumentierte Feuerbach, dass Täter bei der Begehung der Tat nicht nur „das Recht“ oder „ein Gesetz“, sondern auch die Rechte der individuellen Opfer verletzen. Birnbaum wies darauf hin, dass diese Auffassung einer Straftat als positives Recht viel zu eng sei, da es viele Strafgesetze der damaligen Zeit gab (und, wie wir hinzufügen können, immer noch gibt), die mit der Verletzung von individuellen Rechten überhaupt nichts zu tun hatten und dennoch als kriminell galten. Feuerbachs enge Sichtweise auf Kriminalität könnte für traditionelle Verbrechen wie Mord und Diebstahl funktionieren, argumentierte Birnbaum, aber sie hatte keinen Platz für so vertraute Straftaten wie „unsittliche und irreligiöse Handlungen“.39 Tatsächlich hatte Feuerbach selbst nie geleugnet, dass Delikte gegen Moral und Religion Straftaten waren, auch wenn sich alle einig waren, dass mit ihnen keine individuellen Rechte verletzt wurden und sie daher nicht einer Definition von Verbrechen als Verletzungen von individuellen Rechten entsprachen. Stattdessen hatte er sie einfach als „Verbrechen im weitesten Sinne“ kategorisiert und als „Polizeiverbrechen“ bezeichnet.40 Birnbaum hat es eindeutig besser verstanden, „Verbrechen“ im (damaligen) positiven Recht zu erfassen. Anstelle einer Verletzung von Persönlichkeitsrechten sollte laut ihm eine Straftat nun als Verletzung oder Bedrohung staatlich geschützter Güter angesehen werden.41 Ende des 19. Jahrhunderts wurde Birnbaums „Entdeckung“ des Rechtsguts (ohne den Begriff tatsächlich geprägt zu haben) von den engagierten positivis­ tischen Architekten des neuen nationalen deutschen Strafrechts, allen voran Karl Binding, wiederentdeckt. In Bindings Ausführungen ging es darum, die Ausweitung des Strafrechts über den Schutz individueller Rechte hinaus auf den Schutz von gemeinschaftlichen Gütern, gesellschaftlichen Interessen und schließlich – und letztlich – des Staates selbst zu rechtfertigen.42 Rechtsgüter wurden zu „Interessen des Rechts“ und verwandelten das Recht von einem Mittel zu einem Selbstzweck.43 Wenn man annahm, dass Verbrechen eine Rechtsverletzung sei, dann 38 Johann Michael Franz Birnbaum, Ueber das Erforderniß einer Rechtsverletzung zum Begriffe des Verbrechens, in: Archiv des Criminalrechts (Neue Folge) 15 (1834), S. 149. 39 Ebd., S. 178. 40 Paul Johann Anselm von Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland geltenden peinlichen Rechts, 1. Aufl. 1801, § 27. 41 Birnbaum, Ueber das Erforderniß einer Rechtsverletzung zum Begriffe des Verbrechens (Fn. 39), S. 179. 42 Siehe allgemein Peter Sina, Die Dogmengeschichte des strafrechtlichen Begriffs „Rechtsgut“, 1962, S. 39–69. 43 Siehe Karl Binding, Die Normen und ihre Übertretung, Erster Band, 1. Aufl. Leipzig 1872, S. 188 f. („der durch die verbotene Handlung bewirkte Zustand den Interessen des Rechts widerspricht“).

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waren es nicht die Rechte des Einzelnen, sondern der Anspruch des Staates auf Gesetzestreue.44 Dementsprechend definierte Binding Rechtsgut als „etwas, das der Gesetz­geber als wertvoll betrachtet und dessen ungestörter Zustand deshalb durch Normen geschützt werden muss.“45 In der einflussreichen „Normtheorie“ des Strafrechts von Binding wurden Rechtsgüter (z. B. Leben) durch Normen geschützt (z. B. du sollst nicht töten), die der Gesetzgeber nach eigenem Ermessen in gesetzliche Vorschriften und Verbote übersetzt hat, einschließlich, aber nicht beschränkt auf Straf­gesetze (z. B. wer absichtlich den Tod einer anderen Person verursacht, ist des Mordes schuldig und wird mit dem Tode bestraft). Während der Übergang vom Schutz der individuellen Rechte zum Schutz von Rechtsgütern den Anwendungsbereich des Strafrechts erweiterte, führte der Übergang von Verletzungen zu Gefährdungen zur Ausweitung dessen Umfangs. Seit der Wiederentdeckung (und Vereinnahmung) Birnbaums durch Binding hat sich der grundlegende Rahmen der Debatte über die Definition und die Funktion des Rechtsgutsbegriffs kaum verändert. Selbst das nationalsozialistische Strafrecht, das anfangs den Rechtsgutsbegriff als veraltete liberale Beschränkung der Staatsmacht zu verwerfen versuchte, begnügte sich letztendlich mit der Entwicklung neuer strafbarer Rechtsgüter (z. B. „Rasse und Volkstum“ oder „Deutschheit“).46 In den letzten Jahrzehnten versuchte man gelegentlich einen Zusammenhang zwischen dem seit langem bestehenden Konzept des „Rechtsguts“ und der deutschen Verfassung der Nachkriegszeit zu behaupten. Roxins Erklärung ist typisch: „(e)in kriminalpolitisch verbindlicher Rechtsgutsbegriff kann sich … nur aus den im Grundgesetz niedergelegten Aufgaben unseres auf die Freiheit des einzelnen gegründeten Rechtsstaates ergeben.“47 Hierauf folgt dann sogleich Roxins oben genannte Definition von Rechtsgütern als „Gegebenheiten oder Zwecksetzungen, die dem einzelnen und seiner freien Entfaltung im Rahmen eines auf dieser Zielvorstellung aufbauenden sozialen Gesamtsystems oder dem Funktionieren dieses Systems selbst nützlich sind.“48 Dass es Roxin hier versäumt, seine Definition des Rechtsguts aus der Verfassung abzuleiten, ist problematisch, wenn er gleichzeitig betont, dass sich eine solche Definition nur aus der Verfassung ergeben kann. Bei näherer Betrachtung beginnt man zu vermuten, dass die Definition nicht aus ihrer Quelle, verfassungsmäßig oder nicht, sondern von ihrer Wirkung abgeleitet ist. So erklärt Roxin, dass seine 44

Ebd., S. 299, S. 308, S. 369. Karl Binding, Handbuch des Strafrechts, Erster Band, Leipzig 1885, S. 169. 46 Sina, Die Dogmengeschichte des strafrechtlichen Begriffs „Rechtsgut“ (Fn. 43), S. 74. 47 Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil, Bd. 1 (Fn. 36), S. 15. 48 Für eine kritische Analyse der Versuche, Rechtsgüter in verfassungsrechtlichen Prinzipien zu begründen, siehe allgemein Ivo Appel, Verfassung und Strafe: Zu den verfassungsrechtlichen Grenzen staatlichen Strafen, 1998, S. 372–379. 45

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Aufnahme von „Zwecksetzungen“ in die obige Rechtsgutsdefinition dazu dienen sollte, ein nicht weiter erörtertes Vorverständnis „zum Ausdruck“ zu bringen, dass „Rechtsgut“ solche Straftaten definitionsgemäß nicht ausschließen dürfe, die anglo­amerikanische Strafrechtler mala prohibita nennen würden, und die er „vom Recht … selbst geschaffene Normbefolgungspflichten“ nennt.49 Es ist daher vielleicht keine Überraschung, dass Roxin wesentlich mehr Zeit damit verbringt, verschiedene Anwendungsbeispiele seiner Definition zu veranschaulichen, als sie zu begründen. Die Definition ist richtig, so erhält man den Eindruck, weil sie zu richtigen Ergebnissen führt: Sie umfasst genau die richtigen Arten von Straftaten (und zwar diejenigen, die zufälligerweise im gegenwärtigen – deutschen – Strafgesetzbuch zu finden sind). Die Gesetze und Grundsätze, die Roxins Rechtsgütertest nicht bestehen, erweisen sich als weitgehend hypothetisch oder obsolet. Als „willkürliche Strafdrohungen“ schützen sie überhaupt keine Rechtsgüter. Niemand soll gezwungen werden, aus Angst vor Bestrafung irgendeinem „Symbol Reverenz zu zollen,“ denn das „dient weder der Freiheit des einzelnen in einem freiheitlichen Staat noch der Funktionsfähigkeit eines auf solchen Prinzipien aufbauenden sozialen Systems.“50 Die „Reinhaltung des deutschen Blutes“ ist kein „Rechtsgut“, weil es „verboten (wäre), ideologische Zielsetzungen durch Strafrechtsnormen zu schützen.“51 Ein Straftatbestand, der homosexuellen Geschlechtsverkehr verbietet, ist ebenso fehl am Platz (homosexueller Geschlechtsverkehr wurde 1969 entkriminalisiert). Unmoralisches Verhalten, so betont es Roxin, verletze nämlich kein Rechtsgut, weil es nicht die „Funktionsfähigkeit des sozialen Systems“ störe.52 Tatsächlich ist es mehr die Kriminalisierung von moralisch anstößigem Verhalten, und nicht das Verhalten selbst, das die „Funktionsfähigkeit des sozialen Systems“ störe: es schaffe unnötige gesellschaftliche Konflikte, indem es sozial integrierte Menschen stigmatisiere.53 Alle geltenden (deutschen) Strafgesetze bestehen die Prüfung, wenn auch nicht immer mit Bravour. So tut Roxin sich schwer, die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen zu rechtfertigen, schafft es dann aber doch, und zwar mit der nicht weiter begründeten Bemerkung, dass es schwierig sei, die „autonom(e) Entscheidung“ eines Verstorbenen, das eigene Leben zu beenden, zu beweisen, und dass darüber hinaus „das Gebot des Lebensschutzes die prinzipielle Tabuisierung fremden 49

Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil, Bd. 1 (Fn. 36), S. 15. Ebd. 51 Ebd. 52 Es versteht sich offenbar von selbst, dass ein einvernehmliches, aber unmoralisches Verhalten nicht im Widerspruch steht zu „Gegebenheiten oder Zwecksetzungen, die dem Einzelnen und seiner freien Entfaltung im Rahmen eines auf dieser Zielvorstellung aufbauenden sozialen Gesamtsystems oder dem Funktionieren dieses Systems selbst nützlich sind“. Ebd. 53 Ebd., S. 16. Daraus lässt sich schließen, dass die Kriminalisierung unmoralischer Handlungen nicht nur illegitim wäre, sondern selbst als Verletzung eines Rechtsgutes unter Strafe gestellt werden könnte. 50

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Lebens verlange“.54 Das Drogenstrafrecht soll – trotz heftiger Kritik, dass es kein Rechtsgut schützt, weder individuell noch kollektiv55 – legitim sein, weil es die Gefahren von Drogen „für verantwortungsunfähige Konsumenten“ verringert; die Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs schützt das „werdende Leben“ des Fötus, das ein „Rechtsgut“ sein muss, weil das Bundesverfassungsgericht eben entschieden hat, dass es verfassungsrechtlich geschützt sei. Tierquälerei wird nicht deshalb richtigerweise kriminalisiert, weil sie tief verwurzelte und weit verbreitete ethische Überzeugungen verletzt (die laut Roxins Definition eigentlich keine Rechtsgüter darstellen), sondern weil – wieder ohne weitere Begründung oder Erklärung – „davon auszugehen (ist), dass der Gesetzgeber in einer Art Solidarität unter Kreaturen auch die höheren Tiere als Mitgeschöpfe, als ‚fremde Brüder‘, ansieht und als solche schützt“. Und auch das Umweltstrafrecht passt in das Muster, denn „die Vielfalt der Arten in Flora und Fauna und die Bewahrung einer intakten Natur gehören“ laut Roxin „zu einem menschenwürdigen Leben dazu“. Nicht einmal eine „symbolische Gesetzgebung“, einschließlich offensichtlich unwirksamer politischer Mittel, die lediglich darauf abzielen, die Wähler zu beschwichtigen oder das Bekenntnis des Gesetzgebers zu bestimmten Werten zu signalisieren, scheitert am Rechtsgutsbegriff, zumindest nicht ohne „eine umfassende straf- und verfassungsrechtliche Aufarbeitung“, die damals noch nicht stattgefunden hatte.56 In Anbetracht der positivistischen Zahnlosigkeit der Roxinschen Rechtsgutslehre, die als relativ „normativ“ angesehen wird, scheint das Rechtsgut im deutschen Strafrecht wenig, wenn überhaupt, kritischen Biss zu haben. Tatsächlich fragt sich Roxin selbst laut, was der Begriff des Rechtsguts zu den verfassungs­ mäßigen Einschränkungen der Strafgesetzgebung hinzufügen kann. Die Antwort ist bescheiden und formell, wenn nicht gar verwaltungstechnisch: Sie könnte helfen, die verschiedenen verfassungsmäßigen Einschränkungen zu „bündeln“.57 Es stellt sich heraus, dass ein zahnloser Rechtsgutsbegriff eine lange Liste ähn­ licher organisatorischer oder analytischer Buchhaltungsfunktionen erfüllen kann, wie z. B.: – Die Begründung des Notstandes erfordert z. B. einen Vergleich der betroffenen Rechtsgüter (der Schutz eines Rechtsgutes macht die Verletzung des anderen notwendig).58 Die erforderliche Abwägung berücksichtigt sowohl die relative Bedeutung des Rechtsguts als auch den Grad seiner Beeinträchtigung. So stehen „Persönlichkeitswerte“ – wie „menschliche Freiheit“ – höher als „Sachgüter“ – wie „Eigentum“  – und insbesondere „Leib und Leben“ übertreffen nicht nur andere „Persönlichkeitswerte“, sondern auch „überindividuelle Rechtsgüter.“59 54

Ebd., S. 18. Cornelius Nestler, Betäubungsmittelstrafrecht: Grundlagen und Kritik, in: Arthur Kreuzer (Hrsg.), Handbuch des Betäubungsmittelstrafrechts, 1997, S. 130 („Volksgesundheit“). 56 Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil, Bd. 1 (Fn. 36), S. 18–19. 57 Ebd., S. 16. 58 Ebd., S. 621. 59 Ebd., S. 621, 622. 55

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Dennoch können triviale Eingriffe in „Persönlichkeitswerte“ gerechtfertigt sein, um schwerwiegende Eingriffe in „Sachgüter“ zu verhindern, wie z. B. eine leichte Körperverletzung, die notwendig ist, um einen Großbrand abzuwenden.60 Sowohl der Ursprung als auch die genaue Rangfolge bleibt einmal mehr etwas unklar. Wie zu vermuten ist, wird gelegentlich angedeutet (bzw. unterstellt), dass sich die Rangfolge der Rechtsgüter aus verfassungsrechtlichen Grundsätzen ergibt.61 – Bestimmtes Bagatellverhalten, das der Definition einer Straftat entspricht, wird dennoch als nicht strafrechtlich erklärt (oder nicht unter den Tatbestand „subsumiert“), weil es das durch das betreffende Gesetz geschützte Rechtsgut nur scheinbar, aber doch nicht wirklich verletzt. So ist eine „kleine“ Ferrero-Packung für den Postboten keine Bestechung nach § 331 StGB, das Pokerspiel mit „nur ganz kleinen Einsätzen“ ist kein Glücksspiel nach § 284 StGB, und seinen Bruder einen Dummkopf zu nennen, ist als „vertrauliche herabsetzende Äußerung im engsten Familienkreise“ doch keine kriminelle Beleidigung. Hier verhindert ein „streng rechtsgutsbezogener“ Ansatz den Verlass auf das „bloße Rechtsgefühl“.62 – Das deutsche Strafrecht unterscheidet auch zwischen verschiedenen Arten von Rechtsgütern, die durch ein Strafgesetz geschützt werden können, nämlich den individuellen Rechtsgütern, wie Leben und Freiheit, und kollektiven Gütern, wie Frieden und Sicherheit. Die Art des betroffenen Rechtsguts kann dogmatische Konsequenzen haben. So gibt es beispielsweise keine Notwehr gegen Angriffe auf Kollektivgüter – im Gegensatz zu Individualgütern. „Andernfalls würde jeder Bürger sich zum Hilfspolizisten aufschwingen und das staatliche Gewaltmonopol außer Kraft setzen können.“63 Das heißt aber nicht, dass es keine Rechtfertigung gäbe, sondern nur, dass die Rechtfertigung der Notwehr nicht möglich wäre. Ein Bürger, der hingegen kollektive Güter gegen Angriffe verteidigen will, muss sich auf die Rechtfertigung des Notstandes verlassen.64 – Der Rechtfertigungsgrund der Einwilligung ist nur in den Fällen möglich, in denen es sich um eine Straftat zum Schutz eines individuellen Rechtsguts handelt.65 Wie wir bereits gesehen haben, liegt der Grund darin, dass der Einzelne 60

Ebd., S. 621. Appel, Verfassung und Strafe (Fn. 49), S. 372–379 (angebliche verfassungsrechtliche Grundlage der Unterscheidung zwischen höheren und weniger strafwürdigen Rechtsgütern). 62 Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil, Bd. 1 (Fn. 36), S. 243–244. 63 Ebd., S. 550. 64 Ebd., S. 613 (Notstand). 65 Dies gilt unabhängig davon, ob die Zustimmung auf der ersten Ebene der Analyse – d. h. bei der Frage, ob eine Straftat begangen wurde – oder auf der zweiten Ebene – d. h. bei der Frage, ob die Straftat gerechtfertigt werden kann – angesprochen wird. Siehe Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil, Bd. 1 (Fn. 36), S. 462–465 (Straftat); Jescheck / Weigend, Lehrbuch des Strafrechts (Fn. 31), S. 375–376 (Rechtfertigung); siehe allgemein Theodor Lenckner, in Schönke / Schröder, Strafgesetzbuch: Kommentar, 25. Aufl. 1997, S. 486; vgl. § 2.11(1) Model Penal Code („precludes the infliction of the harm or evil sought to be prevented by the law defining the offense“); Markus D. Dubber, An Introduction to the Model Penal Code, 2. Aufl. 2015, § 11; ders., Einführung in das US-amerikanische Strafrecht (Fn. 21), § 11. 61

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nicht gerechtfertigt werden kann, wenn er auf den Schutz eines kollektiven Rechtsguts durch das Strafrecht verzichtet, d. h. auf ein Interesse, das nicht sein eigenes ist und das er damit nicht eigenständig aufgeben kann.66 – Das Etikett „Rechtsgut“ hilft auch bei der Organisation des besonderen Teils des Strafrechts (d. h. der Definition von Straftaten). Der besondere Teil des Strafgesetzbuches ist in Abschnitte unterteilt, die Straftatbestände zum Schutz eines gemeinsamen Rechtsguts oder einer Gruppe von Rechtsgütern enthalten, darunter „Verbrechen gegen den Frieden“ und „Verbrechen, die den demokratischen Rechtsstaat gefährden“ (§ 1), „Verbrechen gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ (§ 13), „Verbrechen gegen die persönliche Freiheit“ (§ 18) und „Verbrechen gegen die Umwelt“ (§ 29). – Nicht zuletzt verdeutlicht das gemeinsame Etikett „Rechtsgut“ durch die Einordnung sowohl im allgemeinen als auch besonderen Teil des Strafrechts den Zusammenhang zwischen beiden. Fragen des allgemeinen Teils, wie der Notstand, erfordern die Berücksichtigung der gleichen Interessen – oder Güter –, die durch die Straftaten des besonderen Teils geschützt sind.67 Letztendlich fungiert Rechtsgut damit als ein Etikett, das verschiedene dogmatische Analysen sowohl diverse verfassungsrechtliche Überlegungen als eine Vielzahl anderer Begriffe „bündelt“ – die derzeit das angloamerikanischen Strafrecht zu einem diffusen Sammelsurium von Themen machen, wie etwa der „Hauptpunkt“68, die „Crux“69, das „Gravamen“70, der „Fokus“71, die „Reichweite“72, das „Objekt“73, oder der „harte Kern“74 eines bestimmten Strafgesetzes, der „Schaden oder das Übel“75, bzw. einfach nur das „Übel“76 oder die „Verletzung“77, die es zu verhindern gilt, oder die „individuellen oder öffentlichen Interessen“78 oder „Rech 66

Jescheck / Weigend, Lehrbuch des Strafrechts (Fn. 31), S. 380–381. Diese gemeinsame begriffliche Grundlage wird beispielsweise durch die Nomenklatur im US-amerikanischen Model Penal Code verdeckt, in dem von „Schäden oder Übel“ bzw. „individuellen oder öffentlichen Interessen“ die Rede ist, je nachdem, ob sie im allgemeinen oder besonderen Teil auftreten. Siehe z. B. §§ 2.11 Model Penal Code („harm or evil“); 1.02(1) (a) Model Penal Code („individual or public interests“). 68 Siehe z. B. Kathleen F. Brickey, Corporate and White Collar Crime: Cases and Materials, 3. Aufl. 2002, 183 (federal mail fraud statute, 18 U. S. C. § 1341). 69 Siehe z. B. People v. Sanchez, 2002 N. Y. LEXIS 2233 (Der „Knackpunkt“ des Mordes aus verwerflicher Gleichgültigkeit ist die extreme Rücksichtslosigkeit.). 70 Siehe z. B. Eisenstadt v. Baird, 405 U. S. 438 (1972) (Vertrieb von Verhütungsmitteln). 71 Siehe z. B. Badders v. United States, 240 U. S. 391 (1916) (federal mail fraud statute, 18 U. S. C. § 1341). 72 Siehe z. B. McNally v. United States, 483 U. S. 350 (1987) (federal mail fraud statute, 18 U. S. C. § 1341). 73 Siehe z. B. ebd., S. 358 Fn. 8 (federal false statement statute, 18 U. S. C. § 1001). 74 Siehe z. B. People v. Dupont, 107 A. D.2d 247, 252 (1985). 75 Siehe z. B. § 3.02 Model Penal Code. 76 Siehe z. B. Salinas v. United States, 522 U. S. 52 (1997) („eindeutiges Übel“ der Verschwörung). 77 Siehe z. B. § 35.05(2) N. Y. Penal Law (Notstand). 78 Siehe z. B. § 1.02(1) Model Penal Code. 67

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te“79, die es zu schützen gilt, oder vielleicht sogar die „Gruppe von Personen“80 oder die „schlechten Menschen“81, die es erreichen soll. Etwas ambitionierter, und interessanter für unsere Zwecke, ist, dass die Anbringung des Etiketts Rechtsgut auch inhaltliche Arbeit leisten soll. Nach Ansicht der deutschen Strafrechtswissenschaft beschränkt sich das Strafrecht auf den Schutz von Rechtsgütern. Die Bindung des Etiketts des Rechtsguts an ein privates oder öffentliches Interesse oder Recht, identifiziert es daher als im Rahmen der Strafmacht des Staates liegend. Wenn sich herausstellt, dass jedes durch das Strafgesetzbuch geschützte Interesse oder Recht als Rechtsgut gekennzeichnet werden kann, bestätigt diese Schlussfolgerung die allgemeine Ansicht, dass die Legitimität des deutschen Strafrechts gewährleistet ist und, insofern Rechtsgut als „liberales“ Etikett angesehen wird (trotz seines angeblichen Ursprungs in einem frühen Angriff [Birnbaum] auf eine liberale Strafrechtskonzeption [Feuerbach] und seiner vollen Entfaltung in einer radikal positivistisch etatistischen Konzeption der staatlichen Strafrechtsmacht zur Jahrhundertwende [Binding]) – das liberale Ideal der staatlichen Strafmacht in ihm zum Ausdruck kommt. Im heutigen deutschen Strafrecht treffen dann positive und normative Vorstellungen vom Rechtsgut aufeinander: was wirklich ist, das ist ideal; und was ideal ist, das ist wirklich. Auf diese Weise trägt das Etikett Rechtsgut zum allgemeinen Selbstnarrativ des deutschen Strafrechts bei, da es nicht nur einen konzeptionellen Maßstab für das liberale Strafrecht (Anfang des 19. Jahrhunderts) geschaffen hat, sondern auch ein diesem Maßstab entsprechendes Strafrechtssystem errichtet hat (von gelegentlichen kurzweiligen Abweichungen  – z. B. die „Reinheit des deutschen Blutes“ als Rechtsgut – einmal abgesehen). So fügt das Etikett Rechtsgut nichts oder zumindest nichts von Substanz hinzu. Es hat nicht die Funktion, die Legitimität des deutschen Strafrechts in Frage zu stellen, sondern sie zu verifizieren. Ein durch eine Bestimmung des Strafgesetzbuches geschütztes Interesse oder Recht gilt nicht als Rechtsgut, weil es eine streng-bindende Definition von Rechtsgut mit Blick auf die legitimatorischen Verpflichtungen eines liberalen Strafrechts erfüllt; es gilt als Rechtsgut, gerade weil es durch das deutsche Strafrecht geschützt ist. Spätestens seit Birnbaum, dem „Vater“ des Rechtsguts (der, wie gesagt, den Ausdruck nie benutzt hat), ermöglicht das Etikett Rechtsgut der Strafrechtswissenschaft, das gesamte Spektrum der Straftaten im deutschen Strafrecht zu erfassen und zu klassifizieren, einschließlich – was am wichtigsten ist – jener Straftaten, die am weitesten von einem liberalen Paradigma zwischenmenschlicher Verbrechen entfernt sind. Droht ein Interesse oder Recht außerhalb des Anwendungsbereichs des 79

Siehe z. B. Scheidler v. United States, 537 U. S. 393 (2003) (property rights, Hobbs Act, 18 U. S. C. § 1951); McNally, 483 U. S. 350 (federal mail fraud statute, 18 U. S. C. § 1341; „intangible right of the citizenry to good government“). 80 United States v. Bajakjian, 524 U. S. 321 (1997) (federal currency reporting statute, 31 U. S. C. § 5322). 81 Ratzlaf v. United States, 510 U. S. 135 (1994) (federal currency reporting statute, 31 U. S. C. § 5322).

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liberalen Strafrechts zu liegen, können Strafrechtswissenschaftler (wie Roxin) das Rechtsgut nutzen, um diesen Gedanken zu verwerfen (vorausgesetzt, sie weisen dem Etikett eine „kritische“ – also möglicherweise legitimierende – Funktion zu). (Das harm principle hat im angloamerikanischen Strafrecht eine ähnliche Karriere gemacht, von einem Instrument zur Begrenzung des Strafrechts hin zu einer Methode zu dessen Erweiterung.82) Der Begriff Rechtsgut erweist sich in mehrfacher Hinsicht nicht nur als zahnlos, sondern auch als grundlos. Erstens ist er insofern ohne Grund, als er generell im Gegensatz zu anderen zentralen Errungenschaften der deutschen Strafrechtswissenschaft nicht als Ergebnis einer objektiv-konzeptionellen Analyse oder einer pseudo-ontologischen Reflexion dargestellt wird (siehe unten). Bislang ist es keinem „Vater“ des Rechtsgutes gelungen, eine (oder gar „die“) richtige Definition des Rechtsgutes mit diesen Methoden zu ermitteln.83 Was dem am nächsten kommt, ist der angebliche Entdecker (oder Erfinder?) dieses Konzepts, der bereits erwähnte Birnbaum – vielleicht zusammen mit Binding. Niemand würde Birnbaum in das Pantheon der transformativen Koryphäen der deutschen Strafrechtswissenschaft einordnen. (Bei Binding liegt die Sache anders, aber im Zusammenhang mit anderen Leistungen.) Die Entstehungsgeschichte des Rechtsguts ist mit anderen Worten also ungewöhnlich geschichtsbezogen und schwankend, insbesondere für einen Begriff, der für die gesamte Gestaltung des deutschen Strafrechts angeblich so zentral und grundlegend ist. Zweitens ist das Rechtsgut in dem (geläufigeren) Sinne grundlos, dass das Verhältnis zwischen dem Begriff und dem Verfassungsrecht bestenfalls zweifelhaft bleibt, auch wenn dem gelegentlich pauschale Behauptungen (von Roxin und anderen) entgegengesetzt werden. (Das harm principle im angloamerikanischen Strafrecht hat ähnliche Schwierigkeiten.84) Dies wurde schmerzhaft deutlich in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Inzesturteil 2008, das darauf hinauslief, die grundsätzliche verfassungsrechtliche Irrelevanz des Rechtsguts klarzustellen, egal wie nützlich es „für die Rechtspolitik und für die Dogmatik des Strafrechts“ auch sein möge: „Schon über den Begriff des Rechtsguts besteht keine Einigkeit … Versteht man im Sinne eines normativen Rechtsgutsbegriffs unter ‚Rechtsgut‘ das, was der Gesetzgeber ausweislich des geltenden Rechts als rechtlich schützenswert betrachtet, reduziert sich der Begriff darauf, die ratio legis der jeweiligen Strafnorm auszudrücken; er kann dann eine Leitfunktion für den Gesetzgeber nicht übernehmen … Will man hingegen mit einer 82

Bernard Harcourt, The Collapse of the Harm Principle, in: J. Crim. L. & Criminology 90 (1999), S. 109; ders., Mill’s On Liberty and the Modern „Harm to Others“ Principle, in: Markus D. Dubber (Hrsg.), Foundational Texts in Modern Criminal Law, 2014, S. 163. Ob die Version von Mill zu Beginn viel Biss hatte, ist eine andere Frage. 83 Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil, Bd. 1 (Fn. 36), S. 13. 84 R. v. Malmo-Levine; R. v. Caine, [2003] 3 S. C.R. 571 (Besitz von Marihuana); siehe aber Com. v. Bonadio, 415 A. 2d 47, 96–98 (Pa. 1980) (homosexuelle Sodomie). Siehe allgemein Dubber / Hörnle, Criminal Law: A Comparative Approach, 2014, S. 113 ff.

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‚naturalistischen‘ Rechtsgutstheorie als legitime Rechtsgüter nur bestimmte ‚Gegebenheiten des sozialen Lebens‘ anerkennen … oder in anderer Weise von einem überpositiven Rechtsgutsbegriff ausgehen, so gerät ein solches Konzept – verstanden und angewendet als Element des verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstabs – in Widerspruch dazu, dass es nach der grundgesetzlichen Ordnung Sache des demokratisch legitimierten Gesetzgebers ist, ebenso wie die Strafzwecke … auch die mit den Mitteln des Strafrechts zu schützenden Güter festzulegen und die Strafnormen gesellschaftlichen Entwicklungen anzupassen. Diese Befugnis kann nicht unter Berufung auf angeblich vorfindliche oder durch Instanzen jenseits des Gesetzgebers ‚anerkannte‘ Rechtsgüter eingeengt werden. Sie findet ihre Grenze vielmehr – auf dem Gebiet des Strafrechts wie anderswo – nur in der Verfassung selbst, wenn und soweit diese die Verfolgung eines bestimmten Zwecks von vornherein ausschließt. Welchen Beitrag das Konzept des Rechtsgüterschutzes für die Rechtspolitik und für die Dogmatik des Strafrechts leisten können mag, ist hier nicht zu beurteilen …; jedenfalls stellt es keine inhaltlichen Maßstäbe bereit, die zwangsläufig in das Verfassungsrecht zu übernehmen wären, dessen Aufgabe es ist, dem Gesetzgeber äußerste Grenzen seiner Regelungsgewalt zu setzen …“85

Insofern ähnelt das Rechtsgut, d. h. das Rechtsgutprinzip (nach dem die strafrechtliche Macht des Staates nicht über den Schutz dessen hinausgehen darf, was sich als „Rechtsgut“ herausstellt), anderen strafrechtswissenschaftlichen Grundprinzipien, die ebenfalls als Verfassungsgrundsätze nachträglich umgedeutet bzw. rückentwickelt oder genauer gesagt einfach als umfirmiert wurden. Hierbei befasste man sich eher selten mit der Frage, welche konkreten Verfassungsnormen auf genau welche Art genau jenes vorkonstitutionelle objektive Prinzip zu begründen imstande wären (oder sein könnten), ein Prinzip also, das die Strafrechtswissenschaft zuvor nach einer radikal anderen Methodik „entdeckt“ (erblickt, gesehen, erkannt, gesichtet usw.) hat, die oft genug keinen Bezug zu Legitimitätsüberlegungen jeglicher Art genommen hätte, geschweige denn zu Überlegungen, die sich aus einer Konzeption von Strafmacht in einer modernen liberalen Demokratie ergeben (ein Umstand, der vermutlich das Überleben dieser strafrechtlichen Prinzipien auch während des NS-Regimes ermöglicht hätte; siehe unten zum Schuldprinzip).86 Schließlich, und das ist für unsere gegenwärtigen Zwecke am relevantesten, ist das Rechtsgut grundlos in dem Sinne, dass es als Etikett ein wesentliches materielles Problem sowohl benennt als auch löst. Wie bereits erwähnt, fasst das Etikett Rechtsgut die tiefe Spannung zwischen zwei Vorstellungen von staatlicher Strafmacht zusammen, nämlich die auf Rechten basierende, normative Konzeption, 85

BVerfGE 120, 224 (von 2008); siehe allgemein Markus D. Dubber, Policing Morality: Constitutional Law and the Criminalization of Incest, in: U. Toronto L. J. 61 (2011), S. 737. 86 In der Vergangenheit scheint das deutsche Bundesverfassungsgericht jedoch eher bereit gewesen zu sein, strafrechtliche Grundsätze einfach mit dem Etikett „verfassungsrechtlich“ zu versehen, wobei es eine sich ständig weiterentwickelnde Liste von Verfassungsnormen als mögliche Aufhänger produziert hat. Siehe z. B. Tatjana Hörnle, Die verfassungsrechtliche Begründung des Schuldprinzips, in: Ulrich Sieber u. a. (Hrsg.), Strafrecht und Wirtschaftsstrafrecht: Dogmatik, Rechtsvergleich, Rechtstatsachen. Festschrift für Klaus Tiedemann zum 70. Geburtstag, 2008, S. 325.

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die (zu Recht oder zu Unrecht) mit Feuerbach verbunden ist, und die auf Gütern (oder Interessen) basierende, positivistische Konzeption, die mit Birnbaum assoziiert wird. Feuerbachs Paradigma des Verbrechens, die tatsächliche Verletzung des individuellen Rechts, unterscheidet sich grundlegend von Birnbaums, der Verletzung oder Gefährdung eines kollektiven oder individuellen Gutes. Erinnern wir uns, dass Feuerbach (im traditionellen Narrativ des deutschen Strafrechts) als „Vater“ des modernen deutschen Strafrechts die legitimatorische Herausforderung der Strafmacht in einem liberalen, aufgeklärten Staat nicht nur formuliert, sondern auch in Angriff genommen hat. Sein Verständnis von Strafmacht und die Idee des Verbrechens in seinem Mittelpunkt sind also nicht nur für Feuerbachs Sichtweise des Strafrechts, sondern auch für die vermeintliche Legitimation des deutschen Strafrechts insgesamt von zentraler Bedeutung: Sie sind nicht nur Feuerbachs, sondern auch des deutschen Strafrechts Lösung für das neue und grundlegende Problem der Legitimierung der Androhung und Anwendung von Strafgewalt durch den Staat gegenüber den ihn konstituierenden, autonomen Personen. Die Feuerbachsche Auffassung von Verbrechen und Strafrecht erheblich zu verändern und zu erweitern, wie Birnbaum es in mehreren Bereichen vorgenommen hat (individuell à allgemein, Recht à Güter, Verletzung à Gefährdung), droht daher die beanspruchte ursprüngliche Legitimation der staatlichen Strafmacht im deutschen Strafrecht zu untergraben und dabei das Narrativ des deutschen Strafrechts als seit seiner Gründung liberales Projekt auszuhebeln. Bindings Kombination aus Feuerbachs und Birnbaums gegensätzlichen Ansätzen zu einem einzigen Begriff, Rechtsgut, quadriert den Kreis mit Hilfe eines Etiketts. Die Unterscheidung zwischen Recht und Gut verschwindet, und damit auch die Spannung zwischen beiden. Sobald die Spannung wegetikettiert ist, verschwindet auch die Notwendigkeit, sie zu lösen. (Für einen ähnlichen rhetorischen Zug siehe die Schaffung des Begriffs „Polizeirecht“ – und „Verwaltungsrecht“ im Allgemeinen – die die grundlegende Unterscheidung zwischen zwei Herrschaftsmechanismen, Polizei und Recht, tilgt, eine Unterscheidung, übrigens, die auch das Spannungsverhältnis zwischen den mit Birnbaum bzw. Feuerbach verbundenen Verbrechensbegriffen veranschaulichen kann.) Wenn wir noch einmal einen vergleichenden Blick darauf werfen, sehen wir, dass das Rechtsgut dem harm principle des angloamerikanischen Strafrechts mehr ähnelt, als man erwartet hätte. Beiden wird nachgesagt, dass sie ein kritisches Potenzial haben, indem sie eine Grenze um die Strafmacht des Staates ziehen. Und doch erweisen sich beide als genau das Gegenteil, indem sie als gebrauchsfertige Begründung für die Bestätigung und sogar die Erweiterung dieser Macht dienen. Am Ende sind sie beide bestenfalls Hilfsmittel für die Untersuchung gesetzgeberischer Intention oder die dogmatische Analyse. Ihr einziges Potenzial liegt in der Irreführung, indem sie den Eindruck erwecken, dass sie über den Status als beschreibende Etiketten hinaus, auch eine substantielle, legitimierende Bedeutung haben: Wenn eine Vorschrift dem Rechtsguts-

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prinzip / harm principle genügt, muss sie legitim sein. Und hier könnte der eine bemerkenswerte Unterschied zwischen den beiden Prinzipien liegen: Das Rechtsgutsprinzip verschleiert die Legitimationsfrage, die das harm principle nicht einmal erkennt.87 Durch das Verschmelzen zweier Konzepte, die jeweils mit einer sehr unterschiedlichen Vorstellung von Verbrechen und Strafmacht im Zusammenhang stehen, nutzt das deutsche Strafrecht das Rechtsgutprinzip, um die zentralen Spannungen zwischen Recht und Gut, Verletzung und Gefährdung sowie individuellem und allgemeinem Interesse zu beseitigen (und ich würde hinzufügen: die zwischen Recht und Polizei als Herrschaftsmechanismen, siehe Teil II unten). Das angloamerikanische Strafrecht hingegen versucht nicht einmal, das harm principle zu nutzen, um die Untersuchungen in spezifisch juristische (und nicht in moralische) Begriffe zu fassen, indem sie es einfach aus Mills moralphilosophischen On Liberty aus der Mitte des 19. Jahrhunderts übernimmt. In dem Maße, in dem das angloamerikanische rechtlich-politische Projekt das Strafparadoxon, d. h. die prima facie-Illegitimität der Androhung und Anwendung der Strafgewalt des Staates gegen die ihn konstituierenden Personen in einer modernen liberalen Demokratie, nie erkannt hat, ist es nicht verwunderlich, dass keine ernsten Anstrengungen unternommen wurden, um das harm principle zur Formulierung dieses Paradoxons zu nutzen, geschweige denn, es durch Etikettieren (oder in irgendeiner anderen Weise) zu lösen. So blieb das „harm principle“ eben ganz einfach das „harm principle“, eine unbestimmte moralische Maxime, die gelegentlich als zahnlose Orientierungshilfe für die willkürliche Ausübung der Strafmacht des Souveräns herangezogen wird.88

2. „Positive Generalprävention“: Eine Wissenschaft der Strafen (und „Maßnahmen“) In der angloamerikanischen Literatur wird die Debatte über die Begründung oder Begründungen von Strafe seit langem innerhalb eines gewohnten Rahmens von konsequentialistischen und deontologischen Theorien geführt. Üblicherweise werden die folgenden vier Straftheorien aufgelistet: Abschreckung (Generalprävention und Spezialprävention), Unschädlichmachung, Besserung (oder Rehabilitierung) und Retribution (oder Vergeltung), wobei die ersten drei als konsequentialistisch und die vierte als deontologisch eingestuft werden. Die „Konsequenzen“, die die ersten zu erzielen versuchen, können von Ansatz zu Ansatz variieren, aber die Prävention von Straftaten oder die Senkung der Kriminalitätsrate gehören in der Regel dazu. 87 Diese Unterscheidung spiegelt jene zwischen den angloamerikanischen und deutschen Einstellungen zur Herausforderung des liberalen Strafrechts wider (siehe Teil III). 88 R. v. Malmo-Levine; R. v. Caine, [2003] 3 S. C.R. 571, Para. 240.

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Nach etwa zwei Jahrhunderten der Auseinandersetzungen zwischen den konsequentialistischen und deontologischen Lagern hat sich eine allgemeine Ermüdung eingestellt. Im Großen und Ganzen haben sich Straftheoretiker – und Gesetz­geber sowie Strafzumessungskommissionen – auf die eine oder andere „gemischte Theorie“ festgelegt und großzügig Elemente von Ansichten kombiniert, die einst als zutiefst unvereinbar galten.89 Als besonders hilfreich erwies sich dabei die analytische Arbeit des englischen Rechtsphilosophen H. L.A.  Hart aus der Mitte des 20. Jahrhunderts. Durch die Unterscheidung zwischen den Fragen, die eine Theorie der Bestrafung beantworten sollte, ermöglichte Hart verschiedene Antworten auf diese Fragen.90 Man könnte also ein Konsequentialist in Bezug auf die Rechtfertigung der Institution der Strafe im Allgemeinen sein, sich aber dann für den Retributivismus entscheiden, wenn es darum geht, die Verhängung der Strafe in einem konkreten Fall zu begründen. Genauer gesagt, könnten wir der Meinung sein, dass wir Strafen benötigen, um Menschen davon abzuhalten, Verbrechen zu begehen, aber gleichzeitig auch, dass wir Menschen nicht bestrafen sollten, es sei denn, sie verdienen es tatsächlich. Angesichts der weithin bekannten Stagnation der Debatten über die Strafgründe im angloamerikanischen Recht könnte man meinen, es würde sich lohnen, einen Blick auf die vermeintlichen Entdeckungen der deutschen Strafrechtswissenschaft zu diesem Thema zu werfen. Und tatsächlich scheint die deutsche Strafrechtswissenschaft einen Weg gefunden zu haben, aus der konsequentialistisch-deontologischen Spur auszubrechen, indem sie eine Straftheorie entwickelt hat, die die scheinbar grundlegende Unterscheidung zwischen Konsequentialismus und Retributivismus überwindet. Auch das deutsche Strafrecht hat intensive und langwierige Kämpfe (bzw. „Streite“) um die Straftheorien erlebt und diejenigen, die eine Bestrafung ne peccetur vorschlugen, denjenigen gegenüberstellten, die es vorzogen, quia peccatum est zu bestrafen. Wir haben bereits den Schulenstreit zwischen Liszt und Binding erwähnt, in dem zwei erzpositivistische Lager gegeneinander antraten, die „progressive“ und die „klassische“ Schule. Binding argumentierte, dass die Bestrafung, als Reaktion des Staates, nur im Falle der Verletzung einer staatlichen Norm gerechtfertigt sei. Nach Binding war das Wesen des Verbrechens die Verletzung einer Norm des positiven Rechts. Das Strafrecht war nicht so sehr eine Forderung nach Gerechtigkeit, oder wie Kant es nennen würde, ein „kategorischer Imperativ“, son 89

Siehe z. B. die United States Sentencing Guidelines, ch. 1, pt. A(3) („Auflösung des philosophischen Dilemmas“ zwischen Retributivismus und Konsequentialismus „ohne dem einen vor dem anderen einen Vorrang einzuräumen“); 18 U. S. C. § 3553(a)(2) (Abschreckung, Unschädlichmachung, Retribution, Besserung). 90 H. L.A. Hart, Prolegomenon to the Principles of Punishment, in: Punishment and Responsibility, 1968, S. 1; siehe auch John Rawls, Two Concepts of Rules, in: Phil. Rev. 64 (1955), S. 3; Warren Quinn, The Right to Threaten and the Right to Punish, in: Phil. & Pub. Affairs 14 (1985), S. 327.

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dern ein staatliches Instrument zur Durchsetzung der staatlichen Autorität, das der Staat nutzen kann oder nicht. Das „Recht auf Strafe“ war „nichts als das durch die Unbotmäßigkeit des Delinquenten verwandelte Recht auf Botmäßigkeit gegenüber dem Gesetz“,91 zwecks „Unterwerfung des Sträflings unter die Rechtsmacht zur Aufrechterhaltung der Autorität der verletzten Gesetze“.92 Liszt hingegen warf Binding und seinen klassischen Weggefährten vor, sich für eine sinnlose Strafe einzusetzen. (Wie wir gerade gesehen haben, ist das nicht ganz fair, da nach Binding die Strafe dem Zweck der Aufrechterhaltung staatlicher Autorität diente.) Liszt und dessen Mitstreiter argumentierten, dass die Bestrafung nicht dazu diente, zu bestrafen, sondern je nach Art des Täters zu rehabilitieren (erziehen), abzuschrecken oder unschädlich zu machen. So würde beispielsweise einem als „rückfällig“ diagnostizierten Täter nach der dritten Verurteilung für eine Straftat, die durch „die stärksten und ursprünglichsten menschlichen Triebe“ motiviert ist (einschließlich Diebstahl, Raub, Brandstiftung und Vergewaltigung, aber auch Sachbeschädigung), eine unbestimmte Gefängnisstrafe auferlegt werden. Diese Strafe würde in einem Zustand der „Strafknechtschaft“ verbüßt werden, und zwar „mit strengstem Arbeitszwang und möglichster Ausnutzung der Arbeitskraft; als Disziplinarstrafe wäre die Prügelstrafe kaum zu entbehren; obligatorischer und dauernder Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte müßte den unbedingt entehrenden Charakter der Strafe scharf kennzeichnen“.93 Wirklich unverbesserliche Straf­täter, die nicht auf eine rehabilitative pönal-korrigierende Behandlung reagierten, würden wahrhaftig unschädlich gemacht, indem sie lebenslänglich eingesperrt werden, weil wir sie (offensichtlich) „köpfen und hängen nicht wollen und deportieren nicht können“.94 Dieser Konflikt zwischen „Bestrafung als Bestrafung“ und „Bestrafung als Behandlung“ wurde in dem bis heute bestehenden deutschen „zweispurigen“ Sanktionssystem verrechtlicht (bzw. vergesetzlicht). Anstatt sich zwischen Bestrafung oder Behandlung entscheiden zu müssen, tanzt das deutsche Strafrecht seit 1933 auf zwei Hochzeiten gleichzeitig: Es gibt zwei allgemeine Arten von Sanktionen, „Strafen“ und „Maßregeln“. Nur „Strafen“ im eigentlichen Sinne unterliegen den Einschränkungen der Proportionalität von Schuld und Strafe. „Maßregeln“ stehen stattdessen in keinem Zusammenhang mit der Schuld und werden durch die pönal-korrigierende Diagnose des Täters bestimmt. Wenn also Straftäter eine rehabilitierende Behandlung benötigen, können sie in eine Drogen-Rehabilitationsklinik geschickt werden; wird hingegen eine unschädlich machende Behandlung benötigt, können sie auf unbestimmte Zeit inhaftiert werden. „Maßregeln“ werden

91 Karl Binding, Das Problem der Strafe in der heutigen Wissenschaft, in: ders., Strafrechtliche und strafprozessuale Abhandlungen, Bd. 1, 1915, S. 61, 84. 92 Ebd., S. 86. 93 Franz von Liszt, Der Zweckgedanke im Strafrecht, Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 3 (1883), S. 1, 40 („Marburger Programm“). 94 Ebd., S. 39.

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unabhängig von – und gegebenenfalls aufeinanderfolgend zu – allen verhängten „Strafen“ ausgesprochen. Während „progressive“ Überlegungen den Bereich der „Maßregeln“ bestimmten (Liszt), blieb der Bereich der „Strafen“ den „klassischen“ quia peccatum Erwägungen unterworfen (Binding). Strafrecht (also buchstäblich das Recht der Bestrafung) blieb bestehen, war aber nur noch ein Bestandteil der umfassenden Vision des Kriminalrechts, die sowohl Bestrafung als auch Behandlung umfasste. Zu beachten ist, dass dieses gesetzliche Schema den Streit zwischen konkurrierenden Straftheorien „löst“, indem es ein neues Etikett, die „Maßregel“, erfindet. Nach der Erfindung des Etiketts wird es auf eine „Spur“ der strafrechtlichen Sanktionen angewendet, die die andere (und früher einzige) Spur ergänzt und jetzt „Strafe“ genannt wird. Mit anderen Worten, dieses gesetzliche Schema löst den Streit um Straftheorien nicht so sehr, als dass es ihn einschränkt, von dem, was früher das gesamte Strafrecht war, auf eine seiner beiden Spuren: die „Strafe“. Die andere, neue Spur, „Maßregeln“, operierte ganz und gar außerhalb des Bereichs der Strafbarkeit und damit auch außerhalb des Bereichs der möglichen Begründungen der Strafbarkeit, der sog. Straftheorien. Damit wurde ein Aspekt des deutschen Strafsystems effektiv über den Grenzen der deutschen Strafrechtswissenschaft hinausgeschoben. Während die deutsche Strafrechtswissenschaft weiterhin über das Strafrecht grübelte, einschließlich des gesamten filigranen Konstrukts der deutschen Strafrechtsdogmatik, existierten die Maßregeln in einem außer- (bzw. unter-) rechtlichen, unbestimmt pönologisch-kriminologischen Bereich. Es war auch nicht so, dass Maßregeln eine andere Rechtfertigung erforderten als Strafen, sondern vielmehr, dass sie keinerlei Rechtfertigung benötigten. Schließlich waren sie medikalisiert worden, als Behandlung, die auf der Grundlage einer (nicht spezifizierten) Expertendiagnose einer kriminellen Pathologie verschrieben wurde. Jedenfalls entstand im (jetzt nicht mehr allumfassenden) Bereich der „Strafe“ schließlich ein „neuer“ Ansatz, der den langjährigen und unproduktiven Streit um die Straftheorien überwinden wollte. Das angloamerikanische Strafrecht hat sich weitgehend damit begnügt, das Spannungsfeld zwischen Deontologie und Konsequentialismus sowie zwischen Retributivismus und Utilitarismus zu navigieren, indem es diese Zutaten in „gemischten“ Theorien verschiedener kombiniert hat, während Richter in der Strafzumessung „zwischen diesen Polen oszillierend hin und her schwankten, und Gerechtigkeit mit Barmherzigkeit, sowie Retributivismus mit utilitaristischen Kalkulationen auf unterschiedliche pragmatische Weisen temperierten“.95 Die Theorie der „positiven Generalprävention“96, die heute im deutschen Strafrecht vorherrschende Straftheorie, versucht, über diesen pragmatischen 95

United States v. Blarek, 7 F. Supp. 2d 192, 203 (E. D.N. Y. 1998) (Weinstein, J.); Dubber /  Hörnle, Criminal Law: A Comparative Approach (Fn. 85), S. 4 ff. 96 Siehe Winfried Hassemer, Variationen der positiven Generalprävention, in: Bernd Schüne­ mann u. a. (Hrsg.), Positive Generalprävention: Kritische Analysen im deutsch-englischen Dialog, 1998, S. 29, 43.

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Mischform-Ansatz hinauszugehen und die Unterschiede zwischen „absoluten“ und „relativen“ Straftheorien zu versöhnen. Es gibt viele Varianten der positiven Generalprävention, so viele sogar, dass Beiträge zu ihrer Diskussion nicht selten darauf hinweisen, dass es durchaus irreführend sein kann, von der Theorie und nicht von Theorien der positiven Generalprävention zu sprechen. Dennoch sind die grundlegenden Merkmale der positiven Generalprävention leicht genug zu erkennen. Sie ist „generell“, indem sie sich von einer Spezialprävention unterscheidet, die die Bestrafung zur Vorbeugung von Verbrechen durch den jeweiligen bestraften Täter und nicht durch andere einsetzt. Sie ist „positiv“, weil sie versucht, Verbrechen zu verhindern, nicht indem es potenzielle Gesetzesbrecher abschreckt, sodass diese die Vorschriften einhalten, sondern indem sie die „Rechtstreue“ der übrigen Bevölkerung stärkt. Schließlich und damit verbunden geht es um „Prävention“ im Allgemeinen und nicht um „Abschreckung“ als besonderes Instrument der Prävention. Es ist also klar, was positive Generalprävention nicht ist. Positive Generalprävention ist keine negative Spezialprävention (oder kurz: individuelle Abschreckung). Diese Theorie gilt schließlich allgemein als vom Vater des modernen deutschen Strafrechts, P. J. A. Feuerbach, an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert gründlich und dauerhaft widerlegt.97 Positive Generalprävention ist auch keine positive Spezialprävention oder Besserung, die  – wie wir gesehen haben  – zu Liszts Trio pönal-korrigierender Maßnahmen gehörten: Prävention, Besserung, Unschädlichmachung. Positive Generalprävention entstand zum Teil aus dem Erkenntnis der deutschen Strafrechtswissenschaft, dass – um den bekannten Satz aus der damaligen amerikanischen Kriminologie zu zitieren – „nothing works“.98 Während insbesondere das amerikanische Strafrecht auf das scheinbare Scheitern rehabilitativer Maßnahmen reagierte, indem es sich (wieder) dem Retributivismus oder „just deserts“, wie er inzwischen genannt wurde, zuwandte, verlagerte sich der Schwerpunkt der deutschen Reaktion auf die Ziele der Prävention, anstatt den Bereich der konsequentialistischen Bestrafung ganz zu verlassen. Wenn positive Spezialprävention nicht 97 Feuerbachs Argument war weitgehend begrifflich, um nicht zu sagen formalistisch. Er warf den damaligen Verfechtern der Spezialprävention vor, dass sie kein Recht auf „Bestrafung“ für vergangene Verstöße „ableiten“ konnten, sondern bestenfalls ein Recht auf „Verteidigung“ gegen künftige Verstöße. Siehe Paul Johann Anselm von Feuerbach, Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts, Teil 1, 1799, S. 21 (Nachdruck 1966); siehe auch Paul Johann Anselm von Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts, 14. Aufl. 1847, hrsg. von Karl Joseph Anton Mittermaier, § 18, Nachdruck 1973. 98 Robert Martinson, What Works?: Questions and Answers About Prison Reform, in: Pub. Int. 35 (1974), S. 22. Martinsons berühmter Artikel, obwohl er heute im Allgemeinen nur noch als Quelle des Slogans (oder der Stimmung) „Nothing Works“ zitiert wird, stellt eine nuancierte, wenn auch skeptische Einschätzung des damaligen Zustands und der Aussichten der Rehabilitierungsprogramme in amerikanischen Gefängnissen dar.

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funktionierte, dann könnte vielleicht eine positive Generalprävention funktionieren. Wenn die Strafe Täter nicht rehabilitieren kann, könnte sie vielleicht die Entscheidung von Nicht-Tätern stärken, gar nicht erst zu (nicht besserungsfähigen) Tätern zu werden. Generell hoffte man, dass die positive Generalprävention die normativen und empirischen Probleme konsequentialistischer Straftheorien vermeiden könnte, ohne dabei eine retributive Theorie der Strafe um ihrer selbst willen unterstützen zu müssen, die (seit Liszt) als buchstäblich sinnlos und damit barbarisch abgetan wurde. Die normativen Probleme der Abschreckungstheorie sind spätestens seit Kant bekannt. Der kategorische Imperativ weist uns schließlich an, eine Person niemals nur als Mittel zum Zweck zu behandeln. Und was bedeutet es, eine Person zu bestrafen, um eine andere davon abzuhalten, ein Verbrechen zu begehen, wenn nicht diese Person als bloßes Mittel zum Zweck der Kriminalitätsverhütung zu gebrauchen? Kant zur Unterstützung einer positiven Generalprävention hinzuzuziehen, wäre jedoch nicht ohne Ironie. Kant galt (und sah sich) schließlich als Erzretributivist, und war deswegen passé (s. oben). Darüber hinaus war Kants buchstäblich kategorischer Einwand nicht auf Abschreckung beschränkt, weder speziell noch generell, sondern galt für jede konsequentialistische Theorie der Bestrafung.99 Aber es gab insbesondere bei den Abschreckungstheorien noch ein weiteres normatives Problem, das eine präventive – vor allem der positiven Art – vermeiden könnte. Dieser Einwand wurde etwas später von Hegel, einem weiteren deutschen Retributivisten, formuliert, der gegen Prävention durch Abschreckung argumentierte, weil sie die Würde des Abgeschreckten missachte. Denn was, so fragte Hegel, ist Bestrafung um der Abschreckung willen, wenn nicht das angesprochene Publikum dieses Spektakels wie Tiere – genauer gesagt, Hunde – behandeln, die verängstigt und (im Falle der individuellen Abschreckung) tatsächlich geschlagen werden, um sich ihrem Herrn zu unterwerfen?100 Positive Generalprävention bedrohte nicht Hunde mit erhobenen Schlagstöcken, sondern richtete sich an Menschen, die in der Lage waren, Entscheidungen zu treffen, einschließlich der Entscheidung, dem Recht zu folgen oder es zu brechen. Sie versuchte, niemanden abzuschrecken, weder die bestrafte Person noch sonst jemanden. Sie zielte lediglich darauf ab, das „allgemeine Rechtsbewußtsein“ (Roxin)101 der Rechtsgemeinschaft zu stärken, vielleicht einschließlich, aber sicherlich nicht beschränkt auf den konkreten Täter.

99 Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten. Erster Teil: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, 1797, 2. Aufl. 1798, S. A195 ff. / B225 ff. 100 G. W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821 (eigentlich 1820), § 99. Für eine detaillierte Diskussion der Hegelschen Strafrechtstheorie aus der angloamerikanischen Literatur, siehe Alan Brudner, Punishment and Freedom, 2009. 101 Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil, Bd. 1 (Fn. 36), S. 51.

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Aber eine positive Generalprävention sollte mehr als eine salonfähigere Version allgemeiner Abschreckung sein, um so die normativen Probleme zu lösen oder zumindest zu umgehen, die die allgemeine Abschreckung seit Jahrhunderten belastet hatten. Es ging darum, auch die empirischen Probleme dieser konsequentialistischen Theorie zu lösen. Denn nicht nur die Spezialprävention bzw. Besserung war auf empirische Schwierigkeiten gestoßen, die im „nothing works“ Slogan dramatisch zum Ausdruck kamen. Auch die Generalprävention hatte es nie ganz geschafft, ihre wissenschaftlichen Ansprüche mit harten empirischen Fakten zu untermauern. Es gab sicherlich immer eine starke common-sense Auffassung, dass Strafen eine abschreckende Wirkung haben würden. Aber der gesunde Menschenverstand schien für eine Straftheorie, deren zentrale Behauptung darin bestand, dass Strafe ohne Sinn (oder um ihrer selbst willen) offensichtlich illegitim sei, kaum ausreichend. Im Gegensatz zum atavistischen, vorwissenschaftlichen und vormodernen Retributivismus sollte der Konsequentialismus ja eine staatliche Institution, die so eingreifend und gewalttätig war wie die Strafe, nicht auf irgendeine Metaphysik des Verbrechens und seiner Bestrafung (Hegel) oder auf ein abstraktes Moralprinzip wie den kategorischen Imperativ (Kant) stützen. Stattdessen brauchte man einen harten empirischen Erfolgsbeweis. Ohne diesen Beweis war der Konsequentialismus nicht besser als der Retributivismus. Es wäre in der Tat barbarisch, zu bestrafen, ohne Belege für die positiven Auswirkungen der Bestrafung (auch und insbesondere im Namen der positiven Generalprävention) zu liefern. Das heikelste empirische Problem im Zusammenhang mit der Theorie der Abschreckung ist, dass die bloße Tatsache der Kriminalität sie zu widerlegen scheint. Denn wenn das Ziel der Bestrafung die Abschreckung ist, dann wird es zumindest nach einer Weile schwierig, die Tatsache, dass Kriminalität trotz anhaltender Bestrafung fortbesteht und sogar zunehmen kann, zu ignorieren. Vielleicht kann die Theorie der positiven Generalprävention aber die Kraft dieses empirischen Einwandes abschwächen, insbesondere wenn man sich auf ihre explizit positiven Eigenschaften konzentriert (im Sinne von „accentuate the positive“, frei nach ­Harold Arlen und Johnny Mercer). Wer weiß schon, welche positiven Auswirkungen die Androhung und Verhängung von Strafen auf die Gesetzestreue der Gesetzestreuen haben könnte? Die bloße Existenz einer beträchtlichen Anzahl von nicht abschreckbaren Straftätern impliziert ja nicht unbedingt das Fehlen (einer Vielzahl?) von Menschen, die ein Leben als Straftäter gar nicht erst in Betracht ziehen, weil sie ihr Vertrauen in die Autorität des Gesetzes durch die gelegentliche (oder, noch besser, regelmäßige) Bestrafung der (einiger, aller?) strafrechtlichen Normbrecher bekräftigt sehen, ungeachtet aller gegenteiligen Erscheinungen in Form anhaltender Kriminalität. Es ist klar, dass nicht jeder ständig Verbrechen begeht. Warum sollte das nicht das Ergebnis einer positiven Generalprävention durch Bestrafung sein?102 Sicherlich kann die Bestrafung behaupten, hier einen gewissen Beitrag geleistet zu haben. 102

Ebd.

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Diese Mutmaßung beweist jedoch, wenn überhaupt etwas, dann nicht nur die empirische Fundiertheit der positiven Generalprävention, sondern jeder Methode der präventiven Strafe, auch der durch Abschreckung. Der empirische Erfolgs­ beweis bleibt jedenfalls auch hier aus. Letztendlich basiert auch die positive Generalprävention auf dem guten Menschenverstand. Und so findet man Argumente dafür, dass die Theorie der positiven Generalprävention gerade deshalb attraktiv ist, weil es keine empirischen Beweise für – oder gegen – ihre Wirksamkeit gibt, oder geben kann; sie ist „kaum falsifizierbar“ (Roxin).103 Die Unwiderlegbarkeit erscheint allerdings nicht unbedingt als Vorzug einer Straftheorie, die sich gegen die Unwiderlegbarkeit der Vergeltungsmetaphysik wendet. Es kann tatsächlich unter gelegentlich schwerfallen, die positive Generalprävention vom Retributivismus zu unterscheiden. Auch für viele „Retributivisten“ ging es darum, durch Bestrafung die Autorität des Staates oder zumindest die Geltungskraft krimineller (oder sozialer, moralischer oder rechtlicher) Normen zu bekräftigen (s. oben Binding). Im Gegensatz zu Befürwortern der positiven Generalprävention haben sie allerdings nicht behauptet, dass die Durchsetzung der Autorität des Rechts einen Zweck über sich hinaus erfordert. Wird die Erreichung dieses Zwecks jedoch so irrelevant, dass sie keiner Überprüfung (oder gar Überprüfbarkeit) bedarf, dann fragt sich, was die positive Generalprävention über den guten alten Retributivismus hinaus beiträgt. Die Grenze zwischen Retributivismus und Konsequentialismus verwischt dann auch spürbar in einer einflussreichen Variante der positiven Generalprävention, die von einem ihrer Hauptvertreter entwickelt wurde. In Anlehnung an Hegels „Negation der Negation“-Formel sieht Jakobs die „Leistung des Strafrechts … darin, dem Widerspruch gegen identitätsbestimmende Normen der Gesellschaft seinerseits zu widersprechen“. In Jakobs’ „Widerspruch des Widerspruchs“-Konzeption ist die Strafe „nicht nur ein Mittel der Erhaltung gesellschaftlicher Identität, sondern ist bereits diese Erhaltung selbst“.104 Die Leistungsfähigkeit des Strafrechts liegt damit außerhalb empirischer Widerlegbarkeit; Strafe bedeutet die Erhaltung sozialer Identität.105 Das soll nicht heißen, dass Vergeltung oder jede andere Straftheorie, die sich nicht auf empirische Falsifizierbarkeit stützt, allein aus diesem Grund verworfen werden sollte, sondern nur, dass die nicht falsifizierbaren Varianten der positiven Generalprävention sie nicht aus diesem Grund verwerfen können. Je weiter der Schwerpunkt von der Wirkung abrückt, desto mehr Gewicht wird auf die Bedeutung der Strafe verlegt. Und je mehr die positive Generalprävention darauf besteht, dass es bei der Strafe um eine bestimmte Bedeutung geht, und nicht um die Erreichung eines bestimmten Zwecks (wie z. B. Prävention), um so weniger erscheint sie als Rechtfertigung, eher als Analyse des Strafens. Ab einem 103

Ebd. Günther Jakobs, Das Strafrecht zwischen Funktionalismus und „alteuropäischem“ Prinzipiendenken, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 107 (1995), S. 843, 844. 105 Ebd., S. 845. 104

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bestimmten Punkt ist die positive Generalprävention keine Straftheorie mehr, sondern eine Straffunktion. Es mag manchmal „tatsächlich“ so sein, dass Strafe „die Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung vor der Rechtsgemeinschaft erweist und so die Rechtstreue der Bevölkerung stärkt“.106 Wir werden das nie erfahren. Aber, nehmen wir an, es wäre so: Kann ein solcher „Erweis“ und eine solche „Stärkung“ Strafe rechtfertigen?107 Hier hat die positive Generalprävention die gleichen Schwierigkeiten wie die so genannte expressive Straftheorie. Die expressive Straftheorie behauptete jedoch nie, die Strafe überhaupt zu rechtfertigen. Der Ausdruck der öffentlichen Verdammung war kein Zweck oder eine Begründung des Strafens, sondern, wie der Titel des Artikels, der sie in der angloamerikanischen Strafliteratur popularisierte, deutlich machte, eine (nicht einmal die) „Funktion der Bestrafung“.108 Als Analyse der expressiven Funktion der Strafe fügt sich die positive Generalprävention daher in eine lange Tradition soziologischer Ansätze ein, die mindestens bis Durkheim zurückreicht, der staatliche Strafe als ein Mittel zur Befriedigung kollektiver Rachebedürfnisse betrachtete, die auf diese Weise eine zentrale Rolle bei der Erhaltung der Identität materiell zersplitterter moderner Gesellschaften einnahm.109 Gerechtfertigt wird mit dieser (spekulativen) sozialpsychologischen Funktionsanalyse nichts. Versuche, soziologische Überlegungen über eine expressive Funktion der Strafe in eine normative Straftheorie zu verwandeln, sind weder neu, noch auf die deutschen Strafrechtswissenschaft beschränkt. Bereits im frühen 20. Jahrhundert entwickelte der englische Philosoph A. C. Ewing eine Theorie, die staatliche Strafe als Denunziation im Namen der Gesellschaft betrachtete.110 Kurz zuvor hatte der deutsche Philosoph Heinrich Maier eine Theorie der Strafe als Medium des Volks­bewusstseins in irdischer Analogie zu Gottes Vergeltung im Jenseits vorgestellt.111 In den 1980er Jahren später argumentierte Richard Burgh, Strafe entschädige die Gesellschaft, indem sie emphatisch die Missbilligung der strafbaren Tat ausdrückt.112

106

Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil, Bd. 1 (Fn. 36), S. 50 (mit Zitat von BVerfGE 45, 255 f. [von 1977]). 107 Siehe dazu die Diskussion von Jakobs’ Darstellung des Feindstrafrechts, die ebenfalls die Grenze zwischen Analyse und Normativität überspannt; siehe auch Kapitel 4, Abschnitt G. 108 Joel Feinberg, The Expressive Function of Punishment, in: ders. (Hrsg.), Doing and Deserving, 1970, S. 95. 109 Emile Durkheim, The Division of Labor in Society, hrsg. von George Simpson, 1933, S. 73, 96. Siehe auch dens., The Power to Punish: Contemporary Penality and Social Analysis, hrsg. von David Garland / Peter Young u. a., 1983, S. 44. 110 A. C. Ewing, The Morality of Punishment, 1929, S. 24. 111 Heinrich Maier, Psychologie des emotionalen Denkens, 1908, S. 692 (zitiert in: Ernst Beling, Die Vergeltungsidee und ihre Bedeutung für das Strafrecht, 1908, S. 28 Fn. 1). 112 Richard Burgh, Guilt, Punishment and Desert, in: Ferdinand Schoeman (Hrsg.), Responsibility, Character, and the Emotions, 1987, S. 330.

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Das Problem ist auch hier, dass diese expressiven Straftheorien offenkundig einen retributivistischen Charakter tragen, und als solche keinerlei Interesse an irgendwelchen präventiven Funktionen der Strafen zeigen, außer vielleicht als günstige Nebenfolge einer Praxis, die aus vergeltenden oder kompensatorischen Gründen gerechtfertigt werden muss. Unabhängig von den etwaigen Vorzügen einer retributiven Rechtfertigung von Strafe kann sich die positive Generalprävention schlecht leisten, auf eine Spielart des Retributivismus reduziert zu werden, da sie einen Großteil ihrer Anziehungskraft gerade aus der eindeutigen und weitverbreiteten Ablehnung der retributivistischen Behauptung ableitet, dass punitur quia peccatum est, komme was da wolle.113 Dann gibt es die damit zusammenhängende Beobachtung, dass eine expressive Straftheorie, selbst wenn sie etwas rechtfertigen könnte, die Expression und nicht die Strafe selbst rechtfertigen könnte. Wenn es bei der Bestrafung um den Ausdruck von Missbilligung geht, warum ersetzen wir dann nicht die Strafe durch Rituale der Missbilligung, einschließlich der öffentlichen Verlesung des Urteils und der Verkündung der verschiedenen Grade der Missbilligung, die von leicht bis schwer bis streng? Darüber hinaus scheint es so, als wären wir gezwungen, Strafe ganz abzuschaffen. Denn der Schmerz des Verdammten ist sicherlich wesentlich geringer als der Schmerz eines Bestraften. Eine konsequentialistische Abwägung von Kosten und Nutzen, oder von Schaden und Freude nach dem Grundsatz der Sparsamkeit, scheint nichts Geringeres zu erfordern.114 In diesem Fall hätte die expressive Straftheorie nicht die Strafe, sondern vielmehr ihre Abschaffung gerechtfertigt. Tatsächlich wurde die expressive Theorie der Bestrafung vor nicht allzu langer Zeit in den Vereinigten Staaten herangezogen, um eine Alternative vorzuschlagen, wenn nicht zur Bestrafung überhaupt, so doch zur Freiheitsstrafe.115 Unter diesem Gesichtspunkt sollte die Gemeinschaft ihre Missbilligung direkt durch öffentliche Beschämung zum Ausdruck bringen und nicht indirekt durch vertrautere moderne Strafmaßnahmen wie den Freiheitsentzug, die sich schwer tun, die öffentliche Missbilligung präzise zum Ausdruck zu bringen, gerade weil ihre Verhängung der öffentlichen Wahrnehmung entzogen ist. Während die Inhaftierung lediglich im Idealfall indirekt die Missbilligung gegenüber dem Insassen zum Ausdruck bringen kann, vermittelt öffentliche Beschämung (shaming) eine eindeutige Botschaft sowohl an den Straftäter, als auch an die rechtstreue Bevölkerung, die ansonsten ausgeschlossen ist von dem, was auch immer an expressiver Bestrafung 113

Vielleicht sind deutsche Strafrechtler trotz ihrer heftigen und häufigen anti-retributivistischen Bekenntnisse im Grunde genommen doch überzeugte Vergeltungstheoretiker. So meinte George Fletcher, sie seien nur „[retributivistische] Schafe im [konsequentialistischen] Wolfspelz.“ George P. Fletcher, Utilitarismus und Prinzipiendenken im Strafrecht, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 101 [1989], S. 803, 814. 114 Zum Prinzip der Sparsamkeit (parsimony) siehe Jeremy Bentham, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, 1823, Nachdruck 1948, Kap. 14, § 13. 115 Siehe z. B. Dan M. Kahan, What Do Alternative Sanctions Mean?, in: U. Chi. L. Rev. 63 (1996), S. 591.

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hinter Gefängnismauern geschehen mag. Die Beschämung ist in dieser Hinsicht anderen Alternativsanktionen vorzuziehen, da nur sie – im Gegensatz zu (nicht freiheitsentziehenden) Sanktionen wie Geldstrafen, Bewährung oder gemeinnütziger Arbeit – „unzweideutig Missbilligung zum Ausdruck bringt“.116 Deutsche Befürworter der positiven Generalprävention würden bei dem Vorschlag, missbilligende Sanktionen wieder in das Strafarsenal des modernen Strafrechts aufzunehmen, wahrscheinlich dennoch entsetzt zurückschrecken. Schließlich ist die primäre Strafe im deutschen Strafrecht nicht die Freiheitsstrafe, sondern die Geldstrafe, so dass die Forderung nach Beschämung als Alternative zur Freiheits­strafe nicht greifen würde. Dennoch ist der Unterschied zwischen positiver Generalprävention und expressiver Beschämung weniger konzeptionell (oder „prinzipienbasiert“) als vielmehr konventionell. Wenn sich herausstellt, dass die Befürworter der expressiven Beschämung richtig liegen und diese die Identität der (rechtstreuen) Gemeinschaft bekräftigt, und zwar sogar besser als die jeweils paradigmatische Sanktion (Inhaftierung in den USA, Geldstrafe in Deutschland), dann könnten Anhänger der positiven Generalprävention die Methode der öffentliche Beschämung nicht so leicht von der Hand weisen. Das Problem der positiven Generalprävention als expressiver Straftheorie besteht also nicht nur darin, dass sie die Strafe als Ausdrucksform nicht rechtfertigen kann. Ebenso wichtig ist, dass sie jede Ausdrucksform rechtfertigen kann, die eine gemeinschaftliche Verbundenheit unter gemeinsamen Normen durch gemeinschaftliche Aburteilung verdeutlicht – oder, wenn es keine empirische Falsifizierbarkeit gibt, möglicherweise verdeutlichen könnte. Letzten Endes erscheint die vielgepriesene von der deutschen Strafrechtswissenschaft entwickelte Theorie der positiven Generalprävention weniger als ein wahrer Versuch, sich der Herausforderung zu stellen, die gewaltige Strafmacht des Staates in einer modernen liberalen Demokratie zu rechtfertigen, als vielmehr eine Übung in der post hoc-Rationalisierung einer Praxis, deren Legitimität nicht ernsthaft bezweifelt wird. Vermutlich weil allgemein angenommen wird, dass irgendwann in der Vergangenheit, als die Entdeckung der Autonomie in der Aufklärung die Legitimität des staatlichen Handelns im Allgemeinen und des staatlichen Strafrechts im Besonderen zum ersten Mal in Frage gestellt hatte, diese auch gleichzeitig und endgültig bewiesen wurde. So kann die Theorie der positiven Generalprävention nichts zu den altbekannten Debatten hinzufügen. Mehr zu tun, als nur frühere Straftheorien neu zu formulieren und zusammenzufügen, würde bedeuten, dass frühere Legitimationsversuche unzureichend gewesen wären. Stattdessen beginnt das Narrativ über die Entwicklung der „modernen“ Rechtfertigung von Strafe mit Feuerbach, dessen eigentümliche Kombination aus scheinbar unvereinbaren kantianischen und beccarianischen Strafkonzepten im Laufe der Zeit zwar verfeinert, aber nie ersetzt wurde.

116

Ebd., S. 592.

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Die Theorie der positiven Generalprävention liest sich hier und heute weniger wie eine direkte Antwort auf die dringende Notwendigkeit der Legitimation staatlicher Bestrafung, als vielmehr wie eine Antwort auf eine Aufgabenstellung, die die Zusammenstellung einer Darstellung des staatlichen Strafen verlangt, in der zum Zweck systematischer und effizienter Etikettierung die attraktiven Elemente früherer Ansätze berücksichtigt werden; ein einziger einheitlicher und als solcher gekennzeichneter Ansatz ist einer Menge verschiedener Ansätze vorzuziehen. Worauf es ankommt ist, dass alle Teile für sich genommen unbedenklich sind, nicht, dass sie trotz der offensichtlichen Inkompatibilität der Ansätze, aus denen sie entnommen wurden, zusammenpassen. Tatsächlich erweist sich die „Theorie“ bei näherer Betrachtung eher als deskriptive Darstellung denn als normative Theorie; schließlich gibt es keine (weitere) normative Arbeit zu leisten, da die Legitimität des bestehenden Strafrechts schon seit Langem als selbstverständlich angesehen wird. Das (deutsche) Strafregime zu beschreiben bedeutet, es zu rechtfertigen. Durch die Zusammenfügung eines einzigen Ansatzes, der so gekennzeichnet ist, um seine unbedenklichen – wenn auch nicht unbedingt überzeugenden – Merkmale hervorzuheben, signalisiert „positive Generalprävention“ die erfolgreiche Lösung der entscheidenden Frage der Legitimation der staatlichen Strafmacht in einem modernen liberalen Staat, und zwar auch um den Preis der Berufung auf so ungewisse, weder selbsterklärende noch falsifizierbare Konzepte mit ungewisser Legitimationskraft wie „Rechtstreue“, „allgemeines Rechtsbewusstsein“, „gesellschaftliche Identität“ und „Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung“. Die Frage, auf welche „positive Generalprävention“ die Antwort ist, gibt nur innerhalb der Echokammer der deutschen Strafrechtswissenschaft und ihrer etablierten Straftheorien einen Sinn. Es ist eine parochiale Antwort auf eine parochiale Frage.

3. Besitz Als letztes Beispiel des Etikettismus in Aktion werfen wir einen vergleichenden Blick auf das US-Strafrecht. Besitz ist das paradigmatische Vergehen der „War-on-Crime“-Ära der letzten vier Jahrzehnte und wurde – insbesondere in den Vereinigten Staaten – zu einem mächtigen, vielseitigen Werkzeug für die willkür­ liche Unschädlichmachung menschlicher Gefahren in großem Umfang entwickelt, das die altertümliche Straftat des Vagabundierens als umfassende Pauschalstraftat der Wahl ersetzt und radikal verschärft.117 Die Etikettierung des Besitzes als „Handlung“ war integraler Bestandteil dieses massiven Polizeiregimes, weil es den Besitz formell und per Anordnung mit einem der wichtigsten Grundsätze des angloamerikanischen Strafrechts, dem so genannten Handlungserfordernis (act requirement), für vereinbar erklärte. Im Gegensatz zum Vagabundentum, dem die 117

Siehe Teil III; siehe allgemein Markus D. Dubber, Policing Possession: The War on Crime and the End of Criminal Law, in: J. Crim. L. & Criminology 91 (2002), S. 829.

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schwafelnd ungenaue Unvereinbarkeit mit modernen, aufgeklärten Formen der Strafgesetzgebung auf seiner mittelalterlichen Stirn geschrieben stand und in den 1960er Jahren schließlich in verfassungsmäßige Schwierigkeiten geriet (zumindest in den Vereinigten Staaten, wenn auch aus einem anderen Grund), entsprach der Besitz anscheinend sowohl dem strafrechtlichen Handlungserfordernis als auch dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz. Man vergleiche die vom U. S. Supreme Court in Papachristou v. Jacksonville118 aufgegriffene Vagabundenverordnung mit einer typischen Definition von Besitzdelikten in einem modernen amerikanischen Strafgesetzbuch: § 257 Stadtordnung von Jacksonville, Florida (1965) Schurken und Vagabunden oder liederliche Personen, die betteln gehen, gemeine Glücksspieler, Personen, die sich des Jonglierens oder verbotener Spiele oder Schauspiele bedienen, gemeine Trunkenbolde, gemeine Nachtwandler, Diebe, Langfinger oder Taschendiebe, Händler von gestohlenem Eigentum, unzüchtige, mutwillige und lüsterne Personen, Betreiber von Spielhöllen, gemeine Zänker und Raufbolde, Personen, die von einem Ort zum anderen wandern oder umherbummeln, ohne irgendeinen rechtmäßigen Zweck oder Anlass, gemeine Faulenzer, unordentliche Personen, Personen, die alle rechtmäßigen Geschäfte vernachlässigen und ihre Zeit gewöhnlich beim Besuch von Häusern mit schlechtem Ruf, Spielbanken oder Orten, an denen alkoholische Getränke verkauft oder ausgeschenkt werden, verbringen, Personen, die arbeitsfähig sind, aber gewöhnlich von den Einkünften ihrer Ehefrauen oder minderjährigen Kinder leben, werden als Landstreicher erachtet … § 5.06 (1) Model Penal Code (1962) Besitz von Werkzeugen, die zur Begehung von Straftaten dienen; Waffen (1) Werkzeuge, die zur Begehung von Straftaten dienen; im allgemeinen. Wer ein Werkzeug in der Absicht besitzt, es zur Begehung einer strafbaren Handlung zu gebrauchen, begeht ein Vergehen. „Verbrechenswerkzeug“ (Instrument of crime) ist: (a) alles, was für verbrecherischen Gebrauch besonders hergestellt oder hergerichtet ist; oder (b) alles, was gewöhnlich für verbrecherische Zwecke verwendet wird, und was der Täter in seinem Besitz unter Umständen hat, die einen unrechtmäßigen Zweck nicht ausschließen.

Die Vagabundierverordnung wies eine Ähnlichkeit zu den englischen Vagabundierstatuten auf, die bis auf die Ordinance of Labourers, einer Arbeitsmarktverordnung aus dem vierzehnten Jahrhundert zurückgingen und darauf abzielten, herrenlose Männer (lordless men) zu überwachen, die durch die vom Schwarzen Tod entleerte Landschaft wanderten. Sie zählte nicht etwa – geschweige denn definierte – Handlungen auf, sondern Handelnde, um ein allgemeines Bild von der Art von Person zu schaffen, die als ein Vagabund „erachtet“ werden konnte.

118

405 U. S. 156 (1972).

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Schließlich stützte sich die Verordnung auf das Ermessen des vollstreckenden Amtsträgers, der aufgrund seiner Sachkenntnis und Erfahrung einen solchen erkennen würde, wenn er ihn sah. Das Ermessen erstreckte sich nicht nur auf den Anwendungsbereich und den Vollzug der Bestimmung, sondern auch auf die Wahl, Verhängung und Vollstreckung von Strafmaßnahmen gegen den als Vagabund erachteten Menschen. Dazu zählten die kurzfristige Inhaftierung, die Aufnahme in eine „Schurkengalerie“ und die Entfernung aus dem Amtsbereich, mit der Androhung weiterer und vermutlich schwerwiegenderer Maßnahmen im Falle des Nichtgehorsams gegenüber dieser informellen Erklärung der Rechtlosigkeit. Die Bestimmung zum Besitz hingegen hat das Erscheinungsbild eines modernen Straftatbestandes. Sie bezieht sich nicht auf einen (mehr oder weniger abs­ trusen) Kreis von Akteuren, sondern auf eine Handlung und beinhaltet abstrakte technische Begriffe wie „Zweck“, „Verwendung“ und sogar „Unrechtmäßigkeit“. Tatsächlich trügt dieser Schein, sowohl in Bezug auf die Definition (materielles Strafrecht) als auch in Bezug auf die Verhängung (Strafverfahren): Das Besitzstrafrecht erweist sich letztlich als auf den Handelnden bezogen, insofern es sich auf die Unterscheidung zwischen Personen stützt, die berechtigt sind, das betreffende Objekt zu besitzen, und solchen, die es nicht sind. Gleichzeitig werden auch scheinbar neutrale Besitzbestimmungen differenzierend angewendet und durch­gesetzt, und zwar basierend auf dem erheblichen Ermessensspielraums der Vollstreckungs­ beamten, die durch die einfache Ermittlung und die Allgegenwärtigkeit der Rechtsverletzung ausgelöst (gepaart mit der Anzahl und Vielfalt der Besitzdelikte, von Waffen über Drogen, Einbruchswerkzeuge, gestohlenes Eigentum bis hin zu gefälschten Sozialhilfeschecks) und durch das breite Spektrum an Strafmaßnahmen im Besitzstrafrecht (von einer Verwarnung bis hin zu lebenslanger Haft ohne Bewährung) angetrieben wird.119 Es ist nicht an der Zeit, (abermals) unter die Oberfläche des Besitzstrafrechts zu schauen.120 Stattdessen begnügen wir uns hier mit einem kurzen Blick auf dessen dogmatische Oberfläche. Die Definitionen von Besitzstraftaten sehen gesetz­ gebungstechnisch schlanker und weniger offensichtlich anachronistisch aus als das mittelalterlich rechtspoetische Sammelsurium eines Vagabundenparagraphen. In der Tat könnten die Besitzdelikte als präventives Therapieinstrument geradezu modern und anspruchsvoll wirken, insofern sie menschliche Gefahrenquellen identifizieren und diagnostizieren können, bevor sich deren Gefahr manifestiert hat. Da bleibt allerdings noch die Frage nach der Vereinbarkeit mit den altehrwürdigen „Prinzipien“ der strafrechtlichen Verantwortlichkeit. (Wir werden uns später um das Prinzipientum und die Altehrwürdigkeit dieser Prinzipien kümmern; bleiben wir zunächst auf der Oberfläche, dem natürlichen Lebensraum des Etiketts.) Lassen wir die Tatsache beiseite, dass Besitzstraftaten oft auf das Erfordernis 119 120

Harmelin v. Michigan, 501 U. S. 957 (1991). Siehe Dubber, Policing Possession (Fn. 118).

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der subjektiven Tatseite (mens rea)121 verzichten, außer in Fällen von zusammengesetztem Besitz, d. h. Straftaten, die nicht den einfachen Besitz eines Objekts, sondern seinen Besitz mit der Absicht kriminalisiert haben, es auf die eine oder andere Weise zu benutzen (z. B. Drogenbesitz mit der Absicht diese zu vertreiben). Der Besitz selbst scheint sich an dem im angloamerikanischen Strafrecht gepriesenen Handlungserfordernis zu stoßen, das – in einer seiner üblichen Variationen – die strafrechtliche Verantwortlichkeit auf (willkürliche) Handlungen beschränkt. (Auch vom deutschen Strafrecht wird oft gesagt, dass es sich dem Tatstrafrecht und nicht dem Täterstrafrecht verpflichtet fühle, ein Slogan, der weniger dogmatisches Prinzip als theoretische Beobachtung zu sein scheint.) Denn Besitz ist keine Handlung, sondern ein Zustand, genauer gesagt die Beziehung zwischen einem Besitzer und einem Objekt, dem Besitz. Es bedarf keiner Handlung, ob willkürlich oder nicht, egal wie großzügig man die Handlung definiert (z. B. jede körperliche Bewegung, auch unwillkürliche wie Reflexe). Tatsächlich erfordert Besitz nicht einmal physischen Kontakt oder gar Nähe. Zumindest gilt dies nach der beliebten und leistungsfähigen Doktrin des konstruktiven Besitzes (constructive possession), die bei Vorhandensein einer (potentiellen) Herrschaft oder Kontrolle über das Objekt, aufgrund der indirekten räumlichen oder persönlichen Beziehung des Besitzers zum Objekt (d. h. wo sich das Objekt befindet oder wer es besitzt) erfüllt werden kann. Dieses Problem lässt sich jedoch leicht durch das verbindliche Anbringen eines Etiketts lösen. Der Besitz wird einfach als eine Handlung deklariert. Nachtwandler wurden als Vagabunden erachtet, die den fiktiven (und verdächtig künstlichen) und willkürlichen Charakter der Funktion der alten Vagabundierungs-„Definition“ aufwiesen. Der Besitz wurde nicht als eine Handlung erachtet, sondern als eine solche erklärt: „Besitz ist eine Handlung … wenn der Besitzer die Sache wissentlich sich verschafft oder empfangen hat, oder sich seiner Verfügungsgewalt während eines Zeitraums bewusst war, der hingereicht hätte, den Besitz aufzugeben.“ (Hervorhebung hinzugefügt).122 Das ist die Macht des Etiketts. Es wird ohne Erklärung oder Rechtfertigung verbindlich beigefügt. (Natürlich ist es möglich, aus den in der Bestimmung aufgeführten Bedingungen eine oder vielleicht sogar mehrere Gründe für die Behandlung eines Besitzes als Handlung abzuleiten. Aber diese Gründe selbst bedürfen einer weiteren Ausarbeitung und Rechtfertigung.123) Was eine offensichtliche Verletzung eines geschätzten Strafrechtsprinzips zu sein scheint, erweist sich als eine Angelegenheit von geringer Bedeutung, die durch gesetzgeberisches Han 121

Siehe Dubber / Hörnle, Dubber / Hörnle, Criminal Law: A Comparative Approach (Fn. 85), S. 223. 122 § 2.01 (4) Model Penal Code; vgl. Dubber, Einführung in das US-amerikanische Strafrecht (Fn. 21), § 5.1.d. 123 Siehe Dubber, Policing Possession (Fn. 118).

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deln, durch die Aufnahme einer Klausel, die das Offensichtliche bestätigt, erledigt werden kann. Sobald das Etikett „Handlung“ verbindlich angebracht ist, ist die oberflächliche Integration des Besitzes als offensichtlich moderner, und wesentlich potenterer Ersatz für das offensichtlich anachronistische vormoderne Vagabundentum abgeschlossen: Das Handlungserfordernis erfordert eine Handlung? Besitz wird als Handlung deklariert! Problem gelöst.

D. Taxonomismus Taxonomismus ist nicht weit entfernt vom Etikettismus. Wenn der Etikettismus durch das Anbringen eines Etiketts eine Spannung, Inkompatibilität oder einen Widerspruch, die von einer kritischen Analyse profitieren könnten, formal löst (oder verschleiert), ersetzt der Taxonomismus die kritische Analyse durch eine Kategorisierung, d. h. durch die Verortung des Untersuchungsgegenstandes innerhalb einer vorgegebenen Matrix von Kategorien, die selbst als gegeben und damit jenseits der kritischen Analyse behandelt wird. Der Etikettismus könnte helfen, die Schubladen zu beschriften, die der Taxonomismus auswählt; der Taxonomismus nutzt die magische Kraft, eine Schublade und nicht eine andere auszuwählen. Letztes Endes hat der Taxonomismus eine ähnlich verschleiernde und ablenkende Wirkung; anstatt sich ständig der legitimen Herausforderung der Strafmacht im modernen liberalen Staat zu stellen, beschäftigt sich der Taxonomismus im Strafrecht weniger mit dem Umstellen der Liegestühle auf der Titanic, als vielmehr mit der Erstellung von ausgeklügelten Plänen für die richtige Platzierung verschiedener Deckmöbel und dann im weiteren Verlauf mit dem Aufzeigen von Abweichungen von diesem Plan und dem Bestehen auf entsprechende Um-(bzw. Richtig-)stellungen. Taxonomismus ist ehrgeiziger als Sloganismus oder Etikettismus. Er ist weniger ein isoliertes Ausweichmanöver als ein umfassendes System der Ablenkung. Er verbirgt grundlegende Fragen der Legitimität vor dem Betrachter, indem er die gemeinsame Aufmerksamkeit der Strafrechtswissenschaft auf interne Fragen der guten systemischen Ordnung konzentriert. Ausgehend von den vorgegebenen Grundkategorien widmet sich der Taxonomismus der richtigen Differenzierung und dann der richtigen Anwendung. Im Laufe der Zeit werden die Ursprünge der alles entscheidenden Kategorien verdunkelt, und die Klassifikationsarbeit wird zum Selbstzweck und, schließlich, mit dem Unterfangen der Rechtswissenschaft verwechselt. Gegen den Versuch, Unterscheidungen zu treffen, ist natürlich nicht auszusetzen, seien sie dogmatischer oder anderer Art, aus welchem Grund, auf welcher Basis und zu welchem Zweck auch immer. Zum Beispiel ist die Analyse des doppelten Strafstaates, die in diesem Buch verfolgt wird, eine längere Übung in der Erfor-

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schung der (angeblich) historisch begründeten Spannung zwischen zwei unterschiedlichen und radikal entgegengesetzten Vorstellungen von staatlicher Strafmacht (Recht und Polizei). Im Gegensatz dazu stellt der Taxonomismus in dem hier geschilderten Sinne ein in sich geschlossenes und unzureichend motiviertes insulares Vorhaben dar, das als solches für eine offene systemische transnationale Untersuchung der Möglichkeit des liberalen Strafrechts ungeeignet ist. Ein Hinweis zu Beginn: Um die Funktionsweise des Taxonomismus zu verstehen, muss man sich gelegentlich ziemlich intensiv mit den Details der Strafrechtsdogmatik befassen. Diese dogmatischen Exkursionen dienen nur dazu, rhetorische Manöver in Aktion zu veranschaulichen. Sie sollen die Lehre nicht um ihrer selbst willen erhellen. Am Ende mögen sie sich für diejenigen, die eine filigrane dogmatische Analyse erwarten, als zu oberflächlich und für alle anderen als zu detailliert erweisen; in beiden Fällen würde ich empfehlen, direkt zum nächsten Kapitel überzugehen. Wir konzentrieren uns auf zwei Beispiele des praktizierten Taxonomismus: (1) das bekannte („deutsche“) dreiteilige Schema zur Analyse der Strafbarkeit und (2) die Doktrin der Teilnehmerstrafbarkeit (und insbesondere die lange dominierende Theorie der Tatherrschaft von Claus Roxin). In jedem Fall werden wir eher darauf achten, wie Probleme formuliert und angegangen werden, als darauf, wie sie gelöst werden, auf die Methodik und anstatt auf die Substanz.

1. Die Taxonomie der Verbrechens Die dreistufige Analyse der Strafbarkeit ist wohl das bekannteste Beispiel für ein taxonomisches Instrument, das im Allgemeinen mit dem deutschen Strafrecht verbunden ist; sie ist mit ziemlicher Sicherheit das am häufigsten gelobte. Sie wurde oft als eine der herausragenden Errungenschaften oder Entdeckungen der deutschen Rechtswissenschaft gefeiert, wenn nicht gar „der Geisteswissenschaften“124 oder zumindest der „europäischen Jurisprudenz“125. Allein diese Lobpreisungen und die Vehemenz, mit der deutsche Strafrechtswissenschaftler traditionell darauf bestanden haben, ihre Schritte in der richtigen Reihenfolge zu befolgen, deuten darauf hin, dass es sich hier nicht nur um ein heuristisches Instrument handelt, dessen Gewicht an seiner Nützlichkeit gemessen wird. Stattdessen neigt jedes Element der strafrechtlichen Verantwortlichkeit, jeder Schritt in seiner Analyse dazu, so behandelt zu werden, als ob sie ein Teil des Wesens der strafrechtlichen 124 Enrique Gimbernat Ordeig, Sind die bisherigen dogmatischen Grunderfordernisse eines Allgemeinen Teils geeignet, dem heutigen Stand der Kriminalität, der Strafzumessung und des Sanktionensystems zu genügen, in: Hans-Joachim Hirsch (Hrsg.), Krise des Strafrechts und der Kriminalwissenschaften?, 2001, S. 152, 165. 125 Bernd Schünemann, The System of Criminal Wrongs: The Concept of Legal Goods and Victim-based Jurisprudence as a Bridge between the General and Special Parts of the Criminal Code, in: Buff. Crim. L. Rev. 7 (2004), S. 551, 551.

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Verantwortlichkeit widerspiegelten, und alle zusammengenommen  – das Straftatsystem – die wahre Struktur der strafrechtlichen Verantwortung manifestieren. Die Entdeckung der Struktur der Strafbarkeit, die vermeintlich kategorische Unterscheidung zwischen Straftat, Rechtswidrigkeit und Schuld – in der angloamerikanischen Literatur oft als Unterscheidung zwischen actus reus, Rechtfertigung (d. h. Fehlen von Rechtswidrigkeit) und Entschuldigung (d. h. Fehlen von Schuld) – steht in Rethinking Criminal Law von George Fletcher (1978) an erster Stelle und ist wohl der wichtigste Beleg für den deutschen (und Fletchers) Einfluss auf den angloamerikanischen Strafrechtsdiskurs. Viel Tinte ist zu diesem Thema vergossen worden; sie hat jahrzehntelang das Projekt der vergleichenden (und nationalen!) Analyse des Strafrechts als geeigneter Ausgangspunkt für immer wiederkehrende Überlegungen über das Wesen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit geprägt. Wir werden hier noch mehr Tinte hierüber vergießen, wenn auch zumindest für einen anderen Zweck. Die anregende Idee ist einfach genug. (Es ist nicht überraschend, dass es angesichts der beträchtlichen und sich ständig wiederholenden Literatur zu diesem Thema fast so viele Möglichkeiten gibt, diesen dogmatischen Kuchen anzuschneiden, wie es Rechtswissenschaftler gibt, die bereit sind, das Messer zu halten.) Die Analyse der strafrechtlichen Verantwortlichkeit gliedert sich in drei Schritte (Stufen, Teile bzw. Aspekte), die jeweils eine andere Frage behandeln: (1) Hat der Angeklagte (oder Verdächtige usw.) ein Verhalten (oder gegebenenfalls ein NichtVerhalten) an den Tag gelegt, das der Definition einer Straftat, eines Diebstahls, eines sexuellen Übergriffs, einer Friedensstörung oder was auch immer entspricht (von dem normalerweise angenommen wird, dass es in einem Strafgesetzbuch oder einem Gesetz enthalten ist, aber ebenso gut in einem Gerichtsurteil, einer Verwaltungsvorschrift oder anderswo erscheinen kann)?; (2) War sein angeblich kriminelles Verhalten gerechtfertigt (bzw. rechtmäßig, oder zumindest nicht rechtswidrig, wobei häufig die Notwehr als typische Rechtfertigung zitiert, nicht immer aus offensichtlichen oder überzeugenden Gründen)?; und (3) War das kriminelle und rechtswidrige Verhalten des Betroffenen im Sinne der fehlenden Schuldhaftigkeit (bzw. Verantwortung, Ansprechbarkeit, Verantwortlichkeit, Schuldfähigkeit, Schuld usw.) entschuldigt (wobei der entschuldigende Notstand oft als die paradigmatische Entschuldigung erscheint, wenn auch mit strengen und oft genug uneinheitlichen Einschränkungen)? Der „deutschen“ dreistufigen Analyse wird in der Regel due „angloamerikanische“ einstufige Analyse der strafrechtlichen Verantwortlichkeit gegenübergestellt, die sich angeblich nur mit der Frage beschäftigt, ob eine Straftat begangen wurde – d. h. mit der ersten Stufe des „deutschen“ Systems.126 Dies ist aus mehreren Gründen eine übertriebene Vereinfachung: (1) selbst die oberflächlichste Darstellung des angloamerikanischen Ansatzes zur Analyse der strafrechtlichen Ver 126

Siehe allgemein Dubber / Hörnle, Criminal Law: A Comparative Approach (Fn. 85), § 6.

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antwortlichkeit unterscheidet, zumindest auf den ersten Blick, zwei Aspekte oder Stufen, actus reus und mens rea127; (2) ähnlich offensichtlich ist die Unterscheidung zwischen Straftat und Verteidigungseinrede (offense und defense) im angloamerikanischen Strafrecht, die trotz ihres verfahrensrechtlichen Erscheinungsbildes (als „Verteidigung“ gegen den Vorwurf strafrechtlicher Verantwortlichkeit, und nicht – affirmativ und materiell – als eine Bedingung davon) Raum für eine Ebene der Untersuchung über die Begehung einer Straftat hinaus schafft; und (3) jeder einigermaßen sorgfältige Leser von beispielsweise dem 4. Band von Blackstones Commentaries on the Laws of England (1769), der seit Ende des 18. Jahrhunderts die maßgebliche Darstellung des englischen Strafrechts ist, wird dort die Unterscheidung zwischen „Rechtfertigung“ und „Entschuldigung“ bei der Tötungs­ deliktsdogmatik zur Kenntnis nehmen, die traditionell den Kern und das Testfeld von Normen darstellen, die sich zu allgemeinen Dogmen strafrechtlicher Verantwortung entwickeln (wie auch immer diese Unterscheidung formuliert sein mag). Wir sind im vorliegenden Kontext allerdings nicht an einer auch nur annähernd sorgfältigen vergleichend-historischen Analyse interessiert. An dieser Stelle geht es zunächst nur um den Einsatz, und die Funktion, der „deutschen Dreistufen-Analyse“ im aktuellen strafrechtlichen Diskurs. Nehmen wir also an, dass die Analyse der strafrechtlichen Verantwortlichkeit im angloamerikanischen Recht einteilig (oder bestenfalls zweiteilig: actus reus und mens rea; Straftat versus Verteidigungseinrede) und nicht dreigliedrig ist, oder zumindest, dass sie weniger Teile aufweist als die deutsche Version. Es stellt sich nun die Frage, warum die deutsche Methode der Zergliederung dieses speziellen dogmatischen Kuchens der so (miss-)verstandenen „angloamerikanischen“ Methode vorzuziehen ist, oder irgendeiner anderen Alternative (z. B. beinhaltete die traditionelle sowjetische Art der strafrechtlichen Analyse offenbar einen vierten oder zumindest einen zusätzlichen Schritt: Sozialgefährlichkeit oder eine andere Abweichungsdiagnose, die auf die sowjetische Konzeption des Strafrechts zugeschnitten ist, was auch immer das in einem marxistischen Staat bedeuten konnte, der das Recht als bourgeoise Fassade von Macht ablehnt). Hier sind einige mögliche Antworten. Die für unsere Zwecke interessanteste – und beunruhigendste – Antwort basiert auf der Vorstellung, dass die deutsche Analysemethode, und nur diese, in gewissem Sinne (ob nun „ontisch“ angehaucht oder nicht) richtig oder wahr ist, weil sie sich direkt aus einer Art wissenschaftlicher Erkenntnis darüber ableitet, was Verbrechen und strafrechtliche Verantwortlichkeit eben sind. Die gesamte Entwicklungsgeschichte der Straftatlehre (Tatbestandslehre, Verbrechenslehre)  kann als eine Reihe wissenschaftlicher Entdeckungen dargestellt werden, gefolgt von weiteren wissenschaftlichen Entdeckungen von Merkmalen des Kriminalitäts­begriffs, die dann „Fehler“ oder „Lücken“ in früheren Entdeckungen identifizieren und behe 127

Dubber / Hörnle, Criminal Law: A Comparative Approach (Fn. 85), §§ 7–8.

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ben. So folgten auf Belings grundlegender Entdeckung des Tatbestands die Entdeckungen der „normativen“ (von Max Ernst Mayer) – neben den (laut ­Beling) ursprünglich „rein deskriptiven“ – Tatbestandsmerkmalen, sowie der „subjek­tiven“ Tatbestandselemente (von Erik Wolf), die jeweils Auswirkungen auf die noch wesentlichere taxonomische Frage der Unterscheidung zwischen Tatbestand und Rechtswidrigkeit hatten („Wo und wann muss ein Thema richtigerweise behandelt werden, auf der Ebene des Tatbestands oder vielleicht doch auf der der Rechtswidrigkeit?“), und so weiter und so fort bis auf den heutigen Tag. Mit jeder Generation und jedem wissenschaftlichen Fortschritt wird dieses Projekt insularer und selbstreferentieller, da jede neue Entdeckung eine Darstellung der bisherigen Bemühungen und ihrer vermeintlichen Mängel erfordert, die dann korrigiert werden (müssen). Nach einer Weile stellt sich dann zwangsläufig die Frage, ob etwas, das als Fortschritt dargestellt wird, tatsächlich einem Rückschritt gleichkommt, je nachdem, wie man den bisherigen Entwicklungsstand betrachtet (wobei ein Rückschritt in diesem wissenschaftlichen Fortschrittsdenken einen Schritt in die im wahrsten Sinne des Wortes „falsche“ Richtung bedeutet). Dieses Gemeinschaftsprojekt wird von Generationen von Professoren und deren Schülern weitergeführt, die um die Vorherrschaft in der Lehre wetteifern. Jeder sucht nach einem Fehler oder einer Lücke (was insofern das Gleiche ist, insofern jeder nach Vollständigkeit und Systematik strebt), die bisher der Aufmerksamkeit entgangen sind und somit vielleicht den Grundstein für eine neue, epochale Kategorie, Doktrin, Lehre, oder einen neuen Begriff legen könnte, um sich der Reihe von „Vätern“ (oder „Gründern“) anzuschließen, die das Narrativ über den Fortschritt der deutschen Strafrechtswissenschaft vorantreiben (oder, wenn es nicht zur Entdeckung einer neuen Kategorie langt, dann zumindest zur Neueinstufung eines Themas in die richtige, bereits bestehende Kategorie). In diesem Projekt werden systemexterne Überlegungen mit der Zeit immer weniger relevant, da das System immer mehr zum Selbstzweck wird. Diese Entwicklung mag nicht unvermeidlich sein, aber die Zeit für Systembrecher – und nicht für Systemanpasser – ist vorbei. Die Fähigkeit, innerhalb des Systems zu arbeiten, wird höher bewertet als die, das System selbst in Frage zu stellen. Der Drang, Annahmen über und Begründungen für die grundlegenden Bausteine des Projekts in Frage zu stellen, erscheint mittlerweile als anachronistisch und spiegelt die zudem systemstörende Weigerung wider, sich an dem schwer erarbeiteten Konsens über jene fundamentalen Entdeckungen zu beteiligen, die einen geordneten Fortschritt ermöglichen, da sich der Fortschritt schließlich nicht ständig selbst untergraben kann. Wenn man aus den parochialen Grenzen eines bestimmten taxonomischen Systems einmal heraustritt, könnte man feststellen, dass nicht jeder die eigenen taxonomischen Annahmen teilt. An dieser Stelle würde sich die Frage stellen, welches System dem anderen vorzuziehen wäre. (Die gleiche Frage stellt sich auch auf nationaler Ebene, wenn Strafrechtswissenschaftler Änderungen im taxonomischen

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System vorschlagen, indem sie Fragen innerhalb eines bestimmten Systems neu klassifizieren oder gar ein anderes System entwerfen: Gibt es zwei Schritte oder drei, oder vielleicht vier?) Die Antwort scheint manchmal unangenehm nahe bei „mehr ist besser“ zu liegen. Mehr ist besser, weil es mehr „Differenzierung“ ermöglicht: „differenziert“ ist gut, und „differenzierter“ noch besser. Eine kleinere Anzahl von Kategorien erscheint hier als „Reduktion“ (= Vereinfachung), anstatt eine größere Anzahl von Kategorien als „Wucherung“ (= Verkomplizierung) darzustellen. Die Standardversion dieser wissenschaftlichen Fortschrittsvision weist von weniger zu mehr Kategorien; ein Schritt in die entgegengesetzte Richtung, und am drastischsten, bis hin zu einer einzigen Kategorie, bedeutet dagegen ein rückschrittliches Versagen, eine Kapitulation, eine Resignation, eine Aufgabe des wissenschaftlichen Projekts mit Blick auf immer größere Nähe zur Wahrheit (oder zumindest Korrektheit).128 Warum in der Strafrechtslehre (oder einer anderen Form der dogmatischen Analyse oder, noch weiter gefasst, einer wissenschaftlichen Untersuchung) mehr besser ist, ist nicht offensichtlich. In der Tat könnte man meinen, dass genau das Gegenteil der Fall sei: Mehr statt weniger Kategorien könnten auf das Versäumnis hinweisen, zu systematisieren, d. h. die tiefe Gemeinsamkeit unterhalb der (wie sich herausstellt) oberflächlichen Differenz wissenschaftlich zu entdecken. Die bloße Anhäufung von Kategorien, Teilen oder Stufen erscheint dann – bestenfalls – als erster Schritt einer wissenschaftlichen Untersuchung, eine notwendige Voraussetzung von Systematisierung. Diese Sichtweise scheint tatsächlich den häufigen Vorwurf der wissenschaftlichen und unsystematischen „Kasuistik“ zu erklären, der sich gegen die Methodik des „Common Law“ richtet, die angeblich für eine angloamerikanische Jurisprudenz charakteristisch ist, die es versäumt, breitere Kategorien zu generieren, die über die Entscheidung eines einzelnen Falls hinausgehen. Die allgemeine Annahme scheint also zu sein, dass – ceteris paribus – mehr dogmatische Schubladen besser sind als weniger (und sicherlich besser als eine einzige), außer natürlich, wenn dem nicht so ist. Irgendwann könnte die Anzahl der Fächer eine magische Schwelle überschreiten (drei? acht?), hinter der das bedenkliche Reich der dogmatischen Kasuistik, der „Überfeinerung“,129 und der „überflüssigen Distinktionen“ liegt.130 Verfeinerung ist also wünschenswert, solange sie keine Überfeinerung ist, und Unterscheidung, solange sie nicht überflüssig ist. Es überrascht vielleicht nicht, dass die Hersteller von Taxonomien (d. h. in der Regel Rechtsprofessoren) dazu 128 Claus Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, 9. Aufl. 2015, S. 2, 118, 692–693 (kritisiert die Einheitstäterschaft). 129 Siehe z. B. Bernd Schünemann, Die Rechtsfigur des „Täters hinter dem Täter“ und das Prinzip der Tatherrschaftsstufen, in: Zeitschrift für die Internationale Strafrechtsdogmatik 2006, S. 301, 302 („Überfeinerung der postmodernen Strafrechtsdogmatik“). 130 Thomas Duve, Ein Gespräch mit Claus Roxin (15. Mai 2006), in: forum historiae iuris, Rz. 20 (http://www.forhistiur.de/2006-05-duve/).

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neigen, ihre eigenen – angemessen dosierten – Abgrenzungsversuche mit denen anderer zu vergleichen, die die verschiebbare Grenze taxonomischer Verfeinerung überschritten haben. Tatsächlich mag sich herausstellen, dass die Goldlöckchensche Grenze zwischen „genau richtig“ und „zu heiß“ (oder „zu kalt“), mit der Grenze zwischen der eigenen Differenzierung und der eines Distinktionskonkurrenten ziemlich genau übereinstimmt. So stellte Roxin zum Beispiel fest, dass „niemand meiner Darstellung des Allgemeinen Teils, obwohl diese mehr als 2000 Seiten umfaßt, eine ‚Überfeinerung‘ vorgeworfen“ hat, während es allerdings „nicht wenige Publikationen (gibt), die sich in überflüssigen Distinktionen verlieren“. Zum Glück „diskreditieren (diese) nicht die vorwärtsweisenden Leistungen deutscher Dogmatik“, denn sie „versinken rasch im Abgrund der Vergessenheit“.131 Die Konzeption des taxonomischen Doktrinalismus als Erhaltung eines geschlossenen Systems, ist für eine kontinuierliche kritische Überprüfung aller Aspekte des Strafrechts im Hinblick auf die Legitimationsanforderungen an den liberalen Strafstaat nicht förderlich. Sie ist besonders ungeeignet als Modell für einen transnationalen Versuch, das Paradoxon der liberalen Strafmacht auf einer systemischen und nicht nur auf einer nationalen Ebene anzugehen. Die Teilnehmer an einem vergleichenden und in diesem Fall transnationalen Dialog müssen bereit sein, ihre parochialen  – oder angeblich universellen  – Annahmen über grund­ legende Fragen darzulegen und zu begründen, aus dem Komfort des nationalen taxonomischen Doktrinalismus auszusteigen und nicht nur mit irgendwelchen vorgegebenen Grundprinzipien  – oder Entdeckungen  – zu argumentieren, sondern diese zunächst zu formulieren und dann zu rechtfertigen. In diesem Fall würde dies bedeuten, dass man sich von einem geteilten Verständnis der Art und Grenzen der Staatsmacht in modernen liberalen Demokratien leiten lässt, anstatt sich auf Wahrheit oder Richtigkeit, Natur oder Wesen, ontische Essenzen oder ontologische Strukturen zu berufen. Nichts davon bedeutet, dass es nicht durchaus gute Argumente für die Entwicklung von Systemen zur Analyse der Verantwortlichkeit, für die Bevorzugung eines System über ein anderes und dann für den Versuch einer konsequenten und konsistenten Anwendung dieses Systems geben kann. Ein Großteil der Produktion juristischer Dogmatik, auch im Bereich des Common Law, hat genau das getan, und zwar nicht nur im Bereich des „Privatrechts“, sondern auch im Strafrecht, z. B. im Rahmen des jahrzehntelangen Model Penal Code Projekts des American Law Institute (1952–62). Wie ich bereits an anderer Stelle erwähnt habe, ähnelt die Definition der „Straftat“ im Model Penal Code als „ein Verhalten, das … ungerechtfertigter- und unentschuldbarerweise den Interessen Einzelner oder der Allgemeinheit beträchtlichen Schaden zufügt oder zuzufügen droht“, sogar weitgehend der deutschen Definition.132 Es stellt sich die Frage, welches System vorzuziehen 131

Ebd. § 1.02 (1) (a) Model Penal Code; Dubber / Hörnle, Criminal Law: A Comparative Approach (Fn. 85), § 6; Dubber, An Introduction to the Model Penal Code (Fn. 66), § 3.2; ders., Einführung in das US-amerikanische Strafrecht (Fn. 21), § 3.2. 132

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ist und warum, wie ernst man die Unterscheidungen zwischen seinen Komponenten nimmt und damit auch wie ernst man die Aufgabe nimmt, ihre „richtige“ Anwendung zu überwachen. Spätestens seit Beling haben die deutschen Strafrechtswissenschaftler die Rolle der taxonomischen Überwachung und Durchsetzung sehr ernst genommen. Beling, der „Vater“ der „modernen“ Tatbestandslehre, sah sich beteiligt an einem längst überfälligen Projekt der „Begriffsbestimmung“, damit die „Strafrechtswissenschaft“ nicht weiterhin unter der „Verlegenheit“ leide, eines ihrer grundlegenden Konzepte nicht „spezifizieren zu können“:133 „Es gilt, den Denkprozeß zu zergliedern, vermittels dessen man zu dem Schlusse gelangt: folglich liegt ‚eine mit Strafe bedrohte Handlung‘ vor. Gelingt uns das so, daß kein Begriffsmerkmal in das andere übergreift, so, daß bei Fehlen auch nur eines der Begriffsmerkmale es auch an dem Verbrechen fehlt, so, daß umgekehrt bei Zusammentreffen der Begriffsmerkmale stets ein Verbrechen vorliegt, so haben wir eine exakte Definition des Verbrechens gewonnen, deren einzelne Elemente dann natürlich auch (…) scharf auseinandergehalten werden müssen.“134

Dieses Unterfangen wären übrigens unnötig gewesen, wenn das deutsche Strafgesetzbuch eine Definition des Begriffs Straftat geliefert hätte. Diese hätte die Voraussetzungen für die strafrechtliche Verantwortlichkeit festgelegt, die Beling mühselig aus einer angeblich wissenschaftlichen Begriffsbestimmung ableiten musste. In der zu Belings Zeiten gültigen (ursprünglichen) Fassung des deutschen Strafgesetzbuches von 1871 gab es eine solche gesetzliche Definition allerdings nicht. Und auch im aktuellen Strafgesetzbuch existiert (im Gegensatz zum Model Penal Code) keine. Ungeachtet des bereits erwähnten häufigen Pochens auf den gesetzestreuen Positivismus der deutschen Strafrechtswissenschaft besteht also kein Zweifel daran, dass das System von Beling und seine späteren Entwicklungen, Verfeinerungen und Korrekturen aus einer anderen Quelle als dem Text des Strafgesetzbuches stammen. Und zwar bestand diese rechtsschöpferische „Begriffsbestimmung“ – was immer das jetzt genau bedeutet sollte – offensichtlich darin, sich mit den Veröffentlichungen deutscher Strafrechtsprofessoren auseinanderzusetzen anstatt sich, z. B., einer detaillierten Auseinandersetzung mit dem Text des deutschen Straf­ gesetzbuchs zu widmen. Während der Stellenwert des positiven Rechts als Ausdruck der ultimativen rechtsetzenden Autorität des „Gesetzgebers“ in Belings konzeptioneller Untersuchung (bestenfalls) unklar ist, brachten die 1930er Jahre mit der Ankunft von Hans Welzel und seinen Mitbeschwörern ontischer Strukturen, finalistischen Handlungsseins und dergleichen, eine eindeutige ontologische Wendung. Beling bestimmte Begriffe; Welzel betrachtete das Sein. 133 134

Ernst Beling, Die Lehre vom Verbrechen, 1906, S. 6. Ebd., S. 7.

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Seit Welzels Zeiten sind, wie wir bereits festgestellt haben, offene Bezüge zu Lebensordnungen und ontischer Wirklichkeit eher selten geworden. Das DreiStufen-­System wird heutzutage oft als irgendwie funktional dargestellt, obwohl selbst jemand, der als relativ pragmatisch angesehen wird – z. B. Roxin – nicht ganz das Gefühl los zu werden scheint, dass nach wie vor etwas Wesentliches auf dem Spiel steht. Schließlich geht es bei der dreistufigen Analyse darum, ein korrektes Ergebnis zu erzielen, wobei sich die Korrektheit nicht nur auf die fehlerfreie Anwendung der dreistufigen Methode (taxonomische und anwendungsbezogene Korrektheit) beschränkt, sondern auch die Richtigkeit überhaupt (inhaltliche Korrektheit). Das deutsche System selbst ist richtig, weil die Unterscheidung zwischen den beiden Bedeutungen von Korrektheit wegfällt: Die richtige Taxonomie liefert korrekte Ergebnisse. Wie Roxin es ausdrückt, „ist die Frage nach dem richtigen System nicht, wie öfters behauptet wird, ein müßiges Glasperlenspiel, sondern Arbeit am richtigen Recht“.135 Es steht vielleicht nicht mehr ganz so viel auf dem Spiel wie in den Tagen des offenen Ontologismus, aber die Suche nach dem einen richtigen Recht geht weiter. Das ontische Lied mag beendet sein, aber die Melodie klingt – frei nach Irving Berlin – weiter nach. Diese Entwicklungsgeschichte der derzeitigen Versuche, die dreistufige Analyse der strafrechtlichen Verantwortlichkeit darzustellen, läuft leider nicht auf eine Rechtfertigung hinaus. Angenommen, man nimmt abermals, als rechtsvergleichende Übung, die Perspektive von jemandem an, der nicht in der Tradition der deutschen Strafrechtswissenschaft aufgewachsen ist, so ist dieses Narrativ vielleicht einigermaßen interessant, aber irrelevant. Es kann sehr wohl sein, dass der aktuelle Konsens die Synthese von verschiedenen Schulen oder Ansätzen, sowie von Gegen-Schulen und Gegen-Ansätzen, darstellt und auch so etikettiert wird, wie z. B. in Roxins Hinweisen auf eine ontologisch-teleologische Betrachtungsweise,136 aber die Synthese ist nur dann überzeugend, wenn die durch sie zusammengefügten Optionen selbst relevant und erschöpfend sind. Es würde also helfen, wenn das heutige dreistufige System neben der richtigen Mischung aus verschiedenen von der deutschen Strafrechtswissenschaft im Laufe der Jahre entwickelten Ansätze andere Funktionen erfüllen würde (erinnern wir an die Entwicklung der „positiven Generalprävention“ als bevorzugte „Straftheorie“). Für unsere Zwecke wäre es ideal, wenn die Argumente für die dreistufige Methode und das ihr zugrunde liegende „System“ direkt und explizit im Sinne des gemeinsamen Projekts zur Legitimation der Strafmacht in einem modernen liberalen demokratischen Staat formuliert würden. Ein solcher Versuch würde vermutlich mit einer Darstellung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit beginnen, die auf der Anerkennung aller Personen als mit Autonomiekapazität ausgestattete Subjekt-Objekte staatlicher Macht basiert, wobei jedes Element der strafrechtlichen Verantwortlichkeit diese Fähigkeit in irgendeiner Weise notwendig zum 135 136

Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil, Bd. 1 (Fn. 36), S. 167. Siehe z. B. Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft (Fn. 129), S. 25, § 5.

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Ausdruck bringt. Alternativ könnte man eine Darstellung, und eine analytische Vorgangsweise, herausarbeiten, die nicht auf dem modernen, autonomiebasierten Konzept des Rechts beruht, sondern auf Überlegungen zur klugen Staatsführung und einer effizienten, kompetenten Verwaltung zur Umsetzung eines Strafregimes, das (beispielsweise) darauf abzielt, die pönal-korrigierende Behandlung von Straftätern auf Grundlage einer Diagnose anormaler Gefährlichkeit zu erwirken.137 So oder so, die dreiteilige Analyse der Strafbarkeit würde dann die (konsequent und konsistent anzuwendende) dreiteilige Methode für die Anwendung des jeweiligen Ansatzes auf bestimmte Fälle bereitstellen. Was auch immer Beling und Welzel geleistet (oder auch nur angestrebt) haben, das war es nicht. Noch heute gehen Versuche, über eine bloßen Beschreibung der dreistufigen Analyse des Strafrechts hinauszugehen, vielleicht begleitet von einer mittlerweile so gut wie völlig standardisierten historischen Kurzskizze seiner Entwicklung von einer Entdeckung zur anderen, selten über Behauptungen eines Verhältnisses zwischen dem dreistufigen Modell und der Rechtsstaatlichkeit usw. hinaus und verbinden so Belings Entdeckung des Tatbestandssystems mit Feuerbachs grundlegender Entdeckung von Nullum crimen sine lege. Dies mag zum Narrativ einer kontinuierlichen Verbesserung durch wissenschaftliche Entdeckung beitragen, würde aber über das deutsche taxonomische System hinaus keine große Überzeugungskraft entwickeln. Es mag sein, dass die erste Stufe (Erfüllung des Straftatbestands) als Spiegel des Gesetzlichkeitsprinzips angesehen werden könnte, aber eben nur, wenn der Begriff Tatbestand so definiert ist, dass er eine gesetzliche – und nicht etwa eine gerichtliche oder verwaltungsrechtliche – Definition der Straftat erfordert. Das ist natürlich in Ordnung, hat aber nichts damit zu tun, wie viele Elemente der strafrechtlichen Verantwortlichkeit es gibt, was sie sind oder in welcher Reihenfolge sie berücksichtigt werden sollten (oder sogar müssen). Wenn man sich für eine formelle Konzeption von Rechtstaatlichkeit entscheidet, dann kann die Einführung der dreistufigen Analysemethode durchaus sinnvoll sein. Aber Konsistenz, Vorhersehbarkeit, Kohärenz, Systematik, Rationalität, oder was auch immer man als formale Aspekte der Rechtlichkeit betrachten mag,138 sind 137

Siehe die Diskussion des Model Penal Code in Teil III. Roxin machte sich die Mühe, eine Liste der Vor- und Nachteile des „Systemdenkens“ im Allgemeinen zusammenzustellen (Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil, Bd. 1 [Fn. 36], S. 158–166): Vorzüge: – Erleichterung der Fallprüfung – Die Ordnung des Systems als Voraussetzung gleichmäßiger und differenzierter Rechtsanwendung – Vereinfachung und bessere Handhabbarkeit des Rechts – Der Systemzusammenhang als Wegweiser der Rechtsfortbildung Gefahren: – Vernachlässigung der Einzelfallgerechtigkeit – Reduzierung von Problemlösemöglichkeiten – Kriminalpolitisch nicht legitimierbare Systemableitungen – Die Verwendung von zu abstrakten Begriffen 138

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Gründe, um irgendeine praktikable Methode zu haben, nicht eine bestimmte, oder gar eine, die keiner Ausnahme unterliegt, oder deren Abweichungen als Fehler markiert werden, die zu unrichtigen Ergebnissen führen. Auf jeden Fall wäre die Norm in Bezug auf die Analyse der strafrechtlichen Verantwortlichkeit, wie jede andere Norm, nicht selbst-auslegend, -anwendend oder durchsetzend. Während niemand an der Bereitschaft deutscher Strafrechtswissenschaftler zweifelt, die Taxonomie ihres Fachgebietes zu überwachen und durchzusetzen, wird dem immer bestehenden Restbestand an Ermessen bei der Auslegung und Anwendung der Belingschen „genauen Definition von Verbrechen, deren Elemente dann natürlich scharf auseinandergehalten werden müssen“ gewidmet.139 Ein System, das nicht nur Unterschiede vermehrt, sondern auch auf ihrer Schärfe beharrt und dann mit Gusto falsche Interpretationen und Anwendungen dieser Unterschiede kontrolliert, kann letztendlich nicht einmal bei den formalen Aspekten des Prinzips der Legalität (principle of legality)140 den gewünschten Fortschritt bringen. Jedenfalls ist unklar, wie eine Definition der strafrechtlichen Verantwortlichkeit, die nirgendwo in einem gesetzlichen (oder anderen legislativen) Text auftaucht, sondern das Ergebnis eines Entdeckungsprozesses ist, der mit Hilfe einer sich weiterentwickelnden Liste von Quellen und Methoden von Strafrechtswissenschaftlern und nicht von „dem Gesetzgeber“ durchgeführt wird, das Gesetzlichkeitsprinzip fördert. Das Strafgesetzbuch definiert (immer noch) nicht die Elemente der strafrechtlichen Verantwortlichkeit und legt auch kein heuristisches Mittel oder andere Richtlinien fest, um die korrekte und einheitliche Anwendung dieser Theorie zu gewährleisten. (Der Model Penal Code tut beides.141) Es sagt auch nichts über die „scharfen“ Unterscheidungen zwischen den verschiedenen Elementen der Strafbarkeit aus, insbesondere zwischen Rechtfertigung, Entschuldigung und Straftatbestand.142 Der Grund für diese Nichtberücksichtigung – zusammen mit anderen wichtigen Absenzen, vor allem der Definition der Schuldtypen (Vorsatz, Rücksichtslosigkeit, Fahrlässigkeit)143– ist, dass diese wichtigen und komplexen Fragen Roxin erklärte weiter, dass, während die Gesetzgebung den Vorrang von Systemdenken verlange, eine Synthese von System- und „Problem“-Denken „bis zu einem gewissen Grade möglich“ sei (Ebd., S. 167), wobei unklar bleibt, was man sich unter „Problem“-Denken vorstellen soll. Es stellt sich allerdings heraus, das die von Welzel (und Larenz) bekannten „konkret-allgemeinen Begriffe“, zusammen mit der „Sachlogik“ und der „Natur der Sache“ (Ebd., S. 180–181), das „Problem“-Denken „wesentlich lebensnäher, fallgerechter und flexibler“ machen als „das verbreitete Verfahren der Begriffsdeduktion“ (Ebd., S. 180). 139 Beling Die Lehre vom Verbrechen (Fn. 134), S. 7. 140 Nicht zu verwechseln mit dem deutschen „Legalitätsprinzip“ (principle of compulsory prosecution). S. Dubber / Hörnle, Criminal Law: A Comparative Approach (Fn. 85), S. 160 ff. 141 § 1.02 Model Penal Code. 142 Der Model Penal Code versucht weder eine allgemeine Unterscheidung zwischen Rechtfertigung und Entschuldigung zu treffen, noch misst er dieser eine besondere Bedeutung bei; er unterscheidet allerdings – wenn auch nicht besonders „scharf“ – zwischen verschiedenen Arten von Straftatelementen: Verhalten, Begleitumstände, Ergebnis. § 2.02 Model Penal Code. 143 Der Model Penal Code tut dies in seiner zentralen Vorschrift: § 2.02 Model Penal Code.

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(laut den Experten) am besten den Experten, also den Strafrechtswissenschaftlern überlassen werden sollten. Das mag so sein, aber es hilft nicht bei der Behauptung, dass die Gestaltung und Einführung dieses Systems von Erwägungen der Rechtlichkeit und insbesondere der Gesetzlichkeit bestimmt wird, und nicht von einem angeblich typisch wissenschaftlichen Streben nach konsequenter Korrektheit, gemessen an genau dem taxonomischen System, das einer Rechtfertigung bedarf. Und so ist es nicht verwunderlich, dass bei Versuchen, die Nützlichkeit der deutschen dreistufigen Analyse hervorzuheben, ihre Fähigkeit, konsequent korrekte Ergebnisse zu liefern oder zumindest falsche zu verhindern, große Aufmerksamkeit erfährt. Für die Zwecke unserer Studie besonders interessant ist, dass dieses Merkmal des deutschen Straftatsystems häufig herangezogen wurde, um seine Überlegenheit gegenüber anderen Ansätzen zur Analyse der Strafbarkeit, insbesondere in der Rechtsordnung des Common Law, zu demonstrieren. Es wäre etwas irreführend, diesen Vergleich als einen zwischen verschiedenen analytischen Systemen zu bezeichnen, weil der herausgestellte Unterschied so gravierend und das Gefühl der Überlegenheit so ausgeprägt ist, dass es eher darum geht, das deutsche System mit der völligen Abwesenheit eines jeglichen Systems zu vergleichen, das diesen Namen überhaupt verdienen würde. In zwei bemerkenswerten Fällen diente das berühmt-berüchtigte englische Urteil im Falle Regina v. Dudley and Stephens144 als Grundlage für eine vergleichende Analyse der analytischen Methoden in dieser Richtung. Diese Fälle sind nicht nur deshalb bemerkenswert, weil sie Versuche, die Leistungsstärke des deutschen dreistufigen Systems hervorzuheben, anschaulich machen, sondern auch, weil bei ihnen zwei Koryphäen des deutschen Strafrechts und insbesondere der deutschen Strafrechtsvergleichung eine Rolle spielen. Sowohl Gustav Radbruch als auch Hans-Heinrich Jescheck präsentieren das Urteil des englischen Gerichts aus dem Jahre 1884 als ein markantes Beispiel für die stümperhaften, prinzipienlosen und insgesamt fehlgeleiteten Bemühungen des englischen Strafrechts bei der dogmatischen Analyse. In Dudley and Stephens ging es um Mord und Kannibalismus nach einem Schiffbruch auf hoher See. (In Deutschland ist der Fall als „Mignonette-Fall“ bekannt, benannt nach dem Namen des verunglückten Schiffs.) Nachdem sie eine Weile in einem Boot getrieben hatten, weit weg vom Land und am Verhungern, töteten Dudley (der Kapitän) und Stephen (der Maat) ihren Mitschiffbrüchigen, den Schiffsjungen Parker und aßen ihn. Sie wurden einige Tage später von einem vorbeifahrenden Schiff gerettet und nach England gebracht, wo sie wegen Mordes angeklagt und verurteilt wurden.145 144

(1884) 14 QBD 273 (CCR). Für eine monographische Behandlung des Falls, siehe A. W.  B. Simpson, Cannibalism and the Common Law: The Story of the Tragic Last Voyage of the Mignonette and the Strange Legal Proceedings to Which It Gave Rise, 1984; für eine kürzere, vergleichende Diskussion siehe Dubber / Hörnle, Criminal Law: A Comparative Approach (Fn. 85), § 6.C. 145

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Nach dem bereits zuvor zitierten Strafrechtslehrbuch von Jescheck war der Fall offensichtlich falsch entschieden worden. Glücklicherweise lieferte die Entscheidung jedoch einen lehrreichen Anlass, denn sie veranschaulichte die Notwendigkeit eines (und insbesondere des deutschen dreiteiligen) Systems zur Analyse der Strafbarkeit. Wir brauchen eine Theorie der Straftat, die versucht, „die strafbare Handlung als Ganzes durch Aufstellung allgemeiner Merkmale theoretisch zu erfassen“, erklärt das Lehrbuch. Denn ohne sie bleibe die „Lösung dieses Falles unsicher und von Gefühlserwägungen abhängig“.146 Die englischen Richter wären besser dran gewesen, so das Argument, wenn sie vom Nutzen der deutschen dreigliedrigen Analyse des Strafrechts mit ihrer „Gliederung des Verbrechensbegriffs in Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld und die damit verbundenen weiteren Differenzierungen wie zwischen rechtfertigendem und entschuldigendem Notstand“ profitiert hätten.147 Hätten sie nicht die – wie sich herausstellt – falsche Annahme vertreten, dass Notstand nur rechtfertigen, aber nicht entschuldigen könnte, hätten die englischen Richter den Fall richtig gelöst, indem sie wegen entschuldigenden Notstands freigesprochen hätten, anstatt den Angeklagten wegen Mordes zum Tode zu verurteilen (wobei die Strafe dann allerdings später im Wege eines königlichen Gnadenerlasses auf sechs Monate reduziert wurde). Bemerkenswert ist, dass Gustav Radbruch, sechzig Jahre vor Jescheck (im Jahre 1936), zu sehr ähnlichen Ergebnissen gekommen war.148 1946 wiederholte und erweiterte Radbruch seine erste Diskussion über Dudley in seinem kurzen Band über „Den Geist des englischen Rechts“, ein Thema das lange Zeit für anglophile deutsche Beobachter ein faszinierendes Thema darstellte.149 Radbruchs Behandlung von Dudley ist einen genaueren Blick wert; es ist eine ungewöhnlich eloquente und einsichtige Einschätzung der Überlegenheit der deutschen Dreistufenanalyse durch einen wohlwollenden Beobachter des englischen Strafrechts, der (im Gegensatz zu Jescheck) zwar kein Experte der Strafrechtsvergleichung, aber einer der angesehensten und einflussreichsten deutschen Strafrechtswissenschaftler und Juristen war. (Der Geist des englischen Rechts erschien im selben Jahr wie Radbruchs berühmter Artikel, „Gesetzliches Unrecht und übergesetz­ liches Recht,“ der die „Radbruchsche Formel“ vorstellte – und übrigens auch das Strafrecht behandelte.150) 146

Jescheck / Weigend, Lehrbuch des Strafrechts (Fn. 31), S. 195. Ebd. Zu beachten ist allerdings, dass die Autoren auch vor der „Gefahr einer zu sehr auf abstrakte Formeln gebrachte Strafrechtsdogmatik“ warnen. Ebd., S. 195–96. 148 Gustav Radbruch, Jurisprudence in the Criminal Law, in: J. Comp. Legislation & Int’l L. 18 (1936), S. 212; dieses Stück erschien 1936 (!) in einem Symposium, das einem englischen Publikum einen kaleidoskopartigen Blick auf das damalige deutsche Rechtsleben bot. 149 Gustav Radbruch, Der Geist des englischen Rechts, 1946, S. 74. Für den biographischen Kontext siehe Heinrich Scholler, Editionsbericht, in: Arthur Kaufmann (Hrsg.), Gustav Radbruch-­Gesamtausgabe, Bd. 15, 2009, S. 377 ff.; Carola Vulpius, Gustav Radbruch in Oxford, 1995. 150 Gustav Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, in: Süddeutsche Juristenzeitung 1946, S. 107. 147

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In Der Geist des englischen Rechts veranschaulichte Radbruch mit Dudley nicht nur den fundamentalen Unterschied zwischen der englischen und der deutschen Strafrechtswissenschaft im Besonderen, sondern auch zwischen der englischen und der deutschen Rechtswissenschaft im Allgemeinen, bis hin zur Aufnahme einer deutschen Übersetzung des Dudley-Urteils in den Anhang. Dabei betont Radbruch den im englischen Strafrecht geltenden Vorrang des Verfahrens gegenüber dem materiellen Recht. In Deutschland gilt genau das Gegenteil: Alle Augen sind auf die materielle Komponente des Strafregimes (das eigentliche „Strafrecht“) gerichtet, während der Prozess kaum Beachtung findet („Strafprozessrecht“). Radbruch macht eine weitere bekannte Beobachtung über das englische Interesse an – und „Genie für“ – „Verwaltung“, anstatt „Theorie“, der vermeintlichen Stärke der Deutschen (und Italiener). Ironischerweise stellt sich heraus, dass diese prozessualen und administrativen „Vorteile“ weitgehend für die „Rückständigkeit“ des eng­ lischen Strafrechts verantwortlich sind. Für Jurys müssten Theorien vereinfacht werden und – noch interessanter – das System der stare decisis („Juristenrecht“; „Precedent-System“) bedeute, dass „durch eine rechtsverbindliche Entscheidung der rechtswissenschaftliche Fortschritt auf einem bestimmten Punkte seiner Entwicklung abgeschnitten wird“.151 Radbruchs Hinweis auf die Wirkung einer wirksamen Laienbeteiligung für die Verständlichkeit und Kommunizierbarkeit von Rechtsnormen ist wichtig. Ihre Bedeutung im deutschen Kontext ist jedoch noch unerforscht. Wenn Laien die von brillanten deutschen Strafrechtswissenschaftlern produzierten Rechtsnormen nicht verstehen können, was bedeutet das für das deutsche Interesse an Laienbeteiligung – im 19. Jahrhundert, als viele deutsche Staaten die Jury übernahmen, oder heute, wo die selbständige Jury längst abgeschafft ist, aber Laienrichter nach wie vor in Gerichten sitzen, wo sie (theoretisch) die Macht hätten, ihre berufsrichter­ lichen Kollegen zu überstimmen? Könnte es sein, dass diese ehrenamtlichen Richter diese Macht (tatsächlich) nie ausüben, weil nur ein in den Feinheiten der deutschen Strafrechtswissenschaft ausgebildeter Berufsrichter die Bedeutung der einschlägigen Strafrechtsnormen begreifen kann, oder auch nur zu entscheiden, welche Strafrechtsnormen überhaupt relevant sind? Kein Wunder also, dass die Laienbeteiligung in der deutschen Justiz sonst seit langem praktisch bedeutungslos ist.152 Radbruchs Bemerkung über das Einfrieren von rechtlichen Entwicklungen durch Richterrecht ist ebenfalls bemerkenswert, weil sie genau den Vorwurf widerspiegelt, den die Juristen des Common Law seit langem gegen das kodifizierte Recht erhoben haben. Aus der Sicht des Common Law waren das kodifizierte Recht im Allgemeinen und die Gesetzbücher („codes“) im Besonderen deshalb proble­ ommon Law matisch, weil ihnen die Flexibilität der Entscheidungsfindung im C 151

Radbruch, Der Geist des englischen Rechts (Fn. 150), S. 76. Siehe Markus D. Dubber, American Plea Bargains, German Lay Judges, and the Crisis of Criminal Procedure, in Stanford Law Review 49 (1997), S. 547. 152

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fehlte, die nicht einer abstrakten Norm des Gesetzgebers verpflichtet war, welche die vielfältigen Nuancen des Rechtslebens, mit denen die Richter in jedem Fall konfrontiert waren, weder erkennen noch vorhersagen konnte. Diese Kritik wurde jedes Mal rituell geäußert, wenn jemand darüber nachdachte, einen bestimmten Teil des Rechts, sei es in den Vereinigten Staaten oder in England, zu kodifizieren; jeder, der sich für Kodifizierung einsetzte oder gar so weit ging, einen Gesetzesentwurf zu erarbeiten, musste sich mit diesem abgelutschten Argument befassen. Nehmen wir als Beispiel James Fitzjames Stephen, der 1879 (fünf Jahre vor Dudley and Stephens) folgendermaßen für die (bzw. seine) Kodifizierung des englischen Strafrechts zu plädieren versuchte (und zwar ebenso erfolglos, wie alle anderen zuvor und danach): „Es ist … üblich zu argumentieren, dass eine [strafrechtliche Kodifizierung] nicht vorteilhaft wäre, da sie das Recht seiner ‚Elastizität‘ berauben würde; womit man meint, dass Gerichte die Macht haben sollen, das Recht durch ihre Entscheidungen in Einzelfällen an sich verändernde Umstände anzupassen. Es wird gesagt, dass sich das Recht dieses Landes [d. h. Englands] in einem Zustand kontinuierlicher Entwicklung befindet; dass gerichtliche Entscheidungen es immer weiter präzisieren; und dass das Ergebnis darin besteht, das Recht an die bestehenden Gewohnheiten und Bedürfnisse des Landes anzupassen. Man sagt, dass eine Kodifizierung diesem Prozess so weit ein Ende machen würde, und dass das Ergebnis darin bestehen würde, ein System mit der Fähigkeit der Anpassung an die Umstände durch ein starres unelastisches zu ersetzen.“153

Wir werden nie erfahren, welches Recht, ob richterrechtlich entwickelt oder kodifiziert, ein größeres Potenzial zum Einfrieren des Rechts hat. Glücklicherweise scheint die wichtigere Frage zu sein, wer das Einfrieren bzw. Auftauen vornimmt: Richter im Common Law System oder professorale Rechtswissenschaftler in Deutschland. Man beachte, wie Stephen sich auf „die bestehenden Gewohnheiten und Bedürfnisse des Landes“ konzentriert, während Radbruch sich um das Abschneiden des „rechtswissenschaftlichen Fortschritts“ sorgt. Richter mögen gut in der Lage sein, Veränderungen an den erwähnten „Gewohnheiten und Bedürfnissen“ zu erkennen, oder auch nicht, aber Rechtswissenschaftler eignen sich natürlich ideal, um das Einfrieren ihres eigenen wissenschaftlichen Fortschritt festzustellen. (Es ist zu beachten, dass in Radbruchs Darstellung sowohl „der Gesetzgeber“ als auch die gesamte Justiz irrelevant sind, ganz abgesehen vom Rückwirkungsverbot. Vor allem geht es um den rechtswissenschaftlichen Fortschritt; das gesamte System ist angelegt, so dass Rechtswissenschaftler die Freiheit haben, weiterhin die notwendigen Entdeckungen zu machen, um die Rechtswissenschaft voranzutreiben und dies dann unverzüglich umzusetzen.) Nachdem Radbruch den Kontrast 153 Report of the Royal Commission Appointed to Consider the Law Relating to Indictable Offences, 1879, S. 6. Für eine ausführliche amerikanische Version dieses Arguments, die sich gegen eine zivilrechtliche, nicht strafrechtliche Kodifizierung richtet, im Jahr der Entscheidung von Dudley and Stephens veröffentlicht wurde und sich auf die deutsche Rechtswissenschaft stützt (d. h. auf Savignys Kritik an Thibauts Kodifizierungsvorschlag), siehe James Coolidge Carter, The Proposed Codification of Our Common Law: A Paper Prepared at the Request of the Committee of the Bar Association of the City of New York, 1884.

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zwischen (stereotyp prozessualem-orientiertem, pragmatisch-administrativem) englischem und (materiell-orientiertem, theoretisch-systematischem) deutschem Recht aufgezeigt hat, geht er nicht, wie man es vielleicht erwartet hätte, zu einer Kompromissposition über, die materielles Recht und Prozessuales, Theorie und Verwaltung zu einem ausgewogenen Verhältnis ausgleicht. Aber vielleicht wäre das zu viel verlangt; denn schließlich handelt es sich hier nicht um eine vergleichende Analyse des Strafrechts, sondern um eine Skizze des „Geistes des englischen Rechts“ (als Teil eines populären Nachkriegsgenres des juristischen Schrifttums, das die Deutschen mit dem Recht ihrer Besatzer vertraut machte154). Stattdessen geht Radbruch einfach dazu über, den deutschen Ansatz in seiner vollen Überlegenheit darzustellen. Die Beschreibung des englischen Geistes dient nur dem Versuch, die Minderwertigkeit der englischen (Straf-)Rechtswissenschaft zu erklären. Laut Radbruch stellt sich heraus, dass die englische Angst vor einem „starren unelastischen“ System (siehe oben Stephen) unerwünschte Folgen hat, die durch die Entscheidung im Dudley and Stephens Fall gut illustriert werden. Die oben genannte „Rückständigkeit“ des englischen Strafrechts ist für das falsche Ergebnis in Dudley and Stephens verantwortlich. Wäre das englische Gericht nur über die neuesten Entwicklungen in der Strafrechtswissenschaft informiert gewesen, hätte sich der Fall von selbst entschieden. Offensichtlich, so wie es selbst ein angehender deutscher Jurastudent sofort gesehen hätte, hätten die Angeklagten wegen entschuldigenden Notstands freigesprochen werden sollen! Es ist (für Radbruch) selbstverständlich und daher nicht der Rede wert, dass das sich zwangsläufig aus einer konsequenten Anwendung der deutschen dreistufigen Analyse der strafrechtlichen Verantwortlichkeit ergebende Ergebnis richtig gewesen wäre. Die deutsche dreiteilige Analyse selbst ist schließlich zweifelsfrei korrekt. Es ist schwierig, alles zu erfassen, was an dieser Darstellung von Dudley and Stephens unbefriedigend ist, die eine Rechtfertigung des deutschen dreiteiligen Systems zur Analyse der Strafbarkeit weder versucht, noch erreicht. Allein die Tatsache, dass die bloße Beschreibung der Entscheidung in Dudley and Stephens als res ipsa loquitur behandelt wird, verdeutlicht, warum es dem deutschen Strafrecht so schwerfällt, seine Relevanz für den transnationalen Diskurs um die Legitimation staatlicher Strafmacht in modernen liberalen Demokratien zu etablieren: Die Überlegenheit des deutschen Strafrechts ist letztlich selbstverständlich; wenn das deutsche Strafrechtssystem in Aktion tritt, rechtfertigt es sich selbst. Sobald wir die Fakten in Dudley and Stephens dem dreiteiligen Test unterziehen, ist die Rechtfertigungsarbeit erledigt; die Methode und das Ergebnis sprechen für sich. Dieser Ansatz ist natürlich genau das Gegenteil von dem, was es bedeuten würde, 154

Für ein weiteres interessantes Beispiel siehe Adolf Schönke, Materialien zum englischamerikanischen Strafrecht, 1948 („Die Besetzung Deutschlands zwingt zu einer eingehenden Beschäftigung und Auseinandersetzung mit ausländischem Recht.“). Diese kurze Einführung in das angloamerikanische Strafrecht ist auch heute noch lesenswert.

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aus dem eigenen parochialen Kontext herauszutreten und mit anderen außerhalb der analytischen Selbstreferenz des deutschen taxonomischen Systems zu interagieren. Anstatt dem Parochialismus zu entkommen, wird er durch diesen Ansatz zementiert. In der vergleichenden Analyse wäre es interessant, sich mit der Frage zu befassen, wie ein deutsches Gericht 1884 an die Tatsachen in Dudley and Stephens herangegangen wäre, nicht zuletzt, weil es nicht die Art von Frage ist, mit der sich die Strafrechtsvergleichung, oder auch die Strafrechtsgeschichte, normalerweise beschäftig.155Aber es ist genau die Frage, die Radbruch (oder Jescheck) hätte angehen können, wenn sie daran interessiert gewesen wären, die Vorzüge des deutschen Systems zur Analyse der Strafbarkeit zu erforschen und nicht nur zu behaupten. Alles andere ist der Vergleich von Äpfeln mit Birnen. Eine Gerichtsentscheidung von 1884 als Beweis für die Rückständigkeit der englischen Strafrechtswissenschaft in den Jahren 1936, 1946 oder 1995 zu zitieren, ist nicht nur deshalb unangebracht, weil es offensichtlich anachronistisch ist, sondern auch, weil die Betrachtung einer Gerichtsentscheidung als schlüssiger Beweis für den Stand der „Strafrechtswissenschaft“ eine exakte substantielle und zeitliche Übereinstimmung zwischen der „Strafrechtswissenschaft“ und der Rechtsprechung (und zwar jedes Gerichts) voraussetzt. Diese Annahme wäre jedoch selbst in einem System unrealistisch, das (von Radbruch) so behandelt wird, als ob es dazu bestimmt sei, die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse sofort in die Rechtsprechung, wenn nicht sogar in die Gesetzgebung, zu übertragen, geschweige denn in einem System wie dem englischen, das nicht dazu ausgelegt ist, etwas Derartiges zu tun. Dass Radbruch (oder Jescheck) keine Notwendigkeit sah, den Zustand der deutschen Strafrechtswissenschaft, geschweige denn die Rechtsprechung der deutschen Gerichte zur Zeit der Verurteilung von Dudley and Stephens zu untersuchen, zeigt, wie wenig Interesse die deutsche Strafrechtswissenschaft an ihrer eigenen Geschichte hat. Soweit die deutsche Strafrechtswissenschaft zeitlose, universelle Wahrheiten über Rechtsbegriffe und richtiges Recht entdeckt, spielt es – außer vielleicht für ausgewiesene Rechtshistoriker als Experten in der Geschichte der (Rechts-)Wissenschaft – keine Rolle, wie sich ein deutsches Gericht oder die deutsche Strafrechtswissenschaft vor fünfzig, sechzig oder 100 Jahren mit einem Thema (vielleicht sogar „falsch!“) auseinandergesetzt hätte. Selbst wenn wir die Notwendigkeit außer Acht lassen, Gerichte mit Gerichten zu vergleichen und uns auf die Strafrechtswissenschaft beschränken, ergeben sich zwei zusätzliche Komplikationen. Erstens gibt es keine monolithische „deutsche Strafrechtswissenschaft“. Zu jedem Zeitpunkt konkurrierten beliebig viele Strafrechtswissenschaftler um die Definition der „deutschen Strafrechtswissenschaft“. 155

Für eine aktuelle Analyse siehe Sascha Ziemann, Moral über Bord? Über das Notrecht von Schiffbrüchigen und das Los der Schiffsjungen: Der Kriminalfall Regina v. Dudley and Stephens (Mignonette-Fall), in: Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik 2014, S. 479. Ich bin Sascha Ziemann dankbar für hilfreiche Kommentare und Referenzen.

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Eine auch nur einigermaßen sorgfältige Analyse der deutschen Strafrechtswissenschaft um 1884 müsste die Bandbreite der Positionen zu den relevanten taxonomischen Fragen berücksichtigen, einschließlich beispielsweise der richtigen Methode zur Analyse der strafrechtlichen Verantwortlichkeit und der ordnungsgemäßen Anwendung jeder Methode auf die Tatsachen in Dudley and Stephens. Aufgrund unserer oberflächlichen Diskussion einiger Merkmale der deutschen Strafrechtswissenschaft wissen wir bereits, dass der „Vater“ des modernen deutschen Straftatsystems, Beling, seine große wissenschaftliche Entdeckung erst 1906, also mehr als drei Jahrzehnte nach Dudley and Stephens, gemacht hat. Es ist davon auszugehen, dass das System zur Analyse der strafrechtlichen Verantwortlichkeit zuvor noch stark im Fluss war, wobei verschiedene taxonomische Alternativen um die dogmatische Dominanz wetteiferten. Zweitens gab es noch nie so etwas wie die eine monolithische „deutsche Strafrechtswissenschaft“, denn auch nachdem es einem bestimmten Wissenschaftler – wie Beling – dank einer zentralen, ja sogar epochalen „Entdeckung“ die das Narrativ vom wissenschaftlichen Fortschritt wesentlich voran brachte, gelungen war, den Status eines „Gründers“ oder „Vaters“ zu erlangen, gaben andere Wissenschaftler ihre alternativen Projekte nicht sofort auf. Sie suchten weiter nach Fehlern oder Lücken im Ansatz des Gründers, die korrigiert oder gefüllt werden mussten, um den Vormarsch des wissenschaftlichen Fortschritts fortzusetzen, wenn auch in weniger dramatischen – intraepochalen – Sprüngen. So wie sich das System der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Beling anno 1906 von dem Konsenssystem anno 1884 unterschied, so unterschied sich die 1936er Version von der Belingschen. Entsprechendes gilt für die Versionen von 1946 und 1995. (Die Strafrechtsreform von 1975 hatte überraschend wenig Einfluss auf den Fortschritt der deutschen Strafrechtswissenschaft, und wird eher als mehr oder weniger korrekte Wiedergabe des damaligen Standes strafrechtsdogmatischer Technik behandelt.156) Wenn man sich auf die spezifische dogmatische Frage in Radbruchs (und J­ eschecks) Diskussion von Dudley and Stephens konzentriert, nämlich die Anwendbarkeit (und Verfügbarkeit) des Notstands als Rechtfertigung oder als Entschuldigung, ist es erwähnenswert, dass die (ursprüngliche) 1871er Version des deutschen Strafgesetzbuchs, die 1884 in Kraft war, nicht zwischen den beiden unterschied. Sie enthielt eine einzige Bestimmung zum „Nothstand“ (§ 54 RStGB): Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn die Handlung außer dem Falle der Nothwehr in einem unverschuldeten, auf andere Weise nicht zu beseitigenden Nothstande zur Rettung aus einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben des Thäters oder eines Angehörigen begangen worden ist.157 156 Zu Roxins Umgang mit der revidierten Fassung des Gesetzbuches in späteren Ausgaben seiner Abhandlung über die Mittäterschaft, die 1963 erstmals veröffentlicht und seither nie mehr revidiert wurde, siehe Fn. 200 unten. 157 § 53 RStGB behandelte Fälle der „Nothwehr“, und § 52 RStGB Fälle in denen der Täter „zu der Handlung genöthigt worden ist“.

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Im Nachhinein könnte man sagen, dass diese Bestimmung den Notstand als Entschuldigung und nur als Entschuldigung formuliert; sie erfordert lediglich einen Notfall und gilt daher auch dann, wenn der Beklagte nicht ein geringeres Rechtsgut verletzte, um dadurch ein wertigeres zu schützen (also ohne die „Abwägung der widerstreitenden Interessen,“ die heutzutage, und bereits seit Jahrzenten, den Kern des rechtfertigenden Notstands ausmacht und diesen von seiner entschuldigenden Variante unterscheidet158). Angesichts dieser Bestimmung scheint es also, dass das deutsche Strafrecht um 1884 (und in diesem Fall um 1936 und um 1946) nicht erkannte, was wir heute als Rechtfertigung durch Notstand betrachten, was vermutlich ebenso „falsch“ wäre wie die Nichtanerkennung des Notstands als Entschuldigung – des Fehlers also, der nach Radbruch (und Jescheck) das falsche Ergebnis in Dudley and Stephens zur Folge hatte. Denn das zweigleisige Verständnis des Notstandes (als Rechtfertigung und Entschuldigung), dessen Fehlen Radbruch (und Jescheck) als vernichtenden Beweis für die Rückständigkeit der englischen Strafrechtswissenschaft um 1884 nehmen, erschien erst 1975 im deutschen Strafgesetzbuch. Vor der Einführung der geltenden Bestimmungen, wurde der rechtfertigende Notstand nur als richterlich geschaffene, ausdrücklich nicht-gesetzliche Rechtsfigur im deutschen Strafrecht anerkannt: Im Jahre 1927 entwickelte das deutsche Reichsgericht im Fall eines Arztes, der eine Abtreibung durchgeführt hatte, um das Leben der suizidalen Mutter zu retten, die Doktrin des „übergesetzlichen Notstandes“.159 Das Gericht entschied, dass im Rahmen einer Abwägung der konkurrierenden Rechtsgüter, das Leben der Mutter und die „Existenz der Leibesfrucht“, das erstere das letztere überwiege, da der Strafrahmen für Mord über dem für Schwangerschaftsabbruch lag. Die Reform von 1975 ersetzte fast 50 Jahre später diese „kasuistische“ (und richterrechtliche)  Auslegung der damals geltenden Bestimmungen des Strafgesetzbuches über den Notstand durch eine kodifizierte Fassung. Ebenso auffällig ist jedoch, dass die damalige deutsche Strafrechtswissenschaft den in § 54 RStGB definierten Notstand nicht einheitlich als Entschuldigungsgrund angesehen hat. Kein Geringerer als Franz von Liszt zum Beispiel hielt den im Strafgesetzbuch von 1871 definierten Notstand für einen Rechtfertigungsgrund. Nach Liszts Ansicht stellten die §§ 52–54 RStGB alles Rechtfertigungsgründe dar. Außerdem beklagte sich Liszt – sechzehn Jahre nach Dudley and Stephens – bitter über den verworrenen Zustand des deutschen Notstandsrechts: „Eine scharfe und den Bedürfnissen des Rechtslebens entsprechende Ausbildung des Begriffs [des Notstandes] suchen wir in der Wissenschaft ebenso vergeblich wie in der Gesetzgebung. (…) Die heutige Auffassung geht davon aus, dass das Wesen des Notstandes in einem Widerstreit berechtigter Interessen besteht, von welchen jedes nur auf Kosten des anderen erhalten werden kann.“160

158

§ 34 StGB; s. auch § 3.02 Model Penal Code. RGSt 61, 242 (von 1927). 160 Franz von Liszt, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 10. Aufl. 1900, S. 127. 159

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Mit anderen Worten: Das Notstandsrecht war schon immer ein Durcheinander und ist auch weiterhin ein Durcheinander, aber in dem Maße, wie wir es uns als deutsche Strafrechtswissenschaftler anno 1900 verständlich machen können, ist Notstand ein Rechtfertigungsgrund („Widerstreit berechtigter Interessen“). Es ist wohl wahr, dass Liszts Schema nicht wie heute scharf zwischen Entschuldigungsgründen und subjektiven Tatbestandsmerkmalen unterschied und stattdessen  – nicht anders als das klassische englische Strafrecht – nur eine einzige Kategorie von Schuld kannte (zu der neben Vorsatz und Fahrlässigkeit auch Unzurechnungsfähigkeit, Minderjährigkeit und Irrtum gehörten), was ihm die Klassifizierung von Nötigung, Notstand und Notwehr erschwert haben möge. Dieser Umstand verdeutlicht jedoch nur die Unklarheit und Fluidität sowohl im deutschen System zur Analyse der strafrechtlichen Verantwortlichkeit als auch im damaligen deutschen Notstandsrecht. Tatsächlich hat der einzige mir bekannte zeitgenössische deutsche Kommentar zu Dudley and Stephens die Entscheidung als unbedenklich für das deutsche Strafrecht (und insbesondere für § 54 RStGB) befunden, und doch gleichzeitig eingeräumt, dass diese Auffassung nicht weit verbreitet sein möge.161 Es lohnt sich das Fazit dieser detaillierten Analyse des Falles um Detail zu zitieren, insbesondere angesichts der Tatsache, dass Liszt mehr als ein Jahrzehnt später weiterhin darauf beharrte, dass der Notstand – trotz des Wortlauts des § 54 RStGB – ein Rechtfertigungsgrund sein müsse: „Es soll zwar nicht die Aufgabe dieser Arbeit sein, das deutsche Notstandsrecht an der Hand dieses Falles zu behandeln, aber einige kurze Bemerkungen mögen uns hier zum Schluß gestattet sein. Dasselbe bildet in der Theorie schon dadurch, daß unsere deutschen Juristen ungleich wissenschaftlicher zu Werke gehen und auf diesem Gebiete sich gar noch mit den Philosophen begegnet haben, ein noch bei weitem größeres Chaos. [Hervorhebung hinzugefügt.] In der Praxis ist die Frage jetzt durch §§ 52 und 54 RStrGBs geordnet und läßt sich nach dem Wortlaut des letzteren Paragraphen gegen die überwiegende Ansicht derer kaum etwas einwenden, welche auf Grund des § 54 die Angeklagten unbedenklich freigesprochen haben würden. (…) Da indessen die Motive zum § 52 des Entwurfs (…) den Notstand als die „Kollision zwischen zwei Rechten bezeichnen, bei welchen das geringere Recht dem größeren weichen muß“ und da die Nichtaufnahme dieser Idee in den Wortlaut des Gesetzes selbst nicht mit Notwendigkeit als eine Verwerfung derselben aufzufassen ist, so dürfte ein der wohl allgemeinen Ansicht entgegenstehendes Votum auf Verurteilung nicht für gänzlich unbegründet zu erachten sein. Es darf ja allerdings fraglich sein, ob diese Idee dem Gesetze in der That zu Grunde liegt. So viel muß aber zugegeben werden, daß sich für den Fall der Bejahung dieser Frage daraus die Verurteilung mit Sicherheit ergeben würde. Denn es liegt auf der Hand einmal, daß zwei Menschenleben nicht nach ihrem Wert und ihrer Existenzberechtigung gegenein-

161 A. Simonson, Der „Mignonette“-Fall in England, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 5 (1885), S. 367.

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ander abgewogen werden können und es ist ferner noch evidenter, daß eine solche Taxierung nicht irgend einer beliebigen interessierten Person überlassen werden darf, die in der Notlage zumal nur zu sehr geneigt sein wird, das eigne Leben über alles zu schätzen!“162

Über den Fall Dudley and Stephens, sowie über dessen Verwendung durch Radbruch (und Jescheck) als Paradebeispiel der Überlegenheit der deutschen Taxonomie strafrechtlicher Verantwortlichkeit, lässt sich weitaus mehr sagen. So würde der amerikanische Model Penal Code den rechtfertigenden Notstand (necessity) in Dudley and Stephens nicht ausschließen, sofern alle Notstandsvoraussetzungen erfüllt sind, insbesondere die „Notwendigkeit“, die zu rechtfertigende Straftat zu begehen (was im konkreten Fall zum Zeitpunkt von Parkers Tötung – noch – nicht gegeben sein dürfte).163 Auch das Zusammenspiel von Gerichtsurteil und Begnadigung könnte hier näher betrachtet werden; dieses Merkmal der pragmatischen „Lösung“ des konkreten Falles mag selbst anstößig sein, erfordert aber eine differenziertere Beurteilung, als es ein Versuch, den Fall nach Beweisen für die Überlegenheit der deutschen Strafrechtswissenschaft zu durchsuchen, zulassen kann. (Wir werden später auf diesen Aspekt des Falles zurückkommen.) Für uns ist es jedoch an der Zeit, zu unserer nächsten Illustration der praktizierten Taxonomie überzugehen: Nach der Taxonomie des Verbrechens werden wir nun einen genaueren Blick auf die Taxonomie der Handlung werfen, genauer gesagt auf die Taxonomie der verschiedenen Formen der Beteiligung am strafbaren Verhalten. Die Taxonomie der strafrechtlichen Handlung ermöglicht eine aufschlussreiche Fallstudie über das Narrativ einer streng wissenschaftlichen Evolution der deutschen Strafrechtswissenschaft von einer wissenschaftlichen Entdeckung zur anderen, immer auf der Suche nach dem Ideal der objektiven Korrektheit, des „richtigen Rechts“, unberührt von subjektiven „politischen“ Präferenzen oder ergebnisorientiertem Opportunismus. Wir verfolgen die bekannten Stationen entlang dem Standardnarrativ der „Geschichte“ des deutschen Teilnahmestrafrechts, indem wir einen dialektischen Walzer der objektiv-subjektiven Synthese inszenieren, der in der Taxonomie der Taxonomien gipfelt: Roxins Darstellung der Tatherrschaft, die als eine der größten Errungenschaften der deutschen Strafrechtswissenschaft gilt, eine der größten taxonomischen Herausforderungen im (deutschen) Strafrecht löst, indem sie „Täter“ von „Teilnehmern“ – oder besser gesagt von Gehilfen – trennt, die nach dem Strafgesetzbuch deutlich weniger bestraft werden als Täter und Anstifter (nicht, dass sich eine rein wissenschaftliche Suche nach der richtigen Klassifizierung mit etwas so Krudem wie dem pönalen Ergebnis der Anwendung der betreffenden Klassifizierung befassen würde).

162 163

Ebd., S. 388. Dubber / Hörnle, Criminal Law: A Comparative Approach (Fn. 85), § 6.C.

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2. Die Taxonomie der strafbaren Handlung Wie die dreistufige Analyse der Strafbarkeit mit ihren verschiedenen Unterkategorien und Unterunterkategorien (einschließlich zweier Notstandsarten, die – wie wir gesehen haben – das Gericht in Dudley and Stephens vor Fehlern bewahrt hätte), ist die deutsche Taxonomie der strafrechtlichen Handlung von numerischer Überlegenheit geprägt, wenn auch diesmal (üblicherweise) nicht im Vergleich zum Common Law, sondern zu einer anderen Rechtsordnung des Civil Law (Österreich) und sogar, interessanter, zu einer anderen, weniger bedeutsamen Materie des deutschen Rechts (Ordnungswidrigkeiten). Die Taxonomie der strafbaren Handlung ist auch deshalb bemerkenswert, weil sie einen Fall von numerischer Reduzierung aufweist, und zwar von mehr zu weniger Kategorien und nicht umgekehrt. Dieser Fall der taxonomischen Vereinfachung (und nicht der Verkomplizierung) tritt allerdings im amerikanischen Strafrecht auf, was vermutlich einen weiteren Beweis für dessen awissenschaftliches Selbstverständnis liefert.164 So hat der Model Penal Code die Zahl der dogmatischen Kategorien im Strafrecht deutlich verringert und am Ende die Unterscheidung zwischen den wenigen verbleibenden Schubläden in Bezug auf das pönale Ergebnis aufgegeben: weniger Kategorien, gleiche Strafe. Die deutsche Lehre von der Teilnahme besteht auf einer kategorischen, grundlegenden Unterscheidung zwischen Tätern und Teilnehmern und dann innerhalb jeder Kategorie auf weiteren Unterschieden zwischen (drei) Arten von Tätern und (zwei) Arten von Teilnehmern, was zu der folgenden Taxonomie führt: (1) (unmittelbarer) Täter (2) mittelbarer Täter (3) Mittäter -–-–-–-–-–-–-–-–-–-–-–-–-–-–-–-–-–-–-–-–(4) Anstifter (5) Gehilfe

Der „österreichische“ Ansatz der Teilnahmelehre begnügt sich dagegen mit einer einzigen dogmatischen Kategorie: dem Täter. Dieser Ansatz gilt aus der Sicht der deutschen Strafrechtswissenschaft als zu undifferenziert, mit Ausnahme fahrlässiger Straftaten, die im deutschen vorsatzorientierten System, das sich seit jeher mit der Strafbarkeit fahrlässigen Verhaltens schwer tut (am bekanntesten in der über Jahrzehnte von Welzel und dessen Gefolgsleuten propagierten Theorie der finalen Handlungslehre, die den Vorsatz als wesentliches Element der „Handlung“ an sich deklarierten) als trivial und außergewöhnlich angesehen werden. Ebenso wird der einheitliche Ansatz auch im deutschen Recht für „bloße“ Ordnungswidrigkeiten 164 Siehe Markus D. Dubber, Die Anspruchslosigkeit des awissenschaftlichen Strafrechts, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 121 (2009), S. 977.

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als angemessen erachtet, die sich kategorisch und qualitativ von Straftaten unterscheiden. Auf dieses taxonomische Manöver kommen wir übrigens später noch zurück; es untermauert unter anderem bequem die deutsche Position, dass eine strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen unmöglich ist und es daher kein Unternehmensstrafrecht nach deutschem Recht gibt – und nicht geben kann −, ungeachtet erheblicher „Bußgelder“ für „Ordnungswidrigkeiten“. Seine numerische Überlegenheit markiert das deutsche System der Teilnahme als wissenschaftlich überlegen gegenüber dem simplifizierenden undifferenzierten Einheitssystem des österreichischen Strafrechts. Ironischerweise ähnelt das deutsche System allerdings ebenfalls dem traditionellen angloamerikanischen System, nicht nur numerisch, sondern auch äußerlich: (A) principal in the first degree: (direct) perpetrator (B) principal in the first degree: (indirect) perpetrator (C) principal in the second degree -–-–-–-–-–-–-–-–-–-–-–-–-–-–-–-–-–-–-–-–(D) accessory before the fact: solicitor (E) accessory before the fact: facilitator

Dazu kommt noch, dass dieses jahrhundertealte Schema im modernen angloamerikanischen Strafrecht aufgegeben wurde, und zwar wegen seiner bestenfalls sinnlosen Differenzierungen auf Grund irrelevanter oder irreführender Überlegungen. So zielte der Model Penal Code des American Law Institute (1962) darauf ab, die Lehre der Teilnahme radikal neu zu konzipieren und neu zu fokussieren. Dieses „neue“ Verständnis der Teilnahme bestand darin, die dogmatische Analyse umzuorientieren, von der formellen Klassifizierung des Verhaltens auf Grund einer fünfteiligen Taxonomie hin auf eine direkte und transparente Berücksichtigung der relevanten materiellen Überlegungen, die die Beurteilung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit vorantreiben sollten. Die Meriten einer bestimmten dogmatischen Analyse irgendeines Aspekts der Analyse der strafrechtlichen Verantwortlichkeit – so zum Beispiel (1) unter welchen Umständen jemand eine in einem Tatbestand beschriebene Handlung begangen hat und (2) inwieweit (und aus welchem Grund) man zwischen verschiedenen Antworten auf diese Frage zum Zwecke der strafrechtlichen Verantwortlichkeit unterscheiden sollte – würden sich dann nicht an der „wissenschaftlichen“ Fassade des Ansatzes messen, sondern an seinem Erfolg bei der Behandlung der relevanten dogmatischen Fragen, und zwar nicht nur auf der Ebene der Definition der relevanten Norm, sondern auch in Bezug auf ihre unvermeidliche Auslegung und Anwendung (durch verschiedene Systemteilnehmer: Staatsanwälte, Richter, Geschworene?), vor dem Hintergrund einer klaren, gesetzlich formulierten und motivierten Konzeption der staatlichen Strafe. (Im Falle des Model Penal Code war diese Konzeption das, was die Verfasser für eine „moderne“ Ideologie der pönal-korrigierenden Behandlung und nicht der vergel-

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tenden Strafe hielten.165 Es geht hier allerdings nicht darum, was die grundlegende Konzeption ist oder sein sollte, sondern darum, dass eine solche existiert, dass sie zum Ausdruck gebracht wird und dass die dogmatische Produktion regelmäßig auf sie zurückgreift.) Nach diesem Ansatz zur dogmatischen Theoriebildung wäre die taxonomische numerische Überlegenheit als Indikator für wissenschaftliche Raffinesse offensichtlich nebensächlich. Wenn überhaupt, würde die zahlenmäßige Überlegenheit (vielleicht jetzt als „überflüssige Distinktion“ à la Roxin bezeichnet) eine Vermutung der dogmatischen Unterlegenheit begründen, weil sie vom Kern der Analyse ablenken, keine durchdachte Begründung widerspiegeln und somit auch die Umsetzung dieser Begründung durch bestimmte Prozessteilnehmer in Einzelfällen nicht fördern kann. Unter der taxonomischen Oberfläche der deutschen Teilnahmedogmatik findet man überraschend wenig Aufmerksamkeit für diese inhaltlichen oder praktischen Fragen (geschweige denn für die Legitimation), was den Verdacht erweckt, dass die Taxonomie auf dem besten Weg ist, wenn nicht zum Selbstzweck, so doch zu einem analytischen Rahmen zu werden, der so fest verankert ist, dass jeder Versuch einer Disruption zu einem Vorwurf der Behinderung des wissenschaftlichen Fortschritts führen mag. Anstatt Argumente aus einer bestimmten Vorstellung von legitimer staatlicher Strafe qua Recht oder aus einem Bündel konkurrierender Vorstellungen zu liefern, erscheint die wissenschaftliche Entwicklung der deutschen Teilnahmedogmatik stattdessen als eine Prozession von rechtstechnischen „Theorien“ der mittleren Ebene, die nicht mit einem ehrgeizigeren theoretischen bzw. legitimatorischen Projekt verbunden sind, das auf einer höheren Abstraktionsebene operiert (mit Ausnahme der Überreste von Welzels et al. berauschendem Mix aus Ontologie und Phänomenologie, der, gelinde gesagt, nichts zur Legitimation des deutschen Strafrechts als Ausübung staatlicher Strafmacht in einer modernen liberalen Demokratie beiträgt, und dies auch nie sollte.). Darüber hinaus erweist sich dieses dogmatische Projekt der objektiven Verfolgung des wissenschaftlichen Fortschritts bei näherer Betrachtung nicht nur als selbstreferenziell oberflächlich und parochial angelegt, sondern auch als tatsächlich hinter diesem Selbstverständnis zurückbleibend. Die deutsche Taxonomie des strafbaren Handelns, um bei unserem vorliegenden Beispiel zu bleiben, ist oberflächlich und parochial in dem Sinne, dass sie perfekt in das geschlossene und begrenzte Universum der in der deutschen Strafrechtsdogmatik entwickelten Teilnahmelehren eingebettet ist, und sich nur selten – wenn überhaupt – mit Exkursionen in die historische, vergleichende oder außerdogmatische theoretische Reflexion beschäftigt. Ein taxonomischer Begriff („objektiv“) wird durch einen anderen („subjektiv“) ersetzt, der dann wiederum einem dritten weicht, der die Stärken seiner beiden Vor 165

Für mehr über den Behandlungsansatz des Model Penal Code siehe Teil III.

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gänger kombiniert und gleichzeitig ihre Schwächen vermeidet („Tatherrschaft“). Die Dialektik des Sowohl-als-Auch hat ihren Lauf genommen, das Problem ist definitiv gelöst. Interessanter, wenn auch kaum überraschend, ist vielleicht, dass dieses bevorzugte Ex-post-(Selbst-)Narrativ des objektiven wissenschaftlichen Fortschritts in Richtung richtiges Recht egal wo die Späne fallen mögen, nicht unbedingt mit der doktrinären Evolution „vor Ort“ (oder gar auf dem Papier) übereinstimmt. Wie wir sehen werden, ist das deutsche Recht der strafbaren Handlung dagegen sehr wohl  – und gelegentlich mit außergewöhnlicher Offenheit  – ergebnisorientiert, insofern sein Fortschritt wesentlich von dem Wunsch getragen wird, bestimmte Resultate zu erzielen, entweder in bestimmten Falltypen oder sogar in einem (berühmten) Einzelfall. Am Ende erscheint die deutsche Lehre vom kriminellen Verhalten als selbstreferenzielles und parochiales taxonomisches Unterfangen, das ein Selbstbild rein wissenschaftlicher Forschung projiziert, dem seine tatsächliche Entwicklung und Funktionsweise allerdings nicht unbedingt entsprechen. Daher ist sie als fruchtbarer Vergleichspunkt für den hier angestrebten transnationalen Legitimationsdiskurs über die Ausübung staatlicher Strafmacht qua Recht wenig erfolgversprechend. Allerdings kann sich dieses Stück deutscher Strafrechtslehre als vorgefertigtes taxonomisches Instrument mit dem nützlichen Deckmantel der wissenschaftlichen Autorität, vor dem Hintergrund des beeindruckenden Stammbaums der deutschen Strafrechtswissenschaft im Allgemeinen und eines ihrer angesehensten Experten (Claus Roxin) im Besonderen, für jeden als nützlich erweisen, der strafrechtswissenschaftliche „Entdeckungen“ nutzen will, um bestimmte Ergebnisse in einem anderen dogmatischen Rechtsprojekt oder -system zu erzielen. Man denke an das Völkerstrafrecht, das die traditionell starke Abhängigkeit des Völkerrechts von Expertenautorität und von (inzwischen oft deutschsprachigen) Lehrbüchern und Traktaten teilt.166 Dort hat sich die deutsche Teilnahmelehre – auf seinem aktuellen (und damit natürlich am weitesten fortgeschrittenen) Stand der wissenschaft­ lichen Entwicklung, d. h. Roxins Theorie der Tatherrschaft – als ein recht populäres Instru­ment erwiesen, um schwere strafrechtliche Verantwortung horizontal auf mehr Menschen und insbesondere vertikal auf mehr mächtige Menschen auszudehnen, und zwar mit Hilfe eines authentisch objektiven taxonomischen Instruments, das die deutsche Strafrechtswissenschaft (Tatherrschaft) entdeckt hat, und nicht mit den undifferenzierten Instrumenten völkerstrafrechtlicher Normen – z. B. joint criminal enterprise oder JCE (auch als „just convict everybody“ umformuliert – „einfach jeden verurteilen“). Aber auch im internationalen Strafrecht sind die parochialen Ursprünge der „Tatherrschaftslehre“ – als Alternative zu früheren deutschen Ansätzen und im 166

Siehe z. B. Gerhard Werle / Florian Jeßberger, Völkerstrafrecht, 4. Aufl. 2016; Kai Ambos, Treatise on International Criminal Law (drei Bände 2013–16).

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Rahmen der Unterscheidung des deutschen Strafgesetzbuches zwischen der Bestrafung von Tätern und Teilnehmern (d. h. von Gehilfen) – bekannt.167 Ob „Tatherrschaft“ ausreichend genau definiert ist, um mehr als nur den Anschein wissenschaftlicher Objektivität zu vermitteln, ist fraglich.168 (Roxin bestand, wie wir sehen werden, selbst darauf, dass es sich bei ihr um einen „offenen Begriff“ handelte, der nicht „definiert“ werden konnte, sondern nur „beschrieben“.169) Die ultimative Leistung der deutschen Strafrechtswissenschaft im Bereich der Handlungslehre einer derart offen instrumentellen und ergebnisorientierten Nutzung zu überlassen, wäre angemessen und ironisch zugleich. Angemessen, weil Roxins Darstellung der Tatherrschaft, insbesondere in ihrer Anwendung (oder Ausdehnung?) auf Fälle der „mittelbaren Täterschaft“ und „Täterschaft kraft Organisationsherrschaft“, selbst von einem (heutzutage weiter verbreiteten) Wunsch nach einem bestimmten Ergebnis geprägt war: die Bestrafung von (insbesondere nationalsozialistischen) „Schreibtischtätern“ als solche, d. h. als Täter, und nicht als „bloße“ Teilnehmer.170 Ironisch, weil der Anspruch der deutschen Strafrechtswissenschaft auf wissenschaftliche Objektivität auf der kategorischen Ablehnung genau dieser Art von ergebnisorientierter Analyse beruht. Es stellt sich heraus, dass, wenn man das zentrale taxonomische Instrument („Tatherrschaft“) mit dem Ziel, bestimmte Beklagte als „Täter“ zu klassifizieren, „beschreibt“, sich diese Beklagten dann tatsächlich als „Täter“ erweisen. Es ist natürlich nichts falsch – und sogar viel richtig, oder zumindest ehrlich – mit einem ergebnisorientierten Denken (im Allgemeinen und in diesem speziellen Fall). Ergebnisorientiertes Denken, das seine Autorität aus der Ablehnung ergebnisorientierten Denkens bezieht, ist jedoch eine andere Sache, insbesondere wenn dieser Autoritätsanspruch darauf abzielt, die eigenen „objektiven wissenschaftlichen Entdeckungen“ über die bloß „subjektiven politischen Argumente“ anderer zu stellen. Ohne hier eine detaillierte vergleichend-historische Darstellung der deutschen Teilnahmelehre vorzunehmen zu wollen, werden wir kurz auf zwei ihrer Hauptmerkmale (oder Phasen, je nachdem wie man ihre Entwicklung und ihren aktuellen Zustand betrachtet) eingehen: die so genannte „subjektive“ Theorie der Abgrenzung der Täterschaft von der Teilnahme und die Lehre von der Tatherrschaft. Wie wir bereits festgestellt haben, verläuft die Geschichte der deutschen Teilnahmelehre in drei Schritten: zuerst die „objektive“ Theorie der Teilnahme, dann die „subjektive“ Theorie und schließlich – als die Theorie, die das Beste aus beiden theoretischen Welten kombiniert und gleichzeitig das gewünschte Ergebnis erzielt – die Lehre von der Tatherrschaft. 167

Siehe Jens David Ohlin, Co-Perpetration: German Dogmatik or German Invasion?, in: Carsten Stahn (Hrsg.), The Law and Practice of the International Criminal Court, 2015, S. 517, 519. 168 Siehe Thomas Weigend, Perpetration through an Organization: The Unexpected Career of a German Legal Concept, in: J. Int’l Crim. Just. 9 (2011), S. 91, 100–101. 169 Siehe Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft (Fn. 129), § 17. 170 Weigend, Perpetration through an Organization (Fn. 169), S. 100–101.

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Diese Phasen überschneiden sich; wie in der Geschichte der deutschen Strafrechtswissenschaft im Allgemeinen wird auch ihre Reihenfolge an „herrschenden“ Meinungen gemessen, wobei eine (herrschende) Meinung einer anderen weicht, ohne dass eine Meinung notwendigerweise zu irgendeinem Zeitpunkt die unangefochtene Herrschaft erlangt, während Anhänger bisher herrschender Theorien aussterben – buchstäblich oder im übertragenen Sinne – von einer Schülergeneration zur nächsten. Wie und von wem die Herrschaft gemessen wird, ist nicht unbedingt klar und kann sich im Laufe der Zeit ändern, wobei die Anzahl, der Status und die Autorität der Anhänger eine Rolle spielen. So kann beispielsweise die Bedeutung der Gerichte (einschließlich des Verfassungsgerichts) unterschiedlich sein, da ihre Autorität im Verhältnis zur Professorenkaste der Wissenschaftler je nach Rechtsgebiet unterschiedlich ist und sich im Laufe der Zeit erhöht haben mag (so z. B. im Falle des Strafrechts). Es kann auch unterschiedliche „herrschende Meinungen“ unter Wissenschaftlern (Lehre), Gerichten (Rechtsprechung) und Juristen überhaupt geben. Diese Eigenschaft des deutschen (Straf-)Rechts ist in der allgegenwärtigen Rede von wissenschaftlichen Entdeckungen und  – in geringerem Maße  – von onto­ logischen oder phänomenologischen Fakten oder Strukturen leicht zu übersehen. Die Tatsache, dass eine große Zahl von deutschen Rechtswissenschaftlern (und anderen Produzenten von Rechtsnormen, einschließlich Gesetzgebern, Richtern und anderen Staatsbeamten) über mehr als zwei Jahrhunderte hinweg – in unterschiedlichem Maße – zur Errichtung des Bauwerks des deutschen Strafrechts beigetragen haben, verbunden mit der Nicht-Falsifizierbarkeit ihrer „Entdeckungen“ und der signifikanten, wenn auch oft ignorierten, Kluft zwischen diesen rechtswissenschaftlichen Entdeckungen und deren Würdigung (nicht zu sprechen von der Verwendung durch Staatsbeamte), bedeutet nicht nur, dass eine große Anzahl an „Theorien“ und „Lehren“ enthüllt wurden, sondern auch, dass sie sich im Laufe der Zeit wie Sedimente angehäuft haben. Infolgedessen haben sich nicht nur analytische Taxonomien verbreitet, sondern auch Taxonomien zweiter Ordnung – Taxonomien von Taxonomien –, die unterschiedliche Vorstellungen von z. B. Teilnahme, Versuch, Vorsatz und sogar dem Schema zur Analyse der strafrechtlichen Verantwortlichkeit (siehe oben) widerspiegeln. Die deutsche Strafrechtswissenschaft und -ausbildung hat sich zunehmend mit diesen übergeordneten Taxonomien, Listen alternativer Vorstellungen und Unterscheidungen, von Theorien und Theorien von Theorien beschäftigt, von denen sich der überwiegende Teil mit einer kleinen Teilmenge von Fragen im allgemeinen Teil des materiellen Strafrechts befasst. Diese taxonomische Buchhaltung hat ein dichtes taxonomisches Netzwerk gestrickt, das wenig Zeit und Raum für grundlegende Überlegungen, Flexibilität oder Rechtfertigung lässt, während es gleichzeitig ein falsches Gefühl der Vollständigkeit, wenn nicht sogar der Unvermeidlichkeit zu schaffen droht: eine so beeindruckende Sammlung so vieler Normen, die so sorgfältig mit „wissenschaftlicher“ Akribie über eine so lange Zeit von so vielen und hochqualifizierten Experten zusammengestellt wurde, muss jede

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Frage beantworten können, wenn man nur bereit ist, lange und intensiv genug danach zu suchen. Es gibt so viel zu beschreiben, zu erklären und zu bestaunen, dass wenig Zeit zum Hinterfragen übrigbleibt, geschweige denn, Systemexterne davon zu überzeugen, dass das eigene dogmatische System nicht nur größer, sondern auch besser ist, in jedem Bestandteil und im Ganzen. Das Narrativ der Entwicklung der deutschen Lehre von der Teilnahme folgt der üblichen Praxis, den aktuellen Stand der Technik bzw. der Wissenschaft als Ergebnis eines (systeminternen) Perfektionsprozesses durch die Identifizierung und Beseitigung einer Reihe von wahrgenommenen dogmatischen Defiziten zu beschreiben. Die Geschichte könnte etwa so lauten: Es war einmal eine Zeit, in der gab es eine objektive Theorie der Teilnahme. Diese Theorie hatte eine (verdächtig, wie sich herausstellen sollte) einfache Lösung für die (angeblich) zentrale Frage der Lehre von der Teilnahme, die Unterscheidung zwischen Täter und Teilnehmer: „Täter“ war derjenige, und nur derjenige, der den Tatbestand durch seine Handlung selbst verwirklicht hatte. „Teilnehmer“ war dagegen jeder, dem wegen seiner „Anstiftung“ oder „Beihilfe“ des Täters dessen Handlung zugerechnet wurde. An dieser Stelle ist zu beachten, dass das zentrale Problem nicht nur in der objektiven Theorie, sondern in der deutschen Teilnahmelehre überhaupt ein Problem der Klassifizierung ist: „Täter“ oder „Teilnehmer“? Dieses Problem der Klassifizierung entpuppt sich zudem als ein Problem der Klassifizierung um seiner selbst willen: eine taxonomische Übung. Es ist ein „theoretisches“ oder „formales“ Problem, dessen Lösung rein wissenschaftlich von jeglicher „praktischer“ Konsequenz in bestimmten Fällen abstrahiert. Es geht um die wissenschaftliche Suche nach der richtigen Unterscheidung zwischen Täter und Teilnehmer an sich, d. h. nach der wahren „Abgrenzungstheorie“. Das zentrale Problem in der deutschen Teilnahmelehre ist daher nicht die Unterscheidung zwischen Strafbarkeit und Nichtstrafbarkeit, also ob jemand auf Grund seines Verhältnisses (kausal, normativ, wie auch immer) zu einem strafbaren Verhalten eines anderen bestraft werden soll. Es wird also vorausgesetzt, dass sowohl „Täter“ als auch „Teilnehmer“ für das fragliche verbotene Verhalten strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden, allerdings (möglicherweise) auf unterschiedliche Weise und (möglicherweise) aus unterschiedlichen Gründen. Im Mittelpunkt steht nicht einmal die Frage nach der Höhe (oder Art) der Bestrafung, d. h. wie man zwischen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit verschiedener Personen unterscheidet, die auf unterschiedliche Weise mit der Begehung einer Straftat in Verbindung stehen: „Täter“ und „Teilnehmer“ müssen – im deutschen System – nicht unbedingt mit unterschiedlichen Strafen (qualitativ oder quantitativ) rechnen. Vielmehr geht es bei dieser Unterscheidung in Bezug auf das Strafmaß nicht um die Unterscheidung zwischen „Täter“ und „Teilnehmer“, sondern um die Unter-

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scheidung zwischen zwei Arten von „Teilnehmer“: dem „Anstifter“ und dem „Gehilfen“. Der Anstifter wird „gleich einem Täter“ bestraft;171 der Gehilfe erhält einen Rabatt, und zwar einen sehr ordentlichen, z. B. von lebenslanger Haft hinunter zu drei Jahren Gefängnis.172 Man könnte daher denken, dass sich die taxonomische Übung nicht auf die Unterscheidung zwischen Täterschaft und Teilnahme, sondern zwischen [Täter & Anstifter] und [Gehilfe] fokussieren würde, oder noch einfacher, zwischen Anstiftung und Beihilfe. Das wäre jedoch falsch. Verglichen mit der fundamentalen Unterscheidung zwischen Täterschaft und Teilnahme erhält die Unterscheidung der zwei Arten der Teilnahme kaum Aufmerksamkeit. Das ist kein Zufall. Auf dem Spiel steht die Unterscheidung zwischen Täter und Teilnehmer, zwei radikal unterschiedliche Formen oder Typen einer strafbaren Handlung. Dass innerhalb der Grundkategorie „Teilnahme“ zwischen zwei Unterkategorien in Bezug auf die jeweils drohende Strafe unterschieden wird, ist gewiss interessant, aber nebensächlich. Die Begriffe „Täter“ und „Teilnehmer“ bleiben so bestehen wie sie eben sind, auch wenn sich die strafrechtlichen Konsequenzen ändern sollten. Die taxonomische Aufgabe, von den pönalen Konsequenzen „rückwärts“ zu den Begriffen und ihrer Unterscheidung hin anzugehen, hieße, den Schwanz mit dem Hund wedeln zu lassen. Es geht um die Begriffe an sich, nicht um die Auswirkungen ihre Anwendung. Die Taxonomie basiert auf der wissenschaftlichen Entdeckung der Essenz jedes Konzepts, eben ihrer korrekten „Beschreibung“ (Roxin). Laut dem gewöhnlichen Narrativ nahm die subjektive Theorie im Gegensatz zu der objektiven Theorie einen weniger formalen, flexibleren Standpunkt zur Täterfrage ein. Nicht die objektive Handlung, sondern der „subjektive“ animus (Wille) entschied nun zwischen Täterschaft und Teilnahme: Täter hatten den charakteristischen „animus auctoris“ (Täterwillen), Teilnehmer (nur) den „animus socii“ (Teilnehmerwillen). Man beachte wieder einmal die Verwendung lateinischer Begriffe. Hier wie anderswo sollen sie vermutlich Gewicht hinzufügen, indem sie uralte, vielleicht sogar zeitlose („fundamentale“?, „wahre“?), oder vorzugsweise römische Wurzeln suggerieren und gleichzeitig auf besondere Sachkenntnis und Expertenkompetenz hinweisen, die für jeden in der Sprache des römischen Rechts Ungeschulten unzugänglich ist. Ohne ihren lateinischen Lack wird deutlich, dass diese Begriffe nichts zur Analyse beitragen, sondern nur die Frage (und damit auch die Antwort) tautologisch neu formulieren bzw. das Etikett übersetzen: Wer hat den „Willen eines Täters“ (Antwort: der Täter) und wer den „Willen eines Teilnehmers“ (der Teilnehmer)? Während seines ersten Jahrhunderts (1871−1975), erwähnte das Strafgesetzbuch in seinen einschlägigen Bestimmungen weder „indirekte“ Täterschaft (im Gegen 171 172

§ 26 StGB. Ebd. § 27 StGB.

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satz zur „direkten“ Täterschaft durch jemanden, der sich persönlich die verbotene Handlung begeht) noch irgendeine Art von animus, ob auctori oder socii.173 (Tatsächlich wurden Gerichte, die der subjektiven Theorie folgten, heftig von Strafrechtswissenschaftlern kritisiert, wie wir später sehen werden.174) Die aktuelle Version des Strafgesetzbuches erwähnt die Möglichkeit, eine Straftat „durch einen anderen zu begehen“175, sagt aber immer noch nichts über verschiedene Arten von animus aus. Und so war die Bühne bereit für einen Ansatz, der die unterschiedlichen Unterscheidungstheorien miteinander versöhnen konnte, indem er den objektiven und subjektiven Ansatz zu einer objektiv-subjektiven Theorie kombinierte, die das Beste aus beiden Welten vereinte: die Goldlöckchensche Mitte der genau richtigen Mischung aus Objektivismus und Subjektivismus. Roxins Lehre vom Tatherrschaft kombinierte das restriktive Beharren des objektiven Ansatzes auf einem engen Bezug zum Gesetzestext (der von der „Ausführung“ bzw. der „Begehung“ des verbotenen Verhaltens spricht) mit der Notwendigkeit auf subjektive Erwägungen zurückzugreifen, um die volle Taxonomie der Beteiligungsformen berücksichtigen und ordnungsgemäß in der Anwendung überprüfen zu können. Diese Quadratur des Kreises, diese Kombination von Starrheit und Flexibilität, Restriktivität und Expansion, Objektivität und Subjektivität wird mit Hilfe des objektiv – d. h. rein wissenschaftlich – abgeleiteten und beschriebenen (aber wiederum nicht definierten) Kriteriums der „Tatherrschaft“ erzielt. Dieser Ansatz scheint aus mehreren Gründen nicht besonders vielversprechend zu sein. Erstens spiegelt er die Gewohnheiten einer Rechtswissenschaft wider, die auf einem relativ niedrigen Niveau der theoretisch-ethischen Abstraktion operiert und eher einer Übung in taxonomischer Haushaltsführung ähnelt als einer furchtlosen Suche nach wissenschaftlicher Wahrheit, ganz zu schweigen von einem System des Strafrechts innerhalb des Rahmens, der der legitimen Staatsmacht in einem modernen liberalen demokratischen Staat seine Grenzen setzt. Zweitens sieht es eher wie eine bequeme post hoc-Konstruktion eines wissenschaftlichen Fortschrittsnarrativs aus, demgemäß die jeweils aktuell bevorzugte Theorie als Korrektur der Mängel ihrer Vorgänger erscheint, fast so, als ob die Vorgänger entwickelt (oder zumindest charakterisiert) worden wären, um ihre Mängel genauso zu offenbaren, dass die aktuell bevorzugte Theorie sie dann bequemerweise korrigieren könnte. In diesem vorhersehbaren – und allzu glatten und selbsterfüllenden – Narrativ taucht die jetzt herrschende Meinung, die Lehre von der Tatherrschaft, einfach als Extraktion und dann als Verschmelzung der Stärken ihrer Vorgänger (objektive und subjektive Theorie) auf, während sie ihre Schwächen fallen lässt. 173

§ 47 RStGB. Das Preußische Strafgesetzbuch von 1851, auf dem das deutsche Strafgesetzbuch von 1871 beruht, behandelte alle Teilnehmer an einer Straftat gemeinsam in einer Vorschrift (§ 34 PrStGB), und sah die gleiche Strafe für Täter und Teilnehmer vor (§ 35 PrStGB). 174 Siehe Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft (Fn. 129), S. 1. 175 § 25 Abs. 1 StGB.

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(Erinnern wir uns noch einmal an die Theorie der „positiven Generalprävention“, die eine ähnliche rhetorische Strategie verkörpert.) So viel zur üblichen Entstehungsgeschichte der deutschen Teilnahmedogmatik.

3. Der Badewannenfall Glücklicherweise gibt es ein alternatives – und interessanteres und vielleicht sogar aufschlussreicheres – Narrativ der Entwicklung der deutschen Teilnahmelehre, das weniger mit dem unvermeidlichen Fortschritt der wissenschaftlichen Forschung zu tun hat als mit dem Wunsch, bestimmte Ergebnisse in Einzelfällen oder Fallgestaltungen zu erreichen oder zumindest zu erleichtern. Diese Ergebnisorientierung drückte sich dann in der offiziellen, scheinbar objektiven Sprache der Strafrechtswissenschaft aus. Die deutlichste und expliziteste Momentaufnahme dieses alternativen Narrativs ist die denkwürdige Geschichte hinter dem dramatischen Wandel der Handlungslehre in einem bekannten Fall vor dem Reichsgericht von 1940: dem Badewannenfall. Wenn diese Geschichte in Standard-Wiedergaben der Entstehung der deutschen Teilnahmelehre auftaucht, dann tendenziell als unterhaltsame aber rechtswissenschaftlich und -dogmatisch belanglose Kuriosität. Bedeutend in diesem traditionellen Narrativ ist nur, dass das Gericht im Badewannenfall die Teilnahmelehre deutlich verändert hat, nicht wie oder warum. Im teleologischen, progressivistischen Geist des Narrativs erscheint der Fall als ein aufschlussreicher Fehler, der die Unrichtigkeit der subjektiven Theorie eindringlich verdeutlicht. Dieser Fehltritt wird dann von ihrem Nachfolger, der Tatherrschaftslehre, behoben. Im Badewannenfall wurde die subjektive Theorie der Teilnahme deutlich zugespitzt, um einen bestimmten Fall zu entscheiden, genauer gesagt, um die Strafe einer bestimmten Angeklagten im konkreten Fall zu begrenzen, indem man ihr das Etikett „Teilnehmerin“ (Variante „Gehilfin“) anstelle von „Täterin“ gab (man erinnere sich, dass Gehilfen im Gegensatz zu Anstiftern einen starken Strafnachlass gegenüber Tätern erhalten). Mit anderen Worten hat das deutsche Reichsgericht eine fundamentale Lehre des deutschen Strafrechts – und der Kern seiner Handlungslehre – für den konkreten, aber verdeckten, Zweck entscheidend verändert, einer einzelnen Angeklagten eine Strafmilderung zukommen zu lassen. Eine junge Frau hatte ihre Schwester gebeten, das zu tun, was sie nicht tun konnte: ihr uneheliches Neugeborenes in der Badewanne zu ertränken, um dem Zorn ihres Vaters zu entgehen.176 Unter der damals herrschenden Teilnahmelehre waren sich die Richter des Reichsgerichts einig, dass die Schwester als „Täterin“ bezeichnet werden müsse, da sie selbst die verbotene Handlung, in diesem Fall

176

RGSt 74, 84 (von 1940).

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Mord, begangen habe. Die Mutter war im Prozess wegen Kindstötung (aufgrund einer inzwischen obsoleten Bestimmung, § 217 RStGB [von 1871]) zum Gefängnis verurteilt worden; ihre Schwester war dagegen wegen Mordes zum Tode verurteilt worden, der damals obligatorischen Strafe für Mord. Laut einem bemerkenswerten (Selbst-)Exposé, das 1954 von einem der Richter nach seiner Pensionierung als „Erinnerung“ veröffentlicht wurde, konnte es der Senat nicht ertragen, „das junge Mädchen“ dem Scharfrichter zu überlassen. Und so zogen sie los, um einen Weg zu finden, das gewünschte Ergebnis zu erzielen. Die Möglichkeit, sich an den „Inhaber des Begnadigungsrechts“ – vermutlich Hitler – zu wenden, wurde als nicht erfolgversprechend abgelehnt. Es ist anzumerken, dass die Richter diese Option nicht „grundsätzlich“ abgelehnt haben, sondern – zumindest nach dem zugegebenermaßen unzuverlässigen Erzähler – aus rein instrumentellen Gründen: Sie hätte nicht das gewünschte Ergebnis gebracht. (Hier ist an den englischen Fall von Dudley and Stephens aus dem späten 19. Jahrhundert zu erinnern, in dem das Gericht wegen Mordes verurteilt und die Todesstrafe verhängt hatte, dann sich aber für eine königliche Begnadigung aussprach, die auch gewährt wurde und zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten führte.) Die Darstellung dessen, was als Nächstes in den Beratungen des Senats diskutiert wurde, ist es wert, ausführlich zitiert zu werden: „Schließlich – nach langer Beratung, in der alle Möglichkeiten eingehend erwogen worden waren – fand sich ein Weg, der die Aussicht zu eröffnen schien, das Mädchen vor der Todesstrafe zu bewahren. Und ich stehe nicht an, einzugestehen, daß ich selbst es gewesen bin, der ihn vorgeschlagen hat. Ich habe die entscheidenden Sätze des Urteils noch in der Sitzung selbst formuliert. Wenn wir, so führte ich aus, das Mädchen davor bewahren wollen, von Henkers Hand zu sterben, bleibt nur ein einziger Ausweg: Wir müssen unsere subjektive Teilnahmelehre auf die Spitze treiben und aussprechen: ‚Gehilfe kann auch sein, wer die tatbestandsmäßige Handlung allein ausführt!‘“177

Und damit war der Fall erledigt. Die Entscheidung, so Richter Hartung weiter, könne im Rahmen einer sich abzeichnenden Rechtsprechung des Reichsgerichts erklärt werden, die damit begonnen habe, die Ermessensspielräume der Gerichte in Fällen der Teilnahme einer gründlicheren Kontrolle zu unterwerfen. Gleichzeitig konnte die Entscheidung, dank ihres „extremen“ Subjektivismus, als „streng im Rahmen des ‚Willensstrafrechts‘“, das von der damaligen „Staatsführung“ favorisiert wurde, dargestellt werden. Um diese post hoc konstruierte dogmatische Rationalisierung zu ergänzen, prüfte der Senat sogar die Möglichkeit, die Entscheidung nicht in die offizielle Entscheidungssammlung aufzunehmen, und so unerwünschte Aufmerksamkeit zu vermeiden. Diese Option wurde verworfen, jedoch wieder nicht aus prinzipien­ geleiteten Gründen, sondern aufgrund instrumenteller Überlegungen: Es hätte sich

177

Fritz Hartung, Der „Badewannenfall“, in: JZ 1954, 430.

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nicht nur als kontraproduktiv erwiesen, da es „leicht so hätte aussehen können, als wollten wir uns um die Verantwortung für das Urteil drücken“, sondern auch als zwecklos, da das Urteil „wahrscheinlich von anderer Seite an die Öffentlichkeit gebracht worden [wäre], wenn wir es nicht selbst veröffentlicht hätten“ (Es konnte keinen anderen Grund geben, den Fall aus der Entscheidungssammlung herauszuhalten, als den Versuch, sich „um die Verantwortung zu drücken“, da er eindeutig eine signifikante Entwicklung in einer zentralen Doktrin des allgemeinen Teils des Strafrechts darstellte.)178 Für den Fall, dass seine Leser es verpasst hätten, betonte Hartung dann den Punkt, dass diese Entscheidung nichts mit dem wissenschaftlichen Streben nach dem richtigen Recht zu tun habe, sondern alles mit der „Rettung eines auf das höchste bedrohte Menschenlebens“. Es ging in der Entscheidung eben nicht um die oft gerügte Ausuferung „lebensfremder Begriffsjuristerei“. Ganz im Gegenteil: Die Richter hatten ihre abstrakt dogmatische Analyse für einen extrem pragmatischen und lebensnahen Zweck verwendet. Die Theorie war kein Selbstzweck. Die Übung in Begriffsjuristerei war das Mittel, um in einem konkreten Fall ein „unerträg­liches“ Ergebnis zu vermeiden. Die Entscheidung kam zuerst, die dogmatische Begründung später, als Teil einer differenzierten Abwägung verschiedener Strategien (dogmatische, politische, theoretische, persönliche, allesamt instrumentell), die darauf abzielten, die Wahrscheinlichkeit zu maximieren, das gewünschte Ergebnis zu erzielen. Und dieses Ziel, so bemerkte Richter Hartung abschließend, sei tatsächlich erreicht worden: In der Neuauflage des Prozesses wurde das „Mädchen“ als Gehilfin eingestuft und entkam damit der Todesstrafe.179 Dieser zwei Zeitschriftseiten umfassende Erinnerungsbericht eines pensionierten Richters verdient mehr Aufmerksamkeit, als er bisher erhalten hat. Er ist natürlich eigennützig und sollte deshalb mit Vorsicht genossen werden. Hartung trat 1937 der nationalsozialistischen Partei bei und war während der gesamten NSHerrschaft – von 1933 bis 1945 – Richter am Reichsgericht, dem höchsten „ordentlichen“ deutschen Gericht (mit Ausnahme des 1934 zunächst als Sondergericht eingerichteten Volksgerichtshofs). Hartung deutete später an, dass das Reichsgericht, einschließlich des Strafsenats, in dem er saß, bestrebt gewesen sei, seine Tätigkeit unter immer schwierigeren Umständen rechtsstaatlich zu gestalten und sogar die Härte der nationalsozialistischen Strafrechtsprechung, insbesondere in Bezug auf die Todesstrafe, abzuschwächen.180 Hartungs Rolle als treibende Kraft hinter der Entscheidung seines Panels im Badewannenfall wird hier als ein wichtiges Beweisstück angeführt.181 Diese Art der Selbstverteidigung, oder besser gesagt, Selbstrechtfertigung, war nach dem Krieg unter ehemaligen NS-Beamten und -Funktionären, und insbeson 178

Hartung, Der „Badewannenfall“ (Fn. 178), S. 431. Ebd. 180 Fritz Hartung, Jurist unter vier Reichen, 1971, S. 95–118. 181 Ebd., S. 114. 179

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dere unter Richtern weit verbreitet.182 Hartung ging jedoch weiter, als er in seiner Autobiographie von 1971 darauf bestand, dass das nationalsozialistische Regime nicht nur einen „wirtschaftliche(n) und nationale(n) Aufschwung“ auslöste, sondern darüber hinaus auch „auf juristischem, insbesondere strafrechtlichem Gebiet (…) Fortschritte von grundlegender Bedeutung“ brachte und „Verbesserungen, die bis heute Bestand haben und aus dem Strafrecht nicht mehr wegzudenken sind.“183 In verschiedenen Entscheidungen, insbesondere in der Stellungnahme des Bundesgerichtshofs von 1952 zum viel zitierten Schuldprinzip, einem Eckpfeiler des heutigen deutschen Strafrechts, erwies sich „die Gesetzgebung der nationalsozialistischen Zeit als fruchtbar und einer gesunden Rechtsentwicklung [auch nach 1945, Erg. d. Verf.] förderlich“.184 Ein weiteres Beispiel wird das bereits erwähnte Gewohnheitsverbrechergesetz von 1933 angeführt, das laut Hartung „auf den Gedankengängen von Liszt“ beruht (für die Hartung während seiner früheren Tätigkeit im preußischen Justizministerium eingetreten sein will)185 und das so genannte zweispurige System von „Strafen“ und (rehabilitativen und unschädlichmachenden) „Maßnahmen“ einschließlich der unbefristeten Sicherungsverwahrung einführte, das, wie Hartung 1971 bemerkt, „im wesentlichen noch heute in Kraft“ ist (und, wie wir hinzufügen könnten, auch noch eine halbes Jahrhundert später).186 Diese Ansichten gehen eindeutig über die üblichen Behauptungen des inneren „Widerstands“ hinaus, was nicht heißen soll, dass sie weniger verbreitet waren. (Wir werden uns später genauer mit der Persistenz der nationalsozialistischen „Fortschritte“ im deutschen Strafrecht nach 1945 befassen.) Jedenfalls hinderten sie Hartung nicht daran, eine bedeutende Rolle bei der Entwicklung des deutschen Rechts der Nachkriegszeit einzunehmen, insbesondere als Kommentator und Lehrbuchautor. Er trat noch nach seiner Pensionierung als Korreferent beim Deutschen Juristentag von 1954 auf, der die Vereinbarkeit einer Strafbarkeit juristischer Personen mit den Grundprinzipien des deutschen Strafrechts (insbesondere dem Schuldprinzip, siehe oben) prüfte – und kategorisch ablehnte. Dort schloss sich Hartung dem Chor der deutschen Strafrechtsexperten der Nachkriegszeit an, die gemeinsam vor der Vorstellung schauderten, der angloamerikanischen Anerkennung eines Unternehmensstrafrechts zu folgen, was ein Zugeständnis an den groben prinzipienlosen Instrumentalismus bedeuten würde, das nicht einmal die NS-Regierung und ihre Hofjuristen ertragen konnten.187 Tatsächlich zitierte 182 Siehe allgemein Markus D. Dubber, Judicial Positivism and Hitler’s Injustice, Colum. L. Rev. 93 (1993), S. 1807. 183 Hartung, Jurist unter vier Reichen (Fn. 181), S. 123. 184 Ebd., S. 103 (mit Diskussion von BGHSt 2, 194 [von 1952]). 185 Ebd., S. 99. 186 Ebd., S. 100. 187 Fritz Hartung, Koreferat zu den Verhandlungen des Vierzigsten Deutschen Juristentages in Hamburg 1953, Bd. II (Sitzungsberichte), 1954, S. E43; siehe allgemein Markus D. Dubber, Zur Geschichte und Theorie der Verbandsstrafbarkeit: Eine kritische Analyse aus rechtsvergleichender Sicht, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 98 (2016), S. 377, 385–386.

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Hartung dort die Entfernung des einzigen Anzeichens einer Unternehmensstrafbarkeit im deutschen Recht, in einer einzigen Vorschrift der deutschen Abgabenverordnung, durch eine Kombination legislativer und richterlicher Interventionen (letztere natürlich durch das Reichsgericht, bei dem er tätig war, mit einer besonderen Expertise auf dem Gebiet des Steuerstrafrechts), „in einer Zeit als der Nationalsozialismus auf dem Höhepunkt seiner Macht war“ als den bestmöglichen Beweis für das „Durchdringen des Schuldgrundsatzes im deutschen Strafrecht“ (bemerkenswerterweise mehr als ein Jahrzehnt bevor der Bundesgerichtshof den Schuldgrundsatz zum ersten Mal in der bereits genannten Entscheidung aus dem Jahr 1952 anerkannte).188 Wie dieser Blick hinter die Kulissen des Badewannenfalles nahelegt, stellt sich heraus, dass es in der alternativen Version der Evolution der deutschen Lehre vom strafrechtlichen Handeln darum geht, wer was und warum getan hat, und nicht um den unaufhaltsamen Marsch der deutschen Strafrechtswissenschaft in Richtung objektiver Richtigkeit, von einer wissenschaftlichen Entdeckung zur nächsten eilend. Es ist eine weitaus chaotischere und verschlungene Geschichte, die sich auf den unzuverlässigen Bericht eines pensionierten NS-Richters stützen muss, der sehr viel zu verlieren (und zu erklären) hatte. Es ist auch eine radikal unvollständige Geschichte, eine Nicht-Geschichte, die in einer properen Strafrechtswissenschaft keinen Platz hat. Hartungs kleines Erinnerungsstück erscheint so als eine nette juristische Plauderei, die allenfalls für die hauptberufliche Rechtshistorikerin interessant sein könnte, die sich mit der Geschichte des deutschen Reichsgerichts beschäftigt. Es hat nichts mit dem Narrativ des deutschen Strafrechts als deutsche Strafrechtswissenschaft zu tun, das – in den wohlpräparierten monochromatischen Fassungen strafrechtlicher Lehrbücher  – eine Darstellung der aktuellen Lehre vor dem sorgfältig kuratierten Hintergrund der von ihr ersetzten Lehren anregen könnte. Um einen Kontext für Hartungs kurze Nachkriegserinnerung an die Beratungen des Senats im Badewannenfall etwa fünfzehn (lange) Jahre zuvor zu finden, muss man den Resonanzbereich der deutschen Strafrechtswissenschaft verlassen. Aus diesem vergleichenden oder zumindest nicht-parochialen Blickwinkel könnte man sich an Richter Hutchesons berühmte Hintergrundgeschichte über die zentrale Rolle der „Intuition“ bei der richterlichen Entscheidungsfindung erinnern, einem klassischen Text des amerikanischen Rechtsrealismus aus dem Jahr 1929: „Ich erinnere mich an einen Fall, im Verfahren eines Patentstreits, in dem mit großer Vehemenz auf der einen Seite argumentiert wurde, dass das Patent eine Erfindung höchster Ordnung belegte, und mit gleicher Vehemenz auf der anderen Seite, dass das fragliche Produkt lediglich ein mechanischer Fortschritt sei, in dem ich fast ohne jegliches Gefühl der Unangemessenheit ankündigte, dass ich den Fall prüfen würde, und nachdem ich alle Schriftsätze, Präzedenzen und Akten „gut und sorgfältig gesehen und untersucht, übersehen, überdacht, überprüft, gelesen und wieder gelesen“ etc. hatte, dass ich eine Weile abwar 188

Hartung, Koreferat (Fn. 188), S. E45.

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ten würde, bevor ich mich entscheide, um meinem Verstand die Gelegenheit zu geben, die Frage auszuspüren (to hunch it out), denn wenn es den Blitz der Erfindung in dem Produkt gab, würde mein Verstand einen Blitz der Antwort zurückgeben; wenn es aber keinen gäbe, würde mein Verstand auf dumpf grübelnde Art nur einen mechanischen Fortschritt finden. Einer der Anwälte, der sich ebenfalls auf seine Intuition (hunch) verließ, lächelte und sagte: „Nun, Euer Ehren, ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie vom Richterpult aus das gesagt haben, was ich schon lange geglaubt habe, aber gezögert habe zu bekennen, dass neben der reinen Willkür der Würfel in gerichtlichen Entscheidungen die beste Chance auf Gerechtigkeit durch die Intuition kommt.“ Der andere Anwalt, mit einer anderen Art von Verstand ausgestattet, sah nur so aus, als wäre er angesichts solcher Torheit nur ungeduldig. Aber ich, der nach üblichem Brauch verfuhr, bekam meine Intuition, entdeckte Erfindung und Patentverletzung, und durch die Praxis der Haarspalterei verwörtelte (bewordled) meine Entscheidung so zur Unterstützung meiner Intuition, dass ich mich in der glücklichen Situation befand, den intuitiven Anwalt durch die Korrektheit meiner Intuition, und den logomanischen Anwalt durch den Zauber meiner Logomantie derart zufrieden gestellt zu haben, dass beide Seiten das Ergebnis akzeptierten und die Sache beendet war.“189

Hutcheson enthüllt hier nicht nur einen Fall gerichtlicher Entscheidung per Intuition, sondern auch die Funktion der veröffentlichten Urteilsbegründung als Ex-post-Rationalisierung dieser Intuition. Hutcheson, ein von Woodrow Wilson ernannter Bundesrichter erster Instanz (federal district judge), der kurzzeitig als Bürgermeister von Houston, Texas, gedient hatte, sieht sich selbst als jemand der ehrliches und unverfälschtes Zeugnis ablegt von der tatsächlichen Methode der richterlichen Entscheidungsfindung im Allgemeinen und nicht nur in diesem einen, außergewöhnlichen Fall. Dabei stellt er nicht nur die begrenzte Relevanz des traditionellen Gegenstands der Rechtswissenschaft, der abstrakten Normen (geschweige denn der abstrakten „wissenschaftlichen“ Normen), kritisch dar, sondern folgert hieraus sogar die Notwendigkeit einer Neuausrichtung der „Methoden des Studiums und der Rechtslehre in unseren großen juristischen Fakultäten“ in Richtung einer „intuitiven Fakultät“.190 Der amerikanische Rechtsrealismus und ein Großteil der amerikanischen Rechtswissenschaft nahm sich Hutchesons kritischen Punkt in Bezug auf die Irrelevanz angeblich autoritärer Normen zu Herzen; sie machten jedoch wenig Fortschritte bei dem von Hutcheson angedeuteten konstruktiven Projekt: das Studium der „wahren“ Faktoren richterlicher Entscheidungsfindung (Intuition, Gerechtigkeitssinn, Klasse, Geschlecht, Rasse, Stimmung, Tageszeit, Frühstücksgewohnheiten usw.). Was am Ende übrig blieb, war eine allgegenwärtige (man könnte sagen ätzende) Skepsis gegenüber der Bedeutung allgemeiner Rechtsnormen bei der Entscheidung konkreter Fälle. Für die deutsche Strafrechtswissenschaft mag der Badewannenfall, mit oder ohne Hartungs Exposé, Vorwürfe bestätigen, dass die subjektive Teilnahme 189

Joseph C. Hutcheson, Jr., The Judgment Intuitive: The Function of the ‚Hunch‘ in Judicial Decision, Cornell L. Rev. 14 (1929), S. 274, 280. 190 Ebd., S. 288.

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lehre wegen ihrer Unfähigkeit zwischen Täter und Teilnehmer klar und „objektiv“ im Hinblick auf den Gesetzeswortlaut („selbst … begeht“) zu unterscheiden, dem richterlichen Ermessen freien Lauf ließ.191 Ohne eine solche „genaue“ und „scharfe“ dogmatische und gesetzlich fundierte Unterscheidung, wie sie sich Beling vorstellte, konnten die Strafrechtswissenschaftler nicht ihre Kontrollfunktion als taxonomische Polizei richterlicher Entscheidungen ausführen. Stattdessen benutzten Richter die subjektive Abgrenzungstheorie, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen, anscheinend sogar bis hin zur Anpassung der Theorie selbst (was eigentlich nicht notwendig gewesen wäre, wenn die subjektive Theorie vor dem Badewannenfall so flexibel gewesen wäre, wie es seine wissenschaftlichen Kritiker behaupteten). Aber diese Lesart von Hartungs Enthüllung verkennt ihr volles subversives Potenzial, das sich erst im Lichte von Hutchesons Realismus-Intervention zeigt. Hartung geht nicht annähernd so weit wie Hutcheson; tatsächlich folgt seine Darstellung der Standardversion korrekter richterlicher Entscheidungsfindung: Erst nachdem der Senat entschieden hat, dass die juristische Phantasie der anwesenden Richter nicht ausreicht, um das gewünschte Ergebnis nach geltendem Recht zu erzielen, gehen diese dazu über, das Recht an die Gegebenheiten anzupassen. Man beachte, dass sie nicht entschieden haben, dass die neue („zugespitzte“ bzw. „überspitzte“) Ausgestaltung der subjektiven Theorie der vorherigen generell vorzuziehen ist, sondern lediglich, dass nur sie in diesem einzelnen Fall „es ermöglichte, ein ungerechtes Urteil zu vermeiden,“192 ohne sich weitere Gedanken über die Auswirkungen auf zukünftige, weniger sympathische Fälle zu machen. Und doch, egal wie bescheiden und harmlos nonkonform der Entscheidungsprozess im Badewannenfall gewesen sein mag, so bringt er doch eine wichtige Einsicht zum Ausdruck, die die deutsche Strafrechtswissenschaft allzu gerne unterschätzt: dass „Regeln keine Fälle entscheiden“, egal wie wissenschaftlich sie sein mögen. Denn die Auslegung und Anwendung einer Norm behält neben ihrer Auswahl und Formulierung ein nicht wegzudenkendes Element des Ermessens bei. Und wo Ermessen ist, ist auch Subjektivität. Auch wenn deutsche Strafrechtswissenschaftler auf ihre eigene Objektivität und die Objektivität ihrer Entdeckungen bestehen, sind Normen nicht selbstausführend und Diskretion kann nicht einfach weggedacht, beseitigt oder gar verboten werden (gemäß dem Legalitätsprinzip, d. h. dem Verfolgungszwang, des deutschen Strafprozessrechts). Der Versuch, die „rechtsgefühlsgeleitete Entscheidungsfreiheit des Richters einzuengen“193 ist weniger radikal, aber auch nicht unbedingt erfolgversprechender.

191

Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft (Fn. 129), S. 666. Hartung, Der „Badewannenfall“ (Fn. 178), S. 431. 193 Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft (Fn. 129), S. 666. 192

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4. Die Taxonomie der Tatherrschaft Diese Einengung bzw. größtmögliche Eliminierung des richterlichen Ermessensspielraums ist jedoch genau das, was Claus Roxin mit seiner Theorie der „Tatherrschaft“ erreichen wollte. Abgesehen von den erwähnten Schwierigkeiten dieses Unterfangens im Allgemeinen, ist allerdings angesichts der Unbestimmtheit der nur „beschreibenden“ Nicht-Definition des zentralen Begriffs „Tatherrschaft“ fraglich, ob Roxins Lehre für diese Aufgabe besser geeignet ist als der subjektive Ansatz oder kaum mehr beträgt, als zwei ebenso inhaltsleere wie bedeutungsvolle (neu-Lateinische) Etiketten, animus auctoris und animus socii, durch eine (wissenschaftliche) Dritte zu ersetzen, Tatherrschaft.194 Selbst wenn es möglich wäre, die richterlichen Ermessensspielräume bei der Anwendung einer bestimmten Norm radikal zu minimieren, wenn nicht gar zu beseitigen, gäbe es nichts, was Roxin oder jemand anderes tun könnte, um die anfängliche Ermessensausübung bei der Auswahl und Formulierung dieser Norm – d. h. des geeigneten und relevanten taxonomischen Instruments – zu beseitigen oder auch nur einzuschränken, mit anderen Worten alles entscheidende freie Entscheidung, die Hartung und seine Kollegen im Badewannenfall ausübten. Tatsächlich hat sich, wie wir in Kürze sehen werden, die langwierige richterliche Ablehnung, die subjektive Theorie zugunsten von Roxins angeblich wissenschaftlich überlegenem Tatherrschaftsansatz aufzugeben, als eine wichtige und langjährige Frustrationsquelle für Roxin und schließlich auch für andere deutsche Strafrechtswissenschaftler (und ihre „herrschende Lehrmeinung“) erwiesen. Es ist eine Sache, eine Theorie zu entwickeln, um die (letzten Endes alles entscheidende und, man sollte meinen, nicht nur unentfernbare, sondern auch in einem modernen „Rechtsstaat“ wünschenswerte, wenn nicht gar lebenswichtige)  richterliche Ermessensfreiheit zu beseitigen; es ist eine völlig andere Sache, Richter dazu zu veranlassen, eben diese Ermessensfreiheit dann so auszuüben, aber auch nur so, um sie nicht auszuüben. Es sei denn, der richterliche Beitrag zum staatlichen Strafsystem besteht nur darin, die wissenschaftlichen Entdeckungen du jour (oder der jeweils „herrschenden Lehrmeinung“ oder möglicherweise nur bestimmter Koryphäen der deutschen Strafrechtswissenschaft?) prompt (aber auch nicht voreilig!) und selbstverständlich korrekt umzusetzen, dann ist hier eine gewisse Überzeugungsarbeit zu leisten. Es geht letztendlich darum, die im wahrsten Sinne des Wortes entscheidende Instanz im staatlichen Strafsystem davon zu überzeugen, ihre Aufgabe (und daher ihre Macht) selbst zu beschränken und an eine andere Gruppe (Strafrechtswissenschaftler, also deutsche Juraprofessoren), die darüber hinaus auch noch außerhalb des staatlichen Strafsystems (und dessen etwaigen Kompetenzstrukturen, -grenzen und -kontrollen und Legitimätsansprüchen) existiert, abzutreten. Auch bemerkenswert ist, dass Roxins angeblich objektive „Beschreibung“ der Tatherrschaft selbst ein Urteil über die richtige (gerechte?) Lösung – d. h. über die 194

Ebd., S. 63 (nicht „animus auctoris“, aber „animus domini“).

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richtige Klassifizierung, gemäß dem taxonomischen Selbstverständnis der deutschen Strafrechtswissenschaft – widerspiegelte, und zwar nicht in Bezug auf eine einzige Person in einem einzigen Fall (durch die Ermöglichung einer Verengung staatlicher Strafmacht), sondern in Bezug auf ein große Anzahl von Personen in einer ganzen Reihe von Fällen (durch die wissenschaftliche Forderung einer Ausdehnung und Verschärfung staatlichen Strafens): NS-Fälle der Nachkriegszeit, in denen Angeklagte wegen systemischer Grausamkeiten angeklagt waren und behaupteten, nur Befehle befolgt zu haben (und daher nicht den animus auctoris hatten). So wie die subjektive Theorie ein geeignetes dogmatisches Hilfsmittel für die nachsichtige Behandlung (durch Klassifizierung als „bloße“ Gehilfen) von Angeklagten in NS-Fällen durch deutsche Richter in den 1950er und 1960er Jahren war, so hätte Roxins rein rechtswissenschaftliche Tatherrschaftstheorie den Richtern das dogmatische Vokabular an die Hand geben können, um ihre Entscheidung, eine härtere Linie gegen Angeklagte in ähnlichen Situationen einzuschlagen, zu „verwörteln“ („bewordle“: Hutcheson).195 Denn es stellte sich heraus, dass nach Roxins wissenschaftlicher „Beschreibung“ der „Tatherrschaft“ jeder, der persönlich die verbotene Handlung begeht, als Täter gilt.196 Ironischerweise sollten deutsche Richter tatsächlich nur wenige Jahrzehnte später von der letztgenannten Möglichkeit Gebrauch machen, allerdings nicht in Fällen, in denen es um NS-Angeklagte ging. Nach 1989 wurden ostdeutsche untergeordnete Angeklagte (insbesondere Grenzschutzbeamte) als Täter verurteilt, obwohl sie ein Vierteljahrhundert zuvor nach der subjektiven Theorie vermutlich als „bloße“ Teilnehmer-Gehilfen (ohne den erforderlichen animus auctoris) eingestuft worden wären. Es kam noch hinzu, dass diese Umklassifizierung von Befehlsbefolgern als Täter dieses Mal nicht ausschloss, dass die Befehlsgeber gleichzeitig weiterhin als Täter eingestuft werden konnten; sie konnten alle Täter sein! Es stellte sich nämlich heraus, dass Roxins Weiterentwicklung (ausdehnende Zuspitzung?) seiner „Beschreibung“ der Tatherrschaft zu der Entdeckung eines neuen Begriffs – der „Organisationsherrschaft“ durch die einprägsame Figur des „Täters hinter dem Täter“ – geführt hatte. So konnten nun Mitglieder der kommunistischen DDR-Führung, die – anders als viele ihrer nationalsozialistischen Vorgänger – den Zusammenbruch ihres Regimes überlebt hatten, zusammen mit den Grenzschutzbeamten, die ihre Anweisungen und Entscheidungen in die Tat umgesetzt haben, als Täter verurteilt werden. Jeder in der „Organisation“ konnte jetzt verurteilt werden, vom kleinen Fisch „Vordermann“ bis zum großen Fisch „Hintermann“, und zwar explizit als Täter; der sich in der neuesten Version der Tatherrschaftslehre manifestierende aktuelle Stand der Strafrechtswissenschaft erforderte dieses Ergebnis. 195 Allerdings scheint Roxins Tatherrschaftstheorie, da sie als eine wissenschaftliche Entdeckung der richtigen Taxonomie und nicht als die bevorzugte Lösung einer substanziellen und offensichtlich strittigen Frage präsentiert wurde, die Möglichkeit einer Ermessensentscheidung (egal in welche Richtung) gänzlich auszuschließen. 196 Im Einklang mit der objektiven Abgrenzungstheorie und dem Wortlaut von § 25 StGB („selbst … begeht“).

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In seiner ausführlichen Abhandlung über die Handlungslehre, die weithin als eine der größten Errungenschaften der deutschen Strafrechtswissenschaft gefeiert wird, betont Roxin durchgängig seine wissenschaftliche Objektivität und kritisiert von diesem abgehobenen Standpunkt wiederholt die Richter, die für ein bestimmtes Ergebnis ihre subjektiven Präferenzen auf die Anwendung der wissenschaftlichdogmatischen Taxonomie einwirken ließen. Diese Anwendung sollte stattdessen ebenso wissenschaftlich objektiv sein wie der Strafrechtswissenschaftler, der sie – im Falle Roxins  – durch Synthese der beiden vorangegangenen taxono­m ischen Methoden durchführt: die objektive und die subjektive Täterschaftslehre. Roxins Tatherrschaftslehre ist daher anderen taxonomischen Ansätzen nicht deswegen vorzuziehen, da sie bessere Ergebnisse liefert. Er ist vorzuziehen, weil sie richtige Ergebnisse liefert. Roxin gilt seit langem als Meister der dogmatischen Taxonomie. Sein bedeutendster Beitrag zur (deutschen) Strafrechtswissenschaft, einem im Jahr 1963 veröffentlichten Traktat, Täterschaft und Tatherrschaft, widmet sich der richtigen Unterscheidung zwischen Tätern und Teilnehmern (oder genauer gesagt Gehilfen) auf der Grundlage der wissenschaftlichen „Bestimmung des Täterbegriffs“ „wie er richtigerweise verstanden werden muß“, und zwar als Tatherrschaft. (S. 3, 107).197 Roxin mag das Etikett nicht geprägt haben, aber nach der Veröffentlichung seiner – zunächst etwa 600-seitigen – Studie hierüber ist sein Name mit dem Tatbestandsbegriff engstens verbunden. Wie Beling es mit dem Begriff des Tatbestandes hielt, so behauptete auch Roxin, keine neue Theorie hervorgebracht zu haben, sondern nur die Bedeutung und Signifikanz des Tatherrschaftsbegriffes richtig erfasst zu haben. Nachdem er dem Tatherrschaftsbegriff ihren Ehrenplatz an der Wurzel der Teilnahmedogmatik zugewiesen hatte, entwickelte Roxin aus ihm eine interne Taxonomie verschiedener Formen der strafbaren Handlung. Roxins Konzept der Tatherrschaft entspringt einer „Synthese aus ontologischer und teleologischer Betrachtungsweise“ (S. 25, § 6), die unter anderem „die dem Recht vorgelagerte sinnhafte Ordnung des Seins“ (S. 24) berücksichtigt. Die Schlüsselfunktion der Tatherrschaft als taxonomisches Werkzeug der Werkzeuge in der Teilnahmelehre wird durch die Roxinsche Entdeckung erschwert, wonach die Tatherrschaft ein „offener Begriff“ sei, der nicht definiert werden könne. Glücklicherweise gibt es allerdings ein komplexes und etwas mysteriöses aber eben „richtiges Verfahren“ um „aus der unmittelbaren Anschauung der Lebenserscheinungen und ihrer Analyse die typischen, im Rechtsstoff selbst angelegten Strukturformen der Herrschaft beschreibend herauszudestillieren“ (S. 251, § 17). Die Unterscheidung zwischen Definition und Beschreibung ist (für Roxin) schwierig zu definieren oder zu beschreiben, außer vielleicht, dass „Beschreibung“ irgendwo zwischen einer „Definition“ und einer „Richtlinie“ [S. 117, 125] (oder „Leitlinie“ [S. 117]) liegt. Man könnte sogar sagen, dass die „Beschreibung“ einen dritten 197 Alle Klammerzitate im Text sind zitiert nach Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft (Fn. 129).

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Weg zwischen „Definition“ und „Richtlinie“ markiert und in diesem Sinne eine („dialektische“?) Synthese der beiden darstellt.198 Und so wirft selbst die Etikettierung der verschiedenen Typen von taxonomischen Etiketten bedeutsame taxonomische Fragen auf. Jedenfalls enthüllt Roxins magnum opus in allen Einzelheiten das Ergebnis seiner wissenschaftlichen „Destillation“ einer „Beschreibung“: nicht irgendeine „‚neue‘ Theorie“ (die leicht zu bilden wäre: S. 120), sondern „eine sachgerechte Ausarbeitung des als richtig erkannten Tatherrschaftsgedankens“ (S. 336). In diesem Fall erweist sich also die taxonomische Vielfalt nicht als Selbstzweck (siehe oben), sondern dient der wissenschaftlichen Destillation der Beschreibung eines zentralen Lehrbegriffs aus einer „ontologischen“ oder „teleologischen“ Perspektive, oder aus beiden gleichzeitig, oder vielleicht sogar einer „Synthese“ der beiden. Wenn die „dem Recht vorgelagerte sinnhafte Ordnung des Seins“ mehrere Dimensionen der Differenzierung erfordert, dann wäre es – so könnte man meinen – einfach unwissenschaftlich, sich mit einem bloßen Einheitsbegriff des untersuchten Seins (oder Phänomens?) zufriedenzugeben. Wie wir bereits erwähnt haben, hat die taxonomische Vervielfachung, neben der wissenschaftlichen Korrektheit, eine weitere Tugend. Sie ermöglicht die taxono­ mische Kontrolle. Die taxonomische Kontrolle oder Überwachung ist ein wichtiger Aspekt der allgemeineren Pflicht, das (deutsche) rechtswissenschaftliche Projekt zu verfolgen. Der Rechtswissenschaftler, der wie Roxin den richtigen Begriff eines dogmatischen Phänomens entdeckt und seine „typischen, im Rechtsstoff selbst angelegten Strukturformen“ zu einer Beschreibung (oder vielleicht sogar eine Definition) herausdestilliert hat, fühlt sich nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet, dafür zu sorgen, dass andere Mitwirkende am dogmatischen Projekt des Strafrechts – also Produzenten, Ausleger, Anwender, das heißt (im traditionellen Weltbild der deutschen Rechtswissenschaft) Professoren, „der Gesetzgeber“, Richter – diese grundlegende Entdeckung übernehmen und umsetzen. Es geht schließlich um nichts Geringeres als die Anerkennung und die Achtung für „ein vorrechtlich gegliedertes, bedeutungshaltiges ontisches Material“ das „der Tatherrschafts­ begriff überall verwendet“ (S. 320), um „‚die Natur der Sache‘“ (in Anführungszeichen) (S. 336) und „die ‚natürliche Auffassung des Lebens‘“ (S. 127), sowie um das Wesen (bzw. wiederum gelegentlich um „das Wesen“) etwa von Begriffen, Gedanken, und Phänomenen, wie, z. B., die „Sache“ (S. 121), die „Teilnahme“ (S. 26), die „Täterschaft“ (S. 120), die „Willensherrschaft“ (S. 144), und natürlich die alles entscheidende „Tatherrschaft“ (S. 319–320). Es stellt sich heraus, dass der Rechtswissenschaftler sich bereits auf der Suche nach dem Wesen (usw.) seines Forschungsgegenstands genötigt sieht, auf seinen (anscheinend direkten und nicht näher zu erläuternden) Expertenzugang auf das Wesen (usw.) anderer Begriffe (usw.) zurückzugreifen. Denn nur so kann der 198

Vgl. Claus Roxin, Sinn und Grenzen staatlicher Strafe, in: Juristische Schulung 1966, S. 377, 387 (dialektische Vereinigungstheorie).

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wissenschaftlich Vorgehende unrichtige Äußerungen Anderer (ob Rechtswissenschaftler oder Richter), die dem Wesen dieser Begriffe anscheinend „nicht gerecht werden“ oder ihn ganz „verfehlen“ (S. 144, 154), auf dem Weg zur richtigen „Beschreibung“ seines Untersuchungsgegenstands verwerfen. Diese wesensfundierte Forschungsmethode kann dann leicht auf die Taxonomiekontrolle der Rechtsprechung (und natürlich auch der Lehre) im Lichte der wissenschaftlichen Entdeckung des richtigen Rechtsbegriffs (z. B. der Tatherrschaft) verwendet werden: Die Gerichtsentscheidung ist letztlich falsch, weil sie (u. a.) dem Wesen der Sache (usw.) nicht gerecht wird. Diese Aufgabe der „ontischen“ (bzw. „,ontischen‘“) Konformitätskontrolle profitiert von der taxonomischen Vielfalt. Je mehr Kategorien und Unterscheidungen es gibt, desto mehr Differenzierung ist erforderlich, und desto mehr Möglichkeiten für eine fein abgestimmte taxonomische Regulierung gibt es. Fehler können in jeder Komponente der taxonomischen Struktur auftreten und müssen diagnostiziert und korrigiert werden. Das falsche Konzept könnte als grundlegend identifiziert werden, das richtige Konzept könnte falsch „destilliert“ werden, die korrekte Destillation seines Wesens könnte zu einer falschen Beschreibung oder Definition mit zu wenigen (oder zu vielen) Merkmalen und Untermerkmalen führen. Auf der Ebene der Interpretation oder Anwendung, paradigmatisch durch einen Richter (Laienrichter spielen in dieser Art von Rechtswissenschaft üblicherweise keine Rolle, möglicherweise weil ihre Wesensschau als noch unschärfer gilt als die eines Berufsrichters oder vielleicht auch nur, weil sie tatsächlich im deutschen Rechtsbetrieb eine nur geringe Rolle spielen), kann die falsche Beschreibung oder Definition (Lehre, Theorie) gewählt werden; selbst wenn die richtige Wahl getroffen wird, kann eine korrekte Beschreibung oder Definition falsch ausgelegt oder falsch angewendet werden, vielleicht weil die Merkmale, die eine Kategorie von einer anderen unterscheiden, nicht richtig verstanden werden, oder, was noch profaner ist, weil die Taxonomie nicht korrekt auf die Fakten eines bestimmten Falles oder einer Fallgruppe angewendet wird (Gefahren, die auch in Rechtsordnungen auftreten, die nicht ganz so – angeblich – hoffnungslos unwissenschaftlich sind wie das angloamerikanische Recht, und wie sie im Dudley and Stephens Fall veranschaulicht werden, auch wenn deutsche Richterämter für Spitzenabsolventen eines stark dogmatischen – also rechtswissenschaftlichen – juristischen Ausbildungssystems vorbehalten sind, so dass man eine gewisse Fachkompetenz voraussetzen können müsste). Es gibt also viel zu tun. Deutschen Strafrechtsprofessoren haben traditionell der taxonomischen Gestaltung viel Zeit gewidmet. Die deutsche Dogmengeschichte kann man sich als einen ständigen Kampf (unter Professoren oder deren „Schulen“) um die taxonomische Vorherrschaft vorstellen. So könnte die bevorzugte Methode eines Professors, den dogmatischen Kuchen, z. B. der Teilnahmelehre, mit einem bestimmten dogmatischen Begriff, z. B. der Tatherrschaft, aufzuteilen, um die Vorherrschaft mit alternativen taxonomischen Ansätzen ringen, die auf taxonomische Methoden, z. B. die subjektive Abgrenzungstheorie, setzen.

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Roxin, als unser Prototyp des deutschen Strafrechtswissenschaftlers, hat sich dieser Aufgabe mit besonderem Schwung gewidmet. In den (mittlerweile)  fast sechzig Jahren seit der Erstveröffentlichung seiner großen Abhandlung, hat er den wachsenden Einfluss und die spätere Dominanz seiner taxonomischen Methode in der deutschen, ausländischen und internationalen Strafrechtslehre akribisch dokumentiert. Das letzte Kapitel von Täterschaft und Tatherrschaft enthält eine regelmäßig aktualisierte Liste der Wissenschaftler, die sich seiner Meinung angeschlossen haben und derjenigen, die es nicht getan haben, und dokumentiert die immer kleiner werdende Größe der letztgenannten Gruppe. (Das Traktat ist ansonsten seit seiner Erstveröffentlichung 1963 unverändert geblieben, trotz einer inzwischen erfolgten vollständigen Überarbeitung des deutschen Strafgesetzbuches einschließlich der einschlägigen Bestimmung über die Täterschaft199.) Während nur wenige wissenschaftliche Gegner der totalen taxonomischen Herrschaft der Tatherrschaftslehre (Tatherrschaftsherrschaft) in Deutschland, Europa und der Welt (oder zumindest die für Roxin und die deutsche Strafrechtswissenschaft relevanten Teile der Welt, d. h. nicht die Welt des Common Law) im Wege stehen, haben sich Gerichte und insbesondere deutsche Gerichte als frustrierend resistent gegen Roxins taxonomische Bemühungen erwiesen. Dieser Widerstand hat den hohen Preis vernichtender Kritik. Roxin beginnt sein Buch mit einer Reihe von Zitaten von teilweise heftigen Angriffen deutscher Rechtsprofessoren auf Richter, die Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts einen „subjektiven“ Ansatz zur Teilnahme favorisierten. Die subjektive Abgrenzungstheorie wurde damals beispielsweise als „eine nicht zu überbietende sophistische Verdrehung des Gesetzes“ und „ein das Gesetz ausschaltendes und im Ergebnis oft krass vergewaltigendes reines Phantasieprodukt“ (S. 1) attackiert. Roxin scheint mit dieser Ansicht zu sympathisieren; die Rechtsprechung mag sich seitdem geändert haben, aber nur in einer Weise, die die Verdrehtheit und Krassheit ihres Festhaltens an einer subjektiven Theorie erhöht (Vorwort, 4. Auflage). Das Versäumnis der Richter, sich der Phalanx der Strafrechtswissenschaftler anzuschließen, die mittlerweile der Tatherrschaftslehre Treue schwören, spiegelt entweder (1) eine Unfähigkeit oder zumindest eine Weigerung wider, eine ordnungsgemäß wissenschaftliche Untersuchung durchzuführen, oder – vielleicht noch unentschuldbarer – die Entdeckungen derer zu akzeptieren, die wie Roxin, über die erforderliche wissenschaftliche Expertise und Einsicht verfügen, oder (2), und das mag dasselbe sein, eine Unfähigkeit oder zumindest eine Weigerung, die objektiven dogmatischen Merkmale eines Falles zu 199 Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft (Fn. 129), S. vii. („Das Buch, das mich durch mein ganzes Professorenleben begleitet hat, ist in seinem Hauptteil (S. 1–545), wie immer, unverändert.“) Roxin spricht dieses Thema beiläufig im Vorwort zur ersten Ausgabe nach der 1975er Reform (4. Aufl. 1983) an. Dort erklärt er, dass die neue Bestimmung seine damals schon zwanzig Jahre alte Abhandlung keineswegs obsolet mache, sondern ganz im Gegenteil ihr mehr Aktualität verliehen habe, indem sie Raum für das Konzept der Tatherrschaft lasse. Vgl. Roxin, Vorwort zur vierten Auflage, in: ders., Täterschaft und Tatherrschaft (Fn. 129), S. viii; vgl. § 42 (im Anhang).

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bewerten, anstatt weiterhin einen opportunistischen, ergebnisorientierten, ja sogar irrationalen („rechtsgefühlsgeleiteten“) Ansatz für die Bewältigung ihrer Aufgabe der Normanwendung anzuwenden (d. h. die richterliche Entscheidungsfindung). Die Zeit der Großen Dogmatiker im amerikanischen Recht ist längst vorbei und im Strafrecht hat es sie nie gegeben. Die fast völlige Verabschiedung vom Projekt „Recht als Wissenschaft“ um die Mitte des 19. Jahrhunderts beendete jeden Anspruch auf den Mantel wissenschaftlicher Expertise oder Objektivität, den es zuvor hätte geben können. Es ist daher unvorstellbar, dass amerikanische Gerichte einer noch so bedeutsamen „rechtswissenschaftlichen“ Entdeckung eines Juraprofessoren Folge zu leisten – oder auch nur Beachtung zu schenken – hätten, geschweige denn, der Entdeckung der Richtigkeit einer ontologisch-teleologischen, objektivsubjektiven Begriffsbestimmung. Selbst die Großen Lehrbuchautoren alter Zeiten hätten sich zum Ziel gesetzt, ihr dogmatisches System aus einer systematischen Darstellung eines bestimmten Rechtsgebiets auf der Grundlage einer Analyse gerichtlicher Präzedenzfälle, gesetzlicher Entwicklungen und der einschlägigen juristischen Literatur zu entwickeln, anstatt aus einer noch so ausführlichen angeblich allein „richtigen“ Beschreibung einer noch so zentralen „offenen“ Rechtsfigur. Es überrascht nicht, dass ein tief verwurzeltes Selbstverständnis überlegener wissenschaftlicher Expertise die Teilnahme an einem transnationalen multilateralen Dialog über gemeinsame legitimatorische Herausforderungen erschweren kann. Juraprofessoren, die sich als Inhaber einer besonderen Autorität auf der Grundlage rechtswissenschaftlicher Expertise betrachten, kann es schwer fallen, ernsthaft mit Juraprofessoren zusammenzuarbeiten, die ähnliche Autoritäts- und Expertise­ansprüche von sich weisen.200 Umgekehrt mögen Common Law Juristen den Eindruck gewinnen, als wären ihre deutschen Kollegen einem bestenfalls unreflektiert antiquierten Selbstverständnis als Verkörperung rechtswissenschaft­licher Objektivität verschrieben, das sie nun daran hindert, an einem offenen Dialog teilzunehmen, der der Überlegenheit des besseren Arguments anstatt des privilegierten Zugangs zur Richtigkeit des Rechts unterliegt. In diesem Zusammenhang ist noch einmal hervorzuheben, dass in einem Projekt wie der rechtswissenschaftlichen Konstruktion der Roxinschen Tatherrschaftslehre die Grenze zwischen hier und dort – zwischen national und ausländisch, national und international, parochial und global  – genauso leicht in Vergessenheit gerät wie die zwischen heute und gestern (z. B. zwischen 1884 und 1946, wie im Dudley and Stephens Fall): Die vergleichende Analyse ist genauso sinnlos wie die histo­ rische Analyse. Die Entdeckung des richtigen Begriffs der Täterschaft ist nicht auf einen bestimmten Ort oder eine bestimmte Zeit oder gar eine bestimmte positive Rechtsordnung beschränkt (z. B. das deutsche Strafrecht um 1963, das Jahr, in dem Täterschaft und Tatherrschaft erstmals erschienen sind). 200 Siehe Markus D. Dubber, Die Anspruchslosigkeit des awissenschaftlichen Strafrechts, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 121 (2009), S. 977.

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Und so zeigt Roxin trotz seines Beharrens auf einer „Beschreibung“ – statt einer neuen Theorie oder auch nur einer „Definition“ – bemerkenswert wenig Interesse an einer detaillierten Analyse des positiven deutschen Rechts und stützt sich stattdessen auf seine Einschätzung des Status quo.201 Auf den über 500 Seiten von Täterschaft und Tatherrschaft (ohne diverse Verzeichnisse und Anhänge) werden die einschlägigen StGB-Bestimmungen (§§ 47–49 [alte Fassung]) nur vereinzelt zitiert, selten diskutiert und noch seltener mehr als oberflächlich diskutiert.202 Nehmen wir zum Beispiel den entscheidenden Moment zu Beginn der Abhandlung, als Roxin sein wichtiges „Leitprinzip“ für die „Bestimmung des Täterbegriffs“ ankündigt: „Der Täter ist die Zentralgestalt des handlungsmäßigen Geschehens“ (S. 25, § 6). Diese Entdeckung soll als „formales Kriterium“ für die Gestaltung der kommenden 500 Seiten der „Synthese aus ontologischer und teleologischer Betrachtungsweise“ (S. 25, § 6) dienen. Roxin behauptet es sei „kaum bestreitbar“, dass dieses wichtige taxonomische Kriterium im Gesetzestext der §§ 47–49 StGB (alte Fassung) Unterstützung findet. Dies zeige laut Roxin die Entschlossenheit „des Gesetzgebers“ an, dass der Täter der „Mittelpunkt und Schlüsselfigur des Deliktsvorgang“ sei und „die Bestimmenden und Hilfeleistenden außerhalb des Zentrums“ stehen. Diese legislative (teleologische)  Wertung falle glücklicherweise mit (ontologischen) „vorrechtlichen Sinnzusammenhängen“ zusammen, die wiederum, so Roxin weiter, die „im Gemeinbewußtsein lebende plastische Vorstellung“ vom Täter als „Hauptfigur“ widerspiegelten, während Anstifter und Gehilfe „am Rande stehen“ (S. 25–26, §§ 5–6). Vielleicht ist das so, vielleicht aber auch nicht. Offensichtlich wird vom Leser erwartet, dass er diese zentralen Behauptungen des Experten-Autors über die Art und relative Zentralität von Konzepten, das „Gemeinbewußtsein“ und – ebenso wichtig – die im Gesetzestext zum Ausdruck kommende Sichtweise „des Gesetzgebers“, ohne weiteres akzeptiert. Nach einem kurzen Hinweis auf die relevanten Gesetzesstellen steht es Roxin nun frei, sich um das eigentliche Kerngeschäft zu kümmern: die Zusammenstellung, Stück für Stück, Thema für Thema, Szenario für Szenario, einer „Beschreibung“ des offenen Begriffs der Tatherrschaft mit Hilfe des gerade enthüllten Kriteriums „Der Täter als Zentralgestalt“. Dieses Kriterium wird mit großem taxonomischen Schwung angewendet, um in der Geschichte (und Gegenwart) der (deutschen) Strafrechtswissenschaft (und Rechtsprechung) die Spreu vom dogmatischen Weizen zu trennen. Die resultierende Beschreibung soll genau das sein, eine Beschreibung, keine Definition, aber eben auch kein Argument. Diese Beschreibung 201

Vgl. Die Diskussion über das Rechtsgutsprinzip, siehe oben Abschnitt C. 1. Siehe Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft (Fn. 129), S. 26, 276–277, 340. Der letzte Abschnitt der Studie (§ 41: „Zur Kodifikation der Täterlehre“) bietet eine Art kodifikatorische Mini-Coda. Sie zitiert und kommentiert kurz einen Gesetzesentwurf und endet mit dem Schlusswort: „[E]in gutes Gesetz dauert in der Zeit. Die Wissenschaft aber schreitet fort, und ihre Arbeit wird nie zu Ende sein.“ 202

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ist bestenfalls richtiger als eine andere (oder, wie in diesem Fall, sogar alle anderen!), aber nicht gerechter, oder legitimer, und das soll sie auch nicht sein.203 Das zentrale taxonomische Kriterium beruht nicht auf einer Theorie der Gerechtigkeit oder Legitimität oder der Rechtlichkeit (z. B. in einem modernen demokratischen „Rechtsstaat“), geschweige denn auf einer daraus abgeleiteten Theorie staatlichen Strafens qua Recht. Stattdessen soll es sich, wie wir gesehen haben, aus einer vom Autor durchgeführten „Synthese zugleich sinnerfassender wie sinngebender“ Betrachtungsweise der Täterschaft ergeben. Die Anwendung dieses betont „formalen“ „Differenzierungsmaßstabes“ (S. 25 § 6) produziert dann die richtige Beschreibung der Tatherrschaft. Dieses richtige Ergebnis muss dann nur noch umgesetzt werden. Die normative Kraft des Richtigen entfaltet sich. Ende der Debatte.

E. Parochiale Rechtswissenschaft als globale Polizeiwissenschaft Wie wir bereits gesehen haben, präsentiert sich Roxins Projekt  – und damit auch das der traditionellen deutschen Strafrechtswissenschaft – als Ausdruck einer Konzeption der Strafrechtswissenschaft im Dienste der Interpretation und Durchsetzung des Willens „des Gesetzgebers“. Dieses Selbstverständnis manifestiert sich sowohl in (wenn auch oft flüchtigen) Bezügen auf gesetzgeberische Normen als auch, was für unsere Zwecke relevanter ist, in Ermangelung einer kritischen Analyse dieser positiven Normen im Hinblick auf das, was als unwissenschaftlich externer – und damit unangemessener – Maßstab von Gerechtigkeit, Legitimität oder Rechtlichkeit gelten mag. Wie Liszt es ausdrückte, ist es die Aufgabe der Rechtswissenschaftler, „die Rechtsregeln, die der Staat aufgestellt [hat], nach der logischen Methode zusammenzufassen und zu zerlegen“;204 sie beschäftigen sich nach Roxins Worten mit „der Auslegung, Systematisierung und Fortbildung der gesetzlichen Anordnungen und wissenschaftlichen Lehrmeinungen“, unterwerfen die Rechtsnormen selbst aber nicht einer externen Legitimitätskritik.205 Dieses positivistische Bekenntnis zur wissenschaftlichen und objektiven Umsetzung des Willens „des Gesetzgebers“ ist mit Vorsicht zu genießen. Man denke nur an die Postulierung von ontologischen Tatsachen, vorrechtlichen Sachverhältnissen, und dergleichen, die von Strafrechtswissenschaftlern objektiv zu eruieren 203

Wenn Hinweise auf die gesetzlichen Bestimmungen zur Mittäterschaft im deutschen Strafgesetzbuch in Roxins Traktat selten sind, so sind Hinweise auf „Gerechtigkeit“ noch seltener. 204 Franz von Liszt, Ueber den Einfluß der soziologischen und anthropologischen Forschungen auf die Grundbegriffe des Strafrechts, in: Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, Bd. 2, 1905, S. 75, 81. 205 Claus Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil, Bd. 1 (Fn. 36), S. 145 m. Fn. 1 (Strafrechtsdogmatik: „Dogmatik ist die Wissenschaft von den Dogmen.“); siehe auch Walter Gropp, Strafrecht Allgemeiner Teil, 4. Aufl. 2015, S. 107–108.

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sind. Weniger auffällig, aber ebenso bezeichnend, ist der tatsächliche Umgang mit gesetzlichen Normen in der rechtswissenschaftlichen Literatur. Erinnern wir uns daran, dass der Gesetzestext in Roxins Abhandlung nur selten vorkommt, z. B., um die ansonsten auffällige Tatsache zu erklären, dass die „umfangreichste Monographie über die Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme im deutschen Strafrecht“ (Einband), die sich dem neuen Durchdenken „des ganzen Problembereichs“ der Unterscheidung von Beteiligungsformen widmet (S. 1–2), nie die alles andere als selbstverständlichen grundlegenden (gesetzlichen) Unterscheidungen in Frage stellt (zwischen Täter und Teilnehmer, genauer gesagt zwischen Täter und Anstifter einerseits und Gehilfen andererseits), die der gesamten langwierigen taxonomischen Untersuchung des Buches zugrunde liegen (S. 1); um gegenteilige Ansichten als jenseits des gesetzlich vorgeschriebenen Pfades oder unvereinbar mit dem positiven Recht abzutun (S. 692); und um im Übrigen kurz darauf hinzuweisen, dass der Gesetzestext – sowohl vor als auch nach der StGB-Reform von 1975 – den methodischen und taxonomischen Ansatz von Roxin widerspiegelt (Vorwort, 4. Aufl.). Über den Bereich der Strafrechtswissenschaft hinaus sind wir bereits dem eigennützigen Beharren auf strengen positivistischen Verpflichtungen, das Richter für ihren Beitrag zum nationalsozialistischen Rechtssystem entschuldigen sollte, begegnet, obwohl die richterliche Begeisterung für positivistische Auffassungen des Rechts und des Richteramts eher selektiv war, je nach dem geltendem Rechtssystem (Weimarer Republik oder NS-Staat) und, auch noch im NS-Staat, je nach Ursprung der betreffenden Rechtsnorm (vor oder nach 1933). Jedenfalls erinnert diese Auffassung von Rechtswissenschaft, sollte man sie für bare Münze nehmen, an das einst zentrale und -übergreifende Vorhaben der „Polizeiwissenschaft“, deren akademische und bürokratische Fachkräfte seit dem siebzehnten Jahrhundert die Ausübung souveräner staatlicher Macht erfasst, untersucht und rationalisiert haben. Diese Ähnlichkeit ist bemerkenswert, da, wie wir bereits erwähnt haben und im nächsten Teil dieses Buches näher untersuchen werden, der moderne Rechtsbegriff in radikalem Widerspruch zur Polizei als Regierungsform entstanden ist.206 In diesem Zusammenhang fällt der Anfang der modernen Rechtswissenschaft (durch Savigny) nur zeitlich mit dem Anfang des Projekts des modernen liberalen Rechts zusammen. Mit anderen Worten, was an der neuen Art der Rechts-Wissenschaft „modern“ war, war nicht ihr Gegenstand (das „Recht“ des Rechtsstaates, im Gegensatz zur Polizei des Polizeistaates), sondern nur ihre Methode („Wissenschaft“). Diese bewusst wissenschaftliche Methode juristischer Forschung war schließlich die historische Analyse, und zwar die historische Analyse einer bestimmten, seltsam akontextuellen Art: Savignys „Historische Rechtswissenschaft“ als antiquarisches Streben nach der Entdeckung klassischer römischer Rechtsnormen, die von redaktionellen Zusätzen und Verzerrungen der Jahrhunderte gereinigt werden sollen, um sie dann als Material für den dogmatischen Systemaufbau zu 206

Siehe allgemein Dubber, The Police Power (Fn. 18).

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verwenden.207 In diesem Zusammenhang war das Recht gerade deshalb eine Wissenschaft, weil es reaktionär war, als ein bewusst apolitisches Forschungsprojekt, eine objektive Oase inmitten der Entstehung eines buchstäblich revolutionären rechts-politischen Projekts, das auf einem neuen Ideal des legitimen, und nicht nur des richtigen Rechts aufbaut. Savigny und seine rechtswissenschaftlichen Kollegen wanden sich dem klassischen römischen Recht nicht zu, weil es als reines Modell des legitimen Rechts fungieren sollte, sondern im Gegenteil, weil es zeitlos abstrakte Rechtsverhältnisse erfasste, völlig unabhängig von der modischen – und vermutlich vorübergehenden – Begeisterung über Autonomie, Gleichheit und Demokratie der zeitgenössischen Politik. In dieser Betrachtung, erscheint die moderne Rechtswissenschaft als eine Wissenschaft des „Rechts“ im vormodernen Sinne, die oft synonym mit Gerechtigkeit, Frieden, Sicherheit, Ordnung und dem Gemeinwohl verwendet wurde, lange bevor das Recht radikal als Antithese zur Polizei, als Manifestation der Entdeckung (bzw. Erfindung) der durch ihre universelle Autonomiefähigkeit definierte „Person“ im rechts-politischen Bereich, neu konzipiert wurde. In einer Rechtswissenschaft als Polizeiwissenschaft stellt allerdings der Versuch, Manifestationen des „allmächtigen Willens“ „des Gesetzgebers“208 einer externen Legitimationskritik zu unterwerfen, einen taxonomischen Fehler, einen Kategorienfehler dar. Die Legitimität staatlichen Handelns liegt nun jenseits des Rahmens einer bewussten wissenschaftlichen Untersuchung. Die Ausübung von Staatsmacht könnte im Hinblick auf gegebene gesetzgeberische Absichten, Ziele und Handlungen gemessen und einer internen Kritik in „teleologischer“ Hinsicht unterzogen werden. Diese interne Analyse kann jedoch nicht mehr als Expertenratschläge und flexible Ermessensspielräume generieren, die der souveräne Gesetzgeber berücksichtigen oder ignorieren kann. Die Untersuchung beginnt und endet mit der vermeintlichen Allmacht des Willens des Gesetzgebers. Deshalb machen nach dem traditionellen Verständnis der deutschen Rechtswissenschaft, insbesondere der deutschen Strafrechtswissenschaft, „drei berichtigende Worte des Gesetzgebers … ganze Bibliotheken … zu Makulatur“.209 Da „der Gesetzgeber“ in dieser Konzeption von der externen Legitimationskritik ganz (und von der internen Kompetenzkritik mit Biss) befreit ist, richtet sich die kritische Leidenschaft des Strafrechtswissenschaftlers stattdessen gegen andere Strafrechtswissenschaftler und gegen Richter. Gefährten werden als Konkurrenten im Projekt der Strafrechtswissenschaft behandelt, wo einzelne Wissenschaftler und deren Schulen um die taxonomische Vorherrschaft streiten.

207 Siehe Markus D. Dubber, Legal History as Legal Scholarship: Doctrinalism, Interdisciplinarity, and Critical Analysis of Law, in: Markus D. Dubber / Christopher Tomlins (Hrsg.), The Oxford Handbook of Legal History, 2018, S. 99. 208 Vgl. Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft (Fn. 129), S. 277. 209 Julius v. Kirchmann, Die Werthlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft, 1848, S. 17.

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Richter verirren sich nicht nur in ihrem Streben nach wissenschaftlichem Fortschritt; sie behindern diesen Fortschritt, indem sie die Entdeckungen der wahren Rechtswissenschaftler nicht umsetzen: der Juraprofessoren. Wie wir gesehen haben, kann ihr Verhalten so ungeheuerlich sein, dass sie Rechtswissenschaftler zur Kritik geradezu provozieren, wenn sie sich z. B. einer „nicht zu überbietenden sophistischen Verdrehung des Gesetzes“ schuldig machen oder gar „ein das Gesetz ausschaltendes und im Ergebnis oft krass vergewaltigendes“ Urteil vorlegen (s. oben). Die Autorität des deutschen Rechtswissenschaftlers gegenüber Richtern und anderen staatlichen Amtsträgern hat also zwei Quellen: Wahrheit und Macht (oder um es mit den bekannten Roxinschen Begriffen zu sagen, Ontologie und Teleologie). Ontologische Fakten, die sich aus angeblich „vorrechtlich gegliedertem, bedeutungshaltigem ontischen Material“ (S. 320) zusammensetzen, geben sogar „dem allmächtigen Willen des Gesetzgebers“ (S. 277) einen Rahmen. Sie bilden die objektive Grundlage für die subjektiven Urteile des Gesetzgebers, wobei Rechtswissenschaftler als (selbsternannte)  Hüter der Objektivität fungieren. Diese objektiven Tatsachen werden jedoch nicht im Hinblick auf die Legitimität des Handelns des Gesetzgebers dargestellt, sondern auf dessen Möglichkeit. Nicht einmal der Gesetzgeber kann die Natur oder das Wesen „der Sache,“ bzw. die Natur der Handlung oder das Wesen der Täterschaft (die selbstverständlich jeweils nur von Rechtswissenschaftlern eruiert werden können) außer Acht lassen. Und so stellen sich Rechtswissenschaftler auch als Hüter der Objektivität in den Dienst des abstrakt-monolithischen „Gesetzgebers“: Sie verhindern einfach, dass er das ontologisch Unmögliche versucht, dass er sich gegen „die Natur der Sache“ stellt. Aus dieser Perspektive erscheinen Rechtsprofessoren als im Gegensatz zum „Gesetzgeber“ unerschütterlich objektiv; sie verzichten auf eigene subjektive „Bewertungen“, um die „des Gesetzgebers“ besser erkennen, auslegen und umsetzen zu können. In dieser Weltanschauung erscheint die Knappheit – und Unvollständigkeit – des gesetzlichen Rahmens nicht als beunruhigende Verletzung des Gesetzlichkeitsprinzips, sondern als vorsätzliche Unterlassung, die es Rechtswissenschaftlern erlaubt, ihre ergänzende Aufgabe zu erfüllen, nämlich zu entdecken, zu eruieren, zu interpretieren, zu systematisieren und zu entwickeln. „Der Gesetz­ geber“ hat der Wissenschaft die Aufgabe übertragen, das dogmatische Fleisch wissenschaftlich auf die Knochen des Gesetzestextes zu packen. Viele Schlüssel­ begriffe bleiben völlig undefiniert, andere weniger definiert als angedeutet. Vorsatz und Fahrlässigkeit fallen in die erste Kategorie, Täterschaft, Roxins Interessengebiet, in die zweite Kategorie. Der aktuelle Abschnitt „Täterschaft“ (§ 25 StGB) des Strafgesetzbuches bietet in seiner Gesamtheit: (1) Als Täter wird bestraft, wer die Straftat selbst oder durch einen anderen begeht. (2) Begehen mehrere die Straftat gemeinschaftlich, so wird jeder als Täter bestraft (Mittäter).

E. Parochiale Rechtswissenschaft als globale Polizeiwissenschaft 

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Und selbst diese Bestimmung ist aufwendiger als ihre Vorgängerin (§ 47 StGB alte Fassung), die im ersten Jahrhundert (1871–1975) des StGB erschien und in Kraft war, als Roxin 1963 sein großes Werk über die Teilnahme veröffentlichte. Wenn Mehrere eine strafbare Handlung gemeinschaftlich ausführen, so wird Jeder als Thäter bestraft.

Da sich die Rechtswissenschaftler als Hilfs-Gesetzgeber stilisiert haben, sowohl in dem Sinne, dass ihnen vom Gesetzgeber bestimmte rechtsgenerative Funktionen übertragen wurden, als auch in dem Sinne, dass sie mit der Pflege und Durchsetzung der vom Gesetzgeber erzeugten Normen betraut sind, widersetzen sich Staatsbeamte – vor allem Richter –, die sich ihren wissenschaftlichen Entdeckungen verschließen, letztlich dem „Willen des Gesetzgebers“. Fügt man dieser delegierten teleologischen Autorität (Macht) die ursprüngliche ontologische Autorität hinzu, die sich aus dem besonderen Zugang der Rechtswissenschaftler zu ontologischen Fakten (Wahrheit) ableitet, so wird die Frustration – und Bestürzung – der Rechtswissenschaftler, die sie angesichts hartnäckigen richterlichen Widerstands fühlen dürften, verständlich. Richter befinden sich häufig in der unbequemen Lage, sich unter konkurrierenden wissenschaftlichen Entdeckungen konkurrierender Wissenschaftler oder Schulen entscheiden zu müssen. Hat ein Wissenschaftler oder eine Schule die Vorherrschaft über alle anderen Wettbewerber erlangt und kann das Etikett „herrschende Meinung“ beanspruchen, wie es Roxin in den letzten fast sechzig Jahren seit der Veröffentlichung von Täterschaft und Tatherrschaft mit seiner Version der Tatherrschaftslehre gelungen ist, verschärft sich der Druck auf die Justiz, sich anzupassen. Wenn die Rechtsprofessoren, ausgestattet mit Autorität, die in Wahrheit und Staatsmacht verwurzelt ist, einen objektiv-wissenschaftlichen „ontologisch-teleologischen“ Konsens erreicht haben, wie können es die Gerichte wagen, Fakten und Normen im Wege zu stehen? Wenn man nun wieder einmal kurz das deutsche taxonomische System der Strafrechtswissenschaft verlässt, um einen Blick auf den Bereich der in diesem Buch erörterten vergleichenden oder transnationalen Analyse zu werfen, könnte man meinen, dass sich hier deutsche Strafrechtswissenschaftler weniger privilegiert fühlen würden, da sie nicht mehr den Status eines Hilfsgesetzgebers geltend machen könnten. Aber die Beschränkung ihrer Befugnisse auf das deutsche Strafrecht ist angesichts der anderen – und noch grundlegenderen – Quelle ihrer Autorität leicht zu vergessen: dem wissenschaftlichen Bekenntnis zu Objektivität und Wahrheit. Wenn man überzeugt ist, die wahre Bedeutung von „Straftat“, „Handlung“, „Täter“, „Strafe“ usw. erkannt zu haben, entfällt der Unterschied zwischen deutschem Strafrecht und Strafrecht überhaupt, über die Zeit und über den Raum hinweg. Am Ende erweitert sich das Projekt der nationalen taxonomischen Kontrolle zu dem Projekt der globalen taxonomischen Kontrolle. Und so wird es zur Pflicht eines deutschen Strafrechtswissenschaftlers in den Jahren 1936, 1946 und sogar 1995, den vermeintlich determinierenden taxonomischen Fehler zu diagnostizieren in – z. B. – einer englischen Gerichtsentscheidung von 1884 über einen Fall von

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Kap. 2: Die Rhetorik des Strafrechts 

Kannibalismus auf hoher See, um so das Licht der Wissenschaft auf ein bemitleidenswertes Rechtssystem zu lenken, das es nicht geschafft hat, eine eigene Strafrechtswissenschaft entwickeln. Aus dieser Perspektive der parochialen Strafrechtswissenschaft als globale Polizeiwissenschaft wird der Dudley and Stephens-Fall zu einer weiteren dogmatischen Lernstunde, über zeitliche und räumliche Grenzen hinweg, für wissenschaftlich Unterentwickelte. Eine so konzipierte deutsche Strafrechtswissenschaft wäre weit entfernt davon, eine konstruktiven Beitrag zu leisten zu dem notwendigen grundlegenden und multilateralen transnationalen Diskurs über die drängende – und noch unbeantwortete – Frage, die jeden modernen liberalen demokratischen Staat konfrontiert: die Legitimität staatlichen Strafens qua Recht.

Teil II

Der doppelte Strafstaat: Zur kritischen Analyse des Strafrechts

Kapitel 3

Recht und Polizei als Herrschaftsmechanismen In diesem Buch geht es um das kollektive Versäumnis, sich der grundlegenden und ständigen Herausforderung der Legitimation der Bedrohung und Anwendung von Strafgewalt in modernen liberalen Staaten zu stellen. Im ersten Teil untersuchten wir verschiedene Wege, wie es der Strafrechtslehre und -forschung gelungen ist, den nötigen anhaltenden Kampf um die Legitimierung eines so prima facie illegitimen staatlichen Handelns nicht zu führen: der gewaltsamen Verletzung der Autonomie genau der Personen, auf deren Autonomie die Legitimität des Staates in einem Rechtsstaat ruhen soll. Der erste Teil konzentrierte sich hauptsächlich auf das deutsche Strafrecht und die deutsche Strafrechtswissenschaft, mit gelegent­ lichen vergleichenden Blicken über das deutsche Strafrecht hinaus. In Teil II untersuchen wir einen alternativen Ansatz für den strafrechtlichen Diskurs – unter Forschern, Praktikern, Amtsträgern und „Laien“ –, der die Legitimitätsherausforderung des modernen Strafrechts in den Vordergrund stellt. Hier geht es um eine bestimmte Art und Weise über Strafrecht zu denken und sprechen: Eine kritische Analyse des Strafrechts in einem doppelten Strafstaat. Diese Methode wird durch die Anwendung auf eine Reihe von Fragen des staatlichen Strafens dargelegt und veranschaulicht. Es geht darum, Fragen zu formulieren und Werkzeuge für ihre Beantwortung zu entwickeln, anstatt vorgefertigte Antworten zu liefern. Der Ansatz in diesem zweiten Teil ist systemisch; er konzentriert sich auf das gemeinsame Ideal und die Geschichte von Staaten, die zusammen das moderne liberale rechtlich-politische Projekt ausmachen. Der dritte und letzte Teil des Buches wird die Analyse des doppelten Strafstaates nutzen, um eine vergleichend-historische Analyse des amerikanischen Strafregimes zu skizzieren. Mit vergleichenden Blicken nach Deutschland werden wir zwischen zwei Antworten auf die gemeinsame Herausforderung der Legitimation staatlicher Strafmacht in einem modernen liberalen demokratischen Staat unterscheiden: (1) das Versäumnis, die legitimatorische Herausforderung der modernen staatlichen Strafmacht anzuerkennen (USA) und (2) das Versäumnis, die legitimatorische Herausforderung der modernen staatlichen Strafmacht als kontinuierliche und umfassende existenzielle Bedrohung für die Legitimität des Staates zu behandeln (Deutschland). Dieses Buch ist ein Beitrag zur kritischen Analyse des Rechts (Critical Analysis of Law). Die kritische Analyse des Rechts geht von der Vorstellung aus, dass Recht ein Mechanismus der Herrschaft ist, eine Konzeption (Technik, Logik, Ratio) der Staatsmacht. Genauer gesagt, behandelt es das Recht als einen Herr-

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schaftsmechanismus – oder der Gouvernementalität, um Foucaults sperrigen, aber hier nützlichen Begriff zu verwenden –, der sich von einem anderen Herrschafts­ mechanismus, der Polizei, unterscheidet. Genauer gesagt, betrachtet sie das moderne Recht als während der langen Wende des 19. Jahrhunderts aus dem ausdrücklichen Widerspruch zur Polizei hervorgegangener Herrschaftsmechanismus. Anders ausgedrückt, versteht das vorliegende Buch das moderne Recht als eine Erfindung der Aufklärung, die das rechtlich-politische Projekt der westlichen liberalen Demokratien hervorgebracht hat und immer noch prägt: den Rechtsstaat (bzw. den Staat unter der rule of law) im Gegensatz zum Polizeistaat. Zur Verdeutlichung: Die „Polizei“ in diesem analytischen Rahmen ist der einst allbekannte, aber heute oft verschleierte, umfassende Begriff der willkürlichen und patriarchalischen souveränen Herrschaft. Ein Begriff, der beispielsweise Thomas Jeffersons Einrichtung einer Professur für „Law & Police“ am College of William & Mary 17791, dem immer noch zentralen Begriff der „Polizeimacht“ (police power) im amerikanischen Verfassungsrecht („Die wesentlichste, drastischste und stets eine der am wenigsten einschränkbare Regierungsmacht.“2), dem europäischen Projekt der Polizeiwissenschaft (science de la police), die sich seither in die dogmatischen Kategorien „Polizeirecht“ und „Verwaltungsrecht“ verwandelt hat, sowie William Blackstones Konzept der „öffentlichen Polizei und Ökonomie“ zugrunde liegt, in seinen im gesamten angloamerikanischen Raum einflussreichen Commentaries on the Laws of England (1769) definiert als „die angemessene Regelung und häusliche Ordnung des Königreichs, wonach die Individuen des Staates, wie die Mitglieder einer wohlregierten Familie, verpflichtet sind, ihre Lebensweise den Regeln des Anstands, der guten Nachbarschaft und der guten Manieren anzupassen und sich anständig, fleißig und unanstößig zu verhalten.“3

Im Rahmen dieses allgemeinen Projekts wird in der vorliegenden Studie eine kritische Analyse der Strafrechtsmacht des Staates aus der Perspektive von Recht und Polizei vorgestellt und veranschaulicht. Die dualistische Analyse der Strafmacht aus der Perspektive von Recht und Polizei ergibt eine umfassende Darstellung des doppelten Strafstaates. Das Strafrecht ist die eine Seite dieses (wenn man so will, janusköpfigen) Konzepts, die Strafpolizei die andere. Genauer gesagt, konzentriert sich dieses Buch auf die kritische Analyse des doppelten Strafstaates aus der Perspektive des Rechts, d. h. eine kritische Analyse des Strafrechts, innerhalb des weiteren Rahmens der Unterscheidung von Recht und Polizei. Dieses Buch verfolgt einen vergleichend-historischen Ansatz: Es behandelt die Unterscheidung zwischen Recht und Polizei als historisch und systemisch verortet und konstruiert, anstatt sie als deus ex machina der einen oder anderen Art hervorzuzaubern oder einfach als selbstverständlich hinzunehmen. Die Unterscheidung 1

Thomas Jefferson, A Bill for Amending the Constitution of the College of William and Mary, and Substituting More Certain Revenues for Its Support, 1779. 2 Constitutional Law, 16A Am. Jur. 2d § 317. 3 William Blackstone, Commentaries on the Laws of England, Bd. 4, 1769, S. 162.

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zwischen Recht und Polizei, die in diesem Buch angewandt wird, ist an einem bestimmten historischen Moment innerhalb eines bestimmten rechtlich-politischen Projekts angesiedelt: dem aufklärerischen Projekt der westlichen modernen liberalen Demokratien oder kurz gesagt, dem „liberalen“ Projekt. Die für das liberale Projekt charakteristische Neukonzeption der Staatsmacht, ausgelöst durch die Erfindung der Autonomie als Eigenschaft, die allen Personen (als solche) gemeinsam ist, stellte eine grundlegende kritische Herausforderung für die Legitimation der Staatsmacht dar, das Paradoxon der Staatsmacht. In seiner schärfsten Form, als strafrechtliches Paradoxon, erforderte diese Herausforderung die Legitimation der Staatsmacht in Bezug auf jene Personen, deren Autonomie sie durch die Androhung und Verhängung von Strafsanktionen bewusst verletzte. Innerhalb des breiten, aber auf diese Weise auch begrenzten systemischen Kontexts moderner westlicher liberaler Demokratien widmet sich dieses Buch insbesondere dem amerikanischen und deutschen Strafsystem, um verschiedene Möglichkeiten der Gestaltung und Auseinandersetzung mit dem strafrechtlichen Paradoxon zu untersuchen. Mit anderen Worten, ist es sowohl im breiten (aber auch begrenzten) Sinne vergleichend, indem es eine kritische Analyse des Strafens qua Recht über die Grenzen nationaler Rechtsordnungen hinweg durchführt, als auch im engen Sinne, indem es sich auf zwei bestimmte nationale Rechtssysteme konzentriert (Deutschland und die USA).4 Das sind die beiden nationalen Strafregelungen, die ich am besten kenne; sie können auch als einigermaßen repräsentativ für die beiden Gruppen von Jurisdiktionen angesehen werden, von denen traditionell gesagt wird, dass sie das westliche rechtlich-politische Projekt spalten – und gemeinsam erfassen: „Civil Law“ und „Common Law“.5 Das vorliegende Buch konzentriert sich in Teil III vor allem auf eine kritische Analyse des amerikanischen Strafens und widmet sich vor allem aus Gründen des Vergleichs dem deutschen Recht; das Thema – eine genealogische kritische Analyse der staatlichen Strafmacht – ist einfach zu umfangreich um hier eine ausgewogenere und konsequentere vergleichende Analyse zu ermöglichen. Auch die Behandlung des amerikanischen Strafregimes wird angesichts seines Umfangs oberflächlich bleiben; die Diskussionen über Aspekte des deutschen Strafrechts werden noch oberflächlicher ausfallen müssen. Die gute Nachricht – oder vielmehr die Hoffnung – ist, dass, wenn der vergleichend-historische Ansatz anregend und nützlich genug ist, um weiter ausgearbeitet zu werden, er die Grundlage für eine eingehendere Auseinandersetzung mit bestimmten Strafordnungen auf der einen 4 Begrenzt, weil sie nicht das faszinierende, aber noch schwierigere Projekt einer vergleichenden Analyse mit anderen, nicht-westlichen, rechtlich-politischen Projekten behandelt. 5 Das vorliegende Buch folgt in diesem Zusammenhang dem Ansatz aus Markus D. Dubber /  Tatjana Hörnle, Criminal Law: A Comparative Approach, 2014, das eine vergleichende Parallelanalyse der grundlegenden Lehren des US-amerikanischen und deutschen materiellen Strafrechts, unter besonderer Berücksichtigung des allgemeinen Teils und seiner Grundprinzipien, bietet.

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Seite und mit ihren gemeinsamen Idealen und Verpflichtungen auf der anderen Seite schaffen kann. Am Ende, oder zumindest langfristig, setzt ein vergleichendhistorischer Ansatz zu einem gemeinsamen Thema (hier die dualistische Analyse der Strafmacht) die Agenda nicht für ein einziges Forschungsprojekt, sondern für einen transnationalen und vielleicht schließlich globalen Dialog: eine nicht-­ parochiale Disziplin des Strafrechts.6 Die Unterscheidung zwischen Recht und Polizei mit den Ursprüngen des rechtlich-politischen Projekts der modernen westlichen liberalen Demokratien zu verbinden, bedeutet nicht, dass es zu diesem Zeitpunkt plötzlich, wohlgeformt und geschichtslos, entstand.7 Im Gegenteil, die Genealogie der Unterscheidung geht auf die Ursprünge westlicher Konzeptionen und Praktiken der Herrschaft im antiken Athen zurück. Die Unterscheidung zwischen Recht und Polizei ist also in zweierlei Hinsicht historisch: Zeitübergreifend betrachtet, ist sie die moderne Manifestation zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt einer grundlegenderen Unterscheidung zwischen den Regierungsformen, die auf die Unterscheidung 6

Es gibt keinen Grund, warum die untersuchten spezifischen Strafordnungen (penal jurisdictions) auf „nationale“ oder „staatliche“ Ordnungen beschränkt werden sollten. Ein vergleichend-historischer Ansatz offenbart sehr schnell die zeitliche und räumliche Vielfalt der jeweiligen Strafordnungen. Denken Sie zum Beispiel an die Vielzahl von Strafrechtsordnungen in den Vereinigten Staaten von heute, die von Universitäten über Städte, Gemeinden, Bundesstaaten bis hin zur Bundesregierung ( federal government) reichen (die im Übrigen ihren Status als Nationalregierung, geschweige denn als Nationalstaat, im US-amerikanischen Föderalismus nachdrücklich verneint). Vor 1871 gab es kein „deutsches“ Strafrecht, es sei denn im Sinne eines „gemeinen deutschen Strafrechts“ von unbestimmter Tragweite, Inhalt und Relevanz, angesichts des Aufkommens umfassender Kodifikationen in einzelnen deutschen Staaten, z. B. in Österreich (1768/1787), Preußen (1794) und Bayern (1813), und der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation (1806). Siehe Carl Georg von Wächter, Gemeines Recht Deutschlands insbesondere Gemeines Deutsches Strafrecht: Eine Abhandlung, 1844. Darüber hinaus offenbart eine weitgespannte historische Analyse wie in der vorliegenden Studie des „staatlichen“ Strafens nur einen („modernen“) Fall einer besonders akuten Manifestation der grundlegenden Herrschaftsformen, die in der Unterscheidung und Wechselbeziehung zwischen der Regierung des athenischen Stadtstaates einerseits und den Haushalten innerhalb des Stadtstaates andererseits wurzeln. All dies soll natürlich nicht den Eindruck erwecken, dass die Anwendung des in diesem Buch dargelegten Ansatzes Antworten auf die vielen Fragen geben wird, die beispielsweise zur Legitimität (ganz zu schweigen von den institutionellen und dogmatischen Besonderheiten) der bestehenden Systeme des transnationalen Strafrechts gestellt werden, vom internationalen Strafrecht ganz zu schweigen. Unser Ansatz kann allenfalls eine andere Art und Weise vorschlagen, diese Fragen zu formulieren oder sie in einen längeren und umfassenderen Kontext zu stellen, indem sowohl die grund­ legenderen und seit langem bestehenden Spannungen (zwischen Heteronomie und Autonomie), um die es geht, nachgezeichnet werden, als auch die Legitimitätsherausforderung spezifiziert wird, der sich der moderne liberale Staat im Allgemeinen und in Bezug auf seine Strafmacht im Besonderen zu stellen vorgab. 7 Für eine weitergehende Genealogie von Polizei als Herrschaftsmechanismus, siehe M ­ arkus D.  Dubber, The Police Power: Patriarchy and the Foundations of American Government, 2005; siehe auch Markus D. Dubber / Mariana Valverde (Hrsg.), The New Police Science: The Police Power in Domestic and International Governance, 2006. Für eine kritische Beurteilung, siehe Lucia Zedner / Ian Loader, Police Beyond Law, in: New Crim. L. Rev. 10 (2007), S. 142.

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zwischen dem öffentlichen Bereich des Stadtstaates (agora) und dem privaten Bereich des Haushalts (oikos) zurückzuführen ist, die jeweils durch Autonomie bzw. Heteronomie gekennzeichnet sind. In der Öffentlichkeit regierten die Hausväter sich selbst (und einander); im eigenen Haus regierten sie andere, die als nicht regierungsfähig galten. Die Herrschaft des Stadtstaates beruhte auf Überzeugungskraft durch Rhetorik; Haushaltsherrschaft stützte sich auf Macht durch Gewalt. Der Stadtstaat war der Bereich der Gerechtigkeit; das Haus war (bestenfalls) der Bereich der Umsicht oder Klugheit. Die Geschichte von der Unterscheidung, und doch entscheidenden Wechselbeziehung, von Heteronomie und Autonomie, privat und öffentlich, Klugheit und Gerechtigkeit, ist an sich faszinierend, ebenso wie ihr Weg vom klassischen Athen durch das republikanische und imperiale Rom und dann das lange Mittelalter. Da ich an anderer Stelle versucht habe, dies in größerer (aber immer noch unzureichender) Ausführlichkeit zu verfolgen, spulen wir hier kurz bis zum Ende dieses Narrativs vor. Vorbei an den Unterschieden zwischen familia und forum bei den Römern, zwischen privater heteronomer Haushaltsführung durch den („bonus“, „prudens“ oder „diligens“) pater familias mit seiner patria potestas, einschließlich der gewaltigen Macht vitae necisque und der Noxalbefugnis,8 und der öffentlichen Selbstverwaltung der Hausväter (wenn auch zunehmend fiktional statt tatsächlich9), über die Ausweitung der patriarchalischen Herrschaft auf den römischen Staat als Makrohaushalt unter dem Kaiser als pater patriae und weiter zur mittelalterlichen Macht von mund oder Frieden (frith) des Hausvaters über seinen (egal wie kleinen) Haushalt, den Aufstieg „großer Häuser“ unter der Führung von „großen Männern“, deren Frieden es schaffte, den Frieden der geringeren Hausväter, durch die Verbreitung eines gemeinsamen (Königs-)Rechts und eines gemeinsamen (Königs-)Friedens, zu integrieren.10 Beginnen wir also mit der Festigung, Rationalisierung und Bürokratisierung der patriarchalischen Herrschaft über den Makrohaushalt unter dem König als „Vater“ 8

Theodor Mommsen, Römisches Strafrecht, 1899, S. 16 („Die schrankenlose Gewalt des Hausherrn über die Hausangehörigen ist derjenigen des Staats über die Gemeindeangehörigen wesentlich gleich; es genügt dafür zu erinnern an das in beiden gleichmässig enthaltene Recht über Leben und Tod und an die gleichartige Noxalbefugniss.“). 9 Clifford Ando, The Origins and Import of Republican Constitutionalism, in: Cardozo L. Rev. 34 (2013), S. 917. 10 Frederick Pollock, The King’s Peace, in: Law Q. Rev. 37 (1885), S. 1; William Stubbs, The Constitutional History of England in Its Origin and Development, Bd. 1, 1875, S. 180–182. Das Konzept des „civil peace“ (oder der „civil order“) spielt eine Schlüsselrolle in Lindsay Farmers neuer historisch-theoretischer Darstellung der Entstehung des modernen Strafrechts, die von Neil MacCormicks Ansicht inspiriert ist, dass „Frieden und Zivilisation als Voraussetzungen für Gerechtigkeit angesehen werden sollten, und dass die gerechte Verhängung von Strafen erst dann stattfinden kann, wenn entsprechende Institutionen geschaffen worden sind“; siehe Lindsay Farmer, Making the Modern Criminal Law: Criminalization and Civil Order, 2016, S. 24 (mit Zitat von Neil MacCormick, Institutions of Law: An Essay in Legal Theory, 2007, S. 218).

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seines Volkes und „pater familias der Nation“ (Blackstone)11 im 17. und 18. Jahrhundert und der damit einhergehenden Entstehung der Projekte der „politischen Ökonomie“ und, vor allem in Kontinentaleuropa, der „Polizeiwissenschaft“. Die moderne Idee des Rechts, die für einen Rechtsstaat in unserem Sinne charakteristisch ist, entstand im kritisch geschärften Gegensatz zu dem für den „Polizei­staat“ charakteristischen Begriff der Polizei, vor allem in Deutschland und Frankreich, die mit Hilfe der Polizeiwissenschaft die anspruchsvollste Version eines auf den öffentlichen Bereich „dieser großen Familie, des Staates“ (Rousseau) ausgedehnten ursprünglich privaten Modells der diskretionären Haushaltsherrschaft entwickelt hatten.12 Jahrhundertelang, wenn nicht gar jahrtausendelang, wurden Recht, Gerechtigkeit, Frieden, Sicherheit und Wohlstand innerhalb einer tief verwurzelten patriarchalischen Auffassung von souveräner Macht geltend gemacht.13 Noch im 18. Jahrhundert betraf die Unterscheidung zwischen „Justiz“ und „Polizei“ lediglich die Delegation von Kompetenzen im Bereich des Polizeistaates und seiner Polizeiwissenschaft.14 Die aufklärerische Kritik an der Staatsmacht um die (lange) Wende des 19. Jahrhunderts zog eine scharfe Unterscheidung zwischen Recht und Polizei, und zwischen Rechtsstaat und Polizeistaat als Ausdruck radikal unterschiedlicher umfassender Vorstellungen von Herrschaft. Die Entdeckung oder Postulierung (bzw. Erfindung [Schneebaum]) der Eigenschaft der Autonomie als universelles Merkmal aller Personen als solche und nicht als unterscheidendes Kennzeichen jener wenigen Bürger, deren Hausvaterstatus im privaten Bereich sie zur Selbstverwaltung im öffentlichen Raum berechtigte, stellte den Staat erstmals vor eine Legitimationsherausforderung. Der Staat musste nicht nur zum ersten Mal seine Macht 11

William Blackstone, Commentaries on the Laws of England, Band 4, 1769, S. 176, 127. Jean-Jacques Rousseau, Discourse on Political Economy, in: Roger D. Masters / Judith R. Masters (Hrsg.), On the Social Contract, with Geneva Manuscript and Political Economy, 1978 (zuerst erschienen 1755), S. 209. 13 Für den Versuch, einen signifikanten Unterschied zwischen Frieden und Gerechtigkeit im Hinblick auf den Kampf zwischen Kirche und königlicher Macht im mittelalterlichen Frankreich zu erkennen, siehe Thomas Head, Peace and Power in France Around the Year 1000, in: Essays in Medieval Studies 23 (2006), S. 1. Aber auch hier hätte man die Spannung mit Hilfe einer Unterscheidung zwischen zwei Frieden – dem Gottes- und dem Königsfrieden – und nicht zwischen Frieden und Gerechtigkeit, die entweder synonym oder eng miteinander verbunden behandelt wurden, abbilden können. Diese Darstellung stünde im Einklang mit anderen Versuchen, die rechtlich-politische Geschichte als den Konflikt zwischen den Friedensansprüchen und -gebieten verschiedener Souveräne nachzuzeichnen, der durch die Integration des Friedens des einen (des Fürsten) in den Frieden des anderen (des Königs) gelöst wird. Für eine andere Sichtweise des Verhältnisses zwischen Frieden und Gerechtigkeit als einem Schlüsselmerkmal des „modernen Strafrechts“ siehe Farmer, Making the Modern Criminal Law (Fn. 10). 14 Siehe Johann Christian Pauly, Die Entstehung des Polizeirechts als wissenschaftliche Disziplin, 2000; Peter Preu, Polizeibegriff und Staatszwecklehre: Die Entwicklung des Polizeibegriffs durch die Rechts- und Staatswissenschaften des 18. Jahrhunderts, 1983. 12

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ausübung rechtfertigen, sondern dann auch noch gegenüber genau den Personen, deren Autonomie sein Macht legitimierte. Die Aufklärung formulierte mit anderen Worten das, was man das Paradoxon der Staatsmacht in einer Republik der Subjekt-Objekte nennen könnte. Staatsmacht ist Zwang, und Zwang ist Beeinträchtigung der Autonomie; gleichzeitig ist die Autonomie der Prüfstein für die Legitimität der Staatsmacht. Die Legitimation der Staatsmacht verlangt eine autonome Beeinträchtigung der Autonomie, eine autonome Selbstbeeinträchtigung. Der Polizeistaat, den die Polizeiwissenschaftler im 17. und 18. Jahrhundert eifrig rationalisiert hatten, wurde nun für diese neue Herausforderung per Definition als schlecht gerüstet angesehen. Das Problem mit dem „aufgeklärten“ Polizeistaat von Friedrich II. von Preußen war nicht, dass er hinter seinem Ziel der „guten Policey“ zurückblieb. Das Problem mit dem Polizeistaat war der Herrschaftsmechanismus, der ihn definierte: die im Wesentlichen heteronome Regierung des Staatshaushalts durch den Staats-Hausvater. Das Problem mit dem Souverän des Polizeistaates war nicht, dass er kein bonus pater familias war, sondern dass er ein pater familias war. Aus Sicht der Polizei gibt – und kann – es keine Legitimitätskrise, kein Paradoxon der Staatsmacht geben. Da es an den erforderlichen Kapazitäten fehlt, die neue und radikale Legitimationsherausforderung zu bewältigen, kann nicht erwartet werden, dass die polizeiliche Herrschaft ihr gerecht wird. Die Objekte der Herrschaft sind nicht als autonome Personen konstruiert, sondern als Mitglieder des Staatshaushalts, als Humanressourcen, die der diskretionären und im Wesentlichen unbegrenzten disziplinären Autorität (patria potestas) des Staates qua Hausvater unterworfen sind, die nur fähig sind, beherrscht zu werden, nicht aber, über sich selbst oder andere zu herrschen. Demgegenüber war der Rechtsstaat per Entwurf und Proklamation ein Staat unter der Herrschaft des Rechts („in America THE LAW IS KING“, wie der republikanische Gründungsvater Thomas Paine es ausdrückte, ohne offensichtliche Anzeichen von Ironie)15, wo die Objekte der Staatsmacht auch als dessen Subjekte betrachtet wurden, und die einst den Privilegierten vorbehaltene Autonomie auf alle Personen als solche ausgeweitet wurde – in der Theorie zumindest, mit bemerkenswerten Ausnahmen, die eine große Anzahl von Objekten der Staatsmacht umfassen, denen die erforderliche Fähigkeit zur Autonomie und damit zum Subjektiv-Sein fehlt, darunter nicht nur, wie bekannt, Frauen, Nicht-Weiße oder Arme, sondern auch eine für unsere Zwecke besonders relevante Gruppe: Straftäter. Schon in dieser einleitenden Skizze ist es wichtig zu beachten, dass dieses Bild von der Unterscheidung zwischen Recht und Polizei und zwischen Rechtsstaat und Polizeistaat, Idealtypen kontrastiert, also heuristische Instrumente für eine breite vergleichend-historische Analyse, die im Sinne Webers allgemeine 15

Thomas Paine, Common Sense, 1776, S. 56 (Hervorhebung im Original).

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Merkmale aufweisen, von denen nicht alle in einem bestimmten rechtlich-politischen System, zu einem bestimmten Zeitpunkt vorhanden gewesen sein mögen. Zum Beispiel passt die Unterscheidung zwischen dem Polizeistaat und dem Rechtsstaat nicht so einfach in die englische oder amerikanische rechtlich-politische Geschichte, schon deshalb nicht, weil beide das Thema Staat in irgendeiner Form fleißig vermieden haben. Stattdessen wurden die operativen und entsprechend vagen Begriffe „rule of law“ und „government“ verwendet, wobei das Wort „Staat“ den repressiven autoritären Regimen vorbehalten war, insbesondere Frankreich. Die Engländer vermieden aus dem gleichen Grund generell die Erwähnung des Wortes „Polizei“, ungeachtet der Verwendung des Begriffs durch Blackstone, ganz zu schweigen von seiner weit verbreiteten Verwendung durch schottische Autoren dieser Zeit, darunter Adam Smith und Patrick Colquhoun.16 (Seiner Funktion nach spielt das Konzept des „Friedens“ in der englischen rechtlich-politischen Geschichte eine ähnliche Rolle; der Aufbau einer nationalen Verwaltung zur Aufrechterhaltung des königlichen Friedens antizipiert die Errichtung eines umfassenden Polizeistaates auf dem europäischen Kontinent bzw. in den souveränen amerikanischen Staaten, von denen jeder seine umfassende „Polizeimacht“ (police power) in der New Republic beibehält während die „Bundesregierung“ (federal government) auf begrenzte, ausdrücklich übertragene Befugnisse beschränkt wird.17) Tatsächlich haben sich die Engländer nicht einmal mit dem Begriff „rule of law“ anfreunden können, bis A. V. Dicey ihn im späten 19. Jahrhundert zu einem typisch  – und einzigartig  – englischen Charakterzug erklärte, der den Franzosen (oder, was das betrifft, Frauen oder Nicht-Weißen) bedauer­licherweise abging.18 Dagegen ist die Unterscheidung zwischen Rechtsstaat (état de droit) und Polizeistaat (état de police) in der deutschen und in etwas geringerem Maße in der französischen rechtlich-politischen Geschichte schwer zu übersehen. Dennoch soll dies nicht suggerieren, dass auch dort die Unterscheidung um die Wende zum 19. Jahrhundert vollständig entstanden sei oder dass sie immer in der in diesem Buch beschriebenen Form vorlag.19 16

Siehe Dubber, Police Power (Fn. 7), Kap. 3. Siehe Pollock, The King’s Peace (Fn. 10). 18 A. V. Dicey, Lectures Introductory to the Study of the Law of the Constitution, 2. Aufl. 1886, S. 174. 19 Tatsächlich wird die erste bedeutende Verwendung des Begriffs „Rechtsstaat“ allgemein in einer Abhandlung über „Polizeiwissenschaft“ von Robert von Mohl aus dem Jahr 1832 vermutet, deren Arbeit sich zwischen dem Ende des Projekts der Polizeiwissenschaft und dem Beginn des Projekts des Verwaltungsrechts in Deutschland bewegt. Mohl betrachtete den Rechtsstaat jedoch nicht als ein umfassendes Staatskonzept, das mit dem Polizeistaat radikal unvereinbar sei, sondern er verstand den Staat als eine Kombination von Justiz und Polizei, die sowohl rechtliche als auch polizeiliche Funktionen erfüllt. Tatsächlich hatte er den Begriff Rechtsstaat zunächst genau aus diesem Grund abgelehnt: „Dieser Name [Rechtsstaat, Erg. d. Verf.] ist – wenn schon der gebrauchtere – nicht ganz passend, indem Recht nur die Hälfte der Thätigkeit dieser Staatsgattung ist; man müßte ihn eigentlich ‚Recht- und Polizei-Staat‘ nen 17

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Die vergleichend-historische Analyse in diesem Buch ist explizit funktional und gegenwartsbezogen (und entschieden longue durée).20 Sie zielt darauf ab, eine kritische Perspektive auf aktuelle Normen, Praktiken und Institutionen zu liefern; sie gibt nicht vor, eine verbindliche Darstellung der rechtlich-politischen Geschichte eines oder aller in Frage kommenden Systeme zu liefern. Für unsere Zwecke ist es also unerheblich, wann genau oder mit welcher Nomenklatur ein analytisches In­ strument – wie die Unterscheidung zwischen Recht und Polizei – zuerst entstanden ist oder an Bedeutung gewonnen hat. Entscheidend ist, ob das Instrument – wie die Destillation eines Idealtyps oder Paradigmas oder einer Reihe von Idealtypen oder Paradigmen – die kritische Analyse der Gegenwart in einem bestimmten rechtlichpolitischen System oder einem Bündel solcher Systeme ermöglicht. Das Betrachten von Recht und Polizei (und anderen, möglicherweise verwandten, Konzeptpaaren)21 als Idealtypen kann in diesem Zusammenhang nützlich sein, solange man bedenkt, was – begrenzt – Idealtypen in Webers Projekt leisten sollten (was nicht heißt, dass sie keine anderen Funktionen erfüllen könnten, solange diese explizit erwähnt werden). Die Gegenüberstellung von Idealtypen erleichterte für Weber eine historische und vergleichende Analyse, insbesondere auf einem hohen Niveau der Abstraktion, die eine ständige Bezugnahme auf detaillierte Punkte der Ähnlichkeit oder Verschiedenheit, der Kontinuität oder Disruption, unpraktisch machte. Polizei und Recht sind Idealtypen in dem Sinne, dass sie als gegensätzliche Bündel von Konzepten, Praktiken und – um noch einnen.“ (Robert Mohl, Das Staatsrecht des Königreiches Württemberg: Das Verfassungsrecht, Bd. 1, 1829, S. 11 Fn. 3). Man beachte, dass es in Mohls Begriff des „Doppelstaats“ keine Spannung zwischen Recht und Polizei gibt; die Verwaltung ihrer Beziehung ist eine Frage der Arbeitsteilung, nicht die Lösung eines wesentlichen Konflikts zwischen zwei diametral entgegengesetzten Vorstellungen von staatlicher Macht, die im Widerspruch zueinander definiert wurden. Auch das Konzept des Polizeistaats erfuhr erhebliche Veränderungen, um dem neuen Rechtsstaatsideal als Kontrastfigur zu dienen. In einem sehr realen Sinne existierte das Konzept des Polizeistaats erst, als es mit dem des Rechtsstaates kontrastiert wurde. Vor dem Aufkommen des Rechtsstaatskonzepts als Manifestation einer alternativen Konzeption von Staatsmacht gab es keinen Bedarf für ein Konzept des Polizeistaats. Staatsgewalt war schlicht und einfach die Ermessensbefugnis des staatlichen Hausherrn, den staatlichen Haushalt zu kontrollieren; dass der Staat in diesem Sinne ein „Polizeistaat“ war, versteht sich von selbst. Was sollte es sonst sein? Das Konzept des Polizeistaates erlangte also erst im Gegensatz zum neuen Konzept des Rechtsstaates Bedeutung. Und als benannter Kontrapunkt der Aufklärungskritik hatte er negative Konnotationen; im Gegensatz zum Begriff der Polizei, der jahrhundertelang, wenn überhaupt, positiv konnotiert war, wurde der „Polizeistaat“ geschaffen, um kritisiert zu werden. 20 Über die historische Analyse als kritische Analyse des Rechts, siehe Markus D. Dubber, New Historical Jurisprudence: Legal History as Critical Analysis of Law, in: Critical Analysis of Law 2 (2015), S. 1; ders., Legal History as Legal Scholarship: Doctrinalism, Interdisciplinarity, and Critical Analysis of Law, in: Markus D. Dubber / Christopher Tomlins (Hrsg.), The Oxford Handbook of Legal History, 2018, S. 99; siehe auch Jo Guldi / David Armitage, The History Manifesto, 2014. 21 Siehe z. B. Günther Jakobs’ Unterscheidung zwischen „Bürgerstrafrecht“ und „Feindstrafrecht“, diskutiert in Kapitel 4, Abschnitt G.

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mal Foucault zu bemühen – von Gouvernementalitäten gesehen werden können, die gemeinsam einen umfassenden (und differenzierenden) Rahmen für kritische Analyse ergeben. Idealtypen können durch die explizite und bewusste Erstellung abstrakter Konzepte mit Merkmalen, die sich, wenn in keinem bestimmten Phänomen, dann in einem identifizierbaren Bündel von Phänomenen manifestieren, eine ähnliche Aufgabe erfüllen wie Genres: Auch wenn sie selbst keine kritische Funktion haben (obwohl dies natürlich diskutabel ist), können sie Kritik doch ermöglichen. Fügt man den rechtlich-polizeilichen Rahmen in einen etwas anderen – und vielleicht weniger vertrauten aber aufschlussreicheren – Kontext ein, so könnte es helfen, Polizei und Recht als Genres des staatlichen Handelns, und Strafpolizei und Strafrecht als Subgenres, zu betrachten. Die literaturtheoretische Einordnung der Genres dient unter anderem dazu, das einschlägige kritische Vokabular zu bestimmen. Ein Roman zum Beispiel unterliegt anderen ästhetischen Normen als eine Kurzgeschichte. Ebenso sollte innerhalb des Genres des Romans ein Subgenre wie das des „realistischen“ Romans nicht hinsichtlich der Kriterien beurteilt werden, die besser auf ein anderes Subgenre angewendet werden, wie zum Beispiel das des „experimentellen“ Romans.22 Tatsächlich kann das Nachdenken über Polizei und Recht, Strafpolizei und Strafrecht, im Hinblick auf das Genre, mit Hilfe von Alistair Fowlers Konzept des „Antigenres“ auch das Verhältnis zwischen den beiden untersuchten Konzepten aufklären:23 Ein Antigenre bezieht sich auf ein Genre, ähnlich wie Recht sich auf Polizei bezieht, folgendermaßen: Das moderne Recht als Antigenre des staatlichen Handelns entstand als radikale Antwort auf die Polizei, das bis dorthin orthodoxe Genre des staatlichen Handelns. Das moderne Recht versuchte nicht den Polizeistaat zu entwickeln, zu verfeinern oder zu verbessern, sondern ihn durch ein umfassendes und grundlegend anderes Modell des Staates, den Rechtsstaat, zu ersetzen. Der Rechtsstaat war daher sowohl historisch als auch konzeptionell eng und notwendigerweise mit dem Polizeistaat verbunden, leugnete aber gleichzeitig leidenschaftlich diese Verbindung bis hin zur Revolution, in wahrsten Sinne des Wortes. Schließlich ist es hilfreich, Polizei und Recht als Paradigmen zu betrachten, um so den entscheidenden historischen Aspekt der kritischen Analyse, die sie ermög­lichen, hervorzuheben. Das Verhältnis zwischen Polizei und Recht ist in mindestens zweifacher Hinsicht historisch. Ihre Wechselbeziehungen und Verbindungen fügen sich in einen noch breiteren historischen Kontext ein, indem sie das Wechsel­spiel zwischen Heteronomie und Autonomie als grundlegende Herrschaftsmechanismen seit dem klassischen Athen widerspiegeln. Darüber hinaus markierte das Postulat des modernen Rechtsideals einen besonderen historischen

22

Siehe David Lodge, The Novelist at the Crossroads, in: Crit. Q. 11 (1969), S. 105. Alastair Fowler, Kinds of Literature: An Introduction to the Theory of Genres and Modes, 1982, S. 175. 23

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Moment: die radikale Kritik an der langjährigen Hegemonie der Heteronomie, die sich im allumfassenden Polizeistaat des 17. und 18. Jahrhunderts manifestierte. Dennoch kann die Rede von einem Paradigmenwechsel irreführend sein, wenn sie suggerieren würde, dass das eine den Platz des anderen an irgendeinem bestimmten historischen Punkt eingenommen hätte, anstatt dass beide Paradigmen in einer Wechselbeziehung koexistieren würden, mit abwechselnden, aber immer unvollkommenen Hegemonien von einem über das andere. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die vorliegende Darstellung des Polizeibegriffs von der von Foucault, zumindest insofern, als der Polizeibegriff von Foucault zwar dessen patriarchalischen Charakter widerspiegelt, ihn aber als einen spezifischen genealogischen Moment betrachtet, der anderen Gouvernementalitäten Platz macht.24 Das soll nicht heißen, dass z. B. der Übergang von der Polizei zur „neoliberalen“ (Selbst-) Herrschaft nicht als eine Möglichkeit gesehen werden kann, das zu erfassen, was hier als radikale Gegenüberstellung von modernem Recht und Polizei beschrieben wird. Genauso wenig kann behauptet werden, dass Foucault die Untersuchung der Polizei als eine rein antiquarische Tätigkeit ohne zeitgenössische analytische Relevanz betrachtet hätte; der Sinn genealogischer Untersuchung bestand schließlich darin, Geschichte in der Gegenwart zu finden, Kontinuität angesichts scheinbarer Diskontinuität zu zeigen. Auch nach einem Paradigmenwechsel klingt das vorige Paradigma nach. In bestimmten historischen Momenten, insbesondere in den Momenten, die durch den Start eines neuen  – und notwendigerweise überlegenen  – rechtlich-­ politischen Projekts oder vielleicht durch die Wiederaufnahme eines früheren Projekts gekennzeichnet sind, das aus dem einen oder anderen Grund unterbrochen wurde, entsteht die Versuchung, einen vollständigen Bruch mit der Vergangenheit zu erklären. Ein Paradigma der Macht hat das andere ersetzt; die Aufgabe besteht nun darin, das neue Paradigma umzusetzen und dabei alle Spuren des Alten zu beseitigen. Diese Aufgabe mag einige Zeit in Anspruch nehmen, aber die Geschichte des neuen Paradigmas ist die Geschichte seiner immer perfekteren Umsetzung. Auf dem Weg dorthin werden Reste des vorherigen Paradigmas als isolierte Ausnahmen von der neuen Norm und nicht als Hinweis auf die Beharrlichkeit des Alten neu klassifiziert. Der für unsere Zwecke bedeutendste Paradigmenwechsel ist der vom Polizeistaat zum Rechtsstaat. Die in diesem Buch verfolgte dualistische Analyse des staat­lichen Strafens deutet darauf hin, dass der Polizeistaat tatsächlich nicht sofort  – bzw. durch Deklaration – oder im Laufe der Zeit durch den Rechtsstaat ersetzt wurde, sondern dass der Polizeistaat bis heute fortbesteht. Im Falle des US-Strafsystems ist dies offensichtlich; die Strafmacht des Staates wird weiterhin als Ausdruck seiner Polizeimacht (police power) angesehen. In Deutschland dagegen geht man allge 24

Siehe z. B. Michel Foucault, Omnes et Singulatim: Towards  a Criticism of „Political Reason“, Tanner Lectures in Human Values, 1979.

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mein davon aus, dass die Strafmacht des Staates seit einiger Zeit in das Großprojekt Rechtsstaatsumsetzung integriert ist. Der Hinweis, dass das deutsche Strafrecht weiterhin Überreste eines Strafpolizeiregimes aufweist, wäre kontrovers, wie die überwältigend kritisch-defensive Reaktion auf Günther Jakobs’ Provokation einer Unterscheidung zwischen Bürger- und Feindstrafrecht verdeutlicht.25 Eine damit zusammenhängende Frage, die in der deutschen Literatur Aufmerksamkeit erregt hat, betrifft die mögliche Existenz von Überresten des nationalsozialistischen Strafparadigmas im Strafrechtssystem der Nachkriegszeit (West-) Deutschlands. Hier stellt sich zunächst die Frage, ob Deutschland nach 1945 zu einem bereits existierenden rechtlich-politischen Projekt zurückgekehrt ist, das von 1933 bis 1945 (oder einem Teil davon) unterbrochen worden war, oder ob es mit dem Grundgesetz von 1949 ein völlig neues Paradigma begonnen hat. Wie auch immer diese Frage beantwortet wird, der allgemeine Konsens scheint – trotz einiger kritischer Stimmen – zu sein, dass das NS-Strafpolizeiregime nicht weiter nachklingt, wobei dogmatische und institutionelle Überreste aus der NS-Zeit entweder als erkennbar ideologisch entfernt wurden (in vielen Fällen bereits von den Besatzungsmächten) oder sich als mit dem Projekt eines liberalen Strafsystems in einem Rechtsstaat vereinbar erwiesen haben. Die Frage nach der Beseitigung von Überresten des NS-Strafparadigmas ist von mehr als nur akademischem Interesse, da zwischen 1933 und 1945 mehrere wesentliche Merkmale des deutschen Strafrechts eingeführt wurden, darunter das bereits erwähnte zweispurige Sanktionensystem und die „Maßregeln der Sicherung und Besserung“ (heute „Maßregeln der Besserung und Sicherung“[!]) (1933) und die Vorschriften zum Mord im deutschen Strafgesetzbuch (1941). Die Diskussion über Paradigmen ist nicht nur wegen des Beiklangs eines Wandels und damit einer historischen Dimension nützlich. Der Begriff Paradigma impliziert auch die Möglichkeit von Konflikten oder zumindest von Abgrenzungen. Jedes Paradigma kann als aus einem Kern und einer Peripherie zusammengesetzt betrachtet werden, wobei sich die Peripherien zweier widersprüchlicher Paradigmen überschneiden und die Wahrscheinlichkeit einer Überschneidung im Verhältnis zur Entfernung von jedem Paradigmenkern zunimmt. Es kann daher hilfreich sein, sich den Kern eines Paradigmas mit bestimmten definierten „paradigmatischen“ Merkmalen vorzustellen, ohne darauf zu bestehen, dass jede Instanz des Paradigmas diese Merkmale aufweist. Zum Beispiel könnte man sich ein Strafparadigma als durch paradigmatische Begriffe von Straftat, Täter, Opfer, Verteidigung definiert vorstellen und es mit den jeweiligen Kernbegriffen eines anderen Paradigmas vergleichen. Aber auch hier ist es ratsam, auf mögliche Stolpersteine zu achten. So wie die genealogische Konnotation des Paradigmas die falsche und fälschlicherweise vereinfachte Erscheinung einer sauber zugeschnittenen Paradigmenfolge erzeugen 25

Siehe Kapitel 4, Abschnitt G.

A. Formen der kritischen Analyse: Kritik und Verschleierung 

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kann, so kann die Kern-Peripherie-Konnotation einen falschen Eindruck von starken Unterschieden zwischen konkurrierenden zeitgenössischen Paradigmen erwecken. Da die Paradigmen, die die kritische Analyse des Strafens in diesem Buch strukturieren, wiederum nur als heuristische Mittel, als Werkzeuge der kritischen Analyse verwendet werden, bleibt abzuwarten, ob die Betonung der operativen Unterscheidung zwischen Recht und Polizei mehr erhellt als sie verdunkelt. Aber es ist wichtig zu bedenken, dass wir durch die Hervorhebung eines Merkmals ein anderes verdecken werden, und dass jede Beleuchtung daher auch eine Vereinfachung bedeutet.

A. Formen der kritischen Analyse: Kritik und Verschleierung Am wichtigsten für die Zwecke der kritischen Analyse ist, dass die dualistische Analyse eine differenzierte Kritik an bestehenden Strafnormen, Praktiken und Institutionen ermöglicht. Die Kritik aus der Sicht des Strafrechts unterscheidet sich kategorisch von der Kritik aus der Sicht der Strafpolizei. Das ist kein Zufall. Schließlich ist das Projekt des modernen Rechts, insbesondere im Bereich der einzigartig scharfen Strafmacht des Staates, ein kritisches Projekt. Es ist kritisch im begrifflichen oder abstrakten Sinne, dass es eine besondere Manifestation des umfassenden kritischen Aufklärungsprojekts im Bereich der politischen Herrschaft darstellt. Und es ist kritisch in dem historischen oder konkreten Sinne, dass es aus dem expliziten Widerspruch zum damals traditionellen Zustand, der staatlichen Herrschaft qua Polizei, entstand. Da die Kritik und die grundsätzliche Ablehnung des Projekts der Herrschaft durch Polizei den Kern der Idee, und des Projekts, des modernen Rechts ausmacht, ist es nicht verwunderlich, dass sich Kritik unter dem Recht wesentlich von Kritik unter der Polizei unterscheidet. Tatsächlich ist Kritik überhaupt in einem wichtigen Aspekt mit der Polizeiherrschaft unvereinbar. Die moderne Idee des Rechts führte nicht nur eine andere Art der Kritik ein, sondern ermöglichte erst die Kritik an Herrschaft. Die im Wesentlichen patriarchalische und radikal hierarchische Regierungsform in einem Polizeistaat, wie sie durch das kritische Projekt des modernen Rechts (tendenziös und unschmeichelhaft) definiert wurde, ließ keine Kritik im Allgemeinen und keine Kritik an der Legitimität im Besonderen zu. Schon der Begriff der Souveränität implizierte ein Fehlen externer Beschränkungen, die die Kritik in Bezug auf diese Beschränkungen unangemessen machte. Der souveräne Inhaber der Polizeimacht könnte allenfalls unverbindliche Ratschläge der Klugheit – und später der (Polizei-)Wissenschaft – erhalten, ohne dass seine Nichtbeachtung dieser Ratschläge oder seine Fehler in ihrer Umsetzung Anlass für Kritik ermöglicht hätten. Tatsächlich erstreckte sich das Ermessen des Polizeisouveräns nicht nur auf die Frage der Einhaltung, sondern bereits auf die

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Auswahl und Bestimmung etwaiger Normen. Während der Prinz sich in seiner Weisheit dafür entscheiden mochte, sich der Wohlfahrt seines Haushalts zu widmen (oder dies zumindest vorzugeben), konnte er dies ebenso leicht unterlassen.26 Darüber hinaus, da es weder eine Notwendigkeit noch einen Mechanismus für die Legitimation souveräner staatlicher Macht gegenüber ihren grundsätzlich untergeordneten Objekten gab, einschließlich derjenigen, denen der Souverän die Befugnis zur Herrschaft über Mikrohaushalte oder untergeordnete Institutionen übertragen hatte, war auch die Kritik an der Legitimität staatlicher Macht im Allgemeinen oder in bestimmten Fällen unvereinbar mit der Polizeiherrschaft. Legitimität – im Allgemeinen und schon gar nicht in der spezifischen Form der Kritik des modernen Rechts, basierend auf dem neuen Begriff der persönlichen Autonomie – steht im Polizeistaat grundsätzlich nicht zur Debatte; Umsicht, Effizienz, „gute Policey“ und Weisheit mögen es sein, aber nur als selbst auferlegte Leit­ linien, deren Nichteinhaltung außer als interne Angelegenheit der Staatsführung unerheblich ist (mit Ausnahme von eventuellen Extremfällen der Amtsenthebung bei Verrat oder Revolution). Das heißt nicht, dass die Polizeiherrschaft, und insbesondere die strafrechtliche Polizeiherrschaft, über die Überprüfung und kritische Analyse in einem bestimmten, weniger ehrgeizigen oder bedeutsamen Sinne erhaben ist. Im Bereich der Strafpolizei mag Legitimationskritik oder verbindliche Kritik mit Biss unangebracht sein, aber (bloß) beratende Leitlinien der „guten Policey“ sind zumindest denkbar. Betrachten wir hier zum Beispiel das Verhältnis zwischen Lon Fullers Aufstellung der Regeln der Geschäftsführung (managerial direction) einerseits und seiner Liste der Aspekte des Prinzips der Legalität (principle of legality) andererseits; sie sind identisch bis auf die Befolgungsregel: Nur ein unter dem Rechtsstaatsprinzip fungierender Staat ist verpflichtet, das einzuhalten, was andernfalls als eine bloße Ansammlung von Ratschlägen zur kompetenten Regierungsführung (einschließlich Prospektivität, Öffentlichkeit, Bestimmtheit usw.) angesehen werden könnte.27 Oder man bedenkt den Unterschied zwischen den U. S. Sentencing Guidelines (d. h. den detaillierten Strafzumessungsrichtlinien für US-Bundesrichter) vor und nach der Entscheidung des U. S. Supreme Court aus dem Jahr 2005 in United States v. Booker: vor Booker waren sie verbindlich, nach Booker waren sie es nicht mehr, oder anders ausgedrückt, vorher waren sie Rechtsnormen, dann waren sie bloße Polizeirichtlinien.28 Den polizeilichen Maximen mag das Gütesiegel der vermeintlich eisernen verbindlichen Rechtsprinzipien fehlen, aber das bedeutet nicht, dass sie es nicht wert sind, sie nach ihren eigenen Kriterien intern zu prüfen und nicht 26

Zum Beispiel befasst sich Machiavelli in „Der Fürst“ mit Fürsten, die nach „Ruhm“, „Reichtum“ und „Ehre“ streben, und gibt entsprechende Ratschläge. Siehe Niccolo ­Machiavelli, Il Principe, 1532. 27 Siehe Lon L. Fuller, Morality of Law, 2. Aufl. 1964, S. 207–214. 28 United States v. Booker 543 U. S. 220 (2005). Zu den umfassenden (und von Anfang an umstrittenen) U. S. Sentencing Guidelines und ihrem Schicksal nach Booker, siehe Dubber /  Hörnle Criminal Law: A Comparative Approach (Fn. 5), S. 4 ff.

A. Formen der kritischen Analyse: Kritik und Verschleierung 

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nur die Bemühungen im Auge zu behalten, ihnen einen rechtlichen Anstrich zu verpassen (siehe unten). Polizei ist nicht bloßes Nicht-Recht, oder umgekehrt. Unsere dualistische Analyse behandelt beide Herrschaftsformen nebst den Normen und Regime, die sie produzieren, als getrennt, wenn auch historisch, konzeptionell und rhetorisch miteinander verbunden. „Gute Policey“ (bonne police, good police) ist nicht nur die Abwesenheit von „gerechtem Recht“. Die dualistische Analyse – wie jede multiperspektivische Analyse – kann Differenzierung und Nuancierung ermöglichen. Gleichzeitig kann sie verkomplizieren, verwirren und ablenken. Jedes Klassifizierungsprojekt birgt das Risiko, eigennützig zu werden, als eine Art taxonomiepolizeiliches Exerzitium von der Warte einer vermeintlichen Position der klassifikatorischen Überlegenheit (wissenschaftlich oder anderweitig) (siehe Teil I). Die dualistische kritische Analyse des Strafens im doppelten Strafstaat bildet dabei keine Ausnahme. Es ist daher wichtig zu bedenken, dass die Unterscheidung zwischen Recht und Polizei sowie zwischen Strafrecht und Polizei nur ein heuristisches Mittel ist. Es ist nur so nützlich, wie es hilft, eine kritische Analyse des Strafens zu formulieren. Es ist auch hilfreich zu bedenken, dass die hier dargestellte dualistische Analyse perspektivisch statt wesentlich ist: Jede Norm, Praxis oder Institution, die unter die Lupe genommen wird, kann sowohl aus der Sicht des Rechts als auch aus der Sicht der Polizei betrachtet werden, und es gibt außerdem keinen Grund zu der Annahme, dass alle oder ein beliebiges Merkmal des Strafsystems aus nur einer, aber nicht aus der anderen Perspektive sinnvoll betrachtet werden kann. Tatsächlich ist einer der Vorteile der hier verfolgten dualistischen Analyse die Erkenntnis, dass ein Untersuchungsgegenstand, der traditionell als Instanz – und vielleicht sogar als paradigmatische Instanz – einer Art strafrechtlicher Herrschaft betrachtet oder präsentiert wurde, sich bei genauerer Prüfung als nicht so leicht klassifizierbar erweist. Historische und vergleichende Analysen können beispielsweise ergeben, dass ein bestimmter Aspekt des Strafverfahrens, der üblicherweise als Inbegriff der Rechtsstaatlichkeit (bzw. der rule of law) gefeiert wird, entweder polizeiliche historische Wurzeln hatte (z. B. Habeas Corpus oder Magna Charta)29 oder in einem anderen rechtlich-politischen System sogar als mit der Idee der Rechtsstaatlichkeit unvereinbar gilt (z. B. die Jury),30 oder beides gleichzeitig (nochmals die Jury).31 Betrachten wir als nächstes die Fälle, in denen die Ausübung eines bestimmten Herrschaftsmechanismus als die Ausübung eines anderen präsentiert oder ausgegeben wird. So könnte der Staat versuchen, eine polizeiliche Aktion als eine rechtliche auszugeben, vielleicht indem er ihr den „Anschein der Legalität“ verleiht, 29

Markus D. Dubber, The Schizophrenic Jury and Other Palladia of Liberty: A Critical Historical Analysis, in: Comp. Legal Hist. 3 (2016), S. 306. 30 Ebd. 31 Ebd.

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und zwar durch verschiedene Täuschungsmanöver (oder Taschenspielertricks), darunter zum Beispiel (1), die scheinbare Einhaltung bestimmter, wenn auch rein formeller Normen, die mit der Ausübung von Rechtsmacht in Verbindung stehen oder zu stehen scheinen, (2) die Ablenkung der Aufmerksamkeit von den polizeilichen Aspekten des Strafrechts durch mehr oder weniger aufwendige Aufführungen von öffentlicher Rechtsrituale in einigen wenigen Fällen, oder (3) einfach durch die öffentliche „Rechtfertigung“ der Errichtung, Reform oder des Einsatzes polizeilicher Einrichtungen eines staatlichen Strafregimes in einem vermeintlich rechtlichen Rahmen. Die weit verbreitete Anwendung von Besitzdelikten anstelle traditioneller Vagabundenverordnungen im amerikanischen Krieg gegen das Verbrechen, veranschaulicht das erste Manöver; die Veranstaltung großangelegter Geschworenenprozesse (und insbesondere die groteske Feier der Hyperlegalität in der materiellen und prozessualen Rechtsprechung zur amerikanischen Todesstrafe) ist ein Beispiel für das zweite; und die Einführung der vermeintlich liberalen Institution des preußischen Staatsanwalts in der Mitte des 19. Jahrhunderts mag das dritte exem­ plifizieren.32 Werfen wir an dieser Stelle einen kurzen Blick auf eine weitere Illustration, die alle drei Strategien kombiniert: Douglas Hays bekannte kritische historische Analyse des englischen Strafregimes vor dem Hintergrund des sog. Bloody Code zur Wende des 19. Jahrhunderts.33 Hay beschrieb ein Strafregime, das ein drakonisches System von Strafandrohungen (dem unkodifizierten englischen Bloody „Code“ mit seiner Anhäufung von Hunderten von Kapitalverbrechen) mit akri­ bischem Beharren auf der rule of law in der Anwendungsphase des Prozesses ergänzte, was zu einer systemischen Unterdurchsetzung der Strafandrohungen führte. Unter Verwendung unseres dualistischen Ansatzes könnte man Hay so lesen, dass der englische Staat versucht hat, ein Strafpolizeiregime als ein Strafrechtsregime auszugeben. Beachten Sie hier den systemübergreifenden Charakter dieses Manövers. Die Anwendungsphase wurde verwendet, um die Auswirkungen der Definitionsphase abzumildern. Staatliche Beamte in der Anwendungsphase (Richter) erhielten das Ermessen, scharfe Befehle von Beamten in der Definitionsphase (Gesetzgeber) abzuschwächen. Das Strafregime erforderte die Zusammenarbeit zwischen dem einen Regierungszweig (Justiz) und dem anderen (Parlament), wobei der eine den rechtlichen Feenstaub versprühte, um die polizeilichen Maßnahmen des anderen zu decken. (Tatsächlich kann man argumentieren, dass das gesamte Projekt des „Verwaltungsrechts“ diese Funktion bis heute erfüllt, durch punktuelle Verhältnismäßigkeitsprüfungen eines sehr kleinen Teiles von unzähligen polizeilichen staatlichen Maßnahmen.) 32

Siehe Kapitel 4 (Fn. 136). Douglas Hay, Property, Authority and the Criminal Law, in: Douglas Hay u. a. (Hrsg.), Albion’s Fatal Tree: Crime and Society in Eighteenth-Century England, 1975, S. 17.

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Das englische Strafsystem in Hays Darstellung kann leicht als ein Strafpolizeiregime angesehen werden, das die Ausübung von Ermessen durch zwei Gruppen von Staatsbediensteten (Gesetzgeber, Richter) kombiniert, wobei die erst­ genannte Gruppe scharfe allgemeine Drohungen macht, die dann von letzterer in ihrer Anwendung auf bestimmte Fälle (in einer ausgeklügelten „Good Cop, Bad Cop“-Routine)  gnädigerweise abgeschwächt werden. Diese nachfolgende, anwendende Phase des Strafverfahrens wird oft als „diskretionär“ bezeichnet, was nicht darüber hinwegtäuschen sollte, dass die Definitionsphase nicht weniger diskretionär war. Die (legislative) Ermessensentscheidung, ob, wann und wie eine strafrechtliche Bedrohung zu definieren, war nicht eingeschränkter als die (judikative) Ermessens­entscheidung, ob, wann und wie die Bedrohung zu realisieren. Das gesamte Strafrechtssystem der damaligen Zeit war, in John Beatties Worten, „mit Ermessensspielräumen durchzogen“, wie man es von einem Strafpolizei­ regime nicht anders erwarten würde.34 Nach Hays Darstellung war das öffentliche Beharren auf der Einhaltung der rule of law – zumindest in der Anwendungsphase – selbst eine Strategie der polizeilichen Herrschaft, die darauf abzielte, das Wohlverhalten der Bevölkerung zu motivieren, oder, wie von Blackstone bereits zitiert, „die angemessene Regelung und häusliche Ordnung des Königreichs,“ als „einer wohlregierten Familie“ zu gewährleisten. Die historische Analyse von Hay ging jedoch über die Hervorhebung der polizeilichen Aspekte des englischen Strafregimes hinaus. Hay argumentierte auch, dass der Grundsatz der rule of law ein Eigenleben angenommen habe und auf diese Weise das englische Strafsystem mit rechtlichen Zügen ausgestattet worden sei. Laut Hay könnte die rule of law ihren Zweck der polizeilichen Herrschaft nur dann effektiv erfüllen, wenn sie auf die Subjekte und Objekte der Staatsmacht gleichermaßen Anwendung zu finden schien. Mit der Zeit jedoch verinnerlichten die Subjekte der Staatsmacht die „rechtlichen“ Normen. In dem Maße, in dem die Selbstbegrenzung der Macht selbst von diskretionär zu verbindlich, von zahnlos zu spürbar überging, legitimierte sich das englische Strafregime langsam letztendlich selbst, und zwar sich selbst zum Trotz, oder zumindest trotz seiner polizeilichen Ursprünge.35 Es ist unklar, ob die daraus resultierenden flexiblen, diskretionären, selbstdefinierten, -ausgelegten und -auferlegten Grenzen tatsächlich die Kennzeichen eines Strafrechtssystems sind. Es ist fraglich, ob, abgesehen von der Verringerung der Zahl der Kapitalverbrechen zu Beginn des 19. Jahrhunderts, der Ermessensspielraum der Gesetzgeber im englischen Strafregime durch merkliche Einschränkungen begrenzt worden ist. Man bedenke hier das Scheitern einer Reihe von Kodifizierungsprojekten seit dem 19. Jahrhundert, zumindest insofern, als sie versuchten, Rechtsprinzipien zu formulieren und umzusetzen, die als solche 34

John Beattie, Crime and the Courts in England 1600–1800, 1986, S. 404. Vgl. Dubber, The Schizophrenic Jury and Other Palladia of Liberty (Fn. 29) (z. B. habeas corpus, die Jury).

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funktionieren könnten (im materiellen, aber auch im prozessualen Strafrecht).36 In der Anwendungsphase des Strafsystems scheint das Ermessen der englischen (und übrigens auch der amerikanischen) Staatsanwälte und Polizeibeamten weitgehend ungehindert fortgesetzt worden zu sein, jenseits rechtlicher Schranken und Kontrollen mit Biss.37 Im Gegensatz dazu hat Deutschland (und seine Vorgängerstaaten) das materielle (und prozessuale) Strafrecht frühzeitig und vielfach kodifiziert (wenn auch nicht immer in der Form eines „Gesetzbuchs“). Ignoriert man die Constitutio C ­ riminalis Carolina von 1532, so enthält die Liste das preußische Allgemeine Landrecht (1794), (Feuerbachs) Bayerisches Strafgesetzbuch von 1813, das Preußische Strafgesetzbuch von 1851 und das Deutsche Strafgesetzbuch von 1871 und die Deutsche Strafprozessordnung von 1877. Deutschland hat auch den Ermessensspielraum auf der Vollzugsseite des Strafrechts radikal eingeschränkt  – wenn auch nicht ganz beseitigt. Das „Legalitätsprinzip“ (im Sinne einer Strafverfolgungspflicht) gilt für Staatsanwälte und Polizeibeamte gleichermaßen und erschien erstmals in der Strafprozessordnung von 1877. Ob die bloße Kodifizierung von Strafnormen und von Einschränkungen ihrer Durchsetzung ein rechtliches – im Gegensatz zu einem polizeilichem – Regime indiziert, ist aus theoretischer und historischer Sicht allerdings eine andere Frage. Hays Darstellung des englischen Strafregimes zu der Zeit des Bloody Code veranschaulicht die Vorteile, einem Polizeiregime einen rechtlichen Anstrich zu verleihen. Das moderne Recht betrachtet sein Objekt als mit Rechten ausgestattete juristische Subjekte, die als Personen mit der Fähigkeit zur Selbstbestimmung sui 36 Siehe Lindsay Farmer, Reconstructing the English Codification Debate: The Criminal Law Commissioners 1833–45, in: Law & Hist. Rev. 18 (2000), S. 397. 37 In der Standardgeschichte der britischen Polizei findet man die so genannten „Peelianischen Prinzipien“, die gemeinhin (und anscheinend fälschlicherweise) Robert Peel (1788–1850) zugeschrieben werden, der regelmäßig als „Vater der (modernen) britischen Polizei“ bezeichnet wird (siehe allerdings der bereits erwähnte Patrick Colquhoun!). Es handelt sich hier um „ethische“ Richtlinien, anstatt um rechtliche Richtlinien, geschweige denn rechtlich durchsetzbare Normen. Zu Colquhouns zu Unrecht vernachlässigten Beiträgen zur britischen Polizeiwissenschaft siehe Dubber, Police Power (Fn. 7), S. 235. Dieser Katalog von neun „Anweisungen“, die ab 1829 an neue Polizeibeamte verteilt wurden, soll eine eindeutig britische „Philosophie“ des „policing by consent“ widerspiegeln. Um aus einem Dokument des Innenministeriums von 2012 über die Definition von „Polizeiarbeit mit Einwilligung“ zu zitieren: „[E]s handelte sich im Wesentlichen um eine Philosophie der Polizeiarbeit, ‚die in der Geschichte und in der ganzen Welt einzigartig ist, weil sie nicht aus Furcht, sondern fast ausschließlich aus der öffentlichen Zusammenarbeit mit der Polizei herrührt, die von ihr gezielt durch ein Verhalten hervorgerufen wird, das ihr die Einwilligung, den Respekt und die Zuneigung der Öffentlichkeit sichert und erhält‘. Es sei angemerkt, dass er sich auf die Macht der Polizei bezieht, die aus der gemeinsamen Zustimmung der Öffentlichkeit erwächst, im Gegensatz zur Macht des Staates. Sie bedeutet nicht die Einwilligung eines Einzelnen. Kein Individuum kann sich dafür entscheiden, seine Einwilligung der Polizei oder einem Gesetz zu entziehen.“ Home Office, Definition of Policing by Consent (v. 10. Dezember 2012) (https://www.gov.uk/government/ publications/policing-by-consent/definition-of-policing-by-consent).

B. Der Umfang der Analyse

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juris sind. Die staatliche Herrschaft qua Recht erkennt die Notwendigkeit an, sich gegenüber ihren Subjekt-Objekten zu legitimieren, und unterliegt rechtlichen Einschränkungen, deren Nichteinhaltung ihren Anspruch auf Legitimität untergräbt. Gelegentlich kann sich die Anbringung eines Polizeietiketts als nützlich erweisen, gerade in umgekehrter Richtung: um den Beschränkungen zu entkommen, die zumindest nominal durch Rechtsherrschaft auferlegt werden. Hier kann, muss aber nicht, die Polizei die Konnotation einer staatlichen de minimis-Aktion hervorrufen, die zu unbedeutend ist, als dass sie die Anwendung der Vielzahl von auf Rechten basierenden Einschränkungen bei der Ausübung der Rechtsmacht des Staates nach sich ziehen müsste. So könnte der Staat beispielsweise eine Straftat als „polizeiliches (oder public welfare-) Delikt“, „Übertretung“, „Störung“, „Zuwider­handlung“, „Verstoß“ oder „Verletzung“ statt als „echtes Verbrechen“ bezeichnen, eine Haftstrafe als „Maßnahme“, „Sicherungsverwahrung“, „Gewahrsam“ oder „Internierung“ und nicht als „Strafe“ einstufen und in einen Administrative Code, ein Gesetz über Ordnungswidrigkeiten, oder eine Strafprozess- bzw. -vollzugsordnung statt in ein Strafgesetzbuch einordnen, eine Geldstrafe als „Bußgeld“ (oder andersherum als „Geldbuße“) statt „Geldstrafe“ bezeichnen und so weiter. Die „Falschmarkierung“ ist hier ein Versuch, der Legitimitätskritik zu entgehen, die die Ausübung der Rechtsmacht des Staates anzieht, und die Ausübung der Polizei­macht (das „idiom of apologetics“ des amerikanischen Verfassungsrechts38) vermeidet. Es geht nicht darum, dass das fragliche staatliche Vorgehen nicht legitimiert werden könnte, sondern dass der Staat versucht hat, sich der Überprüfung der Legitimität seines Handelns zu entziehen, durch die ein Rechtsstaat definiert wird. Dies ist jedoch eine externe Kritik, die zum Recht und nicht zur Polizei gehört. Es ist kein Versuch, eine Polizeipraxis mit dem Furnier der Legitimität zu versehen, ein Schritt, der das Erfordernis der Legitimation bestätigt, wenn auch nur durch ihre Umgehung; es ist ein Versuch, dem Legitimationserfordernis von vornherein zu entgehen.

B. Der Umfang der Analyse Bevor wir uns mit einigen der Besonderheiten des Spannungsverhältnisses zwischen Recht und Polizei, das die doppelte Strafstaatsanalyse strukturiert, beschäftigen, lohnt es sich, kurz über den systemischen – und nicht nur den zeit­ lichen – Umfang unseres Projekts nachzudenken. Nicht nur die zeitlichen, sondern auch die systemischen (und soweit Systeme auch geographisch definiert sind, die räumlichen) Grenzen der kritischen Analyse müssen definiert werden und sind daher strittig. Hier schließt sich die vergleichende Untersuchung der historischen 38 Walton H. Hamilton & Carlton C. Rodee, Police Power, in: Encyclopedia of the Social Sciences, Bd. 12, 1933, S. 190 (zitiert nach William J. Novak, Common Regulation: Legal Origins of State Power in America, in: Hastings L. J. 45 [1994], S. 1061, 1082 Fn. 58).

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Kap. 3: Recht und Polizei als Herrschaftsmechanismen 

Analyse an. Eine vergleichende oder zumindest nicht-parochiale Untersuchung wird feststellen, ob das rechtlich-politische System eines bestimmten Landes (oder einer anderen rechtlich-politischen Einheit) sinnvollerweise als an dem hier untersuchten rechtlich-politischen Projekt beteiligt angesehen werden kann. Dies ist nicht unbedingt eine Frage von kategorischer Bedeutung, sondern eine, die Abweichungen in Quantität (oder Ausmaß) und Qualität zulässt, d. h. nicht nur im „ob?“, sondern auch im „inwiefern?“ und im „inwieweit?“. So ist beispielsweise nicht unmittelbar ersichtlich, ob und inwieweit das englische, amerikanische und deutsche Strafrecht als Teil eines gemeinsamen rechtlich-politischen Projekts angesehen werden können, das sinnvollerweise als „westliche moderne liberale Demokratie“, oder kurz gesagt als das liberale Projekt, bezeichnet wird. Betrachten wir zum Beispiel, ganz abgesehen von den (vielfach und oft etwas langatmig diskutierten39) Gemeinsamkeiten und Unterschieden von „Rechtsstaat“ und „rule of law“, (1) die Vereinbarkeit des amerikanischen „War on Crime“40 oder, weiter gefasst, eines Strafsystems, das sich an dem Schutz des Friedens des Souveräns (ob König, Staat oder Öffentlichkeit) ausrichtet,41 mit einer liberalen westlichen modernen Demokratie, oder (2) die Schwierigkeit, Reformen aus der NS-Zeit, die auch heute noch eine mehr oder weniger zentrale Rolle im deutschen Strafrecht spielen, zu klassifizieren (einschließlich z. B. der Etablierung eines umfassenden Systems von vermeintlich nicht-strafenden „Maßregeln der Sicherung und Besserung“ und, im gleichen Gesetz von 1933, die Aufnahme einer Straftat des „Vollrausch“42 oder die Definition von Mord 1941 mit Blick auf die Charakteristika eines „Mörders“43). Das sind schwierige Fragen, die nicht nur die Konzeption des Strafens in den untersuchten Ländern, sondern auch das generelle rechtlich-politische Projekt jedes Landes betreffen. Glücklicherweise genügt es, wenn die Ähnlichkeiten für 39

Siehe z. B. Martin Loughlin, Foundations of Public Law, 2010, Kap. 11; James R. Silkenat u. a. (Hrsg.), The Legal Doctrines of the Rule of Law and the Legal State (Rechtsstaat), 2014; Ernst-Wolfgang Böckenförde, Entstehung und Wandel des Rechtsstaatsbegriffs, in: Horst Ehmke u. a. (Hrsg.), Festschrift für Adolf Arndt zum 65. Geburtstag, 1969, S. 53; siehe auch Mireille Hildebrandt, Radbruch’s Rechtsstaat and Schmitt’s Legal Order: Legalism, Legality, and the Institution of Law, in: Critical Analysis of Law 2 (2015), S. 42. Die Vorstellung, dass der Rechtsstaatsbegriff „spezifisch deutsch“ ist, ist fast so alt wie der Begriff selbst. Siehe z. B. Lorenz von Stein, Die Verwaltungslehre, Erster Teil, 2. Aufl. 1869, S. 296. 40 Siehe Markus D. Dubber, Victims in the War on Crime: The Use and Abuse of Victims’ Rights, 2002. 41 Siehe Markus D.  Dubber, Preventive Justice: The Quest for Principle, in: Andrew ­Ashworth / Lucia Zedner (Hrsg.), Prevention and the Limits of the Criminal Law, 2013, S. 47. 42 Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung vom 24. November 1933, RGBl. I S. 995, Art. 2 (Maßregeln) und Art. 3 (17) (Vollrausch); vgl. heute §§ 61–72 StGB (Maßregeln), § 323a StGB (Vollrausch). 43 Gesetz zur Änderung des Reichsstrafgesetzbuchs vom 4. September 1941, RGBl. I S. 549, § 2; siehe auch § 1 („Der gefährliche Gewohnheitsverbrecher (…) und der Sittlichkeitsverbrecher (…) verfallen der Todesstrafe, wenn der Schutz der Volksgemeinschaft oder das Bedürfnis nach gerechter Sühne es erfordern.“) und § 3 (mit der Einführung einer härteren Strafe für den „Wucherer“); vgl. heute § 211 StGB (Definition von „Mörder“).

B. Der Umfang der Analyse

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unsere begrenzten Zwecke ausreichen, d. h. wenn es Sinn macht, ein gemeinsames Projekt für eine vergleichende kritische Analyse zu formulieren. Dennoch müssen wir darauf vorbereitet sein, dass diese kritische Analyse bei näherer Betrachtung ergeben könnte, dass die untersuchten Systeme, selbst wenn sie ausreichende Ähnlichkeiten zumindest bei der Unterstützung eines allgemeinen „liberalen“ rechtlich-politischen Projekts aufweisen, sich in ihrem Verständnis des staatlichen Strafens in Bezug auf dieses allgemeine Projekt unterscheiden können. So könnte sich beispielsweise herausstellen, dass ein bestimmtes Strafsystem so weit hinter dem Ideal eines „liberalen“ Strafrechts zurückbleibt, dass seine Konzeption des staatlichen Strafens als Teil des allgemeinen liberalen rechtlich-politischen Projekts in Frage gestellt werden muss. Betrachten wir wiederum die Vereinigten Staaten, wo die Strafmacht des Staates traditionell als ein Beispiel für seine umfassende souveräne „Polizeimacht“ (police power) angesehen wurde und wo in seinem Gründungsmoment die (englische, auf Friedensschutz basierende) Konzeption der Strafmacht des Staates (im Gegensatz zu beispielsweise seiner heftig umstrittenen Steuermacht) keiner kritischen Prüfung im Lichte allgemeiner Legitimitätsgrundsätze unterzogen wurde. Wenn man ein Thema betrachtet, das so umstritten ist wie das Streben einer bestimmten Jurisdiktion nach einem Ideal der Legitimität, entweder im Allgemeinen oder im Besonderen im Falle der Strafmacht des Staates, ist es wichtig, die jurisdiktionsunabhängige Perspektive der in diesem Buch verfolgten kritischen Analyse zu berücksichtigen. Es ist verlockend, insbesondere wenn man mit normativ aufgeladenen Kategorien wie „Polizeistaat“, „Rechtsstaat“ usw. arbeitet, die relative Nähe verschiedener Rechtssysteme zum jeweiligen Ideal zu vergleichen. Es ist allzu einfach, die normative Überlegenheit des „eigenen“ rechtlich-poli­tischen Systems reflexiv anzunehmen und zu bestätigen, was nicht heißt, dass bei starker Affinität zu einem anderen Land (was oft eine vergleichende Wissbegierde erst in Gang setzt) nicht auch das genaue Gegenteil passieren kann. Die in diesem Buch verfolgte vergleichende Analyse auf Systemebene versucht beide Fallstricke zu vermeiden; die Vergleichung erfolgt im Sinne einer transnationalen und nichtparochialen Untersuchung, nicht im Sinne der Untersuchung eines oder mehrerer „fremder“ Rechtsordnungen aus einer bestimmten „nationalen“ Perspektive. Wir unterziehen alle Strafregime derselben kritischen Analyse im gleichen konzeptionellen Rahmen, anstatt ein System zu benutzen, um ein anderes zu kritisieren (oder zu loben!). Es mag sein, dass die Unterscheidung zwischen Recht und Polizei, oder so etwas Ähnliches, ganz oder teilweise (oder „im Wesentlichen“) zu anderen Zeiten und in anderen rechtlich-politischen Projekten erscheint. Ich weiß es nicht. Sein Nutzen als heuristisches Mittel für unsere Zwecke hängt nicht davon ab, ob es das tut oder nicht. Ich vermute allerdings, dass je weiter oder abstrakter die Unterscheidung gefasst wird, und je länger ihr genealogischer Bogen verfolgt wird, desto wahrscheinlicher ist es, dass Ähnlichkeiten auftreten. (Sicherlich geht die Konzeption und Praxis der patriarchalischen Haushaltsherrschaft, die die Grundlage

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Kap. 3: Recht und Polizei als Herrschaftsmechanismen 

der polizeilichen Herrschaft bildet, über die engen Grenzen des klassischen Athens hinaus.44 Und die Unterscheidung zwischen Recht und Polizei selbst kann als Ausdruck einer grundlegenden Unterscheidung zwischen Autonomie und Heteronomie als fundamentale Herrschaftsmechanismen angesehen werden.) Jedenfalls wird eine fundierte Analyse zu diesen Fragen die Erweiterung des Untersuchungsrahmens über die traditionellen eurozentrischen Grenzen des vergleichenden Strafrechts hinaus auf einen globalen Strafrechtsdiskurs abwarten müssen. Im Moment bleibt jedoch noch viel zu tun, um die kritische Analyse des Strafrechts in den westlichen liberalen demokratischen rechtlich-politischen Systemen voranzutreiben. Die vorliegende Studie trägt zum engeren Projekt als Sprungbrett zum breiteren hin bei. Für die gegenwärtigen Zwecke ist das Ziel der vergleichenden historischen Analyse die genealogische Begründung des kritischen Rahmens, der diesem Buch unterliegt: die Unterscheidung zwischen Recht und Polizei als Idealtypen autonomer und heteronomer staatlicher Herrschaft vor dem Hintergrund der Entdeckung – oder Postulierung – der Fähigkeit zur Autonomie aller Personen als solcher, die zu dem Paradoxon der staatlichen Macht in modernen liberalen Demokratien führt.

C. Recht und Polizei: Kognitive Spannungen Die Unterscheidung und das Verhältnis zwischen Recht und Polizei ist komplex und entwickelt sich, nichtlinear und inkonsistent, sogar selbstwidersprüchlich, wie man angesichts der enormen Breite und Länge unserer Untersuchung nicht anders zu erwarten ist. Jeder Versuch, sie an einem Ort und zu einer Zeit festzuhalten, anstatt ihre Spuren in verschiedenen Kontexten zu dokumentieren, wird daher scheitern. Es kommt noch hinzu, dass sich der Begriff der Polizei (Policey, police) sich seit jeher so hartnäckig einer auch nur annähernd vollständigen oder konsistenten Definition verweigert hat, dass er sich letztendlich durch seine Undefinierbarkeit definiert hat, angesichts der Hoffnungslosigkeit jeden Versuch, den Geist (wenn nicht gar das Geheimnis) der Souveränität definitiv zu begreifen, ganz zu schweigen von der Sinnlosigkeit des Versuchs, das diskretionäre Wesen patriarchalisch-polizeilicher Herrschaft durch eine präzise Definition oder auch nur eine vollständige Aufzählung seiner Bestandteile und Objekte zu erfassen.45 Warum

44

Siehe z. B. Simon Swain, Economy, Family, and Society from Rome to Islam: A Critical Edition, English Translation, and Study of Bryson’s Management of the Estate, 2013. 45 Es ist bemerkenswert, wie viele Behandlungen von „Polizei“ über Zeit, Raum, Systeme und Genres hinweg (oft kritisch, manchmal anerkennend, gelegentlich resigniert) die immer wiederkehrende Vielzahl von Versuchen kommentieren, „Polizei“ zu definieren; die Widersprüchlichkeit zwischen diesen Versuchen (selbst innerhalb des Oeuvres eines bestimmten Autors, ganz zu schweigen von der Widersprüchlichkeit innerhalb eines einzigen Werkes); die

C. Recht und Polizei: Kognitive Spannungen

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sollte man Energie auf die Definition oder Beschreibung verschwenden, wenn aus der Entdeckung von Abweichungen von dieser Definition oder Beschreibung nichts folgt, außer vielleicht eine Anpassung dieser Definition oder Beschreibung, die einen endlosen Prozess auslöst, in dem die Katze ihren Schwanz jagt, währenddessen die Polizei als „das instabile, jederzeit reaktionsfähige Instrument der Verwaltung“ fungiert?46 Genauer gesagt, warum sollte man im rechtlich-politischen Kontext eine Art von Staatsmacht definieren oder spezifizieren, wenn die Ausübung über ihre definitiven oder deskriptiven Grenzen hinaus keine normative Bedeutung hat? Dennoch kann an dieser Stelle eine Zusammenfassung einiger Merkmale von Recht und Polizei nützlich sein. (Für eine detailliertere Darstellung der Unterscheidung mit Hilfe von kontrastierenden Bündeln von Merkmalen und verwandten Konzepten siehe unten.) Sicherlich wurden Recht und Polizei häufig, zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Kontexten, in unterschiedlichem Maße mit normativer Intention unterschieden. Während diese Unterscheidungen sich nicht zu einer sauberen Unterscheidung ohne Überschneidung oder Unsicherheit zusammenfassen lassen, vermitteln sie doch ein so klares Gefühl dafür, was Recht und Polizei trennt und verbindet, wie man es von dem Verhältnis zwischen zwei grundlegenden Vorstellungen von Herrschaft erhoffen kann, von denen einer durch seine Undefinierbarkeit definiert ist und ein anderer im Gegensatz zu dem ersten definiert wurde. Zunächst ist hervorzuheben, dass die Unterscheidung zwischen Recht und Polizei nicht statischer ist als die Konzepte von Recht und Polizei selbst oder die Konzepte, mit denen sie im Laufe der Zeit (und an verschiedenen Orten) verbunden sind oder waren. Die Version der Unterscheidung zwischen Recht und Polizei, die bei der in diesem Buch verfolgten kritischen Analyse am Werk ist, ist eine ausgesprochen moderne und systemische, die sich auf das konkrete moderne rechtlichpolitische Projekt beschränkt. Tatsächlich wird dieses Projekt durch den modernen Tendenz, sich einer Definition zu entziehen, indem man immer umfangreichere Listen von Polizeifunktionen, Beamten, Institutionen, Normen usw., zusammenstellt; und schließlich über die Vergeblichkeit jedes Versuchs, eine umfassende Definition oder Liste von Einzelheiten zu erstellen, die wiederum als Beweis für das ehrfurchtgebietende willkürliche, flexible, wahrlich souveräne Wesen staatlicher Macht, die der Begriff „Polizei“ erfasst und widerspiegelt, oder aber für die völlige Nutzlosigkeit des Begriffs und der ihm gewidmeten „Wissenschaft“, herangezogen werden kann. Damit wurde natürlich weder den Versuchen, „Polizei“ zu definieren, noch dem Studium von „Polizei“ ein Ende gesetzt, zumindest während der etwa zwei Jahrhunderte, in denen Polizeiwissenschaftler ihr Handwerk ausübten (bis zum Aufkommen des „Verwaltungsrechts“ in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts). Siehe z. B. ­Robert Mohl, Die Polizei-Wissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaates, Bd. 1, 1832, S. 10 Fn. 3 (Vielzahl von Definitionen); L. Joseph Gerstner, Einleitung in die gesamte Staatsverwaltungslehre, 1862, S. 224 (Polizei nichtssagend, Polizeiwissenschaft wertlos); SlaughterHouse Cases, 83 U. S. 36, 49 (1873) (es ist hinsichtlich der police power unmöglich, eine genaue Definition oder Begrenzung vorzunehmen, und muss es ihrem Wesen nach auch sein.). 46 Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 2: Staatsrechtslehre und Verwaltungswissenschaft 1800–1914, 1992, S. 244.

176

Kap. 3: Recht und Polizei als Herrschaftsmechanismen 

normativen Begriff des Rechts bestimmt, der einem modernen Konzept der Polizei als Herrschaftsmechanismus gegenübergestellt wurde, der der Kritik des modernen Rechts an der Staatsmacht nicht Rechnung tragen konnte. Das „Recht“ erhält erst dann seine scharfe kritische Prägung bzw. seinen markanten normativen Anspruch, wenn es in der komplexen Herausforderung der Aufklärung gegenüber etablierten Denk-, Handlungs- und Herrschaftsformen kritisch eingesetzt wird. Das Recht wird zum Herrschaftsmechanismus, das den Beginn eines neuen Projekts der staatlichen Herrschaft markiert, in dem der Staat die Aufgabe beginnt, seine Macht gegenüber seinen Objekten zu rechtfertigen, indem er sie paradoxerweise als Subjekte anerkennt und damit die Herausforderung der staat­lichen Macht, die er gerade zum ersten Mal erkannt hatte, gleich wieder wegdenkt. Bevor die Aufklärung begann, wurde das vormoderne Recht unbeschwert als Synonym für Herrschaft, Kontrolle, Macht, Polizei, Justiz und, was besonders interessant ist, Frieden verwendet. Der Souverän, der als Makro-Hausvater für seinen „großen“ Haushalt konzipiert wurde, integrierte menschliche – und andere – Ressourcen in seinen Frieden, der sich über den Bereich des traditionellen Haushalts (von denen jeder einen Hausvater und seinen Frieden hatte) hinaus auf den Frieden des Landes, des Reiches und des Imperiums erstreckte. Und so breitete sich der Frieden des Königs durch die Gerichte des Königs aus, die das königliche Recht in seinem Namen und in seinem Reich verkündeten und anwendeten. Aber nicht nur der Begriff des Rechts entwickelt sich im Laufe der Zeit erheblich, sondern auch die Konzepte, die helfen, ihn zu definieren (und die wiederum von ihm definiert werden), vor allem der Begriff der Autonomie. Wie wir gesehen haben, spiegelt der moderne Rechtsbegriff die Erfindung der Autonomie als eine Fähigkeit wider, die von allen Personen als solche im Bereich der Staatsmacht (und nicht nur dort) gleichermaßen in Anspruch genommen wird. Diese universelle Auffassung von Autonomie unterschied sich radikal von früheren Vorstellungen, in denen die Autonomie eher als eine nur wenige Privilegierte auszeichnende Fähigkeit angesehen wurde. Sogar im republikanischen Athen oder Rom war die Autonomie auf Hausväter beschränkt, die im öffentlichen Raum mit anderen (autonomen) Hausvätern interagierten, während sie zu Hause heteronom über ihren Haushalt herrschten. Tatsächlich kann ein Großteil der westlichen politischen Geschichte seit dem Zusammenbruch der römischen Republik als eine stetige Einschränkung der ohnehin schon engen republikanischen Konzeption angesehen werden. Im entwickelten Polizeistaat (oder Friedensstaat, in England)  ist die Autonomiefähigkeit auf den Makro-Hausvater beschränkt, dessen heteronome Herrschaft über sein Reich alle anderen Regierungsinstanzen (als Mikro-Haushalte) zu Orten der delegierten Autonomie, d. h. letztlich der Heteronomie, macht. Auf die zentrale Rolle der Autonomie bei der kritischen Analyse des Strafrechts werden wir später zurückkommen. Nun ist es an der Zeit, einen kurzen Blick auf einige wichtige Aspekte von Recht und Polizei und auf verwandte Konzepte zu

C. Recht und Polizei: Kognitive Spannungen

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werfen, die helfen, die Unterscheidung und Beziehung zwischen den beiden zu veranschaulichen, wobei man bedenken muss, dass die Unterscheidung zwischen Recht und Polizei ein heuristisches Mittel ist: Es ist nur so nützlich, wie es die kritische Analyse der Staatsmacht im Allgemeinen und im vorliegenden Buch der staatlichen Strafmacht im Besonderen ermöglicht oder erleichtert. Im Idealfall ist eine analytische Unterscheidung ungewohnt genug, um eine neue Perspektive zu eröffnen, aber auch vertraut genug, um mit gängigen Unterscheidungen oder Vorstellungen zu harmonieren. Für unsere Zwecke sollte die Unterscheidung auch historisch auf dem zu untersuchenden rechtlich-politischen Projekt beruhen und eine vergleichende und interdisziplinäre Untersuchung ermöglichen. Bei der Einführung der Unterscheidung zwischen Recht und Polizei kann es sich als hilfreich erweisen, sie neben andere Unterscheidungen zu stellen, die eines oder mehrere ihrer Merkmale erfassen oder ihre Bedeutung in einem bestimmten Kontext veranschaulichen (vor allem im Bereich der in diesem Buch untersuchten staatlichen Strafmacht). Die folgende Grafik (Tabelle 3.1) skizziert zwei Gruppen von Konzepten, die sich jeweils um Recht und Polizei drehen, und zeigt Zusammenhänge zwischen einzelnen Konzepten auf, die oft als kontrastierend oder gegensätzlich angesehen werden. Infolgedessen können einige Konzepte in gegensätzlichen Clustern auftreten, je nachdem, zu welchen spezifischen Konzepten sie im Gegensatz stehen. Das Diagramm ist als veranschaulichende und nicht als umfassende Darstellung konzipiert. Wie die Unterscheidung, die sie veranschaulichen soll, hat sie keine eigenständige Bedeutung. Einige der verwandten Unterscheidungen werden aus der vorherigen Diskussion bekannt sein. Die Einbeziehung anderer kann möglicherweise erst im weiteren Verlauf des Buches sinnvoll erscheinen (oder auch nicht). Anstatt zu versuchen, einen vollständigen Kommentar über diese Gruppierungen von Merkmalen und verwandten Konzepten zu bieten, konzentrieren wir uns zunächst auf einige wenige Begriffspaare, mit denen Aspekte der Unterscheidung zwischen Recht und Polizei erläutert werden können. Wir werden uns dann einigen konkreteren dualistischen Analyseprojekten (z. B. Herbert Packer, Günther Jakobs, Herbert Morris) zuwenden, die bestimmte Aspekte der Unterscheidung zwischen Strafrecht und -polizei aufgreifen, wenn wir unsere kritische Analyse auf die Strafmacht des Staates zuspitzen (im nächsten Kapitel). Betrachten wir zum Beispiel, wie die Unterscheidung zwischen Privilegien (privileges) und Rechten (rights) als eine Möglichkeit gesehen werden kann, den Unterschied zwischen Polizei und Recht zu verfolgen. Man könnte sich die Erfindung der Autonomie so vorstellen, dass sie im politischen Bereich einen Sprachwechsel von Privilegien hin zu Rechten impliziert. Personen können, müssen aber nicht, Privilegien haben. Eine Person ohne Privilegien ist kein Selbstwiderspruch, aber es kann keine rechtlose Person geben.

178 Recht agora Angeklagter Autonomie Beherrschtensicht Bestrafung Bestrafung Bindung Ermessen Bürger Bürger Bürgerstrafrecht due process ex post formell forum forum Freispruch Geldstrafe Gebrauch Handel Vertrieb Gerechtigkeit Gerechtigkeit Gerechtigkeit Gerechtigkeit Gerechtigkeit Gerechtigkeit Gerechtigkeit Gesetzbuch Gesetzbuch Legalität (legality) Gleichheit government Handlung

Kap. 3: Recht und Polizei als Herrschaftsmechanismen  Polizei oikos Verurteilter Heteronomie Herrschersicht Disziplinierung Behandlung Ermessen Bindung Ausländer (alien) Feind Feindstrafrecht47 crime control48 ex ante informell domus familia Begnadigung Geldbuße / Bußgeld Besitz Besitz Besitz Effizienz Effektivität Kompetenz Frieden Klugheit Wohlfahrt Weisheit Ordnung Verordnung Geschäftsführung49 Hierarchie governance Gesinnung

Handlung Hard Law Haushaltsvorstand Haushälter Hausvater homicide horizontal Ideal Ideologie Judikative Judikative Krieg Legislative Legitimität malum in se Mord Norm Normenstaat Notstand Notstand als Rechtfertigung Notwehr Notwehr Opfer (Person) Person Person Person Prinzip Prinzip Prinzip Prinzip

Status Soft Law Haushalt Haushalt Haushalt petit treason50 vertikal Wirklichkeit Realität Exekutive Legislative Polizeiaktion (police action)51 Exekutive Legalität malum prohibitum Mörder Prärogativ Maßnahmenstaat52 Nötigungsnotstand (duress) Notstand als Entschul­ digung Schuldunfähigkeit53 Provokation (provocation) Opfer (Staat) Störer54 Park(Steuer-, Verkehrs-)sünder Gefährder Brauch Leitlinie Maxime Norm

47 Siehe Günther Jakobs, On the Theory of Enemy Criminal Law, in: Markus D. Dubber (Hrsg.), Foundational Texts in Modern Criminal Law, 2014, S. 415, 418–419. 48 Herbert L. Packer, Limits of the Criminal Sanction, 1968. 49 Lon L. Fuller, Morality of Law, 2. Aufl. 1964, S. 207–214. 50 Treason Act 1351; Dubber, The Police Power (Fn. 7), S. 24–30. 51 Markus D. Dubber, The New Police Science and the Police Power Model of the Criminal Process, in: Markus D. Dubber / Mariana Valverde (Hrsg.), The New Police Science: The Police Power in Domestic and International Governance, 2006, S. 107 (ohne Kriegserklärung: z. B. Vietnam); Mark Neocleous, War Power, Police Power, 2014. 52 Ernst Fraenkel, The Dual State: A Contribution to the Theory of Dictatorship, 1941. 53 Anne M. Coughlin, Excusing Women, in: Cal. L. Rev. 82 (1994), S. 5 („Battered Woman“Syndrom). 54 Wolf-Rüdiger Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, 6. Aufl. 2009, § 4.

C. Recht und Polizei: Kognitive Spannungen Prinzip Prinzip privat Privatrecht Privatwohl Recht Recht Recht Recht Recht Rechtfertigung Rechtsstaat Rechtsstaat (materiell) Regel Regel Regierung Regierung Regierung Regierung Regierung Regierung Regierung Regierung Retributivismus Rhetorik Schuld Schuld(haftigkeit) Schuldlosigkeit Soldat Staat Strafe Strafe Strafgesetzbuch

55

Regierungsprogramm (policy)55 Regel öffentlich Öffentliches Recht Allgemeinwohl Verwaltung Ethos Reglementierung Interesse Privileg Entschuldigung Polizeistaat Rechtsstaat (formell) Maxime Standard Kontrolle Herrschaft Führung (management)56 Pastoralmacht57 Patriarchat Regime Souveränität Staat Behandlungsansatz Gewalt Gefährlichkeit Gefährlichkeit Schuldunfähigkeit Partisan Haushalt Buße58 Maßnahme59 Ordnungswidrig­ keitengesetz

Strafgesetzbuch (Deutschland) Strafrecht Straftäter Straftäter Strafverfahren streng / strikt Subjekt Tatstrafrecht Tatstrafrecht Theorie Trunkenheit Überzeugung Verbrechen Verbrechen Verbrechen Verdächtigter Vergeltung Prävention Verminderte Zurechnungs­ fähigkeit verpflichtend beratend Verteidigung ­(defense) Vertrieb Vorsatz Vorsatz Vorsatz Vorsatz Vorsatz (intent) Würde (moralisch) Würde (Person) Würde (universal) Zwang

179

Model Penal Code (USA) Verwaltungsrecht Verbrecher Delinquent plea bargaining flexibel Objekt Gesinnungsstrafrecht Täterstrafrecht Praxis Vollrausch Zwang Delikt (offense) Vergehen Polizeidelikt Angeklagter Prävention Vergeltung Unzurechnungs‑ fähigkeit beratend60 verpflichtend Freistellung (exemption)61 Besitz Habgier niedrige Beweggründe Heimtücke Mordlust Böswilligkeit (malice) Würde (sozial) Würde (Souverän) Würde (Status) Gewalt

Ronald Dworkin, Taking Rights Seriously, 1978, S. 22. Robert C. Post, Between Governance and Management: The History and Theory of the Public Forum, in: UCLA L. Rev. 34 (1987), S. 1713 (freie Meinungsäußerung). 57 Michel Foucault, Omnes et Singulatim: Towards a Criticism of „Political Reason“, Tanner Lectures in Human Values, 1979. 58 § 40 StGB (Geldstrafe) vs. § 65 OWiG (Geldbuße). 59 Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung vom 24. November 1933 (RGBl. I, S. 995). 60 United States v. Booker, 543 U. S. 220 (2005) (U. S. Sentencing Guidelines). 61 Markus D. Dubber, Policing Possession: The War on Crime and the End of Criminal Law, in: J. Crim. L. & Criminology 91 (2001), S. 829, 931–934. 56

180

Kap. 3: Recht und Polizei als Herrschaftsmechanismen 

Im amerikanischen Verfassungsrecht wird die Unterscheidung zwischen Recht und Privileg oft ignoriert; wenn sie überhaupt bemerkt wird, wird sie oft schnell als unbedeutend oder tendenziös abgetan.62 Der amerikanische Rechtsdiskurs berücksichtigt die Unterscheidung zwischen Recht und Privileg nur selten außerhalb des Verfassungsrechts, das gezwungen ist, sich damit, nolens volens, in der Lehre auseinanderzusetzen (unter Bezugnahme auf „Privilegien und Immunitäten“ im Verfassungstext und der Gewohnheit des U. S. Supreme Court, die Unterscheidung in opportunen Momenten wiederzuentdecken). Wenn die Aufmerksamkeit trotzdem auf unsere Unterscheidung fällt, geht man fast zwangsläufig von Hohfelds formalistischer Diskussion der Unterscheidung aus.63 Hohfeld jedoch, so sorgfältig, detailliert und einflussreich seine Analyse der „juridischen Beziehung“ zwischen Rechten und Privilegien und vielen anderen mehr auch sein mag, interessierte sich für die Unterscheidung in der abstrakten Rechtsdogmatik, nicht für ihre Bedeutung im Rahmen einer Untersuchung über die Art und Legitimität staatlichen Handelns. Für unsere Zwecke lassen sich Privilegien und Rechte grob wie folgt unterscheiden. Privilegien werden verliehen, gewährt, vergeben, verkauft  – absolut, qualifiziert, unvollständig. Rechte hingegen werden anerkannt. Privilegien können aufgehoben (wie das „Privileg“ des Habeas Corpus64), ausgesetzt, widerrufen, entzogen werden. Rechte hingegen werden verletzt, gebrochen, ja sogar mit Füßen getreten. Ein Privileg ist ein Anspruch, eine Lizenz, eine Immunität. Ein Privileg kann abgetreten, aufgegeben werden oder verloren gehen. Ein Recht kann nicht ausgeübt werden, kann nicht geltend gemacht werden, aber es kann nicht verwirkt werden (obwohl seine Ausübung eingeschränkt werden kann). Ein Privileg ist ein externe Wohltätigkeit, eine Erlaubnis, eine Auszeichnung. Ein Recht ist ein internes Attribut, eine Kapazität, eine Macht. Privilegien sind eine Gnadenssache; Rechte sind eine Gerechtigkeitssache.65 62

Akhil Reed Amar, The Bill of Rights („Synonyme“), 1998, S. 176. Siehe auch William W. van Alstyne, The Demise of the Right-Privilege Distinction in Constitutional Law, in: Harv. L. Rev. 81 (1968), S. 1439; Rodney A. Smolla, The Reemergence of the Right-Privilege Distinction in Constitutional Law: The Price of Protesting Too Much, in: Stan. L. Rev. 35 (1982), S. 69. 63 Wesley Newcomb Hohfeld, Some Fundamental Legal Conceptions as Applied in Judicial Reasoning, in: Yale L. J. 23 (1913), S. 16. Der zweite Teil des Artikels erschien 1917; beide wurden 1923 zusammen als Buch wiederveröffentlicht. Zu Hohfeld, siehe Duncan Kennedy / Frank Michelman, Are Property and Contract Efficient?, in: Hofstra L. Rev. 8 (1980), S. 711; Joel Singer, The Legal Rights Debate in Analytical Jurisprudence from Bentham to Hohfeld, in: Wisc. L. Rev. 1982, S. 975. 64 U. S. Verfassung, Art. I, § 9, cl. 2. 65 Vgl. die Diskussion der Unterscheidung zwischen Freiheiten (liberties) und Freiheit (liberty) in Paul Hallidays brillanter Geschichte des (königlichen, prärogativen) Habeas Corpus. Siehe Paul D. Halliday, Habeas Corpus: From England to Empire, 2010, S. 7, 14. Eine ähnliche Unterscheidung kann als Grundlage für die Unterscheidung zwischen Rechtfertigung und Entschuldigung im Strafrecht gesehen werden und kann auf diese Weise dazu beitragen, die Bemühungen zur Vermeidung von Exkulpation – oder eher Milderung und vielleicht sogar Absehen von Strafe – durch Entschuldigung statt durch Rechtfertigung zu erklären, selbst wenn die Wirkung auf die Strafe dieselbe ist; siehe z. B. Elizabeth M. Schneider, Battered Women and Feminist Lawmaking, 2000, S. 135–137; Anne M. Coughlin, Excusing Women, in: Cal. L. Rev. 82 (1994), S. 5.

C. Recht und Polizei: Kognitive Spannungen

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Das Privileg kann dem Inhaber – dem Empfänger – Immunität gewähren, d. h. Schutz vor bestimmten Formen staatlicher Eingriffe. Rechte bieten ebenfalls Schutz, sind aber kein besonderer Dispens, der von einer höheren Macht (dem Prärogativ) gewährt wird. Privilegien sind von Natur aus ungleich; es kann kein universelles Privileg geben, keine gleichen Privilegien für alle. Ein Privileg ist nach Pollock und Maitland eine „Ausnahmeerscheinung“, eine Ausnahme von der Regel.66 Im Gegensatz dazu sind Rechte Normen, deren Beeinträchtigungen – und Verletzungen –, einer Rechtfertigung bedürfen. Es könnte auch hilfreich sein, die Unterscheidung zwischen Polizei und Recht mit anderen systemischen Unterscheidungen zu vergleichen. Nehmen wir die bekannte Unterscheidung zwischen equity und (common) law in der angloamerikanischen Rechtsgeschichte. Equity ist in seinen informellen, diskretionären, persönlichen und prärogativen Aspekten polizeiähnlich. Gleichzeitig ist sie in ihrem Streben nach Gerechtigkeit und nicht nach Effizienz rechtsähnlich, obwohl der Begriff „Gerechtigkeit“ hier fest vormodern bleibt, indem sie das Objekt der Gerechtigkeit nicht als Person betrachtet, sondern immer noch als ein Untertan, der den König in seiner Gnade um außerordentliche, wenn auch gerechte Rechtshilfe bittet, die ihm im normalen formalistischen Rechtssystem der common law-Gerichte verwehrt blieb. Die Unterscheidung zwischen negativer und positiver Freiheit folgt nicht der zwischen Polizei und Recht, sondern scheint in den Bereichen von Polizei und Recht eingebettet zu sein. Im Bereich des Rechts kann positive Freiheit mit einem breiteren Verständnis von Autonomie als der Freiheit – und vielleicht sogar der Gelegenheit – verbunden sein, seine Fähigkeit zur Autonomie auszuüben und zu entwickeln (Freiheit zu, bzw. aktive Autonomie), während negative Freiheit ein engeres, defensives Autonomieverständnis als Freiheit vor staatlicher Einmischung (Freiheit von, bzw. passive Autonomie oder Privatsphäre) erfasst. Es ist schwierig, die Unterscheidung zwischen negativer und positiver Freiheit aus polizeilicher Sicht zu begründen, es sei denn, man nimmt eine weite Auslegung von „Freiheit“ vor, die sie praktisch von „Wohlfahrt“ oder „Wohlbefinden“ oder „Selbstverwirklichung“ ununterscheidbar macht. In diesem Fall würde die Unterscheidung zwischen positiver und negativer Freiheit im Bereich der Polizei derjenigen zwischen der „traditionellen“ (expansiven) und der „modernen“ (restriktiven) Sichtweise der Polizeimacht folgen, einer Differenzierung die in konzeptuellen Geschichten der Polizei, insbesondere im Deutschland des späten 18. und 19. Jahrhunderts, üblicher­weise auftaucht.67 66 Frederick Pollock / Frederic William Maitland, The History of English Law Before the Time of Edward I, Bd. 1, 2. Aufl. 1898, S. 640; siehe auch ebd., S. 512 („‚Prärogative‘ ist die Ausnahme.“). 67 Das Standardnarrativ der Geschichte der „Polizei“ in Deutschland zeichnet eine allgemeine Entwicklung von einer „absolutistischen“ zu einer „liberalen“ Konzeption nach, von der umfassenden Regelung aller Aspekte des Wohlstands des Staatshaushalts (einschließlich Moral, Religion, Ästhetik, Wohlstand, Sauberkeit usw.) bis zur Aufrechterhaltung der Sicher-

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Nichts davon bedeutet, dass die Unterscheidung zwischen negativer und positiver Freiheit (oder, was das betrifft, zwischen Equity und Recht) nicht so interpretiert werden kann, dass sie dem zwischen Polizei und Recht entspricht. Isaiah Berlins Kritik an der positiven Freiheit könnte dann als Wiederholung des traditionellen liberalen Angriffs auf den Polizeistaat aus der Sicht des Rechtsstaats gelesen werden. Auf der einen Seite wäre der Polizeistaat, der darauf erpicht ist, seinen Ermessensspielraum und seine unbegrenzte patriarchalische – und nicht bloß paternalistische – Macht auszuüben, um seinen Makro-Haushalt zu regieren, gegebenenfalls unter dem Vorwand, die volle Entfaltung der positiven Freiheit seiner menschlichen Haushaltsressourcen zu fördern, und auf der anderen der Rechtsstaat, der sich bescheidenerweise damit begnügt die negative Freiheit seiner Bürger zu wahren.68 Auf diese Weise würde das Argument von Berlin eine häufige Form des kritischen Einsatzes der Unterscheidung zwischen Recht und Polizei veranschaulichen, die Aufdeckung einer Falschmarkierung einer polizeilichen Handlung (oder sogar eines ganzen staatlichen Regimes) als Rechtshandlung (oder Regime). Was eine Handlung zu sein scheint, die die Autonomie der Subjekt-Objekte der Staatsmacht heit als notwendige Voraussetzung für die Ausübung von Freiheit. Übliche Meilensteine sind die Definition der Polizeifunktion im preußischen Allgemeinen Landrecht (ALR) von 1794, Teil II, 17. Titel, § 10 („Die nöthigen Anstalten zur Erhaltung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit, und Ordnung, und zur Abwendung der dem Publico, oder einzelnen Mitgliedern desselben, bevorstehenden Gefahr zu treffen, ist das Amt der Polizey.“), das sogenannte Kreuzberger Urteil des Preußischen Obersten Verwaltungsgerichtshofs fast ein Jahrhundert später, PrOVGE 9 (1882), 353 (allgemeine Polizeibefugnis beschränkt auf den Schutz der Allgemeinheit vor Gefahren), und ein weiteres halbes Jahrhundert später die Verabschiedung des Preußischen Polizeiverwaltungsgesetzes von 1931, § 14 Abs. 1 PVG („Die Polizeibehörden haben im Rahmen der geltenden Gesetze die nach pflichtmäßigem Ermessen notwendigen Maßnahmen zu treffen, um von der Allgemeinheit oder dem einzelnen Gefahren abzuwehren, durch die die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bedroht wird.“). Siehe Stefan Naas, Die Entstehung des Preußischen Polizeiverwaltungsgesetzes von 1931 (2003). Dieses Narrativ sollte vielleicht aus mehreren Gründen mit Vorsicht genossen werden. Die erste Formulierung des angeblich restriktiven „liberalen“ Polizeibegriffs wurde auf dem Höhepunkt eines absolutistischen Polizeistaates verbreitet. Das Kreuzberg-Urteil hat nichts weiter getan, als die Definition des ALR von Polizei neu zu formulieren, und suggerierte, dass sie – zumindest bis zum Ende des 19. Jahrhunderts – ein toter Buchstaben geworden war (falls sie überhaupt jemals Biss hatte, was angesichts der Umstände ihrer Einführung fraglich erscheint). Ähnliches ließe sich über das preußische Polizeiverwaltungsgesetz der späten Weimarer Zeit sagen, das typischerweise als bloße Kodifizierung des Kreuzberger Urteils dargestellt wird, das – wie wir gerade gesehen haben – als gerichtliche Anerkennung der Kodifizierung des (proto-?)liberalen Polizeibegriffs im umfangreichen Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 dargestellt wird. Es hilft nicht weiter, dass das preußische Polizeiverwaltungsgesetz während der gesamten NS-Zeit in Kraft blieb; die oft zitierte „liberale“ Definition von Polizei in Abschnitt 14 jenes Gesetzes scheint die polizeiliche Tätigkeit des NS-Regimes nicht eingeschränkt zu haben. Die NS-Zeit wird im Allgemeinen als ein anomales Zwischenspiel behandelt, das 1945 ein Ende fand, als das deutsche Polizeiregime zu der 1933 unterbrochenen liberalen Tradition zurückkehrte. Mit anderen Worten: Die deutsche Standardgeschichte der „Polizei“ stimmt mit dem bereits erwähnten selbstgerechten Narrativ des deutschen Strafrechts und des deutschen Rechtsstaates überein. 68 Isaiah Berlin, Two Concepts of Liberty (1958), in: Four Essays on Liberty, 1969, S. 118.

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manifestiert, erweist sich als eine Handlung, die die patriarchale Macht des Staates über seine Objekte manifestieren soll.69 Schließlich kann es hilfreich sein, die Unterscheidung zwischen Polizei und Recht mit der Unterscheidung von Ernst Fraenkel zwischen dem Maßnahmenstaat und dem Normenstaat in Der Doppelstaat zu vergleichen, seiner 1941 (zunächst auf English erschienenen) kritischen Analyse des deutschen Vorkriegsstaates unter dem Nationalsozialismus, mit besonderem Fokus auf dem Verwaltungsrecht und insbesondere dem Arbeitsrecht.70 Wie die Polizei in unserem dualistischen Ansatz ist auch der für den Maßnahmenstaat Fraenkels charakteristische Herrschaftsmechanismus im Wesentlichen diskretionär und willkürlich, hierarchisch und apersonal, strebt eher nach Effizienz als nach Gerechtigkeit, unterliegt nur selbst auferlegten Zwängen, wenn überhaupt, und ähnelt dem quasi-familiären und hierarchischen Kriegsrecht (im Sinne der internen Militärpolizei, nicht der Ausweitung der Militärpolizei auf Zivilpersonen). Wie das Recht ist die Herrschaft im Normenstaat dagegen formal und regelgebunden (rule-bound) statt informell und standardbasiert (standard-based). Das Rechtsmodel in unserem analytischen Rahmen, im Gegensatz zu Fraenkels Normenstaat, ist jedoch nicht darauf ausgerichtet, die Stabilität und Berechenbarkeit zu erhalten, die für die kapitalistische Interaktion zwischen den Beteiligten (einschließlich Wirtschaftsakteuren) erforderlich ist, während der Maßnahmenstaat über Außenstehende oder Unerwünschte verfügt. Wenn es ein prägendes Merkmal des Normenstaates gibt, der laut Fraenkel eben nicht mit dem Rechtsstaat zu verwechseln ist,71 so ist dies der Kapitalismus, nicht die Autonomie, und das Streben nach Vermögen anstatt nach Gerechtigkeit. Anders ausgedrückt, ­Fraenkel liefert eine sozialistische und nicht eine liberale Analyse des nationalsozialis­ tischen Rechtsregimes. Sowohl der Maßnahmenstaat als auch der Normenstaat erscheinen also als Variationen eines Polizeistaats in unserem Sinne, in denen der Staatssouverän verschiedene Regierungsobjekte zu verschiedenen Zwecken mit verschiedenen Methoden kontrolliert. Bereits der griechische oikonomikos mochte Frauen, Kinder, Sklaven, und Tiere unterschiedlich behandeln, und doch gehörten alle zu seinem oikos. Nichts davon ist überraschend. Schließlich hat Fraenkels brillante (und mutige) Studie eine detaillierte Analyse des Verwaltungsrechts und der Verwaltung in den Gründungsjahren eines totalitären Staates zum Inhalt. Es ist sowohl eine faszi 69 Eine Variation über dieses Thema umreißt die Kritik im Hinblick auf die Unvermeidbarkeit eines Polizei-Regimes als dem einzigen Mittel zum Zweck einer positiven Freiheit, ohne ausdrücklich die Ernsthaftigkeit der Verfolgung dieses Ziels in Frage zu stellen. 70 Ernst Fraenkel, The Dual State: A Contribution to the Theory of Dictatorship, 1941. ­Fraenkel stützte sich dabei auf seine Erfahrungen als Anwalt während der Weimarer Republik und der frühen Jahre des NS-Regimes, bis er 1938 aus Deutschland zunächst nach England und dann nach Amerika flüchtete. 71 Fraenkel, The Dual State (Fn. 70), S. 71.

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nierende zeitgeschichtliche Darstellung des Arbeitsrechts im Übergang von der Weimarer Republik zum nationalsozialistischen Staat als auch, so der Untertitel der englischsprachigen Originalausgabe, „ein Beitrag zur Theorie der Diktatur“. Tatsächlich wird Fraenkels zu Unrecht vernachlässigte Studie heute vor allem als Beitrag zur voluminösen Literatur über Totalitarismus im Allgemeinen und den Nationalsozialismus im Besonderen gelesen zu werden. Der „Doppelstaat“ ist ein brillantes Werk der dualistischen Analyse des öffentlichen Rechts im weiteren Kontext einer kritischen Analyse der Staatsmacht, das dogmatische mit theore­ tischen und historischen Ansätzen kombiniert.72 Fraenkels Unterscheidung zwischen dem Normenstaat und dem Maßnahmenstaat spiegelt auch eine heutzutage häufige, aber potenziell irreführende Verbindung zwischen dem Polizeibegriff und der Exekutive (und, weniger deutlich, der Legislative) auf der einen Seite und Recht und Justiz auf der anderen Seite wider.73 Es gibt keinen notwendigen Zusammenhang zwischen einem Herrschaftsmechanismus und denen, die ihn anwenden; als Mechanismus der staatlichen Herrschaft überhaupt stehen sowohl die Rechts- als auch die Polizeimacht jedem staatlichen Akteur zur Verfügung, unabhängig davon, welche Funktion er in der Struktur der staatlichen Herrschaft ausüben sollte. Es ist bekannt, dass Richter (insbesondere angloamerikanische Richter) sich gern selbst als Hüter des Rechts darstellen, während die anderen Regierungs­ gewalten Polizeimacht ausüben; und doch haben auch Richter sich eifrig der Polizei­macht bedient, sei es explizit mit Hilfe des „Common Law“ (also von Richtern ins Leben gerufenen und jahrhundertelang weiterentwickelten) Delikts des „öffentlichen Ärgernisses“ (nuisance)74 oder der Schaffung und Anwendung anderer Polizeidelikte (sogenannte „Common Law misdemeanors)“,75 oder impli 72

Eine Neuauflage von Fraenkels Buch ist kürzlich mit einer Einführung von Jens Meierhenrich bei Oxford University Press erschienen. Siehe Ernst Fraenkel, The Dual State: A Contribution to the Theory of Dictatorship, 2017; siehe auch Jens Meierhenrich, The Remnants of the Rechtsstaat: An Ethnography of Nazi Law, 2018. 73 So dass der Eingriff des Maßnahmenstaates in den Normenstaat als Erosion der richterlichen Unabhängigkeit und als Absorption der Judikative in die (exekutive) Verwaltungsbürokratie des Staates erscheint. 74 Siehe Ernst Freund, Standards of American Legislation, 2. Aufl. 1965 (Orig.: 1. Aufl. 1917), S. 66 („Das common law der Polizeimacht [the common law of the police power], das auf alle groben Verstöße gegen Gesundheit, Sicherheit, Ordnung und Moral abzielt“); siehe auch Dubber, Police Power (Fn. 7), S. 93–104. 75 Das amerikanische Verständnis von Common Law-Delikten stützte sich (bemerkenswerterweise) auf Blackstones oben zitierte Definition von „öffentlicher Polizei und Ökonomie“ als „angemessene Regelung und häusliche Ordnung des Königreichs, wonach die Individuen des Staates, wie die Mitglieder einer wohlregierten Familie, verpflichtet sind, ihre Lebensweise den Regeln des Anstands, der guten Nachbarschaft und der guten Manieren anzupassen und sich anständig, fleißig und unanstößig zu verhalten.“ Die richterlichen Common-Law Delikte waren schlicht Blackstones „Vergehen, die das Commonwealth in besonderer Weise betreffen“ – d. h. Vergehen „gegen die öffentliche Polizei oder die Ökonomie“ –, die die Legislative, aus welchen Gründen auch immer, noch nicht als solche anerkannt hatte. Es ist aufschlussreich,

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zit in ihrer „inhärenten“ – und daher nicht unbedingt kodifizierten76 und vielleicht sogar unkodifizierbaren – Macht, die zivile und sogar strafrechtliche „Gerichtsbeleidigung“ (contempt of court) anzuerkennen und zu gebrauchen, z. B. in Fällen der „Widerspenstigkeit“ (contumacy) vor Gericht.77 Die Verbindung zwischen Judikative und Rechtsstaatlichkeit ist nicht notwendiger als die zwischen Judikative und Verfassungsrechten oder, allgemeiner gesagt, der Befugnis zur verfassungsmäßigen Überprüfung von Handlungen der Gesetzgebung und Exekutive.78

dass sich die amerikanischen Gerichte bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein auf diese ausdrücklich englische und monarchische Auffassung von Verbrechen und ihre Befugnis, sie polizeilich zu verfolgen, stützten, indem sie die obige Blackstone-Passage in ihrer ursprünglichen Form zitierten, ohne sich auch nur die Mühe zu machen, die Referenz auf die „Ordnung des Königreichs“ zu beseitigen. Der Souverän mag sich geändert haben, aber die Auffassung von Souveränität – und die damit einhergehende Auffassung von Verbrechen – blieb in der New Republic bestehen. 76 Siehe United Nurses of Alberta v. Alberta, [1992] 1 S. C.R. 901 (Can.). 77 Ebd. 78 Siehe Noga Morag-Levine, Common Law, Civil Law, and the Administrative State: From Coke to Lochner, Const. Comm. 24 (2008), S. 601; Dubber, Police Power (Fn. 7).

Kapitel 4

Strafrecht und Strafpolizei im doppelten Strafstaat Da wir nun einen ersten Eindruck von der Unterscheidung zwischen Recht und Polizei im historischen, systemischen und konzeptionellen Kontext haben, beschränken wir unseren methodischen Fokus von der Staatsmacht im Allgemeinen auf den spezifischen Bereich der in diesem Buch untersuchten Staatsmacht, das Strafen. Wir werden also die Konzeption und Funktionsweise von Recht und Polizei als Mechanismen der Strafherrschaft im doppelten Strafstaat, als Strafrecht und Strafpolizei untersuchen. Die Strafpolizei als Beispiel polizeilicher Herrschaft wurzelt in der Disziplinargewalt des Hausvaters über die Mitglieder seines Haushalts, die den überlegenen Status des Bestrafenden sowohl im Prozess (der privat, informell und summarisch war) als auch im Inhalt (der die körperliche Züchtigung maßgeblich mit einbezog) widerspiegelt. Das Strafrecht hingegen ergibt sich aus öffentlichen Prozessen der gemeinschaftlichen Normdurchsetzung und Streitbeilegung unter Gleichen, wie zum Beispiel Volks- und Geschworenengerichten; die Gleichheit von Bestrafenden und Gestraften manifestierte sich dort in formalen und partizipativen Verfahren, die die Verhängung von (meist) nicht-körperlichen Strafen in Aussicht stellten.1 Betrachten wir als ein bekanntes Beispiel den Prozess gegen Sokrates vor 500 athenischen Bürgern, die nach einem zehnstündigen Prozess über Schuld und Strafe abstimmten. Der Angeklagte beteiligte sich dort nicht nur an der Anwendungsphase, dem Prozess im engen Sinne (trial), durch eine dreistündige Rede zur Schuldfrage (unter anderem von Platon aufgezeichnet) sowie einer Empfehlung zur Frage der Bestrafung nach dem Schuldspruch, sondern bekanntlich auch an der Vollstreckung der Strafe durch Trinken eines Bechers Schierling. Der Fall Sokrates veranschaulicht eine weitere, nicht-körperliche Selbstbestrafung, die den angeklagten Bürgern zur Verfügung stand: das Exil. Sokrates nahm an seiner eigenen Bestrafung teil, indem er das Gift dem Exil vorzog und es sich dann selbst verabreichte.2 1

Siehe z. B. David Cohen, Theories of Punishment, in: Michael Gagarin / David Cohen (Hrsg.), The Cambridge Companion to Ancient Greek Law, 2005 („Was den Sklaven vom freien Menschen unterscheidet, ist, dass letzterer in seinem Körper unantastbar ist, was selbst dann respektiert wird, wenn er wegen einer Missetat verurteilt wird.“). 2 Zur – ebenfalls doppelt autonomen – Option des Selbstexils im römischen Recht siehe Theodor Mommsen, Römisches Strafrecht, 1899, S. 68–73. Zur römischen Praxis, Angeklagten zu erlauben, Selbstmord zu begehen, um eine Hinrichtung zu vermeiden, siehe ebd., S. 934. Ich danke Clifford Ando für die hilfreichen Diskussionen über dieses Thema.

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Bei Nicht-Bürgern, insbesondere bei Sklaven, wurde keine ähnliche Fürsorge gezeigt. Das griechische Recht hat in der Tat einen grundlegenden Unterschied zwischen Freien und anderen anerkannt, wobei nur erstere zur Geltendmachung von Gerechtigkeitsansprüchen befugt waren und im Falle einer Verurteilung nur mit Geldstrafen und Verwirkung belegt wurden, während die körperliche Strafe auf die Unfreien beschränkt war. Das öffentliche System der Strafjustiz in der Athener Agora, das im Prozess gegen Sokrates veranschaulicht wurde, wurde durch das private System der Strafdisziplin im Oikos ergänzt.3 Theodor Mommsen verfolgte in seiner monumentalen und noch immer maßgeblichen Geschichte des römischen Strafrechts die Ursprünge des römischen Strafrechts bis zur patria potestas des römischen Hausvaters über die Mitglieder seines Haushalts zurück.4 Gustav Radbruch verwies auf den radikalen Unterschied zwischen der Lösung von Streitigkeiten zwischen Hausvätern und der Bestrafung freier Bürger einerseits und der haushaltinternen Strafdisziplin der Unfreien im frühgermanischen Recht andererseits. Letzteres betrachtete er als den Ursprung des Strafrechts, insbesondere des öffentlichen Strafrechts, da die einst den Unfreien vorbehaltenen körperlichen Strafen auf Freie ausgedehnt wurden; die Konfliktresolution zwischen Hausvätern führte dagegen zum Völkerrecht.5 Thorsten Sellin hat einige Jahrzehnte später einen ähnlichen Standpunkt vertreten, mit besonderem Augenmerk auf der Strafdisziplin von Sklaven seit dem antiken Athen.6 Die amerikanische Doktrin hat die Polizeimacht seit langem als Quelle der Strafmacht des Staates identifiziert.7 Hier setzten die Amerikaner die jahrhunderte­alte englische Praxis fort, Verbrechen als Verletzung oder Störung des Friedens des Herrschers zu betrachten, indem sie einfach einen Souverän (den König) gegen einen anderen tauschten („Friede des Commonwealth“, „Friede des Staates“, oder „Friede des Volkes“, oder, einfach „öffentlicher Friede“).8 So erkannte der U. S. Supreme Court 1985 eine „doppelte Souveränitäts-„Ausnahme (dual sovereignty exception) vom verfassungsrechtlichen Verbot der Doppelbestrafung an, einen Angeklagten für die „gleiche Straftat“ zweimal strafrechtlich zu belangen, indem 3

Siehe allgemein Paul Vinogradoff, Outlines of Historical Jurisprudence, 1922, Kap. 9. Mommsen, Römisches Strafrecht (Fn. 2), S. 17 („Wie um den Strom zu erkennen man die Quelle im Sinn behalten muss, so kann auch das römische Strafrecht nur verstanden werden auf der Grundlage der Hauszucht.“). 5 Gustav Radbruch, Der Ursprung des Strafrechts aus dem Stande der Unfreien, in: Elegantiae Juris Criminalis: Vierzehn Studien zur Geschichte des Strafrechts, 1950, S. 11 (zuerst veröffentlicht in: Elegantiae Juris Criminalis: Sieben Studien zur Geschichte des Strafrechts, 1938). 6 Thorsten Sellin, Slavery and the Penal System, 1976. Es lohnt sich zu erwähnen, dass Sellin, als einziger unter den zitierten Autoren den Ursprung der modernen Strafpraktiken in der Disziplin unfreier Haushaltsmitglieder kritisch ausgewertet hat. 7 Siehe z. B. Foucha v. Louisiana, 504 U. S. 71, 80 (1992); Wayne R.  LaFave / Austin W.  Scott, Jr., Substantive Criminal Law, 2. Aufl. 1986, § 2.10; Clarence E.  Laylin / Alonzo H. Tuttle, Due Process and Punishment, in: Mich. L. Rev. 20 (1922), S. 614, 622; Sutton v. New Jersey, 244 U. S. 258 (1917). 8 Siehe Frederick Pollock, The King’s Peace, in: Law Notes 6, S. 5, 5 (April 1902). 4

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er sich auf „die Common Law-Konzeption des Verbrechens als Straftat gegen die Souveränität der Regierung“ berief. Nach dieser Auffassung hat „ein Angeklagter, der in einer einzigen Handlung den „Frieden und die Würde“ zweier Souveräne verletzt, indem er die Gesetze von beiden bricht, zwei verschiedene ‚Straftaten‘ begangen“ und wird daher nicht für „die gleiche Straftat“ belangt.9 Nach dieser Konzeption war das ultimative und paradigmatische Opfer von Verbrechen der Hausvater-König. Ein Verbrechen stellte ein Vergehen gegen die Souveränität des Königs dar, ein Akt des Ungehorsams, eine Abweichung von den Regeln des richtigen Verhaltens in einem „wohlregierten“ Haushalt. Jede Tötung, sogar se defendendo, erforderte eine königliche Begnadigung, weil es den König beleidigte, ihm einen Untertanen als menschliche Ressource seines Haushalts vollständig zu entziehen.10 Die Straftat aus strafpolizeilicher Sicht involviert einen individuellen Rechts­ träger weder als Täter noch als Opfer. Stattdessen erscheint in ihr ein Friedensstörer und ein Friedensträger. Der Begriff der „Störung“ ist einen näheren Blick wert. Sie wird seit langem beiläufig im angloamerikanischen und deutschen Rechtsdiskurs verwendet; wir sind ihr bereits mehrfach, in verschiedenen bedeutenden Kontexten begegnet: von der Störung des Friedens (disturbance of the peace) (als das paradigmatische Polizeivergehen im angloamerikanischen Strafrecht11) und dem „ungestörten Funktionieren der Verwaltung“ (als Rechtsgut im deutschen Strafrecht: Roxin12) zur Definition von Kriminalität („Störung der staatlichen Rechtsordnung“: Liszt13) und dem Ziel der Staatsstrafe überhaupt (die „ungestörte Erhaltung“ von als solche vom Staat bezeichneten Rechtsgütern: Binding14). Der Störer, so stellt sich heraus, ist auch der Ansatz des deutschen Polizeirechts, in dem – wenn auch halbherzigen – Versuch, im frühen zwanzigsten Jahrhundert den polizeilichen Täter (mit Polizei­sanktion) vom strafrechtlichen Täter (mit strafrechtlicher Sanktion) zu unterscheiden. Das Polizeirecht, ein Zweig des Verwaltungsrechts, der sich mit der Prävention und Bekämpfung von Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung befasst, trägt sein Bekenntnis zur Verrecht­ lichung der Polizeimacht auf dem Ärmel.15 Das „Polizeirecht“ – so wie das „Ver 9

Heath v. Alabama, 474 U. S. 82 (1985). J. H. Baker, An Introduction to English Legal History, 3. Aufl. 1990, S. 601 (homicide „‚contempt‘ to the king for depriving him of a subject“). 11 Markus D. Dubber, The Police Power: Patriarchy and the Foundations of American Government, 2005. 12 Claus Roxin, Strafrecht. Allgemeiner Teil, Bd. 1, 3. Aufl. 1997, S. 14. 13 Franz von Liszt, Der Zweckgedanke im Strafrecht (1883), in: Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, Bd. 1, 1905, S. 126, 149, 177. 14 Karl Binding, Handbuch des Strafrechts, Bd. 1, 1885, S. 169. 15 Die Geschichte und Konzeption des Polizeirechts ist ein faszinierendes Thema. Eine besonders aufschlussreiche Studie ist Peter Preu, Polizeibegriff und Staatszwecklehre: Die Entwicklung des Polizeibegriffs durch die Rechts- und Staatswissenschaften des 18. Jahrhunderts, 1983. 10

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waltungsrecht“ insgesamt  – zielt darauf ab, das Spannungsverhältnis zwischen Polizei und Recht, Klugheit und Gerechtigkeit, Heteronomie und Autonomie durch Klassifikation zu lösen, nämlich durch die Erfindung und anschließende Anbringung eines selbstwidersprüchlichen dogmatischen Etiketts, das weniger richtungweisend als verschleiernd wirkt, als ob die bloße Hinzufügung des Wortes „Recht“ zu einer staatlichen Handlung oder gar zu einem gesamten Herrschaftsmechanismus diese Handlung oder den Mechanismus dem Rechtsstaat unterwerfen könnte.16 Die Konzeption des Adressaten von polizeilichen Verordnungen erregte in der polizeirechtlichen Literatur wenig Aufmerksamkeit – im Gegensatz zu den Voraussetzungen für eine strafrechtliche Verantwortung, die deutsche Strafrechtswissenschaftler zu einer Zeit beschäftigte, als viele der Kernelemente der Strafbarkeitsanalyse des deutschen Strafrechts entwickelt (bzw. „entdeckt“) wurden.17 Der Störer war relevant als „Urheber“ oder „Verursacher“ eines „polizeiwidrigen Zustandes“, nicht wegen einer Handlung oder gar einer vorsätzlichen (oder fahrlässigen, oder auch nur zivilrechtlich fahrlässigen) Handlung, ganz gleich ob er sein Verhalten (bzw. den von ihm verursachten Zustand) als „polizeiwidrig“ erkannt hatte oder nicht.18 Mit anderen Worten: die polizeirechtliche Haftung war eine reine Form der Erfolgshaftung, wobei das fragliche Ergebnis ein polizeiwidriger Zustand war. Die Frage, ob eine bestimmte Person als „Störer“ qualifiziert wurde, war offenbar nur eine Frage der Kausalität, den geeigneten Störer aus einer beliebigen Anzahl menschlicher Störursachen auszuwählen, die sich in einer bestimmten Situation manifestieren mögen. Die menschliche oder persönliche Qualität des Störers ist also aus polizeilicher Sicht unerheblich. Die Polizeimacht ist allumfassend und apersonal unterschiedslos: es handelt sich, in der vielzitierten Formulierung des U. S. Supreme Court aus dem 19. Jahrhundert – denen wir wiederbegegnen werden – um „die Macht der Souveränität, [d. h.] die Macht, Menschen und Dinge innerhalb der Grenzen seiner Herrschaft [dominion] zu regieren“19. In Deutschland beschäftigte sich das Polizeirecht mit der Identifizierung und Bekämpfung von Ursachen für einen polizeiwidrigen Zustand, vorzugsweise bevor sie sich in einer tatsächlichen Friedensstörung manifestierten. Schließlich diente und dient das Polizeirecht der Prävention von Gefahren jeglicher Art (natürlich, künstlich, menschlich, tierisch, tot, lebendig) und ist in diesem Sinne im Wesentlichen ahuman. Nicht nur die Vorstellung der Täterschaft ist ahuman; das gleiche gilt für die Opferschaft: ein allgemeiner Zustand der Nicht-Ordnung, eine Verletzung des Friedens, eine Widrigkeit, eine Störung. In diesem Sinne ist eine polizeiliche Straftat ein reines Statusdelikt: 16

Zum Etikettismus siehe Kapitel 2, Abschnitt C. Zu Beling siehe Kapitel 2, Abschnitt D. 1. 18 Stefan Naas, Die Entstehung des Preußischen Polizeiverwaltungsgesetzes von 1931, 2003, S. 149; siehe auch Andreas Schwegel, Der Polizeibegriff im NS-Staat: Polizeirecht, juristische Publizistik und Judikative 1931–1944, 2005. 19 License Cases, 46 U. S. 504, 583 (1847) („the power of sovereignty, the power to govern men and things within the limits of its dominion“). 17

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Sie beseitigt einen Status der Störung; in der Sprache des Common Law wird dies als ein nuisance Delikt bezeichnet, also ein Ärgernis („annoyance“). Der Polizeitäter wird zu einem Ärgernis (nuisance), das von Blackstone als das ursprüngliche Polizei­delikt des Common Law definiert wurde, als ein Verstoß „gegen die öffent­liche Ordnung und das oikonomische Regime [oeconomical regimen] des Staates.“20 Menschliche und nicht-menschlichen Störungen werden gemeinsam beseitigt, die Prostituierte zusammen mit dem Bordell und der Schmuggler zusammen mit der Schmuggelware und dem Gebäude, in dem sie aufgefunden wurde.21

A. Modernes Strafen zwischen rechtlicher Horizontalität und polizeilicher Vertikalität Das strafpolizeiliche Modell basiert demnach auf der radikalen Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt der Strafmacht. Das Subjekt der Strafmacht ist der souveräne Staat; ihr Objekt ist der Täter als menschlicher Angriff gegen die Souveränität des Staates. Die Bestrafung, genauer gesagt die Strafdisziplin, behauptet ex ante und bekräftigt ex post die Souveränität des Staates und überwacht und bestätigt damit die Grenze zwischen Herrschaftssubjekt und -objekt. Eine einzige Handlung kann mehrere Straftaten darstellen, je nachdem, wie viele Staaten in ihrer Souveränität angegriffen wurden. Es ist zu beachten, dass das pönale Polizeimodell den Betroffenen bzw. Angegriffenen („Opfer“) wesentlich enger konzipiert als den Verursacher bzw. Angreifenden („Täter“). Es spielt dagegen keine Rolle, wer oder was („Menschen“ oder „Dinge“) den Souverän verletzt oder zumindest bedroht. Das pönale Polizeiregime ist im Grunde genommen diskretionär; der Hausvater-Souverän hat bei der Beurteilung des Handlungsbedarfs sowie der Qualität und Quantität aller Maßnahmen, die er für angemessen hält, praktisch unbegrenzten Ermessensspielraum. Welche Einschränkungen bzw. Vorgaben er auch immer beschließt, zu übernehmen und einzuhalten, sie werden von ihm sich selbst auferlegt und gegen sich durchgesetzt. Als Souverän hat er immer die Möglichkeit, 20

William Blackstone, Commentaries on the Laws of England, Bd. 4, 1769, S. 167. Ein Beispiel aus jüngster Zeit ist der amüsant detailliert betitelte Fall City of New York v. B250 Holding LLC, Harlems Shop Mart, Inc., Bandar A. Kalid, The Land and Building Known as 250 Bradhurst Avenue, Tax Block 2047, Tax Lot 44, County of New York, City and State of New York, the New York Liquor Authority, „John Doe“ and „Jane Doe“, 32 Misc. 3d 1202A, 2011 N. Y. Misc. LEXIS 3030 (Sup. Ct. N. Y., N. Y. Cty 2011) (worin die Vorschrift N. Y. City Administrative Code § 7–703(g) ausgelegt wird, die „jedes Gebäude, Anlage oder Ort, inklusive Ein- oder Zweifamilienhäuser, in dem im Zeitraum eines Jahres … drei oder mehr Verstöße gegen die Art. 220, 221 oder 225 des [New Yorker] Strafgesetzbuchs festgestellt werden [einschließlich z. B. Besitz von Drogen oder Drogenutensilien]“ zum öffentlichen Ärgernis – „public nuisance“ – erklärt). 21

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„kriminelle“ Angriffe (bzw. Störungen) zu ignorieren, die als Verstoß gegen seine Souveränität beabsichtigt sind oder ausgelegt werden könnten. Der Ermessensspielraum des Souveräns, um zu entscheiden, wann eine Straftat verfolgt wird, umfasst auch die Frage, was eine Straftat ausmacht und wann eine solche vorliegt, und wie – und wiederum ob – gehandelt wird, um ein Delikt zu verhindern oder darauf zu reagieren, einschließlich der Fragen, ob und wie man Straftaten definiert, veröffentlicht, verhängt und verfolgt. So mag der Souverän beschließen, Straftaten ex ante zu definieren und zu veröffentlichen, sowohl um die Wahrscheinlichkeit des Normgehorsams zu maximieren (da es einfacher ist, bekannte und spezifische Normen zu befolgen als unbekannte und vage Normen) als auch um den Widerstand gegen ihre Durchsetzung zu minimieren, ohne jedoch die radikale Unterscheidung von pönalem Subjekt und Objekt in Frage zu stellen, da es sich hier um einen rein diskretionären Machtspruch des Souveräns handelt, der auf ein glattes Funktionieren eines Polizeiregimes ausgerichtet ist, anstatt auf die Umsetzung irgendwelcher Rechte der Regimeobjekte.22 Der Souverän im Strafpolizeiregime genießt einen weiten Ermessensspielraum bei der Definition von Straftaten und der Anerkennung und Identifizierung von Interessen, die dem strafrechtlichen Schutz unterliegen. Unabhängig davon, um welches Schutzinteresse es sich im Einzelfall handeln mag, ist es letztlich der Ungehorsam gegenüber dem Souverän, der Verstoß gegen die Souveränität, der den Anlass für eine strafpolizeiliche Ahndung auslöst. Straftaten sind Störungen des Hausfriedens (mund, Hausfrieden), des Königsfriedens (King’s peace)  und im post-monarchischen Amerika des öffentlichen Friedens (public peace, peace of the commonwealth, state etc.).23 Alle Straftaten sind im Grunde genommen polizei­ liche (oder Friedens-)Störungen, die der Strafdisziplin unterliegen, um Ungehorsam zu korrigieren und zu verhindern.24 22 Zur Bedeutung der gesetzlichen Definition von Verrat im Jahr 1351 siehe Dubber, Police Power (Fn. 11), S. 22–26. Das Gesetz über Verrat wird in der Regel als königliches Zugeständnis an das Parlament angesehen, aber es hat das stark hierarchisch gegliederte Machtverhältnis zwischen König und Landesherren nicht wesentlich verändert, sondern sogar zementiert, indem es eine klare Grenze zwischen einfachem (petit) und hohem (high) Verrat zog. Siehe auch die Besprechung der Funktion der „rule of law“ im Zeitalter des Bloody Code in Kapitel 3. A. 23 Die Friedensarten, die durch einzelne Straftatbestände im angloamerikanischen und deutschen Strafrecht geschützt werden – abgesehen vom königlichen oder öffentlichen Frieden, der durch das angloamerikanische Strafrecht als Ganzes gesichert wird – umfassen den Hausfrieden (§ 123 StGB), den Landfrieden (§ 125 StGB), den öffentlichen Frieden (§ 126 StGB) und „den Frieden“ überhaupt (wie bei „breach of the peace“, einem Straftatbestand, der im schottischen Strafrecht eine besonders zentrale Rolle spielt). Siehe Walter Kargl, Rechtsgüter und Tat­ objekte der Strafbestimmung gegen Hausfriedensbruch, in: JuristenZeitung 54 (1999), S. 930; Pamela R. Ferguson, Breach of the Peace, 2013. Über das gesamte jahrhundertealte englische System „präventiver Gerechtigkeit“ um „Bürgschaften zur Wahrung des Friedens und guten Benehmens“ siehe Markus D. Dubber, Preventive Justice: The Quest for Principle, in: Andrew Ashworth / Lucia Zedner (Hrsg.), Prevention and the Limits of the Criminal Law, 2013, S. 47; siehe allgemein Blackstone, Commentaries on the Laws of England, Bd. 4 (Fn. 20), Kap. 18. 24 Für eine Diskussion der „public welfare offenses“ als Polizeidelikte, siehe Dubber, Police Power (Fn. 11), S. 167–175.

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Als im Wesentlichen hierarchisch und diskretionär zeichnet sich ein System der Strafpolizei durch Flexibilität und Informalität aus. Rechtsprinzipien – bzw. -regeln  – werden häufiger ignoriert, als eingehalten, wobei Beispiele ihrer Anerkennung gegebenenfalls in der dogmatischen Landschaft verstreut werden. Im angloamerikanischen Kontext, findet man z. B. eher pragmatische Lippenbekenntnisse als ein striktes Festhalten an den Grundsätzen des actus reus (Beispiele sind die Allgegenwart der unvollständigen Delikte [inchoate offenses] sowie die Breite des Begriffs der Unvollständigkeit [inchoacy], die sowie den häufigen Einsatz von Besitzdelikten) und mens rea (siehe verschuldensunabhängige Haftungselemente und Delikte, beweistechnische Vermutungen zur Umgehung verbleibender subjektiver Tatbestandsmerkmale, Formulierung von mens rea-Anforderungen als Störungs- oder Gefährlichkeitssymptome) und an umfassenderen Maximen wie dem principle of legality (Prinzip der Legalität)25 oder abstrakteren Prinzipien wie dem harm principle (Schadensprinzip: vgl. den weit verbreiteten Einsatz expliziter und impliziter Gefährdungsdelikte sowie die bereits erwähnte Allgegenwart der Vorfeldstrafbarkeit). Mechanismen für die Normumsetzung und -durchsetzung sind von behördlicher Ermessensfreiheit durchzogen, von der Einleitung des Verfahrens bis zu dessen Abschluss. Das Legalitätsprinzip ist ebenso fehl am Platz wie jede andere nennenswerte Einschränkung der Macht des Souveräns, seine diskretionäre Strafbefugnis auszuüben, oder nicht auszuüben. Die paradigmatische Form der Normdurchsetzung ist die Absprache (plea bargain), ein Prozess, der angesichts der Hierarchie des Polizeiregimes im Allgemeinen und der Beziehung zwischen dem Staatsanwalt (bzw. dem Richter) und dem Verdächtigten (bzw. dem Angeklagten) im Besonderen nicht mit einer Verhandlung verwechselt werden sollte, die zu einer Verständigung führt. Der informelle außergerichtliche Prozess wird durch das unkontrollierte Ermessen eines Exekutiv-Beamten gesteuert, der öffentliche und private Zeugnisse der Ehrerbietung durch das untergeordnete Strafobjekt erwirkt; Geständnisse, Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit den Strafbehörden, passives Verteidigungsverhalten und Reuebekenntnisse werden belohnt, Aussageverweigerung, Widerspenstigkeit, Beharren auf prozeduralen Rechten und Leugnung eher nicht. Am vollziehenden Ende des Strafverfahrens dispensieren die Strafvollzugsanstalten eine pönal-korrigierende Behandlung mit fast ausschließlicher Betonung der Sicherung statt rehabilitierender Behandlung, während der Souverän die Befugnis innehat, auf pönale Disziplinierung zu verzichten oder sie zu mildern, durch diskretionäre Machtsprüche der Barmherzigkeit, wie Begnadigung, Strafmilderung und Straferlass. Der Staat als Opfer sitzt im Zentrum eines Strafpolizeiregimes und definiert und kontrolliert jedes seiner Merkmale. Pönaler Schaden ist definiert als eine be 25

Einschl. specificity (s. Bestimmtheit); prospectivity (s. Rückwirkungsverbot); lenity oder strict construction (s. Analogieverbot); publicity (s .Publizität); legislativity (s. Vorbehalt der Gesetzlichkeit). Näheres aus rechtsvergleichender Sicht, mit weiteren Nachweisen, bei Markus D. Dubber / Tatjana Hörnle, Criminal Law: A Comparative Approach, 2014, S. 73 ff., 160 ff.

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stimmte Form der Verletzung des Staats-Opfers; der paradigmatische Schaden ist die Missachtung der Autorität des Staat-Souveräns durch Störung seines Friedens. Letztendlich gibt es nur ein einziges Opfer – den Souverän. Schaden, die anderen zugefügt werden, einschließlich unbelebter Dinge, Flora und Fauna, sind nur insofern relevant, als sie einen Angriff auf das Opfer darstellen; alle Bestandteile des Staats-Haushalts, ob menschlicher Natur oder nicht, sind nur insofern relevant, als sie unter dem Frieden des Staats-Haushälters stehen. Jedes Delikt ist ein Ungehorsamsdelikt. Zu den paradigmatische Straftaten gehören der Verrat als ultimatives Ungehorsamsdelikt mit verschiedenen Abspaltungen, wie z. B. Missachtung des Gerichts, Nichtbefolgen einer polizeilichen Anordnung, Widerstand gegen die Festnahme, und – besonders weit gefasst – Widerstand gegen die Staatsgewalt. Ebenso wichtig ist, dass die Art und das Auftreten des pönalen Schadens durch das Opfer bestimmt wird, und zwar sowohl generell – durch die Definition von Normen – als auch konkret durch die Bewertung des Vorhandenseins von Schaden in einem bestimmten Fall. Der Souverän ist nicht nur das endgültige Opfer, sondern auch der endgültige Richter der Opferschaft. Soweit die Delegierten der souveränen Macht bei der Ausübung des ihnen übertragenen Ermessens Vorgaben unterworfen sind, verfolgen diese Vorgaben die Konsistenz zwischen dem Handeln des Beamten und dem Ermessen des Souveräns. Es handelt sich um diskretionäre interne Ermessensnormen des strafpolizeilichen Systems, die selbst-definiert, -auferlegt und -durchgesetzt sind, und nicht um Beschränkungen, die durch eine externe Bewertungsnorm vorgeschrieben sind.26 Sie befassen sich nicht mit der Legitimität des Strafpolizeiregimes, sondern mit seinem ordnungsgemäßen Ablauf. Man könnte versucht sein, diese Auffassung von Opferschaft in einem strafpolizeilichen Regime subjektiv zu nennen. Es ist subjektiv in dem Sinne, dass sowohl die Norm als auch die Tatsache der Viktimisierung vom Opfer bewertet werden und somit außerhalb der Reichweite objektiver Normen (und einer auf sie beruhenden Kritik) liegen. Aber diese Charakterisierung kann irreführend sein, wenn man annimmt, dass sie die Anwesenheit eines Opfer-Subjekts impliziert. Der antike Hausvater könnte persönlich subjektive Urteile über die Notwendigkeit und Angemessenheit der Disziplinierung eines Störers fällen. Bereits der frühneuzeitliche Makrohausvater hatte jedoch seinen Haushalt so stark erweitert, dass er einen großen Teil seiner Disziplinarmacht an Beamte (und sogar an Mikrohaushalte) delegierte, die in seinem Namen die Anstößigkeit des Verhaltens beurteilten. Schließlich wurde der Souverän mit der Übertragung der souveränen Macht auf „das Volk“ oder genauer gesagt den Staat entsubjektiviert, auch wenn der vermeint-

26

Siehe z. B. Markus D. Dubber, Introduction to the Model Penal Code, 2. Aufl. 2015, S. 9 (Richtschnur des Ermessens bei der Auslegung des Strafgesetzbuches); U. S. Department of Justice, U. S. Attorneys’ Manual, Principles of Federal Prosecution § 9–27.110 (Richtlinien für Bundesstaatsanwälte mit „großem Spielraum bei der Entscheidung, wann, wer, wie und sogar ob sie strafrechtlich vorgehen sollen“); siehe auch John Willis, Delegatus non potest delegare, in: Can. Bar Rev. 21 (1943), S. 257 (Nicht-Delegationsmaxime im Verwaltungsrecht).

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lich kopflose Staat seine Souveränität weiterhin, jetzt ausschließlich, durch jene Beamten manifestiert, die ihn im täglichen Leben vertreten. Es scheint, als ob mit der Aufgabe eines persönlichen Souveräns (zumindest in den modernen Demokratien) die Souveränität – wie von Geisterhand – nur in ihrer delegierten Form überlebt, als Delegierung ohne Delegierenden. Auf jeden Fall verkörpern staatliche Beamte, insbesondere die Mitglieder der Exekutive, nun die Souveränität, so dass jede Beeinträchtigung ihrer Autorität in einen Angriff auf die Souveränität des Staates selbst verwandelt wird, die den ad-hoc-Einsatz traditioneller Maßnahmen der patriarchalischen Disziplin auslösen können, die darauf abzielen, Störer und Angreifer in ihre Schranken zu weisen. Das reicht von verbaler Erniedrigung bis hin zur körperlichen Disziplinierung (mit oder ohne den Einsatz von Feuerwaffen, Schlagstöcken, Taschenlampen, Tasern, Handschellen oder anderen Mitteln) und kurzfristiger Verhaftung (in Streifenwagen, Polizeiwachen, Haftzellen). Da das endgültige Opfer der Staats-Souverän ist und es um die Verletzung der Souveränität selbst geht, liegt der Schwerpunkt der Strafpolizei bereits im Vorfeld (inchoacy) der Schadenszufügung (bzw. der Schadensbegriff wird soweit ausgedehnt, das er dieses „Vorfeld“ bereits mit einbezieht). Das geringste Anzeichen einer Gefahr für den Staat muss bereits im Keim entdeckt und erstickt werden (können). Wie bereits erwähnt, konnte allein die „Vorstellung“ des Todes des Königs eine (und zwar extrem harsche) patriarchalische Disziplinarmaßnahme auslösen; bereits Jahrhunderte vor der Anerkennung der Strafbarkeit unvollständiger Delikte (z. B. Versuch) antizipierte das englische Gesetz über den Verrat von 1351 auf diese Weise die systematische strafpolizeiliche Suche nach Indizien für eine anstößige Gesinnung bzw. Gemeingefährlichkeit. Aus der Sicht des potenziellen souveränen Opfers gibt es keinen prinzipiellen Grund, seine disziplinarische Autorität auf externe Handlungen zu beschränken. Ebenso gebietet kein Prinzip, nur bestimmte Handlungen (oder Unterlassungen) als Indiz zu betrachten. Neben der Gewaltanwendung gegen den Souverän (d. h. normalerweise gegen seine Vertreter, insbesondere – aber nicht nur – Beamte der Strafverfolgungsbehörden), können beleidigende oder drohende Äußerungen durchaus als ausreichend anstößig gelten, ebenso wie die wortlose Unterlassung, einer Anweisung Folge zu leisten oder die angemessene Ehrerbietung zu erweisen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Strafpolizeiregime durch radikale hierarchische Differenzierung gekennzeichnet ist. Es basiert auf der grundlegenden Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt der Strafe, sowie zwischen Subjekt und Objekt des Verbrechens. Im Gegensatz dazu dreht sich das Strafrechtsmodell nicht um hierarchische Differenzierung, sondern um egalitäre Identifikation. Das Verbrechen ist ein interpersonelles Ereignis, ebenso wie die Strafe. Das paradigmatische Opfer des Strafrechtsmodells ist die Person, definiert durch ihre Fähigkeit zur Autonomie. Ein Verbrechen ist kein Souveränitätsverstoß der Regierten, sondern die Verletzung der Autonomie einer Person durch eine andere.

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Man erinnere sich an Radbruchs Feststellung, dass die Strafmacht des Staates in der internen Hauszucht verwurzelt ist, während sich das Völkerrecht aus den externen Beziehungen zwischen den Hausvätern ableitet. Wir können nun zwischen den Ursprüngen der Strafpolizei und des Strafrechts als unterschiedliche Formen der Strafmacht unterscheiden. Die Strafpolizei behält die wesentlichen hierarchischen und diskretionären Merkmale der Hauszucht bei, die vom Mikrohaushalt der Familie auf den Makrohaushalt des von einem apersonalen Souverän regierten Staates übertragen und abstrahiert wird. Das Strafrecht hingegen kann als Versuch gesehen werden, das Völkerrecht zu personalisieren und in diesem Sinne zu domestizieren: Wie das Völkerrecht befasst sich das Strafrecht mit den Beziehungen zwischen Gleichen, wobei sowohl der Täter als auch das Opfer als (souveräne) Personen – anstatt als souveräne Staaten – betrachtet werden. Gleichwohl bleibt die Unterscheidung zwischen Bestraften und Bestrafenden auch in einem strafrechtlichen System bestehen, denn es ist die übergeordnete Rechtsmacht des Staates, die strafrechtliche Sanktionen verhängt und vollstreckt. (In diesem Sinne ist die Personalisierung des Völkerrechts begrenzt, vorausgesetzt, wir betrachten das Völkerrecht, wie es Radbruch getan hat, als die Regelung der Beziehungen zwischen Gleichgestellten ohne die Aufsicht einer übergeordneten Macht.) Und doch ergibt sich die Legitimität dieser Ausübung höherer Macht aus der Personalität ihrer Objekte (die sie mit denen teilen, die die strafrechtliche Macht des Staates auf sie anwenden); legitime Strafe in einem strafrechtlichen System ist letztlich Selbstbestrafung. In der Bestrafung respektiert und bestätigt der Staat die Personalität des Täters, indem er ihn entsprechend seiner Fähigkeit zur Autonomie behandelt. Im Strafrecht ist der Staat nicht das paradigmatische Opfer. Stattdessen hat der Staat die Aufgabe, die Autonomie seiner konstituierenden Personen zu schützen und zu manifestieren. Das Strafrecht wendet sich an die Identität von Opfer und Täter, als Personen. Die Strafpolizei hingegen beruht auf der Identität von Opfer und Strafendem, als Souverän. Im Strafrecht regelt der Staat die interpersonelle Beziehung zwischen Opfer und Täter und unterscheidet sich in diesem Sinne von beiden. Gleichzeitig spiegelt die Autorität des Staates, da es sich bei einer legitimen Regierung um eine Selbstverwaltung handelt, letztlich nur die Fähigkeit des Opfers und des Täters zur Autonomie und damit ihre Personalität wider. Im Gegensatz dazu sind das Opfer und der Bestrafende bei der Strafpolizei abstrakt identisch, da der Staat sowohl paradigmatisches Opfer als auch Strafautorität ist. Die Strafdisziplinierung schützt und manifestiert die von ihr ausgeübte souveräne Autorität. Die grundlegende Unterscheidung zwischen Staat und Täter in einem Strafpolizeiregime ist nur ein Beispiel für die breitere Unterscheidung zwischen Hausherrn und Haushalt. Soweit die Strafpolizei bestimmte Haushaltsbestandteile bzw. -mitglieder, ob menschlich oder nicht, als „Opfer“ bezeichnet, stehen diese für das eigentliche Opfer, den staatlichen Hausherrn, ein. Der Staat wird durch jedes Ereignis viktimisiert, das seine Autorität als Souveränität verletzt, vom Ver-

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stoß gegen eine staatliche Anordnung bis hin zur direkten Beeinträchtigung einer menschlichen Haushaltsressource (z. B. durch körperliche Gewalt gegen Leben oder Gliedmaßen). Die Unterscheidung zwischen dem staatlichen Hausvater und dem stellvertretenden Opfer ist die gleiche wie zwischen dem staatlichen Hausvater und dem Täter: Als Haushaltsbestandteile sind sowohl vorgeschobene „Opfer“ als auch Täter das Objekt – nicht das Subjekt – der staatlichen Autorität. Wie ich bereits an anderer Stelle dargelegt habe, steht diese Figur des stellvertretenden Opfers im Mittelpunkt der so genannten Opferrechtsbewegung in den Vereinigten Staaten.27 Die Verfolgung der Opferrechte-Agenda war ein Kernstück des „Kriegs gegen das Verbrechen“ (war on crime), der  – ironischerweise  – in erster Linie mit opferlosen Delikten (victimless crimes) geführt wurde, vor allem einer bunten Auswahl von Besitzvergehen und -verbrechen (mit teilweise bis zu lebenslänglichen Haftstrafen), ergänzt durch eine Vielzahl von (widerlegbaren und unwiderlegbaren) Beweisvermutungen, die sowohl auf einen Besitzstatus abzielen als auch von ihm ausgehend auf andere Delikte verweisen.28 Während die öffentliche Aufmerksamkeit (und Sympathie) auf die stellvertretenden Opfer gerichtet war, insbesondere auf die paradigmatischen Opfer von Kindstötungen und sexuellen Übergriffen, hat der Staat im großen Rahmen seinen Krieg gegen (opferlose) Verbrechen fortgesetzt, ohne die Beteiligung individueller Opfer, die das reibungslose Funktionieren des diskretionären strafrechtlichen Polizeiprozesses des Staates hätten stören können.29 Dennoch kann die amerikanische Opferschutzbewegung, in einer Ecke jenseits des öffentlichen Rampenlichts, den Kern einer Konzeption der persönlichen Opferschaft und der interpersonellen Kriminalität beherbergen.30 Über die „war on crime“ Rhetorik hinaus – einschließlich der Nullsumme der Durchsetzung der Opferrechte auf Kosten der Rechte der Täter und der Gleichsetzung gestärkter Opferrechte mit einer härteren Bestrafung der Täter – lässt sich eine Vorstellung vom Opfer als eine Person erkennen, gegen die eine andere Person ein Verbrechen begangen hat. Dieses grundlegende Konzept der Opferschaft liegt dem (amerikanischen) Opferentschädigungsrecht zugrunde, das im Allgemeinen ein entschädigbares Opfer als „eine unschuldige Person, die als direkte Folge einer Straftat eine körperliche 27 Siehe Markus D. Dubber, Victims in the War on Crime: The Use and Abuse of Victims’ Rights, 2002. 28 Über die bunte Palette von Vermutungen – spezifisch und allgemein, widerlegbar und unwiderlegbar, retrospektiv und prospektiv – in der strafrechtlichen Besitzkontrolle siehe Markus D. Dubber, Policing Possession: The War on Crime and the End of Criminal Law, in: J. Crim. L. & Criminology 91 (2001), S. 829, 842, 847 („presumption of incorrigibility“, Vermutung der Unverbesserlichkeit), 855, 862–65, 896 („presumption of dangerousness“, Vermutung der Gefährlichkeit), 906, 908–909, 920–926, 931–933, 947, 954, 968, 973 (Model Penal Code), 984, 991–995. 29 Siehe Dubber, Victims in the War on Crime (Fn. 27), Teil 1. 30 Ebd., Teil 2.

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Verletzung erleidet“,31 betrachtet. Die Frage der Opferentschädigbarkeit im Opferentschädigungsrecht spiegelt die Frage der Strafbarkeit von Tätern im Strafrecht wider. Das Opferentschädigungsrecht betrachtet das interpersonelle Ereignis der Straftat aus der Sicht des Opfers, das Strafrecht hingegen aus der Sicht des Täters. Beide Analysen laufen unabhängig voneinander ab; jede berücksichtigt die rechtlichen Auswirkungen eines bestimmten Ereignisses auf die Personen, die es konstituieren, die einen als „Opfer“ und die anderen als „Täter“. Es geht hier nicht darum, dass die Opferentschädigung an die Stelle der Strafe des Täters treten sollte oder umgekehrt. Vielmehr kann die Betrachtung des Ereignisses Kriminalität aus der Perspektive des Opfers – trotz der Verwendung (bzw. des Missbrauchs) der Opferrechtsagenda im strafpolizeilichen Kampf gegen das Verbrechen – auf einem Verständnis der Opferschaft und der Kriminalität, und damit auch der Täterschaft, basieren, das nicht unbedingt im Widerspruch zu einem strafrechtlichen System stehen muss. Aus strafrechtlicher Sicht (und nicht strafpolizeilich betrachtet) ist Kriminalität ein zwischenmenschliches Ereignis in dem konkreten Sinne, dass eine Person die Personalität einer anderen verletzt. Während die Entschädigung der Opfer im Allgemeinen auf Verbrechen körperlicher Gewalt beschränkt ist, gibt es keinen prinzipiellen Grund, warum der Verbrechensbegriff hier nicht auch andere, nicht-physische Formen der Personalitätsverletzung umfassen könnte. Es mag sein, dass nur (schwere) Verbrechen körperlicher Gewalt das Opfer seiner Kapazität zur Autonomie gänzlich berauben können (man denke an Mord und Übergriffe, die das Opfer um seine erforderlichen kognitiven und volitionalen Fähigkeiten bringen). Aber Handlungen, die die Fähigkeit des Opfers, diese Kapazität in einem bestimmten Fall auszuüben, beeinträchtigen – einschließlich der meisten (geringfügigeren) Straftaten körperlicher Gewalt und Straftaten gegen Eigentum und andere Aspekte der persönlichen Autonomie (z. B. Privatsphäre, Gedanken, Sprache, Arbeit, Sexualität) – können auch Verletzungen der autonomie-begründeten Personalität des Opfers darstellen. Wie wir bei unserer Untersuchung der Stellung des Strafrechts im Zusammenhang mit der Unterscheidung zwischen öffentlichem und privatem Recht sehen werden, könnte die Klassifizierung des Opferentschädigungsrechts als Teil des Verwaltungsrechts seine Fähigkeit beeinträchtigt haben, die personale Fähigkeit des Opfers zur Autonomie zu bekräftigen.32 Für die gegenwärtigen Zwecke kommt es auf die Konzeption des Verbrechens an, die als Grundlage für das Opferentschädigungsrecht angesehen werden kann, nicht auf seinen Platz in der Taxonomie des staatlichen Rechts. Im Strafrecht ist die Art des Eingriffs – physisch oder anderweitig – weniger bedeutend als die Auswirkungen der Handlung auf die autonomie-begründete Personalität des Opfers. Hier könnte man sagen, dass das Strafrecht mit einer 31

Ebd., S. 9–10, 233–235. Im Verwaltungsrecht erscheint das Opfer als ein Antragssteller, der die Gewährung einer Ermessensleistung beantragt, anstatt sein Recht zu behaupten. 32

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Version oder Neuinterpretation des „harm principle“ operiert; eine Handlung ist nur dann strafbar, wenn sie einer anderen Person Schaden zufügt, vorausgesetzt, dass Schaden als Verletzung der Personalität des Opfers verstanden wird. Da die Personalität als Fähigkeit zur Autonomie definiert ist, erfordert eine Verletzung der Personalität des Opfers eine Beeinträchtigung der Kapazität zur Autonomie oder der Fähigkeit sie auszuüben. Die kriminelle Verletzung der Personalität des Opfers in einem strafrechtlichen System ist mehr als eine apersonale Beeinträchtigung. Schließlich kann ein herabfallender Ast oder eine Schlange die Autonomiekapazität einer Person beeinträchtigen oder sogar zerstören. In einem Strafrechtsregime weist das Verbrechen nicht nur ein personales Opfer auf, sondern auch einen personalen Täter. Im Verbrechen behandelt die Täter-Person die Opfer-Person als Nicht-Person, und affirmiert ihre eigene Personalität indem sie die des Opfers – auf dessen Kosten – leugnet. Der Täter behandelt das Opfer als bloßes Mittel in einem bestimmten Sinne, nicht nur als eine Sache, sondern als eine Nicht-Person, der die Kapazität zur Autonomie abgeht. Im Verbrechen unterwirft der Täter das Opfer seiner Heteronomie, indem er das Opfer buchstäblich dominiert, d. h. indem er es so behandelt, wie der Dominus sein Domus unter seinem Dominion (Herrschaft – d. h., anders ausdrückt, als Polizeiobjekt und nicht als Rechtssubjekt.33 Danach ist also jedes Verbrechen eine Form häuslicher Gewalt (domestic violence) in dem Sinne, dass der Täter das Opfer darin domestiziert, indem er das Opfer als Ressource für die Ausübung seiner Souveränität behandelt. Fassen wir kurz zusammen. In der Strafpolizei werden Verbrechen und Strafe als hierarchisch begriffen. Im Strafrecht hingegen werden Verbrechen und Strafe als egalitär konzipiert. Das paradigmatische Opfer in der Strafpolizei wird in seiner Souveränität angegriffen, weil ein Untergeordneter, ein Mitglied des Haushalts, sich störend verhalten hat, indem er die Autorität des Staats-Hausherrn in Frage stellt. Die strafpolizeiliche Disziplinierung bekräftigt die heteronome Überlegenheit des Hausherrn (als Opfer-Bestrafender) gegenüber dem Strafobjekt. Im Gegensatz dazu leugnet ein Verbrechen im Sinne des Strafrechts die Identität von Täter und Opfer als Personen und bringt das Opfer stattdessen in die Heteronomie des Täters. Die Bestrafung wiederum manifestiert diese Identität, indem sie die Personalität des Opfers bestärkt und gleichzeitig die Personalität des Täters anerkennt. Die Strafpolizei bekräftigt die heteronome Souveränität; das Strafrecht bekräftigt die autonome Personalität.

33 Über die Polizeimacht als „die Macht der Souveränität, die Macht, Menschen und Dinge innerhalb der Grenzen seiner Herrschaft zu regieren“, siehe License Cases, 46 U. S. 504, 583 (1847); Dubber, Police Power (Fn. 11), passim.

B. Das Strafparadoxon  

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B. Das Strafparadoxon  Nachdem wir einige grundlegende Merkmale von Recht und Polizei als unterschiedliche, aber miteinander verbundene Formen der staatlichen Herrschaft sowie die beiden Konzepte der Strafmacht, die die kritische Analyse des doppelten Strafstaates umrahmen, betrachtet haben, sind wir nun in einer besseren Lage, die Herausforderung des strafrechtlichen Paradoxons zu formulieren. Die Strafmacht des Staates ist eine besonders scharfe Manifestation seiner Macht; das Strafparadoxon ist daher eine verschärfte Version des Paradoxons der staatlichen Macht überhaupt. Aus der Perspektive des Rechts ist die Ausübung staat­ licher Strafmacht eine Bedrohung (durch die Formulierung von Strafnormen) oder eine absichtliche Beeinträchtigung (durch die Auferlegung und vor allem durch den Vollzug dieser Normen) der Autonomie ihrer Objekte. Wie könnte dieser Gewaltakt, dieser direkte Verstoß des Staates gegen die Autonomie seiner Konstituenten, mit der Kapazität zur Autonomie dieses Objekts vereinbar sein, wenn in einem Rechtsstaat das Objekt der Staatsmacht auch als sein Subjekt betrachtet wird? Mit anderen Worten, in einem Rechtsstaat ist jede Ausübung der staatlichen Strafmacht prima facie illegitim. Jede Ausübung seiner Strafmacht bedarf nun einer Rechtfertigung, einer Widerlegung dieser Illegitimätsannahme. Ohne Rechtfertigung ist jede Ausübung der staatlichen Strafmacht nicht nur illegitim, sondern selbst ein Verbrechen.34 Die Androhung von pönaler Gewalt in einer Strafnorm – also ein Strafgesetz – erscheint als Nötigung, Bedrohung, oder Erpressung. Beschlagnahme und Geldstrafen erscheinen als Diebstahl oder Raub. Ermittlungen als Verletzungen der Privatsphäre; verdeckte Ermittlungen (undercover investigations) als Teilnahme; Verhaftung und Durchsuchung als Körperverletzung; Haus­ durchsuchung als Hausfriedensbruch, Einbruch; Inhaftierung als Entführung, „false imprisonment“35; und die Vollstreckung der Todesstrafe als Totschlag (bzw. Mord). 34

Man beachte hier die Verwendung der Sprache der Rechtfertigungsgründe. Wenn wir zwischen der Legitimation auf der systemischen Ebene und der Rechtfertigung auf der besonderen Ebene einer bestimmten Person, die staatliche Gewalt gegen eine andere Person anwendet, unterscheiden, kann Rechtfertigung auch von Entschuldigung unterschieden werden. In einem strafrechtlichen Regime ergibt sich die Rechtfertigung für die Gewaltanwendung des einzelnen staatlichen Akteurs aus der Legitimität der staatlichen Strafmacht. In einem strafpolizeilichen Regime würde sich die Rechtfertigung stattdessen aus der „Pflicht“ des Delegierten ergeben, den Befehlen des Souveräns zu gehorchen. Siehe z. B. § 3.03 Model Penal Code („execution of public duty“). Während unter beiden Regimen die Verteidigung als Rechtfertigung formuliert wird, kann man die Verteidigungseinrede aus der Perspektive der Strafpolizei insofern als Entschuldigung betrachten, als man das beträchtliche Machtgefälle zwischen dem souveränen Befehlsgeber und seinem Adressaten betont. Für eine ähnliche Unterscheidung bei der Verteidigungseinrede für militärische (oder andere) Befehle, die – anders als die öffentliche Pflichtausübung – im angloamerikanischen Recht eher als Entschuldigung denn als Rechtfertigung behandelt wird, siehe § 2.10 Model Penal Code; Dubber, Introduction to the Model Penal Code (Fn. 26), S. 181; ders., Einführung in das US-amerikanische Strafrecht, 2005, S. 179 Fn. 4. 35 Die Verwendung der Etikette „falsch“ ist hier – anders als bei anderen Verbrechen – notwendig, weil das Verhalten, das sie als „Inhaftierung“ qualifiziert, an sich nicht strafbar ist.

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Dieser Zusammenhang zwischen den pönalen (penal, von poena, Strafe) Handlungen von Personen in Namen des staatlichen Rechts und den kriminellen (criminal, von crimen, Verbrechen) Handlungen von Personen, gegen die sie die Strafmacht des Staates anwenden, ist signifikant.36 Strafrecht, und staatliche Bestrafung, ist nur eine Manifestation der staatlichen Macht. Sie unterscheidet sich von anderen Erscheinungsformen der Staatsmacht insofern, als sich das Verbrechen von anderen Machtausübungen über eine Person unterscheidet. Zu sagen, dass eine (ungerechtfertigte) Bestrafung ein Verbrechen ist, bedeutet auch zu sagen, dass pönaler Zwang im Namen des Staates sui generis ist, oder sich zumindest von anderen Formen staatlichen Zwangs unterscheidet, insofern als der kriminelle Zwang, der ihn auslöst, ebenso sui generis ist. Falls also, z. B., die Grenze zwischen nicht kriminellem und kriminellem Eingriff in die Autonomie eines anderen der Unterscheidung zwischen Zwang (coercion) und Gewalt (violence) folgen sollte, dann würde sich die staatliche Bestrafung von anderen staatlichen Machtausübungen insoweit unterscheiden, als sie ebenfalls die Grenze zwischen Zwang und Gewalt überschreiten.37 Die Grenze zwischen Zwang und Gewalt könnte uns auch helfen, den Unterschied zwischen Bestrafung auf der systemischen und auf der besonderen – personalen – Ebene zu kennzeichnen. Andere Varianten unterscheiden zwischen der Tatsächlich ist die Inhaftierung, weit davon entfernt, kriminell zu sein, eine strafrechtliche Sanktion, die denjenigen auferlegt wird, die sich kriminell verhalten haben: Es ist eine Strafe, kein Verbrechen. Es wäre ironisch, wenn die Strafe dafür, eine Straftat begangen zu haben, darin bestünde, dass man selbst einer Straftat – im Falle der Inhaftierung genau derselben Straftat – zum Opfer fällt. Tatsächlich aber läuft das Strafverfahren genauso ab: Der Täter wird Opfer eines zweiten Deliktes, das im Gegensatz zum ersten nicht strafbar ist, weil es gerechtfertigt ist. Denken Sie auch an den Fall des Straftatbestands des „kriminellen“, „illegalen“ oder „unerlaubten“ Besitzes (in der Regel von Waffen oder Drogen), bei dem das ungewöhnliche Qualifikationsmerkmal ebenfalls erforderlich ist, um zwischen kriminellen und nicht kriminellen Manifestationen des fraglichen Verhaltens zu unterscheiden (d. h. der Besitz, wobei vorerst außer Acht gelassen wird, dass es sich beim Besitz nicht um ein Verhalten, sondern um einen Status, insbesondere um eine Beziehung zwischen dem Besitzer und dem Besitz handelt). Tatsächlich wurde im Falle des Besitzes die Anwendung des Qualifikationsfaktors als Hinweis auf die fehlende Verfügbarkeit einer Rechtfertigung interpretiert. Siehe Dubber, Policing Possession (Fn. 28), S. 927 (mit Hinweis auf People v. Almodovar, 464 N. E.2d 463, 465 [N. Y. 1984] [„a person either possesses a weapon lawfully or he does not“ – „eine Person besitzt eine Waffe entweder rechtens oder nicht“]). 36 Dies legt eine perspektivische Unterscheidung zwischen penal law (Strafrecht) und criminal law (Verbrechensrecht) nahe, dem Recht der Strafe (aus der Perspektive des Subjekts der Strafe) und dem Recht des Verbrechens (aus der Perspektive seines Objekts). In einem modernen liberalen Staat sollte die Unterscheidung zwischen den beiden verschwinden. 37 Siehe Robert M. Cover, Violence and the Word, in: Yale L. J. 95 (1986), S. 1602. Cover unterscheidet nicht sorgfältig zwischen Zwang und Gewalt, aber die Verwendung des Begriffs Gewalt vermittelt die scharfe – und vielleicht einzigartige – Dringlichkeit, mit der die Ausübung der Strafmacht durch den Staat das Paradoxon der Macht darstellt. Siehe auch Markus D. Dubber, The Pain of Punishment, in: Buff. L. Rev. 44 (1996), S. 545 (systemisches Leugnen von Gewalt im Strafprozess insgesamt in dem Bemühen, von der Verantwortung für ihre Zufügung und der damit einhergehenden Notwendigkeit ihrer Rechtfertigung abzulenken).

B. Das Strafparadoxon  

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allgemeinen Praxis der Bestrafung und ihrer Anwendung auf einen Einzelfall, zwischen Gesetzgeber und Richter, zwischen der Androhung und der Verhängung von Strafen (d. h. den Aufgaben, die jeweils der Gesetzgeber und der Richter in Rawls’ Konzept des Strafverfahrens erfüllen), oder – aus der Sicht von H. L.A. Hart – zwischen dem rechtfertigenden Ziel der Strafe und ihrer Zuweisung.38 Die Unterscheidung zwischen Zwang und Gewalt könnte die Grenze zwischen Definition und Auferlegung einerseits und Vollstreckung andererseits verdeutlichen und uns auf diese Weise daran erinnern, dass das Strafverfahren über die Gesetzgebungskammer und den Gerichtssaal, die Legislative und die Judikative hinausgeht. Auch wenn es wichtig ist, anzuerkennen, dass bereits die Androhung von Strafe in der gesetzgeberischen Definition von Strafnormen (einfachheitshalber angenommen, man könnte die Definitionsfunktion auf „den Gesetzgeber“ beschränken) und die Auferlegung dieser Normen in einem Gericht (oder, in der Tat, in einer Staatsanwaltschaft, auf dem Flur, oder am Telefon nach einem „Verständigungs“gespräch) als Ausübung staatlicher Macht anzusehen sind, die in die Autonomie ihrer Subjekte eingreift, braucht die Vollstreckung einer angedrohten und verhängten Sanktion eine besonders dringende Legitimation. Die Unterscheidung zwischen Zwang und Gewalt könnte so zum Ausdruck bringen, dass die Herausforderung des strafrechtlichen Paradoxons über – oder unter – die buchstäblich theoretische Frage nach der Spannung zwischen verschiedenen „Straftheorien“ hinausgeht, welche die Aufmerksamkeit von Rawls und H. L.A. Hart und so vielen anderen auf sich gezogen hat. In ähnlicher Weise könnte man die Begriffe Legitimation und Rechtfertigung verwenden, um die Aufmerksamkeit auf die Unterscheidung zwischen der abstrakt betrachteten Strafmacht des Staates und seiner Ausübung nicht nur gegen, sondern auch durch aus Fleisch und Blut bestehende Personen zu lenken, denen diese Befugnis übertragen wurde – und zwar vom Gesetzgeber über den Polizeibeamten bis zum Staatsanwalt, vom Prozessrichter und Berufungsrichter bis zum Geschworenen, vom Bewährungshelfer über den Aufseher bis zum Gefängniswärter und letztlich zum Henker. Man könnte sich also nach der („theoretischen“) Legitimation der Strafmacht des Staates im Abstrakten und nach der („dogmatischen“) Rechtfertigung derjenigen erkundigen, die sie ausüben, indem sie prima facie kriminelle Handlungen begehen. (Zur Unterscheidung zwischen pönal und kriminell in diesem Zusammenhang, siehe oben). Diese Gestaltung der Analyse hat zwei Vorteile. Erstens isoliert sie den interpersonellen Aspekt des strafrechtlichen Paradoxons und hebt ihn dadurch hervor. Verbrechen im Strafrechtsregime ist interpersonell, aber auch Bestrafung (d. h. Straftaten, die als Ausübung der legitimen Strafmacht des Staates gerechtfertigt sind). Herbert Morris, in „Persons and Punishment“, hat die Personalität des Täters (wieder)entdeckt (nach Hegel), und damit die Bestrafung – genauer gesagt, eine 38

John Rawls, Two Concepts of Rules, in: Phil. Rev. 64 (1955), S. 3; H. L.A. Hart, Prolegomenon to the Principles of Punishment, in: Proceedings of the Aristotelian Society 60 (1959–60), S. 1.

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Kap. 4: Strafrecht und Strafpolizei im doppelten Strafstaat  

Seite des Strafverhältnisses – personalisiert: sein Objekt (der Täter, der Bestrafte).39 Der interpersonelle Aspekt der Strafe, sei sie nun eng als Gewaltausübung oder breiter als Ausübung der staatlichen Strafmacht konzipiert, erfordert jedoch auch die Anerkennung der anderen Seite der Strafbeziehung: ihres Subjekts (des Bestrafenden). Die Frage nach der personalen kriminellen Verantwortung und Rechtfertigung des Bestrafenden (und nicht nur des Bestraften) erreicht genau das: durch die gleichzeitige und gleichartige Personalisierung des Bestrafenden wie des Bestraften. Ein zweiter Vorteil ist, dass dieser Ansatz nicht nur unterscheidet, sondern auch verbindet. Er offenbart den grundlegenden Zusammenhang zwischen der „theoretischen“ Legitimationsuntersuchung der staatlichen Bestrafung (insbesondere im Hinblick auf die legitimatorische Grundnorm des modernen Rechts: Autonomie) und der scheinbar offensichtlichen, aber allgemein ignorierten „dogmatischen“ Untersuchung der Strafbarkeit bestimmter staatlicher Akteure. Dieser Punkt ist wichtig: In einem Strafsystem qua Recht ist die entscheidende normative Frage, der Fokus der kritischen Analyse, ob das staatliche Handeln im Abstrakten und im Einzelnen dem grundlegenden normativen Prinzip rechtsstaatlicher Herrschaft entspricht (bei dem es sich, zumindest nach der in dieser Studie favorisierten vergleichend-historischen Analyse, um die Autonomie handelt).

C. Verbrechen und Bestrafung im Strafrecht und in der Strafpolizei Aus rechtlicher Sicht (Strafrecht) ist das paradigmatische Verbrechen der Eingriff einer Person in die Autonomie einer anderen, wobei sowohl „Täter“ als auch „Opfer“ als Subjekt-Objekte der Staatsmacht betrachtet werden, d. h. als Personen mit der universellen Kapazität zur Autonomie, die eine Person als solche auszeichnet. Ein Verbrechen ist ein Angriff auf die Personalität eines anderen. Die Ausübung der Strafmacht durch einen staatlichen Akteur ist ein Verbrechen in genau diesem Sinne, es sei denn, ihr Handeln ist gerechtfertigt, und zwar in Bezug auf die Personalität des Objekts. Aus polizeilicher Sicht (Strafpolizei) gibt es dagegen nur eine – hierarchische – Beziehung zwischen dem staatlichen Souverän und dem Täter, auf getrennten Ebenen von Autonomie und Heteronomie (s. Abbildung 4.1). Die Handlungen der Akteure des Strafregimes des souveränen Staates unterliegen nominell einer ultra vires-Überprüfung, die sich an Kompetenzüberlegungen (Gerichtsbarkeit, Zuständigkeit) im Rahmen von Delegationsumständen orientiert, die allgemein (wenn überhaupt) informell oder durch (oft interne, unveröffentlichte) Leitlinien und Handbücher kommuniziert werden. Innerhalb dieser weiten und flexiblen Grenzen der Verwaltungsdisziplin genießen staatliche Strafregimeakteure im ex 39

Herbert Morris, Persons and Punishment, in: Monist 52 (1968), S. 475.

C. Verbrechen und Bestrafung im Strafrecht und in der Strafpolizei  

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ternen Umgang mit Systemobjekten nahezu unbegrenzte Ermessensspielräume, sind allerdings internen Normumsetzungskontrollen ausgesetzt. Die Legitimität ihrer Handlungen steht ebenso wenig in Frage wie die Legitimität des Souveräns, dessen delegierte Macht sie ausüben. Souverän = Opfer

Täter Abbildung 4.1: Strafpolizei

Im Gegensatz dazu konstituiert sich das staatliche Strafen aus der Perspektive des Rechts aus der Interaktion zwischen drei Personen, die jeweils miteinander interagieren (und nicht nur einseitig auf einen anderen einwirken), um ein Dreieck des Strafens zu bilden, auf einer einzigen Ebene der Personalität qua (Kapazität zur) Autonomie (s. Abbildung 4.2). Staatlicher Vertreter

Täter

Opfer Abbildung 4.2: Strafrecht

Ein staatliches Strafrechtssystem konstruiert jede der drei Beziehungen als interpersonell. Die paradigmatische Straftat besteht aus der ungerechtfertigten Verletzung der Autonomie des Opfers durch den Täter (Verletzung des Rechts des Opfers). Die paradigmatische Strafe besteht aus der gerechtfertigten Verletzung der Autonomie des Täters durch den staatlichen Akteur (Verletzung des Rechts des Täters). Die Rechtfertigung für die letztere Verletzung ergibt sich aus der früheren ungerechtfertigten Verletzung der Autonomie des Opfers durch den Täter und muss mit der Autonomie des Täters vereinbar sein. Auf diese Weise behandelt der Staat bei der Ausübung seiner Strafmacht durch seinen Vertreter sowohl den Täter als auch das Opfer als Personen (Täter- und Opferrecht). Anstatt einen Akt der autonomen Selbstverurteilung (als Geständnis) zu verlangen, überträgt der Strafrechtsprozess in der Anwendungsphase den staatlichen Vertretern (Richter, Jury) die Aufgabe, einen Akt der konstruktiven Selbstverurteilung durch empathische Identifikation mit dem Täter zu vollziehen.40 Zu den staatlichen Vertretern gehören 40 Vgl. Markus D. Dubber, Criminal Process in the Dual Penal State: A Comparative-Historical Analysis, in: Darryl Brown u. a. (Hrsg.), The Oxford Handbook of Criminal Process, 2018, S. 1; ders., The Sense of Justice: Empathy in Law and Punishment, 2005.

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Kap. 4: Strafrecht und Strafpolizei im doppelten Strafstaat  

alle Personen, „Beamte“ oder nicht, „Berufsrichter“ oder „Laienrichter“, an die der Staat im Strafprozess das Ermessen delegiert hat, von Parlamentsmitgliedern (welche die strafrechtliche Sanktionen androhende Norm definieren), Staatsanwälten und „Strafverfolgungs-“ (Polizei-, Friedens-) Beamten (welche die Strafnorm durchsetzen) bis hin zu Richtern und Jurymitgliedern (welche sie anwenden) und Gefängniswärter, Aufseher und Henker (welche sie vollstrecken). Die kritische Analyse der Strafmacht des Staates qua Recht untersucht die Möglichkeit dieser Rechtfertigung, auf der personalen Ebene des Akteurs der Staatsmacht und auf der systemischen Ebene des gesamten staatlichen Strafrechtssystems. Die Strafmacht des Staates ist nur dann legitim, und das Handeln seiner Straf­ delegierten ist nur dann gerechtfertigt, wenn sein Strafsystem in all seinen Aspekten seine Subjekt-Objekte als Personen mit der Kapazität zur Autonomie betrachtet. Ist das möglich? Wenn ja, wie? Mit anderen Worten, wie ist liberales Strafrecht, Strafrecht in einer modernen liberalen Demokratie überhaupt möglich? Das sind die zentralen Fragen, denen sich eine kritische Analyse des Strafrechts stellen muss. Eine kritische Analyse des staatlichen Strafens geht jedoch weiter; sie umfasst nicht nur das Strafrecht, sondern auch die Strafpolizei. Die dualistische Analyse des staatlichen Strafens aus der Sicht von Recht und Polizei ist die Untersuchung des doppelten Strafstaates, definiert durch zwei gegensätzliche, aber eng miteinander verbundene Paradigmen, Strafrecht und Strafpolizei.41 Im Bereich der Strafpolizei erscheinen „Täter“ als Störer der Souveränität ihres Staates, die nach Ermessen des Souveräns der Strafdisziplin unterliegen. Das paradigmatische Opfer ist der Staat. Aus strafrechtlicher Sicht hingegen ist das paradigmatische Opfer die Person. Verdächtige, Angeklagte und sogar Verurteilte bleiben Recht habende Personen – d. h. Bürger – mit der Kapazität zur Autonomie während des gesamten Strafprozesses, von der Androhung über die Verhängung bis hin zur Vollstreckung von Strafgewalt. Aus Sicht der Polizei unterliegt die Ausübung der staatlichen Strafmacht bestenfalls selbstdefinierten, -interpretierten und -erzwungenen, vagen und flexiblen Normen der Umsicht, Effizienz und „guten Policey“. Aus Sicht des Strafrechts hingegen erfordert eine Ausübung der staatlichen Strafmacht die Legitimation gegenüber genau den Bürgern, deren Autonomie sie verletzt, und zwar als Wahrnehmung ihrer Kapazität zur Autonomie. (Keine leichte Aufgabe, nimmt man sie ernst.42) 41

„Dualistisch“ statt „dichotomisch“, um die Implikation einer taxonomischen Zweiteilung, vielleicht sogar einer Halbierung, eines Strafsystems zu vermeiden. Polizei und Recht sind Perspektiven auf, und nicht Segmente einer staatlichen Herrschaft, was nicht heißen soll, dass – wie wir sehen werden – keine Bemühungen unternommen wurden, die Spannung zwischen diesen Vorstellungen von staatlicher Macht durch Segmentierung zu lösen oder zu verschleiern. 42 Vgl. Rawls, Two Concepts of Rules (Fn. 38), S. 4 („only a few have rejected punishment entirely, which is rather surprising when one considers all that can be said against it“).

C. Verbrechen und Bestrafung im Strafrecht und in der Strafpolizei  

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Die dualistische Analyse der Strafnormen, -praktiken und -institutionen aus der Perspektive von Recht und Polizei ermöglicht eine grundlegende, umfassende und nuancierte Kritik des staatlichen Strafens, die die Genealogie der staatlichen Strafmacht widerspiegelt. Anstatt die Realität des Strafprozesses – wie auch immer gemessen – mit dem Ideal des Strafrechts zu vergleichen und sie für unzulänglich zu befinden, betrachtet die doppelte Strafstaatanalyse den gesamten Strafprozess qua Recht und qua Polizei. Anstatt Abweichungen vom (Rechts-)Ideal als Ausnahmen von der (Rechts-)Regel zu betrachten, lässt die doppelte Strafstaatsanalyse die Möglichkeit zu, dass es mehr als eine Regel gibt, mehr als eine Konzeption von staatlicher Strafmacht in Aktion. Scheinbare Ausnahmen könnten dann nicht nur als die Abwesenheit der Regel (z. B. Strafrecht) gelten, sondern als Beispiele für die Anwesenheit einer anderen, alternativen Regel (z. B. Strafpolizei) erscheinen. Tatsächlich kann sich bei genauerer Prüfung herausstellen, dass die Ausnahmen so viel von der Regel verschlingen, dass es sinnvoller ist, das Verhältnis von Norm und Abweichung umzukehren, oder anders ausgedrückt, dass die dominante Konzeption der Strafmacht nicht in der vermeintlichen Norm zu finden ist, sondern in den scheinbar zufälligen Abweichungen, die nun als Ausdruck eines parallelen Modus der Strafherrschaft (z. B. Strafpolizei statt Strafrecht) erscheinen. Eine dualistische Analyse des Strafens vor dem Hintergrund zweier gegensätzlicher, aber historisch und konzeptionell verbundener Herrschaftsmechanismen wirft die Frage nach dem Verhältnis zwischen den beiden Paradigmen des Strafens, Strafrecht und Strafpolizei, auf. Hier kann eine vergleichende Analyse die historische Analyse sinnvoll ergänzen, da sich rechtlich-politische Systeme in ihrem Ansatz zu dieser Frage unterscheiden können. Im weiteren Verlauf dieses Kapitels werden wir zunächst einige Ansätze zum Umgang mit der Unterscheidung und dem Verhältnis zwischen den beiden Paradigmen des doppelten Strafstaates in verschiedenen Rechtsordnungen (D.) betrachten, wobei wir besonders auf wiederkehrende Themen der rassischen Unterscheidung und der Strafsklaverei (E.) eingehen. Im Folgenden wird das Potenzial der doppelten Strafstaatsanalyse als systemischer Vergleichsmechanismus erörtert, der sowohl alternative Narrative des staatlichen Strafens (mit Fokus auf Deutschland)  (F.) als auch vergleichend-historische Analysen bestimmter Themen oder Phänomene (mit Fokus auf die etwa zeitgleichen Reformvorschläge der Mordvorschriften in Deutschland und den USA in den 1930er und 40er Jahren) (G.) ermöglicht. Abschließend stellen wir die doppelte Strafstaatsanalyse zwei weiteren dualistischen Projekten gegenüber, von denen eines auf ein Common Law-System (Herbert Packer: USA) und das andere auf ein Civil Law-System (Günther Jakobs: Deutschland) (H.) fokussiert ist und damit die Voraussetzungen für die kritischvergleichende Genealogie des amerikanischen Strafens in Teil III schaffen.

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Kap. 4: Strafrecht und Strafpolizei im doppelten Strafstaat  

D. Zwischen Strafrecht und Strafpolizei Neben der allgemeinen Frage nach dem Auf und Ab der relativen Bedeutung oder „Vorherrschaft“ von Recht und Polizei (das in der longue durée-Perspektive als Aspekt der Zwischenbeziehung von Autonomie und Heteronomie in westlichen Vorstellungen von Herrschaft, und von Strafherrschaft im Besonderen, erscheint), stellt sich die damit verbundene Frage nach der Persistenz beider Paradigmen. In einem vertrauten Narrativ verschwand die Strafpolizei mit dem Polizeistaat, während das Strafrecht so gut wie alle Spuren der Strafpolizei beseitigte.43 Aufgabe des liberalen Strafrechts wäre es dann, diesen Trend fortzusetzen um etwaige strafpolizeiliche Überbleibsel zu identifizieren und zu beseitigen. Aus anderer Sicht könnte man allerdings die Existenz der Strafpolizei als alternative Konzeption und nicht als bloße (und möglicherweise sich verflüchtigende)  Ausnahme zur strafrechtlichen Regel betrachten und dann versuchen, zwischen den Sphären der beiden Strafherrschaftstypen in verschiedenen Kontexten – und zu verschiedenen Zwecken – zu unterscheiden. Hier bieten sich mehrere Alternativen an, von denen viele in Systemen zu finden sind, die sich als Teilnehmer am modernen liberalen rechtlichen Projekt betrachten. Einige konzentrieren sich auf Tatmerkmale, andere auf Tätereigenschaften; einige unterscheiden explizit, andere nicht (bzw. nicht mehr); einige gehen von der Dominanz des Strafrechtsregimes aus, andere erstreben eine strafpolizeiliche Zukunft.44

1. Unbeachtliche Taten: Public Welfare Offenses, Violations, Ordnungswidrigkeiten Der beliebte de minimis Ansatz tritt in mindestens zwei Versionen auf. Eine Version mag die Existenz eines eigenen Bereichs der Strafpolizei anerkennen, beschränkt diesen dann aber (generell) auf geringfügige Delikte, die (generell) zu geringfügigen Sanktionen führen. Die „de minimis“-Grenze zwischen Strafrecht und Strafpolizei mag beispielsweise auf die Grenze zwischen Freiheitsstrafe und anderen Sanktionen, insbesondere Geldstrafen, zurückgreifen. Diese Version der Unterscheidung von Strafpolizei und Strafrecht geht oft einher mit einer anderen, die auf der Klassifizierung der Straftat, anstatt auf der mit ihr verbundenen Sanktion, beruht. Hier mag sich der Bereich der Strafpolizei auf „öffentliche Wohlfahrts­ delikte“ (public welfare offenses) oder „mala prohibita“ oder, am wenigsten hilfreich, „Polizeidelikte“ (police offenses) erstrecken. Im amerikanischen Schrifttum

43

Dies ist Teil des allgemeinen Narrativs über den Triumph des Rechts über die Polizei und des Rechtsstaates über den Polizeistaat, auch wenn es nicht unbedingt so gesehen wird (da dies eine breitere, kontextbezogene Sicht des Strafrechts als nicht sui generis erfordern würde). 44 Für weitere Unterscheidungen und Begriffspaare, siehe die tabellarische Übersicht in Kapitel 2.

D. Zwischen Strafrecht und Strafpolizei  

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definierte Francis Sayre in einem einflussreichen Artikel von 193345 das „öffentliche Wohlfahrtsdelikt“ (public welfare offense) sowohl in Bezug auf eine unbeachtliche Sanktion (keine Freiheitsstrafe) als auch auf den „Charakter“ der Delikte (echte „Wohlfahrtsdelikte“ oder „Polizeidelikte bloß regulatorischer Natur“).46 Die de minimis Strategie mag auf den ersten Blick einen relativ harmlosen, wenn auch nicht besonders gut durchdachten, Eindruck machen. Und doch sollte man ihr Potential als normatives Ausweichmanöver nicht unterschätzen (s. Kapitel 2). Dieses Potential beruht auf dem einfachen Gedanken, dass strafpolizeiliche Maßnahmen – frei nach einer Neuinterpretation des altbekannten de minimis non curat lex Slogans – so belanglos sind, dass sie die Beachtung der kritischen Analyse der Strafmacht des modern liberalen Rechtsstaates nicht verdienen. Sie haben weder mit Strafe etwas zu tun, noch mit Recht, weder mit Schuld, noch mit Missbilligung, weder mit Verletzung, noch mit Gerechtigkeit. Strafpolizei ist kein „echtes“ Strafrecht. Und falls diese Unterscheidung nicht immer leicht zu bestimmen oder beizubehalten ist, dann ist dies immer noch kein Grund zur Sorge, denn strafpolizeiliche Sanktionen sind genauso unbeachtlich wie die sie auslösenden Übertretungen: sie strafen nicht, sie regulieren bloß. Es sei darauf hingewiesen, dass Sayre ein gewisses Unbehagen an dieser taxonomisch-rhetorischen Strategie zum Ausdruck gebracht hat, insofern als die Klassifizierung als Wohlfahrtsdelikt dazu diente, sie vor dem allgemeinen mens rea-Erfordernis abzuschirmen. Sayre hielt (mit vielen seiner Zeitgenossen) mens rea für ein veraltetes Prinzip, das mit der „Kriminalverwaltung des zwanzigsten Jahrhunderts“ nicht mehr im Einklang stand, die seiner Ansicht nach gekennzeichnet war durch (1) die Verlagerung des Schwerpunkts vom Schutz individueller Interessen hin zum Schutz öffentlicher und sozialer Interessen und (2) die zunehmende Nutzung der strafrechtlichen Maschinerie zur Durchsetzung nicht nur der wahren Verbrechen (true crimes) des klassischen Rechts, sondern auch einer neuen Art von amoralischen Regulierungsmaßnahmen (regulatory measures) des zwanzigsten Jahrhunderts.47 Sayres taxonomische de minimis-Strategie hatte allerdings ein Problem. Sie schien eine Reihe von verschuldensunabhängigen Delikte (strict liability offenses) als bloße strafpolizeiliche Maßnahmen einzustufen, die Strafen verhängten, die ganz und gar nicht de minimis waren, insbesondere Vergewaltigung einer Minderjährigen (statutory rape), Bigamie (Ehebruch) und – damals bereits – Drogendelikte. Was statutory rape betrifft, ein Verbrechen, so erklärte Sayre lediglich, „kriminalpolitische Überlegungen erforderten“ eine Ausnahme von der mens rea-­Regel zum Schutz der Opfer.48 Die Bigamie, ebenfalls ein Verbrechen, sei in

45

Francis Bowes Sayre, Public Welfare Offenses, in: Colum. L. Rev. 33 (1933), S. 55. Ebd., S. 72 (Hervorhebung d. Verf.). 47 Ebd., S. 67. 48 Ebd., S. 74. 46

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Kap. 4: Strafrecht und Strafpolizei im doppelten Strafstaat  

Wirklichkeit gar kein Wohlfahrtsdelikt, egal was die Gerichte sagten, die für ihre Klassifikation der Bigamie (und Ehebruch) als verschuldensunabhängiges Delikt „stark kritisiert“ worden seien.49 Auch die gerichtliche Anerkennung von verschuldensunabhängigen Drogendelikten mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren hielt Sayre für bedenklich, meinte allerdings diese könnte „gerechtfertigt sein … aufgrund der extremen Missbilligung des Verkaufs von Betäubungsmitteln durch die Bevölkerung“.50 Die Ironie von Sayres Bemühungen, ein strafpolizeiliches Regime durch Marginalisierung im Strafstaat unterzubringen, besteht darin, dass sie von der festen Überzeugung getrieben sind, dass Polizeidelikte die Zukunft, wenn nicht schon die Gegenwart der „Kriminalverwaltung“ sind. Da die moderne „strafrechtliche Maschinerie“ ihre Aufmerksamkeit von „wahren Verbrechen des klassischen Rechts“, zu „Regulierungsmaßnahmen“, die „öffentliche und soziale Interessen“ schützen, richtet, sind Polizeidelikte nicht mehr die Ausnahme, sondern die Norm. Das öffentliche Wohlfahrtsdelikt ist das neue paradigmatische Delikt, und insofern als Wohlfahrtsdelikte von der (vermeintlich allumfassenden und immerwährenden) eisernen Norm von mens rea ausgenommen sind, wird die verschuldensunabhängige Haftung zur neuen Norm. So weit geht Sayre dann aber doch nicht. Stattdessen bekennt er sich (zumindest offiziell und vorläufig) weiterhin zur Norm der klassischen Auffassung von Verbrechen und ihres mens rea-Erfordernisses, ergänzt durch einen peripheren Corpus von de minimis-Wohlfahrtsdelikten.51 49

Ebd., S. 75. Ebd., S. 81. 51 Es gibt eine interessante Parallele zu dieser Strategie der Marginalisierungsverleugnung im schottischen Recht des „breach of the peace“. Obwohl Friedensbruch im schottischen Recht seit Jahrhunderten als eine universell einsetzbare strafpolizeiliche Maßnahme funktioniert, wurde er bis vor kurzem von Rechtskommentatoren nur oberflächlich behandelt, die sich oft zu seiner angeblichen Bedeutungslosigkeit äußerten (als „bloßer Friedensbruch“, „an sich ein geringfügiges Verbrechen“ usw.). Angesichts der Tatsache, dass Friedensbruch mit Gefängnis bestraft wird, „ist die Wahrnehmung, dass es sich um ein geringfügiges Verbrechen handelt, vielleicht nicht ganz zutreffend“, wie es Pamela Ferguson in ihrem sehr lesenswerten Buch zu diesem Thema ausdrückt. Pamela R. Ferguson, Breach of Peace, 2013, S. 3. Wie im Fall von Sayre besteht auch hier die Ironie darin, dass ein Friedensbruch nicht als „bloßes“ Geringfügigkeitsvergehen, sondern als paradigmatische Straftat betrachtet werden kann, insofern als „der geschützte Frieden“ im Grunde genommen der Frieden des Königs ist, siehe David Hume, Commentaries on the Law of Scotland, Respecting Trial for Crimes, Bd. 1, Edinburgh 1800, S. 74−75, wobei der König seinen Frieden auf das gesamte königliche Reich ausgedehnt hat – und zwar auf Kosten des Friedens kleinerer Hausherren (denen der König einige Rechtsprechungsprivilegien bei Verstößen gegen ihren lokalen, kleineren Frieden zurückübertragen hat). Jede Straftat ist letztlich ein Verstoß gegen den Frieden des Königs, so wie jede Straftat letztlich ein Verstoß gegen das öffentliche Gemeinwohl ist. Man beachte auch, dass gerade die Unbestimmbarkeit des Straftatbestands des „Friedensbruchs“ im schottischen Recht als Polizeivergehen par excellence für seine Funktion und seine Beliebtheit bei Staatsakteuren, die mit dem Schutz des Friedens beauftragt sind, von wesentlicher Bedeutung war. Ebd., S. 1–2. Dasselbe gilt für andere paradigmatische Polizeidelikte, insbesondere das Vagabundieren (eine beliebte englische Polizeimaßnahme seit dem vierzehnten Jahrhundert) und dessen Nachfolger im „War on Crime“, das Besitzdelikt. 50

D. Zwischen Strafrecht und Strafpolizei  

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Sayres häufige Verweise auf „regulatorische“ Delikte und „Maßnahmen“ sowie auf „soziale Regulierung“ und „Kriminalverwaltung“ (oder beides in Kombination: „Regulierung mit Verwaltungscharakter“52) sind einen näheren Blick wert. Am offensichtlichsten ist, dass sie – neben ähnlichen Verweisen auf regulato­rische Sanktionen oder auf „administrative“ (oder einfach „nicht strafrechtliche“) Delikte oder Sanktionen – den Zusammenhang zwischen Polizei und Regulierung oder Verwaltung veranschaulichen. Generell wird wenig Aufwand auf die Unterscheidung zwischen Regulierung und Verwaltung in diesem Zusammenhang verwendet; beide minimieren die Bedeutung des Untersuchungsgegenstandes (eine Straftat oder Sanktion), indem man ihn an den Rand der relevanten Kategorie verweist oder ihn in eine andere, unbedeutende, nicht besonders erwähnenswerte Kategorie einordnet. Eine Straftat (oder Sanktion) als „Regulierung“ oder „Verwaltung“ oder als eine Angelegenheit des „Verwaltungsrechts“ (und nicht „Strafrechts“) einzuordnen, bedeutet in diesem Zusammenhang, sie als belanglos (de minimis) zu kennzeichnen. Es ist wichtig zu sehen, welche Arbeit diese en passant Etikettierungs- und Taxo­nomieübungen leisten.53 Die gleiche Sanktion kann auf beiden Seiten der de minimis Linie zwischen Relevanz und Irrelevanz liegen, je nachdem, ob sie als verbrecherisch oder als „nur“ regulatorisch oder administrativ eingestuft wird, und daher unbedenklich ist. Tatsächlich kann eine höhere Geldstrafe unter die de minimis-Linie fallen, nur weil sie als „regulatorisch“ oder „administrativ“ gilt. Nehmen wir zum Beispiel den amerikanischen Model Penal Code. Das Modellstrafgesetzbuch erkennt eine „nichtkriminelle Klasse von Delikten“ („Übertretungen“; violations) an, im Gegensatz zu „Verbrechen“ (crimes).54 Übertretungen sind nicht mit Freiheitsstrafe bedroht und werden nicht durch die allgemeinen actus reus- oder mens rea-Anforderungen des Gesetzes abgedeckt.55 Mit anderen Worten können Übertretungen als Delikte mit verschuldensunabhängiger Haftung behandelt werden. Tatsächlich scheint der Model Code, indem er die Nichtanwendbarkeit nicht nur seiner mens rea-Norm sondern auch seiner actus reus-Norm vorsieht, sogar die Einführung einer „doppelt verschuldensunabhängigen“ Haftung für unwillkürliches Verhalten (oder überhaupt kein Verhalten, je nachdem wie man Verhalten definiert) bezeichnen könnte. Kein Grund zur Sorge, sagen die Verfasser des Gesetzbuchs: Verstöße unterliegen normalerweise lediglich einer Geldbuße von maximal 500 US-Dollar (im Jahre 1962).56 Bei näherer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass es dem Gesetzgeber freisteht, „jeden höheren Betrag“ vorzusehen.57 Darüber hinaus hat dann das Gericht das Ermessen, eine Geldbuße über 52

Sayre, Public Welfare Offenses (Fn. 45), S. 67. Zum „Etikettismus“ siehe Kapitel 2, Abschnitt C. 54 Model Penal Code and Commentaries: Official Draft and Revised Comments (Part I) Bd. 7 (1985), § 1.04. 55 Ebd., §§ 1.04, 2.05. 56 Ebd., § 6.03(4). 57 Ebd., § 6.03(6) („any higher amount specifically authorized by statute“). 53

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Kap. 4: Strafrecht und Strafpolizei im doppelten Strafstaat  

das gesetzliche Höchstmaß hinaus zu verhängen, und zwar in „jedem höheren Betrag, der dem Doppelten des aus der Straftat des Täters resultierenden Geldbetrags entspricht“.58 Und doch, egal wie hoch die Geldbuße ist, die für eine Art von Übertretungen gesetzgeberisch angedroht oder gerichtlich gegen einen einzelne Übertretung verhängt wird, die „nichtkriminelle“ Übertretung und ihre Sanktion wäre qualitativ de minimis geblieben. Ein ähnliches, aber wesentlich aufwendigeres und verschnörkeltes Beispiel der Minimalisierung durch Klassifizierung zeigt sich im deutschen Recht.59 In der Kurzfassung: Polizeidelikte tauchten nach der vermeintlichen Ablösung des Polizeistaates durch den Rechtsstaat in allen Bereichen der Staatsmacht, einschließlich der Strafmacht, im Strafgesetzbuch von 1871 – umbenannt in „Übertretungen“ – auf. Dort blieben sie bis 1974.60 Zu diesem Zeitpunkt wurden sie aus dem „Strafgesetzbuch“ entfernt und – nun erneut umbenannt in „Ordnungswidrigkeiten“ – in ein neues „Ordnungswidrigkeitengesetz“ umgesiedelt. Mit dieser Verlagerung erfolgte ihr Übergang vom „Strafrecht“ zum „Verwaltungsrecht“ (eine Kategorie von „Recht“, die ihrerseits aus dem Projekt der Polizeiwissenschaft hervorgegangen war und in der das Gebiet des „Polizeirechts“ beheimatet war). Heutzutage unterliegen nur noch Straftaten der „Strafe“; nicht strafrechtliche Delikte unterliegen stattdessen der „Buße“. Das Ordnungswidrigkeitengesetz legt eine maximale „Geldbuße“ von 1.000 Euro fest; die Mindestbuße liegt bei ganzen 5 Euro.61 Das klingt soweit alles recht belanglos, in der besten de minimis-Tradition. Allerdings stellt sich auf den zweiten Blick heraus, dass das Ordnungswidrigkeitengesetz – wie zuvor der Model Penal Code – ausdrücklich dem Gesetzgeber den Ermessensspielraum überlässt, um eine höhere Geldbuße vorzusehen.62 (Für ein drastisches Beispiel siehe die unten diskutierten Unternehmenssanktionen.63) Darüber hinaus, und wieder den Model Penal Code spiegelnd, räumt das Gesetz der Verwaltungsbehörde die Möglichkeit ein, die gesetzliche Höchstgeldbuße im Einzelfall zu überschreiten, wenn dies erforderlich ist, um sicherzustellen, dass die Geldbuße den vom Täter erlangten „wirtschaftlichen Vorteil“ übersteigt.64 Auch hier gilt, dass sobald ein Delikt (oder eine Sanktion) einmal in den „regulatorischen“ oder „administrativen“ Bagatellbereich verwiesen wurde, es auf der polizeilichen Seite der qualitativen Grenze bleibt, egal wie drastisch eine quanti 58

Ebd., § 6.03(5). Siehe Kapitel 2, Abschnitt C. 60 Dort sind sie bis heute im Schweizer Strafgesetzbuch verankert, das eng an das deutsche Strafgesetzbuch angelehnt ist. § 103 schwStGB („Übertretungen sind Taten, die mit Busse bedroht sind.“). 61 § 17 Abs. 1 OWiG. 62 Ebd. 63 Andere Beispiele etwa § 130 OWiG (Aufsichtspflicht: 1 Million Euro); BNatSchG (Umweltrecht) § 69 Abs. 6 OWiG (50.000 Euro für Individuen, 1 Million Euro für Verbände). 64 § 17 Abs. 4 OWiG. 59

D. Zwischen Strafrecht und Strafpolizei  

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tative Erhöhung oder wie uneingeschränkt das gesetzgeberische oder richterliche Ermessen sein mag. Die Behandlung der Unternehmenssanktionen veranschaulicht diesen Punkt. Die kategorische Ablehnung der Unternehmensstrafbarkeit ist ein wesentliches Merkmal des deutschen Strafrechts und zwar insbesondere seit der Besatzungszeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als deutsche Strafrechtswissenschaftler dieses Merkmal als Indiz für die prinzipielle und wissenschaftliche Natur des deutschen Strafrechts nicht nur nach, sondern auch während der NS-Zeit, zitierten, im krassen Gegensatz zum opportunistischen, prinzipienlosen angloamerikanischen Strafrecht.65 Nachdem die Unternehmensstrafe den Status eines fundamentalen Tabus erlangt hatte, wurde die Unternehmenshaftung für kriminelles (und nicht kriminelles) Fehlverhalten stattdessen im regulatorisch-administrativen Bereich von de minimis angesiedelt, wo es auf keine prinzipiellen Bedenken traf. Eine Geldstrafe für ein Unternehmen konnte es nie geben; eine Geldbuße war eine ganz andere Sache. Nach der Aufnahme in das Ordnungswidrigkeitengesetz (und nicht in das Strafgesetzbuch) traten die Unternehmenssanktionen in eine Sphäre uneingeschränkten Ermessens ein. Im Jahr 2013 hat der Gesetzgeber die maximale Buße für Geld­ bußen von Unternehmen verzehnfacht, von 1 auf 10 Millionen Euro für vorsätzliche Straftaten, von 0,5 auf 5 Millionen Euro für fahrlässige Handlungen und auf das Zehnfache für jede mit einer Ordnungswidrigkeit verbundene Geldbuße.66 Darüber hinaus hat die Verwaltungsbehörde den gleichen Ermessensspielraum, die Sanktion über den gesetzlichen Höchstbetrag hinaus zu erhöhen, so dass sie den finanziellen Gewinn des „Täters“ aus dem Fehlverhalten übersteigt. Es ist zu beachten, dass der Täter hier nicht die Körperschaft, sondern einer ihrer Organe ist; auf diese Weise wird die Körperschaft für eine Straftat belangt, die von einer „natürlichen“ Person und nicht von ihr selbst begangen wurde. Auf diese Weise kann nominell das Tabu der strafrechtlichen Haftung der Körperschaft aufrechterhalten werden, indem ihre Sanktion im regulatorisch-administrativen Bereich des de minimis bleibt, unabhängig von der Höhe der verhängten Bußgelder. Schon vor der drastischen Erhöhung der maximalen Sanktionen gegen Körperschaften konnten die Unternehmensbußgelder das gesetzliche Höchstmaß deutlich überschreiten; so erhielt beispielsweise ein Zementunternehmen im Jahr 2003 eine Geldbuße für wettbewerbswidrige Verhaltensweisen in Höhe von ca. 170 Millionen Euro.67 65 Markus D. Dubber, Zur Geschichte und Theorie der Verbandsstrafbarkeit: Eine kritische Analyse aus rechtsvergleichender Sicht, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 98 (2016), S. 377, 385–386. 66 § 30 Abs. 2 OWiG. 67 Urteil vom 26. Februar 2013, KRB 20/12, 58 BGHSt (Entscheidungen des Bundes­ gerichtshofs in Strafsachen) 158. Fünf Jahre später wurde gegen die VW-AG im Zusammenhang mit Dieselgate eine Geldbuße in Höhe von einer Milliarde Euro verhängt. VW muss Bußgeld zahlen (Staatsanwaltschaft Braunschweig, 13. 6. 2018) (https://staatsanwaltschaft-braun schweig.niedersachsen.de/startseite/aktuelles/presseinformationen/vw-muss-bugeld-zahlen174880.html).

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Kap. 4: Strafrecht und Strafpolizei im doppelten Strafstaat  

2. Andersartige Täter: Gewohnheitsverbrecher, Unzurechnungsfähige, Feinde Eine andere Strategie, um der Existenz eines separaten Bereichs der Strafpolizei Rechnung zu tragen, sieht eine Unterscheidung vor, nicht zwischen Taten oder Sanktionen, sondern zwischen den Tätern. So könnte man beispielsweise – wie im deutschen, englischen, kanadischen und in geringerem Maße auch im amerikanischen Recht üblich – zwischen gewöhnlichen Straftätern einerseits und außergewöhnlichen Straftätern andererseits unterscheiden, wobei erstere einem strafrechtlichen und letztere einem strafpolizeilichen System unterworfen sind.68 Die letztgenannte Klasse von Straftätern, die gemeinhin aufgrund ihrer außergewöhnlichen Gefährlichkeit (gemessen sowohl an der Wahrscheinlichkeit als auch an der Schwere einer zukünftigen Straftat) unterschieden und oft entsprechend gekennzeichnet werden („gefährliche Straftäter“, „Langzeitstraftäter“, „Gewohnheitsverbrecher“), unterliegt außergewöhnlichen Präventivmaßnahmen, die von einer verlängerten Überwachung nach der Entlassung bis hin zur unbefristeten Inhaftierung reichen, vielleicht ergänzt durch einen Mechanismus zur Neubewertung der Diagnose einer außergewöhnlichen Gefährlichkeit in relativ regelmäßigen Abständen. Auf ähnlicher Weise kann die Unterscheidung zwischen Strafrecht und Strafpolizei auf der Grundlage des Alters des (mutmaßlichen) Täters oder einer außergewöhnlichen Eigenschaft, wie beispielsweise einer „psychischen Erkrankung oder eines Defekts“ (Model Penal Code) oder Unzurechnungsfähigkeit zum Zeitpunkt der Straftat, getroffen werden. Ähnliche Diagnosen in der Zeit nach dem Delikt werden unterschiedlich gehandhabt, z. B. indem die Verhandlungsfähigkeit (competence) des Angeklagten durch medikamentöse Behandlung hergestellt wird.69 Delinquenten, deren Alter zwischen dem Mindestalter der strafrechtlichen Verantwortlichkeit und dem Mindestalter der vollen Verantwortung liegen („Jugendliche“), werden heute unter einem strafpolizeilichen (delinquency) Regime der Anwendung und des Vollzugs „behandelt“ (wobei ihre Klassifizierung auch die

68 Siehe z. B. den 6. Titel des heutigen StGB („Maßregeln der Besserung und Sicherung“, erstmals im Jahr 1933 eingeführt – als „Maßregeln der Sicherung und Besserung“ – mit dem so genannten Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung vom 24. November 1933 [RGBl. I, S. 995]); Teil XXIV kanadisches StGB („dangerous offenders and long-term offenders“); Kansas v. Hendricks, 521 U. S. 346 (1997) (den Kansas Sexually Violent Predator Act bestätigend); siehe allgemein Christopher Slobogin, Preventive Detention in Europe, the United States, and Australia, in: Patrick Keyzer (Hrsg.), Preventive Detention: Asking the Fundamental Questions, 2013, S. 31. Für eine rechtsvergleichende Analyse, siehe Dubber / Hörnle, Criminal Law: A Comparative Approach (Fn. 25), S. 58–71. 69 Wie „außergewöhnlich“ diese Diagnose einer psychischen Anomalie bei den Tätern ist, wirkt sich auf das Verständnis und die Bedeutung der Unzurechnungsfähigkeit aus. Siehe Karl Menninger, The Crime of Punishment [Das Verbrechen der Strafe], 1968.

D. Zwischen Strafrecht und Strafpolizei  

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Schwere der Straftat berücksichtigen kann), ebenso wie erwachsene unzurechnungsfähige Straftäter.70 Ohne uns mit den Besonderheiten dieser Täter-basierten Polizeiregime zu befassen, sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass sie als seltene Ausnahmen von der Regel der Verfügung über Angeklagte und Straftäter unter dem gewöhnlichen Strafrechtssystem mit seinen materiellen und verfahrensrechtlichen Normen und Doktrinen betrachtet werden. Die Behandlung von Kindern, Jugendlichen, „kriminellen Geisteskranken“, „gefährlichen Verbrechern“, „Langzeittätern“ oder „Gewohnheitstätern“ findet in der Lehre und im Studium des „Strafrechts“ kaum Beachtung.71 So treten unzurechnungsfähige Straftäter (bzw. Angeklagte) in der angloamerikanischen Strafrechtslehre vor allem auf, um eine Besprechung der insanity defense in der Strafrechtsdogmatik zu beleben, die wiederum letztlich dazu dient, um grundlegende dogmatische Fragen wie die Unterscheidung – und die Beziehung – zwischen mens rea (und in geringerem Maße actus reus) und Entschuldigung, Entschuldigung und Rechtfertigung, Unzurechnungsfähigkeit und Provokation (bzw. verminderte Zurechnungsfähigkeit), Unzurechnungsfähigkeit und Trunkenheit, materiellem Recht und Beweislasten (burdens of proof), und so weiter zu erkunden. Die materiellen und prozeduralen Aspekte der überaus wichtigen gerichtlichen Diagnose außergewöhnlicher Gefährlichkeit, einschließlich der nachfolgenden Möglichkeiten zur Anpassung dieser Diagnose, werden in der Regel ignoriert, unabhängig davon, wie viel Platz sie im Strafgesetzbuch einer bestimmten Gerichtsbarkeit einnehmen mögen.72 Sobald Personen aus dem normalen strafrechtlichen Verfahren entfernt werden – in unterschiedlichen Phasen (vor, während, nach dem Prozess (bzw. der Verständigung)) und aus verschiedenen Gründen (Alter, Unzurechnungsfähigkeit, Gefährlichkeit) – betreten sie einen anderen, diskretionären Bereich, wo sie in „juvenile residential placement facilities“ und „Maßregelvollzugskliniken“ erzogen, behandelt, und beaufsichtigt werden, oder in Strafvollzugsanstalten eine „Sicherungsverwahrung“ absolvieren, alles andere als in Gefängnissen bestraft zu werden.73 70

Jugendliche werden in der Anwendungs- und in der Vollzugsphase des Strafsystems anders behandelt, in speziellen Gerichten nach besonderen Verfahrensnormen und in speziellen Institutionen nach besonderen Strafvollzugsmaßnahmen (auf dem Papier, wenn nicht in der Tat). Erwachsene Straftäter, bei denen sich herausstellt, dass sie nicht die für die strafrecht­ liche Verantwortlichkeit erforderliche psychische Verfassung aufweisen, werden ebenfalls im Vollzugsstadium anders behandelt, in speziellen Einrichtungen für Unzurechnungsfähige (auf dem Papier, wenn nicht in der Tat). 71 Eine erwähnenswerte Ausnahme in den USA ist Christopher Slobogin, der ausführlich über die Sicherungsverwahrung veröffentlicht hat. Siehe Slobogin, Preventive Detention in Europe, the United States, and Australia (Fn. 68); siehe auch Christopher Slobogin, A Jurisprudence of Dangerousness, in: Nw. U. L. Rev. 98 (2003), S. 1; Christopher Slobogin u. a., A Prevention Model of Juvenile Justice: The Promise of Kansas v. Hendricks for Children, in: Wisc. L. Rev. 1999, S. 185. 72 Siehe z. B. §§ 61–72 StGB; §§ 752–761 kanadisches StGB. 73 Mit anderen Worten, die Herausnahme aus dem Bereich des Strafrechts lief auf eine Herausnahme aus einer ernsthaften und anhaltenden Kontrolle jeglicher Art hinaus, und nicht

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Kap. 4: Strafrecht und Strafpolizei im doppelten Strafstaat  

Wenn die Existenz von Polizeiregimen für abnormale Straftäter überhaupt Aufmerksamkeit erregt, dann möglicherweise im abstrakten Kontext der seltenen – und generell zurückhaltenden – richterlichen Überprüfung ihrer Verfassungsmäßigkeit.74 Bei diesen Gelegenheiten heben die Gerichte gerne den „außergewöhnlichen“ Charakter dieser Systeme hervor und weisen dann darauf hin, dass sie nur eine ziemlich kleine Gruppe von Straftätern betreffen.75 Während die Zahl der Betroffenen für eine Analyse der Verfassungsmäßigkeit ihrer Behandlung kaum relevant sein kann, hilft die Betonung der Außergewöhnlichkeit des Polizeiregimes, es zu marginalisieren. Nachdem man die gerichtliche Bestätigung eines abnormalen und peripheren Strafregimes, das abnormalen und peripheren Straftätern vorbehalten ist, gebührend zur Kenntnis genommen hat, steht es einem dann frei, seinen Fokus wieder auf die strafrechtliche Norm zu richten. Aber was wäre, wenn wir uns, anstatt die Strafpolizei als außergewöhnliche de minimis-Behandlung (im Gegensatz zu „Bestrafung“76) einer außergewöhnlichen de minimis-Klasse von Individuen zu marginalisieren, auf sie konzentrierten und zum Gegenstand einer kritischen Analyse machten? Was wäre, wenn wir sie nicht auf eine Übertragung der Kontrolle in eine andere Kategorie, eine strafpolizeiliche Wissenschaft. Die „Kriminologie“ erfüllt diese Funktion derzeit nicht, und zwar aus verschiedenen Gründen: in Deutschland, weil sie als oft vernachlässigtes und deplatziertes Teilgebiet in den juristischen Fakultäten kaum Beachtung findet, in den Vereinigten Staaten, weil sie sich nach dem Scheitern des Projekts der Rehabilitierung zu einer Art kritischer Soziologie oder Gesellschaftstheorie entwickelt hat. Für eine (desillusionierte) Beschreibung progressiver Kriminologie als moderner Polizeiwissenschaft siehe Robert Martinson, What Works? Questions and Answers About Prison Reform, in: Public Interest 35 (1974), S. 22. 74 Z. B. BVerfGE 109, 133 (vom 5. Februar 2004); R. v. Lyons, [1987] 2 S. C.R. 309; R. v. L. M., 2008 SCC 31; Kansas v. Hendricks, 521 U. S. 346 (1997). Während inländische Gerichte bei der Gestaltung und (verwaltungsrechtlichen) Durchführung strafpolizeilicher Regime bemerkenswert konsequent einen legislativen Ermessensspielraum respektieren, sind supranationale Gerichte eher bereit, grundsätzliche Bedenken zu äußern. Man denke insbesondere an das Hin und Her zwischen dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und dem deutschen Bundesverfassungsgericht, das durch die Entscheidung des EGMR ausgelöst wurde, wonach die rückwirkende Anwendung der 1998 erfolgten Abschaffung der Zehnjahresfrist für die „Maßregeln“ der Sicherungsverwahrung gegen das in Artikel 7 der Europäischen Menschenrechtskonvention verankerte Legalitätsprinzip verstößt. M. v. Germany, App. no. 19359/04 (Eur. Ct. H. R. Dec. 17, 2009); BVerfGE 128, 326 (4. Mai 2011). Für Diskussion und Quellen siehe Dubber / Hörnle, Criminal Law: A Comparative Approach (Fn. 25), S. 58–71. 75 Z. B. R v. L. M., 2008 SCC 31 para. 39 (nach acht Jahren, 300 sogenannte „long-term offenders“). Im Jahr 2012 gab es zudem 486 „gefährliche Straftäter“ („DO’s“), was 3 % der kanadischen Gefängnispopulation entspricht. Public Safety Canada (http://www.publicsafety.gc.ca/ cnt/cntrng-crm/crrctns/protctn-gnst-hgh-rsk-ffndrs/faq-eng.aspx). Natürlich wird es umso schwieriger, den Ausnahmestatus der strafpolizeilichen Regelung für außerordentliche Straftäter aufrechtzuerhalten, je weiter sie gefasst ist. In den Vereinigten Staaten zum Beispiel befanden sich 2013 über 50.000 Jugendliche in „Unterbringungseinrichtungen“, gegenüber über 100.000 im Jahrzehnt zuvor. Siehe U. S. Department of Justice, Office of Juvenile Justice and Delinquency Prevention, Juveniles in Detention, 2013. 76 Siehe z. B. Kansas v. Hendricks, 521 U. S. 346 (1997) („Sexually Violent Predator Act“ im Artikel „Care and Treatment for Mentally Ill Persons“ im „Probate Code“ des Staates Kansas gilt nicht als Strafbestimmung).

D. Zwischen Strafrecht und Strafpolizei  

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als Ausnahme von der Herrschaft des Strafrechts betrachten und sie an den Rand unserer Studie über das Strafrecht drängen würden, sondern als eine alternative, umfassende Konzeption des Strafens betrachten würden? Stellen wir uns beispielsweise eine Konzeption der Behandlung „gewöhnlicher“ Straftäter im Rahmen des „gewöhnlichen“ strafrechtlichen Verfahrens vor, die Unterschiede zur der Behandlung der außergewöhnlich Gefährlichen (oder anderweitig außergewöhnlichen) herunterspielt anstatt sie hervorzuheben. Kann nicht das gesamte System der Verhängung von Strafen, beispielsweise in den Vereinigten Staaten, als ein massives strafpolizeiliches System für die pönal-korrigierende Behandlung von Straftätern unter Aufsicht von „correctional officers“ in „correctional institutions“ und „departments of corrections“ angesehen werden? Kann dieser alltägliche „Gefängnis-Industriekomplex“, dieses gewöhnliche Strafarchipel, nicht als Ort für die rehabilitativ-sichernde Behandlung von außergewöhnlich Gefährlichen angesehen werden? Und was wäre, wenn der gewöhnliche Prozess der Auferlegung – und nicht nur der Vollzug – von Strafnormen für gewöhnliche Angeklagte nicht die Gerichtsverhandlung wäre, in der die Feinheiten von Vorsatz und Täterschaft, mens rea und actus reus debattiert und entschieden werden? Was wäre, wenn der gewöhnliche Prozess kein großangelegter (und extrem seltener) Geschworenenprozess ist, sondern die schnelle, einseitige Absprache zwischen dem Staatsanwalt und dem überlasteten Verteidiger eines Klienten, der mit einem exorbitanten Strafmaß konfrontiert ist? Noch allgemeiner gefragt: Was wäre, wenn das gesamte Strafregime dazu bestimmt wäre, außergewöhnlich Gefährliche abzuschrecken, zu identifizieren, zu diagnostizieren und dann einer angemessenen pönal-korrigierenden Behandlung zu unterziehen (was die Verfasser des Model Penal Code als das Gebot einer rationalen und wissenschaftlichen Strafrechtsreform betrachteten77)? Was wäre, wenn außergewöhnliche Gefährlichkeit nicht das Markenzeichen des Ausnahmetäters wäre, sondern die Definition von Kriminalität überhaupt (woran Herbert ­Wechsler, die treibende Kraft des Model Penal Code, und viele seiner Zeitgenossen fest glaubte78)? Was wäre, wenn psychische Erkrankungen oder Defekte nicht einen Entschuldigungsgrund für ganz wenige darstellten, sondern das gemeinsame Merkmal aller Täter (wie Karl Menninger zum Beispiel betonte79)?

77

Bezüglich des Behandlungsansatzes des Model Penal Code siehe Markus D. Dubber, The Model Penal Code, Legal Process, and the Alegitimacy of American Penality, in: ders., Foundational Texts in Modern Criminal Law, 2014, S. 239; siehe auch Dubber, Introduction to the Model Penal Code (Fn. 26). 78 Herbert Wechsler, The Challenge of a Model Penal Code, in: Harv. L. Rev. 65 (1952), S. 1097, 1105 (definiert „criminal conduct“ als „conduct that shows the individual sufficiently more likely than the rest of men to be a menace in the future to justify official intervention to measure and to meet the special danger he presents“). 79 Menninger, The Crime of Punishment (Fn. 69).

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Kap. 4: Strafrecht und Strafpolizei im doppelten Strafstaat  

Mit anderen Worten: Was wäre, wenn das alte Abnormale das neue Normal würde? Oder zumindest ein anderes Normal, im Sinne einer alternativen Auffassung des Strafens anstatt als die bloße Geringfügigkeitsausnahme von der einen Regel (wie Herbert Morris kritisch argumentierte80)? Diese Fähigkeit und Bereitschaft, die Perspektive zu wechseln, macht die dualistische Analyse möglich. Anstatt dem Drang nach Vereinfachung, Lösung kognitiver Dissonanzen und Bestätigung (und Legitimation) des Status quo durch Marginalisierung alternativer Vorstellungen und Narrative nachzugeben, ist die dualistische Analyse im Wesentlichen perspektivisch; sie erkennt multiple Perspektiven und bekräftigt kontinuierlich die Möglichkeit von perspektivischen Verschiebungen und Gegennarrativen. Es ist unwahrscheinlich, dass alternative Perspektiven, wie z. B. die der Strafmacht qua Recht und qua Polizei, sich zu einem bestimmten Punkt in Zeit und Raum im perfekten Gleichgewicht befinden würden. In der abstrakten zeitübergreifenden Perspektive der longue durée erlebte die Zeit vom Ende der römischen Republik bis zur Aufklärung die Hegemonie der Heteronomie über die Autonomie als grundlegende Herrschaftsmechanismen. Die radikale Kritik der Aufklärung versuchte, sich dieser langjährigen Tradition zu widersetzen; ob sie in eine Hegemonie der Autonomie (durch Recht) über die Heteronomie (durch Polizei) mündete, ist eine der umfassenderen Fragen, die hinter der in dieser Studie unternommenen dua­listischen Analyse des Verhältnisses zwischen Strafrecht und Strafpolizei stehen. Die interessantesten und problematischsten Versuche, die Spannung zwischen Strafrecht und Strafpolizei zu formulieren und gleichzeitig zu bewältigen, und diejenigen, die die größte Aufmerksamkeit verdienen, nehmen Unterscheidungen zwischen den Handelnden vor – oder allgemeiner gesagt – zwischen den Objekten der Strafmacht, da die Strafmacht, wie wir gesehen haben, nicht unbedingt durch Handlungen ausgelöst wird. Diese Unterscheidungen werden – zumindest heute, im Allgemeinen – nicht explizit, dogmatisch oder institutionell getroffen. So hat Günther ­Jakobs beispielsweise eine Unterscheidung zwischen einem „Bürgerstrafrecht“ und einem „Feindstrafrecht“ im deutschen Strafrecht herausgearbeitet.81 Während dies auf den ersten Blick als eine Unterscheidung innerhalb des Strafrechts erscheint, kann es ebenso als eine Unterscheidung zwischen Strafrecht und Strafpolizei angesehen werden, wobei „Bürger“ dem ersteren unterworfen sind und „Feinde“ der letzteren. Jakobs zufolge unterscheidet sich der Feind von Bürger durch den Mangel an „Rechtstreue“. Ohne die notwendige Rechtstreue existiere der Feind jenseits des (Straf-)Rechts. Aber er liegt nicht außerhalb der Strafmacht des Staates, ganz im Gegenteil!

80

Morris, Persons and Punishment (Fn. 39). Siehe Günther Jakobs, On the Theory of Enemy Criminal Law, in: Markus D. Dubber (Hrsg.), Foundational Texts in Modern Criminal Law, 2014, S. 415, 418–419. 81

E. Rasse und Strafsklaverei 

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Jakobs neigt dazu, die Art der Herrschaft über den Feind als eine Art außergewöhnliches (Straf-)Recht – eben Feindstrafrecht – einzustufen; wir könnten es stattdessen Strafpolizei nennen. Man beachte jedenfalls, dass Jakobs die Strafherrschaft über Feinde als Abweichung von der Norm (der Bürgerstrafherrschaft) darstellt. Dies soll jedoch nicht heißen, dass Jakobs das Feindstrafrecht an den Rand drängt, um es der Prüfung zu entziehen; im Gegenteil, er sieht seinen Beitrag darin, ein separates Strafrecht herausgearbeitet und beleuchtet zu haben, dessen Existenz, wenn nicht gar Möglichkeit, geleugnet worden wäre – und tatsächlich von der traditionellen deutschen (und deutsch geprägten) Strafrechtswissenschaft und -lehre entschieden verworfen wurde. Dennoch bleibt das Feindstrafrecht die Ausnahme von der Regel und nicht eine alternative Gesamtkonzeption des Strafens. Wie wir in Kürze sehen werden, wenn wir den in dieser Studie verfolgten doppelten Strafstaatsansatz im Vergleich mit anderen dualistischen Analysen des Strafens – von Herbert Packer in den USA und Jakobs in Deutschland – genauer betrachten, löst Jakobs stattdessen die Spannung zwischen den beiden Regimen, indem er dem Feind-„Strafrecht“ seinen angemessenen Platz im Strafrecht zuweist, indem er es auf bestimmte Akteure (Feinde) oder Dogmen (z. B. Vorfeldstrafbarkeit und Gefährdungsdelikte) beschränkt. Die Unterscheidung zwischen Bürger und Feind findet sich heute nirgendwo im (deutschen) positiven Recht. Explizite Unterscheidungen zwischen den Objekten der Strafmacht des Staates waren jedoch nicht immer so ungewöhnlich. Betrachten wir die nationalsozialistische Unterscheidung zwischen Deutschen, die dem Strafgesetzbuch unterlagen, sowie das auf ihm (mehr oder minder) basierende, beeindruckende dogmatische Gebäude der deutschen Strafrechtslehre, und Polen (und Juden), auf die kein Strafgesetzbuch und keine differenzierte Lehre von der strafrechtlichen Verantwortlichkeit Anwendung fand, sondern eine einseitige „Verordnung,“ die aus drei Abschnitten bestand, von denen der erste vorsah, dass sie „alles zu unterlassen (haben), was der Hoheit des Deutschen Reiches und dem Ansehen des deutschen Volkes abträglich ist.“82

E. Rasse und Strafsklaverei Selbst wenn es keine ausdrückliche und offizielle Unterscheidung zwischen verschiedenen Objekten der Strafmacht gibt, kann die Unterscheidung zwischen Strafrecht und Strafpolizei hilfreich sein, um staatliche Strafsysteme einer kritischen Analyse zu unterziehen. Die überwältigend ungleichen Auswirkungen des nun schon jahrzehntelang andauernden amerikanischen „War on Crime“

82

PolenstrafrechtsVO vom 4. Dezember 1941, RGBl, 1941 I, S. 759, § 1 Abs. 1 S. 2. Für eine detaillierte Auseinandersetzung siehe Gerhard Werle, Justiz-Strafrecht und polizeiliche Verbrechensbekämpfung im Dritten Reich, 1989, S. 351–412); siehe auch Diemut Majer, „Fremdvölkische“ im Dritten Reich, 1981, S. 606–607.

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Kap. 4: Strafrecht und Strafpolizei im doppelten Strafstaat  

auf rassische und ethnische Minderheiten – und insbesondere auf Afroamerikaner  – können als Ausdruck einer tief verwurzelten rassebezogenen Unterscheidung zwischen den Bereichen Strafrecht und Strafpolizei angesehen werden. Aus einer weitergefassten historischen Perspektive fielen schwarze Sklaven unter die diskretionäre Haushaltsdisziplin von Sklavenhaltern, die bestenfalls nach unverbindlichen Ratschlägen in (veröffentlichten und unveröffentlichten) Handbüchern für Sklavenhalter ausgeteilt wurde, lange bevor sie nach dem Verschwinden der privaten Sklavenherrschaft – de jure, wenn nicht de facto – unter die öffentliche Strafpolizei des Staates fielen.83 Die Behandlung von rassischen Minderheiten und von Objekten der amerikanischen Strafverfolgung war von Anfang an eng miteinander verbunden, aber nicht, weil die Strafmacht nur bzw. sogar in erster Linie zur Kontrolle von rassischen Minderheiten eingesetzt wurde.84 Stattdessen gehörten die Objekte der Strafmacht – Verbrecher – zusammen mit Nicht-Weißen, Frauen und Armen zu denen, die aus dem amerikanischen rechtlich-politischen Projekt von vornherein ausgeschlossen waren. Wie Nicht-Weiße wurden Straftäter als bloße Objekte staatlicher Macht betrachtet, die nicht zur Eigenverantwortung und damit zur Teilnahme an dem neuen, auf dem Prinzip der Autonomie beruhenden Regierungssystem fähig sind. Unter den Überresten des amerikanischen Revolutionsprojekts ist die Verbindung zwischen Nicht-Weißen und Tätern besonders eng. Der berühmte Dreizehnte Zusatzartikel der US-Verfassung von 1865 schaffte Sklaverei und unfreiwillige Leibeigenschaft ab, „außer als Bestrafung für ein Verbrechen“. Gefangene galten als rechtlose „Sklaven des Staates“ in der damaligen Dogmatik des „Gefängnis 83 Siehe Jonathan A. Bush, Free to Enslave: The Foundations of Colonial American Slave Law, in: Yale J. L. & Humanities 5 (1993), S. 417, 426; Willie Lee Rose (Hrsg.), A Documentary History of Slavery in North America, 1999 (Orig. 1976), Kap. 7 & 8; siehe auch Michelle Alexander, The New Jim Crow: Mass Incarceration in the Age of Colorblindness (2010). Bush fängt das Zusammenspiel zwischen privater und öffentlicher Rassenpolizei ein, wenn er die Antebellum-Sklavengesetze als „Polizeimaßnahmen“ bezeichnet. Ebd. 427, S. 433–434. Selbstauferlegte und -kontrollierte aufsichtsrechtliche Beschränkungen können moralischer, religiöser, sozialer oder ökonomischer Art (im engeren Sinne) sein. Siehe z. B. State v. Mann, 13 N. C. 263, 267 (1829) („that all-powerful motive, the private interest of the owner“) (siehe A Documentary History, ebd., S. 223); Basil Hall, Travels in North America, in the Years 1827 and 1828, 1829, Bd. 3, S. 193 (Aufseher mit einem „Charakter unangemessener Strenge“ sind unerwünscht, weil diese „weniger effektiv arbeiten als eine vernünftigere Person“) (= A Documentary History, ebd., 306); siehe auch Thomas Jefferson, Notes on the State of Virginia, 1785, Frage xviii (nachteilige Wirkung der Sklaverei auf die Besitzer einschließlich deren „Moral“ und „Fleiß“) (= A Documentary History, ebd., S. 74). Was auch immer ihre Quelle sein mag, Beschränkungen der (quasi-)patriarchalischen Disziplinarmacht beruhen in der Regel auf (der Kompetenz) ihres Subjekts, nicht auf (den Rechten oder Interessen) ihres Objekts. 84 Die Betrachtung der Rassenpolizei als ein Aspekt der Strafpolizei in der zeitübergreifenden und weiträumigen Perspektive soll ihre Bedeutung, insbesondere ihre historische und fortdauernde Bedeutung für das amerikanische Strafregime, nicht herunterspielen, sondern sie in einem tief verwurzelten und langjährigen Prozess, der nicht ausschließlich amerikanisch ist, verorten und damit in eine umfassende vergleichend-historische Analyse einbeziehen.

E. Rasse und Strafsklaverei 

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rechts“ (prison law).85 Täter wurden wie Sklaven behandelt, durch Bestrafung als Versklavung. Die Kategorie des Sklaven als reinste Manifestation rechtlich-politischer Objektivierung verknüpft kraftvoll und eindeutig Nicht-Weiße und Straftäter in der amerikanischen rechtlich-politischen Geschichte. Der Dreizehnte Zusatzartikel beendete zumindest nominell die private Sklaverei in der Form einer ausdrücklichen Unterwerfung des Sklaven unter einen Mikro-Hausvater (und dessen Einsatz diskretionärer und im Wesentlichen unbegrenzter Haushaltdisziplin). Ob er gleichzeitig de facto und nicht nur de jure die private heteronome Haushaltsherrschaft beendete, ist eine andere Frage, ganz zu schweigen von der Verhinderung des Ersatzes der privaten polizeilichen Kontrolle von unfreien Nicht-Weißen (auf der Plantage) durch die öffentliche polizeiliche Kontrolle von freien Nicht-Weißen (auf der Straße) (Antwort lautet eindeutig: nein). In Anbetracht des Ausschlusses von Straftätern durch den Dreizehnten Zusatzartikel kann jedoch argumentiert werden, dass der Ausschluss von Straftätern aus dem amerikanischen rechtlich-politischen Projekt nie zurückgewiesen worden ist, nicht einmal de jure. Im Gegensatz zu Sklaven gab es bei Straftätern keine private Institution heteronomer Herrschaft, die verfassungsrechtlich abgeschafft werden konnte; Verbrecher unterlagen per Definition der staatlichen „Bestrafung“ als Ausübung der Strafmacht des Staates: Sie waren und blieben öffentliche „Sklaven des Staates“, die draußen vor der Tür des amerikanischen rechtlich-politischen Projekts standen, und dort immer noch stehen. Wie wir gesehen haben, ist der Ursprung der staatlichen Strafmacht auf die disziplinarische Macht des Hausvaters über seine Haushaltsmitglieder, einschließlich – aber nicht beschränkt auf – Sklaven, zurückzuführen. In dieser zeitübergreifenden Sicht erscheint der Sklave als eine der Haushaltsressourcen innerhalb der Ermessensautorität (oder Friedens) des Hausherrn. Aus dieser breiteren Perspektive betrachtet, gehören die antebellum Handbücher für amerikanische Sklavenhalter zu einem Jahrtausende alten Genre „ökonomischer“ Ratgeberliteratur für Hausväter kleiner und großer Haushalte (Hausväterliteratur), das von Xenophons ­Oikonomikos (4. Jahrhundert v. Chr.) über Machiavellis Der Fürst (1532) (und andere Prinzenspiegel) bis hin zu Franz Philipp Florins Oeconomus prudens et legalis (!) (1702) (und ähnlichen christlich-religiösen Pamphleten) reicht.86 Erinnern wir uns, dass Radbruch die Entstehungsgeschichte eines öffentlichen Strafrechts als die Ausdehnung der (körperlichen) Disziplinarmaßnahmen sah, die Mikro-Hausherrn 85

Siehe Ruffin v. Commonwealth, 62 Va. 790, 796 (1871) (Verbrecher als Sklaven des Staates). Der Ausschluss der pönalen „unfreiwilligen Dienstbarkeit“ durch den Dreizehnten Zusatzartikel erlaubte den fortgesetzten Einsatz von Zwangsarbeit in Gefängnissen als In­strument der Polizei und insbesondere der Rassenpolizei. 86 Siehe Maike-Franziska van Haag, Recht in der Hausväterliteratur: Der „Oeconomus Prudens et Legalis“ von Franz Philipp Florin im Kontext seiner Zeit, 2014; siehe auch Inken Schmidt-Voges, Mikropolitiken des Friedens: Semantiken und Praktiken des Hausfriedens im 18. Jahrhundert, 2015 (Hausväterliteratur und Hausfrieden).

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Kap. 4: Strafrecht und Strafpolizei im doppelten Strafstaat  

gegen ihre Haushaltsmitglieder – die alle im Gegensatz zum Hausvater selbst unfrei waren – anwendeten, auf besitzlose Freie unter der Aufsicht einer außerhalb und oberhalb des Mikro-Haushalts angesiedelten Institution. Da diese zentrale Autorität, die selbst als ein Haushalt konzipiert war, wenn auch ein großer oder sogar königlicher, das „öffentliche“ Monopol über die Pönalgewalt beanspruchte, entwickelte sich die „private“ Disziplinarmacht der Micro-Hausväter von einer ursprünglichen und unabhängigen Souveränitätskomponente zu einer delegierten Befugnis. Die Vorstellung vom Täter als Objekt der Patriarchalherrschaft, wenn auch nun als Mündel oder Sklave des Staates und damit des Makro-Hausvaters und Souveräns, blieb somit bestehen. Es ist die Persistenz dieser Konzeption der Objekte staatlicher Strafmacht, die im Ausschluss der Strafbehandlung von Verbrechern aus der kategorischen Ablehnung der Sklaverei in im Dreizehnten Zusatzartikel erfasst wird. Die Sklaverei wurde (zumindest auf dem Papier) 1865 in Amerika abgeschafft, nur eben nicht für Straftäter. Am Ende eröffnet die Unterscheidung zwischen Strafrecht und Strafpolizei auf diese Weise einen breiteren historischen und vergleichenden Kontext, der den Zusammenhang zwischen Rassen- und Strafherrschaft als nicht statistisch, sondern konzeptionell, als nicht opportunistisch, sondern genealogisch aufzeigt. Rassenund Strafherrschaft gingen nicht Hand in Hand weil – bzw. nur weil – die Strafmacht des Staates genutzt wurde, um Nicht-Weiße „öffentlich“ unter Kontrolle zu halten nachdem der Dreizehnte Zusatzartikel einer „privaten“ Überwachung ehemaliger Sklaven auf Plantagen zumindest offiziell ein Ende bereitet hatte.87 Trotz beträchtlicher Überschneidungen, angesichts der erschreckenden Überrepräsentation von rassischen Minderheiten unter den Objekten der Strafpolizei, waren Strafund Rassenpolizei separate und doch oft miteinander eng verbundene, Beispiele heteronomer Herrschaft über bloße Regierungsobjekte, die nicht in der Lage sind, sich selbst und damit auch andere zu regieren. In diesem breiteren Kontext betrachtet, kann der Versuch, die Spannung zwischen Strafrecht und Strafpolizei mit Hilfe von Unterschieden, explizit oder nicht, zwischen Tätertypen (Bürger / Feind, weiß / schwarz, normal / abnormal) zu bewältigen und dann den Bereich der Strafpolizei als außergewöhnlich, geringfügig oder aus anderen Gründen (einschließlich Rassismus und anderen Formen der Diskriminierung) unbeachtlich zu marginalisieren, die nach wie vor zentrale Bedeutung der uralten Frage nach dem Verhältnis zwischen Herrscher und Beherrschten, zwischen Subjekt und Objekt der Herrschaft nicht verdecken. Recht und Polizei geben auf diese Frage Antworten, die heute so radikal unterschiedlich sind wie im klassischen Athen, zu der Zeit als die Unterscheidung zwischen Autonomie und Heteronomie erstmals im Zusammenspiel und der persönlichen Vernetzung (in der Figur des Hausherrn) zwischen den radikal unterschiedlichen politischen 87 Siehe Douglas A. Blackmon, Slavery by Another Name: The Re-Enslavement of Black People in America from the Civil War to World War II, 2008; Alexander, The New Jim Crow (Fn. 83).

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Bereichen des privaten Haushalts, auf der einen Seite, und des öffentlichen Stadtstaates, auf der anderen, erkannt und institutionalisiert wurde. Diese Lösung des Spannungsfeldes zwischen Autonomie und Heteronomie basierte auf einer radikalen Unterscheidung zwischen Hausherr und Haushalt, Herrscher und Beherrschten, Autonomen und Heteronomen. Die Aufklärung lehnte diese Unterscheidung ab und postulierte stattdessen die Kapazität zur Autonomie als gemeinsames Merkmal aller Personen, der Herrscher wie der Beherrschten. Nun erforderte die Ausübung der Macht durch eine Person über eine andere Person eine Legitimation, im Allgemeinen und in jedem einzelnen Fall. Das Spannungsverhältnis zwischen Autonomie und Heteronomie konnte nicht mehr als Zuständigkeitsfrage gelöst werden, indem man jedes Herrschaftsmodell seiner entsprechenden Sphäre zuordnete. Die Heteronomie wurde als anachronistischer Überrest aus einer vormodernen Herrschaftsära hingestellt. Und so wurde seine Persistenz geleugnet, ignoriert und an die Peripherie des Außergewöhnlichen, des Unwichtigen und des Unsichtbaren gedrängt; die Polizeigewalt überlebte für diejenigen jenseits oder unterhalb des amerikanischen rechtlich-politischen Projekts, die nicht der vermeintlich universellen und radikal egalitären neuen Norm des autonomen Bürgers entsprachen, seien es Frauen, Arme, Nicht-Weiße oder Verbrecher. Wie wir in Teil III sehen werden, bedeutete die Tatsache, dass Straftäter aus dem rechtlich-politischen Projekt fielen, nicht, dass sie nicht die Aufmerksamkeit religiöser Reformer auf sich gezogen hätten. Am Ende reichte das religiöse Mitgefühl jedoch nicht über sympathische, bemitleidenswerte Täter hinaus, insbesondere Schuldner, die in eine schwere finanzielle Krise geraten waren. Auf jeden Fall konnten religiös motivierte, aber sporadische Reformbemühungen deshalb eine spürbare Wirkung zeigen, weil die Behandlung von Straftätern nicht als ein wichtiges Anliegen der grundlegenden Reform des rechtlich-politischen Systems in der neuen Republik betrachtet wurde. Stattdessen wurde das althergebrachte patriarchalisch-monarchische englische Strafrecht mit nur oberflächlichen Änderungen bzw. Umettikettierungen fortgesetzt, wie z. B. die Ersetzung des „königlichen Friedens“ durch den „öffentlichen Frieden“, die den Übergang vom König als Souverän zur Öffentlichkeit widerspiegelte. Aber es besteht im Moment keine Notwendigkeit, die tiefe Kontinuität zwischen der englischen und der amerikanischen Strafherrschaftskonzeption vor und nach der Revolution aufzuzeigen. Nehmen wir stattdessen als einfaches Beispiel die Vagabunden-Gesetzgebung, die nach dem amerikanischen Bürgerkrieg eine Schlüsselrolle in der Fortführung eines rassenpolizeilichen Regimes spielte, das nach 1865 als Ausübung der staatlichen Strafmacht – anstatt der privaten Disziplinarmacht des Plantagenbesitzers – „veröffentlicht“ wurde.88 Diese Gesetze wur 88

Dubber, Policing Possession (Fn. 28), S. 912–915 (Vagabundieren), S. 929–931 (Waffen­ besitz); siehe auch Bryan Wagner, Disturbing the Peace: Black Culture and the Police Power after Slavery, 2009; Sarah Nicolazzo, Vagrant Figures: Law, Labor, and Refusal in the EighteenthCentury Atlantic World (unveröffentlichte Dissertation, University of Pennsylvania, 2014).

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den in der Regel, soweit sie nicht einfach übernommen wurden, nach dem Vorbild englischer Vagabundengesetze gestaltet, die bis ins 14. Jahrhundert zurückreichten (Ordinance of Labourers 1349, Statute of Labourers 1351) und im Laufe der Jahrhunderte aktualisiert und erweitert (Vagrancy Act 1744) worden waren. Diese überlebten dann unverändert die Amerikanische Revolution und den Beginn der neuen Republik, den Bürgerkrieg von 1861–1865, Reconstruction, und zwei Weltkriege, bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, als eins von ihnen (über „Schurken und Vagabunden oder liederliche Personen“) in der bereits erörterten Entscheidung des U. S. Supreme Court in Papachristou v. Jacksonville von 1972 auftauchte.89 Es ist bezeichnend, ja sogar verblüffend, dass eine solche Vorschrift nicht nur in der Stadtordnung einer mittelgroßen amerikanischen Stadt im Jahr 1972 zu finden war, als der U. S. Supreme Court sie für verfassungswidrig erklärte, sondern auch regelmäßig angewandt wurde. Es ist nicht weniger bemerkenswert, dass Gesetze mit ähnlichem Regelungsgehalt zu dieser Zeit im amerikanischen Kommnunalund Landesrecht üblich waren und – auch diesem Grund – problemlos gegen verfassungsrechtliche Einwände verteidigt wurden. In den Worten des Obersten Gerichtshofs von Florida, der – in einer oberflächlichen Entscheidung – einige Jahre vor Papachristou genau das gleiche Gesetz (nach Landesrecht) aufrechterhalten hatte: „Unser Gesetz scheint dem Genre der Vagabundengesetze anzugehören, die seit langem aufrechterhalten worden sind als notwendig um das Vagabundentum abzuschrecken und sowohl Verbrechen als auch die Belastungen für die Gesellschaft durch arbeitsfähige Verantwortungslose, die aus freiem Willen zur Last für andere und insbesondere für ihre Familien werden, zu verhindern.“90

Das Gericht wies darauf hin, dass das Gesetz auf eine lange Geschichte zurückblicken könnte, da es „aus dem frühen englischen Recht abgeleitet wurde.“91 Und obwohl es einräumte, dass das Gesetz „wegen seiner historischen Ableitung archa­ ische Sprache in seinen Beschreibungen von Vagabunden enthielt“, gehörte es doch eindeutig zu der allgemein anerkannten Kategorie von „Vagabundengesetzen“92, die nach dem einschlägigen Beitrag in dem Traktat American Jurisprudence „allgemein als regulative Maßnahmen zur Verbrechensverhütung angesehen werden und nicht als gewöhnliche Strafgesetze, die Verbrechen verbieten und bestrafen“.93 Mit anderen Worten: Vagabundierstatuten waren polizeiliche Maßnahmen par excellence, flexible Werkzeuge zur Wahrung des königlichen Friedens durch die Kontrolle der „herrenlosen Männer“ im England des vierzehnen Jahrhunderts, oder zur Wahrung des öffentlichen Friedens durch die Kontrolle der „gefährlichen Klassen“ im Norden Floridas des zwanzigsten Jahrhunderts, durchgeführt von Beam 89 Papachristou v. City of Jacksonville, 405 U. S. 156 (1972). Siehe oben Kapitel, Abschnitt  2. C. 90 Johnson v. State, 202 So. 2d 852, 855 (Fla. 1967). 91 Ebd., 854. 92 Ebd., 855. 93 Ebd., 854 (mit Hinweis auf 55 Am. Jur. Vagrancy § 4, 447).

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ten, die die quasi patriarchale Polizeimacht des Souveräns du jour mit praktisch unbegrenztem Ermessen ausübten.94 In der Zeit nach dem schwarzen Tod waren die Objekte der proto-polizeilichen Kontrolle die Arbeiter, die auf der Suche nach Arbeit und besserer Bezahlung durch die zerrüttete englische Landschaft wanderten; in dem amerikanischen Süden nach dem Bürgerkrieg waren es zwei gemischtrassige Paare, die auf ihrem Weg zu einem Nachtclub Jacksonvilles Hauptstraße herunterfuhren und wegen „Herumtreiberei im Auto“ verhaftet wurden. Angesichts seines beträchtlichen historischen Stammbaums über Jahrhunderte, Revolutionen und Kriege, ganz zu schweigen von Kontinenten und Ländern hinweg ist es nicht verwunderlich, dass das Vagabundentum nicht einfach von heute auf morgen wegen eines einzigen Urteils des U. S. Supreme Court spurenlos aus dem amerikanischen Strafregime verschwand. Das Vagabundentum verwandelte sich stattdessen in andere, weniger „archaische“ Werkzeuge der Straf- (und Rassen-) polizei, vor allem in ein breites und vielfältiges Regime der Besitzpolizei.95 Besitzdelikte gab es schon seit einiger Zeit, wenn auch nicht annähernd so lange wie das Vagabundentum. Im 18. Jahrhundert erschien beispielsweise das Besitzverbot in Fälschungsverboten als geeignetes Mittel, die Autorität des Königs vor unausgereiften Bedrohungen zu schützen. (Tatsächlich erwähnte schon der Treason Act von 1351 die Münzfälschung als eine Form des Hochverrats (high treason), d. h. des Verrats am König als pater patriae anstatt an einem gemeineren Hausvater (petit treason); als Hochverrat wurde darüber hinaus bereits die bloße „Vorstellung“ (imagining) des Tods des Königs eingestuft.)96 In den USA wurden Besitzdelikte spätestens seit dem 19. Jahrhundert als Werkzeuge der rassischen Strafpolizei eingesetzt. Die Besitzvergehen der Wahl, freie und versklavte Nicht-Weiße – vor und nach ihrer Emanzipation – zu kontrollieren, war das Strafverbot des Waffenbesitzes. Ein Jahrhundert später sollte der Krieg 94

Siehe z. B. Christopher G. Tiedeman, A Treatise on the Limitations of Police Power in the United States, St. Louis 1886, S. 116–122 (polizeiliche Kontrolle gefährlicher Klassen: polizeiliche Kontrolle von Vagabunden); für eine spätere, differenziertere Analyse siehe Ernst Freund, The Police Power, 1904, §§ 97–100. Man beachte, dass Tiedeman und Freund die Gesetze zum Vagabundieren mit den deutschen Polizeimaßnahmen vergleichen, die sie für extensiver halten. Tiedeman, ebd., S. 120–121; Freund, ebd., S. 100. 95 Siehe allgemein Dubber, Policing Possession (Fn. 28). Das Vagabundieren lebte auch in anderen Formen weiter, zum Beispiel als „Herumlungern“ (loitering). Die Gesetze über das Herumlungern waren jedoch aus mehreren Gründen weit weniger bedeutsam als das System der Besitzpolizei. Sie markierten einen weniger offensichtlichen Bruch mit der archaischen Form der Vagabundenverordnungen und zogen infolgedessen – in Gegensatz zu Besitzverboten – zumindest auf der Ebene der Landesgerichte gelegentlich eine verfassungsrechtliche Prüfung nach sich. Siehe z. B. People v. Clark, 71 N. Y.2d 376 (1988). Darüber hinaus fehlte ihnen die Durchschlagskraft von Besitzgesetzen, die den Umfang und die flexible Zweckmäßigkeit der Vagabundengesetzen mit dem Biss einer strengen Bestrafung verbanden, die sogar – im Falle bestimmter Drogenbesitzgesetze – lebenslange Haft ohne Bewährung vorsah. Siehe z. B. Harmelin v. Michigan, 501 U. S. 957 (1991) (lebenslange Haftstrafe ohne Bewährung für einfachen Besitz von mindestens 650 Gramm Kokain). 96 Näheres zum Treason Act, s. unten Kapitel 6, Abschnitt A.

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gegen das Verbrechen – vor allem gegen Nicht-Weiße und andere ethnische Minderheiten – primär mit einem anderen hoch potenten Besitzdelikt geführt werden: dem Verbot des Drogenbesitzes.97 Drogenbesitz wiederum sollte im Kontext eines breiten und dichten Netzes von Besitzdelikten gesehen werden, das den Staats­ beamten einen weitreichenden Ermessensspielraum einräumt, um schnell und effektiv zu ermitteln, zu unterbinden, zu filzen, zu verhaften, zu durchsuchen, festzunehmen, anzuklagen, zu überführen und zu bestrafen – angesichts der Leichtigkeit, mit der Besitz entdeckt, festgestellt und bewiesen wird, und der vielfältigen Palette der verfügbaren Besitzdelikte, die vom Besitz von Einbruchswerkzeugen bis zum Besitz großer Mengen an harten Drogen, von kommunalen über landesrechtlichen bis hin zu bundesrechtlichen Straftaten, von eigenständigen Besitzdelikten bis hin zur Verwendung des Besitzes zur Erhöhung des Strafmaßes oder als präsumtiver Beweis für eine andere Straftat (retrospektiv und prospektiv), von Bußgeldern (oder Verwarnungen) bis hin zu lebenslangen Haftstrafen in einem Bundesgefängnis ohne die Möglichkeit der Bewährung reichen.98 Und doch: wie die Landstreicherei (und der Friedensbruch) operiert auch das umfangreiche Polizeiregime des Besitzes an den Grenzen der Konzeption des amerikanischen Strafens. Der Besitz wird als periphere Ausnahme von der Regel behandelt, eine belanglose de minimis-Straftat, die unterhalb des Radarschirms des traditionellen Strafrechtssystems liegt. Dass es gegen die grundlegenden Dogmen dieses Systems verstößt, ist nebensächlich. Es spielt keine Rolle, dass sie dem actus reus-Erfordernis zuwiderläuft, indem sie einen Status kriminalisiert (die Beziehung zwischen einem Objekt und seinem Besitzer) und nicht ein Verhalten, dass sie oft auf die mens rea Erfordernis verzichtet (insbesondere in Bezug auf die Eigenschaften des Besitzgegenstands) und von vermeintlich allgemeinen Verteidigungsmöglichkeiten (insbesondere Notwehr, aber generell Rechtfertigungen) ausgenommen ist, dass sie die härtesten Strafen bis kurz vor der Todesstrafe auslösen kann, dass sie unzählige (und oft ungezählte) Interaktionen zwischen Staatsdienern und den Subjekt-Objekten staatlicher Macht (unabhängig davon, ob es zu körperlichem Kontakt kommt, etwa in einer Verhaftung oder Durchsuchung etc.) umfasst, inklusive der alltäglichen Durchsetzung der Verkehrsgesetze in Gemeinden und Städten, und dass von den Verkehrskontrollen auf Kreisstraßen und mehrspurigen Autobahnen eine Vielzahl zu ad hoc Besitzermittlungen mit Hilfe von einvernehmlichen oder beiläufigen Durchsuchungen übergehen, die oft genug Indizien für Besitzdelikte (meist Waffen- oder Drogenbesitz) oder ganz andere Straftaten (der gefälschte Scheck im Handschuhfach, die Leiche im Kofferraum, der gefährdete Papagei im Käfig usw.) zutage fördern. 97 Zwar mag die explizite Rassendiskriminierung nach dem Bürgerkrieg aus den Waffen­ besitzgesetzen verschwunden sein, doch ihre rassische Polizeifunktion blieb unverändert. Siehe Watson v. Stone, 4 So. 2d 700, 703 (Fla. 1941) (Buford, J., zustimmend) (Floridas auf dem Papier rassenneutrales Waffenbesitzgesetz galt der „Entwaffnung der Negerarbeiter“ und war „nie beabsichtigt, auf die weiße Bevölkerung angewandt zu werden und wurde in der Praxis auch nie so angewandt“). 98 Für eine Liste siehe Dubber, Policing Possession (Fn. 28), S. 856–857.

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Nicht nur die Straftat ist de minimis, sondern auch der Täter. Der Täter ist für das rechtlich-politische Projekt ebenso peripher wie es die Straftat für das traditionelle Strafrechtssystem ist. Die Behandlung der Täter als „bloße“ Polizeiobjekte spiegelt ihren Status als Überreste des modernen rechtlich-politischen Projekts wider. Generell werden Straftäter in die Gruppe der anormal Gefährlichen eingestuft, wobei die Tatsache der Straftat als Beweis für ihre Subnormalität, ihre Unfähigkeit zur Selbstverwaltung und damit zum Subjektivsein dient. Nachdem wir die tiefen historischen Wurzeln der Strafpolizei der de minimisTäter durch de minimis-Taten berührt haben, indem wir uns auf verschiedene seit Langem bestehende polizeiliche Maßnahmen wie Gesetze zum Vagabundentum (und Friedensbruch) konzentriert haben, wenden wir uns jetzt dem umfassenderen vergleichenden Kontext des langjährigen Versuchs zu, Unterschiede zwischen Objekten der Strafmacht zu ziehen und zu verwalten. Als wir die Anweisungen für Sklavenhalter des antebellum Südens einer bis ins antike Athen zurückreichenden Literatur zur Haushaltsherrschaft zuordneten, deutete sich der breite vergleichende und letztlich systemische Kontext bereits an. Diese Literatur beschränkte sich genauso wenig auf die angloamerikanische Tradition wie ihr Thema, die umsichtige Verwaltung des Haushalts, groß und klein, grand und petit.99 Entworfen von Hausvätern, mehr oder weniger selbsternannten Beratern und Bürokraten, die praktische Ratschläge erteilen, veröffentlicht oder unveröffentlicht, adressiert an Hausväter, Fürsten, Aufseher, Praktiker der Kunst – oder vielleicht der Wissenschaft – der Oekonomie, geschrieben aus einer Vielzahl von (wechselnden) Perspektiven darüber, was umsichtige (oder gewissenhafte, gute, weise, effektive, genügsame, pflichtbewusste, gottesfürchtige, fleißige) Haushaltsführung, oder besser gesagt Hausväter, ausmacht (angesichts der Betonung der Qualitäten und des Charakters des Hausvaters, die ihn als fähig für seine erhobene Stellung als Herrschender – nicht Beherrschter – kennzeichneten100). Diese Handbücher, Leitfäden und Anweisun 99 Neben den Beispielen aus der griechischen, deutschen und italienischen Literatur siehe z. B. Dudley Fenner, The Order of Household: Described Methodologically out of the Word of God, with the Contrary Abuses Found in the World, 1584 (entnommen aus: Lloyd Davis [Hrsg.], Sexuality and Gender in the English Renaissance: An Annotated Edition of Contemporary Documents, 1998); Robert Cleaver, A Godly Form of Household Government, 1598 (dasselbe); Bartolomeo Frigerio, L’economo prudente, Rom 1629 (eine im Vergleich zu Machiavellis Prinz mondänere italienische Haushaltsanleitung). 100 Siehe z. B. das zentrale und interessante, aber seltsamerweise wenig erforschte Konzept des bonus (oder diligens) paterfamilias, d. h. eines guten Familienvaters, im römischen Recht und später im Zivilrecht. Siehe Francesco Parisi, Alterum Non Laedere: An Intellectual History of Civil Liability, in: Am. J. Juris. 39 (1994), S. 317, 322 (Verbindung des Standards des bonus pater familias mit „dem „vernünftigen Mann“ der angloamerikanischen Tradition“); siehe auch Georg Friedrich Puchta, Vorlesungen über das heutige römische Recht, hrsg. von Adolf ­August Friedrich Rudorff, 2. Aufl. 1849, S. 88–90 (die Unterscheidung zwischen zwei Graden von culpa, culpa lata und culpa levis, wobei letzteres der – außerordentlichen – Sorgfalt eines bonus paterfamilias entspricht); Thomas Collett Sanders (Hrsg.), The Institutes of Justinian, with English Introduction, Translation, and Notes, 8. Aufl. 1888, S. 324 („carefulness employed in the management of affairs by a person who would deserve to be called bonus paterfamilias“).

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gen der guten Herrschaft (good governance, gute Policey) teilten das Konzept der Haushaltsführung, das auf der radikalen Unterscheidung zwischen Hausvater und Haushalt, Herrscher und Beherrschten aufbaut, wobei nur der Erstgenannte qualifiziert und befugt war zu regieren und praktisch unbegrenzten Ermessensspielraum bei der Verwaltung seiner Haushaltsressourcen, sowohl der menschlichen als auch der anderen, genoss.101 Es gab Subjekte und Objekte der Macht, und die beiden trafen sich nie, auch und vor allem nicht, wenn es darum ging, die disziplinäre Macht des Hausvaters zu ergründen. Die Strafherrschaft in kleinen und großen, privaten und öffentlichen Haushalten war im Wesentlichen heteronom, definiert durch den radikalen Gegensatz zwischen souveränem Subjekt und untergeordnetem Objekt. Eine umfassendere vergleichende Perspektive auf die amerikanischen Versuche, die Unterscheidung zwischen Strafrecht und Strafpolizei zu handhaben, zeigt auch eine spezifischere Parallele zwischen den Vorstellungen über das Objekt der Strafherrschaft. Ich meine damit die Vorstellung von Strafobjekten, die auf den ersten Blick am deutlichsten amerikanisch und am extremsten in ihrer Objektivierung erscheint, und damit in ihrer offensichtlichen Unvereinbarkeit mit einem rechtlich-politischen Projekt, das sich um die kategorische Ablehnung der Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt der Herrschaft dreht: die Vorstellung von den Objekten der Strafmacht als Sklaven. Ich meine hier nicht die langjährige Praxis der Strafdisziplin der Sklaven durch den Hausherrn, als objektivierte Haushaltsmitglieder. Ich meine die Vorstellung von den Objekten der pönalen Macht des Staates als Sklaven, die Vorstellung von ihrer pönalen Behandlung als Sklaverei, nicht implizit, sondern explizit, nicht als eine Frage der rohen, unkontrollierten Macht, sondern als eine Frage der Theorie, Politik und sogar des Prinzips, die sich bei auch nur etwas näherem Hinsehen nicht als ein Zeichen des amerikanischen strafrechtlichen Ausnahmezustands, sondern als ein zentrales Merkmal der grundlegenden Texte des liberalen Strafprojekts entpuppt. Nehmen wir zum Beispiel den berühmten italienischen Aufklärer, Cesare ­ eccaria, dessen schmales Buch „Von Verbrechen und von den Strafen“ ins EngB lische, Französische und Deutsche (und viele andere Sprachen) übersetzt wurde. Nach seiner Veröffentlichung im Jahr 1764 wurde es über Jahrzehnte hinweg von jedem Kommentator zum Thema Strafe, der etwas auf sich hielt, in ganz Europa und in den Vereinigten Staaten mit begeisterter Zustimmung zitiert.102 101

Siehe z. B. Fenner, The Order of Household (Fn. 99), S. 167 („The household order hath two parts: the first of these which concern the governors of the family; the second of those which are governed in the same.“). 102 Cesare Beccaria, Dei delitti e delle pene (1764) (deutscher Titel: Von den Verbrechen und den Strafen). Um nur einige zu nennen: Voltaire (der den – anonymen – Kommentar zur französischen Übersetzung von Beccarias Buch beigesteuert hat); Bentham (dessen gesamtes, enormes Werk dem Ausarbeiten des konsequentialistischen Beccaria-Mottos gewidmet ist); Blackstone (der  – weniger offensichtlich, aber nicht weniger enthusiastisch  – wiederholt ­Beccarias Streitschrift, die nur fünf Jahre zuvor veröffentlicht worden war, in den  –

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In seiner gefeierten Streitschrift beschreibt und befürwortet Beccaria immer wieder Bestrafungen und insbesondere Inhaftierungen als Versklavung  – und zwar nicht nur am Rande, sondern an zentralen Punkten seiner Argumentation, und nicht als rhetorische Ausschmückung, sondern auf der Grundlage einer klaren Vorstellung von der totalen Objektivierung durch Sklaverei bzw. Knechtschaft („schiavitù“). Zunächst einmal sollte Diebstahl bestraft werden – statt durch Geldstrafen, die „Unschuldigen das Brot nehmen“ könnten – mit „jener einzigen Form der Knechtschaft [‚schiavitù‘], die man als gerecht [giusta], bezeichnen kann, nämlich die zeitige Knechtschaft der Arbeitskraft und der Person zugunsten der allgemeinen Gesellschaft [comune società], um diese mit der eigenen vollständigen Abhängigkeit für die ungerechte Herrschaft, die er sich über den Gesellschaftsvertrag angemaßt hat, zu entschädigen.“103 Hier ist nicht nur Beccarias eindeutige Unterstützung der Strafsklaverei, sondern auch ihre unmittelbare Marginalisierung zu erwähnen: Straftäter sind die Ausnahme, die einzigen Objekte der staatlichen Macht, die radikal objektiviert werden können, d. h. als Wesen, die durch ihre totale Heteronomie gegenüber dem Staat definiert sind.104 Wichtiger noch, das Herzstück von Beccarias kritischer Analyse und sein berühmtester Reformvorschlag, die Abschaffung der Todesstrafe,105 drehte sich um die Idee der pönalen Sklaverei. Lebenslange Haft war für Beccaria eine größere Abschreckung als die Todesstrafe, weil es sich um „ewige Sklaverei“ („schiavitù perpetua“) handelte: zugegebener­maßen seltenen – kritischen Momenten seiner Diskussion des englischen Strafrechts im vierten Band der Commentaries on the Laws of England erwähnt); und Jefferson (der, ganz ähnlich wie Blackstone, das Bedürfnis verspürte, Beccaria jedes Mal zu zitieren, wenn sein Entwurf eines Strafgesetzbuches für Virginia das Interesse an einer Reform, statt einer Neuformulierung dessen, was er für die Cokesche Strafrechtsdoktrin hielt, zum Ausdruck brachte). Bentham, Blackstone und Jefferson waren sich, wenn überhaupt, nur in sehr wenigen Punkten einig, aber alle drei behandelten Beccarias Text als die Quintessenz einer progressiven, aufgeklärten strafrechtlichen Denkweise. Zu Jeffersons Entwurf siehe Teil III. 103 Cesare Beccaria, Von den Verbrechen und den Strafen, übersetzt von Thomas Vormbaum, 2005, S. 83 (Abschnitt XXX. Diebstähle) (zuerst erschienen 1764). 104 Interessant ist auch der Hinweis auf „gerecht“ („giusta“), obwohl er nicht näher ausgeführt wird. Siehe Beccaria, ebd., S. 4 f. (Abschnitt „An den Leser“) (zur Gerechtigkeit). Beccaria kann so gelesen werden, dass sich darin die neuartige Rechtfertigungsforderung der aufklärerischen Kritik widerspiegelt, auch wenn der Modus der Rechtfertigung (im Allgemeinen) eher im Bereich des gelehrten polizeiwissenschaftlichen Diskurses bleibt als die mit der modernen Rechtsvorstellung verbundene Legitimationsforderung. Selbst der Inhalt der vorgeschlagenen Rechtfertigung – Heteronomie als Strafe als Antwort auf Heteronomie als Verbrechen – kann als Vorbote von Hegels Versuch gesehen werden, Strafe zu legitimieren (was nicht heißt, dass Hegel es so gesehen hätte). Tatsächlich ist es möglich, Beccarias Ansatz so zu lesen, dass er die Unterscheidung zwischen Recht und Polizei innerhalb eines traditionellen polizeilichen Rahmens überspannt, wobei er allerdings den Großteil seiner Analyse eher polizeilichen als rechtlichen Fragen widmet. 105 Außer wenn es um „die Sicherheit der Nation“ geht oder „die Anarchie“ droht. Ebd., S. 49 (XVI. Von der Todesstrafe).

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„Weder Fanatismus noch Eitelkeit erhalten sich zwischen Fesseln und Ketten, unter Schlagstock und Joch oder in eisernem Käfig. Der Verzweifelte steht nicht am Ende seines Elends, sondern es beginnt für ihn erst. Unser Geist widersteht eher der Gewalt und schlimmsten, aber vorübergehenden Schmerzen als der Zeit und der hartnäckigen Langeweile“106

Die lebenslange Sklaverei hatte aus Beccarias Sicht noch weitere Vorteile. Da es sich im Gegensatz zum einmaligen Spektakel (und der Erfahrung) der Todesstrafe um eine kontinuierliche (in der Tat lebenslange) Strafe handelte, lieferte jeder Verbrecher ein „langes und andauerndes Beispiel“, was nützlich war, da „Menschen die Macht des Gesetzes selber erblicken“ sollten.107 Darüber hinaus hatte Beccarias Reflexion über das Erlebnis der Freiheitsstrafe ergeben, dass sie „denjenigen, der ihr zuschaut, mehr in Schrecken versetzt als denjenigen, der sie erduldet; denn der erstere denkt an die Gesamtsumme der unglücklichen Augenblicke, während den zweiten das Unglück des gegenwärtigen Augenblicks vom zukünftigen Unglück ablenkt. Alle Übel vergrößern sich also in der Vorstellung; und derjenige, der sie erduldet, findet Entschädigungen und Tröstungen, von denen die Zuschauer nichts wissen und die sich nicht für möglich halten, denn diese setzen die eigene Empfindsamkeit an die Stelle des verhärteten Gemüts des Unglücklichen.“108

Diese ausführliche Würdigung der Meriten der pönalen Sklaverei ist so bemerkenswert, da sie allgemein – und bequemerweise – ignoriert wurde, vermutlich ­ eccarias weil sie nicht ohne weiteres mit der fast universellen Bewunderung für B aufgeklärten liberalen Geist übereinstimmt, sowohl damals als auch heute.109 (Wie wir in Kürze sehen werden, wurden Thomas Jeffersons Bemühungen um eine Strafrechtsreform, etwa ein Jahrzehnt später, aus ähnlichen Gründen ebenfalls weitgehend totgeschwiegen.110) Es stellt sich zum Beispiel die Frage, warum jemand klaren Verstandes und freien Willens einem Gesellschaftsvertrag beitreten würde, der ihn der Art von Strafe für die Nichteinhaltung von Gesetzen aussetzt, die Beccaria in einer Tour de Force der empathischen Vorstellungskraft in so schrecklichem Detail darstellt, oder zumindest, warum sie eher geneigt wäre, Beccarias pönaler Sklaverei (extreme und lebenslängliche psychische Qual, ganz zu schweigen von erheblichen körperlichen Schmerzen, zugefügt mit der ausdrücklichen, unmissverständlichen und ständig zur Schau getragenen Absicht der totalen Erniedrigung und Objektivierung) zuzustimmen, als Beccarias Todesstrafe (schneller körperlicher Schmerz mit möglichem psychischem Bonus: die Freuden des Fanatismus und der Selbstsucht, zum Beispiel). 106

Ebd., S. 51 f. (XVI. Von der Todesstrafe). Ebd., S. 50, 52 (Abschnitt XVI.). 108 Ebd., S. 52 f. (Abschnitt XVI.). 109 Ausnahmen sind Thorsten Sellin, Slavery and the Penal System, 1976, S. 65–66; Graeme R. Newman / Pietro Marongui, Introduction to the Treatise, in: Cesare Beccaria, On Crimes and Punishments, hrsg. von Graeme R. Newman und Pietro Marongui, 5. Aufl. 2009, S. vii, xl–xli. 110 Siehe Teil III. 107

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Für unsere Zwecke genügt es jedoch, die zentrale Bedeutung der Strafsklaverei in Beccarias italienischer Abhandlung hervorzuheben, die ihrerseits seit langem einen zentralen und fundamentalen Platz im aufklärerischen Narrativ des Strafens in den Rechtsordnungen sowohl des Civil Law als auch des Common Law einnimmt. Interessanterweise, wenn auch an dieser Stelle nicht überraschend, steht die Bedeutung der Strafsklaverei in Beccarias Darstellung im deutlichen Gegensatz zu ihrer Abwesenheit von diesen traditionellen Narrativen. Beccaria erscheint als Befürworter der uneingeschränkten Abschaffung der Todesstrafe (selbst eine Übertreibung angesichts seiner Erkenntnis, dass sie in bestimmten Ausnahmesituationen – Notfälle, Anarchiegefahr – notwendig ist) und ganz allgemein als jemand, der das helle Licht der Rationalität auf eine besonders dunkle Ecke der staatlichen Macht gelenkt hat, die von Inkohärenz in der Form, religiöser Ideologie in der Substanz und Beliebigkeit in der Anwendung gekennzeichnet war. In diesem selektiven, vereinfachten und anachronistischen Bild hat die Strafsklaverei keinen Platz. Ähnliches könnte man über das Werk von P. J. A. Feuerbach, dem weithin anerkannten und gefeierten Vater des deutschen Strafrechts (und der deutschen Strafrechtswissenschaft), sagen, und ist auch – obwohl selten – gesagt worden.111 Feuerbach entwarf nicht nur das gemeinhin (in Deutschland)  erste „moderne“ Strafgesetzbuch (das Bayerische Strafgesetzbuch von 1813),112 sondern auch das erste moderne deutsche Strafrechtslehrbuch (erstmals 1801 veröffentlicht),113 das seinerseits auf seinen grundlegenden Beiträgen zur modernen deutschen Strafrechttheorie basierte (1799–1800).114 Feuerbach sah sich, wie so viele andere auch, in der Tradition Beccarias, zumindest im allgemeinen Sinne, einen konsequentialistischen, abschreckungsorientierten Ansatz zu verfolgen (und gleichzeitig sich auf Kants Einfluss115 zu berufen). Konkret machte sich Feuerbach als Verfechter der Generalabschreckung (genauer gesagt der Generalprävention) einen Namen, was ihn dazu veranlasste, in „seinem“ bayerischen Strafgesetzbuch ein strenges Schema allgemeiner Strafdrohungen auszuarbeiten und – zumindest anfangs – umzusetzen. Dieses Drohschema sollte potenzielle Straftäter abschrecken, indem es den erwarteten Nutzen des verbotenen Verhaltens (oder das Nicht-Einhalten des vorgeschriebenen Verhaltens) überwog (wenn auch nur geringfügig). 111

Siehe die exzellente Aufsatzsammlung bei: Arnd Koch u. a. (Hrsg.), Feuerbachs Bayerisches Strafgesetzbuch: Die Geburt liberalen, modernen und rationalen Strafrechts, 2014. 112 Paul Johann Anselm von Feuerbach, Strafgesetzbuch für das Königreich Bayern, 1813. 113 Paul Johann Anselm von Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland geltenden peinlichen Rechts, 1801. 114 Paul Johann Anselm von Feuerbach, Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts, 2 Bände, 1799–1800. 115 Kants Rechtslehre, die Kants ausgedehnteste – wenn auch immer noch nur skizzenhafte – Behandlung des Strafrechts (bzw. des staatlichen Strafanspruchs) enthält, erschien nur zwei Jahre vor dem ersten Band von Feuerbachs Revision. Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten. Erster Teil: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, 1797.

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Feuerbachs Ansatz stieß schließlich auf breite Kritik (seine Darstellung von Verbrechen wurde als zu philosophisch und ungenügend positivistisch angegriffen, und seine Herangehensweise an die Bestrafung als starr und unwirksam). Dennoch ist seine Rolle als Beccaria-ähnlicher, aufklärerischer Erleuchter des deutschen Strafrechts unangefochten geblieben.116 Wie Beccaria befürwortete Feuerbach die Strafsklaverei.117 Anders als ­Beccaria hatte Feuerbach jedoch die Möglichkeit, seine Vorstellung von Strafsklaverei erst zu erklären und dann umzusetzen. Sein persönlicher Entwurf für das Bayerische Strafgesetzbuch (von 1810,118 fast fünfzig Jahre nach Veröffentlichung der Schrift von Beccaria)  droht für verschiedene Delikte mit „ewige[r] Sklaverey“ oder „Sklaverey-Strafe“ (die vor der Veröffentlichung des Strafgesetzbuchs 1813 euphemistisch in „Ketten-Strafe“ umbenannt wurde).119 So sollte beispielsweise eine ansonsten obligatorische Todesstrafe in eine lebenslange (Art. 14) „Kettenstrafe“ umgewandelt werden, wenn der Täter beabsichtigte, durch Hinrichtung Selbstmord zu begehen (Art. 12): „Der zur Kettenstrafe Verurtheilte ist … bürgerlich tod. … Der Staat gebraucht ihn beliebig zu öffentlichen Arbeiten, bei Austrücknung von Sümpfen und Mohrgründen, beim Festungsbau, in Marmorbrüchen oder Steinkohlengruben und dergleichen. … Dabei ist derselbe an beiden Füßen durch eine lange Kette gefesselt. … Vor seiner Abführung zum Straforte, und zwar, wo möglich, am Orte des begangenen Verbrechens, soll er mit einer Tafel auf der Brust, welche das Verbrechen und die zuerkannte Strafe benennet, von dem Scharfrichterknechte in seinen Eisen eine Stunde lang öffentlich ausgestellt werden.“120

Wie schon bei Beccaria, und auch nicht überraschend, wird Feuerbachs Befürwortung der Strafsklaverei in der traditionellen Darstellung seiner grundlegenden Bedeutung in der Geschichte des modernen, liberalen deutschen Strafrechts (und damit auch in den Strafrechtssystemen, die sich dem deutschen Ansatz  – oder 116 Siehe aber jetzt Koch u. a. (Hrsg.), Feuerbachs Bayerisches Strafgesetzbuch (Fn. 111); Arnd Koch, Das Jahrhundert der Strafrechtskodifikation: Von Feuerbach zum Reichsstraf­ gesetzbuch, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 122 (2010), S. 741. 117 Die Konzentration auf die Strafsklaverei dient der Veranschaulichung. Feuerbachs Befürwortung war nicht einmalig unter den vielen Beiträgen zum Strafrechtsdiskurs seiner Zeit und stand auch nicht im Widerspruch zu anderen Aspekten seiner Theorie und seiner Kodifikationspraxis, und zwar sowohl in inhaltlicher Hinsicht (weitreichende Versuchsstrafbarkeit, lange Haftstrafen, Prügelstrafe, Beschämungen, Zwangsstrafen) als auch in Bezug auf das Verfahren (geheimer schriftlicher Prozess ohne Laienbeteiligung, Gehorsamsstrafen beim Verhör). Für einen Überblick siehe Koch, Das Jahrhundert der Strafrechtskodifikation (Fn. 116). 118 Feuerbach stellte 1807 den ersten Entwurf der materiellen Bestimmungen des Gesetz­ buches fertig. Der gesamte Entwurf wurde 1810 veröffentlicht (Paul Johann Anselm von Feuer­ bach, Entwurf des Gesetzbuchs über Verbrechen und Vergehen für das Königreich Baiern, 1810). 119 Arnd Koch, Die Entwicklung des Strafrechts zwischen 1751 und 1813, in: Koch u. a. (Hrsg.), Feuerbachs Bayerisches Strafgesetzbuch (Fn. 111), S. 39, 64–65; Koch, Das Jahrhundert der Strafrechtskodifikation (Fn. 116), S. 751–752. 120 Paul Johann Anselm von Feuerbach, Entwurf des Gesetzbuchs über Verbrechen und Vergehen für das Königreich Baiern, 1810, Artikel 13.

E. Rasse und Strafsklaverei 

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Ideal121– folgend oder zumindest nahe stehend sehen) nicht betont. Feuerbachs Sichtweise der Strafsklaverei und die radikale Versachlichung von Objekten der Strafmacht war allerdings unter seinen Zeitgenossen in Deutschland (und nicht nur dort) durchaus üblich.122 Strafsklaverei, ziviler Tod und strafrechtliche Ächtung tauchten in aufklärerischen deutschen Schriften über Strafen aller Schattierungen auf, von einem gefeierten preisgekrönten Aufsatz über die Strafgesetzgebung (1783)123 bis hin zu Fichtes Behandlung der staatlichen Strafe in seiner Rechtsphilosophie (1796−1797).124 Tatsächlich war der Begriff der radikalen Objektivierung von Straftätern durch pönale Sklaverei so weit verbreitet, dass er die nicht minder radikale Unterscheidung zwischen den beiden Aufklärungsdenkern überbrückte, die Feuerbach wiederholt als die Quellen seiner strafrechtlichen Vorstellungen nannte: Beccaria und Kant. Die innere Spannung – wenn nicht sogar Inkohärenz – von Feuerbachs theoretischem, dogmatischem und kodifizierendem Projekt, als Spiegel der Inkompatibilität von Beccarias (konsequentialistischem) und Kants (retributivistischem) Ansatz, hat in der straftheoretischen Diskussion Aufmerksamkeit erregt, allerdings ohne Feuerbachs historisches Ansehen zu beeinträchtigen.125 Hier spielt es keine Rolle, ob Feuerbach in verschiedenen Aspekten seiner expansiven Darstellung von Strafmacht in Theorie und Praxis mehr Beccarianer als Kantianer, mehr Kantianer als Beccarianer oder vielleicht beides war,126 oder ob Kant selbst mehr oder weniger 121 Dazu gehören Spanien und Lateinamerika, Italien, Griechenland, die Türkei, Teile Osteuropas, Teile Skandinaviens und ein Großteil Ostasiens (Japan, Korea, China, Taiwan). 122 Siehe allgemein Koch, Das Jahrhundert der Strafrechtskodifikation (Fn. 116). 123 Hans Ernst von Globig / Johann Georg Huster, Abhandlung von der Criminal-Gesetz­ gebung: Eine von der ökonomischen Gesellschaft in Bern gekrönte Preisschrift, Zürich 1783, S. 68–69, 72 (Vorteile der fortwährenden Straf-Sklaverei), 75–76 (Arten der Straf-Sklaverei), (Straf-Sklaverei im Vergleich zu anderen Strafen), 95 (verschärfte Straf-Sklaverei, auch durch „schwerere Ketten“ oder „eiserne Halsbänder“), 100 (Taxonomie der Straf-Sklaverei), 166 (Hochverrat), 181 (immerwährende Galeerensklaverei), 186, 188 (verschärfte Straf-Sklaverei, durch Auspeitschen), 213 („echte“ Straf-Sklaverei vs. „milde Einschränkung der Freiheit“), 437 (Auferlegung der Straf-Sklaverei: „Selbst wenn Straf-Sklaverei aufgrund der Schwäche des Verbrechers in Haft umgewandelt werden soll, muss dies öffentlich und mit Gittern geschehen, so dass jeder hineinsehen kann“). 124 Johann Gottlieb Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, Bd. 2, 1797, S. 95 (Vertragsbrüchige verlieren „alle Rechte als Bürger und Mensch“, werden vollkommen rechtelos); 96 („vogelfrei … exlex, hors de la loi“); siehe auch die Diskussion über Jakobs’ Inanspruchnahme von Fichte in Abschnitt G. 125 Siehe insbesondere die Arbeiten von Wolfgang Naucke: Naucke, Kant und die psychologische Zwangstheorie Feuerbachs, 1962; siehe auch dens., Paul Johann Anselm Ritter von Feuerbach, in: Enzyklopädie der Rechtsphilosophie, 2011 (http://www.enzyklopaedie-rechts philosophie.net/autorenliste/19-beitraege/100-feuerbach-paul-johann-anselm-ritter-von). 126 Siehe z. B. Michael Kubiciel, Vom Dunkel ins Licht? Die bayerische Strafrechtsreform und Feuerbachs Strafgesetzbuch, in: Koch u. a. (Hrsg.), Feuerbachs Bayerisches Strafgesetzbuch (Fn. 111), S. 1, 8–9 (Unterscheidung zwischen Feuerbachs Staats- und Straftheorie); ebd., S. 321 (Staatstheorie vs. Straftheorie). Wie bei Beccaria kann es nützlich sein, Feuerbach aus einer dualistischen Perspektive der kritischen Analyse in Bezug auf Recht und Polizei zu betrachten, anstatt ihn ausschließlich in dem einen oder anderen Lager zu verorten und andere Aspekte seines Denkens als peripher, wenn nicht gar konfus abzutun.

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Kap. 4: Strafrecht und Strafpolizei im doppelten Strafstaat  

kantianisch sein könnte als einige Kantianer,127 oder – wie wir bereits erwähnt haben – ob Beccaria weniger beccarianisch war, als man denken könnte, basierend auf dem üblichen, längst abgegriffenen Narrativ, das den „Retributivismus“ dem „Konsequentialismus“ in immer neuen Varianten gegenüberstellt. Im vorliegenden Kontext kommt es darauf an, dass Kant und Beccaria sich in einem Punkt einig waren: die Strafsklaverei, egal wie radikal und grundlegend ihre Ansichten über das Strafen auseinandergingen. Wie wir gesehen haben, hielt Beccaria die lebenslängliche Strafknechtschaft für nützlich und notwendig (unter seiner konsequentialistischen Maxime), und sicherlich nützlicher und notwendiger als beispielsweise die Todesstrafe. Kant betrachtete ebenfalls die strafrechtliche Sklaverei als notwendig, nicht als eine Anwendung des utilitaristischen Kalküls, sondern als eine grundlegende Voraussetzung der Gerechtigkeit, eine notwendige Folge seines kategorischen Imperativs im Strafrecht.128 Insbesondere Diebstahl konnte nur durch Strafsklaverei – und zwar „nach Befinden“ bis zur lebenslänglichen Versklavung – bestraft werden: „Wer da stiehlt, macht aller anderer Eigentum unsicher; er beraubt sich also (nach dem Rechte der Wiedervergeltung) der Sicherheit alles möglichen Eigentums; er hat nichts und kann auch nichts erwerben, will aber doch leben; welches nun nicht anders möglich ist, als daß ihn andere ernähren. Weil dieses aber der Staat nicht umsonst tun wird, so muß er diesem seine Kräfte zu ihm beliebigen Arbeiten (Karren- oder Zuchthausarbeit) überlassen und kommt auf gewisse Zeit oder nach Befinden auch auf immer in den Sklavenstand.“129

Diese wenig diskutierte Passage ist nicht in einem wenig gelesenen Abschnitt der Rechtslehre untergebracht. Sie erscheint vielmehr unmittelbar vor der berühmten – und viel kritisierten – Ankündigung einer weiteren, ähnlich eisernen Forderung des kategorischen Imperativs, der Hinrichtung aller Mörder bei Auflösung der Gesellschaft. Kein geringeres als „das Recht der Wiedervergeltung“ (das wir 127

B. Sharon Byrd, Kant’s Theory of Punishment: Deterrence in Its Threat, Retribution in Its Execution, in: Law & Phil. 8 (1980), S. 151. Byrds Interpretation legt nahe, dass selbst Kants Ausführungen mit Hilfe der Unterscheidung zwischen Recht und Polizei für eine nuanciertere Lesart empfänglich sein sollten. Die Strafsysteme von Beccaria, Kant und Feuerbach könnten demnach alle als mit rechtlichen und polizeilichen ausgestatteten Aspekten betrachtet werden, mit Unterschieden in der Konzeption der Unterscheidung zwischen den beiden Aspekten und ihrer (erklärten oder rhetorischen) relativen Bedeutung (z. B. Beccaria primär polizeilich, Kant primär rechtlich und Feuerbach irgendwo dazwischen). Diese Lesart könnte Platz machen für eine vielversprechende Alternative zu der traditionellen Art und Weise, die Debatte über die „Straftheorie“ als Kontrast zwischen Beccaria und Kant als bequemerweise reine Vertreter des Konsequentialismus und des Retributivismus zu formulieren. Stattdessen würden Beccaria und Kant (und Feuerbach) jeweils die Unterscheidung zwischen Strafrecht und Strafpolizei widerspiegeln, und nicht entweder die eine oder die andere Strafherrschaftsform. 128 Es geht hier nicht darum, ob Kant in diesem Punkt Recht hatte, sondern darum, dass er ihn gemacht hat. Siehe Jean-Christophe Merle, Eine kantische Alternative zu Generalprävention und Wiedervergeltung, in: Volker Gerhardt (Hrsg.), Kant und die Berliner Aufklärung, Bd. 4, 2001, S. 196, 199. 129 Kant, Metaphysik der Sitten. Erster Teil: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, 1797, 2. Aufl. 1798, S. A199/B229.

E. Rasse und Strafsklaverei 

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hier wohlwollend als Ausdruck des Autonomieprinzips, einer der Formulierungen des kategorischen Imperativs, lesen können) erfordert nicht nur, dass der Dieb nichts hat, sondern auch, dass er nichts haben kann, weil er sich selbst und allen anderen den Schutz des Eigentums entzogen hat. Strafsklaverei wird seine einzige Überlebens­chance, falls – und solange der Staat es für richtig hält, „seine Kräfte zu ihm beliebigen Arbeiten“ zu nutzen. Kant führt den Begriff der pönalen Sklaverei in einem weiteren zentralen Abschnitt ein, der die Formulierung seiner Theorie der Bestrafung, d. h. des Rechts des Staates auf Bestrafung, vorbereitet: „Ohne alle Würde kann nun wohl kein Mensch im Staate sein, denn er hat wenigstens die des Staatsbürgers; außer, wenn er sich durch sein eigenes Verbrechen darum gebracht hat, da er dann zwar im Leben erhalten, aber zum bloßen Werkzeuge der Willkür eines anderen (entweder des Staates, oder eines anderen Staatsbürgers) gemacht wird. Wer nun das letztere ist (was er aber nur durch Urteil und Recht werden kann), ist ein Leibeigener (servus in sensu stricto) und gehört zum Eigentum (dominium) eines anderen, der daher nicht bloß sein Herr (herus), sondern auch sein Eigentümer (dominus) ist, der ihn als eine Sache veräußern und nach Belieben (nur nicht zu schandbaren Zwecken) brauchen, und über seine Kräfte, wenn gleich nicht über sein Leben und Gliedmaßen verfügen (disponieren) kann.“130

Hier haben wir also, etwa 70 Jahre zuvor und einen Kontinent entfernt, und über die civil law / common law-Spaltung hinweg, den strafrechtlichen Ausnahmefall, den wir bereits im Dreizehnten Zusatzartikel festgestellt haben, der die essentielle Würde der Person als solche feiert und gleichzeitig Objekte der strafrechtlichen Macht vom Verbot der radikalen Objektivierung durch Strafsklaverei ausschließt (sofern sie „ordnungsgemäß verurteilt“ sind, d. h. „durch Urteil und Recht“131). Man beachte, wie Kant hier die Art der pönalen Objektivierung des Täters erfasst: Der Täter ist völlig heteronom, „ein bloßes Werkzeug der Willkür eines anderen“, in dem Sinne, dass ein „Herr“ und „Eigentümer“ die Souveränität über sein Eigentum hat, nämlich als der Hausvater („dominus“) über seinen Haushalt („dominium“). Wie wir bereits wissen, beschrieb der U. S. Supreme Court, weniger als ein Jahrzehnt nach der Ratifizierung des Dreizehnten Zusatzartikels, die Polizeimacht des

130 Ebd., S. A193–194/B222–224. Für eine (sehr kurze) zeitgenössische Kritik, siehe Georg Nehr, Kritik über die metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre des Herrn Immanuel Kant, 1798, S. 85; siehe allgemein Merle, Eine kantische Alternative zu Generalprävention und Wiedervergeltung (Fn. 128); siehe auch ebd., S. 199–200 (Fichte als Verfolger des Kantschen Ausschlussdenkens). 131 Man beachte auch Kants beiläufige Bezugnahme, in einem ganz anderen Zusammenhang, auf „einen durch sein Verbrechen zum Sklaven Gewordenen“. Kant betont hier in seiner Diskussion der Macht des „Hausherrn“ über sein „Gesinde“, dass alle Kinder – auch die Kinder eines Verbrechers – frei geboren werden. Der Verbrecher als Sklave bleibt außerhalb des Bereiches des Personalität; seine Kinder verfallen jedoch nicht diesem selbst auferlegten Schicksal. Kant, Metaphysik der Sitten. Erster Teil: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, S. B117; siehe Merle, Eine kantische Alternative zu Generalprävention und Wiedervergeltung (Fn. 128).

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Kap. 4: Strafrecht und Strafpolizei im doppelten Strafstaat  

Staates als „die Macht der Souveränität, die Macht, Menschen und Dinge innerhalb der Grenzen seiner Herrschaft zu regieren“.132 Es geht hier natürlich nicht darum, Kants Einfluss auf die Formulierung des Dreizehnten Zusatzartikels nahezulegen, sondern zu veranschaulichen, dass die Objektivierung von Straftätern durch pönale Sklaverei ein weit verbreiteter Gedanke war, der sich der einfachen Kategorisierung nach räumlichen, zeitlichen und traditionellen systemischen Linien widersetzt. Im Gegenteil, eine genauere Betrachtung legt nahe, dass die Strafsklaverei nicht das ultimative Indiz für den Ausnahmecharakter des amerikanischen Strafregimes darstellt, sondern vielmehr als ein gemeinsames Merkmal des rechtlich-politischen Projekts der westlichen liberalen Demokratie zu sehen ist. Ohne die Ergebnisse der vergleichenden Analyse (in Teil III) der Geschichte des modernen Strafens in den Vereinigten Staaten (als Common Law-Land) und in Deutschland (als Civil Law-Land) vorwegzunehmen: Der Unterschied zwischen den verschiedenen Teilnehmern an diesem gemeinsamen Projekt ist weniger kategorisch als man gemeinhin annimmt, und es geht mehr um Methode und Timing, um das „wie“ und das „wann“ als um das „ob“. In Deutschland erscheint die Strafsklaverei in den aufklärerischen Texten, die – nach dem eher unkritischen, vereinfachenden und selektiven Standard-Narrativ des deutschen Strafrechts – um die Wende des 19. Jahrhunderts den grundsätzlichen Weg fortschreitender Liberalisierung vorgegeben haben, von dem das deutsche Strafrecht seitdem nicht abgewichen ist (bis auf eine kurze Unterbrechung während der NS-Zeit). In den Vereinigten Staaten hingegen, die keine derart grundlegenden Texte zu diesem Thema produziert haben, tauchen noch einige Jahrzehnte später, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, bestenfalls achtlose Hinweise zur Strafsklaverei auf, wie z. B. im 13. Zusatzartikel von 1868 und in der Rechtsprechung über das, was wir heute anachronistisch als Gefängnisrecht oder Gefangenenrecht bezeichnen würden, das sich zu dieser Zeit damit zufrieden gab, seine eigene Nichtexistenz und sogar Unmöglichkeit zu bestätigen; als „Sklaven des Staates“ waren Gefängnis­insassen selbstverständlich rechtlos. 132

License Cases, 46 U. S. 504, 583 (1847). Zu Kants Auffassung von der Heteronomie der Haushalte unter besonderer Berücksichtigung der traditionellen Oekonomie des Haushalts, die bis ins antike Griechenland zurückreicht, siehe Peter Koslowski, Staat und Gesellschaft bei Kant, 1985, S. 13–15. Koslowski gebührt Anerkennung dafür, dass er diesen Aspekt von Kants Theorie des Eigentums (und der Personalität) ernst genommen hat. Ob Kants Auffassung, dass „nur die Hausherren, die Vorstände selbständiger Haushalte, als Bürger im vollen Sinne angesehen werden“, ebd., S. 14, „Elementen der alteuropäischen und vorbürgerlichen Tradition“, ebd. 13, zugeschrieben werden kann, ist eine andere Frage. Das in der vorliegenden Studie verfolgte Argument ist, dass diese Sichtweise zwar in einer langen Tradition (die sich bis zu den Ursprüngen des westlichen politischen Denkens und Praxis erstreckt) begründet ist, aber auf eine wesentliche Spannung im modernen liberalen rechtlich-politischen Projekt hinweist, die bis heute anhält, trotz der häufigen Versuche, sie als genau – und ironischerweise – in dem (oft explizit kantianischen) aufklärerischen Moment, den Koslowski untersucht, als gelöst zu ignorieren.

E. Rasse und Strafsklaverei 

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Ein wesentlicher Unterschied zwischen dem damaligen deutschen und amerikanischen rechtlich-politischen Projekt bestand natürlich darin, dass die Institution der rassischen Besitzsklaverei bis ins 19. Jahrhundert hinein eine zentrale Rolle in den Vereinigten Staaten spielte und erst nach einem langen und blutigen Bürger­k rieg offiziell beendet wurde, ironischerweise durch einen Zusatzartikel der amerikanischen Bundesverfassung, der im selben Zug die pönale Versklavung bewahrte. In der Tat bestand die Rassensklaverei noch Jahrzehnte lang, bis weit in das 20. Jahrhundert hinein, als ehemalige Sklaven und ihre Nachkommen weiterhin unter Bedingungen unfreiwilliger Knechtschaft lebten,133 und anderen Überresten der rassischen Sklaverei ausgesetzt blieben, einschließlich der radikalen Objektivierung durch offizielle und nicht-offizielle Gewalt durch Staatsbeamte und andere, von polizeilicher und öffentlicher Schikane über weit überproportionale Haftstrafen sowie Gefängnismisshandlung und chain gangs, bis hin zu Lynchjustiz. Es ist jedoch wichtig zu erkennen, dass die weit verbreitete Unterstützung der Strafsklaverei im Gründungszeitpunkt des modernen deutschen Strafprojekts aus diesem Grund nicht weniger bedeutsam ist.134 Im Gegenteil, die Unterstützung der „Strafsklaverei“ in grundlegenden Texten der kontinentalen Strafrechtstheorie, die seit langem als Grundlage für die Legitimation der Strafmacht des Staates über seine Konstituenten gefeiert werden, ist von entscheidender Bedeutung, weil sie von Anfang an ein Element der radikalen Objektivierung in den Stoff des kontinentalen rechtlich-politischen Strafprojekts einwebt. Ob diese Texte tatsächlich das Selbstverständnis und die Ausübung staatlicher Strafmacht nicht nur bei der Generierung von staatlichen Normen,135 sondern – 133 Mit anderen Worten setzte sich der „Peonage Abolition Act of 1867, ch. 187, 14 Stat. 546 (1867) (42 U. S. C. § 1994)“ ebenso wenig selbst durch wie das verfassungsmäßige Verbot der Sklaverei und der unfreiwilligen Knechtschaft, das er durchsetzen sollte. Siehe z. B. Pete Daniel, The Shadow of Slavery: Peonage in the South, 1901–1969, 1990; siehe auch Aviam Soifer, Federal Protection, Paternalism, and the Virtually Forgotten Prohibition of Voluntary Peonage, in: Colum. L. Rev. 112 (2012), S. 1607. 134 Es handelt sich hier nicht um müßige Spekulation, weder im Kontext der rechtlichen und politischen Ansichten Kants noch vor dem Hintergrund der rechtlichen und politischen Situation in Deutschland zu dieser Zeit. Die Leibeigenschaft ging in Deutschland nur langsam über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten, beginnend im späten achtzehnten Jahrhundert, zurück. Die Objektivierung der Bauern hielt sich besonders lange in Kants ostpreußischer Heimat. Siehe Monika Wienfort, Patrimonialgerichte in Preußen: Ländliche Gesellschaft und bürgerliches Recht 1770–1848/49, 2001; Christina von Hodenberg, Die Partei der Unpartei­ ischen: Der Liberalismus der preussischen Richterschaft, 1815–1848/49, 1996, S. 210–211. Für eine preußische Schrift aus der Zeit vor 1848, die der Frage nachgeht (und diese verneint), ob der Staat angesichts seines Bemühens um „größtmögliche Vollkommenheit der Rechtspflege“ weiterhin höfische Gerichte tolerieren sollte, siehe J[ohann] W[ilhelm] Neumann, Die Patrimonial-Gerichtsbarkeit im Lichte unserer Zeit, 1836, S. 2. 135 Schließlich vergisst man leicht, dass Feuerbachs bayerisches Strafgesetzbuch die einzige (maßgeblich) von einem Professor entworfene Ausnahme von der Regel war. Darüber hinaus war selbst „Feuerbachs“ Gesetzbuch am Ende nicht sein alleiniges, wenn auch nicht immer in berechenbarer Weise, wie – ironischerweise – die Ersetzung der „Straf-Sklaverei“ durch die „Kettenstrafe“ zeigt.

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ebenfalls wichtig – auch bei deren Interpretation, Auferlegung und Vollstreckung, etwa in Deutschland (oder, genauer gesagt, in den deutschen Staaten zwischen 1770 und 1870), geprägt haben, ist eine andere Frage. Die Antwort auf diese Frage kann trotz gegenteiliger Annahmen durchaus „nein“ lauten.136 Auf jeden Fall ist es wichtig anzuerkennen, dass gerade diese Texte – für sich genommen und ohne Berücksichtigung ihres etwaigen Einflusses auf die Ausübung staatlicher Strafmacht – einer radikalen strafrechtlichen Objektivierung Raum geben, indem sie den Täter als Werkzeug behandeln, sei es zur maximalen Abschreckung oder für irgendeinen anderen diskretionären Zweck (einschließlich der Selbstversorgung von überführten Dieben). Die Billigung der Strafsklaverei spiegelt die wohlüberlegte Einstellung der Gründerväter des kontinentalen Strafprojekts wider. In den Vereinigten Staaten spiegelt der Verweis auf die pönale Sklaverei einen unbedachten und im Allgemeinen unausgesprochenen Konsens über die Konzeption der souveränen Strafmacht des Staates wider. In beiden Strafgenealogien besteht die strafrechtliche Objektivierung also fort, in einem Fall auf der Ebene der theoretischen Legitimationsgrundlage, im anderen in der unreflektierten Praxis. Man wird daher nuanciertere Vergleiche brauchen, nicht um zwischen einer Tradition, die eine umfassende Kritik an der staatlichen Strafmacht vornahm, und einer anderen, die dies nicht tat, zu unterscheiden, sondern zwischen einer Tradition, die das Problem der Legitimation staatlichen Strafens in einem modernen liberalen demokratischen Staat identifizierte (und es dann als gelöst betrachtete, scheinbar für immer und für alle Zeit) und einer anderen, die einfach und träge (ohne Nachdenken und nur mit oberflächlichen Anpassungen in der Etikettierung) das langjährige und ausgesprochen vormoderne Strafregime gerade des Staates, von dessen Macht sie mit einer Revolution Abstand genommen hatte, beibehielt. Die Strafobjektivierung erscheint also als integraler Bestandteil des Strafprojekts der Aufklärung im Allgemeinen und des deutschen Strafprojekts im Besonderen und nicht (nur) als Indiz für die unvollkommene Umsetzung des Projekts. Aus der Perspektive des in dieser Studie verfolgten dualistischen Ansatzes veranschaulicht die Strafsklaverei den polizeilichen Aspekt eines Strafregimes, nicht als isolierte Aberration, sondern als systemisches Merkmal. Die Anerkennung eines integralen polizeilichen Aspekts des modernen kontinentalen Strafprojekts wäre unmittelbar bedeutend, wenn auf diese Weise ein einseitig selektives Narrativ über die Artikulation und immer perfektere Verwirklichung des Ideals einer 136

Diese Unterscheidungen zwischen theoretischer (d. h. professoraler) Reflexion und staatlichen Normen und dann zwischen staatlichen Normen und ihrer Aktualisierung durch unvermeidliche Ermessensausübung finden in der deutschen Strafrechtsgeschichte nicht immer die Aufmerksamkeit, die ihnen gebührt. Für eine bewusste Ausnahme siehe Peter Collins ausgezeichnete kritische Analyse der Ursprünge der viel gerühmten Institution des preußischen Staatsanwalts. Siehe Peter Collin, „Wächter der Gesetze“ oder „Organ der Staatsregierung“? Konzipierung, Einrichtung und Anleitung der Staatsanwaltschaft durch das preußische Justizministerium von den Anfängen bis 1860, 2000.

F. Systemischer Vergleich 

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legitimen staatlichen Strafmacht qua Recht in Frage gestellt werden könnte. Belege der Strafpolizei würden nicht als seltene Ausnahmen der Rechtsnorm oder als Überbleibsel aus einem vormodernen Zeitalter vor der Entdeckung des Strafrechts als Recht abgetan, sondern als Reflexion des polizeilichen Fadens, der sich durch das gesamte moderne Strafprojekt zieht, von dessen grundlegendem und prinzipientreuesten Beginn an, und nicht als Ergebnis von (immer selteneren) Defiziten in der Umsetzung.

F. Systemischer Vergleich: Ein polizeiliches Gegennarrativ des deutschen Strafens Sobald die Vorstellung von (zumindest) einigen Objekten der Strafmacht als bloße Objekte und nicht auch als Subjekte in einem bestimmten Strafregime erkannt wird, öffnet sie dieses Regime für eine systemische dualistische Analyse, nicht nur aus der traditionellen rechtlichen Perspektive, sondern auch aus der Perspektive der Strafpolizei, die als solche ernst genommen wird. Diese kritische Analyse als Ausübung der Polizeiwissenschaft würde die oben genannten Fragen nach der der Art der Unterscheidung innerhalb eines dualen Strafrechtssystems zwischen strafpolizeilichen und -rechtlichen Objekten (die zwischen – und unter – Verdächtigen, Angeklagten, Verurteilten, Häftlingen, Tätern unterscheiden könnte oder auch nicht) aufwerfen: Was kennzeichnet ein Objekt der staatlichen Strafmacht als polizeilich oder rechtlich, als heteronom oder autonom, als Ressource oder Person? Klasse, Rasse, Charakter, Treue, (geistige, moralische, kognitive, affektive?) Kapazität, Staatsbürgerschaft, Gefährlichkeit, Störpotential usw.? Und wie manifestiert sich dieses Unterscheidungsmerkmal, wie wird es diagnostiziert, definiert, von wem, wann, in welcher Eigenschaft? Wie verhalten sich diese polizeilichen Merkmale zu den rechtlichen Aspekten des Strafregimes? Werden sie als solche identifiziert, in das Rechtssystem integriert (ausnahmsweise oder als Alternative) oder werden sie sub rosa, also unter dem Siegel der Verschwiegenheit, unter dem Deckmantel der Gesetzlichkeit (sub lex) betrieben? Und so weiter. Unter diesem systemischen Ansatz würde das moderne deutsche (und im weiteren Sinne das kontinentale) Strafprojekt der gleichen dualistischen kritischen Analyse unterzogen wie das moderne amerikanische Strafprojekt, was eine umfassende vergleichend-historische Untersuchung des doppelten Strafstaates innerhalb des modernen liberalen rechtlich-politischen Projekts ermöglichen würde. Die Verwendung eines gemeinsamen Rahmens der kritischen Analyse würde den Fokus weg vom Thema des amerikanischen strafrechtlichen Sonderwegs verlagern, der in jüngster Zeit viel Aufmerksamkeit erregt hat (sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in Deutschland). Anstatt zu versuchen, eine vermeintliche Abweichung des amerikanischen Strafens von einer vermeintlich liberalen Norm des deutschen (und wiederum allgemein kontinentaleuropäischen) Strafens zu erklären, würde diese gemeinsame kritische Analyse über Ähnlichkeiten und Unterschiede inner-

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halb eines gemeinsamen dualistischen Konzepts von Strafmacht diskutieren. Anstatt ein Land (oder eine Gruppe von Ländern) als Norm und das andere als Ausnahme zu betrachten oder einen Typ des Strafens als Norm und den anderen als Ausnahme (wenn nicht gar als Abweichung) zu behandeln, würde dieser Ansatz eine langfristige Sichtweise erfordern, um rechtliche und polizeiliche Elemente in allen untersuchten Strafregimen zu verfolgen. Die Vereinigten Staaten würden von Anfang an nicht „außergewöhnlicher“ als Deutschland erscheinen und die Strafpolizei nicht außergewöhnlicher als das Strafrecht, und das Strafregime der Vereinigten Staaten wäre ebenso wenig eine perfekte Manifestation der Strafpolizei wie das deutsche System eine perfekte Manifestation des Strafrechts wäre.137 Beide würden auf unterschiedliche und sich ändernde Weise und aus unterschiedlichen und sich ändernden Gründen als Verkörperung einer seit langem bestehenden Spannung zwischen Polizei und Recht sowie zwischen Heteronomie und Autonomie angesehen. Ein Großteil von Teil III wird einer dualistischen Genealogie des amerika­ nischen Strafens gewidmet sein. Im Falle Deutschlands würde diese umfassendere vergleichend-historische Analyse Platz für ein Gegennarrativ schaffen, das polizeiliche Aspekte in der gesamten modernen Geschichte des deutschen Strafens identifiziert und verfolgt, als konstitutive Elemente und nicht als anachronistische Überreste oder vorübergehende Abweichungen, die in beiden Fällen nicht ernsthaft zu beachten wären. Alles, was an einen umfassenden Überblick einer dualistischen Genealogie des deutschen Strafens oder des polizeilichen Aspekt dieses vergleichend-historischen Narrativs herankäme, würde eine eigene Untersuchung erfordern und verdienen. Hier genügen vereinzelte, aber vielleicht suggestive Bemerkungen oder Wegpunkte, um das Potenzial für eine solche Genealogie zu veranschaulichen, die der üblichen rechtsorientierten Darstellung der immer breiteren und tieferen Ausprägung eines Strafrechtsstaates zuwiderläuft, aber diese auch ergänzt.138 Das polizeiliche Narrativ könnte die Anerkennung der Strafsklaverei in den grundlegenden modernen Texten vor dem Hintergrund der Entstehung des deutschen Strafrechts aus der Disziplinierung unfreier Haushaltsmitglieder (Radbruch) darstellen, die ihrerseits in der radikalen – im doppelten Sinne – Macht des Hausvaters über seinen Haushalt verwurzelt ist, die für das politische Leben im klassischen Athen und, zugespitzt durch die patria potestas, in Rom wesentlich war. 137

Insofern als die rechtsvergleichende Verfassungslehre in ähnlicher Weise bemüht ist, den amerikanischen Exzeptionalismus im Hinblick auf die vermeintliche – und vermeintlich einzigartige – Abwesenheit der (deutschen!) Verhältnismäßigkeitsprüfung im amerikanischen Verfassungsrecht zu erfassen und zu erklären, ist sie ähnlich verfehlt. Siehe z. B. Bernard Schlink, Proportionality in Constitutional Law: Why Everywhere but Here?, in: Duke J. Comp. & Int’l L. 22 (2012), S. 291; Jacco Bomhoff, Beyond Proportionality: Thinking Comparatively about Constitutional Review and Punitiveness, in: Vicki Jackson / Mark Tushnet (Hrsg.), Proportionality: New Frontiers, New Challenges, 2017, S. 148. 138 Siehe Teil I.

F. Systemischer Vergleich 

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Im Laufe der Zeit, über die bereits diskutierten grundlegenden Texte hinaus, die angeblich die modernen Phase des liberalen deutschen Strafrechts einläuteten (Beccaria, Kant, Feuerbach), treten Spuren pönaler Objektivierung weiterhin in der deutschen Straflehre und -praxis auf, auch und gerade im Fall der Wissenschaftler, die um die Jahrhundertwende den konzeptionellen Apparat in Gang gesetzt haben, der den zeitgenössischen deutschen Diskurs über Straftheorie, Dogmatik und Politik weiterhin prägt (allen voran die Hauptakteure des so genannten Schulenstreits, Karl Binding und Franz von Liszt, deren langwierige Auseinandersetzung, die sich durch ihre Schüler fortsetzte, ihre gemeinsame positivistisch-autoritäre Auffassung von staatlicher Strafmacht verdunkelte);139 die Umsetzung eines „fortschrittlichen“ umfassenden Strafpolizeisystems von „Maßregeln der Besserung und Sicherung“ neben und über „Strafen“ hinaus sowie die Verabschiedung einer heute immer noch bestehenden Straftat des Vollrauschs innerhalb von Monaten nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten Anfang 1933; die (fortdauernde) dogmatische Anerkennung eines auf Verwirkung beruhenden, rechtlich unbeschränkten Rechts der Notwehr, das bestenfalls „sozialethischen“ Beschränkungen unterliegt;140 die Anerkennung einer sich ausdehnenden Klasse von „Gefährdungsdelikten“ verschiedener Art;141 die Einführung eines vermeintlichen Rechtsgutsprinzips, das tatsächlich keine verfassungsmäßigen oder anderweitigen Einschränkungen der Strafmacht des Staates mit sich bringt, ähnlich wie das „harm principle“ im anglo­ amerikanischen Strafrecht;142 ein viel gefeiertes – und doch erstaunlich unmotiviertes – Bekenntnis zum Gesetzlichkeitsprinzip, das mit drei neu-lateinischen Mottos verbunden wird, die erstmals in Feuerbachs strafrechtlichem Lehrbuch von 1801 auftauchten;143 die (noch bestehende) Täter-basierte Definition von Mord – oder besser gesagt von „Mörder“ –, die sich in der Reform des Strafgesetzbuches von 1941 widerspiegelt, in der die „progressive“ Täterstrafrechtstheorie umgesetzt wurde, die von führenden NS-Strafrechtswissenschaftlern gegenüber der „traditionellen“ „liberalen“ Theorie des Tatstrafrechts vertreten wurde;144 im selben Jahr die Umsetzung der (natürlich nicht mehr existierenden) „Polenstrafrechtsverordnung“;145 im Strafverfahren die Beibehaltung des geheimen, schriftlichen inquisitorischen 139

Siehe Kapitel 1. Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung vom 24. November 1933, RGBl. I S. 995, Art. 2 (Maßregeln) und 3 (17) (Vollrausch). 141 „Abstrakt“, „konkret“, „abstrakt-konkret“, „potentiell“. Siehe Dubber / Hörnle, Criminal Law: A Comparative Approach (Fn. 25), S. 591–592, 621–624 (Töben-Fall), 631–632. 142 Siehe Kapitel 2, Abschnitt C. 1. 143 Siehe Markus D. Dubber, The Legality Principle in American and German Criminal Law: An Essay in Comparative Legal History, in: Georges Martyn u. a. (Hrsg.), From the Judge’s Arbitrium to the Legality Principle: Legislation as a Source of Law in Criminal Trials, 2013, S. 365. 144 Gesetz zur Änderung des Reichsstrafgesetzbuchs vom 4. September 1941, RGBl. I, S. 549, § 2; siehe auch ebd. § 1 („Der gefährliche Gewohnheitsverbrecher (…) und der Sittlichkeitsverbrecher (…) verfallen der Todesstrafe, wenn der Schutz der Volksgemeinschaft oder das Bedürfnis nach gerechter Sühne es erfordern.“) und § 3 (mit der Einführung einer härteren Strafe für den „Wucherer“); vgl. heute § 211 StGB (Definition von „Mörder“). 145 Polenstrafrechts VO vom 4. Dezember 1941, RGBl, 1941 I, S. 759. 140

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Verfahrens im aufgeklärten bayerischen Strafgesetzbuch von Feuerbach aus dem Jahr 1813, ergänzt durch ein ausgeklügeltes Schema von „Ungehorsamsstrafen“, einschließlich Prügelstrafe, für die Weigerung, bei einer Vernehmung zufriedenstellende Antworten zu geben oder für „ungebührliches Betragen“ während des Verhörs;146 die Einrichtung der „Staatsanwaltschaft“ in der Mitte des 19. Jahrhunderts, um die staatliche Kontrolle über die Einleitung und Durchführung von Strafverfahren zu institutionalisieren;147 nach der stück- und teilweisen Einführung eines Geschworenengerichts im Zuge der „Revolution“ von 1848, das allmähliche Verschwinden der Laienbeteiligung – mit einem zynischen Wiederaufleben während der NS-Zeit, am bekanntesten im Volksgerichtshof, einem Instrument des theatralischen Staatsterrors, das sich aus zwei professionellen und drei sorgfältig ausgewählten Laienrichtern148 zusammensetzte – bis zu dem Punkt, an dem sich die Laienbeteiligung als Relikt aus einer Zeit festhält, in der es dem deutschen Strafrecht noch nicht gelungen war, das Ideal des Rechtsstaates in einem Maße zu manifestieren, das eine Laienbeteiligung unnötig macht;149 und zuletzt die weit verbreitete, jetzt gesetzlich verankerte Praxis der informellen „Absprachen“ zwischen (Berufs-)Richtern (den ultimativen Entscheidungsträgern) und Angeklagten, die jahrzehntelang von deutschen Kommentatoren und Richtern mit einer an die kategorische Ablehnung der Unternehmensstrafbarkeit während der Nachkriegszeit erinnernden150 Einstimmigkeit und Vehemenz als prinzipienloses und gänzlich undeutsches (und stattdessen typisch amerikanisches) Instrument abgelehnt wurden, das mit der Idee eines strafrechtlichen Verfahrens in einem Rechtsstaat überhaupt völlig unvereinbar war.151 146

Koch, Das Jahrhundert der Strafrechtskodifikation (Fn. 116), S. 749, §§ 186–194. Collin, „Wächter der Gesetze“ oder „Organ der Staatsregierung“? (Fn. 136). 148 Siehe Roland Freisler, Die lebenswichtigen Aufgaben des Volksgerichtshofes, in: Deutsche Justiz 1936, S. 656; siehe allgemein Walter Wagner, Der Volksgerichtshof im nationalsozialistischen Staat, 2011. 149 Siehe z. B. Hans-Heiner Kühne, Strafprozessrecht: Eine systematische Darstellung des deutschen und europäischen Strafverfahrensrechts, 9. Aufl. 2015, S. 91–92 („antiquierte Reminiszenz mit Spuren einer basisdemokratischen Apotheose“); BVerfGE 48, 317 (von 1978) (keine verfassungsmäßigen Beschränkungen hinsichtlich der Zusammensetzung von Gerichten). Für historische Perspektiven siehe Markus D. Dubber, The German Jury and the Metaphysical Volk: From Romantic Idealism to Nazi Ideology, in: Am. J. Comp. L. 43 (1995), S. 227; Peter Collin, Der Kampf gegen die Schwurgerichte Preußen 1849–1853/54, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 23 (2001), S. 195. 150 S. oben Abschnitt C; Dubber, Zur Geschichte und Theorie der Verbandsstrafbarkeit (Fn. 65). 151 Vgl. Bernd Schünemann, Wetterzeichen vom Untergang der deutschen Rechtskultur: Die Urteilsabsprachen im Strafprozess als Abgesang auf die Gesetzesbindung der Justiz und den Beruf unserer Zeit zur Gesetzgebung (2005); siehe auch Bernd Schünemann, Absprachen im Strafverfahren? Grundlagen, Gegenstände und Grenzen B16 (Gutachten B zum 58. Deutschen Juristentag, 1990) (anhaltende Kritik an der Existenz und Ablehnung von Urteilsabsprachen); Detlef Deal, Der strafprozessuale Vergleich, in: Strafverteidiger 1982, S. 545 (pseudonomisiertes Exposé der Praxis der Urteilsabsprachen an deutschen Gerichten). Zur langjährigen Koexistenz von zunehmend verbreiteter Praxis und universeller Leugnung, siehe Markus D. Dubber, American Plea Bargains, German Lay Judges, and the Crisis of Criminal Procedure, in: Stan. L. Rev. 49 (1997), S. 547. Zu der verspäteten und wenig überraschend umständlichen 147

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Es geht hier nicht darum, irgendeines dieser Momente als offensichtlich – oder offensichtlich nur – „polizeilich“ zu bezeichnen oder aus diesem Grund zu kritisieren, noch anzudeuten, dass das gesamte deutsche Strafregime seit dem frühen 19. Jahrhundert ausschließlich oder sogar in erster Linie polizeilicher Art war. Es handelt sich um Illustrationen von Aspekten des deutschen Strafregimes, die als (auch) polizeilich angesehen werden können oder die als solche betrachtet (und kritisiert) wurden, auch wenn diese Diagnose und Kritik eher als Abweichung von der vermeintlichen Norm (Recht, Rechtsstaat) und nicht als Indiz einer alternativen Norm im Einklang mit einem alternativen Verständnis von Staatsmacht (Polizei, Polizeistaat) formuliert werden.152 „rechtlichen“ Anerkennung durch gesetzliche „Regulierung“ oder „Formalisierung“, siehe Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren, 29. Juli, 2009, BGBl. I 2353. Zur anschließenden verfassungsrechtlichen „Billigung“ dieser „gesetzlichen Regelung“ – „trotz eines gravierenden Umsetzungsdefizits“, siehe BVerfG, 2 BVR 2628/10 (19. März 2013); Karsten Altenhain, Die Praxis der Absprachen in Strafverfahren, 2013; siehe allgemein: Plea Bargains in Germany, in: German L. J. 15 (2014), S. 1. Nebenbei bemerkt, leugneten (ehemalige) ostdeutsche Richter lautstark, jemals so wie ihre westdeutschen Kollegen an irgendeiner Art von Verständigungsgesprächen teilgenommen zu haben. Siehe Regina Rauxloh, Plea Bargaining in National and International Law, 2012. Zur Selbststilisierung der DDR als Rechtsstaat, siehe die Präambel zum DDR-StGB, die die DDR ursprünglich zum „wahren deutschen Rechtsstaat“ erklärte. StGB (DDR) (v. 12. Januar 1968) (http://www.verfassungen.de/de/ddr/ strafgesetzbuch68.htm). Zur Diskussion der Frage, ob der NS-Staat als Rechtsstaat qualifiziert werden kann, siehe Carsten Bäcker, Gerechtigkeit im Rechtsstaat: Das Bundesverfassungs­ gericht an der Grenze des Grundgesetzes, 2015, S. 130 ff.; Christian Hilger, Rechtsstaats­ begriffe im Dritten Reich: Eine Strukturanalyse, 2003. Wie Hilgers Überblick deutlich macht, hielten viele Kommentatoren der Zeit den Begriff des „nationalsozialistischen Rechtsstaats“ keineswegs für ein Oxymoron. Die „Lehren“, die aus dieser Tatsache zu ziehen sind, scheinen nicht zu beinhalten, dass der Rechtsstaatsbegriff so leer ist, dass er bestenfalls nutzlos ist, sondern dass es darauf ankommt, die „richtige“ oder „echte“ Version in Anspruch zu nehmen. 152 Siehe z. B. Alexander Ignor, Die Zukunft des Strafverfahrens: Abschied vom Rechtsstaat?, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 119 (2008), S. 927; Lothar Bisky u. a. (Hrsg.), „Unrechtsstaat“?: Politische Justiz und die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit, 1994. Der Begriff Verpolizeilichung kommt in der deutschen Literatur der Anerkennung einer alternativen Konzeption von Strafmacht am nähesten. Siehe z. B. Benno Zabel, Die ordnungspolitische Funktion des Strafrechts: Zur Geschichte, Bedeutung und Legitimation staatlicher Rechtssicherheitsgewährleistung, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 120 (2008), S. 68; Wolfgang Naucke, Die robuste Tradition des Sicherheitsstrafrechts, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 93 (2010), S. 129; Wolfgang Naucke, Vom Vordringen des Polizeigedankens im Recht, d. i.: vom Ende der Metaphysik im Recht, in: Gerhard Dilcher / Bernhard Diestelkamp (Hrsg.), Recht, Gericht, Genossenschaft und Policey: Studien zu Grundbegriffen der germanistischen Rechtshistorie, 1986, S. 177; Jakobs, On the Theory of Enemy Criminal Law, in: Dubber, Foundational Texts in Modern Criminal Law (Fn. 81), S. 415, 418–419. Häufig bleibt sie jedoch auf bestimmte (besonders frühe) Phasen des Strafprozesses und die vermeintliche Ausweitung der Rolle der Polizei­beamten in diesem Prozess beschränkt oder deutet, wenn sie mit einem weiter gefassten Begriff von Polizei als einem Modus der Strafherrschaft operiert, auf ein vermeintliches Narrativ der Abweichung oder des Verfalls im Laufe der Zeit von einem Strafregime (Recht) zum anderen (Polizei) hin. Siehe Markus D. Dubber, Preventive Justice: The Quest for Principle, in: Andrew Ashworth /  Lucia Zedner (Hrsg.), Prevention and the Limits of the Criminal Law, 2013, S. 47, 50; Collin, „Wächter der Gesetze“ oder „Organ der Staatsregierung“? (Fn. 136), S. 14–15.

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Der dualistische longue durée Ansatz, den wir hier verfolgen, nimmt diese scheinbaren Ausnahmen stattdessen ernst und betont – anstatt sie zu ignorieren – die grundlegende Spannung innerhalb eines gegebenen rechtlich-politischen Systems zwischen radikal widersprüchlichen und tief verwurzelten Vorstellungen von Staatsmacht. Dieser Ansatz wird also nicht durch vermeintliche Unterscheidungen oder Diskontinuitäten über Systeme, Raum und Zeit hinweg animiert, sondern durch eine konstitutive interne Spannung von Systemen, die über Raum und Zeit (d. h. vergleichend und historisch) verfolgt werden kann. Die zeitübergreifende und weiträumige Perspektive macht eine breite Ähnlichkeit und Kontinuität sichtbar, in der sich nuanciertere Unterschiede und Transformationen zeigen. Das Ergebnis ist nicht nur eine Geschichte der Gegenwart, sondern auch ein Vergleich des Parochialen, eine Kritik an einem bestimmten Strafregime heute durch historische und vergleichende Analyse: präsentische Geschichte und parochialistischer Vergleich. Sobald die Spannung zwischen konkurrierenden Paradigmen oder zwischen Norm und Abweichung internalisiert ist, ist es weniger wahrscheinlich, dass die historische und vergleichende Analyse – d. h. der Vergleich über Zeit und Raum – für kritische Zwecke einer sich selbst-gratulierenden oder andere-verurteilenden Funktion dient. Stattdessen erleichtert das Erkennen der Spannung die Selbstanalyse und Selbstkritik, also die kritische Reflexion. Aus distanzierter zeitübergreifender und weiträumiger Perspektive würde der analytische Rahmen für die Unterscheidung zwischen Recht und Polizei – und abstrakter zwischen Autonomie und Heteronomie – umfassende Ähnlichkeiten und Kontinuitäten aufzeigen, die komfortable, oft langjährige, tief verwurzelte und vielfach wiederholte Strategien der Unterscheidung und Diskontinuität in Frage stellen würden. Aus vergleichender Sicht haben die Vereinigten Staaten und praktisch jedes andere Land einschließlich seiner europäischen Nachbarn153– mit Ausnahme Skandinaviens und vielleicht auch Großbritanniens – dem deutschen Strafrecht jahrzehnte­lange als beruhigende und verlässlich minderwertige Bezugspunkte gedient und damit eine wichtige Funktion für das Überleben der „deutschen Strafrechtskultur“ nach 1945 übernommen.154 Aus der Perspektive der in diesem Buch vorgeschlagenen breiter und länger angelegten kritischen Analyse erscheint Deutschland als Teilnehmer an demselben rechtlich-politischen Projekt wie andere (westlich-liberale demokratische) Länder, das durch die gleiche tiefsitzende 153 Man denke nur an die durch die Idee eines europäischen Strafrechts ausgelöste Besorgnis unter deutschen Kommentatoren, die eine Abkehr von Deutschlands überlegener Verwirklichung des Ideals eines Strafrechtsstaats und seiner „Strafrechtskultur“ befürchteten. Siehe z. B. Claus Roxin, Der Karlsruher Strafrechtsdialog und die deutsche Strafrechtskultur, in: Matthias Jahn / A rmin Nack (Hrsg.), Gegenwartsfragen des europäischen und deutschen Strafrechts, 2012, S. 89; Bernd Schünemann, Die Europäisierung der Strafrechtspflege als Demontage des demokratischen Rechtsstaats, 2014. 154 Siehe z. B. die Apotheose des deutschen „Schuldprinzips“ in der einhelligen Ablehnung der (angloamerikanischen) strafrechtlichen Unternehmensverantwortung nach 1945: Dubber, Zur Geschichte und Theorie der Verbandsstrafbarkeit (Fn. 65), 385–386.

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und langdauernde Spannung zwischen zwei Formen der Strafherrschaft gekennzeichnet ist. Aus historischer Sicht, kann man ebenso das deutsche Strafregime von 1933– 1945 nicht als vorübergehende Aberration betrachten, sondern als Teil eines längeren Narrativs, das sich im Hinblick auf das fortbestehende, sich aber ständig weiterentwickelnde, widersprüchliche Verhältnis von Recht und Polizei als unterschiedliche Vorstellungen das Strafens darstellen lässt. Diese, buchstäbliche, Revision der Stellung des NS-Strafregimes in der Genealogie des zeitgenössischen deutschen Strafens, könnte sich auf bisherige Versuche berufen und diese verallgemeinern, um historische Kontinuitäten zwischen der NS-Zeit in beide Richtungen, rückwärts und vorwärts, aufzuzeigen. So wurde beispielsweise der Vorschlag, dass die 1933 erfolgte Verabschiedung des zweispurigen Strafregimes – Ergänzung der „Strafen“ durch „Maßregeln“ – „nationalsozialistische“ Kriminalpolitik widerspiegelt, mit der Erklärung begegnet, dass die NS-Regierung hier lediglich „progressive“ Reformvorschläge umgesetzt hat, die auf den bereits erwähnten verehrten Vater der „progressiven“ Schule der „deutschen Strafrechtswissenschaft“, Franz von Liszt, zurückgehen, dessen progressive und wissenschaftliche Qualifikationen längst über jeden Zweifel erhaben sind. Das NS-Regime hat in dieser (mehr oder weniger expliziten) kontinuierlichen Darstellung einfach das erreicht, was die Weimarer Republik nicht konnte: eine „progressive“ Strafrechtsreform auf der Grundlage der „Strafrechtswissenschaft“. Für unsere gegenwärtigen Zwecke stellt sich jedoch nicht die Frage, ob ein Aspekt des Strafregimes zwischen 1933 und 1945 als „nationalsozialistisch“ bezeichnet werden kann oder nicht (obwohl dies in der Tat die Aufgabe der Besatzungsgerichte nach 1945 war, wie wir gleich sehen werden). Das Etikett „nationalsozialistisch“, ohne zusätzliche Angaben, ist für die Zwecke der dualistischen kritischen Analyse der Ausübung der staatlichen Macht im Allgemeinen und der staatlichen Strafmacht im Besonderen nicht von Interesse. Stattdessen stellt sich auch hier für den in diesem Buch verfolgten Ansatz die Frage, ob eine bestimmte Ausübung staatlicher Strafmacht Recht oder Polizei (oder beides) als die modernen Strafherrschaftsmechanismen widerspiegelt. Darüber hinaus bestimmt die Antwort auf diese analytische Frage nicht die Antwort auf die kritische Frage: Ein Strafrechtsakt ist durch die Klassifizierung ebenso wenig legitim, wie ein Strafpolizeiakt illegitim ist. Stattdessen bestimmt die Klassifizierung als das eine oder andere (oder beides gleichzeitig) das geeignete Register der kritischen Analyse, nicht deren Ergebnis. Interessanter für unsere Zwecke ist, dass diese Betonung der Kontinuität zwischen den Entdeckungen der „progressiven“ Schule der „Strafrechtswissenschaft“ und der NS-Gesetzgebung nicht nur dem beabsichtigten rhetorischen Zweck dient, oberflächliche Versuche der Brunnenvergiftung zu entkräften; sie suggeriert auch, wenn auch unbeabsichtigt, dass „nationalsozialistische“ Strafregime  – d. h. das deutsche Strafsystem zwischen 1933 und 1945 – kein momentaner Aussetzer, son-

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dern die Fortsetzung des deutschen Strafprojekts war. Die Umlenkung der Kritik von Strafmacht während der NS-Zeit verlagert auf diese Weise den kritischen Fokus auf das deutsche Strafprojekt als Ganzes, in der Tat auf genau die „progressiven“ und „wissenschaftlichen“ Merkmale dieses Projekts, von denen allgemein angenommen wird, dass sie es vor Fundamentalkritik schützen. Kein geringerer als Gustav Radbruch betonte Anfang 1933 die Ähnlichkeiten zwischen dem progressiven Projekt – und insbesondere dem Strafprogramm von Liszt – und dem sich entwickelnden NS-Strafprojekt.155 Die in diesem Buch verfolgte kritische Analyse konzentriert sich auf die Genealogie der 1933 eingeleiteten Strafrechtsreformen als zentrales Element des deutschen Strafprojekts. Hier muss man wie bereits erwähnt dazwischen unterscheiden, wie diese kritische Analyse vorangeht und welche Ergebnisse sie bringt. Die Leugnung des spezifisch „nationalsozialistischen“ Charakters einer Anwendung von Strafmacht isoliert sie nur dann von der Kritik, wenn man davon ausgeht, dass das allgemeine Strafprojekt, das dieser Strafakt instanziieren soll, selbst jenseits der Kritik steht. Aber es ist genau diese Annahme, die der Modus der kritischen Analyse, der in diesem Buch verwendet wird, versucht aufzudecken und in Frage zu stellen. Für unsere Zwecke liegt die Bedeutung der defensiven rhetorischen Haltung der Behauptung retrospektiver Kontinuität, die vom nationalsozialistischen zum vornationalsozialistischen Strafen zurückblickt, in ihren Implikationen für die Analyse der prospektiven Kontinuität, vom nationalsozialistischen Strafen zum (bundes-­) deutschen Strafregime nach 1945. Das gegenwärtige deutsche Straf­regime, so lautet das Argument – oder die Implikation –, ist frei von „nationalsozialistischen Einflüssen“ (oder „Elementen“), weil, oder zumindest insofern als, die NS-Strafrechtsreformen – wie betont wird – gar keine Reformen waren, sondern lediglich Beiträge zum jahrzehnte- wenn nicht gar jahrhundertelangen deutschen Strafprojekt. Rückwärtige Kontinuität (vor 1933) impliziert also vorwärts gerichtete Kontinuität (nach 1945). Tatsächlich wurden Fälle der vermeintlichen Kontinuität zwischen dem nationalsozialistischen Strafregime und der allgemeinen Entwicklung des deutschen Strafprojekts als Beweis für die Beharrlichkeit und sogar die weitere Entwicklung des deutschen Strafprojekts während des NS-Zeit angeführt. Besonders in der unmittelbaren Nachkriegszeit sollte die Fortsetzung dieses Projekts zwischen 1933 und 1945 seine Widerstandsfähigkeit unter widrigen Umständen eindrucksvoll unter Beweis stellen. Das „deutsche Strafrecht“ überlebte die NS-Zeit unversehrt, weil es eine „Wissenschaft“ war, und als solche unempfindlich gegen unwissenschaft­liche 155 Gustav Radbruch, Autoritäres oder soziales Strafrecht?, in: Der Mensch im Recht: Ausgewählte Vorträge und Aufsätze über Grundfragen des Rechts, 1957, S. 63 (zuerst erschienen 1933). Radbruch weist auch auf Unterschiede hin, ebd. S. 71–79, einschließlich der zentralen Rolle der „rassisch gedachten Volksgemeinschaft“ als ultimatives Verbrechensopfer, ebd., S. 73.

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Einflüsse. Bei der vermeintlich prinzipientreuen und kategorischen Ablehnung der Unternehmensstrafbarkeit war das eiserne wissenschaftliche Prinzip das so genannte Schuldprinzip, das nur mit der strafrechtlichen Verantwortung von natürlichen Personen vereinbar sein soll. Hier konnte die Auswahl der relevanten wissenschaftlichen Prinzipien allerdings etwas willkürlich erscheinen. Es kam zum Beispiel nicht darauf an, dass das Schuldprinzip nicht leicht mit dem „progressiven“ Projekt von Liszt (der übrigens seinerzeit ein Unternehmensstrafrecht befürwortete) zu vereinbaren war, dass seine damals vermeintlich fundamentale Bedeutung zumindest zur Diskussion stand, dass – selbst bei Annahme seiner Grundsteinfunktion – die Unvereinbarkeit des Schuldprinzips mit dem Unternehmensstrafrecht nicht selbstverständlich war, noch dass es – selbst unter der Annahme dieser radikalen Unvereinbarkeit – tatsächlich die vermeintlich universelle Ablehnung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Unternehmen erklärt hätte (im Gegensatz insbesondere zu der oft zitierten Behauptung von Savigny über ein Jahrhundert früher, dass die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen angesichts des „fiktiven Charakters“ der juristischen Person unmöglich sei). Es kam darauf an, dass die NS-Zeit, anstatt den Zusammenbruch des deutschen Strafprojekts (sei es „progressiv“ oder „wissenschaftlich“ oder beides) zu markieren, tatsächlich den ultimativen Beweis für ihren Erfolg lieferte, und  – nicht zuletzt  – für ihre Überlegenheit gegenüber dem Strafrecht der Sieger (und insbesondere dem amerikanischen Strafrecht), die nun die Strafgerichtsbarkeit über Deutschland ausübten. Die Frage des nationalsozialistischen Einflusses war für den Versuch, nach 1945 ein deutsches Strafprojekt zu errichten und zu betreiben, von großer Bedeutung, nachdem das deutsche Strafregime über einen Zeitraum von zwölf Jahren systematisch extreme Strafgewalt verübt hatte, darunter Zehntausende von Todesurteilen durch „normale“ Gerichte, für ein breites Spektrum von „Straftaten“ und – bekanntermaßen – für ein breites Spektrum von „Tätertypen“. Darüber hinaus wurde dieses staatliche Strafsystem von dem seit langem etablierten wissenschaftlichen Forschungs- und Kommentierungsapparat der deutschen Strafrechtswissenschaft begleitet und mitgestaltet. Die Frage nach dem Etikett „Nazi“ sollte jedoch nicht der kritischen Analyse des deutschen Strafens aus zeitübergreifender und weiträumiger Perspektive ablenken. Eine fundierte und umfassende kritische Analyse zielt nicht darauf ab, Schuldzuweisungen vorzunehmen oder institutionelle, theoretische, dogmatische oder gar persönliche Verbindungen zwischen der Praxis und der Erforschung des deutschen Strafens (oder des „deutschen Rechts“ oder der „deutschen Strafrechtswissenschaft“) vor und nach 1945 herzustellen.156 Es geht weder darum, das Label 156 Für einen kurzen Überblick siehe Joachim Vogel, Einflüsse des Nationalsozialismus auf das Strafrecht, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 115 (2003), S. 638; siehe auch Francisco Muñoz Conde, Edmund Mezger: Beiträge zu einem Juristenleben, Übersetzung von Moritz Vormbaum, 2007; siehe allgemein Ingo Müller, Furchtbare Juristen: Die unbewältigte Vergangenheit unserer Justiz, 1987.

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„Nazi“ auf das gegenwärtige deutsche Strafsystem anzuwenden noch es zu entfernen. Das Ziel unserer Analyse ist vielmehr, die Ablenkung von einer offenen und differenzierten kritischen Analyse in jeder Form und mit allen Mitteln in Frage zu stellen, einschließlich unausgesprochener Annahmen über den Ursprung, die Art oder das Funktionieren eines Strafregimes (Analyse) oder über die Einhaltung mehr oder weniger expliziter Normen (Kritik) sowie die Verwendung oder Ablehnung von Etiketten mit rhetorischer Wirkung, die von offensiv („Nazi“, barbarisch, anachronistisch, irrational etc.) zu defensiv, euphemistisch oder einfach verschleiernd reichen (progressiv, wissenschaftlich, modern, rational, aufgeklärt, Behandlung, Maßregel etc.). Man denke in diesem Zusammenhang an die Nachkriegsbehandlung der oben erwähnten Reform der Mordvorschrift im deutschen Strafgesetzbuch, die sich intensiv mit Fragen der Etikettierung beschäftigt hat, auf Kosten einer differenzierten kritischen Analyse im weiteren historischen und vergleichenden Kontext. Die Reform von 1941 spiegelte ein umfassendes Konzept des Strafens wider, das sich nicht auf Deliktstypen, sondern auf Tätertypen konzentrierte und den Schlüsselbegriff der „Überlegung“ aus der ursprünglichen Definition von Mord im Strafgesetzbuch von 1871 entfernte:157 § 211 StGB (1871–1941) Wer vorsätzlich einen Menschen tödtet, wird, wenn er die Tödtung mit Ueberlegung ausgeführt hat, wegen Mordes mit dem Tode bestraft. § 211 StGB (1941–heute) … (2) Mörder ist, wer aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, einen Menschen tötet.

Im Gegensatz zum zweispurigen Sanktionensystem wurde der überarbeitete Mordtatbestand nicht in den ersten Monaten des NS-Regimes (1933), sondern auf dem Höhepunkt des Zweiten Weltkriegs, acht Jahre später (1941), eingeführt. Dennoch wurden weder die Reform noch ihre zugrunde liegende Strafkonzeption 157 Diese Bestimmung wiederum wurde fast wörtlich aus dem preußischen Strafgesetzbuch von 1851 übernommen, siehe ebd., § 175 preuß.StGB („Wer vorsätzlich und mit Ueberlegung einen Menschen tödtet, begeht einen Mord, und wird mit dem Tode bestraft.“), der seinerseits der Mordbestimmung im preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 sehr ähnlich war (§ 826 preuß.ALR Teil II Titel 20: „Derjenige, welcher mit vorher überlegtem Vorsatze zu tödten einen Todschlag wirklich verübt, soll als ein Mörder mit der Strafe des Rades von oben herab belegt werden.“). Zu Ähnlichkeiten zwischen den preußischen Bestimmungen und den Mordbestimmungen in der Constitutio Criminalis Carolina (und „altgermanischen Rechtsauffassungen“) sowie dem französischen Code pénal siehe Georg Beseler, Kommentar über das Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten, 1851, S. 343–344; siehe allgemein Annette Grünewald, Das vorsätzliche Tötungsdelikt, 2010.

G. Wechsler und Freisler zur „Überlegung“ 

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traditionell als spezifisch „nationalsozialistisch“ angesehen. Stattdessen wurden sie seit den frühen Nachkriegsjahren als – mehr oder weniger tief und mehr oder weniger explizit – verwurzelt angesehen in der gleichen progressiven Agenda, die auch die Einführung des zweispurigen Systems vorangetrieben haben sollte. Das progressive Projekt mit Liszt und seinem Schüler (und späterem Weimarer Justizminister) Gustav Radbruch, neben vielen anderen, hatte sich schließlich schon lange für ein Strafsystem ausgesprochen, das die Strafbehandlung nach einer Taxonomie von Tätertypen zuordnete (Liszt unterschied bekannterweise zwischen drei Typen: Besserungsfähige, Abschreckbare und Unverbesserliche).158 Interessanterweise stellte sich die Etikettierungsfrage in mehreren Fällen vor den amerikanischen Besatzungsgerichten der Nachkriegszeit, die mit der Auslegung und Anwendung des deutschen Strafrechts beauftragt wurden. In einem Fall von 1949 entschied das US-Militärberufungsgericht, dass die Mordregelung des deutschen Strafgesetzbuches nicht „eine Nazi Ideologie ausdrücke“. Stattdessen und „obwohl der Abschnitt von den Nazis geändert wurde, stellte er ein pönologisches Denken dar, das von vielen anderen Personen als den Nazis lange Zeit in Betracht gezogen wurde …“.159 Tatsächlich erklärte das Gericht nachdrücklich, „Zweck und Hintergrund der 1941 erfolgten Änderung des § 211 StGB … sollten sicherlich den Einwänden Rechnung tragen, die viele Strafrechtsforscher sowohl gegen die pönologische Theorie als auch gegen die praktische Anwendung des Konzepts der ‚Überlegung‘ erhoben hatten.“160

G. Wechsler und Freisler zur „Überlegung“ Bemerkenswert ist, dass unter den „anderen Personen als den Nazis“, die das der Mordvorschrift von 1941 zugrunde liegende „pönologische Denken“ teilen sollten, niemand Geringeres als Herbert Wechsler war, der – zusammen mit seinem Kolle 158 Siehe allgemein Monika Frommel, Die Bedeutung der Tätertypenlehre bei der Entstehung des § 211 StGB im Jahre 1941, in: JuristenZeitung 1980, S. 559. Im Jahr 2014 regte der deutsche Justizminister eine Überprüfung der Überarbeitung von 1941 an, die die „beklemmende Beschreibung eines Mörders, wie ihn sich die Nazis vorgestellt haben“, widerspiegelte. Heribert Prantl / Robert Roßmann, Rechtsverständnis aus Nazi-Zeiten: Maas will Strafrecht bei Mord und Totschlag reformieren, in: Süddeutsche Zeitung v. 8. Februar 2014; Heiko Maas, Warum wir endlich eine Reform der Tötungsdelikte brauchen, in: Recht und Politik 50 (2014), S. 65; Thomas Fischer, Völkisches Recht: Der Mord-Paragraf ist eine Erfindung der Nazis, in: Die Zeit v. 12. Dezember 2013. Die vom Minister eingesetzte Expertenkommission erstellte 2015 einen 900 Seiten umfassenden Bericht, in dem eine generelle Präferenz für eine Neuformulierung der Mordbestimmung in tatorientierter statt in täterbezogener Form zum Ausdruck gebracht wurde. Abschlussbericht der Expertengruppe zur Reform der Tötungsdelikte (§§ 211–213, 57a StGB), 2015. 159 U. S. Mil. Gov’t v. Rockenhaeuser, Court of Appeals, U. S. Mil. Gov’t Courts, U. S. Area of Control in Germany (Case No. 88, Opinion No. 70, Sept. 20, 1949), 3 Court of Appeals Reports Opinions Nos. 1–1083, 82, 88–89, 90–91 (1949). 160 Ebd., 89–90.

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gen Jerome Michael an der Columbia Law School – in einem bekannten Artikel von 1937 für eine umfassende Reform des amerikanischen Mordrechts plädiert hatte. Dieses zweiteilige Manifest, „A Rationale of the Law of Homicide“, forderte unter anderem die Aufgabe des Elements „Premeditation“ (Überlegung) bei der Definition von Mord im amerikanischen Recht.161 Das damalige (und in weiten Teilen noch bestehende) amerikanische Recht ähnelte in dieser Hinsicht der Mordbestimmung vor 1941 im deutschen Strafgesetzbuch.162 Eine Strafvorschrift könnte kaum „nationalsozialistisch“ sein, wenn sie eine Reform umsetzt, für die der amerikanische Rechtsprofessor Wechsler vier Jahre zuvor plädiert hatte, wie die alliierten Gerichte anzudeuten schienen. Tatsächlich hatte Wechsler eine Schlüsselrolle bei der Vorbereitung und Durchführung des Nürnberger Prozesses gegen NS-Kriegsverbrecher gespielt. Zunächst als stellvertretender Generalstaatsanwalt und später als Hauptassistent des leitenden US-Richters am Tribunal. Mit anderen Worten waren Wechslers nicht-nationalsozialistische Referenzen einwandfrei. Noch interessanter für unsere Zwecke ist, dass Wechsler in den frühen 1950er Jahren die Leitung der Erarbeitung des Model Penal Code des American Law Institute übernahm, der zusammen mit seinen offiziellen Kommentaren bis heute die anspruchsvollste und einflussreichste Kodifizierung (und Abhandlung) des amerikanischen Strafrechts bleibt. Dazu kommt noch, dass Wechslers massives, zehnjähriges Kodifizierungsprojekt eng an seinen Artikel von 1937 anknüpfte. Das MusterStrafgesetzbuch setzte in seinem allgemeinen Ansatz und in einem Großteil seines Inhalts das in „A Rationale of the Law of Homicide“ dargelegte Straf­programm Wechslers um. Mit anderen Worten, das bedeutendste Forschungs- und Kodifizierungsprojekt der modernen amerikanischen Strafgeschichte hat genau das Reformprogramm umgesetzt, das in dem Artikel erschien, welches das U. S. Militärberufungsgericht als eindeutiges Indiz für den fehlenden nationalsozialistischen Charakter der Revision der Mordvorschrift im deutschen Strafgesetzbuch von 1941 zitierte, weil beide auf dem gleichen „pönologische Denken“ basierten. Damit bot die Mordvorschrift von 1941 eine hervorragende Gelegenheit für eine differenzierte kritische Analyse der Mordvorschrift im historischen und vergleichenden Kontext. Es überrascht nicht, dass die amerikanischen Besatzungsgerichte in den späten 1940er Jahren kein Interesse daran hatten, diese Herausforderung anzunehmen. Sie befassten sich mit einer Frage: War die Mordregelung von 1941 „Nazi“? Diese Frage hatte für sie eine eindeutige Antwort: nein. Auf den ersten Blick war die Bestimmung nicht „nationalsozialistisch“, weil sie historische und vergleichende Analogien aufwies: Andere – in Deutschland und anderswo – hatten ähnliche Reformen befürwortet und umgesetzt. In den Gerichtsurteilen erscheint das Schweizerische (!) Strafgesetzbuch zusammen mit Wechslers Artikel unter

161 Herbert Wechsler / Jerome Michael, A Rationale of the Law of Homicide (Parts I & II), in: Colum. L. Rev. 37 (1937), S. 701, 1261. 162 Ebd.

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den nicht-deutschen (und damit vermutlich nicht-nationalsozialistischen) vergleichenden Analogien zur Neufassung der deutschen Mordvorschrift von 1941.163 Schließlich ging es den amerikanischen Gerichten nur um die Anwendbarkeit des Nazi-Etiketts auf eine häufig auftretende Kernvorschrift des Strafgesetz­ buches, nicht um seine kritische Analyse in zeitübergreifender Perspektive. Und Auszüge aus Wechslers Artikel, zusammen mit Kommentaren, die andere vor-­ nationalsozialistische und mehr oder weniger eindeutig nicht-nationalsozialistische Bestimmungen auflisteten, die Mord ohne Bezug zu Überlegung definierten (die Schweiz, die Sowjetunion), reichten da völlig aus.164 Diese Etikettierungsübung war in zweierlei Hinsicht eingeschränkt. Erstens blieb es als Etikettierungsaufgabe per Definition oberflächlich. Die Gerichte begnügten sich damit, ausführlich aus Wechslers Papier von 1937 zu zitieren, als ob dies für sich selbst sprechen würde. Sie beschäftigten sich nicht mit solchen akademischen Feinheiten wie der Frage, ob Wechsler die premeditation-basierte Definition von Mord im amerikanischen Recht aus den gleichen Gründen ablehnte, wie die Befürworter der Bestimmung von 1941. Dazu gehörte insbesondere ­Roland Freisler, einer der extremsten und einflussreichsten nationalsozialistischen Juristen, der an der Ausarbeitung der Bestimmung beteiligt war und später als Vorsitzender Richter des Volksgerichtshofs fungierte.165 Die Gerichte unternahmen – 163 U. S. Mil. Gov’t v. Rockenhaeuser (Fn. 159), S. 91; U. S. Mil. Gov’t v. Ybarbo, Court of Appeals, U. S. Mil. Gov’t Courts, U. S. Area of Control in Germany (Case No. 52, Opinion No. 19, Mar. 14, 1949), 1 Court of Appeals Reports Opinions Nos. 1–1083, 207, 228 (1949). 164 Siehe „The Statutory Criminal Law of Germany, with Comments: A Translation of the German Criminal Code of 1871 with Amendments, Together with the most Important Supplementary Penal Statutes and with the Laws Nos. 1 and 11 and Proclamation No. 3 of the Control Council for Germany“, War Department Pamphlet No. 31–122, Washington, D. C. 1946, S. 125. Dieses Dokument präsentiert eine faszinierende Darstellung des deutschen Strafrechts in englischer Sprache aus amerikanischer Perspektive für „alle, die daran interessiert sein könnten, und insbesondere für die Mitarbeiter der Militärregierung in Deutschland“. Es fängt „das deutsche Recht in seiner dynamischen Entwicklung der letzten 12 Jahre“ ein und enthält auch „Kommentare, in denen der angloamerikanische Anwalt die Punkte des deutschen Strafrechts erläutert, die sich von den Konzepten seines eigenen Rechts unterscheiden“. Ebd., S. ii. Dieses „Kompendium“ passt gut zu der deutschsprachigen Einführung in das angloamerikanische Strafrecht der Nachkriegszeit, die der Strafrechtsprofessor Adolf Schönke verfasst hat. Siehe Adolf Schönke, Materialien zum englisch-amerikanischen Strafrecht, 1948. Die amerikanische Einführung in das deutsche Strafrecht baut auf einer Übersetzung des deutschen Strafgesetzbuches auf; die deutsche Einführung in das angloamerikanische Strafrecht umfasst stattdessen sinnvollerweise Übersetzungen von Gerichtsurteilen. 165 Siehe Roland Freisler, Gedanken über das Gesetz zur Änderung des Reichsstrafgesetzbuches, in: Deutsche Justiz 103 (1941), S. 929, 932; Roland Freisler, Gedanken zur VO gegen Volksschädlinge, Deutsche Justiz 101 (1939), S. 1450, 1451. Ein weiterer vieldiskutierter, neuer Tätertypus war der „Volksschädling“, der sich kurz nach Kriegsbeginn in der „Verordnung gegen Volksschädlinge“ von 1939 zu bekannten Typen wie dem „gefährlichen Gewohnheitsverbrecher“ aus dem oben diskutierten „Gewohnheitsverbrechergesetz“ von 1933 gesellte. Siehe z. B. Hans-Jürgen Bruns, Zur Lehre vom Tätertyp der Volksschädlingsverordnung, in: Zeitschrift der Akademie für Deutsches Recht 8 (1941), S. 398; Roland Freisler, Vom Schutz-

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auf der Grundlage eines amerikanischen Kommentars zum deutschen Strafrecht während der NS-Zeit166– keine eingehende vergleichende Untersuchung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen dem „pönologischen Denken“, das sie als Motivation für Wechslers und Freislers Befürwortung einer Mordvorschrift ansahen, die sich nicht um den Begriff der Überlegung bzw. premeditation drehte. Mit der Fokussierung auf die Frage nach dem Fehlen oder Vorhandensein von „Überlegung“ bekundeten die Besatzungsgerichte wenig Interesse an den übrigen Merkmalen der Mordvorschrift von 1941. Genau diese Merkmale – der Austausch einer straftatbezogenen Auffassung von Mord durch eine täterbezogene Auffassung von Mörder im Allgemeinen und die Auflistung entsprechender deskriptiver Merkmale im Besonderen (reich an mittelalterlich anmutenden Begriffen wie Habgier, niedrige Beweggründe, Heimtücke, Mordlust167) – galten Freisler und anderen Befürwortern der Reform als besonders bedeutungsschwer und entsprachen ihrem grundsätzlichen Streben, das als liberalistisch-abstrakt geltende Tatstrafrecht durch angeblich altgermanisch-kerniges Täterstrafrecht zu ersetzen. Es sind dies auch die Merkmale, die am wenigsten die Zustimmung von Wechsler gefunden hätten (und die am ehesten als „Nazi“ hätten erscheinen können).168 Es ist verständlich, warum die Frage nach der nationalsozialistischen Prägung einer bestimmten Vorschrift, insbesondere einer so zentralen Bestimmung wie der Definition von Mord (und Totschlag), im Prozess der Selbstreflexion unter deutschen Strafrechtswissenschaftlern und anderen Teilnehmern des deutschen Strafsystems nach 1945 eine wichtige Rolle spielen würde – zumal so gut wie alle von ihnen während der NS-Zeit aktiv gewesen waren. Auch hier kann die Oberflächlichkeit der Etikettierungsuntersuchung selbst von einer sinnvollen inhaltlichen Auseinandersetzung mit ihrem Objekt ablenken und diese letztlich ausschließen. Die Lösung für ein Problem kann so oberflächlich sein wie das Problem selbst; ein einmal angebrachtes Etikett kann auch entfernt werden.169 zweck der Strafrechtspflege gegenüber Volksschädlingen, in: Deutsche Justiz 100 (1938), S. 365; siehe allgemein Gerhard Werle, Strafrecht als Waffe: Die Verordnung gegen Volksschädlinge vom 5. September 1939, in: Juristische Schulung 1989, S. 952. 166 The Statutory Criminal Law of Germany (Fn. 164), S. 125. 167 Zur Allgegenwärtigkeit mittelalterlicher Normen in Jeffersons Gesetzentwurf für das Strafrecht in Virginia siehe unter Teil III; s. auch die Vagabundenverordnung im berühmten Papachristou Urteil des U. S. Supreme Court (Kapitel 2, Abschnitt C). 168 Wechsler lehnte „Vorsatz“ als hoffnungslos vage und irrelevant ab, und daher ungeeignet, die benötigte vorläufige Diagnose der Gefährlichkeit des Täters durch den Tatsachenfinder (Richter oder Jury) zu leiten. Aus dem gleichen Grund hätte er auch die moralistische Merkmalsliste der Bestimmung von 1941 abgelehnt. Zu Beschwerden über die Unbestimmtheit eines der Hauptmerkmale, der Heimtücke, siehe Grünewald, Das vorsätzliche Tötungsdelikt (Fn. 157), S. 123–124. 169 Man denke beispielsweise an den jüngsten Vorschlag, den „nationalsozialistischen“ Beigeschmack der aktuellen Mordbestimmung im deutschen Strafgesetzbuch durch eine „ausschließlich redaktionelle Bereinigung“ des Wortlautes zu entfernen, „dem die NS-Ideologie ihrer Autoren nachgerade auf die Stirn geschrieben steht“. Bundesratsinitiative des Landes Schleswig-Holstein, BR-Drs. 54/14 (v. 12. Februar 2014) in: Abschlussbericht der Experten-

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Zweitens, und für unsere Zwecke noch interessanter, war die Etikettierungsarbeit der Gerichte – wie alle Etikettierungsarbeiten – abgeschlossen, nachdem eine Entscheidung über die Angemessenheit des betreffenden Etiketts getroffen worden war. Eine noch so detaillierte Etikettierungsmaßnahme ist nicht der Beginn einer längerfristigen Analyse, sie bringt die Analyse zum Abschluss. Nach der Ablehnung des Etiketts „Nazi“ bestand keine Notwendigkeit mehr, tiefer zu graben, die Oberfläche der scheinbaren historischen und vergleichenden Analogien anzukratzen. Entlang der historischen Kontextachse würde sich, wie wir bereits bemerkt haben, der Fokus der kritischen Analyse auf die vermeintlichen historischen Analogien nicht nur in der Form, sondern auch in der Substanz, in Wort und Geist verlagern. Sie könnte Spuren des angedeuteten Narrativs nicht bis zur „progressiven“ Taxonomie von Tätertypen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts verfolgen, sondern auch zu Rechtsaltertümern wie den „altgermanischen Rechtsanschauungen“ über die Besonderheit des Mordes (bzw. des Mörders), die nicht nur von den nationalsozialistischen Befürwortern des Täterstrafrechts170 und den positivrechtlichen Vorgängern der an der Überlegung ausgerichteten Mordbestimmung, die die Reform von 1941 ersetzt hat, zitiert werden. Tatsächlich kann es sich herausstellen – im Einklang mit dem in diesem Buch verfolgten dualistischen Ansatz –, dass diese historische Untersuchung nicht nur eine, sondern zwei Narrative der Konzipierung von Mord (und Mördern) offenbart. Auf diese Weise lässt sich die Genealogie des Mordes als Spiegelbild der dualistischen Genealogie des deutschen Strafens sehen, die von der Unterscheidung zwischen Polizei und Recht umrahmt wird. So könnte man einerseits ein (polizeiliches) Narrativ konstruieren, das eine Verbindung zwischen dem Tätertyp der Mordvorschrift von 1941 (und anderen tätergetriebenen NS-Strafrechtsreformen, darunter das Gewohnheitsverbrechergesetz von 1933, die Volksschädlingsverordnung von 1939, oder die Polenstrafrechtsverordnung von 1941), der progressiven Pönologie der Tätertypen und den oft behaupteten Wurzeln der Mordmerkmale der Vorschrift – und im Besonderen die Charakteristik der Heimtücke – im mittelalterlichen germanischen Recht nachverfolgt.171 Andererseits könnte ein alternatives (rechtliches) Narrativ einen roten Faden ziehen, der die vor 1941 geltende Fassung der Mordvorschrift aus dem ursprünglichen Strafgesetzbuch von 1871, die ebenfalls auf Überlegung ausgerichteten Morddefinitionen im preußischen Strafgesetzbuch von 1851 und im preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 oder das viel zitierte Modell eines aufklärerischen Strafkodex, das bayerische Strafgruppe zur Reform der Tötungsdelikte (§§ 211–213, 57a StGB), 2015, S. 310, 312. Der Antrag betont allerdings gleichzeitig, dass diese oberflächliche Überarbeitung nicht eine „dringend gebotene inhaltliche Reform der Tötungsdelikte“ ausschließe. Ebd., S. 312. 170 Die Referenz ist aus Beselers 1851 erschienenem Kommentar zum Preußischen Straf­ gesetzbuch aus dem gleichen Jahr. Siehe Beseler, Kommentar über das Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten (Fn. 157), S. 343. 171 Siehe z. B. Grünewald, Das vorsätzliche Tötungsdelikt (Fn. 157), S. 123.

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gesetzbuch von Feuerbach von 1813, verbindet.172 Ein zeitübergreifender longue durée Ansatz könnte weiter auf die Constitutio Criminalis Carolina oder sogar auf römische Gesetzestexte zurückgreifen,173 wenn auch nur, um die Konstruktion der Überlegung als Teil einer Rekonzeptualisierung von Mord im Zuge einer allgemeinen „Revision“ (Feuerbach) und Modernisierung des Strafrechts zu komplizieren. Es könnte sich durchaus herausstellen, dass die dualistische Analyse nicht parallel, sondern quer zur Unterscheidung zwischen überlegungsbasierten und anderen Mordkonzeptionen verläuft. Schließlich sind Überlegung und seine Alternativen (z. B. Heimtücke) flexibel und vage genug, um in beliebig viele Konzeptionen und damit historische Narrative zu passen. So könnten Überlegung und Heimtücke als alternative Vorstellungen von Mord (und Mördern) verstanden werden. Der eine würde das Element der Reflexion als besonders eindeutige Manifestation der Autonomiefähigkeit der Tat angesichts der Ungeheuerlichkeit des Aktes der Zerstörung der Person eines anderen (in Abwesenheit anderer Faktoren, die die Schwere der Tat mildern könnten) hervorhebt. Der andere würden hingegen eine Diagnose der Verwerflichkeit oder Gering­wertigkeit des Täters stellen könnte, die ihn als sui generis-Verbrecher, den „Mörder“, kennzeichnet. Andersherum könnte die Überlegung als quasi-klinisches Indiz für ex­ treme kriminelle Gefährlichkeit angesehen werden, im Gegensatz zu moralis­ tischen Attributen wie Heimtücke, die die normative Einzigartigkeit der Tötung eines anderen Menschen erfassen. Letztlich, und das ist am interessantesten, könnte man die Überlegung allein als Spiegel dieser scheinbar kategorischen Unterschiede in sich selbst betrachten, als Manifestation der persönlichen Autonomie und gleichzeitig als Symptom der Gefährlichkeit oder Verwerflichkeit (oder beides). Die Überlegung würde sich in diesem Fall nicht mehr von Heimtücke unterscheiden, sondern sie würde sie umfassen. Tatsächlich scheinen sich die Autoren des offiziellen Entwurfs des deutschen Strafgesetzbuches von 1962 auf so etwas geeinigt zu haben: Als sie (vergeblich) die Wiedereinführung der Überlegung in die Morddefinition vorschlugen, schlugen sie zugleich vor, Heimtücke zu streichen, weil der Begriff der Überlegung den der Heimtücke mit abdecken würde.174 Die Heimtücke war eher redundant als inkonsistent mit der Überlegung.

172

§ 146 bayStGB; siehe auch der Entwurf § 150 bayStGB (Entwurf des Gesetzbuchs über Verbrechen und Vergehen für das Königreich Baiern, 1810); P. J. A. Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland geltenden peinlichen Rechts, 1801, §§ 248–249. Für einen Überblick der Nachweise von Überlegung in den deutschen Tötungsdelikten, siehe Grünewald, Das vorsätzliche Tötungsdelikt (Fn. 157), S. 57–69. 173 Siehe z. B. Grünewald, Das vorsätzliche Tötungsdelikt (Fn. 157), S. 57–69. 174 § 135 StGB (E 1962); Entwurf eines Strafgesetzbuches E 1962, 273 (BT-Drs. IV/650) (v. 4. Oktober 1962); ebd. (die Wiederbelebung der Überlegung, weil diese in der Regel auf die „besondere Verwerflichkeit“ der „kaltblütigen Zerstörung eines Menschenlebens“ hinweist); siehe Grünewald, Das vorsätzliche Tötungsdelikt (Fn. 157).

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Der vielleicht naheliegende Punkt dabei ist, dass die Zusammenstellung einer Liste von Verweisen auf „Überlegung“ im Laufe der Zeit und in verschiedenen Texten kaum Erkenntnisse für die Zwecke der in diesem Buch verfolgten kritischen Analyse liefern wird. Ein genauerer Blick auf die Bedeutung und Funktion eines bestimmten Begriffs in einem bestimmten historischen, dogmatischen oder – allgemeiner gefasst – diskursiven Kontext kann diese Wortsuche vervollständigen und bereichern. Dennoch bleibt der für unsere Zwecke entscheidende Schritt die Interpretation des zu prüfenden Textes in einem breiteren und abstrakteren Rahmen, mit dem Ziel, eine kritische Analyse zu erleichtern. So kann es beispielsweise durchaus sein, dass die Überlegung irgendwann (oder an mehreren Stellen) als Synonym für Vorsatz verwendet wurde, wie Anette Grünewald in ihrer aufschlussreichen Studie über vorsätzliche Tötung im deutschen Recht nahelegt.175 Tatsächlich gibt es keinen Grund zu glauben, dass der Überlegungsbegriff nicht mehr in diesem und vielen anderen Bedeutungen verwendet wird. Schließlich wird das Merkmal der Überlegung seit langem für seine vermeintliche Unbestimmtheit kritisiert, in einer bemerkenswerten Übereinstimmung in der deutschen und angloamerika­nischen Literatur, auch unter den Kommentatoren, die in der oben diskutierten Entscheidung des Alliierten Besatzungsgerichts ausführlich zitiert wurden.176 Darüber hinaus ist es trotz dieses Konsenses über die Unbestimmtheit der Überlegung nicht so, als ob diese „von Natur aus“ vager wäre als irgendein anderer Begriff, mit dem sie verwechselt – oder durch den sie ersetzt – werden könnte, so dass das Problem der Unbestimmtheit in der Lehre der Tötungsdelikte einfach dadurch gelöst werden könnte, dass man die Überlegung aus ihr verbannt. Aus der dualistischen Perspektive, die dieses Buch antreibt, sind „Vagheit“ oder „Unbestimmtheit“ oder „Schwierigkeit in der Anwendung“ kein Merkmal des einen oder anderen Konzepts. Die Vagheit erscheint nicht als außergewöhnliche Abweichung von Klarheit oder Determiniertheit oder Eindimensionalität, sondern als Spiegel einer inhärenten Spannung zwischen konkurrierenden, wenn auch miteinander verbundenen Paradigmen. Diese Spannung kann nicht dadurch isoliert werden, dass man sie auf bestimmte Begriffe beschränkt; sie durchzieht den gesamten Strafprozess, einschließlich – aber sicherlich nicht beschränkt auf – die übererforschte Ecke, die wir als Lehre vom materiellen Strafrecht kennen, oder genauer gesagt die Ecke in dieser Ecke, bekannt als die Lehre von mens rea, Vorsatz, subjektiven oder internen Tatbestandsmerkmalen, Schuldformen und so weiter. Die Strafrechtslehre besteht nicht mehr aus klaren und unklaren Begriffen, denn aus z. B. polizeilichen und rechtlichen Konzepten. Das Ersetzen eines Begriffs durch einen anderen kann daher – ohne weiteres – das Problem der Unbestimmtheit nicht eher lösen als es einen Wechsel von einem Paradigma zum einem anderen anzeigt.

175

Grünewald, Das vorsätzliche Tötungsdelikt (Fn. 157). U. S. Mil. Gov’t v. Rockenhaeuser (Fn. 159), S. 91–92 (mit Verweis auf Wechslers 1937 erschienenes Werk A Rationale of Homicide und ein deutsches Strafrechtslehrbuch aus dem Jahr 1943). 176

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Die Qualifikation „ohne weiteres“ ist signifikant. Das „Weitere“ hier könnte in zwei Varianten kommen, von denen eines weniger oberflächlich als das andere ist. Erstens, anstatt einfach einen Begriff (Überlegung; premeditation) durch einen anderen (niedrige Beweggründe; Vorsatz) zu ersetzen, könnte man sich die Mühe machen, diesen zu definieren oder, wenn sich das als unbefriedigend erweist, ihn vielleicht durch einen anderen (oder andere)  zu ersetzen. Das hat Wechsler im Model Penal Code getan. Die Verfasser des Model Penal Code haben das Merkmal der Überlegung aus der Definition des Mordes herausgenommen und durch Vorsatz, oder besser gesagt durch zwei Modi des Vorsatzes – „Absicht“ und „Wissentlichkeit“ – ersetzt, da sie auch den Vorsatz für zu vage hielten. Warum „Vorsatz“ (intent) allerdings leichter zu spezifizieren sein sollte als „Überlegung“ (premeditation), z. B. indem man diese ebenso durch zwei Konzepte ersetzte, die dann ihrerseits im Gesetz definiert würden, bleibt allerdings unklar. Wechsler – und seine deutschen Zeitgenossen in den 1930er und 1940er Jahren – kamen zu dem Schluss, dass sich die Überlegung insofern als undefinierbar erwiesen habe, als es den Gerichten und Kommentatoren im Laufe von Jahrzehnten nicht gelungen war, sich auf eine allgemein akzeptierte und „praktikable“ Definition zu einigen. Andererseits hätte man über den Begriff des Vorsatzes Ähnliches sagen können. Wechslers Lösung für dieses Problem bestand darin, den Begriff „Vorsatz“ für tabu zu erklären, ihn durch „Absicht“ und „Wissentlichkeit“ (und gelegentlich auch durch andere Schuldmerkmale, einschließlich Leichtfertigkeit (recklessness), Verlangen (desire), sogar Glauben (belief) zu ersetzen und dann verbindliche (kodifizierte) Definitionen der – anscheinend weniger vagen – Ersatzbegriffe zu liefern.177 Die Befürworter der deutschen Reform von 1941 sahen natürlich keine Unbestimmtheitsprobleme bei der neuen Bestimmung; sie sollte schließlich die Art von Straftäter erfassen, die der Richter (und das Volk, wenn nicht unbedingt der Täter selbst) intuitiv als „Mörder“ erkennen würden. Die Liste der Symptome der „Mörderrolle“ diente eher einer illustrativen als einer definitorischen (bzw. abschreckenden) Funktion. Unbestimmtheit war in diesem Fall kein Problem, denn definitorische Unbestimmtheit war im Allgemeinen kein Problem.178 Die Mordvorschrift war keine 177

§§ 2.02(2), 210.2(1)(a) Model Penal Code. Man beachte, dass der zeitgleiche offizielle und der „alternative“ Entwurf eines deutschen Strafgesetzbuches aus den Jahren 1962 bzw. 1966 ebenfalls versuchten, die Unbestimmtheit des Vorsatzes zu beseitigen, indem sie ihn durch zwei bemerkenswert ähnliche Schuldmerkmale ersetzten und sie dann definierten: „Absicht“ und „Wissentlichkeit“ im ersten Fall, „Vorsatz“ und „Wissen“ im zweiten Fall. §§ 16–17 StGB (E 1962); § 17 StGB (AE). Keiner dieser Vorschläge wurde angenommen; Vorsatz bleibt im deutschen Strafgesetzbuch undefiniert (ebenso wie „intent“ im amerikanischen Strafrecht). 178 Roland Freisler, Gedanken über das Gesetz zur Änderung des Reichsstrafgesetzbuches, Deutsche Justiz 103 (1941), S. 929, 935. Dieser Mangel an Besorgnis über die Unbestimmtheit der Definition war nichts Neues und beschränkte sich auch nicht auf die neue Bestimmung über Mord (oder Mörder). Die Ungeduld des nationalsozialistischen Regimes gegenüber dem Prinzip der Legalität (nullum crimen sine lege) im Allgemeinen – das normalerweise so ver-

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Morddefinition, sondern eine Mördervorschrift, die als primitives Diagnose­ instrument ex post diente. Sie befasste sich nicht mit der Frage „wurde ein Mord begangen?“ sondern „ist dieser Verdächtige / Beklagte ein Mörder“? Man beachte die zeitliche Verschiebung von der Vergangenheit hin zur Gegenwart. Die Einordnung als Mörder ist nicht zeitsensitiv, sie ist kontinuierlich. Der vergangene Akt liefert Hinweise für die gegenwärtige Diagnose eines vergangenen, gegenwärtigen und (vermutlich) zukünftigen Charakterzuges; er ist symptomatisch für eine Ano­ malie, eine Abweichung von einer Charakternorm, nicht einer Handlungsnorm. Zweitens, anstatt einfach das „Problem“ der Unbestimmtheit von einem dogmatischen Begriff auf einen anderen (oder mehrere) zu verlagern, könnte man dem Begriff Inhalte geben, die sich auf eine bestimmte, mehr oder weniger abstrakte Vorstellung vom Strafprozess stützen. In diesem Fall ist die formale Unbestimmtheit nicht das Hauptanliegen, wenn es überhaupt ein Anliegen war. Stattdessen, auch wenn die Kritik an einem dogmatischen Konzept formal formuliert ist und eine Alternative angeboten wird, um dieses vermeintliche formale Problem zu lösen, dient die Alternative einer materiellen Agenda. Dabei spielt es keine Rolle, ob der substantielle Punkt als Betonung oder Hervorhebung eines substantiellen Aspekts des traditionellen Konzepts (z. B. „Überlegung“) dargestellt wird und damit als eine Reform, die es ihm ermöglicht, seine „richtige“ oder „sinnvolle“ Funktion besser zu erfüllen, oder – grundlegender – als eine signifikante inhaltliche Veränderung, von der Ideologie, die die traditionelle Konzeption untermauert, zu einer anderen ihr überlegenen Ideologie. Mit anderen Worten, eine Unbestimmtheit könnte durch eine andere, angemessene Unbestimmtheit ersetzt werden. Die Ideologie des Täterstrafrechts, die 1941 die Neufassung der deutschen Mordvorschrift vorantrieb, veranschaulicht den letztgenannten Ansatz; trotz offensichtlicher Ähnlichkeiten zwischen der Neufassung von 1941 und den Morddefinitionen anderer Gesetze, darunter vor allem des Schweizer Strafgesetzbuches und (sogar) des französischen Strafgesetzbuches, wurde die Neufassung als radikaler Wandel vom fremdartigen liberal-formalistischen Tatstrafrecht zu einem typisch deutschen ethisch-materialem Täterstrafrecht gepriesen. Auf diese Weise wurde die Mord­ bestimmung an einen allgemeinen Trend in Richtung Täterstrafrecht angepasst, der standen wird, dass es ein Unbestimmtheitsverbot „einschließt“ – ist bekannt und wurde (nach dem Zweiten Weltkrieg) vielfach als genuin nationalsozialistisch kritisiert. Es war schwer zu übersehen, da die nationalsozialistische Regierung schon früh, im Jahr 1935, die Bestimmung im deutschen Strafgesetzbuch revidierte, von der allgemein angenommen wird, dass sie das Prinzip der Legalität kodifiziert (damals § 2 StGB). Sie ersetzte die Bestimmung, dass „eine Handlung … nur dann mit einer Strafe belegt werden [kann], wenn diese Strafe gesetzlich bestimmt war, bevor die Handlung begangen wurde“ durch die folgende: „Bestraft wird, wer eine Tat begeht, die das Gesetz für strafbar erklärt oder die nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach gesundem Volksempfinden Bestrafung verdient. Findet auf die Tat kein bestimmtes Strafgesetz unmittelbar Anwendung, so wird die Tat nach dem Gesetz bestraft, dessen Grundgedanke auf sie am besten zutrifft.“ Die Reform der Mordvorschrift von 1941 geht über die Veranschaulichung eines Mangels an Besorgnis über vage Verbrechensdefinitionen hinaus; sie implementiert ein umfassendes Programm bewusst flexibler Straftatbeschreibungen.

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sich auch in anderen nationalsozialistischen Reformen manifestierte.179 Hier geht es darum, dass die Behauptung einer materiellen Originalität aufgestellt wurde, nicht dass diese gerechtfertigt war. Tatsächlich haben wir bereits festgestellt, dass man in der Art der hier verfolgten kritischen zeitübergreifender Analyse nicht weit gehen muss, um den Zusammenhang zwischen der Ideologie, die der Revision der Mordbestimmung 1941 zugrunde liegt, und dem fortschrittlichen Projekt des Täterstrafrechts von Franz von Liszt und seiner Gefolgschaft zu erblicken. In einem umfassenderen und längeren Kontext gesehen, könnten sowohl die Morddefinition von 1941 als auch Liszts progressives Projekt als Teil einer Entwicklung erscheinen, die auch frühere Definitionen von Mord im Schweizer Entwurf von 1918 (der wiederum auf einem Vorschlag des Schweizer Strafrechtsprofessors Carl Stooss von 1894 basiert)180 und der Hinterhalt-Variante des „assassinat“ im französischen Strafgesetzbuch von 1810 miteinbezieht,181 sowie zeitgenössische und sogar zukünftige Definitionen außerhalb des civil law berücksichtigt, ins­besondere Wechslers „rationale of the law of homicide“, die er 1937 entwickelte und dann im Model Penal Code von 1962 systematisch umsetzte (den Wechsler 1952 für das American Law Institute zu entwerfen begann). Wechslers „rationale of the law of homicide“ und der Model Penal Code können als Illustration für den früheren Ansatz angesehen werden, zumindest teilweise. Es ist selbstverständlich möglich, Wechslers Kritik an dem Überlegungsmerkmal, gefolgt von dessen Streichung aus dem Instrumentarium des modernen Strafrechts (und des Model Penal Code), als Signal für einen radikalen Bruch mit der Tradition und die Einführung eines neuen und überlegenen Strafregimes (auf Grund des Behandlungsmodells) zu interpretieren. Denn das American Law Institute beschloss, im Bereich des Strafrechts ein Mustergesetz eben deshalb zu erarbeiten, weil es der Meinung war, dass sich dieser dogmatische Bereich – anders als z. B. das Deliktsrecht oder Vertragsrecht – in einem solch erbärmlichen Zustand befand, dass mehr als eine bloße Neuformulierung im Lichte vernünftiger Prinzipien erforderlich war. Andererseits ist es wichtig festzuhalten, dass der Model Penal Code ein Stück Mustergesetzgebung war. Seine Erfolgsaussichten, darauf amerikanische Gesetz-

179 Zur Suche in der nationalsozialistischen (und vornationalsozialistischen) deutschen (und nicht-deutschen) „kriminologischen Wissenschaft“ nach einer Taxonomie der Typen siehe Richard F. Wetzell, Inventing the Criminal: A History of German Criminology 1880–1945, 2000. 180 Karl Lackner u. a. (Hrsg.), Festschrift für Wilhelm Gallas zum 70. Geburtstag am 22. Juli 1973, 1973, S. 49, 60–61 („Tötet der Täter aus Mordlust, aus Habgier, um die Begehung eines andern Verbrechens zu verdecken oder zu erleichtern, mit besonderer Grausamkeit, heim­ tückisch, durch Feuer, Sprengstoffe oder andere Mittel, die geeignet sind, Leib und Leben vieler Menschen zu gefährden, so wird er mit lebenslänglichem Zuchthaus bestraft.“). Die deutsche Vorschrift von 1941 orientiert sich eng an dem schweizerischen Entwurf von 1894, fügt jedoch einen allgemeinen Verweis auf „niedrige Beweggründe“ hinzu und betont die täter­strafrechtlichen Aspekte der schweizerischen Vorschrift („Mörder ist …“). 181 §§ 296–298 Code penal (von 1810).

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geber zur Reform zu bewegen, standen sicher besser, wenn es zumindest auf einem Teil der bestehenden Strafrechtsdoktrin zu beruhen schien. Tatsächlich fundierte Wechsler seine Reformvorschläge in seinem Aufsatz und später im Model Penal Code innerhalb dessen, was er als eine illustre (moderne, rationale, wissenschaft­ liche) Tradition von Kommentatoren wie Jeremy Bentham, James Fitzjames ­Stephen und zuletzt Oliver Wendell Holmes ansah. Jeder von diesen hatte in Wechslers Narrativ seine eigene Sicht der Strafrechtsdogmatik als Instrumentarium zur Diagnose von Gefährlichkeit im Rahmen eines umfassenden Systems pönal-korrigierender Behandlung vorweggenommen (das Behandlungsmodell: treatmentism). In diesem Zusammenhang erscheint das Element der Überlegung als ein dogmatisches Hilfsmittel, das sich über Jahrzehnte, wenn nicht gar Jahrhunderte hinweg als ungeeignet für seine (vermeintliche) diagnostische Aufgabe erwiesen hat, einen „abgebrühten Charakter“ und „perverse unsoziale Dispositionen“ (Bentham) zu indizieren.182 Das Merkmal der Überlegung blieb aus dieser Sicht deutlich hinter dem Standard zurück, „der für jedes Strafrecht gilt, unabhängig von seinen Merkmalen: Die Unterscheidungen, die es vornimmt, sollten gut an ihre Zwecke angepasst sein“.183 Und so erschien das Merkmal auf Wechslers Liste der „fragwürdigsten Aspekte der gesetzlichen Ordnung von Behandlungsfaktoren im angloamerikanischen Recht“: (1) Die sog. „felony-murder“-Regel184 (2) Die Leugnung jeglicher Bedeutung des Motivs außer zu Beweiszwecken; (3) Das enge Konzept der Provokation, die ausreicht, um Mord auf Totschlag zu reduzieren; (4) Die Verwendung (…) des Faktoren Überdenken (deliberation) und Überlegung (premeditation) als Grundlage für die Unterscheidung zwischen vorsätzlichen Tötungen. Das Merkmal der Überlegung hatte sich als so hoffnungslos ungeeignet für seine langjährige – wenn auch (mit Ausnahme der oben genannten Linie BenthamStephen-Holmes) nicht immer genügend anerkannte – diagnostische Aufgabe erwiesen, dass man es durch ein anderes Werkzeug der dogmatischen Diagnostik ersetzen musste – und zwar durch die verschiedenen Vorsatzformen im Model Penal Code, insbesondere Absicht und Wissentlichkeit. Diese wurden nun sorgfältig definiert (ohne Bezugnahme auf den ähnlich undefinierbaren Vorsatz­begriff) mit Hilfe von einer Reihe detaillierter, komplexer und umfassender Bestimmungen im Kern des Model Code. Wechsler und andere betrachteten diese als den wichtigsten Beitrag des Mustergesetzes zum amerikanischen Strafrecht und insbesondere

182

Wechsler / Michael, A Rationale of the Law of Homicide, Teil II (Fn. 161), S. 1284 Fn. 57. Ebd., S. 1305. 184 Siehe Dubber / Hörnle, Criminal Law: A Comparative Approach (Fn. 25), S. 544 ff. 183

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zur amerikanischen Strafgesetzgebung – bzw. die „legislatorische Ordnung von Behandlungsfaktoren“.185 Diese Behandlung der Überlegung, als eines der zu untersuchenden „Unterscheidungsfaktoren“, veranschaulicht den Ansatz von Wechsler (und des Model Penal Code) bei der Herausforderung der Kodifizierung: als einen Versuch, ein umfassendes System der legislatorischen Ordnung von Behandlungsfaktoren durch die Zuweisung von Aufgaben an die Systemteilnehmer aufzubauen, die am besten geeignet sind, die erforderliche und angemessen bestimmte Ermessensfreiheit auszuüben. Über diesen technischen – und technokratischen – Ansatz, der ­Wechslers Zugehörigkeit zur Legal Process School der amerikanischen Rechtsprechung widerspiegelt, ist noch viel mehr zu sagen. (Wir werden später auf dieses Thema zurückkommen, wenn wir uns die Genealogie des amerikanischen Strafens in Teil III genauer ansehen.) Die materielle Ideologie, die diesen formalen Ansatz untermauert, der die „Zwecke“ hervorgebracht hat, an denen die „Unterscheidungen“, die ein „Strafrechtssystem … macht, gut angepasst werden sollten“, war das Behandlungsmodell: Die Konzeption des Strafverfahrens als System zur Diagnose und Anwendung von pönal-korrigierender Behandlung und nicht die Androhung, Auferlegung und Anwendung einer Strafe, ein Wort übrigens, das Wechsler im Einklang mit der damaligen behandlungsorientierten Auffassung aus dem strafrechtlichen – bzw. pönologischen – Vokabular zu entfernen versuchte, um so sein modernes, rationales, wissenschaftliches Reformprojekt von einem atavistischen, irrationalen, präskriptiven Retributivismus zu distanzieren. Diese inhaltliche Ideologie war eng mit dem formalen Ansatz der Technik der legislativen Ordnung verbunden. In diesem Sinne kann der Model Penal Code als Kombination der Form des Legal Process mit der Materie des pönologischen Behandlungsmodells angesehen werden, was sich in der Zusammenarbeit Wechslers mit Jerome Michael, seinem Mitautor sowohl beim bereits erwähnten Aufsatz als auch bei einem innovativen Lehrbuch über „Strafrecht und seine Verwaltung“, ausdrückt.186 Die legislative Ordnung erforderte nach Wechslers Ansicht (und die seiner Legal Process Mitstreiter, insbesondere Henry Hart und Albert Sacks) mehr als nur eine möglichst klare und konsistente Definition von Schlüsselbegriffen der Lehre – und damit den Verzicht auf Begriffe, die sich als undefinierbar erwiesen haben: Überlegung und Vorsatz zum Beispiel – und die Zuweisung von Verwaltungsaufgaben – einschließlich der Auslegung und Anwendung dieser Begriffe – an die am besten geeigneten Personen, um diese auszuführen. Es bedeutete auch, erstens die Unvermeidlichkeit (und sogar die Begehrlichkeit) der Ermessensfreiheit bei der Anwendung dieser Begriffe anzu 185

§ 2.02 Model Penal Code. Jerome Michael & Herbert Wechsler, Criminal Law and Its Administration: Cases, Statutes and Commentaries (1940); see David Riesman, Jr., Law and Social Science: A Report on Michael and Wechsler’s Classbook on Criminal Law and Administration, in: Yale L. J. 50 (1940), S. 636. 186

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erkennen und zweitens die Notwendigkeit, diese zu leiten. Es ist nicht zu erwarten, dass ein „Strafrechtssystem“ seine Ziele erreicht, wenn seine Bestimmungen nicht im Hinblick auf diese Ziele definiert und ausgelegt werden. Und diese Zwecke wiederum wurden durch die inhaltliche Strafkonzeption der Verfasser und damit letztlich durch die Auffassung des Staates von seiner eigenen Strafmacht angeregt. Die viel gescholtene „felony murder rule“ stand ganz oben auf Wechslers Liste der Missstände des amerikanischen Strafsystems. Die Ablehnung der „felony murder rule“-Doktrin war noch heftiger und weiter verbreitet unter amerikanischen Kommentatoren als die Kritik am Überlegungsmerkmal bei den Tötungsdelikten. Die Streichung aus dem Model Penal Code Wechslers galt als eine der wichtigsten Errungenschaften des Gesetzesentwurfs.187 Die Allgegenwärtigkeit und Lautstärke der Kritik lässt jedoch nicht unbedingt auf einen Konsens in Bezug auf ihre Begründung schließen. Für unsere Zwecke ist es klar genug, dass Wechsler aus ein und demselben Grund die „felony murder“-Regel und das Überlegungsmerkmal abgelehnte: beide haben das Ermessen der Systemakteure nicht geleitet, um angemessenen Unterscheidungen vorzunehmen zum Zwecke der Bestimmung von „Behandlungsfaktoren“ für die Verschreibung und Verabreichung von „pönal-­ korrigierender Behandlung“. Seitdem beruhen Kritikpunkte an der „felony murder“-Regel oft stattdessen auf einer Konzeption der „personalen Schuld“ im Rahmen einer neuformulierten retributivistischen Theorie („just deserts“). Diese Theorie ist aus einer Kritik am Behandlungsmodell hervorgegangen, wie z. B. von Herbert Morris in den späten 1960er Jahren.188 Wechsler selbst betrachtete den Retributivismus bekanntlich als ein barbarisch irrationales vormodernes Dogma, das seine eigenen intellektuellen Vorfahren (Bentham usw.) längst umfassend und unwiderruflich widerlegt hatten.189 Dass spätere Kommentatoren Unterstützung für die retributivistische Kritik an der „felony murder rule“ im Model Penal Code finden konnten, spricht unter anderem für die bemerkenswerte Anpassungsfähigkeit seiner Sprache, eine nützliche Eigenschaft einer Mustergesetzgebung mit der Hoffnung, Reformen in einer Gruppe von fünfzig unterschiedlichen Rechtsordnungen wie denen des „amerikanischen Strafrechts“ auszulösen und zu beeinflussen. Aus retributivistischer Perspektive wirft das Merkmal der Überlegung weniger prinzipielle Bedenken auf als die „felony murder rule“, weil sie keine verschuldensunabhängige Haftung (strict liability) im technischen Sinne darstellt, da sie nicht von dem (angeblichen) Grundsatz des angloamerikanischen Strafrechts abweicht, dass die strafrechtliche Verantwortung auf dem Nachweis eines „subjektiven Elements“ in Bezug auf jedes (wesentliche) Straftatbestandteil beruht. Die 187 Ob es tatsächlich aufgegeben wurde, und nicht in einer anderen, abgestumpften Form neu formuliert wurde, ist weniger klar. Siehe Dubber / Hörnle, Criminal Law: A Comparative Approach (Fn. 25), S. 544 ff. 188 Morris, Persons and Punishment (Fn. 39). 189 Siehe Herbert Wechsler, Book Review, in: Colum. L. Rev. 49 (1949), S. 425.

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„felony murder rule“ hingegen kommt ohne Nachweis eines Tötungsvorsatzes zur Anwendung.190 Das Element der Überlegung könnte dann so interpretiert werden, dass sie das Vorhandensein eines verschärften Schuldmerkmals in Bezug auf den Tod des Opfers erfordert. Das Überlegungsmerkmal würde in dieser Interpretation nicht den Nachweis von Vorsatz beseitigen, sondern stattdessen den Nachweis eines erhöhten Vorsatzes erfordern. Aus retributivistischer Perspektive könnte daher das Element der Überlegung eher auf Grund der langvertrauten Kritik verdienen, dass Gerichte keine einheitliche Definition dieses Begriffs entwickeln konnten. (Wie wir bereits erwähnt haben, könnte sich jedoch die gleiche Beschwerde gegen Versuche zur Definition des Vorsatz richten, den zentralen Begriff der retributivis­ tischen Schuldlehre und gerade die Voraussetzung für strafrechtliche Verantwortung, deren Umgehung Retributivisten der „felony murder“-Doktrin zum Vorwurf gemacht haben.) Im Gegensatz dazu, um es noch einmal zu sagen, wandte sich Wechsler aus dem gleichen Grund gegen die „felony murder rule“ und das Überlegungselement. Für ihn war das Problem nicht, dass diese nicht die personale moralische Schuld des Handelnden unter Verletzung eines Grundprinzips des Strafrechts widerspiegelten. Stattdessen hatten sie es versäumt, ihre diagnostische Funktion zu erfüllen, die Qualität und Quantität der Gefährlichkeit der Täter zu diagnostizieren. Als weiteres Indiz dafür, dass Wechslers Gründe für die Ablehnung von Überlegung und „felony murder rule“ sich deutlich von denen seiner neo-retributivis­ tischen („just deserts“) Nachfolger unterschieden, nahm er auf die Liste der „fragwürdigsten“ Aspekte des amerikanischen Strafrechts einen zentralen Grundsatz der neo-retributivistischen Ideologie auf: „Die Leugnung jeglicher Bedeutung des Motivs außer zu Beweiszwecken (außer bei der Frage der Rechtfertigung, z. B. Notwehr).“ So hat Heidi Hurd zum Beispiel argumentiert, dass Hass „den traditionellen strafrechtlichen Prinzipien fremd ist“, weil „Hass und Vorurteile zu kriminalisieren bedeutet, von einer handlungsbezogenen Theorie der Strafe auf eine charakterbezogenen Theorie überzugehen“.191 Während fragwürdig ist, ob das „traditionelle“ angloamerikanische Recht so „handlungsbezogen“ war, dass es die „charakterbezogene Theorie“ als „fremdartig“192 bezeichnen könnte, besteht kein 190 Das soll nicht heißen, dass die Kritik nicht in anderen, weniger kategorischen Begriffen hätte formuliert werden können. Man könnte zum Beispiel argumentieren, dass die Doktrin von „felony-murder“ ein zu stumpfes Instrument für die Diagnose moralischer Schuld oder, in noch engerer Analogie zu Wechslers behandlungsorientiertem Ansatz, von moralischer Abnormalität ist. 191 Heidi M. Hurd, Why Liberals Should Hate „Hate Crime Legislation“, in: Law & Phil. 20 (2001), S. 215, 216. 192 Wie bereits erwähnt, hätte sich Wechsler dieser Charakterisierung widersetzen können, da er sich selbst und den Model Penal Code als Glied in einer langen Kette profilierter Autoren, einschließlich Bentham, Stephen und Holmes, sah, obwohl er sich von einem charakterbasierten Ansatz insofern distanziert hätte als dieser die Aufmerksamkeit von einem – vom ihm als einzig modern und wissenschaftlich angesehenen – psychologischem Fokus weg hin zu einem moralischen Fokus lenkt.

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Zweifel daran, dass Wechslers therapeutisches Projekt sich auf die Diagnose und Behandlung des Täters und nicht auf die abstrakte Klassifizierung der Tat um seiner selbst willen konzentrierte – die er für die Verabreichung eines barbarischen Maßes an talionischer Bestrafung hielt, ohne Rücksicht auf positive oder schädliche Auswirkungen auf die von ihr betroffenen Menschen. Die zeitlich und konzeptionell „enge Konzeption der Provokation“ machte für Wechsler aus dem gleichen Grund keinen Sinn. Im Gegensatz zur kategorischen Ablehnung der Relevanz von Motiven für die Bestimmung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit wurde die „Provokation“ nicht ganz von der angloamerika­ nischen Strafrechtsdogmatik ignoriert. Aber die Auferlegung künstlicher und eindeutig irrelevanter Beschränkungen dessen, was als ausreichende Provokation angesehen werden könnte, um die Haftung für vorsätzliche Tötung von Mord auf Totschlag zu mildern, trug nicht dazu bei, die Aufgabe der „legislativen Ordnung der Behandlungsfaktoren“ voranzutreiben. Wechsler sah die Doktrin der „Provokation“, die er als „extreme mentale oder emotionale Störung“ neu definierte und auflockerte, als Platzhalter für eine vorläufige Gefährlichkeitsdiagnose außerhalb der formalen Definitionen von Mord und Totschlag und deren (noch vorläufigeren und starreren) dogmatischen „Unterscheidung“ auf Grund von Indikatoren der pönal-korrigierenden Behandlung. Mit dieser Neudefinition fand Wechsler sogar Platz für eine weitere viel kritisierte Doktrin des angloamerikanischen Strafrechts, „verminderte Schuldfähigkeit“ (oder „verminderte Verantwortlichkeit“), die lange Jahre ziellos in einer generellen Nähe zur Doktrin der absoluten Schuldunfähigkeit (insanity) herumgeschwebt war  – und weiterhin herumschwebt  –, ohne erkennbaren Sinn und Zweck. Die früher als „Provokation“ bezeichnete Doktrin dient nun als allgemeiner Platzhalter für die Berücksichtigung aller Faktoren, die dazu dienen könnten, die grobe dogmatische Unterscheidung im Hinblick auf die Gefährlichkeitseinstufung durch die Klassifizierung des Verhaltens als „Mord“ oder „Totschlag“ (oder eine andere Art von Tötung, z. B. „fahrlässiger Tötung“) zu entkräften. Die Einschränkung der Liste der relevanten Faktoren und die Berücksichtigung eines bestimmten Faktors auf Kosten aller anderen stört die Gefährlichkeitsdiagnose und galt daher nach Ansicht Wechslers als „fragwürdiger Aspekt“ eines gesetzgeberischen Systems.

H. Packer und Jakobs über amerikanisches und deutsches Strafen Nachdem wir einen ziemlich detaillierten vergleichend-historischen Blick auf einen bestimmten ideologischen – und legislativen – Wandel im deutschen Strafregime, die Rekonzipierung von „Mord“ in Jahre 1941, geworfen haben, und bevor wir in Teil III dieses Buches zu einer langfristigen Genealogie des amerikanischen Strafens im Rahmen des doppelten Strafstaates übergehen, erweitern wir kurz den Umfang unserer Untersuchung in vergleichender Hinsicht, indem wir zwei wichtige

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und stimulierende dualistische Darstellungen des amerikanischen bzw. deutschen Strafens miteinander ins Gespräch bringen: Herbert Packers Analyse des (amerikanischen) „Strafverfahrens“ in „Limits of the Criminal Sanction“ (1968), auf der Grundlage einer Unterscheidung zwischen dem „Due Process“-Modell und dem „Crime Control“-Modell und Günther Jakobs’ neuerer Darstellung des deutschen Strafrechts im Rahmen des Spannungsverhältnisses zwischen „Bürgerstrafrecht“ und „Feindstrafrecht“. Packers Analyse war in zweierlei Hinsicht umfassend: Trotz seines besonderen Interesses am Strafverfahren befasste er sich mit dem staatlichen Strafsystem in seiner Gesamtheit – von der Definition von Strafnormen, den Voraussetzungen für die strafrechtliche Verantwortung und den Folgen der Normverletzung (materielles Strafrecht) über die Verhängung der Normen im Strafprozess im engeren Sinne (Strafverfahren) bis hin zur Durchsetzung von angedrohten Sanktionen für ihre Verletzung (Haftrecht, Strafvollzugsrecht). Packers Darstellung war auch insofern umfassend, als sie das Strafsystem als Ganzes aus der Perspektive des „Due Process“-Models und des „Crime Control“-­ Modells analysierte, anstatt jedes Modell auf einen bestimmten Aspekt oder Aspekte des Systems zu beschränken. Grob gesagt verfolgt das „Due-Process“Modell Gerechtigkeit, sucht formelle und faire Verfahren, die durch klare und spezifische Regeln definiert sind, die das Ermessen von staatlichen Amtsträgern sinnvoll einschränken, und geht von einer fundamentalen und allgemeinen Unschuldsvermutung aus. Das Paradigma des „Due Process“-Modells ist der JuryProzess (jury trial). Das „Crime Control“-Modell hingegen verfolgt die Bekämpfung kriminellen Verhaltens mit Hilfe informeller Verfahren, die von breiten und flexiblen Standards bestimmt werden, die staatlichen Beamten einen erheblichen Ermessensspielraum bei der effizienten Identifizierung und Behandlung von Straftätern einräumen, und arbeitet mit einer allgemeinen Schuldvermutung. Das Paradigma des „Crime Control“-Modells ist die Absprache (plea bargaining). Packers Behandlung des materiellen Strafrechts war etwas weniger aufschlussund einfallsreich: sie folgt der traditionellen Praxis, die Untersuchung als Wahl zwischen Retributivismus und Utilitarismus zu gestalten, und schlägt dann eine herkömmliche Kompromissposition vor (im Sinne des limited retributivism, der zuvor z. B. von Rawls, H. L.A. Hart und Henry Hart entwickelt wurde).193 ­Packer zeigte wenig Interesse daran, seine Darstellungen des materiellen und prozessualen Strafrechts zu verknüpfen oder, genauer gesagt, seine Unterscheidung zwischen „Crime Control“ und „Due Process“ Modell im Strafverfahren mit der Unterscheidung zwischen utilitaristischen und retributivistischen Ansätzen im materiellen Strafrecht in Beziehung zu setzen. Die Darstellung Packers mag daher – zumindest im Rahmen des Strafverfahrens – umfassend sein, ist aber nicht kontextbezogen 193

Rawls, Two Concepts of Rules (Fn. 38); H. L.A. Hart, Prolegomenon to the Principles of Punishment (Fn. 38); Henry M. Hart, The Aims of the Criminal Law, in: J. L. & Contemp. Probs 23 (1958), S. 401.

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im weiteren Sinne. Obwohl sie den Strafprozess im engeren Sinne im Rahmen des Strafprozesses im weiteren Sinne betrachtet, unternimmt sie nicht den zusätzlichen Schritt, letzteren in einem Kontext der Staatsmacht oder in einem umfassenderen historischen oder vergleichenden Kontext anzusiedeln. Günther Jakobs’ Unterscheidung zwischen Bürger- und Feindstrafrecht konzentrierte sich auf einen Aspekt des staatlichen Strafens, das materielle Strafrecht.194 Jakobs schrieb dreißig Jahre nach Packer und suchte ebenfalls keine vergleichende Perspektive. Jakobs zeigte ein größeres Interesse am historischen Kontext, obwohl im engeren Sinne einer Suche nach den Spuren einer Unterscheidung zwischen Bürgern und Feinden, Innen- und Außenstehenden, in dem Werk von Autoren die allgemein mit der liberalen Tradition oder zumindest der Aufklärung in Verbindung gebracht werden, darunter insbesondere Rousseau und Fichte. Die Unterscheidung zwischen Bürger- und Feindstrafrecht, so Jakobs, betrifft die Klassifizierung von Straftätern; Bürger unterliegen dem Bürgerstrafrecht und Feinde dem Feindstrafrecht. Bürger werden wie Personen behandelt, Feinde wie menschliche Bedrohungen. Sie unterscheiden sich darin, dass ein Bürger „eine Person ist, die sich rechtstreu verhält“; ein Feind ist es nicht und tut es nicht. Ohne diese wichtige – wenn auch nicht unbedingt klar definierte – Treue kann der Feind „keine hinreichende kognitive Sicherheit personalen Verhaltens leisten“. Um zu verhindern, dass Feinde das „Recht der Bürger auf Sicherheit“ verletzen, müssen sie unschädlich gemacht werden.195 Jakobs wurde heftig kritisiert, insbesondere für die normativen Implikationen seiner Darstellung, von denen er einige explizit erwähnt hat. Gleichzeitig haben viele von denen, die sich gegen Jakobs’ scheinbare Billigung bestimmter Formen „illiberaler“ staatlicher Strafmaßnahmen gewandt haben, das Potenzial der Unterscheidung zwischen Bürger- und Feindstrafrecht als Instrument der kritischen Analyse (insbesondere angesichts einer allgegenwärtigen Rhetorik des „Kampfes“ oder eines „Krieges“ gegen Verbrechen) entweder eingeräumt oder unangefochten gelassen. Tatsächlich kann die Unterscheidung nicht nur in der liberalen Rechtsund Staatstheorie (u. a. in den von Jakobs erwähnten Texten), sondern auch in der Rechtsgeschichte (siehe z. B. Heinrich Brunners einflussreiche Darstellung von Strafen im 19. Jahrhundert als „ Abspaltungen der Friedlosigkeit“196) und der Soziologie (siehe z. B. George Herbert Meads brillanter Artikel „The Psychology of Punitive Justice“197 aus dem Jahr 1918) verwurzelt werden. Es wäre nicht schwierig, der auf die USA ausgerichteten Unterscheidung von ­Packer zwischen dem „Due Process“- und dem „Crime Control“-Modell und 194 Jakobs, On the Theory of Enemy Criminal Law, in: Dubber, Foundational Texts in Modern Criminal Law (Fn. 81), S. 418–419. 195 Günther Jakobs, Bürgerstrafrecht und Feindstrafrecht, in: HRRS 2004, S. 88, 91, 93, 94. 196 Heinrich Brunner, Abspaltungen der Friedlosigkeit, in: Forschungen zur Geschichte des deutschen und französischen Rechtes, 1894, S. 444. 197 George Herbert Mead, The Psychology of Punitive Justice, in: Am. J. Soc. 23 (1918), S. 577.

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J­akobs’ auf Deutschland ausgerichteter Unterscheidung zwischen Bürger- und Feindstrafrecht innerhalb der breiteren Unterscheidung zwischen Recht und Polizei, die die kritische Analyse des doppelten Strafstaates umfasst, Rechnung zu tragen.198 Stattdessen möchte ich einige der Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Packers und Jakobs’ Projekten und der in diesem Buch verfolgten dualis­ tischen Analyse hervorheben. Die Analyse von Packer geht weiter als die von Jakobs, ist systemischer und prozessorientierter und erinnert an Hart & Sacks“ Ansatz in „The Legal Process“ sowie an die langjährige angloamerikanische Ausrichtung auf das Verfahren im Vergleich zum materiellen Strafrecht. Dieser prozessuale Fokus spiegelt sich auch in der Rechtsprechung des U. S. Supreme Court wider, die Packer genau verfolgt und damit ein weiteres Merkmal der angloamerikanischen Rechtslehre darstellt. Tatsächlich kann die Analyse von Packer als Dokumentation zweier damaliger Reformbewegungen im amerikanischen Strafrecht gelesen werden, der Konstitutionalisierung des Strafprozessrechts durch den Supreme Court unter Chief Justice Earl Warren und – in geringerem Maße – der Revision des materiellen Strafrechts durch das American Law Institute im Model Penal Code unter Herbert Wechsler. Jakobs hingegen spiegelt die deutsche Fokussierung auf das materielle Strafrecht und Doktrinen der „Strafrechtswissenschaft“ wider, die sich an den knappen Bestimmungen des deutschen Strafgesetzbuches orientieren, wobei der Recht­ sprechung wenig Beachtung geschenkt wird, außer als Reflexion von Positionen, die von verschiedenen Wissenschaftlern vertreten werden.199 Während Packers Darstellung optimistisch ist, indem das (auf der Rechtsprechung des U. S. Supreme Court basierenden) „Due Process“-Modell das vorverfassungsrechtliche „Crime Control“-Modell verdrängt, schlägt Jakobs einen düstereren Ton an und offenbart die Existenz eines Bereichs des Feindstrafrechts im Schatten des Bürgerstrafrechts. Beide Darstellungen spiegeln nicht nur die perspektivischen Eigenheiten ihrer jeweiligen „heimischen“ Systeme wider, sondern auch bestimmte Momente in der jüngsten Geschichte dieser Systeme. Die Analyse Packers erscheint heute merkwürdig veraltet und erschien zu einer Zeit, als die verfassungsrechtliche Revolution des U. S. Supreme Court im Strafverfahren noch im vollen Gang war und auch das materielle Strafrecht im Zuge des Model Penal Code einen neuen 198 Im Falle von Packers Ansatz könnte man die Unterscheidung zwischen dem „Crime Control“-Modell und dem „Due Process“-Modell des „Strafprozesses“ als einen besonderen Fall der grundlegenderen und historisch begründeten Unterscheidung zwischen Polizei und Recht als Herrschaftsmechanismen behandeln, insofern als sie auf die amerikanische Strafrechtspflege und insbesondere auf das amerikanische Strafprozessrecht in der späten Warren Court-Ära beschränkt ist. Andererseits könnte man Packers Unterscheidung insofern als Artikulation zweier Aspekte des Rechtsmodells betrachten, als sie davon ausgeht, dass die Schadenszufügung gegenüber einem einzelnen Tatopfer das paradigmatische Verbrechen ist, das minimiert, wenn nicht gar ausgerottet werden soll („Crime Control“-Modell) oder dessen mutmaßlicher Täter fair beurteilt werden soll („Due Process“-Modell). 199 Siehe Teil I.

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Anfang machte. Packers Buch erschien 1968. Im selben Jahr offenbarte Präsident Richard Nixon seine Vision von einem Strafregime, das durch den Krieg zwischen „den Friedenskräfte“ gegen „die kriminellen Kräfte“, „den Feind im Inneren“, gekennzeichnet ist.200 Bald begann der Supreme Court, seine verfassungsrechtliche Strafverfahrensreform zurückzufahren, die auf dem Model Penal Code basierende Reform des kalifornischen Strafgesetzbuches, für die Packer eintrat, war gescheitert, und der Krieg gegen das Verbrechen hatte begonnen. Das Vertrauen Packers in den Triumph des „Due Process“-Modell über das „Crime Control“-Modell erwies sich als falsch; das „Due Process“-Modell überlebt heute als Erinnerung an eine rosigere, unschuldigere Ära, und das „Crime Control“-Modell erscheint als eine bescheidene, fast rührselige Version des kommenden jahrzehntelangen Strafpolizeiregimes, dessen Radikalität sich niemand, weder Packer noch Nixon, hätte vorstellen können.201 Das „Due Process“-Modell von Packer war eng mit der damaligen Verfassungsrechtsprechung des U. S. Supreme Court verbunden, die das materielle Strafrecht auf Kosten einer fast ausschließlichen Fokussierung auf die Entwicklung eines verfassungsrechtlichen Strafprozessrechts ignorierte.202 Kurz darauf begann das Gericht, diese „Strafprozessrevolution“ zu untergraben, die sich als bedeutungslos erwies, als es darauf ankam, dem War on Crime spürbare verfassungsrechtliche Hindernisse in den Weg zu stellen. Heute ist diese inzwischen 50 Jahre alte Rechtsprechung für den Aufbau einer umfassenden liberalen Darstellung des staatlichen Strafens in den Vereinigten Staaten oder anderswo wenig hilfreich. Packer produzierte eine solche Darstellung nicht selbst, weil es dazu keinen Anlass gab; angesichts der dominanten Rolle des U. S. Supreme Court in der amerikanischen Rechtslandschaft reichte eine Besprechung der damaligen Jurisprudenz des Supreme Court völlig aus. Und doch behält Packers dualistische Analyse auch heute noch ihre Bedeutung. Das allgemeine Projekt der Entwicklung einer dualistischen Analyse, die aus zwei parallelen umfassenden Darstellungen eines Strafrechtssystems (Definition – Verhängung – Zufügung) und nicht aus einem einzigen Modell mit gelegentlichen Ausnahmen besteht, bleibt eine vielversprechende Strategie für eine differenzierte kritische Analyse, insbesondere wenn die alternativen Paradigmen auch konzeptionell und historisch in einem breiteren Konzept der Staatsmacht begründet werden können.

200

Richard Nixon, Toward Freedom from Fear, in: Congressional Record 114 (13. Mai 1968), S. 12936, 12937. 201 Im Jahr 1968 war die Inhaftierungsquote 94/100.000, bei insgesamt 180.000 Inhaftierten; in 2007 war sie 506/100.000, bei 1,4 Millionen. Siehe Incarceration Rate of Inmates Incarcerated Under State and Federal Jurisdiction per 100,000 Population 1925–2014. 202 Siehe Markus D. Dubber, Toward a Constitutional Law of Crime and Punishment, in: Hastings L. J. 55 (2004), S. 509.

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Darüber hinaus wäre die Berücksichtigung möglicher verfassungsrechtlicher Einschränkungen sicherlich Teil jeder kritischen Analyse des Strafrechts in einer modernen liberalen Demokratie. Die Erforschung von verfassungsrechtlichen Prinzipien sollte sich jedoch nicht damit begnügen, die Rechtsprechung des Obersten Gerichtes darzustellen, die die anstehende Frage nicht angehen mag (im Falle des materiellen Strafrechts, zu Packers Zeiten) oder, wenn sie dies tut, unerwartete (und unwillkommene) Wendungen nehmen kann (im Falle des Strafverfahrens). Es gilt, mit Hilfe historischer und vergleichender Analysen einen normativen Blickwinkel zu entwickeln, von dem aus das Strafsystem – einschließlich der einschlägigen Verfassungsrechtsprechung – einer kritischen Analyse unterzogen werden kann. So hat beispielsweise die Rechtsprechung des U. S. Supreme Court im Bereich der LGBTQ-Rechte eine grundlegende Vorstellung von der Person als Subjekt-­ Objekt der staatlichen Macht mit der Fähigkeit zur Autonomie entwickelt, die Auswirkungen auf verfassungsrechtliche Beschränkungen der Strafmacht des Staates haben kann.203 Das Bundesverfassungsgericht hat eine ähnliche, auf Autonomie basierende Auffassung von der Person unter staatlicher Gewalt anerkannt.204 Hier könnte eine vergleichende Analyse auch den deutschen Strafrechtsdiskurs stützen, der – wie bereits erwähnt – dem Verfassungsrecht bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat.205 Während die amerikanische Verfassungsrechtsprechung die dualistische Analyse des amerikanischen Strafrechts durch Packer vorantrieb, spielt sie in Jakobs’ dualistischer Analyse des deutschen Strafrechtssystems keine nennenswerte Rolle. Das ist in der deutschen Strafrechtswissenschaft nicht ungewöhnlich. Allgemeine Strafrechtsgrundsätze werden nach einer speziell strafrechtswissenschaftlichen Prüfung bekannt gegeben, oder genauer gesagt entdeckt. Erst in jüngster Zeit haben Strafrechtswissenschaftler, wenn auch gelegentlich etwas widerwillig und halbherzig, begonnen, den durch unabhängige strafrechtswissenschaftliche Leistungen entdeckten Prinzipien und Dogmen verfassungsmäßige Grundlagen zuzuordnen. Diese Ex-post-Konstitutionalisierungsstrategie hat sich als wirkungslos erwiesen, da das Bundesverfassungsgericht – wie wir gesehen haben – die Einladung abgelehnt hat, den Entdeckungen der Strafrechtswissenschaft im verfassungsrechtlichen Bereich eine besondere Bedeutung beizumessen.206 Es 203

Ebd. (mit Diskussion von Lawrence v. Texas, 539 U. S. 558 [2003]); siehe auch Obergefell v. Hodges, 576 U. S. (2015). 204 Siehe Tatjana Hörnle, Die verfassungsrechtliche Begründung des Schuldprinzips, in: Gerhard Dannecker u. a. (Hrsg.), Strafrecht und Wirtschaftsstrafrecht: Dogmatik, Rechtsvergleich, Rechtstatsachen. Festschrift für Klaus Tiedemann zum 70. Geburtstag, 2008, S. 325. Der kanadische Supreme Court hat seine Bereitschaft bekundet, zu untersuchen, ob eine ähnliche Konzeption sinnvolle Verfassungsgrundsätze für das Strafrecht hervorbringen könnte. Siehe z. B. R. v. Swain, [1991] 1 SCR 933 („principles of fundamental justice contemplate an accusatorial and adversarial system of criminal justice which is founded on respect for the autonomy and dignity of human beings“). 205 Siehe Teil I. 206 BVerfGE 120, 224 (von 2008); siehe allgemein Markus D. Dubber, Policing Morality: Constitutional Law and the Criminalization of Incest, in: U. Toronto L. J. 61 (2011), S. 737.

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wäre überraschend, wenn in einer liberalen Demokratie eine Untersuchung der Grundlagen und Einschränkungen der staatlichen Strafmacht qua Recht ohne eine Auseinandersetzung mit dem Verfassungsrecht auskommen könnte. Die dualistische Analyse von Jakobs scheint dazu bestimmt gewesen zu sein, die deutsche Strafrechtswissenschaft  – und ihre Satellitensysteme in anderen Ländern, insbesondere in Spanien, Lateinamerika und Teilen Asiens  – in ihrer Selbstzufriedenheit zu erschüttern. Für unsere Zwecke bestätigt sie eindrucksvoll das komparative Potenzial unseres Projekts der kritischen Analyse. Auf Grund seines Rufs als führender deutscher Strafrechtsdogmatiker und -theoretiker kann Jakobs’ Diagnose einer grundlegenden Unterscheidung zwischen Bürgerstrafrecht und Feindstrafrecht im deutschen Strafrecht schlecht abgetan werden als das Ergebnis der Auferlegung eines dualistischen Analyserahmens auf ein einheitliches System durch einen außenstehenden nicht-Experten. Konkreter, und kontroverser, vertritt Jakobs die Auffassung, dass es ein paralleles Strafrechtssystem jenseits der gewöhnlichen Grenzen des Rechtsstaates gibt, anstatt eines Strafrechtssystems mit isolierten und vielleicht bedauerlichen Ausnahmen, die jedoch das entschlossene gemeinschaftliche Engagement der deutschen Strafrechtswissenschaft für ein einziges liberales Strafrecht nicht in Frage stellen können.207 Durch die Unterscheidung an der Grenze zur Staatsbürgerschaft leistet Jakobs auch einen hilfreichen Beitrag zu Debatten über explizit staatsbürgerschafts­ bezogene Strafrechtsvorstellungen jenseits der traditionellen deutschen Strafrechtslehre, die – so Jakobs – mit einer impliziten Vorstellung vom Täter als Bürger operiert. In Jakobs’ dualistischer Analyse ist es nicht mehr gut möglich, eine explizit – oder auch implizit – staatsbürgerbezogene Strafrechtstheorie zu betreiben, die Behandlung von Nichtbürgern (ob sie nun als Ausländer, Fremde, Außenstehende oder, in Jakobs’ Sinne, als Feinde bezeichnet werden) als marginale Ausnahmen abtut. Jakobs besteht darauf, dass eine staatsbürgerschaftsbasierte Darstellung des Strafrechts von einer Beschreibung eines konträren Strafrechtssystems für Nichtstaatsbürger (oder um es affirmativ, und unbequemer, zu formulieren, für Ausländer oder Feinde) begleitet wird. Jedenfalls wäre ohne Jakobs’ Insider-Expertenbericht208 der bloße Vorschlag einer vergleichenden Analyse des amerikanischen und deutschen Strafrechtssystems als duales Strafregime als unangemessen abgetan worden. Natürlich mag sich

207

Jakobs scheint allerdings nicht so weit zu gehen, das Feindesparadigma ganz aus dem Bereich des Rechts zu entfernen; sogar Feindstrafrecht bleibt Recht. Siehe allgemein Markus D. Dubber, Guerra y Paz: Derecho penal del enemigo el modelo de Potestad Policial del Derecho penal estadounidense, in: Cancio Meliá / Gómez-Jara Díez (Hrsg.), Derecho penal del en-emigo: El discurso penal de la exclusion, Bd. 1, 2006, S. 685. 208 Jakobs geht hier fast à la manière de Hartung (anno 1954) im Badewannenfall vor, allerdings wesentlich kritischer und ohne das Element der Selbstrechtfertigung. Siehe oben Kapitel 2, Abschnitt D. Siehe auch den pseudonymen Artikel (von „Detlef Deal aus Mauschelhausen“), der 1982 die deutsche Absprachenpraxis entblößte, Kapitel 4, Abschnitt F.

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Kap. 4: Strafrecht und Strafpolizei im doppelten Strafstaat  

herausstellen, dass sich das amerikanische und das deutsche Strafregime in vielerlei Hinsicht unterscheiden; es wäre sogar merkwürdig, wenn sie es nicht täten, da es erhebliche Unterschiede in ihrer allgemeinen rechtlich-politischen Entwicklung gibt. Aber Jakobs’ Arbeit deutet darauf hin, dass diese Unterschiede fruchtbar einer vergleichenden Analyse unterzogen werden könnten. Die Projekte der dualistischen Analyse von Packer und Jakobs helfen nicht nur, die Besonderheiten und Ziele der in diesem Buch verfolgten kritischen Analyse des doppelten Strafstaates deutlicher darzustellen und insbesondere das Potenzial einer vergleichenden Analyse anzudeuten. Sie werfen auch beide die Frage nach dem Verhältnis und der relativen Bedeutung deskriptiver und normativer Aspekte einer dualistischen Form der kritischen Analyse auf. Sowohl Packer als auch ­Jakobs nahmen eine Pose des normativen Disengagements ein und erklärten ein lediglich deskriptives Interesse bei ihrer Untersuchung. Packer äußerte keine Präferenz für das „Due-Process“-Modell gegenüber dem „Crime Control“-Modell; es war lediglich eine Tatsache, dass erstere das letztere ersetzte (bzw. es damals so schien). Dennoch ist es deutlich genug, dass Packer diese Entwicklung begrüßt hat. Jakobs schien zumindest anfangs nur die Existenz zweier Arten von (deutschem) Strafrecht zu dokumentieren. Später schien er sich jedoch weiter in die Richtung einer normativen Position zu bewegen, jedenfalls in den Augen seiner lautstarken Kritiker. Ich habe deutlich gemacht, dass das doppelte Strafstaatsprojekt sowohl eine deskriptive als auch eine normative Agenda verfolgt. Es ist schließlich eine Ausübung der kritischen Analyse und nicht nur der Analyse (selbst unter der Prämisse, dass eine nicht-normative Analyse möglich wäre). Genauer gesagt handelt es sich um eine kritische Analyse des Strafrechts. Das normative Verständnis von Recht, das ich als charakteristisch für das rechtlich-politische Projekt in den westlichen liberalen Demokratien betrachte, lädt zur normativen Untersuchung ein. Tatsächlich wurde der moderne Rechtsbegriff entwickelt bzw. postuliert, gerade um eine kritische Funktion zu erfüllen: um die Legitimität der Staatsmacht zu kritisieren, die – insbesondere – die staatliche Strafmacht beinhaltet. Die Frage ist daher nicht, wo und wann Recht „besser“ oder „legitimer“ ist als Polizei. Stattdessen stellt sich die Frage, ob und wenn ja, wie die Strafmacht des Staates unter Anwendung der normativen Instrumente des modernen Rechts legitimiert werden kann. Ist legitimes Strafrecht in einem liberalen Staat möglich? Wenn ja, wie würde ein liberales Konzept des Strafrechts aussehen? Wir wenden uns nun in Teil III der Frage zu, wie Staaten, die sich als Teilnehmer an dem modernen rechtlich-politischen Projekt betrachten, insbesondere die Vereinigten Staaten und Deutschland, diese wesentliche legitimatorische Herausforderung formuliert und angegangen haben – oder auch nicht.

Teil III

Amerikanisches Strafen zwischen Recht und Polizei: Eine kritische Genealogie

Kapitel 5

Amerikas interner Sonderweg Ausgehend von der Unterscheidung zwischen Recht und Polizei als Herrschaftsmechanismen, formulierte Teil II die Herausforderung an die legitime staatliche Strafmacht der westlichen liberalen Demokratien. Teil III betrachtet nun verschiedene Reaktionen auf diese Herausforderung in den rechtlich-politischen Systemen, die sich im Allgemeinen dem liberalen Projekt verpflichtet fühlen. Anstatt zu versuchen, eine parallele vergleichende Genealogie mehrerer Strafrechtssysteme zu betreiben, werden wir uns auf eines, das US-amerikanische, konzentrieren und gegebenenfalls vergleichende Blicke auf andere, insbesondere das deutsche, werfen, die hoffentlich aufschlussreich sein werden. Die grundsätzliche Legitimationsfrage der Staatsmacht im Allgemeinen und der staatlichen Strafmacht im Besonderen lässt sich wie folgt darstellen. Die umfassende kritische Neukonzeption des Rechts als personenbezogene Form der staatlichen Herrschaft, die auf dem Begriff der Autonomie aufbaut, erforderte eine personenbezogene Neukonzeption des Strafens als Strafrecht, die sich auf die Identifizierung von Opfer und Täter als Personen stützt, und nicht auf die radikale Unterscheidung zwischen Opfer und Täter als souveräner Hausvater und ungehorsamer Majestätsbeleidiger. Die Herausforderung eines liberalen Strafrechts kommt in dem strafrechtlichen Paradoxon zum Ausdruck, wonach der Eingriff des Staates in die Autonomie seiner konstituierenden Subjekt-Objekte (als Personen) durch Strafgewalt gegenüber diesen Subjekt-Objekten im Einklang mit ihrer Fähigkeit zur Autonomie (als Personen), begründet werden muss. Es werden zwei Antworten auf die Herausforderung der legitimen staatlichen Strafmacht unterschieden. Auf der einen Seite ist das Versäumnis, die Herausforderung zu erkennen, geschweige denn sie zu formulieren, und daher, was nicht überraschend ist, das Versäumnis, sie zu bewältigen. Diese Nicht-Antwort wird durch das rechtlich-politische Projekt der USA veranschaulicht. Das Scheitern der Neukonzeption des staatlichen Strafens nach der grundlegenden Kritik der amerikanischen Revolution an der Staatsmacht bedeutet, dass das britische Strafregime die Revolution in der Neuen Welt weitgehend intakt überlebt hat. Das amerikanische Strafregime spiegelt weiterhin die gleiche Auffassung von staatlicher Strafmacht wider, die das englische Strafsystem durch die gesamte englische rechtlich-politische Geschichte geprägt und vorangetrieben hat, hier verstanden als die Errichtung und Verbreitung des Friedens des Königs (King’s peace) im gesamten Königreich. Der Unterschied zwischen dem amerikanischen und dem englischen Narrativ ist natür-

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Kap. 5: Amerikas interner Sonderweg 

lich die amerikanische Revolution: Es gab einen grundlegenden Moment in der modernen amerikanischen rechtlich-politischen Geschichte, der die Staatsmacht einer radikalen Kritik unterzog, auch wenn dieser (allgemeine kritische) Moment an der Strafmacht des Staates vorbeiging. Hierin besteht der interne Sonderweg des amerikanischen Strafstaates.1 In den Vereinigten Staaten wurde die Strafmacht des Staates traditionell als eine – und nicht besonders problematische – Manifestation der diskretionären und im Wesentlichen undefinierbaren Polizeimacht (police power) des Staates angesehen, die in dem uralten Modell der heteronomen Haushaltsherrschaft verwurzelt ist, das die personenbezogene Kritik der Aufklärung als alegitim angegriffen hat. Das amerikanische Strafen bleibt mit anderen Worten weitgehend ein zentrales Merkmal des Polizeistaats, nicht des Rechtsstaats, und zwar nicht (einmal) in der Theorie oder im Programm, sondern in der durch desinteressierte Trägheit gekennzeichneten institutionellen Praxis. Das soll nicht heißen, dass es dem amerikanischen Strafregime völlig an Eigenschaften mangelt, die als Ausdruck einer rechtlichen und nicht (bloß) einer polizeilichen Auffassung des Strafens verstanden werden könnten. Diese rechtlichen Merkmale rühren allerdings ebenso wenig von einer systematischen und umfassenden Kritik der staatlichen Strafmacht im Lichte der modernen liberalen Rechtsauffassung her, wie ihre polizeilichen Merkmale auf einer systematischen und umfassenden Analyse aus der Perspektive der Strafpolizei (als Ausübung einer Polizeimacht ohne Polizeiwissenschaft) basieren.2 Andererseits findet sich in Kontinentaleuropa und insbesondere in Deutschland sowohl die Erkenntnis als auch die Formulierung der Aufklärungsforderung nach der Legitimität aller staatlichen Macht und insbesondere der staatlichen Strafmacht (Beccaria, Kant, Feuerbach etc.). In einer Zeit intensivster aufklärerischen Kritik an der orthodoxen Moral und Politik, im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, wurde nicht nur die Frage nach der Legitimität der staatlichen Strafmacht gestellt, sondern auch versucht, diese zu beantworten, zumindest theoretisch. Allerdings haben wir auch gesehen, dass die häufig gepriesenen, aber offensichtlich seltener geprüften Grundlagentexte des liberalen Strafprojekts eine erschreckende Akzeptanz radikaler Objektivierung − strafrechtliche Sklaverei − teilen, die dieses Projekt von Anfang an untergraben haben mag. Weniger dramatisch: Wenn man über das deutsche Strafrecht hinwegsieht und einen (internen) vergleichenden Blick auf das deutsche Staatsrecht des 19. Jahrhunderts wirft, findet man Robert Mohl, eine zentrale Figur im Übergang von der Polizeiwissenschaft zu ihrer legalisierten Version, dem Verwaltungsrecht, der wie selbstverständlich das Strafrecht – zusammen mit der „zwingenden Kraft“ – der „Polizeigewalt“ des Staates zuweist.3 1

Im Gegensatz zu einem externen Sonderweg, der die USA als Ausnahme von globalen – oder zumindest liberalen – Normen staatlichen Strafens betrachtet. Hierzu, siehe die Einleitung. 2 Über die USA als Land der Polizeimacht ohne Polizeiwissenschaft siehe Markus D. Dubber, The Police Power: Patriarchy and the Foundations of American Government, 2005. 3 Robert Mohl, Die Polizei-Wissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaates, Bd. 2, 1833, S. 404.

Kap. 5: Amerikas interner Sonderweg 

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Deutsche Strafrechtswissenschaftler mögen heute bei diesem Gedanken schaudern und einen fundamentalen Kategorienfehler diagnostizieren, nachdem die deutsche Strafrechtswissenschaft zwei Jahrhunderte damit verbracht hatte, „Polizeidelikte“ kategorisch von „echten“ Straftaten zu unterscheiden (um sodann im Allgemeinen erstere als de minimis, sozusagen unter der Würde des Strafrechts und seiner Wissenschaft, zu ignorieren). Auf jeden Fall bleibt die Frage bestehen, ob nach dieser ersten Aufwallung der theoretischen Aktivität während der langen Wende des 19. Jahrhunderts das Projekt der kritischen Analyse der staatlichen Strafmacht fortgesetzt wurde, nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch bei der Gestaltung, Überprüfung und Entwicklung aller Aspekte des Strafsystems. Und in der Tat haben wir insbesondere mit Blick auf Deutschland gesehen, dass sich die Aufmerksamkeit, sobald die kritische Herausforderung einmal formuliert und theoretisch „gelöst“ war, in Richtung anderer pragmatischer Fragen verlagert hat. Man denke hier an den systematischen Aufbau eines weitverzweigten und mächtigen (preußischen) Staates mit dem dazugehörigen Strafgesetzbuch, der dann zu einem Nationalstaat erweitert wurde, mit dem dazugehörigen nationalen Straf­gesetzbuch (das unmittelbar nach der Gründung des Deutschen Reiches 1871 erlassen wurde). Letzteres ging einher mit der Produktion eines immer dichteren Netzes strafrechtlicher Doktrinen, die sich seither lose um die spärlichen Bestimmungen des Strafgesetzbuches drehen und fortlaufend von einer sich als positivistisch darstellenden Strafrechtswissenschaft produziert werden, die nicht durch den Drang angetrieben wird, die Legitimität staatlicher Strafmacht (die vorausgesetzt wird) zu prüfen, sondern durch den Wunsch, dogmatische Lücken zu identifizieren und zu füllen. Dies geschieht mit Hilfe eines vielschichtigen wissenschaftlichen In­strumentariums, das neben dem rechtlichen Positivismus auch Formalismus, Ontologie und Phänomenologie umfasst. Letztendlich stellt sich also die Frage, ob die Herausforderung der legitimen Strafmacht zwar theoretisch gestellt und angegangen, aber dann faktisch ignoriert wurde, und vielleicht gerade aus diesem Grund. Nachdem wir uns zuvor mit der Frage beschäftigt hatten, wie (und ob überhaupt) das strafrechtliche Paradoxon im deutschen Strafrecht und insbesondere in der deutschen Strafrechtswissenschaft formuliert und thematisiert wurde, wenden wir uns nun dem amerikanischen rechtlich-politischen Projekt zu und greifen dabei auf den in Teil II dargelegten und illustrierten dualistischen Ansatz zur kritischen Analyse der staatlichen Strafmacht zurück. Die Denker und Macher der amerikanischen Gründergeneration zeigten wenig Interesse an der Strafmacht als Problem des legitimen staatlichen Handelns. Stattdessen nahmen sie die Befugnis zur Bestrafung als selbstverständlich hin, als einen offensichtlichen Aspekt der allumfassenden Befugnis der Staaten, ihre inneren Angelegenheiten zu regeln. Die Federalist Papers, „der beste Kommentar über Regierungsprinzipien, der jemals geschrieben wurde“ (Thomas J­ efferson), widmen den Fragen der Strafherrschaft kaum Aufmerksamkeit. Wenn das Thema

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angesprochen wird, dreht sich die Diskussion um die Notwendigkeit der Ausübung der Strafmacht, nicht um ihre Grenzen oder der Infragestellung ihrer Legitimation. Es war selbstverständlich, oder besser gesagt, es wurde einfach so behauptet, dass „Strafen oder Bestrafung für Ungehorsam“4 erforderlich sei, um „das ordnungswidrige Verhalten von widerspenstigen oder aufständischen Individuen“ zu bewältigen.5 Die noch junge New Republic, so Alexander Hamilton, würde eine „energische“ Regierung benötigen, um die zu erwartenden „Aufruhre und Aufstände“ zu unterdrücken, „die unglücklicherweise Krankheiten sind, die so untrennbar mit dem politischen Körper verbunden sind wie Tumore und Eruptionen mit dem natürlichen Körper.“6 Wenn die Strafmacht die Aufmerksamkeit der Revolutionäre bzw. (ehem.) verräterischen Staatsgründer auf sich zog, so war es in Form der Strafpolizei, um die Souveränität des Staates gegen Straftaten des „Ungehorsams“ zu bekräftigen, wobei der Staat als paradigmatisches Opfer von Straftaten positioniert wurde und die Bestrafung als Behandlung von „Krankheiten“, die das Wohlergehen der „Körperpolitik“ betrafen, erschien. Es gab keine neue revolutionäre, republikanische Theorie des Strafrechts, kein amerikanisches Strafrecht, das die tief hierarchische und vorkonstitutionelle Natur des englischen Strafens zugunsten aufgeklärter oder zumindest revolutionärer Gerechtigkeitsprinzipien aufgab. Das amerikanische Strafen blieb stattdessen ein Überbleibsel eines patriarchalischen Strafsystems, in dem der Souverän abtrünnige Mitglieder seines Staatshaushalts diszipliniert, wenn und wie er es für richtig hält, ohne spürbare Einschränkungen seines punitiven Ermessens. Es gab keinen amerikanischen Beccaria, keinen amerikanischen Bentham, keinen amerikanischen Feuerbach. Ohne eigene Ideen, Expertise oder scheinbar sogar Interesse, neigten die Amerikaner, falls sie sich zu grundlegenden Fragen der staatlichen Bestrafung äußerten, was selten genug passierte, dazu, Beccaria zu zitieren, das heißt, sie taten genau das, was William Blackstone einige Jahre zuvor in seinen, auch in Amerika noch lange einflussreichen Commentaries on the Laws of England (1769) getan hatte.7 Während es gelegentlich Forderungen nach einer 4

Federalist No. 15 (Hamilton), in The Federalist Papers, hrsg. von Clinton Rossiter, 1999, S. 73, 78; Federalist No. 21 (Hamilton), ebd., S. 106. In gewisser Weise ist es nicht überraschend, in den Federalist Papers keine Behandlung der Strafmacht zu finden, weil die Strafmacht in den USA (vor allem) eine Sache der Bundesstaaten ist, zumindest de jure. Und zwar deshalb, weil die Strafmacht von der souveränen Polizeimacht (power power) ausgeht, die den Bundesstaaten vorbehalten bleiben musste, damit diese ihre Souveränität gegenüber der Bundesregierung behalten konnten. Dennoch bieten die Federalist Papers die umfassendste Untersuchung grundlegender Fragen der amerikanischen Rechts- und Staatsordnung zur Gründungszeit. Kritische Analysen der Legitimität staatlicher Bestrafung im Lichte des revolutionären Bekenntnisses zur Autonomie fehlen nicht nur in den Federalist Papers, sondern auch in anderen Diskussionen über die Grenzen und Gründe staatlicher Macht, sei es auf Bundesoder Bundesstaatsebene. 5 Federalist No. 16 (Hamilton), ebd., S. 81, 85. 6 Federalist No. 1 (Hamilton), ebd., S. 1, 3; Federalist No. 28 (Hamilton), ebd., S. 146, 146. 7 Siehe Simon Stern, Blackstone’s Criminal Law: Common-Law Harmonization and Legislative Reform (1769), in: Markus D. Dubber (Hrsg.), Foundational Texts in Modern Cri-

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Strafrechtsreform gab, gingen diese selten über die vage Aufforderung hinaus, über den berüchtigten (und bereits von uns behandelten) englischen „Bloody Code“ hinwegzukommen. Die tatsächlichen Gesetzesänderungen beschränkten sich weitgehend auf die Reduzierung der Zahl der Kapitalverbrechen (von etwa 180 auf ein Dutzend oder eine Handvoll, je nach Bundesstaat) und den Bau von Gefängnissen zur Aufnahme u. a. der Häftlinge, deren Leben dadurch verschont blieb. Es wurde nie eine umfassende Vision eines republikanischen Strafrechts entworfen. Selbst Vorschläge zur Einschränkung, wenn auch nicht zur Beseitigung, der Todesstrafe wurden nicht mit den politischen Idealen der amerikanischen Revolution in Verbindung gebracht. Sie waren unoriginell, arepublikanisch und letztlich apolitisch. Sie fügten den Ideen oder den Reformvorschlägen, die in Europa – auch in England selbst  – seit mindestens der Mitte des 18. Jahrhunderts, wenn nicht schon lange zuvor, im Umlauf waren, nichts hinzu. Die eine Bestimmung in der Bill of Rights, die sich explizit mit dem Problem der Bestrafung befasste, das Verbot des Achten Zusatzartikels zur US-amerikanischen Verfassung von „grausamen und ungewöhnlichen Bestrafungen“ (cruel and unusual punishments) spiegelte keine umfassende originäre Neubewertung der Legitimität und Grenzen der Strafmacht des Staates im Lichte revolutionärer Prinzipien wider. Im Gegenteil, sie stammte aus der englischen Bill of Rights von 1689,8 die wiederum auf der Magna Charta von 1215 basierte.9 Sie wurde ohne Debatte angenommen und dann regelmäßig als konstitutionelle Standardformulierung in den Verfassungen der Bundesstaaten kopiert. Gelegentliche Zitate aus Beccarias Bestseller Dei delitti e delle pene von 1764, der bald in mehreren englischen Übersetzungen erschien, boten kaum mehr als einen dünnen konzeptionellen Anstrich für die wenigen und bemerkenswert einfallslosen Schriften, die dem staatlichen Strafen gewidmet waren.10 Keine Anstrengungen wurden unternommen, Beccarias Abschreckungstheorie der Strafe mit republikanischen Prinzipien zu verbinden. Es wurde nicht vorgeschlagen, dass seine Ansichten zum staatlichen Strafen besonders gut für das neue politische Projekt, das auf der Idee der persönlichen Autonomie basiert, geeignet wären (oder minal Law, 2014, S. 61, 69–74; bezüglich Jeffersons Beccaria-Zitaten, siehe Thomas Jefferson, Papers, hrsg. von Julian P. Boyd u. a., Bd. 2, 1950, S. 505. 8 Siehe Anthony F. Granucci, „Nor Cruel and Unusual Punishments Inflicted“: The Original Meaning, in: Cal. L. Rev. 57 (1969), S. 839. Der achte Zusatzartikel war nicht die einzige Bestimmung der Bill of Rights, die ohne Debatte angenommen wurde. Siehe Leonard Levy, Origins of the Fifth Amendment: The Right Against Self-Incrimination, 1968, S. 411. 9 Magna Charta, Kap. 20; siehe auch ebd., Kapitel 21–22. Zum ius commune siehe R. H.  Helmholz, Magna Carta and the ius commune, in: U.  Chi. L.  Rev. 66 (1999), S. 297, 326–327. 10 Siehe z. B. William Bradford, An Enquiry How Far the Punishment of Death Is Necessary in Pennsylvania, 1793, S. 3 (Beccaria und Montesquieu); siehe auch Annual Report of the Inspectors of the Philadelphia County Prison, Made to the Legislature, 1791, S. 54 (Beccaria); siehe allgemein Paul Spurlin, Beccaria’s Essay on Crimes and Punishments in EighteenthCentury America, in: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 27 (1963), S. 1489.

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auch nicht). In Europa war die Legitimität der Abschreckungsstrafe zumindest eine offene Frage; Kant und später Hegel betrachteten den Ansatz von Beccaria als radikal unvereinbar mit dem Respekt vor der Person des Täters, der dem legitimen Staat zugrunde liegt. In Hegels vertrautem Ausspruch ist die Rechtfertigung der Abschreckungsstrafe so, „als wenn man gegen einen Hund den Stock erhebt, und der Mensch wird nicht nach seiner Ehre und Freiheit, sondern wie ein Hund behandelt“.11 Beccaria selbst, das ist erwähnenswert, interessierte sich nicht für das Recht als solches; er war ein politischer Ökonom – in seinem Fall, eine Mischung aus Polizeiwissenschaftler und Proto-Kriminologe – und näherte sich dem Problem der Strafverwaltung aus einer polizeilichen Perspektive. In „Von den Verbrechen und von den Strafen“ kritisiert er die staatliche Strafe in Bezug auf Effizienz, nicht Gerechtigkeit und schon gar nicht in Bezug auf Rechte. Sein nachhaltiger Beitrag ist also keine Theorie der strafrechtlichen Gerechtigkeit, sondern ein Argument zur Wirksamkeit der strafrechtlichen Abschreckung: dass die Gewissheit der Bestrafung ein wirksameres Abschreckungsmittel ist als ihre Härte. Beccarias Pamphlet stellt dementsprechend die wichtigste und sicherlich am weitesten verbreitete Umsetzung der Polizeiwissenschaft auf die Frage der staatlichen Bestrafung dar. Es versuchte, die staatliche Strafe ebenso zu rationalisieren wie die Polizeiwissenschaft, und die politische Ökonomie, versuchte, alle staatlichen Handlungen zu rationalisieren. (Beccarias Essay kann so als eine frühere, wesentlich kürzere und bescheidenere Beilage zu Adam Smiths The Wealth of Nations (1776) angesehen werden, das eine umfassende Darstellung der poli­tischen Ökonomie bot, ohne sich allerdings mit der Strafherrschaft zu befassen.12) Ihr ursprünglicher Beitrag bestand darin, die Herausforderung der staatlichen Bestrafung als Ausübung staatlicher Macht anzuerkennen, die eine polizeiliche oder „ökonomische“ Analyse erforderte. Die staatliche Bestrafung bedurfte keiner Legitimation, weil sie kein Problem der Gerechtigkeit aufwarf; es gab jedoch keinen Grund, warum sie nicht den gleichen polizeiwissenschaftlichen Prinzipien unterworfen werden sollte, die die gesamte Herrschaft des Staatshaushalts regelten. Keiner der amerikanischen Gründerväter zeigte ernsthaftes Interesse daran, das Manifest von Beccaria in eine umfassende Darstellung des staatlichen Strafens als polizeiliche Angelegenheit zu verwandeln. Stattdessen begnügten sie sich damit, das Pamphlet von Beccaria zu zitieren und zu loben und die Bestrafung als Ausübung der Polizeimacht (police power) zu etikettieren.

11

G. W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821 (eigentlich 1820), § 99 Zusatz. 12 Adam Smith, Lectures on Justice, Police, Revenue and Arms [Lectures on Jurisprudence], 1763. Über den Polizeibegriff in diesen breit angelegten Vorlesungen über politische Ökonomie, die Smith vor der Veröffentlichung von The Wealth of Nations in Glasgow gehalten hat, siehe Dubber, The Police Power (Fn. 2), S. 63–65.

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Im Gegensatz dazu widmete Jeremy Bentham auf der anderen Seite des Atlantiks seine ganze Karriere der Operationalisierung und buchstäblichen Kodifizierung des Ansatzes von Beccaria, indem er Beccarias Formel „das größte Glück der größten Zahl“ auf jede denkbare Frage von Moral und Politik, einschließlich der Strafmacht, anwandte. Bentham sah das staatliche Strafen, zusammen mit allen anderen Fragen der Herrschaft, als ein Problem der Polizei. Er hielt die Idee von Rechten für sinnlos und verhöhnte die amerikanische Unabhängigkeitserklärung. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Bentham kein großes Interesse daran hatte, eine Darstellung des Strafens als Recht zu entwerfen. Jedenfalls stießen seine Angebote, amerikanische Gesetzgeber mit vorgefertigten, rationalen, systematischen und umfassenden Kodifizierungen aller Aspekte eines staatlichen Strafsystems (vom materiellen Strafrecht über das Strafverfahren bis hin zum Strafvollzug) zu versorgen, auf taube Ohren. Einige Jahrzehnte später ging es Benthams amerikanischem Anhänger Edward Livingston nicht besser, obwohl „bestimmte Teile“ seines umfangreichen Entwurfs eines „Strafrechtssystems“ für Louisiana, bestehend aus „einem Gesetzbuch über Verbrechen und Strafen; einer Prozessordnung; einem Gesetzbuch zum Beweisrecht; ein Gesetzbuch zur Besserung und Gefängnisdisziplin und einer Definitionssammlung“, offenbar in Guatemala umgesetzt wurde.13 Die Amerikaner der Gründergeneration waren ebenso wenig daran interessiert, Beccarias Programm der Strafpolizei systematisch umzusetzen, wie sie ein revolutionäres Strafrechtssystem für die New Republic konstruieren wollten. Wie niemand Geringerer als Hegel betonte, gab es in Beccarias Darstellung immerhin vertragliche Aspekte, die die Zustimmung des Täters zu seiner Strafe als Partei des Sozialvertrages hervorhoben und die daher mit dem neuen amerikanischen poli­ eccarias tischen Bekenntnis zur Selbstbestimmung besser vereinbar waren als B Gesamtkonzept zum Problem der strafrechtlichen Herrschaft als Frage der politischen Ökonomie.14 Die Ansichten zur Bestrafung von Autoren wie John Locke, die das allgemeine Verständnis von Rechten und ihrem Verhältnis zur Staatsmacht prägten, das sich in der Unabhängigkeitserklärung und dem amerikanischen revolutionären Denken allgemein manifestierte, führten ebenfalls nicht zu einem grundlegenden Umdenken der staatlichen Strafmacht. Lockes Straftheorie – die er selbst eine „sehr eigenartige Doktrin“ nannte – ist von einer noch vordemokratischen und voraufklärerischen Auffassung von politischer Herrschaft geprägt (ganz gleich wie heftig Locke auch Robert Filmers altherkömmlichen Patriarchalismus angegriffen haben möge)15; sie stützte sich auf traditionelle Begriffe des Naturrechts und der Verwirkung von Naturrechten, die zu verschiedenen Graden der Ächtung führte. Den 13 Salmon P. Chase, Introduction, in: The Complete Works of Edward Livingston on Criminal Jurisprudence, Bd. 1, New York 1873, S. v, vii. 14 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (Fn. 11), § 100. 15 John Locke, Two Treatises of Government, hrsg. von Peter Laslett, 1988, 2. Treatise, § 9. Zu patriarchal-polizeilichen Aspekten in Lockes Schriften zur Strafe siehe Dubber, The Police Power (Fn. 2), S. 18–19, 46–48.

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noch enthielten Lockes Bemerkungen – insbesondere seine konsensuelle Theorie der Herrschaft, einschließlich des Rechts auf Revolution, auf das sich die Gründer nur allzu gerne berufen haben – sicherlich die Zutaten für den Aufbau einer Neukonzeption und Legitimation der staatlichen Bestrafung für die Neue Welt, wenn sich nur jemand die Mühe gemacht hätte, danach zu suchen.16 Die Amerikaner sahen die staatliche Bestrafung einfach nicht als eine grund­ legende oder besonders dringende Frage der Herrschaft an; sie betrachteten sie sogar überhaupt nicht als eine Frage der Herrschaft. Die staatliche Bestrafung warf in ihren Augen keine elementaren Fragen der Legitimität der Staatsmacht auf  – die Legitimität des Strafrechts stand außer Frage. Gleichzeitig warf die staatliche Bestrafung keine besonders beunruhigenden Fragen einer rationalen Ausübung der Staatsgewalt auf – die Wirksamkeit der Strafpolizei stand außer Frage. Infolge­dessen setzten sich die Amerikaner weder kritisch mit den wenigen Texten zur Strafe auseinander, die sie lasen oder zumindest zitierten (einschließlich Beccarias), noch untersuchten sie die Implikationen ihrer immer weiter verfeinerten (und veröffentlichten) Überlegungen zur Staatsmacht für die Legitimation der Bestrafung, noch machten sie sich daran, die Herausforderungen der Strafpolizei oder des Strafrechts völlig neu anzugehen. Die Vorschläge für eine Strafrechtsreform in der Early Republic haben es nicht nur versäumt, sich der Herausforderung der staatlichen Bestrafung zu stellen, sondern waren auch im begrenzten Rahmen ihren eigenen Ambitionen unoriginell und arepublikanisch. Sie waren auch, in einem grundlegenderen Sinne, apolitisch. Soweit die wegen Straftaten Verurteilten17 die Aufmerksamkeit der reformorientierten Amerikaner überhaupt auf sich zogen, wurden sie als Objekte des Mitleids und nicht als rechtliche Subjekte betrachtet. Religiöses Empfinden, nicht poli­tisches Prinzip, war letztendlich die treibende Kraft hinter jeglicher nennenswerter Reform. Magna Charta und Beccaria mögen in den Diskussionen über den Bloody Code erschienen sein; der wichtigste Antrieb für den Bau von Gefängnissen, die sichtbarste Veränderung des amerikanischen Strafrechts nach der Revolution, 16

Siehe z. B. Carlos Nino, A Consensual Theory of Punishment, in: Phil. & Pub. Affairs 12 (1983), S. 289; A. John Simmons, Locke and the Right to Punish, in: Phil. & Pub. Affairs 20 (1991), S. 311. 17 Im Gegensatz etwa zu strafrechtlich Verdächtigen, die verschiedene Verfahrensschutz­ bestimmungen in Anspruch nehmen konnten (siehe z. B. die Zusatzartikel IV–VI in der ­Federal Bill of Rights). Wie wir zuvor gesehen haben, waren diese Schutzmaßnahmen jedoch nicht weniger unoriginell, da sie ganz bewusst aus dem englischen Common Law übernommen wurden, als die überfällige Ausdehnung dieser uralten Rechte vom englischen Mutterland auf Amerikaner, denen diese Rechte von einem korrupten Monarchen, Parlament und / oder Kolonialbeamten verweigert worden waren. Hinzu kommt, dass die Herausforderung repub­ likanischer Bestrafung – und jeder andere Versuch einer legitimen Bestrafung – immer akuter wird, je weiter sich die Person durch den Strafprozess bewegt, vom Verdächtigen zum Angeklagten, zum Verurteilten, zum Häftling, zum Todeskandidaten, und entlang des Spektrums vom Gentleman-Revolutionär zum gemeinen Mörder (oder, um in der Sphäre des politischen Verbrechens zu bleiben, vom erfolgreichen zum erfolglosen Verräter). Über die (Nicht-) Rekonzeptualisierung des Verrats in der New Republic siehe Kapitel 6, Abschnitt A.

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war das christliche Mitgefühl und nicht der Gerechtigkeitssinn. Was es an amerikanischer Strafrechtsreform gab, war ein privater Akt christlicher Nächstenliebe und nicht eine öffentliche Erfüllung politischer Verpflichtungen. Es war keine Anerkennung der individuellen Rechte oder der Personalität des Täters oder der Prinzipien gleicher Gerechtigkeit, sondern entsprang dem Gedanken, dass jene elenden Geschöpfe, die den Versuchungen der Sünde erliegen oder (vor allem bei – einigen – Schuldnern) einfach in finanzielle Schwierigkeiten geraten waren, auch Kinder Gottes waren. Die zentrale Institution bei der Reform des amerikanischen Strafsystems im späten achtzehnten Jahrhundert war nicht der Staat, sondern die Philadelphia Society for Managing the Miseries of Public Prisons. Die Hauptvertreter der Reform waren weder Republikaner (oder Föderalisten) noch Whigs (oder Tories) – sie waren Quäker (und Mitglieder der Vereinigung anderer christlicher Konfessionen, einschließlich Unitariern und Methodisten); sie waren nicht mit politischen Parteien, sondern mit Kirchen verbunden. Die amerikanischen Revolutionäre, die die Geburt einer neuen amerikanischen political science auf der Grundlage des Ideals der Selbstbestimmung ankündigten, sahen die Strafe weiterhin als eine unproblematische Ausübung souveräner Macht über Missetäter, die buchstäblich der Gnade des Staates ausgeliefert waren. So hatten dieselben Revolutionäre, die unter dem Banner „keine Besteuerung ohne Vertretung“ (no taxation without representation) in den Krieg zogen, die sich gegen Rechtlosigkeit („outlawry“), Ächtung („attainder“) und Blutschande („corruption of blood“) des althergebrachten englischen Strafregimes auflehnten und ein Ächtungsverbot in der Bundesverfassung verankerten, keine Bedenken, Bestimmungen zur Entziehung des Wahlrechts für Straftäter beizubehalten. Zwischen 1776 und 1821 verweigerten elf amerikanische Landesverfassungen Personen, die wegen bestimmter Straftaten verurteilt worden waren, das Wahlrecht. Bis 1868 war diese Zahl sogar auf 29 angewachsen.18 Bei näherer Betrachtung ist nicht einmal das ausdrückliche Ächtungsverbot in der Bundesverfassung (Art. § 9 Abs. 3: „No Bill of Attainder … shall be passed.“) so kategorisch, wie es scheint. Das Verbot wird generell als durch die Gewaltenteilung begründet, also unabhängig von der staatlichen Strafgewalt, interpretiert. Es ging den Verfassern also um legislative Ächtung (bzw. Einzelfallgesetzverbot oder Parlamentsverurteilung), nicht um Ächtung überhaupt.19 18 Ende 2017 waren etwa sechs Millionen Personen, die wegen eines Verbrechens verurteilt wurden, darunter über zwei Millionen (oder einer von jedem dreizehnten) Afroamerikaner, vom Wahlrecht ausgeschlossen. 48 Bundesstaaten und der District of Columbia entzogen Insassen, während sie wegen einer Straftat inhaftiert sind, 35 auch solchen Häftlingen, die auf Bewährung entlassen wurden, das Wahlrecht; vier Bundesstaaten entziehen allen Personen, die wegen einer Straftat verurteilt wurden, dauerhaft das Wahlrecht. The Sentencing Project, Felony Disenfranchisement Laws (Dez. 2017); siehe auch Alec C. Ewald, „Civil Death“: The Ideological Paradox of Criminal Disenfranchisement Law in the United States, in: Wis. L. Rev. 2002, S. 1045. 19 United States v. Brown, 381 U. S. 437, 440 (1965) („an implementation of the separation of powers, a general safeguard against legislative exercise of the judicial function or more simply – trial by legislature“).

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Sogar in dieser begrenzten Lesart erwiesen sich legislative Ächtungen (bills of attainder) als zu verlockend, als dass die frischgeschmiedeten amerikanischen Gründerväter der Versuchung widerstehen konnten, sie gegen andere auszusprechen, anstatt sie gegen sich selbst verwendet zu sehen. Tatsächlich entwarf Thomas Jefferson im Jahr 1778, nach seiner Rückkehr nach Virginia, eine legislative bill of attainder gegen einen „gewissen Josiah Philips, Arbeiter im Kreis Lynhaven und dem Bezirk Princess Anne“, der „sich mit diversen anderen Bewohnern der Bezirke Princess Anne und Norfolk und Bürgern dieses Commonwealth in Verletzung ihrer Treue zusammengerottet und verbündet hat um Krieg gegen dieses Commonwealth zu führen“. Der Entwurf sah vor, dass Philips, falls er sich nicht bis zu einem bestimmten Zeitpunkt zum Prozess gestellt hätte, „wegen Hochverrats verurteilt und verleumdet [attainted] werde, und die Schmerzen des Todes erleiden solle und alle vom Gesetz vorgeschriebenen Verwirkungen, Strafen und Nachteile erleiden solle, die gegen diejenigen verhängt werden, die wegen Hochverrats verurteilt und verleumdet werden“. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass Jeffersons Strafgesetzbuchsentwurf von 1779, mit dem wir uns noch im Detail beschäftigen werden, vorsah, dass „wenn ein Straftäter hartnäckig stumm bleibt oder mehr Geschworene als gesetzlich vorgeschrieben ablehnt und er zuerst vor den Folgen davon gewarnt wurde, das Gericht so verfahren soll, als ob er ein Geständnis abgelegt hätte“.20 Jefferson nahm hier bewusst eine jahrhundertealte Common Law-Regel auf, die Folterstrafe (peine forte et dure) für diejenigen vorsah, die „auf diese Weise ihrer Schuld Widerspenstigkeit hinzufügten“, wie Chitty es 1819 formulierte.21 Während die Beschreibungen dieser Bestrafung für Missachtung (oder Sturheit) variierten, waren sich alle einig, dass sie „überaus schrecklich“ war.22 Noch drastischer war jedoch, dass Philips’ Versäumnis sich zu stellen, laut Jeffersons attainder-Entwurf zu seiner Rechtlosigkeit in dem traditionellen Sinne führte, dass er außerhalb des Rechtsschutzes gestellt wurde, was es „für jede Person mit oder ohne Anweisung rechtmäßig machte, den genannten Josiah Philips und alle anderen, die zu irgendeinem Zeitpunkt zu seinen Gefährten oder Verbündeten gehörten, zu verfolgen und zu töten … oder sie anderweitig zu ergreifen und der Justiz zuzuführen, so daß sie gemäß dem Gesetz behandeln werden, vorausgesetzt, dass die Person, die zu diesem Zeitpunkt so getötet wurde, im Besitz von Waffen war oder versuchte, der Gefangennahme zu entkommen“.23

20

Abschnitt XXXI (Hervorhebung durch Verf.). Joseph Chitty, A Practical Treatise on the Criminal Law, 1819, S. 290. 22 Ebd.; siehe auch William Blackstone, Commentaries on the Laws of England, Bd. 4, 1769, S. 320. 23 Siehe Thomas Jefferson, Papers, hrsg. von Julian P. Boyd u. a., Bd. 2, 1950, S. 189–193, 506–507. Im Gegensatz zu seinem Gesetzentwurf über die verhältnismäßige Bestrafung wurde Jeffersons bill of attainder gegen Philips einstimmig angenommen. Philips wurde gefangen genommen und, anstatt als Gesetzloser unter der bill of attainder getötet zu werden, von einer Jury wegen Bagatelldiebstahls verurteilt und gehängt. 21

A. Strafpatriarchat 

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Jefferson verteidigte später seinen Entwurf als unbedenklichen Anreiz für ­ hilips, sich zu stellen, und argumentierte, dass das Problem mit bills of attainder P nicht die Institution selbst, sondern ihr Missbrauch „in England als Instrument der Rache des Siegers gegen den Unterlegenen“ sei. „Aber welche Institution“, fuhr Jefferson fort, „ist gefeit vor Missbrauch durch böse Hände?“24 Außerdem erinnerte Jefferson daran, dass „niemand daran zweifelte, dass die Gesellschaft das Recht hätte, jeden aus ihrer Mitgliederliste zu streichen, der seine eigene Existenz mit ihrer unvereinbar gemacht hatte; ihn aus dem Schutz ihrer Gesetze zu entfernen und ihn durch Exil oder, wenn nötig, sogar durch Tod aus ihrer Mitte zu entfernen“.25

A. Strafpatriarchat In der Early Republic blieb die Einstellung der Amerikaner auf die staatliche Strafmacht als eine Sache der Polizei und nicht des Rechts im Allgemeinen unreflektiert, unausgesprochen und daher auch unbegründet.26 Als eine bemerkenswerte – und aufschlussreiche – Ausnahme mag der folgende Auszug aus einem unscheinbaren, abolitionistischen Zeitungsartikel aus dem frühen 19. Jahrhundert in Connecticut gelten, der die Angemessenheit einer bestimmten Strafsanktion, der Todesstrafe, als eine Frage guter patriarchalischer Herrschaft darstellt: „Der Fall eines zivilen Herrschers und seines Subjekts ähnelt sehr dem eines Vaters und seines minderjährigen Sohnes. Wenn sich der Sohn ungebührlich verhält, darf der Vater ihn korrigieren. Wenn sich der Sohn nach allen gebotenen Ermahnungen und Berichtigungen [corrections] als unverbesserlich [incorrigible] erweisen sollte, darf der Vater ihn aus seiner Familie vertreiben; und er kann ihn enterben: aber er darf ihn nicht töten! – Sämtliche zivilen Regierungen haben ihren Ursprung in Familien. Der Familienvater hatte ein natürliches Recht auf Hoheitsgewalt [jurisdiction] über seine Nachkommen und ein erworbenes Recht aufgrund der Unterstützung und des Schutzes, die ihnen während ihrer Säuglingszeit und Kindheit gewährt wurden. Und durch das Bündnis oder die Vereinigung vieler Familien wurde es national. – Aber der Fluss kann nicht höher steigen als die Quelle. Wenn kein Vater das Recht hat, seinen minderjährigen Sohn für irgendein Verbrechen mit dem Tode zu bestrafen, dann hätten auch eine Million Väter kein Recht, dies zu tun, weder allein noch durch ihre Repräsentanten. In diesem Fall können Zahlen, Macht und Substitution, entweder einzeln oder insgesamt betrachtet, kein Recht begründen oder erweitern. Und

24

Thomas Jefferson, Brief an L. H. Girardin v. 12 März 1815, in: Andrew A. Lipscomb /  Albert Ellery Bergh (Hrsg.), The Writings of Thomas Jefferson, Bd. 14, 1905, S. 272, 273. 25 Ebd., S. 337 (Hervorhebung hinzugefügt). 26 Für reichhaltige Diskussionen über patriarchalische Aspekte des amerikanischen Strafregimes, mit besonderer Betonung der paradigmatischen patriarchalischen Sanktion der Haftstrafe, siehe Mark E.  Kann, Punishment, Prisons, and Patriarchy: Liberty and Power in the Early American Republic, 2005; Mark E.  Kann, Limited Liberty, Durable Patriachy, in: Markus D. Dubber / Mariana Valverde (Hrsg.), Police and the Liberal State, 2008, S. 74.

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ich erlaube mir zu denken, dass die rechtmäßige Hoheitsgewalt [jurisdiction] des zivilen Magistrats über jedes Mitglied der Gemeinschaft niemals höher steigen kann als die eines Vaters über seinen minderjährigen Sohn. Alle zivilen sowie elterlichen Bestrafungen sollten mild, human und verbessernd sein; nicht rachsüchtig, unmenschlich und ausrottend! Sie sollten barmherzig, nicht rigoros, dem Verbrechen angemessen, nicht exzessiv sein und zur Verbesserung des Delinquenten neigen, aber nicht zu seiner Zerstörung; und sollten mit Zögerlichkeit, Liebe und Zuneigung, nicht mit Leidenschaft, Hartherzigkeit und Schärfe zugefügt werden. Das höchste Lob, das man guten Herrschern zollen kann, ist, wenn man sie ‚Die Väter ihrer Subjekte und die Beschützer ihrer Rechte‘ nennt. Die Regierung von Staaten und Familien darf und sollte nach fast den gleichen Prinzipien geführt werden. In einer gut geführten Familie wird ein Wort der Missbilligung oder nur ein Stirnrunzeln des Herrn oder der Herrin oft eine Missetat [offense] verhindern oder einen Missetäter zurückgewinnen. Wird irgendjemand sagen, dass es keine gut geführten Familien geben kann, ohne dass ein gezogenes Schwert, das mit dem Blut ihrer Vorfahren und Alters­genossen befleckt ist, ständig auf die Brust jedes ihrer Mitglieder gerichtet wird? Und kann es unter den aufgeklärten Freibürgern [freemen] keine gute Zivilregierung geben ohne die Verhängung unmenschlicher und blutrünstiger Bestrafungen? Werden nicht Gnade, Mäßigung und Zuneigung  – und, wenn nötig, Haft und humane Besserungen [corrections]  – eher dazu beitragen, die Zahl und Grausamkeit von Verbrechen zu verringern und den Frieden und die Sicherheit der Gemeinschaft zu fördern als Unmenschlichkeit und Blutvergießen? Sicherlich werden sie das. Die Stränge der Liebe und Pflicht werden eine stärkere Einheit bilden als die Schrecken des Schwertes.“27

Diese Passage berührt viele der zentralen Aspekte patriarchalischer Bestrafung, d. h. die Bestrafung als Polizei, und insbesondere die amerikanische Konzeption der Strafpolizei. Die Familie ist der Staat und der Bestrafende ist der Vater, der seine (mehr oder weniger) „gut geführte Familie“ im Namen des „Friedens und der Sicherheit der Gemeinschaft“ diszipliniert. Der Bestrafte ist nicht nur ein Mitglied seiner Familie, sondern auch ein Minderjähriger, also dem strafenden Vater in zweifacher Hinsicht unterlegen (und untergeben). Verbrechen wird analog verwandt zu „ungebührlichem Verhalten“ und Bestrafung zu „Ermahnungen“ und „Korrekturen“. Es wird zwischen verschiedenen Arten von Straftätern unterschieden, wobei die „unverbesserlichen“ Straftäter eine besondere Behandlung erwartet: der Ausschluss aus der Gemeinschaft. Der (anonyme) Autor argumentiert, dass die Ablehnung der Todesstrafe direkt aus den Beschränkungen erwächst, die der Natur der „väterlichen Bestrafung“ innewohnen. Man beachte jedoch die Flexibilität dieser Einschränkungen. Die väterlichen Bestrafungen sollten mild, barmherzig, reformierend und – was noch wichtiger ist – „dem Verbrechen angemessen“ sein; sie sollten mit Liebe, „nicht mit 27 Der Aufsatz wurde in abolitionistischen Sammlungen sowohl in den USA als auch in England mehrfach nachgedruckt. Siehe N. N., Essays on Capital Punishment, republished from Pouson’s Daily Advertiser, Philadelphia 1811, S. 7–9; Basil Montagu (Hrsg.), Opinions of Different Authors upon the Punishment of Death, Bd. 3, 1813, S. 160; William Roscoe, Observations on Penal Jurisprudence and the Reformation of Criminals (Teil 3), 1819, S. 38–39; siehe N. N., On Capital Punishments No. II, in: Windham Herald 2 (v. 9. März 1810).

A. Strafpatriarchat 

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Leidenschaft, Hartherzigkeit und Schärfe“ versehen werden. Die normative Bedeutung dieser Vorgaben ergibt sich nicht aus einer Verankerung in den Prinzipien der Gerechtigkeit oder den Rechten der Bestraften, sondern aus dem schwammigen Bild des „guten Herrschers“. Bemerkenswert ist auch die Verschmelzung der Bereiche von Polizei und Recht, von Umsicht und Gerechtigkeit, oder besser gesagt die Leugnung der Existenz eines eigenen Rechtsgebietes an sich. Denn die „guten Herrscher“ sind nicht nur „Väter ihrer Untertanen“, sondern auch „Beschützer ihrer Rechte“. Hier stehen auch die „Rechte“ der „Subjekte“ des Patriarchen – ein Begriff, der hier die Unterordnung der Haushaltsmitglieder gegenüber dem Hausvater und nicht deren Status als autonome Personen oder Rechtssubjekte bezeichnet – unter dem Schutz des Hausvaters. Selbst die Rechte der Bestraften sind haushaltsintern und nicht die Quelle externer Einschränkungen der Macht des Hausvaters. Die Sprache der Rechte ist (immer noch) die Sprache der Polizei. Der Hinweis auf die „verhältnismäßige“ Bestrafung verdient schon deshalb Aufmerksamkeit, weil unter denjenigen, die sich damals, wenn auch nur kurz, mit Fragen der Strafrechtsreform befassten, häufig Forderungen nach Verhältnismäßigkeit in der Bestrafung erhoben wurden (siehe z. B. Jeffersons „Gesetzentwurf zur Verhältnismäßigkeit von Verbrechen und Strafen,“ siehe unten). Vorerst genügt es als Faustregel zu sagen, dass Forderungen nach Verhältnismäßigkeit nicht unbedingt im Widerspruch zur Bestrafung als Polizei stehen. Um den Zusammenhang zwischen Polizei und Verhältnismäßigkeit zu verdeutlichen, ist es sinnvoll, die Frage der Verhältnismäßigkeit neben der letzten und grundlegendsten Einschränkung zu betrachten, die in der zitierten Passage festgestellt wurde, dass die Strafe „mit Zögerlichkeit, Liebe und Zuneigung, nicht mit Leidenschaft, Hartherzigkeit und Schärfe zugefügt werden“ sollte. Die Verhältnismäßigkeit als Polizeistandard – im Gegensatz zur Verhältnismäßigkeit als Rechtsprinzip – ergibt sich nicht aus irgendeinem Recht der Bestraften. Stattdessen spiegelt es die Ermessensausübung des Strafenden wider, was unter den gegebenen Umständen umsichtig (gut, weise, klug, angemessen, effizient etc.) erscheint, was er tun sollte, und nicht, was er tun darf. Aus Gründen der Klugheit kann der strafende Hausvater durchaus beschließen, bei der Disziplinierung einer allgemeinen Norm der Verhältnismäßigkeit zu folgen. Wenn sein Interesse darin besteht, zukünftige Handlungen der Disziplin­ losigkeit zu verhindern, kann er durchaus der Ansicht sein, dass die Bestrafung in einem angemessenen Verhältnis zu den Straftaten stehen sollte, da übermäßige zu erwartende Bestrafungen (deren erwarteter Schmerz das erwartete Vergnügen im Zusammenhang mit der Straftat deutlich überwiegt) eine unerwünscht abschreckende Wirkung auf wünschenswertes Verhalten haben könnten. Auch wenn es einer exzessiven vollzogenen Strafe gelingen könnte, unerwünschtes Verhalten (und nur das) zu verhindern, könnte sie sich als unzweckmäßig erweisen, weil sie die Produktivität der Bestraften und damit das Wohlergehen des Haushalts, des-

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sen Maximierung ein guter Hausvater anstreben mag, verringern kann.28 Ebenso könnte der Hausvater mit Bentham entscheiden, dass eine Übereinstimmung der Qualität von Bestrafung und Verbrechen die Wirksamkeit der Bestrafung erhöht. Bentham unterschied zwischen verschiedenen Formen dieser Art von Proportionalität, darunter „Das gleiche Instrument, das bei der Straftat wie bei der Bestrafung verwendet wird“, „Für eine körperliche Verletzung eine ähnliche körperliche Verletzung“, „Bestrafung des straffälligen Körperteils“ und „Aufzwingen der angenommenen Tarnungen“. So sollte Brandstiftung z. B. durch verhältnismäßiges und analoges Verbrennen des Brandstifters bestraft werden, das sorgfältig auf seine Tat abzustimmen wäre.29 In einigen, außergewöhnlichen Fällen kann die Polizei so ineffektiv sein, und die Verbindung zwischen Mitteln und Zweck so unergründlich weit entfernt (wie zum Beispiel die Eigenschaft, wiederholt grob unverhältnismäßig hohe und damit kontraproduktive Strafen zu verhängen), dass man Inkompetenz seitens des polizeilichen Gewalthabenden vermuten könnte (und nicht, sagen wir, „Widerspenstigkeit“ seitens der polizeilichen Gewaltunterworfenen). Während in der Regel herrschaftliche Unzulänglichkeit bequem im enormen Ermessensspielraum des Hausherrn bleibt, ohne seine Autorität zu beeinträchtigen, kann abnormale ex­ treme Unzulänglichkeit – zumindest theoretisch – die Untauglichkeit des Hausvaters oder Quasi-Hausvaters andeuten. In der amerikanischen Kolonialzeit wurde beispielsweise vermutet, dass der Sklavenhalter bei der Regierung (einschließlich der Bestrafung) seiner Sklaven als Haushaltsressourcen mit Blick auf das Wohlergehen seines Haushalts, die Plantage, handelt. Diese Vermutung der guten Haushaltsherrschaft war jedoch nicht unwiderlegbar, zumindest rechtlich, wenn nicht sogar tatsächlich.30 Der Einsatz von Strafmaßnahmen, „die so hoch und übermäßig waren, dass sie Leib und Leben in Gefahr brachten oder die Person dauerhaft geschädigt wurde“, belegte diesen „bösartigen und unrechten Geist“, der den polizeilich Herrschenden (policer) als ungeeignet für sein Aufsichtsamt erwies.31 Im Rahmen der quasi-patriarchalischen Disziplin an Bord eines Schiffes, wie sie vom Kapitän gegen seine Besatzung durchgesetzt wird, konnten „klare und eindeutige Anzeichen der Lei 28 Es ist jedoch zu beachten, dass eine übermäßige Bestrafung nicht unzweckmäßig wäre, nur weil sie nicht nötig war um die gewünschte abschreckende Wirkung zu erzielen. Das unnötige Leiden des Bestraften ist für sich genommen nicht von Interesse, anders als in der Beccaria-­Bentham’schen Theorie, die den Nutzen und den Schaden eines jeden Menschen gleichermaßen abwägt. Siehe Jeremy Bentham, Principles of Penal Law (Rationale of Punish­ ment), in: John Bowring (Hrsg.), The Works of Jeremy Bentham, Bd. 1, 1962, S. 365, 398 (erstmals veröffentlicht im Jahre 1830). 29 Jeremy Bentham, The Rationale of Punishment, 1830, S. 56–62 („It would be necessary carefully to determine the text of the law, the part of the body which ought to be exposed to the action of the fire; the intensity of the fire; the time during which it is to be applied, and the paraphernalia to be employed to increase the terror of the punishment.“). 30 Arthur P. Scott, Criminal Law in Colonial Virginia, 1930, S. 299 („almost unlimited“). 31 State v. Mabrey, 64 N. C. 592, 593 (1870).

B. Apolitisches Strafen 

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denschaft des Kapitäns“, Strafen die „offensichtlich exzessiv und unverhältnismäßig zum Verschulden“ waren, und für unsere Zwecke besonders interessant, der Einsatz von „ungewöhnlichen oder rechtswidrigen Instrumenten“ andeuten, dass die Disziplinarmaßnahme in Wirklichkeit gar keine Disziplinarmaßnahme war, sondern der Befriedigung eines „bösen Impulses“ des polizeilich Herrschenden diente32 und so dessen disqualifizierenden Defekt indizierte: „the heart is wrong“.33 Es ist zu beachten, dass aus der Perspektive dieser traditionellen Beschränkungen der Macht des polizeilich Herrschenden über seine Untergebenen das bereits erwähnte verfassungsmäßige Verbot der „grausamen und ungewöhnlichen“ Bestrafung als eine interne Beschränkung der staatlichen Polizeibefugnis erscheint. Aus der polizeilichen Perspektive, sind grausame und ungewöhnliche Strafen verboten, weil sie ein unangemessenes, selbstzentriertes Motiv des Strafenden offenbaren, nicht aber weil sie ein Recht des Bestraften beeinträchtigen.34 Wie sollte es auch anders sein, wenn wir uns daran erinnern, dass der Achte Verfassungszusatz aus zwei ausgesprochen vorkonstitutionellen Quellen übernommen wurde, der eng­lischen Bill of Rights von 1689 und einer Verhältnismäßigkeitsklausel aus der Magna Charta von 1215 (ganz zu schweigen vom ius commune).35

B. Apolitisches Strafen Es gab nichts Republikanisches (oder besonders Amerikanisches) am patriarchalischen Mechanismus der Polizeiherrschaft. Im Gegenteil, die Revolution berief sich auf Ideale der Selbstbestimmung, der Gleichberechtigung und der Personalität, die nicht nur völlig unvereinbar mit dem tief hierarchischen polizeilichen Herrschaftsmechanismus waren, sondern aus einer Kritik an eben diesem Mechanismus hervorgegangen waren. Die Amerikaner waren es leid, der polizeilichen Willkür des englischen Hausvaters zu unterstehen. Sie hatten nichts gegen die Besteuerung per se; sie zogen wegen einer Besteuerung ohne Vertretung in den Krieg. Sie suchten Recht und Autonomie statt Polizei und Heteronomie; oder jedenfalls forderten sie, als Haushälter-Subjekte und nicht als Haushalts-Objekte behandelt zu werden. Kriminelle wurden als grundlegend anders (oder als irrelevant ähnlich) angesehen, nicht als autonome Rechtssubjekte, sondern als Objekte der Polizeidisziplin. Generell stellte sich heraus, dass die Gründerväter, nachdem sie die Macht übernommen hatten, die Herrschaft durch Polizei nicht ablehnten, solange sie die 32 Joel Prentiss Bishop, New Commentaries on the Criminal Law, 8. Aufl. 1892, S. 532 (mit Hinweis auf Butler v. McLellan, 1 Ware 219, 320). 33 United States v. Clark, 31 F. 710 (E. D. Mich. 1887). 34 Für eine ähnliche Auslegung des verfassungsrechtlichen Verbots von ex post facto-­ Gesetzen siehe Calder v. Bull, 3 U. S. 386, 389 (1798) (Ex post facto lawmaking „stimulated by ambition, or personal resentment, and vindictive malice.“). 35 Siehe Fn. 9 oben.

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Polizeimacht besaßen; das Problem war nicht die Polizei selbst, sondern ihr „Missbrauch durch böse Hände“.36 Daher die fortgesetzte Unterwerfung und Entrechtung von Frauen, Armen und Sklaven.37 Die rechtliche Autonomie war das revolutionäre Ideal, mit Ausnahme für diejenigen, die (angeblich) nicht in der Lage waren, sich selbst zu bestimmen, und den Straftätern allen voran.38 Aber zumindest stellt das polizeiliche Modell das Problem der Herrschaft im Allgemeinen und der Bestrafung im Besonderen als ein Problem des staatlichen Handelns dar. Das Polizeimodell mag die Herrschaft des Haushaltes auf die Makro­ebene des Staates heben, aber es leugnet nicht dessen öffentlichen Charakter – eine polizeiliche Handlung ist per Definition eine staatliche Handlung, so alegitim sie auch sein mag. Dasselbe kann nicht für die vielen damaligen Vorschläge zur Strafrechtsreform gesagt werden, die aus religiöser Sicht formuliert waren.39 „There but for the grace of God go I“ war das treibende Sentiment, das ein Gefühl der Gleichheit widerspiegelt, das nicht auf gleichen politischen Rechten basiert, sondern auf gemeinsamer menschlicher Fehlbarkeit. Die 1787 verabschiedete Verfassung der von den Quäkern dominierten Philadelphia Society for Managing the Miseries of Public Prisons, der erfolgreichsten der Hilfsorganisationen für Missetäter, ist in dieser Hinsicht sehr lehrreich: „Wenn wir bedenken, dass die Verpflichtungen des Wohlwollens, die auf den Geboten und dem Beispiel des Urhebers des Christentums beruhen, nicht durch die Torheiten der Verbrechen unserer Mitgeschöpfe aufgehoben werden; und wenn wir über das Elend nachdenken, das Armut, Hunger, Kälte, unnötige Härte, unzuträgliche Unterkünfte, und Schuld (die üblichen Begleiter in Gefängnissen) nach sich ziehen, dann ist es an uns, unser Mitgefühl auf den Teil der Menschheit auszudehnen, der Gegenstand dieses Elends ist. Durch mitmenschliche Hilfeleistungen können ihre übermäßigen und unrechtmäßigen Leiden verhindert werden: mögen die Verbindungen, die die ganze Menschheitsfamilie unter allen Umständen miteinander verbinden sollten, ungebrochen erhalten bleiben; und mögen solche Grade und Arten der Bestrafung entdeckt und vorgeschlagen werden, die,

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Thomas Jefferson, Brief an L. H. Girardin v. 12 März 1815, in: Andrew A. Lipscomb /  Albert Ellery Bergh (Hrsg.), The Writings of Thomas Jefferson, Bd. 14, 1905, S. 272, 273. 37 Siehe allgemein Robert J.  Steinfeld, Property and Suffrage in the Early American ­Republic, in: Stan. L. Rev. 41 (1989), S. 335. 38 So fragte sich John Adams, um die Beibehaltung der Verweigerung des Wahlrechts für Frauen, Arme und Straftäter zu verteidigen: „It is certain in Theory, that the only moral Foundation of Government is the Consent of the People. But to what an Extent Shall We carry This Principle?“ (John Adams, Brief an James Sullivan v. 26. Mai 1776, in: Robert Taylor [Hrsg.], Papers of John Adams, Bd. 4, 1977, S. 208). Bereits ein Jahrhundert zuvor galten die Vorschläge der englischen Levellers für eine Ausweitung des Wahlrechts nicht für „women, children, criminals, servants, and paupers.“ Edmund S. Morgan, Inventing the People: The Rise of Popular Sovereignty in England and America, 1988, S. 68–69. 39 Vgl. Grotius’ Theorie der Bestrafung, die die Gleichheit der Menschen im Gegensatz zum allwissenden und allmächtigen Gott betont hatte. Hugo Grotius, De Jure Belli ac Pacis, 1853 (zuerst erschienen 1625), Buch 2, Kap. 20, § 4.

B. Apolitisches Strafen 

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statt sündige Gepflogenheiten fortzuführen, die Mittel werden um unsere Mitgeschöpfe wieder in Tugend und Glück zu versetzen.“40

Dieses „Wohlwollen“ und „Mitgefühl“ gegenüber „unseren Mitgeschöpfen“ war privater Natur, nicht öffentlich, religiös statt politisch, freiwillig statt zwingend, Wohlwollen statt Pflicht. Die Strafrechtsreform war letztlich eine Frage des individuellen Gewissens, eine Sache der Kirche und nicht des Staates. Der religiös motivierte Reformer identifiziert sich mit dem Täter als „Mit­ geschöpf“, nicht als Mitbürger, Mitmensch oder Mitinhaber von (gleichen) Rechten. Die Identifikation ist religiös: Sie ist völlig apolitisch und arepublikanisch. Der Täter hat keinen politischen oder rechtlichen Anspruch auf die Aufmerksamkeit des christlichen Reformers; er ist nur der glückliche Begünstigte christlicher Wohltätigkeit. Die private und ermessensabhängige Benefizorganisation kann sicher jederzeit auflösen oder anderen Zwecken zuwenden. Sie kann nicht nur vorübergehend und unbeständig, sondern auch willkürlich oder diskriminierend sein. Tatsächlich schwand der Eifer der frühen amerikanischen Gefängnisreformer schnell, nachdem die Objekte ihres intensivsten Mitgefühls, die (schuldlosen) Schuldner, zunächst getrennt von anderen Häftlingen untergebracht und dann ganz von strafrechtlichen Konsequenzen befreit worden waren.41 Wenn die Gefängnisse erst einmal von den guten Gefangenen, den „würdigen Charakteren … erniedrigt durch Unglück“, geleert worden waren und nur noch die schlechten, die „Elenden, die eine Schande für die menschliche Natur sind“42, übrig blieben, dürfte es wesentlich schwieriger gewesen sein, das nötige (christliche)  Mitgefühl aufzubringen. Die Unterscheidung zwischen den beiden Häftlingsgruppen deckte sich auch sozialen Klassenunterschieden, wobei die (frühere?) soziale Klasse der Schuldner derjenigen der Reformer näher kam.43 Die Art der Identifikation mit den Bestraften ist von Bedeutung. Jegliche normative Beurteilung, einschließlich – im vorliegenden Kontext am wichtigsten – der Zuschreibung strafrechtlicher Verantwortung, erfordert Empathie, d. h. das Ver-

40 Constitution of the Philadelphia Society for alleviating the Miseries of Public Prisons (v. 8. Mai 1787), in: Reform of Criminal Law in Pennsylvania: Selected Enquiries, 1787–1819, 1972, S. 105; siehe zudem William Roscoe, Observations on Penal Jurisprudence and the Reformation of Criminals, 1819, S. 176–177. 41 Siehe allgemein Markus D. Dubber, The Right to Be Punished: Autonomy and Its Demise in Modern Penal Thought, in: Law & Hist. Rev. 16 (1998), S. 113. 42 Michael Meranze, The Penitential Ideal in Late Eighteenth-Century Philadelphia, in: Pa. Mag. History & Biography108 (1984), S. 431, 442 (mit Zitat der Pa. Gazette vom 26. Sept. 1787). 43 Vgl. Michael Meranze, Laboratories of Virtue: Punishment, Revolution, and Authority in Philadelphia, 1760–1835, 1996, S. 60, 156, 176 (Klassenkonflikte im Philadelphia des späten 18. Jahrhunderts).

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setzen in die Lage des Objekts des eigenen Urteils.44 Empathie wiederum setzt die Anerkennung eines relevanten Identifikationspunktes mit anderen sowie die Bereitschaft zur Identifikation mit ihnen voraus. Ohne Identifikation zwischen Richter und Verurteilten, zwischen Bestrafenden und Bestraften wird die Strafe zur Ausübung heteronomer Unterdrückung, die lediglich die Unterlegenheit der Bestraften bekräftigt und sie so aus der Klasse der zur Selbstbestimmung fähigen Personen, d. h. der politischen Gemeinschaft der Bürger, ausschließt. Es wird zu einem alegitimen Akt der Polizei, jenseits des Bereichs der Gerechtigkeit.45 Nur die Identifikation mit dem Bestraften als potenziell autonomer Mitbürger steht im Einklang mit der Legitimation der Strafe qua Recht. Andere Arten der Identifikation, wie z. B. unter „Mitgeschöpfen“ oder Kindern Gottes oder Quäkern oder Kaufleuten oder Bewohnern von Philadelphia, sind irrelevant, auch wenn sie die Notlage der Bestraften zumindest kurzfristig verbessern mögen. Ebenso schließt die Weigerung, sich mit bestimmten Tätern zu identifizieren – seien es „Elende, die eine Schande für die menschliche Natur sind“, „unverbesserliche“ Täter oder „Personen, die sich enormer Verbrechen schuldig gemacht haben“46 – eine Legitimation ihrer Strafe im politisch relevanten Sinne aus. Angesichts der immensen Herausforderungen, die diese Identifizierung bei schrecklichen Straftaten mit sich bringt, stellt die Legitimation der Bestrafung der für die schwersten Verbrechen verantwortlichen Täter paradoxerweise die größte, nicht die geringste Schwierigkeit dar. Abschließend können wir feststellen, dass keine der beiden vorherrschenden Ansätze zur Frage von Kriminalität und Bestrafung während und nach der Amerikanischen Revolution – patriarchalische Polizei und christliche Wohlfahrt – die Herausforderung der Konzipierung eines legitimen Systems des republikanischen Strafrechts erkannt haben. Wir wenden uns nun dem ersten und besten Versuch zu, ein System des Strafrechts aus dem Grundprinzip der politischen Legitimität abzuleiten, das der Gründung der Amerikanischen Republik unterliegt, Selbst­ bestimmung bzw. Autonomie: Thomas Jeffersons „Bill for Proportioning Crimes and Punishments in Cases Heretofore Capital“ für Virginia von 1779.

44 Siehe allgemein Markus D. Dubber, The Sense of Justice: Empathy in Law and Punishment, 2006. 45 Siehe Dubber, The Right to Be Punished (Fn. 44). 46 John E. O’Connor, Legal Reform in the Early Republic: The New Jersey Experience, in: Am. J. Legal Hist. 33 (1978), S. 95, 99 (mit Zitat von William Paterson, des Gouverneurs von New Jersey).

Kapitel 6

Thomas Jeffersons Virginia Criminal Law Bill Thomas Jeffersons Versuch einer Strafrechtsreform fiel in mehrfacher Hinsicht bescheiden aus. Ein Grund liegt auf der Hand: Der „Gesetzentwurf zur Verhältnismäßigkeit von Verbrechen und Strafen in den Fällen ehemaliger Kapitaldelikte“ („Bill for Proportioning Crimes and Punishments in Cases Heretofore Capital“) war im Umfang begrenzt und befasste sich mit Bestrafungen, nicht mit Verbrechen oder Prinzipien der Strafbarkeit, und zwar nur mit Strafen für Kapitalverbrechen (felonies). Jeffersons Ambitionen überstiegen nicht die anderer damaliger Reformanhänger: Er begnügte sich weitgehend damit, die Zahl der Kapitalverbrechen aus dem allgemein kritisierten englischen „Bloody Code“ zu reduzieren, ohne jedoch die Todesstrafe ganz abzuschaffen.1 Vor allem aber unternahm der Gesetzentwurf keine ernsthaften Anstrengungen, um sein erklärtes Ziel zu erreichen, aus den „Zwecken des Gemeinwesens“ ein Prinzip der verhältnismäßigen Bestrafung „abzuleiten“, ganz zu schweigen von einem umfassenden System des amerikanischen Strafrechts. Jefferson versuchte hier nicht einen neuen Ansatz für ein Strafrecht zu finden, das im Einklang stünde mit dem neuen politischen Prinzip der Selbstbestimmung, das allein staatliches Handeln legitimieren könnte. Stattdessen berief sich Jefferson auf angelsächsische Rechtsquellen, um Strafen wie den Tauchstuhl (ducking stool) und das Peitschen beizubehalten, unter allgemeiner Bezugnahme auf die Notwendigkeit, potenzielle Straftäter durch „langanhaltende Spektakel“ der Strafsklaverei abzuschrecken, Straftäter „zu bessern“, die „eine geringere Verletzung begehen“ und alle Übeltäter zu „vernichten“, „deren Existenz mit der Sicherheit ihrer Mitbürger unvereinbar geworden ist“, wenn auch nur als „das letzte wehmütige Mittel“.2 Am Ende liefert der Inhalt Jeffersons Gesetzentwurf – bestenfalls – eine Skizze von Bestrafung als eine Frage der guten Regierung und nicht als eine Frage des Rechts, was darauf hindeutet, dass Jefferson sich nicht von seinen Mitarchitekten der New Republic unterschied, indem er wie diese weiterhin Bestrafung als eine Frage der Polizei und nicht des Rechts konzipierte. Jeffersons Entwurf reichte längst nicht aus, um den Grundstein für die kontinuierliche Kritik in Bezug auf 1 Das englische Strafrecht, wie es Gouverneur von New Jersey, William Paterson, im Jahr 1793 formuliert hat, ist „geschrieben in Blut und kann nicht ohne Horror gelesen werden“. Siehe John E. O’Connor, Legal Reform in the Early Republic: The New Jersey Experience, in: Am. J. Legal Hist. 33 (1978), S. 95, 99. 2 Thomas Jefferson, A Bill for Proportioning Crimes and Punishments in Cases Heretofore Capital, in: Julian P. Boyd u. a. (Hrsg.), Papers, Bd. 2, 1950, S. 325, 325 (Präambel).

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Gerechtigkeitsprinzipien zu legen, ohne welche die Bestrafung in einem modernen liberalen Staat nicht legitimiert werden kann. Ironischerweise war Jefferson mit der Unterscheidung zwischen polizeilicher und rechtlicher Herrschaft bestens vertraut. Unter den Gesetzesentwürfen, die Jefferson für das „Virginia Committee for the Revision of the Laws“ entwarf, zu denen auch der Entwurf eines Gesetzes zur Verhältnismäßigkeit von Strafen (Nr. 64) gehörte, war auch der Entwurf „A Bill for Amending the Constitution of the College of William and Mary and Substituting More Certain Revenues for Its Support“ (Nr. 80). Dieser (übrigens im Gegensatz zum Strafrechtsentwurf erfolgreiche) Entwurf sah unter anderem die Einrichtung eines Lehrstuhls für „Recht und Polizei“ als eine von acht Professuren am College of William & Mary in ­Williamsburg, Virginia vor.3 Der Lehrstuhl sollte sowohl ziviles (municipal) als auch ökonomisches (oeconomical) Recht abdecken: Das municipal-Recht – oder Recht im engeren Sinne – umfasste „Common Law, Equity, Handelsrecht, Seerecht und Kirchenrecht“, während oeconomical-Recht – oder Polizei – die Bereiche „Politik“ (politics) und „Handel“ (commerce) umfasste.4 Dieser Aspekt von Jeffersons Reform des Colleges hat kaum Aufmerksamkeit erhalten.5 Eine bemerkenswerte Ausnahme ist Herbert Baxter Adams, der 1887 in einem Artikel die Parallelen zwischen Jeffersons Reform und der kontinentaleuropäischen Polizeiwissenschaft aufzeigte. Ende des 19. Jahrhunderts war die Unterscheidung zwischen Polizei und Recht derart in Vergessen geraten, dass Adams es für notwendig hielt, seinen (amerikanischen) Lesern den Polizeibegriff zu erklären: „Dieser ähnelte sehr der modernen Verwaltungswissenschaft, die gerade erst anfängt, sich aufs Neue in unsere Universitätskurse in Amerika einzuschleichen. Was der Deutsche Polizeiwissenschaft nenne würde und was die Griechen πολιτεία nannten, wurde fast ein Jahrhundert lang am College of William and Mary unter der Rubrik ‚police‘ unterrichtet. Für die meisten Hochschulfakultäten in der heutigen modernen Zeit würde dieser Name wahrscheinlich nichts anderes vermuten lassen, als Polizeiverbände.“6

Während der Entwurf eines Gesetzes zur Verhältnismäßigkeit von Strafen am Ende in einem vorrevolutionären Konzept von Bestrafung als Polizei verstrickt 3

Thomas Jefferson, Notes on the State of Virginia, 1781, Frage xv; Thomas Jefferson, A Bill for Amending the Constitution of the College of William and Mary, and Substituting More Certain Revenues for Its Support, 1779. 4 Herbert Baxter Adams, The College of William and Mary, in: A Contribution to American Educational History, No. 1, 1887. Jefferson benutzt hier „municipal law“ im damals üblichen – weitgefassten – Sinne von „civil law,“ im Gegensatz zu „natural law“ und „international law“. Siehe z. B. William Blackstone, Commentaries on the Laws of England, Bd. 1, 1765, Intro. § 2 („municipal or civil law; that is, the rule by which particular districts; communities, or nations, are governed; being thus defined by Justinian, ‚jus civile est quod quisque sibi populus constituit‘“). 5 Siehe aber Christopher L. Tomlins, Law, Labor, and Ideology in the Early American Republic, 1993. 6 Adams, The College of William and Mary (Fn. 4), S. 39 Fn. 1.

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blieb, begann er mit hohen Ambitionen, die Strafmacht des Staates auf rechtliche Prinzipien zu stützen. Wie Jefferson in seiner Autobiographie berichtet, hatte er nach seiner Rückkehr vom Kongress (und dessen Verabschiedung der von ihm verfassten Unabhängigkeitserklärung) in seinen Heimatstaat Virginia das Gefühl, „dass unser gesamtes Gesetzbuch überprüft werden musste, angepasst an unsere republikanische Regierungsform, und da wir nun keine negativen Stimmen von Räten, Gouverneuren und Königen mehr hatten, die uns davon abhielten, richtig zu handeln, und dass es in all seinen Teilen korrigiert werden sollte, mit einem einzigen Blick auf die Vernunft und das Wohl derer, für deren Regierung es entworfen wurde.“7

Als Vorsitzender der Revisionskommission, der auch George Wythe (sein ehemaliger Lehrer und der erste Inhaber des erwähnten Lehrstuhls über Recht und Polizei am College of William & Mary), Edmund Pendleton, George Mason und Thomas Lightfoot Lee angehörten, hatte Jefferson die Gelegenheit, diesen ehrgeizigen Plan in die Tat umzusetzen. In einer Sitzung am 13. Januar 1777 legte der Ausschuss bestimmte Grundprinzipien zu Form und Inhalt fest und teilte die Arbeit auf. Jefferson übernahm die Verantwortung für die Überarbeitung der ersten von drei Perioden des kodifizierten englischen Rechts und des Erbrechts. Mason wurde ursprünglich unter anderem das Strafrecht zugewiesen. Nach Masons Rücktritt aus der Kommission kurz nach der Sitzung, ergänzte Jefferson seine To-Do-Liste kurzerhand um das Strafrecht.8 Obwohl sie es nicht von ihrem umfassenden Revisionsvorhaben ausschlossen, äußerten weder Jefferson noch seine Kollegen ein besonderes Interesse an der Strafrechtsreform im Lichte republikanischer Prinzipien.9 Gemäß Jeffersons Autobiographie haben die Kommissionsmitglieder nur eine kurze und vage Aufstellung von „führenden Prinzipien“ zusammengestellt, um die Überarbeitung der Strafgesetze Virginias zu regeln: „Was das Strafrecht betrifft, so waren sich alle einig, dass die Todesstrafe abgeschafft werden sollte, außer für Verrat und Mord; und für andere Verbrechen durch Zwangsarbeit in öffentlichen Werken und in einigen Fällen die Lex talionis ersetzt werden sollte.“10

Masons Notizen, die einzige noch erhaltene Aufzeichnung des Treffens von 1777, sind etwas umfangreicher (vielleicht weil das Strafrecht zu seinen Aufgaben gehörte), zumindest insofern, als sie etwas genauer spezifizieren, welche Be 7

Thomas Jefferson, Autobiography, 1821, S. 37. Siehe Thomas Jefferson, Papers, hrsg. von Julian P. Boyd u. a., Bd. 2, 1950, S. 316. 9 Für (spätere) sporadische Forderungen nach republikanischen Reformen, die sich spezifischer auf das Strafrecht und insbesondere auf das Gefängniswesen konzentrieren, siehe ­Kathryn Preyer, Crime, the Criminal Law and Reform in Post-Revolutionary Virginia, in: Law & Hist. Rev. 1 (1983), S. 53, 78; William Bradford, An Enquiry how far the Punishment of ­Death Is Necessary in Pennsylvania, 1793, S. 5; Christopher Adamson, Wrath and ­Redemption: Protestant Theology and Penal Practice in the Early American Republic, in: Crim. Just. Hist. 13 (1996), S. 75, 93–94. 10 Jefferson, Autobiography (Fn. 7), S. 39. 8

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strafungen abseits der Todesstrafe mit einigen der früheren Kapitalverbrechen in Verbindung gebracht werden sollten („Verwirkung, Geldstrafe, Zwangsarbeit in öffentlichen Werken wie Bergwerke, Schiffen, Salzminen, Werften, Gießereien und öffentlichen Manufakturen“11). Allerdings enthalten sie keinen Verweis auf die Lex talionis, eine Lücke, die umso erstaunlicher ist, als Jefferson dieses Prinzip in seiner Gesetzesvorlage bemerkenswert streng einhält und später behauptet, er sei angesichts der spezifischen Anweisungen der Kommission in diesem Punkt dazu gezwungen gewesen.12 Ansonsten folgt der Gesetzentwurf Masons Notizen, obwohl er auf Begnadigungen ganz verzichtet, eine Angelegenheit, die die Kommission beschlossen hatte „aufzuschieben, um sie bei der nächsten Sitzung zu berücksichtigen“. Kritik an der Begnadigungsmacht der Exekutive war damals weit verbreitet, da sie von vielen als Überbleibsel des Vorrechts eines souveränen Königs und als besonders deutliches Beispiel seiner patriarchalischen Polizeimacht angesehen wurde, die – wie wir festgestellt haben – nicht nur die Macht zu strafen (punish), sondern auch die Macht nicht zu strafen (amerce), d. h. in seiner Gnade (mercy), von (körperlicher) Strafe (gegen Zahlung einer Geldstrafe: amercement) abzusehen.13 Auch hier ist es bemerkenswert, dass Jefferson, nach Beginn seiner Amtszeit als Gouverneur von Virginia im Jahre 1779, selbst die Begnadigung häufig als sein exekutives Vorrecht nutzte; er ordnete regelmäßig bedingte Begnadigungen für mit Todesstrafe belegte Straftäter an, sofern sie in den Bleiminen oder anderen öffentlichen Werken arbeiteten.14 Zu Beginn ist es wichtig, den Gesetzentwurf in den Kontext des gesamten Revisionsprojekts zu stellen. Das Gesetz war schließlich kein isolierter Versuch, das Strafrecht von Virginia zu reformieren. Es war einer von 126 Gesetzentwürfen, die vom Überprüfungskomitee vorbereitet wurden, und wie wir festgestellt haben, nahm Jefferson das Thema Strafrecht erst nach Masons Rücktritt auf. Es wäre daher ein Fehler, es als Ergebnis von Jeffersons besonderem Interesse am Strafrecht seines Heimatstaates zu lesen. Andere Themen lagen ihm viel näher, darunter „das Erbrecht“, das „natürlich in meinen Bereich fiel“, sowie Gesetze über Religionsfreiheit, Pressefreiheit und öffentliches Bildungswesen, ebenfalls Themen, an denen Jefferson besonders interessiert war. Der Kontrast zwischen diesen Gesetzesentwürfen (darunter beispielsweise diejenigen, die die Abschaffung von Fideikommiss und Erstgeburtsrecht forderten, die er als aristokratische Überreste betrachtete, die mit den Prinzipien einer Republik gleichberechtigter selbstverwal-

11

Jefferson, A Bill for Proportioning Crimes and Punishments in Cases Heretofore Capital (Fn. 2), S. 325. 12 Jefferson, Brief an George Wythe v. 1. Nov. 1778, ebd., S. 229, 230. 13 Zur Begnadigungsbefugnis siehe James Wilson, Executive Department, Lectures on Law, in: The Works, 1967, S. 442–444 (zuerst erschienen 1804). 14 Preyer, Crime, the Criminal Law and Reform in Post-Revolutionary Virginia (Fn. 9), S. 68.

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teter Bürger unvereinbar waren, nach dem Vorbild seiner idealisierten Vision einer angelsächsischen Gemeinschaft vor der normannischen Eroberung) und dem Gesetzentwurf zur Verhältnismäßigkeit konnte nicht stärker sein. Erstere veran­ schaulichen eindrucksvoll, was Jefferson hätte erreichen können, wenn er sich tatsächlich dafür eingesetzt hätte, einen Bereich des Gesetzes zu „überarbeiten“ und ihn „an unsere republikanische Herrschaftsform „anzupassen“. Im Gegensatz dazu ist der Gesetzentwurf zur Verhältnismäßigkeit bestenfalls uninspiriert und unmotiviert.15 Der Großteil der 126 Gesetzentwürfe, die sich mit der „Überarbeitung der Gesetze“ befassten, betrafen alltägliche Angelegenheiten der Regierung und waren nicht ehrgeiziger als der Gesetzentwurf zur Verhältnismäßigkeit. Gesetze wie „die Regelung des Erbes“, zur „allgemeineren Verbreitung von Wissen“ und „zur Verwirklichung der Religionsfreiheit“ waren die Ausnahme, nicht die Regel. Der Gesetzentwurf zur Verhältnismäßigkeit (Nr. 64) wurde flankiert von Vorlagen „über Vormunde, Neugeborene, Schulleiter und Auszubildende“ (Nr. 60), „um es Vormunden und Ausschüssen zu ermöglichen, bestimmte Handlungen zugunsten derjenigen, die unter ihrer Obhut stehen, vorzunehmen“ (Nr. 61), „zur Unterbringung, Pflege und Heilung von Personen, die nicht bei Verstand sind“ (Nr. 62), „zur Registrierung von Geburten und Todesfällen“ (Nr. 63), einerseits und durch Gesetze „zur Bestrafung von Personen, die sich bestimmter Fälschungen schuldig gemacht haben“ (Nr. 65), „über Verrat, Verbrechen und andere Straftaten, die außerhalb der Zuständigkeit dieses Commonwealth begangen wurden“ (Nr. 66), „über Waffenruhen, sicheres Geleit, Pässe, Lizenzen und Kaperbriefe“ (Nr. 67) andererseits. Tatsächlich deckte die überwiegende Mehrheit der Gesetzesvorlagen Angelegenheiten der Polizei und nicht des Rechts ab, einschließlich militärischer Disziplin (Nr. 5); Armenhilfe (Nr. 32); Streuner (Nr. 39); Hornvieh, Pferde, Hirsche (Nr. 41–43); Lizenzen für Gastronomen und Anwälte (Nr. 45, 97); öffentliche Straßen und Fähren (Nr. 46, 47); „Staudämme und andere Hindernisse von Gewässern“ (Nr. 48); Bestattung von Leichen an Bord von Schiffen (Nr. 49); öffentliche Lagerhäuser (Nr. 50); Sklaven, Diener, Ausreißer, Mulatten, Ausländer (Nr. 51–54, 56); den Verkauf von „ungesundem Fleisch oder Getränk“ (Nr. 76); die Verbreitung von Windpocken (Nr. 77); und Quarantäne (Nr. 78).16 Ein Gesetzentwurf über die Verfügungsgewalt über Straftäter als Polizeiaufgabe passt weitaus besser in diese typische (diverse, bürokratische, alltägliche, umfassende, und doch unvollständige, unsystematische, ahumane) Liste von polizeilichen 15 Jefferson zeigte außerdem großes Interesse an der Gewährleistung der Presse- und Religionsfreiheit. Weder sein Verfassungsentwurf für Virginia (1776) noch seine späteren Vorschläge für eine Bill of Rights für die Bundesverfassung enthalten irgendeine Erwähnung einer Analogie zum Verbot grausamer und ungewöhnlicher Strafen, das später in der Federal Bill of Rights auftauchte; beide enthielten jedoch Bestimmungen zur Gewährleistung der Presse- und Religionsfreiheit. siehe David N. Mayer, The Constitutional Thought of Thomas Jefferson, 1994, S. 155. 16 Thomas Jefferson, Papers, hrsg. von Julian P. Boyd u. a., Bd. 2, 1950, S. 329–333.

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Vorschriften17 als der zeitweilige rechtsbasierte Gesetzentwurf, wie der Entwurf „zur Verwirklichung der Religionsfreiheit“, der vorsah, dass niemand gezwungen werden sollte, „eine religiöse Andacht, Ort oder Amt zu besuchen oder zu unterstützen“ und dass „alle Menschen frei sein sollen, ihre Ansichten in Fragen der Religion kundzutun und durch Argumente zu vertreten“. Der Gesetzentwurf zur Verhältnismäßigkeit von Strafen wurde von Historikern weitgehend ignoriert. Er wurde nicht verabschiedet; allerdings trifft dies auch auf den viel analysierten (und gelobten) Entwurf zur Religionsfreiheit zu.18 Eine bessere Erklärung für das historiographische Desinteresse ist, dass die Gesetzesvorlage anachronistisch, planlos, unvollständig und insgesamt hochenttäuschend war. Jefferson zeigte einfach nur sehr wenig Interesse am Thema Strafrecht. Da er nichts über den Inhalt des Gesetzes zu sagen hatte, wandte er sich dessen Form zu. Das Beste, was man über seinen strafrechtlichen Entwurf sagen konnte, war, dass er hübsch hergerichtet war. Mit den Worten von Dumas Malone, einem der bedeutendsten Jefferson-Forscher und -Herausgeber, ist das Manuskript des Gesetzesentwurfs „ein außerordentlich schönes Dokument“: „Jefferson fügte Notizen in angelsächsischen Buchstaben, in lateinischer, altfranzösischer und [alt]englischer Sprache bei, die die akribische Sorgfalt seines Vorgehens bezeugen. Er platzierte sie in Spalten, parallel zum Text, nach der Art seines alten Lehrbuches, Coke upon Littleton19; und, wie im Werk des alten Meisters, greifen sie häufig in den Text ein. Die Schreibweise ist wunderschön klar, und kein anderes Dokument, das Jefferson jemals entworfen hat, stellt seine Kunstfertigkeit als literarischer Entwerfer besser zur Schau.“20 17 Für Diskussionen über ähnliche Polizeilisten im Laufe der Jahrhunderte, einschließlich amerikanischer Bestimmungen im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, die unter der Polizeimacht der Bundesstaaten verabschiedet wurden, siehe z. B. William J. Novak, Common Regulation: Legal Origins of State Power in America, in: Hastings L. J. 45 (1994), S. 1061, 1076; William J. Novak, The People’s Welfare: Law and Regulation in Nineteenth-Century America, 1996; Markus D. Dubber, The Police Power: Patriarchy and the Foundations of American Government, 2005; siehe allgemein Mariana Valverde, Law’s Dream of a Common Knowledge, 2003, S. 157–163. 18 Es gibt weder Aufzeichnungen noch Zeitungsberichte zur Debatte über die Gesetzesvorlage. Preyer, Crime, the Criminal Law and Reform in Post-Revolutionary Virginia (Fn. 9), S. 69–70. Madison schlug jedoch vor, dass die Prüfung des gesamten Revisionsprozesses zum Stillstand gekommen sei, als die Beratungen das Proportionalitätsgesetz erreichten. Ebd., S. 69. 19 Edward Coke, Institutes of the Lawes of England, 1628–1644 (insbes. Teil 1 [Landbesitz]: Commentary upon Littleton bzw. „Coke on Littleton“). 20 Dumas Malone, Jefferson and His Time (Jefferson the Virginian), Bd. 1, 1948, S. 269– 270. Wie Julian Boyd in seiner Ausgabe von Jeffersons Schriften feststellt, hat die „bewusste Nachahmung der Form alter juristischer Abhandlungen“ sogar seine Rechtschreibung beeinflusst: „Im ersten Teil des Manuskripts buchstabierte TJ [Thomas Jefferson] das Word ‚forfeit‘ wie er es gewohnt war; er wechselte dann plötzlich zu ‚forfiet‘ über, und änderte daraufhin die Buchstabierung am Anfang [des Manuskripts] von ‚forfeit‘ auf ‚forfiet.‘ Von diesem Punkt an buchstabierte er das Word ‚forfiet‘ als ob dies schon immer seine Gewohnheit gewesen wäre.“ Siehe Julian P. Boyd u. a. (Hrsg.), Thomas Jefferson, Papers, Bd. 2, 1950, S. 505.

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Julian Boyds (eines anderen Jefferson-Experten) Gesamtbeurteilung des Entwurfs war wesentlich weniger wohlwollend: „Die Präambel dieses Gesetzentwurfs gab in hervorragender Sprache die aufgeklärten Ideen von Beccaria und anderen wieder; aber die Bestimmungen des Gesetzes, die TJ [Thomas Jefferson] vorschlug, taten kaum mehr, als die allgemein anerkannten Bräuche in Bezug auf Kapitalverbrechen zu wiederholen. Sich in Bezug auf das Verbrechen der Verstümmelung auf das Lex Talionis zu stützen[, in welchem bestimmt wird, dass der Verstümmelnde ‚selbst verstümmelt oder in ähnlicher Weise entstellt werde‘,] steht in einem schockierenden Gegensatz zum liberalen Denken der Zeit.“21

Jefferson selbst schien die Mängel des Gesetzes bemerkt zu haben. Bereits 1778, bevor der Entwurf dem Gesetzgeber als Teil des Überarbeitungsprogramms vorgelegt wurde, schrieb er an Wythe, dass das talionische Prinzip, das in dem Gesetzentwurf eine so zentrale Rolle spielt, „den humanisierten Gefühlen moderner Zeiten zuwider sein wird“ und „überdacht werden muss“.22 In seiner Autobio­graphie erklärte er, dass „er sich nicht erinnere, wie dieses … widerwärtige Prinzip dazu kam, unsere Anerkennung zu erlangen“.23 Während er Wythe schrieb, dass er „die Skala der von der Kommission beschlossenen Bestrafungen eingehalten habe“, gibt es keine Erwähnung einer Einigung über das talionische Prinzip im Allgemeinen oder über spezifische talionische Strafen in der einzigen erhaltenen Aufzeichnung der bereits erwähnten Kommissionssitzung. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Jefferson sich weder für das Strafrecht interessierte, noch sehr viel darüber wusste und keine Ideen hatte, wie man es reformieren könnte. Der primäre Verwendungszweck für den Gesetzentwurf zur Strafrechtsreform bestand letztlich darin, seine Schreibkunst zu üben. Zur Inspiration, sowohl in materieller als auch in formeller Hinsicht, wandte er sich an „den alten Meister“, seinen geliebten Coke. Cokes Gewohnheit zu kopieren, Anmerkungen so umfangreich und unabhängig vom Haupttext zu schreiben, dass sie zu einem zweiten parallelen Text werden, war eine Sache. Darüber hinaus auch den Inhalt von Cokes Werk aus dem siebzehnten Jahrhundert („The Institutes of the Lawes of England“) zu kopieren, war eine andere.24 Das Ergebnis war ein Gesetzentwurf, der eine absichtlich unsystematische und reaktionäre Replikation von Cokes „gelerntem und autoritativem Durcheinander“ bedeutete. Der Gesetzentwurf stützte sich nicht nur auf mittelalterliches Recht. Ein Großteil davon besteht aus in den Marginalien wiedergegebenen Auszügen aus mittelalterlichen Rechtsmaterialien. Coke wird nicht weniger als 22 Mal erwähnt und zitiert; Bractons Traktat aus dem 13. Jahrhundert De legibus et consuetudinibus Angliae zehnmal; Hales strafrechtliche Abhandlung aus dem 17. Jahrhundert 21

Thomas Jefferson, Papers, hrsg. von Julian P. Boyd u. a., Bd. 2, 1950, S. 504. Jefferson, Brief an George Wythe v. 1. Nov. 1778 (Fn. 12), S. 230. 23 Jefferson, Autobiography (Fn. 7), S. 39. 24 Thomas Jefferson, Brief an John Tyler vom 17. Juni, 1812, in: Andrew A.  Lipscomb /  Albert Ellery Bergh (Hrsg.), The Writings of Thomas Jefferson, Bd. 13, 1904, S. 166–167. 22

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17 Mal; und nicht zuletzt angelsächsische Rechtsquellen aus dem neunten und zehnten Jahrhundert (in der ursprünglichen angelsächsischen Version) 25 Mal.25 Im Vergleich dazu wird Blackstone ganze elf Mal erwähnt (nie zitiert, und meist als Teil eines Kettenzitat mit anderen Quellen), angesichts der Dominanz seiner Commentaries on the Laws of England als führende Abhandlung und Lehrbuch zum Common Law eine bemerkenswert kleine Zahl.26 Ebenso bemerkenswert ist, dass der gesamte Gesetzentwurf nur vier kurze Kettenzitate zu Beccaria enthält, von denen keines etwas mit Beccarias gefeiertem Argument in Über Verbrechen und Strafen zu tun hat.27 (Montesquieu und ­Pufendorf erhalten jeweils nur ein Zitat.) Boyds harte Worte über Jeffersons Gesetzentwurf sind daher nicht harsch genug. Zu sagen, dass Jeffersons umfangreiche Anmerkungen „von klassischen Autoren und den alten angelsächsischen Gesetzen sowie von modernen Pönologen wie Beccaria stammen“, ist zumindest insofern irre­führend, als sie die relative Irrelevanz der letzteren im Vergleich zu den ersteren verschleiert. Zählt man wohlwollend mit, so werden die vier Zitate von Beccaria durch die 74 Zitate von „klassischen Autoren und den alten angelsächsischen Gesetzen“ in den Schatten gestellt. Auch wenn Boyd zu Recht auf den Dr. Jekyll / Mr. Hyde-Charakter des Gesetzes hinweist, dessen umnachteter Inhalt anscheinend nichts mit seiner vielversprechenden Präambel zu tun hat, ist es mehr als eine Neuauflage „der aufgeklärten Ideen von Beccaria und anderen in hervorragender Sprache“.28 Jefferson bezieht sich nicht auf Beccaria oder dessen Prinzip des „größten Glücks der größten Zahl“, das Beccarias Strafrechtssystem (und das von Bentham) antreibt. Stattdessen enthält die Präambel Hinweise über die möglichen Ansprüche eines neuen amerikanischen Strafrechts, oder die Art und Weise der Legitimation der staatlichen Strafgewalt, auch wenn sie nicht konkret vorschlägt, wie ein legitimes Strafrecht tatsächlich aussehen könnte. (Was auf die Präambel folgt, macht deutlich, dass Jefferson keine Vorstellung davon hatte, wie er diese Herausforderung meistern sollte; dass das Abschreiben bei Coke und den Gesetzen von Æthelstan (927–939) und Cnut (1016–1035) hierfür nutzlos war, muss ihm allerdings klar gewesen sein.)

25 Die mittelalterlichen Zitate in der Gesetzesvorlage sind so umfangreich, dass ein Herausgeber von Jeffersons Werken die Dienste eines „Professor Robert K. Root, Princeton University, für die Transkription des angelsächsischen Textes“ in Anspruch nehmen musste. Siehe Thomas Jefferson, Papers, hrsg. von Julian P. Boyd u. a., Bd. 2, 1950, S. 504. 26 Siehe z. B. Robert A. Ferguson, Law and Letters in American Culture, 1984, S. 11 (Die Commentaries „rangieren nach der Bibel an zweiter Stelle als literarischer und intellektueller Einfluss auf die Geschichte amerikanischer Institutionen.“). 27 Siehe Paul Spurlin, Beccaria’s Essay on Crimes and Punishments in Eighteenth-Century America, in: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 27 (1963), S. 1489. 28 Thomas Jefferson, Papers, hrsg. von Julian P. Boyd u. a., Bd. 2, 1950, S. 505.

A. Verrat und Souveränität 

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A. Verrat und Souveränität Bevor man sich Jeffersons Präambel, eindeutig dem bedeutendsten – oder zumindest vielversprechendsten – Teil der Gesetzesvorlage nähert, verdient der Rest zumindest einen kurzen Blick. Einige Höhepunkte werden ausreichen, da das vernichtende Urteil von Boyd wenig Konkretisierung erfordert. Die Todesstrafe wurde für Verrat (Hoch- und Kleinverrat)29 und Mord beibehalten. Andere Todesstrafen wurden durch Zwangsarbeit ersetzt. Jefferson hat in einem separaten Gesetzentwurf (Nr. 68) dargelegt, was er für die „zur Arbeit für den Commonwealth verurteilten Missetäter“ im Sinn hatte: „Missetäter … werden eingesetzt, um in den Galeeren des Commonwealth zu rudern oder in den Bleiminen oder an Festungsanlagen oder anderen harten und mühsamen Werken zum Nutzen des Commonwealth zu arbeiten, wie es der Gouverneur und der Rat nach eigenem Ermessen anordnen: Und während der Zeit ihrer Verdammung … werden ihre Köpfe und Bärte ständig geschoren und werden sie mit Tracht aus grobem Material bekleidet, einheitlich in Farbe und Art, und von allen anderen, die von den guten Bürgern dieses Commonwealth verwendet werden, unterschieden, damit sie sowohl bei ihren gewöhnlichen Beschäftigungen als auch bei dem Versuch, aus der öffentlichen Obhut zu fliehen, öffentlich gekennzeichnet werden können.“30

Der Gesetzentwurf sah die Kastration als Strafe für „Vergewaltigung, Poly­gamie oder Sodomie“ vor (eine Frau hingegen sollte man „durch den Knorpel ihrer Nase ein Loch von mindestens einem halben Zoll Durchmesser schneiden“). Andere demütigende Strafen wie der Tauchstuhl, Peitschen und der Pranger wurden beibehalten, unter anderem für Hexerei31 und Diebstahl.32

29

Siehe Dubber, The Police Power (Fn. 17), S. 24–30. Thomas Jefferson, A Bill for the Employment, Government and Support of Male­factors Condemned to Labour for the Commonwealth, in: Julian P.  Boyd u. a. (Hrsg.), Thomas ­Jefferson, Papers, Bd. 2, 1950, S. 513. Das Gesetzesvorhaben wurde nicht verabschiedet. In seiner Autobiografie schreibt Jefferson, dass er später Zweifel an diesem Vorschlag hatte, nachdem sich ein Experiment, Gefangene „als öffentliches Spektakel“ auszustellen, in Pennsyl­vania als erfolglos erwiesen hatte. Jefferson, Autobiography (Fn. 7), S. 41. 31 Obwohl man von Jefferson sagen kann, dass er Hexerei und damit zusammenhängende Delikte („Beschwörung, Verzauberung oder Zauberei oder vorgetäuschte Prophezeiungen“) als Täuschungsverbrechen (insofern sie als „Versuche, die Menschen zu täuschen oder ihr Verständnis zu missbrauchen“ und als „vorgetäuschte Künste“ beschrieben werden), fügte er gerne umfangreiche Zitate aus angelsächsischen mittelalterlichen Texten ein, die eine andere Sichtweise der fraglichen Verbrechen widerspiegeln (z. B. „if witches, or weirds, man-swearers, or murther- wroughters, or foul, defiled, open whore-queens, anywhere in the land were gotten, then force them off the earth, and cleanse the nation, or in earth forth-fare them withal, but on they beseech, and deeply better“). Ebd., § XXIX (Randbemerkung). 32 Nicht alle in der Gesetzesvorlage kopierten mittelalterlichen Gesetze dienten dazu, die Strenge und Brutalität der Bestrafungen zu erhöhen. Der Ausbruch aus dem Gefängnis zum Beispiel war nicht strafbar (zumindest für den Ausbrecher selbst); nach Jeffersons Rand­ bemerkungen war es „zweifelhaft“, ob ein Gefängnisausbruch eine Straftat nach dem Common Law war. Siehe Thomas Jefferson, in: Julian P. Boyd u. a. (Hrsg.), Papers, Bd. 1, 1950, S. 502. 30

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Giftmord wurde mit Vergiftung bestraft.33 Verstümmelung, wie wir gesehen haben, wurde mit Verstümmelung in gleicher Weise bestraft.34 Mord durch Duell wurde durch Erhängen bestraft, die Leiche dann an einen Galgen gehängt – mit weiterer Bestrafung für jeden, der sie entfernt, und der Anweisung, sie wieder aufzuhängen.35 Der „Kleinverrat“ (petit treason) – das ultimative Polizeidelikt, den eigenen Hausvater zu töten – wurde als eine vom Mord getrennte und schwerwiegendere Straftat beibehalten, die durch Erhängen bestraft wurde, gefolgt von der Sezierung durch „Anatomisten“.36 Es gab mehrere solcher Fälle in Jeffersons Virginia des 18. Jahrhunderts, alle gegen Sklaven, was zu schrecklichen Bestrafungen führte.37 Jeffersons Umgang mit Verrat ist einen genaueren Blick wert. Diese Straftat muss für ihn und andere Gründerväter – als (erfolgreiche) ehemalige Verräter und frischgebackene Souveräne eines neuen und zunächst noch recht wackeligen neuen Staatsgebildes – von doppeltem Interesse gewesen sein. Darüber hinaus fängt es auf anschauliche Weise die Vorstellung von Strafmacht ein, die Jefferson und seine amerikanischen Zeitgenossen für selbstverständlich hielten, selbst wenn man die Möglichkeit hatte, „das Richtige zu tun“, d. h. das Strafrecht eines Staates – seines Staates – im Lichte „unserer republikanischen Regierungsform“ neu zu schreiben 33 Kathryn Preyer stellt fest, dass Vergiftungen im Allgemeinen mit Tötungsdelikten in Verbindung gebracht wurden, die von Sklaven begangen wurden, und dass dies die einzige Art von Tötungsdelikten war, die mit Tötung in gleicher Weise bestraft wurde (siehe Preyer, Crime, the Criminal Law and Reform in Post-Revolutionary Virginia [Fn. 9], S. 64). Coke betonte, dass „von allen Straftaten der Mord am hässlichsten ist, [u]nd von allen Morden ist der Mord durch Vergiftung am verabscheuungswürdigsten“. Siehe Edward Coke, The Third Part of the Institutes of the Laws of England, 1644, S. 47. 34 Im altenglischen Originalton: „Whosoever on purpose and of malice aforethought shall maim another, or shall disfigure him, by cutting out or disabling the tongue, slitting or cutting off a nose, lip or ear, branding, or otherwise, shall be maimed or disfigured in like sort: or if that cannot be for want of the same part, then as nearly as may be in some other part of at least equal value and estimation in the opinion of a jury … “. 35 Bei dem Versuch, die brutale Bestrafung für das Duellieren zu erklären, spekuliert Preyer, dass „uneingeschränkte, unregulierte Einzelkämpfe die Bande der sozialen Einheit innerhalb der herrschenden Klasse zerreißen und die soziale Stabilität hätten bedrohen können“ (Preyer, Crime, the Criminal Law and Reform in Post-Revolutionary Virginia [Fn. 9], S. 66). Diese Erklärung stünde allerdings im Widerspruch zum eingeschränkten Strafrechtsverständnis der Präambel, demgemäß Strafrecht das „Leben, die Freiheiten und das Eigentum“ der Bürger schützen soll (siehe unten), da der Unterlegene in einem Duell genauso tot wäre wie jedes andere Mordopfer, mit der Ausnahme, dass er in seinen Tod eingewilligt hatte (und damit den Gewinner anscheinend eher zu einer Milderung als zu einer Verschärfung der Strafe berechtigte). Sie würde besser zu einer strafpolizeilichen Auffassung passen, die den eklatanten Eingriff in das Gewaltmonopol des Souveräns als besonders schwere Missachtung seiner Autorität ansehen würde. Eine harte und besonders erniedrigende Bestrafung von Mikro­haushältern würde so ihren (untergeordneten) Rang als Haushaltsobjekte der Staatsmacht hervorheben. 36 Zur Sezierung als Strafverschärfung, siehe Peter Linebaugh, The Tyburn Riot Against the Surgeons, in: Douglas Hay u. a. (Hrsg.), Albion’s Fatal Tree, 1975, S. 65. 37 Siehe Arthur P. Scott, Criminal Law in Colonial Virginia, 1930, S. 161–162.

A. Verrat und Souveränität 

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und „in all seinen Teilen“ zu „korrigieren“, „mit einem einzigen Blick auf die Vernunft und das Wohl jener, für deren Regierung es entworfen wurde“.38 Darüber hinaus ist das amerikanische Recht in Bezug auf Straftaten gegen den Staat, insbesondere die Definition des Verrats, seit Jeffersons Tag weitgehend unverändert geblieben. In der Tat, und noch interessanter, spiegelte Jeffersons Definition wiederum die Vorstellung von Verrat wider, die dem uns bereits vertrauten englischen Treason Act von 1351 interliegt. Wie wir gesehen haben, ruhte diese Konzeption aus dem 14. Jahrhundert ihrerseits lediglich auf einem tief verwurzelten Verständnis der Beziehung zwischen Souverän und Untertan, das bis auf die Anfänge der westlichen politischen Geschichte zurückgeht, zwischen dem Hausvater und seinem Haushalt, dem Fürsten und seinem Leibeigenen, dem Herrn und seinem Knecht, dem Abt und seinem Mönch, dem pater familias und seiner familia, dem Oikonomikos und seinem Oikos. Verrat war immer, und im amerika­ nischen Recht ist es bis heute der Verstoß gegen die Treuepflicht (allegiance, fealty, loyalty), die der Untertan dem Souverän, jedem Souverän, „hoch“ und „niedrig“, „groß“ und „klein“ schuldet.39 Auf diese Weise ist die Straftat des Verrats symptomatisch für das amerikanische Strafrecht als Ganzes, das die amerikanische Revolution weitgehend unverändert und unangefochten überlebt hat. Verrat ist in der Tat symptomatischer für die amerikanische Strafmacht qua Polizeimacht als jedes andere Delikt; als direkter Verstoß gegen die Souveränität ist er nicht nur für Straftaten gegen den Staat, sondern für das amerikanische Strafregime als Ganzes paradigmatisch. Die folgende Diskussion wird sich fast ausschließlich auf das Verbrechen des Verrats konzentrieren, und nicht auf andere Straftaten gegen den Staat, wie Aufruhr, Spionage, Revolte, Rebellion und so weiter. Verrat ist das älteste und schwerste Delikt gegen den Staat. Tatsächlich ist es nach der seit langem vorherrschenden, polizeilich begründeten Auffassung des amerikanischen Strafsystems das schwerste Delikt von allen.40 Aus Sicht der Polizeimacht erscheint, wie wir gesehen haben, die Strafmacht des Staates als im Konzept der Souveränität verwurzelt. Der Souverän, qua Souverän, hat die Macht zur Polizei, die Macht – wie sie Blackstone in seinem Werk „Commentaries on the Laws of England“ denkwürdig umschrieben hat – als „pater-familias der Nation,“ „die Individuen des Staates, wie die Mitglieder einer wohlregierten Familie“41 zu betrachten und „die öffentliche Polizei und Ökonomie“, d. h. die „angemessene Regelung und häusliche Ordnung des Königreichs“,42 zu erhal 38

Jefferson, Autobiography (Fn. 7), S. 37. Für eine ambitionierte Darstellung einer „modernen“ Konzeption von Straftaten gegen den Staat und ihrer Bestrafung, siehe Shai Lavi, Citizenship Revocation as Punishment: On the Modern Duties of Citizens and Their Criminal Breach, in: U. Toronto L. J. 61 (2011), S. 783. 40 Siehe Hanauer v. Doane, 79 U. S. 342 (1870) („No crime is greater than treason.“). 41 William Blackstone, Commentaries on the Laws of England, Bd. 4, 1769, S. 162. 42 Ebd. 39

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ten oder, in Rousseaus etwa zeitgleicher Formulierung, die politische Ökonomie „dieser großen Familie, des Staats“43 zu betreuen. Die Polizeimacht ist umfassend, flexibel und undefinierbar, abgesehen von ihrer Undefinierbarkeit.44 Als direkte Manifestation der Souveränität selbst steht auch die Polizeimacht außerhalb einer sinnvollen Kontrollmöglichkeit. Eine Kritik der Ausübung der Polizeimacht durch den Souverän käme einem Affront gegen seine Souveränität gleich. So eng und offensichtlich war die Verbindung zwischen Polizei und Staat, dass die Polizeimacht (power power) oft als Synonym für Souveränität behandelt wurde, so sehr, dass die amerikanische Debatte über die Souveränität der Bundesstaaten in einem föderalistischen Regierungssystem als Debatte über deren Polizeimacht geführt wurde. Die Bundesstaaten mussten die (bzw. ihre) Polizeimacht behalten, denn ohne sie wären sie keine souveränen Staaten mehr, sondern bloße Provinzen in einem Nationalstaat der ihnen bestimmte Aspekte seiner Souveränität übertrug (statt andersherum). Aus dieser Sicht erstreckt sich die Polizeimacht als „die wesentlichste, die beharrlichste und die stets am wenigsten einschränkbare Herrschaftsmacht“,45 laut dem U. S. Supreme Court, auf „die Sicherheit der sozialen Ordnung, das Leben und die Gesundheit des Bürgers, die Behaglichkeit einer Existenz in einer dicht besiedelten Gemeinschaft, den Genuss eines privaten und sozialen Lebens und die gewinnbringende Nutzung von Eigentum“, ganz zu schweigen von „dem Schutz von Leben, Gliedmaßen, Gesundheit, Behaglichkeit und Ruhe aller Personen“.46 Derart umfassend und flexibel konzipiert, ist die Polizeimacht die moderne Manifestation der Macht des Hausvaters (oder Muntherrn) zur Erhaltung vom Munt – bzw. Frieden – seiner Hausgemeinschaft, die sich ihrerseits aus der patriarchalischen Macht des römischen pater familias (die manus, zu der die vitae necisque potestas, die Macht über Leben und Tod der Familienmitglieder gehörten) und des athenischen oikonomikos vor ihm ableitet. Wie Pollock und Maitland es ausdrückten: „Jeder Hausvater hat seinen Frieden.“47 Diese Friedensmacht des Mikrohausvaters wurde im Laufe der Zeit vom König vereinnahmt, der als Makrohausvater die Macht beanspruchte, den Frieden seines Haushalts – d. h. seines Reiches – und schließlich des Staates zu wahren, der die von weniger bedeutenden Hausvätern regierten Mikrohaushalte einbezog. Dieser Prozess der Zentralisierung bedeutete eine Neukonzeption der Macht der lokalen Hausväter über ihre jeweiligen Haushalte, die nun aus der übergeordneten Macht des Königs als parens patriae – seiner originären Souveränität – hervorging, und nicht aus der dem (Mikro-)Haus­vater

43

Jean-Jacques Rousseau, Discourse on Political Economy, 1755. Siehe Slaughter-House Cases, 83 U. S. 36, 49 (1873) (es ist unmöglich, und muss es auch sein, eine genaue Definition oder Begrenzung der Polizeimacht vorzunehmen.). 45 Constitutional Law, 16A Am. Jur. 2d § 317. 46 Slaughter-House Cases, 83 U. S. 36, 49–50 (1873). 47 Frederick Pollock / Frederic William Maitland, The History of English Law Before the Time of Edward I, Bd. 1, 2. Aufl. 1898, S. 454. 44

A. Verrat und Souveränität 

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innewohnenden Macht. Mit anderen Worten, der Mikrohausvater wurde zum Objekt innerhalb des königlichen Makrohaushalts degradiert und behielt seinen derivativen Subjektstatus nur in seinem Mikrohaushalt und nur durch die Gnade des Königs. In den Vereinigten Staaten wurde der „Frieden des Königs“ (king’s peace) kurzerhand für einen anderen, republikanischen, Hausvater-Souverän umbenannt: der „Frieden des Staates“, der „Frieden des Commonwealth“ oder der „öffentliche Frieden“.48 Mit dem rationalisierenden und wissenschaftlich orientierten Impuls der frühen Aufklärung und der Transformation der Herrschaft von der königlichen oder fürstlichen Herrschaft zu einem abstrakten, entpersönlichten und amorphen Staatskonzept, wurden der Begriff des Friedens des Makrohaushalts und der „ökonomischen“ Herrschaft des Makrohaushalts zur Aufrechterhaltung seines Friedens entsprechend umklassifiziert – als „Polizei“ und „politische (anstatt häuslicher) Wirtschaft“, d. h. das Projekt der Herrschaft des Staates als öffentlicher Haushalt. Zu behaupten, dass die Strafmacht in den Vereinigten Staaten von der Polizeimacht (police power) ausgeht, bedeutet also, dass sie eine und in der Tat die gewaltigste Manifestation der Macht des Souveräns ist, den Frieden des Makrohaushalts zu wahren. Nun hat aber nicht nur jeder Hausvater seinen Frieden, wie Pollock und Maitland bemerkten, sondern jeder Hausvater hat auch seinen Verrat. In einem polizei­lichen Modell der Strafmacht ist Verrat das Ur-Delikt, der radikalste und direkteste Angriff auf den souveränen Hausvater, indem er die Treuepflicht bricht, die jedes Haushaltsmitglied dem Hausvater schuldet. Verrat ist das reinste Delikt gegen den Souverän qua Souverän und den Hausvater qua Hausvater. Hochverrat ist also nicht die einzige Form des Verrats. Der Treason Act von 1351 hat nicht nur den Verrat „definiert“, sondern auch in zwei Arten unterteilt: hohen (high) oder großen (grand) Verrat und kleinen Verrat (petit treason). Die Fürsten wollten, dass Edward III. die Unterscheidung zwischen Verrat und Verbrechen klärt, vermutlich in der Hoffnung, dass eine – irgendeine – Definition von Verrat besser sein würde als keine. Dies war übrigens keine Frage bürgerlicher Freiheiten (geschweige denn der Freiheit an sich49), was auch immer das im 14. Jahrhundert bedeutet hätte; es ging um die Disposition des Eigentums des Täters, das an den König fiel, wenn es sich um „Verrat“ handelte, und an den örtlichen Fürsten, wenn es sich um ein „Verbrechen“ (felony) handelte. Unglücklicherweise wurde Edward ihrem Anliegen gerecht indem er Verrat so breit und vage definierte, dass zumindest einige Fürsten sich gewünscht haben mögen, nicht das zu bekommen, was sie sich gewünscht hatten.

48

Siehe Frederick Pollock, The King’s Peace, in: Law Notes 6 (v. April 1902), S. 5. Siehe Paul D. Halliday, Habeas Corpus: From England to Empire, 2010, S. 187 (Freiheiten vs. Freiheit in der frühen englischen Politikgeschichte).

49

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Im Treason Act kodifizierte Edward seinen höheren Status gegenüber den Fürsten, indem er zwischen Hochverrat (grand), der seine Souveränität verletzte, und nicht so hohen (oder nur kleinem, petit) Verrat unterschied, der gegen einen Fürsten begangen wurde. Er ging weiter und definierte petit treason viel enger als grand treason; so galt beispielsweise die berühmte bzw. berüchtigte Straftat, „den Tod unseres Herrn des Königs zu planen oder sich vorzustellen“, nur für den König selbst, neben „unserer Herrin seiner Gemahlin oder … deren ältesten Sohn und Erben“, aber nicht für die Fürsten; Hochverrat beinhaltete auch „die Schändung der Gattin des Königs oder der ältesten unverheirateten Tochter des Königs, oder der Frau des ältesten Sohnes und Erben des Königs“ sowie die Tötung aller möglichen königlichen Beamten, einschließlich der Richter, ganz zu schweigen von den heutzutage bekannteren Verratsvarianten, „Krieg gegen unseren Herrn den König in seinem Reich zu führen oder den Feinden des Königs in seinem Reich beizutreten, ihnen Hilfe und Beistand im Königreich oder anderswo zu leisten“. Im Gegensatz dazu war die Definition des petit treason viel kürzer und enger. Sie beschränkte sich auf tatsächliche, nicht nur geplante oder vorgestellte Tötungen durch „einen Diener von seinem Herrn oder durch eine Frau von ihrem Herrn, oder wenn ein weltlicher oder religiöser Mann seinen Prälaten tötet, dem er Treue und Gehorsam schuldet“. Dennoch ist es trotz dieser Unterscheidung zwischen grand und petit treason wichtig, den Punkt nicht aus den Augen zu verlieren, dass auch der kleine Verrat eine Form des Verrats war. Verrat ist also ein Vergehen gegen den Hausvater und die ihm innewohnende Souveränität; er ist ein Akt des Ungehorsams. Verrat ist nicht der Bruch der Loyalität gegenüber dem Staat; er ist der Bruch der Loyalität gegenüber dem Staat qua Souverän. Als solcher ist er in einer fundamentalen und grundlegend patriarchalischen Unterscheidung zwischen Souverän und Subjekt, zwischen Hausvater und Haushalt und sogar zwischen König und Fürsten verwurzelt. Eine Auseinandersetzung mit dem Treason Act von 1351 ist nicht von bloß historischem Interesse. Der Akt hat eine beträchtliche zeitgenössische Bedeutung aus dem einfachen Grund, dass sein Konzept von Souveränität das amerikanische Verratsrecht bis heute untermauert (ganz zu schweigen davon, dass es heute noch in Kraft ist, wenn auch in revidierter und gekürzter Form). Verrat war damals der ultimative Bruch der Treue, und auch heute noch ist er der ultimative Bruch der Treue. Der Souverän hat sich gewandelt, aber die Konzeption des Verrats als Souveränitätsdelikt nicht. Der Adressat des Ungehorsams hat sich geändert, aber das Delikt des Ungehorsams nicht. Die Erstheit des Verrats bleibt: Verrat war damals Polizeidelikt Nr. 1 (wenn auch avant la lettre), und Verrat ist heute Polizei­ delikt Nr. 1. Wenden wir uns jetzt dem Verrat in Jeffersons Strafgesetzentwurf zu. Der Text folgt der Formulierung des Treason Act von 1351. Verrat wird wieder (und weiterhin) definiert als „Krieg gegen das Commonwealth zu führen oder den Feinden

A. Verrat und Souveränität 

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des Commonwealth beizutreten, ihnen Hilfe oder Beistand im Commonwealth oder anderswo zu leisten“. Vier Jahrhunderte später wird ein Souverän (der König) durch einen anderen (das Commonwealth) ersetzt. Analoge Substitutionen erscheinen in den Verratsvorschriften der US-Verfassung und des Bundesstrafgesetzes über Verrat (wo der König durch „die Vereinigten Staaten“ ersetzt wird). Bemerkenswert ist, dass Jefferson sogar die Straftat des „kleinen Verrats“ („petty treason“) beibehalten hat; obwohl er nicht definiert, gruppiert er sie mit den Taten „eines Mannes, der seine Frau, eines Elternteils, das sein Kind oder eines Kindes, das eines seiner Eltern ermordet“. Der einzige Unterschied zwischen dem englischen Gesetz von 1351 und der Definition von Verrat seit der amerikanischen Gründerzeit, mit Ausnahme des Austauschs eines Herrschers durch einen anderen, ist das Weglassen einer seiner drei Klauseln; Verrat beinhaltet immer noch gegen den Souverän du jour Krieg zu führen und seinen Feinden Hilfe oder Beistand zu leisten. Weggefallen sind das „Planen oder Vorstellen des Todes unseres Herrn, des Königs“ oder „unserer Herrin seiner Gemahlin oder … deren ältesten Sohn und Erben“, sowie „die Schändung der Gattin des Königs oder der ältesten unverheirateten Tochter des Königs, oder der Frau des ältesten Sohnes und Erben des Königs“. Das Wegfallen dieser Klausel ist kaum verwunderlich, denn nach dem Ersetzen des persönlichen Souveräns des Königs durch den abstrakten Souverän der „Vereinigten Staaten“, ist es schwierig, sich vorzustellen, was das Planen oder die Vorstellung des Todes des unpersönlichen Souveräns bedeuten würde, ganz zu schweigen vom Tod seiner Gattin, seines Sohnes oder seines Erben, geschweige denn von den anderen erwähnten Verfehlungen gegen seine Gattin, Tochter, oder Schwiegertochter. Interessanterweise soll ihr Weglassen jedoch die Abneigung der Gründerväter gegen den sogenannten „konstruktiven“ Verrat (constructive treason) widerspiegeln, den sie auf immer weiter ausschweifende richterliche Auslegungen der „Planen oder Vorstellen“-Klausel zurückführten.50 Diese Abneigung spiegelte ihre sehr persönliche Sorge wider, wegen Verrats für das, was sie als legitimen zivilen Ungehorsam und politische Aktivitäten betrachteten, verfolgt zu werden, noch bevor sie offen einen Krieg gegen den königlichen Souverän (oder vielmehr gegen seine korrupten Kolonialbeamten, eine Unterscheidung, die die Revolutionäre oft betonten) führten. Sie änderte nichts an ihrem Verständnis von Verrat als Treuebruch gegenüber dem (jeweiligen) Souverän, der dem Treason Act von 1351 im Allgemeinen und den verbleibenden beiden Klauseln (Krieg zu führen und Feinden des Souveräns Hilfe oder Beistand zu leisten) im Besonderen unterliegt. Welchen materiellen Einwand es auch immer gegen die „Planen oder Vorstellen“-Klausel 50 Siehe allgemein James Willard Hurst, The Law of Treason in the United States: Selected Essays, 1971; Bradley Chapin, The American Law of Treason: Revolutionary and Early National Origins, 1964.

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gab, es war ein Einwand gegen konstruktiven Verrat (und eine sehr spezielle Anwendung einer sehr spezifischen Interpretation dieser Konstruktion), nicht gegen den althergebrachten Begriff des Verrats selbst. Darüber hinaus bedeutet das Weglassen der Klausel weder eine Ablehnung der Weite oder Unschärfe der englischen Definition von Verrat aus dem Jahr 1351 noch eine Ablehnung der Einbeziehung vorbereitender Straftaten oder der schuldunabhängigen Strafhaftung. Die verbleibenden zwei Klauseln sind nicht weniger weit gefasst und ungenau – und sind in gewissem Sinne noch weiter und ungenauer – als die Klausel, die es verbietet, den Tod des Königs zu planen oder sich vorzustellen. Wie die gescheiterte U. S. Federal Criminal Code Commission in den 1970er Jahren betonte, enthielt und enthält die amerikanische Definition von Verrat keine Anforderung an mens rea, während der Akt des Planens und Vorstellens Intentionalität zumindest impliziert.51 Das anachronistische Element des „Kriegführens“ (levying war) spezifiziert weder die Aktivität (levying) noch ihr Ziel (war). Das nicht minder archaische Element „Hilfe oder Beistand gewährleisten“ (giving aid or comfort) unterscheidet nicht zwischen dem Ausmaß der Hilfe – oder des Beistandes – und versucht nicht, sich auf allgemeine Formen eventueller stellvertretender Verantwortlichkeit des amerikanischen Strafrechts (Teilnahme (complicity), Verschwörung (conspiracy) usw.) mit ihren dogmatischen Voraussetzungen und Einschränkungen (soweit vorhanden) zu beziehen, sondern erweckt eher den Eindruck eines frei zu gestaltenden sui generis-Delikts. Vor allem hatten die amerikanischen Verfasser nichts gegen das Merkmal einzuwenden, das heute am häufigsten mit der „Planen oder Vorstellen“-Klausel in Verbindung gebracht wird – eine Versuchshaftung (inchoacy), die so extrem ist, dass sie mit dem anderen mutmaßlichen Grundprinzip des angloamerikanischen Strafrechts, actus reus, unvereinbar ist. Die Unvollständigkeitshaftung blieb ein zentrales Merkmal des amerikanischen Verratsrechts und des amerikanischen Strafrechts im Allgemeinen, mit weit gefassten Konzepten von Versuch, Verschwörung, Beihilfe und Anstiftung, und schließlich dem Model Penal Code von 1962, der sich gezielt um die frühestmögliche Ermittlung krimineller Gefährlichkeit bemüht.52 Mit anderen Worten war die weggelassene „Planen und Vorstellen“-Klausel angesichts der Unvollständigkeitshaftung im amerikanischen Strafrecht einfach überflüssig. Und die Vollendung der beschriebenen Tat, der Tod des Königs, war 51

Final Report of the National Commission on Reform of Federal Criminal Laws, Proposed New Federal Criminal Code, 1971, S. 77–78, § 1101. Zu anderen (gescheiterten) Bemühungen in England und Kanada, die Definition von Verrat zu revidieren, siehe The Law Commission Codification of the Criminal Law: Treason, Sedition and Allied Offences, Reihe: Working Paper No. 72, 1977; Law Reform Commission of Canada, Crimes Against the State, Reihe: Working Paper No. 49, 1986. Beide diskutiert bei Kent Roach, Old and New Visions of Security: Hong Kong’s Security Bill Compared to Post-September 11 Anti-Terrorism Legislation, in: Fu Hualing u. a. (Hrsg.), National Security and Fundamental Freedoms: Hong Kong’s Article 23 Under Scrutiny, 2005, S. 119. 52 Siehe Kapitel 7.

B. Präambel: Ein unerfülltes Versprechen 

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nicht mehr möglich, da er durch einen neuen, unpersönlichen, souveränen Souverän ersetzt wurde. Diese Erfindung oder Entdeckung eines neuen, abstrakten Souveräns stand im Mittelpunkt des amerikanischen revolutionären Projekts. Im Verratsrecht kann es jedoch als Ersatz einer Form der Konstruktivität durch eine andere oder, noch radikaler, als die Umwandlung von Verrat überhaupt in konstruktiven Verrat angesehen werden. Soweit das Opfer des Verrats, der neue Souverän „der Vereinigten Staaten“ ein völlig künstliches, konstruiertes Konzept war, muss ein Delikt oder Verrat an ihm selbst ebenfalls konstruiert sein.53 Der Tod der Person des Königs ist dagegen so tatsächlich wie die Person des Königs selbst. Im Gegensatz dazu ist jeder Verstoß gegen die Treue zu den Vereinigten Staaten oder „dem Volk“ (the people) oder „dem Commonwealth“ oder „dem Staat“ so konstruiert, wie sein Opfer konstruiert ist, und soll es auch so sein.

B. Präambel: Ein unerfülltes Versprechen Aber lassen wir den Inhalt von Jeffersons Entwurf über verhältnismäßige Strafen hinter uns und werfen wir einen genaueren Blick auf seine Präambel, die für ­Jefferson der perfekte Ort war, um die Grundlagen und Grenzen der staatlichen Bestrafung zu skizzieren, und die in der Tat eine Reihe von suggestiven Bemerkungen zu diesem Thema enthält. Schließlich sind wir letztendlich darauf aus, das amerikanische Strafregime einer kritischen Analyse des Rechts zu unterziehen, anstatt nur seine polizeilichen Merkmale hervorzuheben, egal wie markant sie auch sind. Eine kritische Analyse des Rechts ist jedoch nur dann angemessen und möglich, wenn die rechtliche  – und nicht die polizeiliche  – Analyse dem amerikanischen rechts-politischen Projekt im Allgemeinen und dem darin befind­ lichen Straf­projekt nicht völlig fremd erscheint. Anders ausgedrückt muss man in der Lage sein, eine rechtliche – und nicht nur eine polizeiliche – Geschichte der amerikanischen Strafmacht zu erzählen, auch wenn diese Geschichte bisher weitgehend eine Geschichte der – bewussten oder reflexiven – Vermeidung war, eine Geschichte der Abwesenheit und nicht der Präsenz. Es geht uns also darum zu überprüfen inwieweit Jeffersons Präambel zu einem solchen, rechtlichen, Narrativ beitragen kann, einem Narrativ, das im Einklang stünde mit der Vorstellung der Vereinigten Staaten als Staat, der sich mit dem weitreichenden Legitimations­ projekt in modernen westlichen liberalen Demokratien identifiziert. Zu Beginn der Präambel seines Strafgesetzentwurfs räumt Jefferson ein, dass Verbrechen „häufig vorkommen“, ein vielversprechender Ausgangspunkt für jede Darstellung des Strafrechts. Im Gegensatz dazu hat die politische Theorie heute 53 Zur Rolle der sog. constructive offenses im amerikanischen Strafrecht, allen voran der Besitzstraftat, siehe Markus D. Dubber, Policing Possession: The War on Crime and the End of Criminal Law, in: J. Crim. L. & Criminology 91 (2002), S. 829.

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wenig zu diesem Thema zu sagen, da sie alle Hände voll zu tun hat mit Fragen der Idealtheorie unter Bedingungen perfekter Konformität.54 Das Problem der Bestrafung stellt sich jedoch gerade bei Nichtkonformität in der Form von Kriminalität. So gleitet die Strafmacht des Staates von ganz oben nach ganz unten auf der To-Do-Liste eines Theoriezweigs, der sich angeblich mit der kritischen Analyse der Staatsmacht beschäftigt; anstatt sich auf die Bestrafung als schärfste und prima facie illegitimste Manifestation der Staatsmacht und damit als die Form der Staatsmacht zu konzentrieren, die am dringendsten einer kritischen Analyse bedarf, liegt der Fokus stattdessen auf der Kriminalität als der unbequemen und möglicherweise störenden Ausnahme von der Konformitätsnorm, einer Norm, die fest im Auge behalten werden muss, wenn die ohnehin schon knifflige Aufgabe der idealen Theoriebildung eine Chance auf Erfolg haben soll. Jefferson erkannte stattdessen, dass selbst wenn eine ideale Theorie entwickelt und umgesetzt worden wäre, das Problem der Kriminalität nicht aufhören würde zu existieren, was seiner Meinung nach zur Notwendigkeit führte, ein Strafsystem auch nach der Bildung einer republikanischen Regierung beizubehalten. Bereits in einem Brief an Pendleton von 1776 verwarf er „die fantastische Idee der Tugend und des Gemeinwohls als ausreichenden Schutz des Staates gegen die Begehung von Verbrechen“.55 In demselben Schreiben erklärte er jedoch, dass seine Ambitionen bei der Reform eines solchen Strafsystems streng begrenzt seien: „Es ist nur die blutrünstige Einfärbung unserer Strafgesetze, die ich ablehne … Ich weiß, dass Strafen notwendig sind, und ich würde sie vorsehen, streng und unflexibel, aber im Verhältnis zum Verbrechen. Der Tod könnte für Mord und vielleicht für den Verrat vollstreckt werden … Vergewaltigung, Sodomie etc. bestrafen durch Kastration.“56

Ein republikanisches Strafsystem, so Jefferson in der Präambel weiter, müsse „aus den Zwecken der Gesellschaft ableitbar“ sein, der „Hauptzweck“ sei „das sichere Vergnügen“ am „Leben, den Freiheiten und dem Eigentum“ der Menschen“.57 Verbrechen sind jedoch „Verletzungen des Lebens, der Freiheiten und des Eigentums anderer“. Die Aufgabe des Strafrechts ist es, sie „einzuschränken“ und zu „unterdrücken“. An anderer Stelle ist Jefferson sehr deutlich, was seine Sicht über die Aufgabe der Regierung in der New Republic betrifft, ohne jedoch explizite Schlussfolgerungen für ein republikanisches Strafrechtssystem zu ziehen. So argumentierte er 54

Siehe z. B. John Rawls, A Theory of Justice, 1971 (ideale politische Theorie einer „wohlgeordneten“ Gesellschaft); Jürgen Habermas, Between Facts and Norms: Contributions to a Discourse Theory of Law and Democracy, Übersetzung von William Rehg, 1996, S. xxxix (Strafrecht außerhalb des Untersuchungsbereichs). 55 Thomas Jefferson, Papers, hrsg. von Julian P. Boyd u. a., Bd. 1, 1950, S. 505. 56 Ebd. 57 Zur Debatte über die Bedeutung des Unterschieds zwischen dem Schutz von „Leben, Freiheit und Eigentum“ und dem Schutz von „Leben, Freiheit und dem Streben nach Glück“ (wie Jefferson es in der Unabhängigkeitserklärung formulierte) siehe Mayer, The Constitutional Thought of Thomas Jefferson (Fn. 15), S. 77–81.

B. Präambel: Ein unerfülltes Versprechen 

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1816, dass „kein Mensch ein natürliches Recht hat, Aggressionen gegen die gleichen Rechte eines anderen zu begehen; und das ist alles, wovon die Gesetze ihn abhalten sollten …“.58 Tatsächlich befürwortete er eine frühe Version des Schadensprinzips (harm principle) von Mill, als er bereits 1776 in seinen Notizen über Locke feststellte, dass „Gesetze gegen Verletzungen von anderen, aber nicht von uns selbst schützen“59 und wenig später in seinen Notizen über den Staat Virginia, dass „die legitimen Befugnisse der Regierung sich nur auf solche Handlungen erstrecken, die für andere schadhaft sind“.60 Jefferson führte dieses Argument an, um seine Forderungen nach Religions- und Meinungsfreiheit zu untermauern („Es schadet mir nicht, wenn mein Nachbar sagt, dass es 20 Götter oder keinen Gott gibt. Es greift weder in meine Tasche noch bricht es mir das Bein.“61); dass ­Jefferson den (jetzt) offensichtlichen Zusammenhang mit der allgemeineren Frage nach der Legitimität staatlicher Bestrafung oder dem Umfang des Strafrechts nicht hergestellt hat, scheint sein Desinteresse an der Straffrage nur zu bestätigen. Mit etwas Mühe kann man sogar Passagen im Hauptteil seines Gesetzentwurfes zum Strafrecht finden, die als konsistent mit einem weniger ausschließlich polizeilichen Ansatz zum Strafen gelesen werden können. Jefferson schlug zum Beispiel vor, bei Eigentumsdelikten die Rückerstattung ans Opfer als Sanktion neben einer Strafe (der Zwangsarbeit) einzuführen (bzw. aus seiner Sicht, beizubehalten). Obwohl Jefferson dies in seinen Marginalien à la Coke nicht zum Ausdruck bringt, wäre dieses letztgenannte Merkmal des Gesetzentwurfs mit einem rechtlichen Ansatz zum Strafrecht nicht unvereinbar, d. h., mit einer Sichtweise, die den Gegenstand des Strafrechts nicht als die Erhaltung des Friedens des Staats-Hausvaters betrachtet, sondern als die berechtigte Reaktion des Staates auf die Verletzung des Rechts einer Person durch eine andere Person im Rahmen eines neuen Herrschaftssystems, das auf der Gleichheit aller Mitglieder der politischen Gemeinschaft beruht und deren Selbstbestimmung – durch Zustimmung (consent of the governed) – als einzige Legitimation für Zwangsmaßnahmen des Staates gegen sie manifestiert.62 Die Wiedergutmachung des Verlusts, den eine Person, das „Opfer“, durch eine andere Person, den „Täter“, erlitten hat, steht im Einklang mit dieser republikanischen Sichtweise des Strafrechts, die die Person-als-Rechtsinhaber, nicht den Staat-als-Hausvater, als das paradigmatische Opfer jeder Straftat betrach 58 Thomas Jefferson, Brief an Francis W.  Gilmer, 7. June 1816, in: Paul Leicester Ford (Hrsg.), The Writings of Thomas Jefferson, Bd. 10, 1892–99, S. 32. 59 Thomas Jefferson, Notes on Locke and Shaftesbury, in: Julian P.  Boyd u. a. (Hrsg.), ­T homas Jefferson, Papers, Bd. 1, 1950, S. 544, 546. Der Entwurf über Verhältnismäßigkeit streicht die Eigentumsverwirkung als Strafe für Selbstmord, allerdings mit der (von Beccaria entlehnten) Begründung, „dass der Selbstmörder dem Staat [!] weniger schadet als derjenige, der ihn mit seinem Eigentum verlässt“. Ebd., S. 496. 60 Jefferson, Notes on the State of Virginia (Fn. 3), Frage xvii. 61 Ebd. 62 Beispiele für Jeffersons häufige Hinweise auf die Bedeutung von Selbstbestimmung und Konsens für die Legitimität von Herrschaft finden sich bei Mayer, The Constitutional Thought of Thomas Jefferson (Fn. 15), S. 22, 54, 70, 85.

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Kap. 6: Thomas Jeffersons Virginia Criminal Law Bill

tet.63 Tatsächlich hätte man die Herausforderung der republikanischen Herrschaft in Jeffersons Sinne so formulieren können, warum und unter welchen Umständen (wenn überhaupt) staatliche Strafe legitim ist, falls eine Rückerstattung (oder Entschädigung) möglich ist, d. h. ob die Verletzung des Opfers ohne die Anwendung strafrechtlicher Schmerzen gegen Täter oder sogar ohne die direkte Einmischung des Staates durch das „öffentliche“ Recht (im Gegensatz zum Zivilrecht oder anderen, außergerichtlichen, Streitbeilegungsmethoden) behoben werden kann.64 Hier sind also die Grundzüge einer republikanischen Darstellung des Verbrechens und des Anwendungsbereichs des Strafrechts, zusammengesetzt aus der Präambel und verschiedenen Bemerkungen, die Jefferson in anderen Zusammenhängen gemacht hat und die möglicherweise für das Strafrecht relevant sind: Opfer von Straftaten sind individuelle Personen. Der Staat ist berechtigt – und womöglich verpflichtet – die Grundrechte seiner Wähler (Leben, Freiheit, Eigentum) zu schützen, gegebenenfalls durch den Gebrauch von Strafen. Diese dienen eher einer repressiven statt einer retributiven Funktion. Die staatliche Macht zur Bestrafung geht jedoch nicht über den Schutz des „Lebens, der Freiheiten und des Eigentums“ seiner Angehörigen hinaus. Glauben, Gedanken, und Meinungen liegen außerhalb der staatlichen Strafmacht, ebenso wie Handlungen, die für andere nicht schädlich sind und Verhaltensweisen, die nur für den Handelnden selbst schädlich sind. Die Verbrechensbekämpfung kann auf drei Arten erreicht werden: Abschreckung, Besserung und Unschädlichmachung („Vernichtung“). So würde sie die Täter, die Schwerstarbeit in der Öffentlichkeit verrichten, in „lebendige und lang anhaltende Spektakel verwandeln, um andere davon abzuhalten, die gleichen Straftaten zu begehen“. Die Besserung ist auch „ein Zweck, der die Aufmerksamkeit der Gesetze verdient“. Die Unschädlichmachung ist jenen vorbehalten, „deren Existenz mit der Sicherheit ihrer Mitbürger unvereinbar geworden ist“. Verbrechen werden von „bösen und lasterhaften Männern begangen, die sich der Herrschaft zügelloser Neigungen unterwerfen“. Täter sind „Mitglieder der Gesellschaft“ und „Mitbürger“; ein Täter „der eine geringere Verletzung begeht“ ist von anderen insofern zu unterscheiden, als er „nicht ganz den Schutz seiner Mitbürger verwirkt, sondern, nachdem er eine seiner Straftat entsprechende Strafe erlitten hat, Anspruch auf deren Schutz vor größeren Schmerzen hat.“ Aus diesem Anspruch leitet sich das Erfordernis der Verhältnismäßigkeit ab („eine Pflicht der Legislative, die Verbrechen, deren Unterdrückung sie für notwendig erachtet gebührenderweise einzustufen und eine entsprechende Abstufung der Strafen hieran anzupassen“).

63

Siehe allgemein Markus D. Dubber, Victims in the War on Crime: The Use and Abuse of Victims’ Rights, 2002, Teil 2. 64 Markus D. Dubber, Criminal Law Between Public and Private Law, in: R. A. Duff u. a. (Hrsg.), The Boundaries of the Criminal Law, 2011, S. 191.

B. Präambel: Ein unerfülltes Versprechen 

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Jefferson erklärt nicht, was den guten Täter von dem schlechten Täter unterscheidet, ein Klassifizierungsproblem, das die Pönologen bis heute verwirrt. (Eine Version dieser Unterscheidung spielte nicht nur eine wichtige Rolle in der Gefängnisreformbewegung von Philadelphia im späten 18. Jahrhundert, sondern ist auch – in einer etwas differenzierteren Version – seit ihrer Entstehung im späten 19. Jahrhundert von zentraler Bedeutung für die Behandlungs-Pönologie.65) Es scheint, dass „böse“ Täter unverbesserlich wären. Diejenigen, die (nur) „lasterhaft“ sind, haben jedoch möglicherweise bessere Chancen auf eine Korrektur. Ihre Besserung würde sie vermutlich dazu veranlassen, die „Herrschaft“ der „zügellosen Neigungen“ aufzugeben und ihre Fähigkeit zur Selbstbestimmung (oder Selbstbeherrschung) auszuüben, indem sie sich auf ihre Vernunft – oder vielleicht auf ihre gezügelten(?) Neigungen – stützen; eine solche Neigung könnte Wohlwollen (oder vielleicht sogar ein Gerechtigkeitsgefühl) sein, das für Jeffersons Sicht der Personalität zentral war.66 Die Todesstrafe kann gegen das von Jefferson formulierte Erfordernis der Verhältnismäßigkeit verstoßen, soweit sie diejenigen vernichtet, die möglicherweise gebessert werden könnten, und dadurch „den Staat schwächt, indem sie … nütz­ liche Mitglieder abschneidet“. Sie schließt auch die oben genannte Möglichkeit der Abschreckung durch den Einsatz öffentlicher Arbeit als alternative Bestrafung für besserungsfähige Straftäter aus. Darüber hinaus sind „grausame und blutrünstige Gesetze“ kontraproduktiv; anstatt abzuschrecken, wecken sie das Wohlwollen anderer, „um Strafverfolgungen zu verhindern, Zeugenaussagen zu unterdrücken oder sie voreingenommen zu hören.“ Jefferson fordert nicht die Abschaffung der Todesstrafe. Insbesondere erwähnt er nicht Beccarias bekanntes Argument, dass die Todesstrafe gegen den Gesellschaftsvertrag verstößt, weil niemand zugestimmt hat oder zustimmen wird, sich dem Tod zu unterwerfen (und auch nicht sein anderes, nicht auf Einwilligung basierendes Argument, dass „ewige Sklaverei“ – „schiavitù perpetua“ – eine wirksamere Abschreckung darstellen würde).67 Tatsächlich behält Jefferson, wie wir bereits erwähnt haben, nicht nur die Todesstrafe, sondern auch die Körperstrafe bei: „Um Verbrechen und Bestrafungen daher verhältnismäßiger zu gestalten: Von der Generalversammlung wird beschlossen, dass von nun an kein Verbrechen mehr mit der Entziehung von Leib und Leben geahndet wird, mit Ausnahme derjenigen, die im Folgenden als solche bestimmt sind“ (Hervorhebung durch Verf.). 65

Siehe Kapitel 4, Abschnitt C (Liszts diagnostisches Trio); Markus D. Dubber, The Right to Be Punished: Autonomy and Its Demise in Modern Penal Thought, in: Law & Hist. Rev 16 (1998), S. 113. 66 Für Beispiele, siehe Mayer, The Constitutional Thought of Thomas Jefferson (Fn. 15), S. 72, 73, 76, 77, 85, 104; siehe allgemein Markus D. Dubber, The Sense of Justice: Empathy in Law and Punishment, 2006. 67 Cesare Beccaria, Von den Verbrechen und den Strafen, übersetzt von Thomas Vormbaum, 2005, S. 51 f. (Abschnitt XVI. Von der Todesstrafe) (zuerst erschienen 1764). Zur Strafsklaverei siehe Kapitel 4, Abschnitt E.

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Kap. 6: Thomas Jeffersons Virginia Criminal Law Bill

Letztendlich war Jeffersons Interesse an der Präambel nicht darauf gerichtet, eine Legitimation der Bestrafung im Allgemeinen zu schaffen. Wie aus seinem Brief an Pendleton hervorgeht, war die Strafe seiner Meinung nach einfach notwendig, um „dem Staat ausreichende Sicherheit vor der Begehung von Verbrechen zu bieten“, ohne den Zusammenhang zwischen „der Sicherheit des Staates“ und dem Schutz seiner Bürger vor Verletzungen ihrer Rechte zu untersuchen. Anstatt die Strafmacht überhaupt zu legitimieren, begnügte sich Jefferson damit, das Problem ihrer exzessiven, d. h. unverhältnismäßigen Ausübung anzugehen. Er erkannte jedoch an, dass die Frage der Verhältnismäßigkeit in Betracht gezogen werden sollte, da bestimmte Straftäter trotz ihrer Verbrechen ihren Status als Mitbürger oder Mitglieder der Gesellschaft beibehielten. Dies ist eine wichtige Erkenntnis und stellt das Problem der Bestrafung als eine Frage der Politik im Allgemeinen und des Rechts (im Gegensatz zur Polizei) im Besonderen dar. Nicht nur wird die Strafe durch den Schutz der Rechte von Personen als Rechtssubjekte gerechtfertigt (anstatt durch die Durchsetzung der Autorität des Souveräns), darüber hinaus wird sie begrenzt durch die Erkenntnis, dass nicht nur Opfer, sondern auch Täter paradoxerweise mit den gleichen Rechten ausgestattet sind, deren Schutz ihre Bestrafung rechtfertigt. Jeffersons Auffassung von Bestrafung als politisches Problem blieb jedoch beschränkt. Nicht eingeschlossen waren jene Täter, ob böse oder unverbesserlich oder beides, die mehr als „eine geringere Verletzung“ verursacht hatten und sich dadurch als jenseits der Grenze der politischen Gemeinschaft existierend erwiesen hatten. Diese Rechtlosen, „deren Existenz mit der Sicherheit ihrer Mitbürger unvereinbar geworden ist“, wurden vom Staat „abgeschnitten“. Ihre Hinrichtung stellte kein politisches Problem dar; bestenfalls konnten sie das Wohlwollen der Bevölkerung beflügeln, wenn sie, als „letztes melancholisches Mittel“, „vernichtet“ wurden. Die Ächtung war schließlich auch ein vertrautes Merkmal des mittelalterlichen englischen Rechts – und Jefferson zögerte nicht, sie anzuwenden, wenn er es für angemessen hielt.68 Jefferson erkannte, dass keine Zeit zu verlieren war, um die einmalige Gelegenheit einer radikalen Gesetzesreform im Hinblick auf die republikanischen Prinzipien, vor allem das Grundprinzip der Selbstbestimmung, zu nutzen: „Unsere Herrscher werden korrupt, und unser Volk unvorsichtig werden … Es kann nie zu oft wiederholt werden, dass es nun an der Zeit ist, jedes wesentliche Recht auf eine rechtliche Grundlage zu stellen, während unsere Herrscher ehrlich und wir vereint sind.“69 Im Bereich des Strafrechts wurde diese Chance verpasst. Es ist kein Zufall, dass Jefferson diese warnenden Worte im Rahmen einer Diskussion über die Religions 68 Siehe oben Kapitel 5 (Jeffersons „bill of attainder“ gegen Josiah Philips aus dem Jahre 1778). 69 Jefferson, Notes on the State of Virginia (Fn. 3), Frage xvii.

C. Livingston und der 13. Zusatzartikel zur amerikanischen Verfassung  

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freiheit, eines seiner zentralen Anliegen, geschrieben hat. Weder Jefferson noch irgendjemand anderes seiner Generation erkannte die volle Kraft der neuen republikanischen Herausforderung an die Legitimität des Gebrauchs einer staatlichen Strafmacht gegen die Personen, von denen der Staat seine Legitimität ableitet, indem er diejenigen des Lebens, der Freiheit und des Eigentums (und der Gliedmaßen) beraubte, deren „Leben, Freiheiten und Eigentum“ er zu bewahren vorgab. Während die Präambel seiner „Bill for Proportioning Crimes and Punishments in Cases Heretofore Capital“ einige Hinweise darauf enthält, wie ein republika­ nisches Strafrechtssystem legitimiert werden könnte, war der Gesetzesentwurf selbst ein Misserfolg, eine leere Neuauflage mittelalterlicher Rechtsaltertümer.

C. Livingston und der 13. Zusatzartikel zur amerikanischen Verfassung Es wurde kein weiterer Versuch unternommen, das Problem der republikanischen Bestrafung als grundlegende Frage der Legitimität der amerikanischen Staatsmacht in den Griff zu bekommen. Der Moment war vorbei. Edward Living­ stons System von Strafgesetzbüchern (einschließlich einem Gesetzbuch über Verbrechen und Bestrafung; einer Prozessordnung; einem Gesetzbuch zum Beweisrecht; einem Gesetzbuch zur Besserung und Gefängnisdisziplin und einer Definitionssammlung), das etwa 50 Jahre später (1826) abgeschlossen wurde, war bereits zu weit vom Moment der revolutionären Krise entfernt, um die Legitimität jeder Form staatlichen Handelns in Frage zu stellen. Livingston hoffte, dort erfolgreich zu sein, wo Bentham versagt hatte; auch wenn Bentham nie dazu kam, ein eigenes Strafgesetzbuch zu entwerfen, bot er seine Dienste zur strafrechtlichen Kodifizierung wiederholt amerikanischen Gesetzgebern, Gouverneuren und Präsidenten an.70 Livingstons Kodizes („nach dem großartigen Prinzip des Nutzens gestaltet!“71) übernahmen Benthams rigoros utilitaristischen Ansatz, in Detail, Umfang und Länge. Sie erlitten auch das gleiche Schicksal, eines, das sie mit J­ effersons früherem enttäuschenden Versuch einer Strafrechtsreform teilten: keiner von ihnen wurde umgesetzt.72 Bevor wir uns mit dem Model Penal and Correctional Code des American Law Institute von 1962 befassen, dem nächsten bedeutenden Versuch, zwei Jahrhunderte nach Jeffersons Gesetzentwurf systematisch über das amerikanische 70 Zu Livingston siehe Mark E.  Kann, Limited Liberty, Durable Patriarchy: in Markus D. Dubber / Mariana Valverde u. a. (Hrsg.), Police and the Liberal State, 2008, S. 74; siehe auch Sanford H. Kadish, Codifiers of the Criminal Law: Wechsler’s Predecessors, Colum. L. Rev. 78 (1978), S. 1098. 71 Edward Livingston, The Complete Works of Edward Livingston on Criminal Jurisprudence, 1873, Bd. 1, S. 175. 72 Obwohl „die Republik Guatemala“ anscheinend „bestimmte Teile … in ihre eigenen Gesetze übernommen“ hat. Siehe (Chief Justice) Chase, Introduction, in: ebd., S. vii.

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Kap. 6: Thomas Jeffersons Virginia Criminal Law Bill

Strafsystem nachzudenken, ist eine bestimmte Lücke auf halbem Weg zwischen ­Jefferson und dem Model Code hervorzuheben: das Versäumnis, die Herausforderung des Strafrechts während des konstitutionellen Augenblicks der Reconstruction Ära (1865–77) nach dem amerikanischen Bürgerkrieg (1861–65) anzugehen. Das Problem der Behandlung von Straftätern wurde nicht nur (wieder einmal) unbeantwortet gelassen; es wurde explizit vom Umfang der politischen Reformen und ganz allgemein von der (Neu-)Konzeptualisierung des amerikanischen politischen Projekts ausgeschlossen. Der 13. Zusatzartikel der US-Verfassung (1865) schaffte die Sklaverei mit der einen Hand ab und sorgte mit der anderen dafür, dass unfreiwillige Knechtschaft und Sklaverei als Strafe für Straftäter verfassungsrechtlich unbedenklich blieben; Straftäter blieben entrechtet.73 Gleichzeitig spielte die mögliche Nutzung des Bundesrechts zur Ausgestaltung und Sicherung der „Bürgerrechte“ (civil rights) von Strafopfern (ursprünglich ehemalige Sklaven) keine Rolle bei der dramatischen Entwicklung (und Ausdehnung) des Bundesstrafrechts seit Anfang des 19. Jahrhunderts.74 Soweit man sagen kann, dass der Bürgerkrieg zu einer „Bürgerrechtsbewegung“ geführt hat, umfasste diese Bewegung keine Straftäter. Erst die „zweite“ Bürgerrechtsbewegung ein Jahrhundert später stellte die Frage nach den Bürgerrechten von Straftätern. Aber auch hier kam die Frage nicht für sich sondern im Zusammenhang der Durchsetzung von Bürgerrechten für Angehörige rassischer und ethnischer Minderheiten, insbesondere für Afroamerikaner, auf, die in allen Phasen des Strafverfahrens, von der Ermittlung (als Verdächtige) über die Anwendung (als Angeklagte) bis hin zum Vollzug (als Gefängnisinsassen), vor allem, aber nicht ausschließlich im amerikanischen Süden, d. h. in den Staaten der alten Confederacy, überproportional unter den Objekten staatlichen Handelns zu finden waren (und immer noch sind). Die Befreiung von Straftätern vom verfassungsmäßigen Verbot der unfreiwilligen Knechtschaft und Sklaverei nach dem 13. Zusatzartikel war kein konstitutioneller Unfall, sondern spiegelte eine sehr spezifische und weit verbreitete Auffassung von Straftätern wider  – oder machte zumindest Raum für sie. Im amerikanischen Vollzugs-„Recht“ (prison law) erlebten die Jahrzehnte nach dem Bürgerkrieg die Blütezeit der Lehre vom „Sklaven des Staates“, wie sie im oft zitierten Fall Virginia von Ruffin v. Commonwealth von 1871 ausführlich dargelegt ist, der es wert ist, in größerem Maße als üblich zitiert zu werden:

73

13. Zusatzartikel; siehe Kapitel 4, Abschnitt E. Siehe 18 U. S. C. §§ 241, 242 („deprivation of any rights, privileges, or immunities secured or protected by the Constitution or laws of the United States“); Civil Rights Act of 1866 (14 Stat. 27–30) § 2. Stattdessen entstand das moderne amerikanische Bundesstrafrecht aus der massiven Ausübung einer umfassenden de facto föderalen Polizeimacht, die de jure den einzelnen Bundesstaaten vorenthalten war, unter dem Deckmantel gewisser enumerativer Verfassungskompetenzen, z. B. die „Regulierung des interstaatlichen Handels“ (commerce power) und die Postkompetenz (postal power), Art. I § 8. 74

C. Livingston und der 13. Zusatzartikel zur amerikanischen Verfassung  

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„Ein verurteilter Verbrecher, den das Recht in seiner Menschlichkeit durch Einsperrung im Gefängnis anstelle des Todes bestraft, unterliegt während seiner Bestrafung allen Gesetzen, die die Legislative in ihrer Weisheit in Bezug auf die Verwaltung dieser Institution und die Kontrolle ihrer Insassen erlassen kann. Bis auf weiteres befindet er sich während seines Aufenthalts [service] im Gefängnis in einem Zustand der Strafknechtschaft gegenüber dem Staat. Er hat als Folge seines Verbrechens nicht nur seine Freiheit verwirkt, sondern alle seine Persönlichkeitsrechte, außer denen, die das Recht in seiner Menschlichkeit ihm gewährt. Er ist bis auf weiteres der Sklave des Staates. Er ist civiliter mortuus; und sein Besitztum, wenn er ein solches hat, wird wie das eines Toten verwaltet. Die Bill of Rights ist eine Erklärung allgemeiner Prinzipien, um eine Gesellschaft von freien Menschen zu regieren, und nicht von verurteilten Verbrechern und bürgerlich Toten. Solche Menschen haben in der Tat einige Rechte, wie das Recht in seiner Güte ihnen zuspricht, aber nicht die Rechte der Freien. Sie sind die Sklaven des Staates, die für abscheuliche Verbrechen bestraft werden, die gegen die Gesetze des Landes verübt wurden. In diesem Zustand der Strafknechtschaft müssen sie den Vorschriften der Institution, deren Insassen sie sind, und den Gesetzen des Staates unterliegen, dem ihre Inhaftierung [service] als Sühne für ihre Verbrechen zusteht.“75

Es ist wichtig zu erkennen, dass es sich bei der „Sklaven des Staates“-Doktrin nicht um eine Ausnahmeerscheinung in den Südstaaten handelt, obwohl die Behandlung von Gefängnisinsassen eindeutig auch im Zusammenhang mit den Bemühungen nach dem Bürgerkrieg zu sehen ist, ehemalige Sklaven anders als durch informelle Sklavendisziplin (vor allem durch den Sklavenhalter) und formelle Sklavengesetze zu überwachen, einschließlich beispielsweise alter VagabundenGesetze, neuerer Waffenbesitzdelikte und der Entziehung des Wahlrechts für Straftäter.76 Die „Sklaven des Staates“-Doktrin war weder auf den Süden beschränkt, noch war sie eine spontane nach dem Bürgerkrieg eingeführte Maßnahme zur Gefangenenkontrolle; wie das Zitat aus dem Ruffin-Urteil deutlich macht, handelte es sich stattdessen um ein nicht weiter bemerkenswertes staatliches Kontrollprogramm, das im Rahmen einer langvertrauten Sichtweise des Strafens als Ausübung der grenzenlosen polizeilichen Ermessensfreiheit des Souveräns dargestellt und gesehen wurde. (Wie wir wissen, hatte sie auch einen erlesenen europäisch-­ aufklärerischen Stammbaum; Beccaria, Kant etc. hielten die Inhaftierung als staatliche Sklaverei für selbstverständlich.77) Der Täter hatte sich durch seine Straftat zum Rechtlosen gemacht und sich der Gnade des Souveräns ausgeliefert, der frei war, seine diskretionäre Polizeimacht nach eigenem Ermessen auszuüben, sei es in Form der Todesstrafe oder a fortiori jeder geringeren Strafe (die Heinrich 75

62 Va. 790 (1871). Siehe Ava DuVernay (Regie), 13th, 2016, Kandoo Films; Michelle Alexander, The New Jim Crow: Mass Incarceration in the Age of Colorblindness (2010); Douglas A. Blackmon, Slavery by Another Name: The Re-Enslavement of Black Americans from the Civil War to World War II, 2008; siehe auch Gabriel J. Chin, „Reconstruction, Felon Disenfranchisement, and the Right to Vote: Did the Fifteenth Amendment Repeal Section 2 of the Fourteenth Amendment?, in: Geo. L. J. 92 (2004), S. 259. 77 Siehe Kapitel 4, Abschnitt E. 76

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Kap. 6: Thomas Jeffersons Virginia Criminal Law Bill

Brunner denkwürdig „Abspaltungen“ der ultimativen Strafe der Rechtlosigkeit78 nannte), die der Souverän in jeglicher Weise und unter allen Bedingungen, die er für angemessen hielt, ausüben durfte: Der polizeiliche Souverän genoss ein uneingeschränktes Ermessen in Bezug auf die Tatsache, die Quantität und die Qualität der Strafdisziplin über den Täter als rechtloses Wesen. Somit blieb der Straftäter auch während Reconstruction außerhalb des Rahmens der kritischen Analyse des staatlichen Handelns durch Recht. Der 13. Verfassungszusatz sanktionierte nicht nur die Fortsetzung der unfreiwilligen Knechtschaft und Sklaverei für Straftäter in einem Atemzug mit der Erklärung eines kategorischen Endes der Sklaverei „innerhalb der Vereinigten Staaten oder an jedem Ort, der ihrer Gerichtsbarkeit untersteht“; gleichzeitig erlaubte der 14. Verfassungszusatz den Staaten, Erwachsenen „wegen der Teilnahme an einer Rebellion oder anderen Verbrechen“ das Wahlrecht zu entziehen.79 (Man beachte den selbstverständlichen inhaltlichen Zusammenhang zwischen Rebellion und „anderen Verbrechen“, der uns bereits aus den Federalist Papers bekannt war.80) Der implizite und unbestrittene Konsens über die fortdauernde Rechtslosigkeit von Straftätern blieb so vollständig, dass es den Staaten kaum Schwierigkeiten bereitete, die uneingeschränkte polizeiliche Überwachung von Straftätern als passendes Instrument für die fortdauernde Überwachung der befreiten Sklaven einzusetzen.

78

Heinrich Brunner, Abspaltungen der Friedlosigkeit, in: Forschungen zur Geschichte des deutschen und französischen Rechtes, 1894, S. 444. 79 Zusatzartikel XIV, § 2. 80 Siehe Kapitel 5.

Kapitel 7

Model Penal Code und War on Crime  Der allgemeine Mangel an prinzipiellem Interesse für die alltäglichsten Fragen der Strafrechtsdogmatik (ganz zu schweigen von Fragen der staatlichen Strafmacht) veranlasste das American Law Institute – eine damals noch junge private Organisation reformgesinnter, aber keineswegs radikaler, führender amerika­ nischer Anwälte, Richter und Juraprofessoren  – in den 1920er Jahren zu dem Entschluss, dass bei der Strafrechtsreform von Grund auf neu angefangen werden musste. Während andere Rechtsgebiete (insbesondere das Vertrags- und Deliktsrecht) mit „Restatements“ (also Neudarstellungen des positiven Rechts) auskommen könnten (z. B. Restatement of the Law of Contracts (1932), Restatement of the Law of Torts (1934)), würde das Strafrecht einen Neustart in Form von „Muster­ gesetzen“ erfordern. Das Ergebnis war das in den 1930er Jahren konzipierte, aber erst zwischen 1952 und 1962 ausgearbeitete Muster-Gesetzbuch „Model Penal and Correctional Code“, ein ehrgeiziger Versuch, der sowohl die Definition von Strafnormen und die Darlegung allgemeiner Verantwortungsprinzipien (materielles Strafrecht) als auch die Vollstreckung von Strafen (Vollzugsrecht, prison law) umfasst.1

A. Der Behandlungsansatz Zu Beginn ist es wichtig, nicht nur die Breite, sondern auch die Grenzen der Ambitionen der Verfasser des Model Penal Code zu erkennen. Im Sinne des American Law Institute, waren diese juristischer, nicht politischer, dogmatischer, und nicht legitimatorischer Art. Das soll nicht heißen, dass ihrem Projekt ein ideologisches Fundament fehlte. Tatsächlich war dieses Fundament ihrer Ansicht nach erst vor kurzem wissenschaftlich als „richtig“ bewiesen worden. Ziel des Projekts „Model Penal and Correctional Code“ war es, diese wissenschaftliche Entdeckung im Detail auszuarbeiten und umzusetzen – im wahrsten Sinne des Wortes zu kodifizieren – und damit auf alle Ecken des kunterbunten Flickwerks „amerikanisches Strafrecht“ auszudehnen. 1

Der „Model Penal Code of Criminal Procedure“ (Strafprozessrecht) des American Law Institute, der Jahrzehnte vor dem Model Penal Code entworfen wurde, war wesentlich weniger ambitioniert; der „Model Code of Pre-Arraignment Procedure“ (Untersuchungsstrafprozessrecht), der nach dem Model Penal Code entworfen wurde, setzt seine Ziele höher, aber war wesentlich limitierter in seinem Anwendungsbereich und schnell durch Entwicklungen des U. S. Supreme Court überholt.

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Kap. 7: Model Penal Code und War on Crime  

Die Spannung im Kern des Code-Projekts resultierte aus der Tatsache, dass sein Ansatz zur Strafrechtsdoktrin – „treatmentism“ (Behandlungsansatz) – in einem polizeilichen Modell der Strafe und nicht in einem Rechtsmodell verwurzelt war. Das Mustergesetz ist ein polizeiliches Regelwerk, das auf eine wirksame Kontrolle gefährlicher Individuen abzielt, und nicht ein System von Rechtsnormen, das darauf abzielt, die Personalität von Straftätern oder Opfern zu schützen und zu manifestieren. Am Ende brachte also der erste und einzige konzentrierte Versuch, die Frage der staatlichen Strafmacht umfassend anzugehen, ein komplexes Strafsystem hervor, das, anstatt die seit langem bestehende Ausgrenzung der Objekte dieser Macht aus dem US-amerikanischen rechtlich-politischen Projekt in Frage zu stellen, diese verfestigte, und zwar im Namen von Rationalität, Expertise und wissenschaftlichem Fortschritt. Dazu kommt noch, dass der Kern der den Model Code motivierenden wissenschaftlichen Entdeckung („Behandlung statt Bestrafung“!), anstatt den Durchbruch eines völlig neuen „modernen“ amerikanischen Nachkriegsansatzes zum staatlichen Strafen zu markieren, direkt aus dem Drehbuch der „fortschrittlichen“ kontinentalen Kriminal(rechts)wissenschaftler der Jahrhundertwende stammte. Wie wir bereits gesehen haben, ist die Linie von Liszts Marburger Programm (1882) über Wechsler & Michaels A Rationale of the Law of Homicide (1937) bis hin zu Wechslers Plan eines Modell-Strafrechtsgesetzes (1952) klipp und klar.2 Der Model Penal Code ist aus einem universellen – und bewusst wissenschaftlichen – Konsens über das Ziel der Ausübung der Strafmacht hervorgegangen: die Prävention von Straftaten. Diese Prävention sollte durch Abschreckung potenzieller Straftäter und, wenn die Abschreckung erfolglos blieb (wie es recht häufig der Fall war), durch „Behandlung“ derjenigen Personen erreicht werden, die als ungewöhnlich gefährlich für gesellschaftliche Interessen identifiziert wurden. Die Vorstellung, dass das Strafrecht für gerechte Strafen sorgen sollte, wurde – laut Wechsler – von einer langen Reihe angesehener Strafrechtsexperten, darunter „Beccaria, Bentham, die englischen Strafrechtskommissionsmitglieder des 19. Jahrhunderts, [James Fitzjames] Stephen, Livingston, die New Yorker Kodifizierer und [Oliver Wendell Holmes]“, „widerlegt“ (ganz zu schweigen von Mortimer Adler und Wechslers Columbia Law School-Kollegen Jerome Michael in ihrem Buch „Crime, Law and Social Science“ von 1933).3 Wechsler hatte kein Interesse daran, diese überlieferte Weisheit in Frage zu stellen. Als führender Vertreter der Legal Process Schule hatte Wechsler dafür, was er als theoretische Exkursionen von geringer pragmatischer Bedeutung für die 2 Franz von Liszt, Der Zweckgedanke im Strafrecht, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 3 (1882), S. 1; Herbert Wechsler / Jerome Michael, A Rationale of the Law of Homicide (Parts I & II), in: Colum. L. Rev. 37 (1937), S. 701, 1261; Herbert Wechsler, The Challenge of a Model Penal Code, in: Harv. L. Rev. 65 (1952), S. 1097. 3 Wechsler / Michael, A Rationale of the Law of Homicide (Fn. 2), S. 730 Fn. 126.

A. Der Behandlungsansatz 

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Strafrechtspflege ansah.4 Wechsler war stattdessen bestrebt, sich den vielseitigen Herausforderungen der Erstellung einer Muster-Strafgesetzgebung zu widmen, die den Gesetzgebern im ganzen Land demonstrierte, wie der Behandlungsansatz in einem intern konsistenten System ausgearbeitet werden könnte. Da die Verfasser von der Notwendigkeit befreit waren, das Ziel des Strafrechts zu überprüfen, konnten sie sich auf die zur Erreichung des Ziels der Prävention erforderlichen Mittel konzentrieren: Abschreckung oder Behandlung. Der Behandlungsansatz wurde von der wachsenden Gemeinschaft von Kriminalpsychologen und Psychiatern, von denen viele den völligen Verzicht auf die Bestrafung zugunsten der Behandlung forderten, mit großer Kraft vorangetrieben. Psycholo­ gische Experten und nicht juristische Experten wie Richter (ganz zu schweigen von Nicht-Experten wie der Jury) sollten die besonderen Umstände des Delinquenten diagnostizieren und die richtige Behandlung verschreiben, deren Umsetzung im Vollzug wiederum unter der strengen Aufsicht weiterer psychologischer Experten erfolgen sollte. Auf die Gefahr hin, den komplexen Prozess von Diagnose, Verschreibung, Behandlung und Prognose (den Gegenstand der Pönologie) zu vereinfachen, gab es im Wesentlichen zwei Formen der Behandlung: rehabilitativ und unschädlichmachend. Die heilbaren Dispositionen sollten gebessert, die unheilbaren unschädlich gemacht werden. Dieser zweigleisige, bessernd-sichernde Ansatz stand von Anfang an im Mittelpunkt der Ideologie der Pönalbehandlung (treatmentism; peno-correctional treatment). Die Behandlungsmethode auf den Rehabilitierungsprozess zu reduzieren, wie es üblich ist, ist irreführend. Betrachtet man die doppelseitige Natur der Behandlungsmethode, die für das Strafregime des so genannten „War on Crime“ charakteristische Entwicklung von „Rehabilitation“ zur „Unschädlichmachung“, die, wie wir in Kürze sehen werden, nur wenige Jahre nach Abschluss des Model Penal Code-Projekts 1962 Fuß zu fassen begann, so entpuppt sich dies nicht als radikaler ideologischer Riss, sondern lediglich als Verschiebung in der Behandlungspalette vom rehabilitativen zum sichernden Ende.5 Innerhalb des allgemeinen abschreckenden Rahmens des Code animierten behandlungsbedingte Überlegungen nicht nur den „Correctional Code“ (Teile III & IV), wie man erwarten konnte, sondern auch zu einem Großteil den allgemeinen und besonderen Teils des „Penal Code“ (Teile I & II). Das strafrechtliche Gesetzbuch selbst sollte sich schließlich nicht auf die Abschreckung kriminellen Ver 4

Zum Legal Process, siehe allgemein William N. Eskridge, Jr. / Philip P. Frickey, The Making of „The Legal Process“, in: Harv. L. Rev. 107 (1994), S. 2031. 5 Der umgekehrte Übergang von der Sicherung zurück zur Rehabilitation erfolgte in Deutschland nach dem Ende des nationalsozialistischen Strafrechts und seiner Betonung der Unschädlichmachung. Wie wir bereits früher festgestellt haben, zeigt sich die Kontinuität der Behandlungsideologie („treatmentism“) besonders deutlich im Fall des einflussreichen „zweispurigen“ Systems des deutschen Strafrechts, das 1933 von den Nationalsozialisten in Kraft gesetzt wurde, nachdem es zunächst jahrzehntelang eine zentrale Reformforderung der „progressiven“ deutschen Pönologen gewesen war.

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Kap. 7: Model Penal Code und War on Crime  

haltens beschränken, sondern im Falle einer Straftat trotz bester Abschreckungs­ bemühungen auch dazu beitragen, das Behandlungspotenzial und -bedürfnisse der Täter zu diagnostizieren. Wie in den offiziellen Kommentaren zum Model Penal Code ausgeführt, „sollte es das Ziel des Strafrechts sein, die Charaktermängel der ihm unterworfenen Personen gemäß den durch sie … manifestierten Tendenzen zu beschreiben“.6 Der Einfluss des Behandlungsansatzes zeigt sich am deutlichsten in den Code Bestimmungen zu den Folgen der Verurteilung, die am Ende von Teil II (Strafzumessung) sowie in den Teilen III & IV erscheinen (Vollzug). Trotz der Bemühungen, den Ermessensspielraum von Richtern und anderen Systemteilnehmern (z. B. professionellen Pönologen) bei der Beurteilung und Neubewertung des Behandlungsbedarfs eines bestimmten Täters zu leiten, spiegelt der Model Penal Code wider, dass der Behandlungsansatz darauf besteht, Sanktionen nicht nur zum Zeitpunkt der Verurteilung, sondern während des gesamten Behandlungsprozesses (insbesondere während der Vollzugsphase) auf verschiedene Weise zu individualisieren. So sieht der Code beispielsweise weniger Kategorien von Delikten vor (6 Kategorien) als beispielsweise das (auf dem Model Penal Code basierende) New Yorker Strafgesetzbuch (11 Kategorien), mit einem weiten Strafrahmen für jede Klasse von Delikten. Demgemäß könnte ein Richter einen Täter, der wegen eines Verbrechens ersten Grades verurteilt wurde, zu einer Freiheitsstrafe zwischen ein- bis zehnjähriger und einjähriger bis lebenslanger Haft verurteilen. Darüber hinaus war jede strafbare Freiheitsstrafe für das erste Jahr als vorläufig anzusehen; in dieser Zeit konnte der „Leiter der Strafvollzugsbehörde“ (Commissioner of Correction) beim Gericht einen Antrag auf Änderung des Strafmaßes des Täters stellen, wenn er „davon überzeugt war, dass das Urteil des Gerichts auf einem Missverständnis über die Geschichte, den Charakter oder den körperlichen oder geistigen Zustand des Täters beruht“.7 Im Penal Code (Teile I & II), kann man sehen, wie der Behandlungsgedanke z. B. den Abschnitt über Versuche beeinflusst, ausgehend von der Ansicht, dass „der Hauptzweck der Bestrafung von Versuchen darin besteht, gefährliche Personen zu neutralisieren, und nicht darin, gefährliche Handlungen abzuschrecken“,8 unter der Annahme, dass es „fraglich ist … ob die Androhung einer Bestrafung des unvollendeten Verbrechens [inchoate crime] die Abschreckungswirkung der angedrohten Sanktion für die Hauptstraftat, die das Ziel des Täters war, und die von ihm ex hypothesi ignoriert wurde, erheblich steigern kann“.9 Aus diesen Be 6

§§ 220.1–2. 30. 5 cmt. 157 n. 99 Model Penal Code (Official Draft and Revised Comments, 1980). 7 § 7.08 Model Penal Code (Proposed Official Draft, 1962); siehe allgemein Gerard E. Lynch, Towards a Model Penal Code, Second (Federal?): The Challenge of the Special Part, in: Buff. Crim. L. Rev. 2 (1998), S. 297. 8 §§ 3.01–5.07 cmt. 323 Model Penal Code (Official Draft and Revised Comments, 1985); siehe auch ebd., Rz. 325. 9 Ebd., Rz. 490.

A. Der Behandlungsansatz 

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obachtungen folgt die Gleichbehandlung von Vollendung und Versuch mit der unerbittlichen Logik der pönologischen Wissenschaft: „Soweit die Verurteilung von der antisozialen Disposition des Handelnden und der nachgewiesenen Notwendigkeit einer korrigierenden Sanktion bestimmt wird, dürfte es kaum Unterschiede in der Schwere der erforderlichen Maßnahmen geben, die von der Vollendung oder dem Scheitern des Plans abhängen.“10 Der Deviante, der ein Delikt zu begehen versucht, hat also die gleiche abnormale Gefährlichkeit gezeigt wie der Deviante, dem es gelingt, es zu vollenden. Da sie die gleiche Diagnose teilen, werden die Täter des vollendeten Delikts und des versuchten Delikts den gleichen „korrigierenden Sanktionen“ und „erforderlichen Maßnahmen“ der sichernden oder rehabilitativen Behandlung unterworfen. Die Bestimmungen des Model Penal Code über die Bestrafung „unvollendeter“ Verbrechen zeigen deutlich, dass sich das Behandlungsmodell ausschließlich auf den Täter konzentriert. Für einen Vertreter des Behandlungsansatzes war die abweichende Handlung (oder vielmehr das „Verhalten“) des Devianten von höchstens diagnostischer Bedeutung; die Ergebnisse dieses Verhaltens waren dagegen für diagnostische Zwecke irrelevant.11 Man beachte auch die Umbenennung von „Bestrafung“ in „Behandlung“ oder „Disziplin“ im gesamten Model Penal Code. In den 1930er Jahren war das Wort Strafe unter den fortschrittlichen Strafrechtsautoren zum Tabu geworden.12 Zum Beispiel vermieden Wechsler und Michael geflissentlich das Wort in ihrem umfangreichen zweiteiligen Artikel von 1937, „A Rationale of the Law of Homicide“13, der ein Programm zur Reform nicht nur der Tötungsdelikte, sondern des Strafrechts in seiner Gesamtheit, einschließlich der „Behandlung“ von Straftätern, vorsah. Der Artikel bietet eine Reihe von Variationen über das Thema Behandlung, darunter „unerfreuliche Behandlung“, „Pönalbehandlung“, „sichernde und reformierende Behandlung“, „sichernde und kurativ-reformierende Behandlung“, „Zwangsbehandlung“, „schmerzhafte Behandlung“ und „rigorose Behandlung“.14 Der Model Penal Code vermeidet ebenfalls das Wort „Bestrafung“, das seit Jahrzehnten mit der umnachteten und längst wissenschaftlich widerlegten, retributiven Theorie des Strafrechts verbunden war. Es ist lehrreich, ja sogar unterhaltsam, die wenigen Stellen im Code zu betrachten, an denen der tabuisierte unwissenschaftliche Begriff auftaucht, da sie die konzertierten und letztlich vergeblichen Bemühungen des Codes, die Strafe aus dem Strafrecht zu verbannen, offenbaren. In den 10

Ebd. Wechsler forderte die Beibehaltung der Handlungsvoraussetzung nicht als eine Frage der Gerechtigkeit, sondern als ein „Verhaltenssymptom“ zum Zwecke der „Diagnose und Prognose“, Wechsler, The Challenge of a Model Penal Code (Fn. 2), S. 1123. 12 Siehe Henry M. Hart, Jr., The Aims of the Criminal Law, in: Law & Contemp. Probs 23 (1958), S. 401, 425. 13 Wechsler / Michael, A Rationale of the Law of Homicide (Fn. 2). 14 Ebd., S. 752; 753 n. 378, 1306; 758; 759; 1261; 1264; 1302 (in der Reihenfolge ihres Erscheinens). 11

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Kap. 7: Model Penal Code und War on Crime  

Hunderten von Bestimmungen in den vier Teilen des „Model Penal and Correctional Code“ erscheint das Wort Strafe insgesamt 23mal. Das Gesetzbuch bezieht sich kein einziges Mal auf eine Sanktion, die es für die Begehung einer in seinem besonderen Teil (Teil II) definierten Straftat vorschreibt, als „Strafe“; dennoch erscheint „der Schutz der Straftäter vor übermäßiger, unverhältnismäßiger oder willkürlicher Strafe“ unter den „Zielen der Bestimmungen über die Verurteilung und Behandlung von Straftätern“.15 Eine der diskret eingeklammerten Bestimmungen des Model Penal Code über die Vollstreckung von Todesstrafen sieht die Berücksichtigung psychischer Erkrankungen bei der Minderung der „Strafe bei Kapitaldelikten“ vor.16 Es kann nur vermutet werden, dass das Engagement der Verfasser für die Behandlungsideo­ logie am Ende nicht stark genug war, die Charakterisierung der Todesstrafe als Behandlungsmethode aufzunehmen, ungeachtet des radikal unschädlichmachenden Potenzials ihrer Durchsetzung. (In ihrem richtungsweisenden Aufsatz von 1937 bezeichneten Wechsler und Michael die Todesstrafe jedoch nicht als Todesstrafe, sondern als „extreme Leidenssanktion“.17) Jedenfalls steht es dem Code frei, die Todesstrafe als Strafe zu bezeichnen, da sie nicht zu den von ihm empfohlenen Behandlungsformen gehört. Interessanterweise erwähnt der Model Penal Code in der Tat den Vollzug von „Strafen“, anstatt der Durchführung von Behandlungsmaßnahmen, aber niemals als die Durchsetzung seiner Bestimmungen oder als eine Frage des Strafrechts. Stattdessen gehören zu den Strafenden Richter, die in ihrem Gerichtssaal von ihrer Befugnis Widerspenstige wegen Gerichtsbeleidigung zu bestrafen Gebrauch machen, sowie Eltern und Lehrer. So nimmt der Abschnitt, der das Gesetzlichkeitsprinzip kodifiziert, ausdrücklich „die Befugnis eines Gerichts, wegen Gerichtsbeleidigung zu bestrafen …“, aus.18 Ebenso exkulpiert die Bestimmung, die eine gerechtfertigte Gewaltanwendung durch „Personen mit besonderer Verantwortung für die Fürsorge, Disziplin oder Sicherheit anderer“ definiert, Eltern, die Gewalt gegen ihre Kinder anwenden, um „das Wohl des Minderjährigen zu schützen oder zu fördern, einschließlich der Verhütung oder Bestrafung seines Fehlverhaltens“.19 15

§ 1.02(2) Model Penal Code. Ebd., § 4.02. Trotz ihrer unverbindlichen Formulierungen fungierten diese Bestimmungen als Entwurf für die Wiederbelebung der Todesstrafe in den Vereinigten Staaten und entwickelten sich auf diese Weise zu den einflussreichsten Bestimmungen des Model Penal Code. Ob man dies als eine tragische Ironie betrachtet, hängt unter anderem davon ab, ob man die Verfasser des Modelgesetzbuches so sieht, dass sie die Bemühungen des U. S. Supreme Court um die Konstitutionalisierung – und damit die Beibehaltung – der Todesstrafe ermöglicht haben, oder ob sie diese Bemühungen mit welcher Kohärenz auch immer versehen haben. Siehe z. B. McGautha v. California, 402 U. S. 183, 202 (1971); Gregg v. Georgia, 428 U. S. 153, 158, 190–91, 194 (1976); Proffitt v. Florida, 428 U. S. 242, 247 (1976); California v. Ramos, 463 U. S. 992, 1009 (1983). 17 Wechsler, The Challenge of a Model Penal Code (Fn. 2), S. 1123. 18 § 1.05(3) Model Penal Code (Hervorhebung vom Verfasser). 19 Ebd., § 3.08(1)(a) (Hervorhebung vom Verfasser). 16

B. Strafrechtliche Kodifizierung 

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Die Person, die im Code am häufigsten mit der Strafe in Verbindung gebracht wird, ist der Gefängnisvorsteher, der nach dem Code „das Recht zur Bestrafung“ hat.20 Dies führt zu dem seltsamen Ergebnis, dass das Strafgesetzbuch die Behandlung und Korrektur – aber nicht die Strafe – von Personen vorsieht, die gegen seine Bestimmungen verstoßen, während der Vollzugsbeamte dieselben Straftäter für die Verletzung von Gefängnisvorschriften bestraft. In der (umgekehrten) Welt des Model Penal Code monopolisiert das Straf­ gesetzbuch die wissenschaftliche „Behandlung“, während die „Bestrafung“ allein der Ausübung von Gewalt durch andere überlassen wird, um Ordnung durchzusetzen, sei es zu Hause, im Gerichtssaal oder im Gefängnis. Der Staat behandelt; die Eltern bestrafen.

B. Strafrechtliche Kodifizierung Als Dokument der Behandlungsschule erscheint der Model Penal Code als primitive legalisierte bzw. dogmatisierte Nosologie der Kriminalpathologie, als strafrechtliches Äquivalent zum „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ (DSM). (Übrigens veröffentlichte die American Psychiatric Association die erste Ausgabe der DSM im Jahr 1952, dem Jahr, in dem das American Law Institute sein Model Penal Code Projekt startete.21) Als Handbuch für Pönologen passt der Model Code somit gut in die Tradition von Polizeitraktaten und -ratgebern, von Xenophons Oikonomikos über die Hausväterliteratur bis zu Prinzen- und Regenten­spiegeln (wie Machiavellis Der Prinz), die darauf abzielten, das Ermessen von Staatsoberhäuptern (und ursprünglich von Hausvätern) zu lenken.22 Er hat wenig Ähnlichkeit mit dem Vorhaben einer öffentlichen Kodifizierung von Grundsätzen und Lehren des Strafrechts, die das rechtliche Urteil von Personen über Personen regeln und zur Legitimation der Strafmacht beitragen soll, indem sie Staatsnormen und deren Anwendung ständig der öffentlichen Kontrolle und Kritik aussetzt. Tatsächlich wäre es ein Fehler, den Model Penal Code nur – oder sogar primär – als ein Kodifizierungsprojekt zu betrachten. Angesichts der wechselhaften Geschichte des Begriffs der Kodifizierung und der (meist gescheiterten) Kodifizierungsversuche in der Welt des „Common Law“, insbesondere im Bereich des Strafrechts, hätte man einige historische Ausführungen oder vielleicht sogar einige theoretische Überlegungen über die Kodifizierung als Herrschaftsmechanismus erwarten können, neben einer Betrachtung früherer Kodifizierungsversuche

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Ebd., § 303.6(1) („Discipline and Control“) (Hervorhebung vom Verfasser). Siehe Stuart A. Kirk / Herb Kutchins, The Selling of DSM: The Rhetoric of Science in Psychiatry, 1992, S. 27. 22 Siehe Kapitel 4, Abschnitt E. 21

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Kap. 7: Model Penal Code und War on Crime  

im Allgemeinen oder strafrechtlicher Kodifizierung im Besonderen und einigen Gedanken über den Unterschied zwischen der Kodifizierung des Strafrechts und des Zivilrechts, bzw. zwischen der Kodifizierung im Common Law und in Ländern des Civil Law (wie man sie z. B. im berühmten Casebook The Legal Process findet, an dem Henry Hart und Albert Sacks zur gleichen Zeit arbeiteten23). Doch abgesehen von einigen früheren – weitgehend erfolglosen – Bemühungen um strafrechtliche Kodifizierung (Livingston, Bentham), geht Wechsler nicht weit über einen gelegentlichen internen Vergleich unter den Projekten des American Law Institute hinaus, mit Verweis auf den Unterschied zwischen Restatements und Mustergesetzen wie dem Model Penal Code, der vor allem der Veranschaulichung des akuten Reformbedarfs im Strafrecht dient.24 Wechsler war mit anderen Worten bemerkenswert  – wenn auch mittlerweile vielleicht nicht überraschenderweise  – uninteressiert an der Kodifizierung aus einer grundlegenden bzw. theoretischen Perspektive. Kodifizierungen sind jedoch interessante Geschöpfe, oder Texte, die der Reflexion bedürfen, einfach schon deshalb, weil sie gleichzeitig als Manifestationen demokratischer Legitimität und autokratischer Unterdrückung gefeiert werden. Auf der einen Seite können Gesetzbücher als Grundlage für jene ständige öffentliche Kritik an der Staatsmacht angesehen werden, die für ihre fortdauernde Legitimation in einem politischen System, das auf dem Prinzip der Selbstbestimmung oder Autonomie basiert, wesentlich ist. In einem Gesetzbuch ist der Staat gezwungen, seine Karten auf den Tisch zu legen, und die Normen für die ganze Welt, oder insbesondere für alle seine Subjekt-Objekte („Bürger“) aufzudecken, die er vorgibt zu befolgen und durchzusetzen. Intern ist das Gesetzbuch Ausdruck der Bemühungen des Staates, seine Normen zu rationalisieren und kohärent zu gestalten, um der willkürlichen und inkonsistenten Ausübung seiner Macht vorzubeugen. Den Bürgern steht es somit frei, die Struktur und Kohärenz des Gesetzbuches sowie seinen Umfang zu überprüfen (interne Kritik), ebenso wie seine verkündeten (und impliziten) Prinzipien sowie den Zusammenhang zwischen einzelnen Normen und diesen Prinzipien kritisch zu analysieren und diskutieren (externe Kritik). Als Ergebnis eines Gesetzgebungsaktes spiegelt eine Kodifizie-

23 Albert Sacks / Henry M.  Hart Jr., The Legal Process, Basic Problems in the Making and Application of Law, hrsg. von William N. Eskridge und Philip P. Frickey, 1994 (zuerst erschienen 1958). Wechslers ambitioniertes Casebook zum Strafrecht („und seiner Anwendung“) von 1940 enthält allerdings eine beeindruckende Materialsammlung. Jerome Michael /  Herbert Wechsler, Criminal Law and Its Administration: Cases, Statutes and Commentaries, 1940. 24 Dieser interne Vergleich kann sich z. B. als nützlich erweisen, wenn sich herausstellt, dass das Restatement of Torts „Handlung“ als „äußere Manifestation des Willens des Handelnden“ definiert, etwa zur gleichen Zeit, als die Verfasser des Model Penal Code sich gegen eine ausdrückliche Definition von Freiwilligkeit (voluntariness) entschieden haben, mit der Begründung, dass sie dadurch in eine metaphysische Diskussion über die Willensfreiheit verwickelt würden. Vgl. § 2 Restatement (Second) of Torts mit § 2.01 Model Penal Code.

B. Strafrechtliche Kodifizierung 

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rung auch die (direktere) Legitimität wider, die von gewählten Vertretern beansprucht wird, im Gegensatz zu ernannten Staatsbediensteten (deren Legitimität indirekt auf Delegation beruht). Darüber hinaus ermöglicht ein Gesetzbuch die öffentliche Kontrolle der Anwendung (Auslegung und Durchsetzung bzw. Vollzug) der kodifizierten Normen durch Staatsbeamte in gerichtlicher und exekutiver Funktion. Auf der anderen Seite wurden Gesetzbücher als Instrumente der staatlichen Unterdrückung porträtiert, die nicht Gleichheit und Autonomie, sondern Hierarchie und Heteronomie widerspiegeln. So scheinen sich beispielsweise die Engländer trotz wiederholter Bemühungen um Kodifizierung im 19. Jahrhundert letztendlich davon überzeugt zu haben, dass insbesondere Strafgesetzbücher für koloniale Untertanen besser geeignet sind als für ihre eigene Regierung im englischen Mutterland.25 Denn warum sollte ein Land, das das Common Law, diese Verkörperung von Vernunft und gesundem Menschenverstand, geboren und dann über Jahrhunderte, wenn nicht gar Jahrtausende hinweg gepflegt hat, eine Kodifizierung benötigen, die von einem zentralisierten allmächtigen Staat diktiert wird?26 Kodifizierte Befehle, die für die Kontrolle kolonialer Subjekte geeignet sind, waren im Mutterland völlig fehl am Platz, das (bis heute) ein geschriebenes Strafrechtsgesetzbuch ebenso wenig benötigt wie eine geschriebene Verfassung. Ohne offensichtliche Ironie feierte Wechsler tatsächlich den Erfolg des Gesetzentwurfs von James Fitzjames Stephens, weil er „als Hauptquelle für die Ausarbeitung des Strafgesetzbuches Kanadas von 1892 diente und eine wichtige Rolle in den zahlreichen anderen Formulierungen für die britischen Kolonien und ihre Nebengebiete spielte“.27 Stephens Kodifizierungseifer stammte aus seiner Zeit als Kolonialbeamter in Indien und stieß in England auf taube Ohren; Indien hatte nämlich bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts ein (von einem Engländer verfasstes) Strafgesetzbuch. Wechsler hat sich nicht bemüht, sein Kodifizierungsprojekt von der heteronomen Vorstellung eines Gesetzbuches zu distanzieren; im Gegenteil, er zitiert 25 James Fitzjames Stephens Entwurf fand in anderen Kolonien größeren Anklang als im Mutterland, z. B. in Kanada, das die Gelegenheit eifrig nutzte, um in die „Vorhut“ der Strafrechtsreform aufzusteigen. Siehe Desmond Brown, The Genesis of the Canadian Criminal Code of 1892, 1989. 26 Laut Dicey hatten die Engländer – im Gegensatz zu den Franzosen – „die Vormachtstellung oder Herrschaft des Rechts“, und zwar ohne Kodifizierung oder geschriebene Verfassung; für die Franzosen war es genau andersherum. Siehe A. V. Dicey, Introduction to the Study of the Law of the Constitution, 3. Aufl. 1889, S. 175 („the supremacy or the rule of law is a characteristic of the English constitution“). 27 Wechsler, The Challenge of a Model Penal Code (Fn. 2), S. 1131. Wechsler erwähnte ebenfalls Macaulays kolonialistischen Indian Penal Code von 1860 (ebd.), der bis heute in Kraft ist. Er hätte auch den Entwurf von R. S. Wright erwähnen können, der – wie der von Macaulay – von vornherein ausschließlich für die englischen Kolonien bestimmt war. Siehe Martin L. Friedland, R. S. Wright’s Model Criminal Code: A Forgotten Chapter in the History of the Criminal Law, in: Oxford J. Legal Stud. 1 (1981), S. 307.

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Kap. 7: Model Penal Code und War on Crime  

Paradigmen repressiver Gesetzbücher als Modelle.28 Gleichzeitig versuchte er jedoch nicht, das Projekt des Model Penal Code mit der autonomen Konzeption eines Gesetzbuches zu verbinden. Dies ist vielleicht nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass Wechsler sich – zumindest im Rahmen des Model Penal Code Projekts – nicht für Legitimitätsfragen interessierte. Am Ende schien er den Code als den unter den gegebenen Umständen bestmöglichen Weg zu sehen, die nötige strafrechtliche Reformarbeit zu leisten. Tatsächlich stellte seine Diskussion über Stephen (und Macaulay und Livingston – dessen Entwürfe, wie wir festgestellt haben, wesentlich weniger erfolgreich waren) den Model Penal Code abwechselnd als Abhandlung oder als benutzerfreundliche Kurzfassung einer Abhandlung. An einem Punkt beschrieb er das Ziel des Projekts als „Bereitstellung von durchdachtem, integriertem Material, das bei solchen legislativen Bemühungen [zur Überprüfung des Strafrechts] nützlich sein wird, da eine solide Abhandlung über ein Rechtssubjekt oft die Rechtsprechung der Gerichte erleichtert“.29 Vorbild ist hier Blackstone, dessen „Formulierungen des Common Law“, so Wechsler, „von frühen Gesetzgebern, die sich bemüht hatten, dass die Amerikaner die Grundrechte der Engländer haben sollten, als solide Grundlage für die Gesetzgebung angesehen wurden“.30 Als Beispiel für „die Art und Weise, wie ein Mustergesetz den Einfluss des Ergebnisses einer Studie erweitert“, wird insbesondere die Wirkung von Stephen angeführt (der neben seinem Gesetzesentwurf ein Lehrbuch und eine Geschichte des englischen Strafrechts veröffentlichte).31 Laut Wechsler würde das Kodifizierungsprojekt „es dem Recht ermöglichen, zusammen mit anderen Disziplinen eine Abhandlung über die großen Probleme des Strafrechts und deren angemessene Lösungen zu erarbeiten, aus der zukünftige Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung, Unterstützung schöpfen können. Es soll ein Kommentar erstellt werden, der dazu beiträgt, die systematische Literatur unseres Strafrechts mit derjenigen gut entwickelter Rechtsgebiete gleichzusetzen. Der 28 Wechsler lobte nicht nur die englischen Kolonialstrafgesetzbücher, sondern beschäftigte sich auch intensiv mit den italienischen Strafrechtskodifizierungsprojekten seiner Zeit (in den 1920er und 1930er Jahren). Der Entwurf des Strafgesetzbuches von Enrico Ferri aus dem Jahr 1921 beeinflusste nicht nur die „progressiven“ Strafrechtswissenschaftler und Befürworter einer Strafrechtsreform in den Vereinigten Staaten, sondern auch das neue italienische Strafgesetzbuch, das von Alfredo Rocco, einem faschistischen Rechtsprofessor, der unter Mussolini als Justizminister diente und dessen „Rocco-Code“ in Italien bis heute in Kraft ist, entworfen wurde. Siehe Edward M. Wise, Introduction, in: The Italian Penal Code, Übersetzung von ­Edward M. Wise und Allen Maitlin, 1978, S. xxi; siehe auch Paul Garfinkel, Criminal Law in Liberal and Fascist Italy, 2017; Stephen Skinner, Criminal Law: History, Theory, Continuity, 2015; Giulio Battaglini, The Fascist Reform of the Penal Law in Italy, in: Am. Inst. Crim. L. & Criminology 24 (1933), S. 278. Wichtiger für unsere Zwecke ist das Rocco-Gesetzbuch, das in Wechslers umfangreichem Strafrechts-Casebook eine wichtige Rolle spielt – zusammen mit einem Kommentar eines italienischen Strafrechtswissenschaftlers. Jerome Michael / Herbert Wechsler, Criminal Law and Its Administration (Fn. 23). 29 Herbert Wechsler, The American Law Institute: Some Observations on Its Model Penal Code, in: ABA J. 42 (1956), S. 321, 321. 30 Ebd. 31 Wechsler, The Challenge of a Model Penal Code (Fn. 2), S. 1131.

B. Strafrechtliche Kodifizierung 

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Model Penal Code selbst wird die praktische Verkörperung der Ergebnisse der Studie in der Form darstellen, die am besten geeignet ist, ihre Verwendung zu fördern.“32

In diesem Sinne ist der Model Penal Code nicht mehr als ein praktisches, zugängliches Handbuch, ein Ratgeber oder eine Gebrauchsanleitung für den Schreibtisch des interessierten Gesetzgebers (und Richters und Verwalters). Es handelt sich um keinen Code, sondern eher um einen Vorschlag an Staatsbeamte, die im Rahmen ihrer offiziellen Funktion Ermessen ausüben − sei es bei der Ausarbeitung, Anwendung oder Durchsetzung von Strafnormen. Dieses Nicht-GesetzbuchGesetzbuch wird von Experten an diejenigen herangetragen, die tatsächlich staatliche Macht ausüben, in der aufrichtigen Hoffnung, dass sie es, wie sie es in ihrer Umsicht für richtig halten, in Ausübung ihres Ermessens zu Rate ziehen mögen. Der Model Penal Code als Träger wissenschaftlicher Expertise zielt weder darauf ab, die Ausübung der Strafmacht des Staates zu legitimieren noch untergeordnete Subjekte zu kontrollieren und zu disziplinieren. Er ist, mit anderen Worten, alegitim; er stellt sein gesammeltes und verdichtetes Fachwissen jedem Staatsbeamten mit strafrechtlicher Macht zur Verfügung. Seine Bedeutung ergab sich ausschließlich aus der wissenschaftlichen Expertise seiner Verfasser; es ist nur ein „durchdachtes, integriertes Vorschlagswerk zur Unterstützung jeder Jurisdiktion, die eine Reform ihrer strafrechtlichen Bestimmungen unternimmt“,33 ein Handbuch der Strafverwaltung, das analytisch anspruchsvoll, intern kohärent, wissenschaftlich und umfassend systematisch ist. Selbst wenn der Model Penal Code in irgendeinem formalen Sinne als Kodifizierung angesehen werden könnte, wäre es aus verschiedenen Gründen irreführend, ihn als Strafgesetzbuch zu betrachten. Erstens haben die Verfasser den Begriff „Strafe“ als Tabu (und Etikett) behandelt, das um (fast) jeden Preis zu vermeiden ist. Zweitens liegt der Schwerpunkt des Projekts auf der Behandlung, d. h. auf der Korrektur (im Vollzug) und nicht auf der Strafe (vor Gericht), sodass der Model Correctional Code (Teile III & IV) der Schwanz ist, der den Hund wedelt. Drittens befasst sich das Gesetzbuch nicht nur mit „kriminellen“ Delikten, sondern auch mit „nicht-kriminellen“ Delikten oder „Übertretungen“ (violations) (also, kurz gesagt, mit Polizeidelikten), die von den diversen Normen über echte Straftaten ausgenommen sind (einschließlich, aber nicht beschränkt auf das mens rea Prinzip in § 2.05(1) Model Penal Code). Viertens reagiert das Code-Projekt als Ganzes auf eine administrative Herausforderung in der besten Tradition des Legal Process: „die sinnvolle Verteilung von Verantwortung und Funktion auf Gesetzgeber, Gerichte und Besserungsorgane [organs of correction] unter der Berücksichtigung der Entscheidungen, die sie je am besten geeignet sind zu treffen, angesichts der Zeit, in der sie handeln müssen, der Natur ihres Handelns, der Art der Informationen, die ihnen zur Verfügung stehen, und der Gefahren von Unfairness oder Missbrauch.“34 32

Ebd. Wechsler, The American Law Institute (Fn. 29), S. 321. 34 Ebd., S. 394. 33

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Kap. 7: Model Penal Code und War on Crime  

Tatsächlich befasst sich der Großteil des Model Penal and Correctional Code mit einer Verwaltungsaufgabe, d. h. der Verabreichung von pönal-korrigierender Behandlung, die von der Diagnose über die Verschreibung bis hin zur Verabreichung der Behandlung in „Korrektureinrichtungen“ (anstatt der Bestrafung im Strafvollzug) reicht. Der Model Penal Code erscheint in diesem Zusammenhang als Modellbehandlungsverwaltungsgesetzbuch, d. h. ein Gesetzbuch des Verwaltungsrechts und nicht des Strafrechts (also ein Gesetzbuch der Kriminalverwaltung). Die offensichtlichsten administrativen Komponenten des Model Penal Code sind die Teile III und IV, die zusammen den Model Correctional Code bilden, der „Behandlung und Korrektur“ bzw. „Organisation der Korrektur“ umfasst. Aber, wie wir bereits gesehen haben, schafft ein Großteil der Teile I und II – der Model Penal Code – nur die Voraussetzungen für die Teile III und IV – den Model Correctional Code, indem er Richtern (und Geschworenen) mit den unvollkommenen rechtlichen In­ strumenten ihres (rechtsdogmatischen) Handwerks erlaubt, eine grobe Vordiagnose der Gefährlichkeit zu erstellen, die von Verwaltungsexperten für Behandlung und Korrektur später verfeinert, angepasst und überdacht werden muss. Der Model Penal and Correctional Code ist also ein Verwaltungsgesetzbuch mit zwei Teilen: einem proto-administrativen Gesetzbuch, das von Amateuren verwaltet wird (Penal Code)  und einem expliziten Verwaltungsgesetzbuch, das von Experten verwaltet wird (Correctional Code). Es handelt sich nicht um ein Strafgesetzbuch mit einem administrativen Anhang, sondern um ein Verwaltungsgesetzbuch mit einer kriminalistischen Präambel. Alle Teilnehmer an diesem Verwaltungsregime üben administrative Funktionen aus. Sogar Richter erfüllen die administrative Aufgabe, so etwas wie einen Vor-Sanktionierungsbericht zu erstellen, wie er derzeit von Bewährungshelfern der US-Bundesbehörden vorbereitet wird. Richter haben, im Gegensatz zu Bewährungshelfern, die Macht, eine Verurteilung auszusprechen, aber diese Verurteilung ist nur provisorisch (vorläufig und unbestimmt) und unterliegt der Überprüfung durch Experten in der pönal-korrigierenden Behandlung; das richterliche Urteil ist eine Empfehlung, die von einem Nicht-Experten notdürftig mit rudimentären zweckentfremdeten Diagnosewerkzeugen zusammengestellt wird („strafrechtliche“ Konzepte wie mens rea, actus reus, Notwehr, Nötigung und „absolute Schuldunfähigkeit“). Das Strafrecht dient hier als formaler Auftakt, als definitorisches Furnier eines Systems zur Verwaltung menschlicher Gefährlichkeit, durch Prävention, durch Abschreckung und, in dem vorhersehbar häufigen Scheitern dieser ersten Linie der sozialen Verteidigung, durch ein System der pönal-korrigierenden Behandlung.

C. Eine weitere verpasste Gelegenheit 

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C. Eine weitere verpasste Gelegenheit Die Verfasser des Model Penal Code, die von Grund auf mit dem Überdenken und Reformieren des amerikanischen Strafrechts beauftragt waren, haben es versäumt, die Gelegenheit zu nutzen, die Jefferson zwei Jahrhunderte zuvor so spektakulär verpasst hatte. Anstatt am Anfang mit der grundlegenden Frage nach Art und Ursprung der staatlichen Strafmacht zu beginnen, behandelten sie – wieder einmal oder immer noch – die Legitimität der staatlichen Strafe als über jeden Zweifel erhaben. Die Legitimität der staatlichen Strafe stand nicht zur Debatte; jede Betrachtung dieses Themas war Zeitverschwendung, eine Ablenkung von der anstehenden Aufgabe des Legal Process: die Konstruktion eines wissenschaftlichen Systems für die Verbrechensprävention und die Identifizierung und pönal-korrigierende Behandlung von Kriminellen, d. h. von Individuen, die als ungewöhnlich gefährlich diagnostiziert wurden. Die Untersuchung der Legitimität staatlicher Bestrafung war ebenso wenig sinnvoll wie das Nachdenken über die Legitimität von präventiver oder kurativer Medizin. Strafe war keine „Bestrafung“; sie war „Behandlung“ und bedurfte als solche keiner Legitimation  – oder zumindest nicht mehr Legitimation als jede andere Maßnahme im öffentlichen Gesundheitswesen. Es bedurfte Rationalisierung, Koordination, Reform; der Model Penal Code war eine Initiative zur verantwortungsbewussten Regierungsführung (good governance), die auf dem aufbaute, was Wechsler  – und nicht nur Wechsler  – für eine solide, wissenschaftlich erprobte, unangreifbare utilitaristische Basis hielt. Diejenigen, die diese Orthodoxie in Frage stellten, die das Bild eines universellen Konsenses über den Begriff der Strafe störten, erschienen ihm als inkorrekt, irrational, unwissenschaftlich, dogmatisch, sogar barbarisch.35 In seinem Versäumnis, diese grundlegende Herausforderung der Legitimität anzugehen, zeigt Wechslers „Model Penal Code“-Projekt, der anspruchsvollste, systematischste und zielstrebigste Versuch (in Amerika und möglicherweise überhaupt, zumindest in modernen westlich-liberalen Demokratien), eine Darstellung des staatlichen Strafens qua Polizei zu entwickeln, dramatisch das Fehlen einer Darstellung des staatlichen Strafens qua Recht in der amerikanischen rechtlichpolitischen Geschichte. Es gab nie einen grundlegenden Moment im amerika­ nischen Strafrecht, in dem das revolutionäre Projekt der Herrschaft durch Recht und nicht durch Menschen (oder besser gesagt von einem einzigen Menschen, dem königlichen Souverän), auf die Strafmacht des Staates ausgedehnt wurde. Stattdessen verblieb die Strafmacht unangefochten als eine – und vielleicht die offensichtlichste  – Manifestation der Polizeimacht des Staates (police power), die selbst nichts Geringeres war als „die Macht der Souveränität, [d. h.] die Macht,

35

Siehe Herbert Wechsler, Book Review, in: Colum. L. Rev. 49 (1949), S. 425 (Besprechung von Jerome Hall, General Principles of Criminal Law, 1947).

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Kap. 7: Model Penal Code und War on Crime  

Menschen und Dinge innerhalb der Grenzen seiner Herrschaft [dominion] zu regieren“.36 Die pönale Verfügungsgewalt über Täter war nicht als Ausübung legitimationsbedürftiger Staatsmacht konzipiert, da Straftäter nicht als autonome Rechtssubjekte und damit als Bürger der neuen demokratischen Republik konzipiert waren. Als Jefferson gezwungen war, sich der Ausarbeitung eines Strafgesetzbuches für Virginia zu widmen, produzierte er eine vielsprechende, wenn auch unverbindliche Präambel, nutzte die Gelegenheit dann aber nur um seine Schreibkunst zu verfeinern, indem er einen Entwurf nach dem anderen von einer Nachahmung eines Textes aus dem 17. Jahrhundert „à la manière de Edward Coke“ produzierte, übersät mit Zitaten aus angelsächsischen Rechtsquellen des 9. und 10. Jahrhunderts. Livingstons Gesetzbuch, das bereits Jahrzehnte vom Gründungsmoment der New Republic entfernt war, ist ein ehrgeiziges Projekt des angewandten Benthamismus ohne grundlegende Ambitionen, die Herausforderung der Legitimation anzugehen, die von der revolutionären Generation ignoriert und ungelöst blieb. Der Bürgerkrieg mag einen zweiten grundlegenden Moment in der amerikanischen Geschichte der Verfassung hervorgebracht haben, löste aber keine erneute Prüfung der Strafmacht des Staates aus (obwohl er den 13. Zusatzartikel der US-amerikanischen Verfassung hervorgebracht hat, der Sklaverei und unfreiwillige Knechtschaft abschaffte, „außer als Strafe für ein Verbrechen, dessen die betreffende Person in einem ordentlichen Verfahren für schuldig befunden worden ist“). Wechslers Forderung nach einem Muster-Strafgesetzbuch – im Gegensatz zu einer bloßen „Neudarstellung“ des Strafrechts – basierte auf einer vernichtenden Anklage gegen frühere amerikanische Versäumnisse, eine „umfassende Behandlung des Strafrechts“ zu erreichen: „Trotz seiner grundlegenden Bedeutung hat das Strafrecht in den Vereinigten Staaten nie die Art von besonderer Aufmerksamkeit erfahren, die die Entwicklung des Zivilrechts und der Aspekte des öffentlichen Rechts gefördert hat, die sich direkt auf die Regelung wichtiger wirtschaftlicher Interessen auswirken … Kein Williston oder Wigmore hat es unternommen, die Konturen des Gebiets zu vermessen, seine Lehren, Regeln und Praxis im Lichte der zugrunde liegenden Interessen [policies] zu ordnen und dann auf das Ganze kritische Intelligenz anzuwenden.“37

Wechsler hatte sicherlich Recht, wenn er darauf hinwies, dass das amerika­ nische Strafsystem viel Vermessung, Ordnung und eine gesunde Portion kritischer Intelligenz erforderte. Schließlich ist die Geschichte des amerikanischen Strafens nicht nur durch ein Fehlen der Auseinandersetzung mit grundlegenden Fragen der Legitimität gekennzeichnet, sondern auch durch (bestenfalls) „Vernachlässigung

36

License Cases, 46 U. S. 504, 583 (1847). Wechsler, The Challenge of a Model Penal Code (Fn. 2), S. 1098; siehe Samuel Williston, First Restatement of Contracts, 1932; John Henry Wigmore, Treatise on the Anglo-American System of Evidence in Trials at Common Law, 1904. 37

C. Eine weitere verpasste Gelegenheit 

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und Unachtsamkeit“38 gegenüber der Strafrechtspolitik als Politik.39 Mit anderen Worten ist die Ausübung der Strafmacht als Teil der Polizeimacht noch nicht zu ihren eigenen Gunsten rationalisiert worden. Es gab viel Strafpolizei, aber kaum Strafpolizeiwissenschaft. Im Bereich der Strafpolizei bietet das Strafgesetzbuch Wechslers die erste und anspruchsvollste „umfassende Behandlung“; es ist aber eine umfassende Behandlung der Strafpolizei, nicht des Strafrechts. Wechslers Model Penal Code ist am Ende unendlich ausgefeilter als Jeffersons Strafrechtsgesetz. Es war auch viel erfolgreicher. Jeffersons Entwurf scheiterte, außer als Paradebeispiel für seine offenbar bemerkenswerte Schreibkunst. Das Beste, was man zu seinem Entwurf sagen konnte, war, dass es sich um ein „außerordentlich schönes Dokument“ handelte. Im Gegensatz dazu hat die Mehrheit der US-amerikanischen Rechtsordnungen ihr Strafrecht im Zuge des Model Penal Code überarbeitet; einige, wie New York und Pennsylvania, haben große Teile des Code übernommen, andere kleinere Teile. Der Code hat auch die Forschung und Lehre des amerikanischen Strafrechts (neu) belebt und ausgerichtet. Mit ihren umfangreichen Kommentaren ist sie bis heute, mehr als ein halbes Jahrhundert nach ihrer Fertigstellung, die beste Abhandlung über das amerikanische Strafrecht geblieben. Es ist neben Karl Llewellyns „Uniform Commercial Code“ (1952) und Felix Cohens „Handbook of Federal Indian Law“ (1941) eines der großen amerika­ nischen Reformprojekte aus der Mitte des 20. Jahrhunderts. Es stellt außerdem eine der großen Errungenschaften der Legal Process Bewegung dieser Zeit, mit Hart & Sacks’ „The Legal Process“ (1958), Hart & Wechslers „The Federal Courts and the Federal System“ (1953), und – im Strafrecht – Harts einflussreichem Essay „The Aims of the Criminal Law“ (1958).40 Und doch bedeutete dies alles nur, dass der „Model Penal and Correctional Code“ eine weitaus bessere Arbeit leistete als Jeffersons „Bill for Proportioning Crimes and Punishments“ die grundlegende Herausforderung der Legitimität der staatlichen Strafgewalt durch Recht in einer modernen liberalen Demokratie nicht zu erfassen und anzugehen. Jefferson kannte sich im Strafrecht nicht aus und hatte noch weniger Interesse daran; anstatt das Strafrecht zu überprüfen und an „unsere republikanische Herrschaftsform“ anzupassen, hielt er seine Inhalte für so trivial, dass er sie als Fingerübung verwendete. Wechsler hatte als Professor an einer der führenden juristischen Fakultäten des Landes viel über dieses Thema nachgedacht und geschrieben. Jefferson stellte seinen Entwurf schnell, allein und nebenbei zusammen; Wechsler hatte die Unterstützung des American Law Institute, einem multidisziplinären Team von Dutzenden, und zehn Jahre Zeit. Wechsler war ein brillanter und einfallsreicher Dogmatiker und kümmerte sich im Gegensatz zu Jefferson sehr um das Strafrecht; ihm ging es aber schlichtweg

38

Ebd., S. 1100. Siehe auch Michael Tonry, Malign Neglect: Race, Crime, and Punishment in America, 1996. 40 Hart, The Aims of the Criminal Law (Fn. 12), S. 405. 39

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Kap. 7: Model Penal Code und War on Crime  

nicht um die Grundfrage seiner Legitimation. Das Ergebnis war dasselbe: Die Frage, wie das legitime Strafrecht in einem liberalen Staat aussehen könnte, wurde nicht direkt angesprochen. Seit dem Model Penal Code wurden keine ähnlichen Anstrengungen unternommen, um einen umfassenden Blick auf das amerikanische Strafrecht zu werfen. Die Welle der von dem Model Penal Code angeregten Reformbemühungen verebbte, veranschaulicht in dem spektakulären Scheitern der Bundesstrafrechtsreform in den 1980er Jahren. Und so bleibt der Model Penal Code die letzte und beste Möglichkeit, gemeinsam und systematisch über das amerikanische Strafrecht nachzudenken. Aus diesem Grund werden wir darauf zurückkommen, wenn wir am Ende dieses Buches einen letzten, vergleichenden Blick auf die amerikanischen und deutschen Antworten auf die Herausforderung des Strafparadoxons in modernen liberalen Demokratien werfen.

D. Nach dem Model Penal Code In der Zwischenzeit wollen wir jedoch unser kurzes dualistisches Narrativ des amerikanischen Strafrechts auf den neuesten Stand bringen. Die Geschichte des amerikanischen Strafens nach dem Model Penal Code ist schnell erzählt. Es handelt sich nicht um eine Geschichte der Suche nach Antworten auf die Frage nach der Legitimität der staatlichen Strafmacht. Stattdessen handelt es sich um eine Geschichte der immer umfassenderen und schärferen Nutzung der staatlichen Strafmacht, ohne einen Hauch von kritischer Reflexion über ihre Rechtfertigung im Allgemeinen oder in konkreten Fällen. Es ist die Geschichte eines strafrechtlichen Diskurses, der so tief polizeilich ist, dass selbst sporadische Vorschläge zur Verlangsamung der Expansion des massiven amerikanischen Strafregimes eher in polizeilicher als in rechtlicher Hinsicht, d. h. eher in Bezug auf Kosten und Effi­ zienz, als in Bezug auf Gerechtigkeit oder Legitimität, und schon gar nicht in Bezug auf die individuellen Rechte von Personen, die von der laufenden Massen­ kampagne der Unschädlichmachung des sogenannten war on crime betroffen sind, formuliert werden.

1. Der „Krieg“ gegen das Verbrechen Der „War“ on Crime, der „Krieg“ gegen das Verbrechen, der innerhalb weniger Jahre nach der Veröffentlichung des Model Penal Code begann, ist die jüngste und wohl radikalste und am weitesten gefasste Manifestation der Strafe als Ausübung polizeilicher Macht.41 Bevor ich einige der polizeilichen Merkmale des 41 Siehe allgemein Markus D. Dubber, Victims in the War on Crime: The Use and Abuse of Victims’ Rights, 2002.

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Krieges gegen das Verbrechen der letzten etwa fünfzig Jahre hervorhebe, der seit 2001 von einem nationalen Programm der strafrechtlichen Sicherung zu einem globalen Krieg gegen den Terror umgewandelt und erweitert wurde, möchte ich versuchen, sein polizeiliches Wesen auf eine andere Weise zu beleuchten: Indem ich untersuche weshalb es sich bei dem Begriff um eine Fehlbezeichnung handelt. Im Rahmen der Unterscheidung zwischen Polizei und Recht erscheint der so genannte Krieg gegen das Verbrechen eher als polizeiliche Maßnahme gegen das Verbrechen, genauer gesagt, als polizeiliche Maßnahme gegen Verbrecher. (Der Schlupf zwischen Verbrechen und Verbrecher  – und in jüngerer Zeit zwischen Terror und Terroristen – als Gegenstand von Strafmaßnahmen ist charakteristisch für die polizeiliche Herrschaft.) Kriege können − konzeptionell − als interkommunaler Konflikt unter Gleichen betrachtet werden.42 Kriege sind im Gegensatz zu polizeilichen Maßnahmen nicht grundsätzlich rechtswidrig; sie unterliegen einem Kriegsrecht, wenn auch nur in der Theorie. Moderne Kriege werden mit Zustimmung der Regierten erklärt (z. B. die amerikanische War Powers Resolution); polizeiliche Maßnahmen werden vom Souverän unabhängig von dieser Zustimmung verfolgt.43 Einen anderen als Feind im Krieg zu betrachten bedeutet, diese Person in gewisser Hinsicht als gleichwertig und unter gemeinsamen Normen anzuerkennen, die als das Kriegsrecht kodifiziert sind. Es wird von der Möglichkeit und den Voraussetzungen „gerechter Kriege“ gesprochen; es gibt keine „gerechten Polizeihandlungen“, nur notwendige, geschickte, effiziente, erfolgreiche oder zweckmäßige.44 Man denke zum Beispiel an die radikal unterschiedliche Behandlung von regulären feindlichen Soldaten und Partisanen oder Guerillas im Falle einer Gefangennahme. Ein Großteil des Kriegsrechts widmet sich der Bestimmung, wer Anspruch auf die Behandlung als Kriegsgefangener hat. Die Begehrlichkeit dieser Klassifizierung und Behandlung als Kriegsgefangener ist im „Krieg gegen den Terror“ deutlich geworden, den die USA als außerrechtliche und alegale Polizeiaktion gegen Terroristen durchgeführt haben, die als „illegale feindliche Kämpfer“ (illegal enemy combatants) bezeichnet werden und per Definition nicht für den Kriegsgefangenenstatus in Frage kommen.

42 Zur Problematik des Bürgerkriegs aus begriffshistorischer Perspektive, siehe David ­Armitage, Civil Wars: A History in Ideas, 2017. 43 Robert O. Weiner / Fionnuala Ni Aolain, Beyond the Laws of War: Peacekeeping in Search of a Legal Framework, in: Colum. Hum. Rts. L. Rev. 27 (1996), S. 293. 44 Zum Begriff des „Bürgerkriegs“, der die Unterscheidung zwischen (interner oder „inner­ staatlicher“) Polizeiaktion (gegen „Rebellion“ oder „Aufstand“) und Krieg überspannt, insbesondere im amerikanischen Kontext des 19. Jahrhunderts, siehe Armitage, Civil Wars (Fn. 42), S. 172, 186 (mit Zitat von Lieber). Die Konzentration auf interne (domestic) polizeiliche Maßnahmen sollte jedoch nicht den Blick auf die Logik polizeilicher Maßnahmen im Allgemeinen, ob intern oder extern, verstellen. Mit anderen Worten, alle polizeilichen Aktionen (police actions) – ob intern oder extern – sind „häuslich“ (domestic) als Manifestationen einer patriarchalischen Haus-Herrschaft.

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Kap. 7: Model Penal Code und War on Crime  

Den Objekten des so genannten Krieges gegen das Verbrechen bleibt ebenfalls, wenn auch weniger explizit, der Status des Feindes im Krieg und, sobald er einmal gefangen genommen wurde, des Kriegsgefangenen verwehrt. Ein Krieg gegen das Verbrechen würde den Feind als gleichwertig mit dem Freund behandeln, nicht als ihm gegenüber radikal minderwertig. Betrachten wir noch einmal das Kriegsrecht in Bezug auf die Behandlung von Kriegsgefangenen, das auf dem Grundsatz der (theoretisch) grundlegenden Gleichstellung von Ergreifendem und Gefangenem beruht. Feindliche Kriegsgefangene müssen „unter … dem gleichen Gerichtssystem und … den gleichen Verfahren wie Angehörige der Streitkräfte der inhaftierenden Macht“ vor Gericht gestellt werden.45 Sie unterliegen den gleichen „Gesetzen, Vorschriften und Verordnungen“, die für die „Streitkräfte der inhaftierenden Macht“ gelten.46 Kriegsgefangene „werden unter Bedingungen einquartiert, die so günstig sind wie die für die Streitkräfte der inhaftierenden Macht, die im selben Gebiet stationiert sind“.47 Sie dürfen ihre Uniformen, einschließlich der Angabe von Rang und Orden, behalten.48 „Die inhaftierende Macht soll die Ausübung von intellektuellen, erzieherischen und der Erholung dienenden Aktivitäten, Sport und Spielen unter den Gefangenen fördern“, und ein Gefangenenvertreter hat Mitspracherecht bei der Verwaltung der Einrichtung.49 Obwohl ein Fluchtversuch im Gegensatz zu Disziplinarmaßnahmen führen kann, „auch wenn es sich um ein wiederholtes Vergehen handelt“50, sind die wieder eingefangenen Entflohenen „nicht wegen ihrer vorherigen Flucht zu bestrafen“.51 Im Allgemeinen kann also das Kriegsrecht zumindest theoretisch und in engen Grenzen dahingehend ausgelegt werden, dass es den Status von Kriegsgefangenen als Personen und damit auch die grundlegende Gleichstellung von Gefangennehmendem und Gefangenem anerkennt. Werfen wir nun einen vergleichenden Blick auf den Status von Straftätern, die im sogenannten Krieg gegen das Verbrechen strafrechtlich verfolgt werden. Die Pönalbehandlung in amerikanischen Strafvollzugsanstalten beginnt mit einem Ritual der Differenzierung und Erniedrigung. Die devianten Vollzugsobjekte werden ihrer Verbindung zur normalen Gesellschaft beraubt. Sie erhalten eine Nummer, ihre Sachen werden beschlagnahmt, sie werden einer alle Körperöffnungen umfassenden Durchsuchung unterzogen, mit Haftkleidung ausgestattet und gründlich gewaschen. Diagnostiziert als menschliche Bedrohung, die eine Sicherungsisolierung erfordert, ist es dem verurteilten 45 Military Judges’ Benchbook for Trial of Enemy Prisoners of War (Department of the Army Pamphlet 27-9-1, 2004), S. 2 (mit Hinweis auf die Geneva Convention Relative to the Treatment of Prisoners of War v. 12. August 1949 [GC III], Art. 102). 46 Ebd., S. 3 (mit Zitat von GC III art. 82). 47 Department of the Army, Field Manual 27–10 (Law of Land Warfare), § 101 (1956). 48 Ebd., § 94. 49 Ebd., §§ 114, 155–57. 50 Ebd., § 168. 51 Ebd., § 167. Eine Flucht gilt als erfolgreich, d. h. als „gelungene Flucht“, wenn der Entflohene sich wieder seiner Truppe angeschlossen oder das von der festhaltenden Macht kontrollierte Gebiet verlassen hat. Ebd., § 168. Man erinnere sich an Jeffersons Diskussion über den Gefängnisausbruch, Kapitel 6.

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Häftling untersagt, etwas zu besitzen, es sei denn, der Gefängnisdirektor hat dies ausdrücklich gestattet.52 Ab dem Zeitpunkt, an dem sie das Gefängnis betreten, fallen die pönalen Behandlungsobjekte unter die praktisch unbegrenzte Disziplinarbefugnis des quasipatriarchalischen Gefängnisdirektors, an den die Befugnis zur Kontrolle des Gefängnisses als quasi-Haushalt delegiert wurde, unabhängig davon, ob der operative Modus der Gefängnisherrschaft die Familie, die Fabrik, die Militäreinheit oder die Sklavenplantage ist. Die Sträflinge sind institutionell infantilisiert; sie sind sowohl hinsichtlich des Lebensunterhalts als auch der Besserung vom Gefängnisdirektor abhängig. Sie betreten das Gefängnis nicht als Person, sondern als „inmate“ in the „custody“ of the „warden“53 (Insasse in der Obhut des Aufsehers), d. h. als Mitglied eines Haushalts, der dem Ermessen des Hausvaters unterliegt, als polizeiliches Objekt und nicht als Rechtssubjekt. Es ist daher nicht verwunderlich, dass – schon um den Anschein der Gleichstellung von Gefangennehmendem und Gefangenem54 zu wahren – das Kriegsrecht bemüht ist, Kriegsgefangene von „verurteilten“ Gefangenen zu unterscheiden. Die Inhaftierung von Kriegsgefangenen in „Strafanstalten“ ist ausdrücklich verboten.55 Nicht einmal für „Disziplinarstrafen“ dürfen Kriegsgefangene in Strafanstalten (Gefängnisse, Strafanstalten, Strafvollzugsanstalten usw.) verlegt werden“.56 Um eine Verwechslung mit den Gefangenen des Verbrechenskrieges zu verhindern, dürfen Kriegsgefangene daher nicht in „Gefängnissen“ untergebracht werden, sondern in „Lagern“.57 Wie man in einem polizeilichen System der „Pönalbehandlung“, das „Eingriffe zur Verhinderung von Ungehorsam“ vorschreibt, erwarten kann, sind die Sanktionen für Ungehorsam bei der späteren Verabreichung der erforderlichen Behandlung in pönal-korrigierenden Umfeldern vielfältig, umfassend und flexibel in der Sache und willkürlich in der Anwendung, sowie von zentraler Bedeutung für das behandlungsorientierte Rahmenprogramm.58 Schließlich wurde bei Häftlingen bereits eine abnormale Widerspenstigkeit diagnostiziert, wie die Verurteilung wegen einer kriminellen Zuwiderhandlung (offense: Angriff), und zwar gegen die 52

Ted Conover, Newjack: Guarding Sing Sing, 2000, S. 104–105. Alle drei Begriffe sind historisch eng mit der Herrschaft über den Haushalt verbunden. Siehe Paul Vinogradoff, Foundations of Society, in Cambridge Medieval History, Bd. 2, 1913, S. 630, 638 („the power of the ruler of … a household over the inmates of it, both free and unfree“). 54 Ein Bemühen, das eher durch eine allgemeine Erwartung von Gegenseitigkeit motiviert sein mag, als durch ein tief verwurzeltes Bekenntnis zu universellen rechtlichen (oder moralischen) Normen. 55 Department of the Army, Field Manual 27–10 (Law of Land Warfare), § 98 (1956). 56 Ebd., § 173. 57 Was nicht heißen soll, dass der Begriff „Lager“ an sich die Achtung vor der Persona­ lität – und insbesondere der Rechtssubjektivität – der darin Eingeschlossenen impliziert. Vgl. Giorgio Agamben, Homo Sacer: Sovereign Power and Bare Life, 1998 (Übersetzung von Daniel Heller-Roazen) (der das „Strafrecht“ des Gefängnisses dem „Kriegsrecht“ des Lagers gegenüberstellt). 58 Roscoe Pound, Introduction, in Francis Bowes Sayre, A Selection of Cases on Criminal Law, 1927, S. xxix, xxxv. 53

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Souveränität des Staates, zeigt.59 Ungehorsames Verhalten und jegliche andere Manifestation einer unfolgsamen Disposition unterliegen somit der Gefängnisdisziplin, einschließlich der weiteren Differenzierung und Erniedrigung, in Form der Einzelhaft oder der Verlegung in eine sogenannte special housing unit (SHU) im selben Gefängnis bzw. in eine Anstalt für „Probleminsassen“ (super-max: die verschärfte Version eines maximum security Gefängnisses). Einfacher ausgedrückt beraubt die Gefängnisdisziplin die Häftlinge der „Privilegien“ (privileges), die nach Ermessen des Aufsehers gewährt, verweigert und entzogen werden können. Diese Privilegien, z. B. bestimmte Gegenstände – wie einen Fernseher – zu besitzen, bestimmte Kleidung oder eine bestimmte Frisur zu tragen, Geld zu verdienen oder die Zelle zu verlassen usw., stellen Anzeichen für Normalität und Gleichheit dar, insbesondere für die Möglichkeit, die eigene Autonomiefähigkeit im Einklang mit der Ausübung dieser Fähigkeit durch andere zu auszuüben, d. h. in einer Gemeinschaft gleicher Personen zu leben. Wenn man dem Gefangenen diese Privilegien verweigert oder ihm sie nach ihrer Erteilung wieder entzieht, bedeutet das in diesem Sinne, seinen untergeordneten oder zumindest apersonalen Status erneut zu bestätigen. Grundsätzlich spiegelt schon die Rhetorik von willkürlichen Privilegien und nicht von Personalitätsrechten den unrechtmäßigen Charakter der so genannten Strafbehandlungsanstalten in einem strafpolizeilichen System wider. Auch ein gewährtes Privileg bleibt ein Privileg, denn auch ein wohlwollender Patriarch bleibt ein Patriarch. Nach den Ereignissen des 11. September 2001 setzte der „Krieg gegen den Terror“ – oder besser gesagt: die Polizeiaktion (police action) gegen Terroristen – das polizeiliche Projekt des so genannten Krieges gegen das Verbrechen im globalen Maßstab fort und benannte seinen Gegenstand einfach um, von Verbrechen zu Terror. Soweit das materielle Strafrecht eine Rolle im Krieg gegen den Terror spielt, geschieht dies in Form von Durchsetzungsinstrumenten, die aus dem Krieg gegen das Verbrechen längst bekannt sind. Die Verbrechen sind traditionelle Tatbestände, einschließlich Standarddelikte gegen die Person, die von Körperverletzung bis hin zu Mord und Eigentumsvernichtung reichen, zusammen mit den ebenfalls bekannten Grundbestandteilen der Vorfeldstrafbarkeit und der stellvertretenden strafrechtlichen Verantwortung wie Verschwörung, Besitz und Teilnahme. Diese Bestandteile werden in dem „neuen“, vom U. S. Supreme Court gegen eine Verfassungsbeschwerde wegen Verstoß gegen das Prinzip der Legalität bestätigten Straftatbestand „einer ausländischen terroristischen Organisation materielle Unterstützung oder Ressourcen zur Verfügung zu stellen oder dies zu versuchen oder sich zu verschwören, dies zu tun“, kombiniert und neu gemischt.60 59 Heath v. Alabama, 474 U. S. 82, 88 (1985) („common-law conception of crime“ als „offense against the sovereignty of the government“ und Verletzung von „peace and dignity“ des Souveräns). 60 Holder v. Humanitarian Law Project, 561 U. S. 1 (2010). Die Diskussion über den Beitrag des Strafrechts zum Krieg gegen den Terror sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass

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Ausgehend vom allgemeinen Teil des materiellen Strafrechts ist das amerika­ nische Strafregime im Zeitalter der Kriege gegen Verbrechen und gegen den Terror durch die Allgegenwart, und starke Abhängigkeit von der Vorfeld- und Vorbereitungsstrafbarkeit (inchoate liability) und Garantenhaftung (vicarious liability) gekennzeichnet. „Unvollständige“ Kriminalität kommt in verschiedenen Formen vor: als Versuch (attempt), Verschwörung (conspiracy), Anwerbung (solicitation), Erleichterung (facilitation) und – vielleicht am wichtigsten – als Verantwortlichkeit für den Besitz (possession) in allerlei Variationen, einschließlich einfachen und zusammengesetzten Besitzes (d. h. einfacher Besitz oder mit der Absicht, den besessenen Gegenstand zu benutzen), tatsächlichen (oder physischen) und „konstruktiven“ Besitzes (d. h. Besitz durch die [potenzielle] „Beherrschung oder Kontrolle“ über einen Bereich, der den betreffenden Gegenstand enthält, oder über eine Person, die sich im tatsächlichen Besitz des Gegenstands befindet) von einer Vielzahl von Gegenständen, die von Schusswaffen und allen möglichen anderen Waffen, „gefährlichen“ Waffen, Instrumenten, Geräten oder Substanzen, einschließlich Spielzeugwaffen, Luftpistolen und Gewehren, Tränengas, Munition, und Schusswesten bis hin zu Einbruchwerkzeugen oder Diebesgut und natürlich Drogen und allem, was mit ihnen zusammenhängt, einschließlich Drogenzu­ behör und Drogenausgangsstoffen, reichen, ganz zu schweigen von „instruments of crime“, Graffiti-Werkzeuge, Computerzubehör, gefälschte Warenzeichen, unbefugte Aufzeichnungen einer öffentlichen Veranstaltung, Sozialleistungskarten, gefälschte Dokumente, Fälschungsgeräte, Stanzautomaten (zum Fälschen von Kreditkarten), Rohlinge, Fahrzeugidentifikationsnummern, Glücksspielautomaten, Aufzeichnungen über Wucherdarlehen, Gefängnisschmuggelware, anstößige Materialien, „Räume, von denen man weiß, dass sie für Prostitution verwendet werden“, Abhörvorrichtungen, Feuerwerk, giftige Stoffe und so weiter.61 Der Krieg gegen den Terror, wenn er sich nicht einfach auf diese Liste stützt, ergänzt sie um Dinge wie „schmutzige Bomben“, „alle Mittel, an denen eine ausländische terroristische Organisation oder deren Vertreter beteiligt sind“,62 oder, in Großbritannien, „Geld oder anderes Eigentum“ mit der Bestimmung, „dass es für terroristische Zwecke verwendet werden sollte oder Grund zu der Annahme besteht, dass es für terroristische Zwecke verwendet werden kann“, und, noch allgemeiner, „ein Gegenstand unter Umständen, die den begründeten Verdacht aufkommen lassen, dass sein Besitz zu einem Zweck erfolgt, der mit der Begehung,

das Strafrecht als Ganzes – und in der Tat der rechtliche Prozess im Allgemeinen – nur eine periphere Rolle im Krieg gegen den Terror bzw. in der Polizeiaktion (police action) gegen den Terror spielt, die darauf ausgerichtet sind, die tatsächlichen oder vermeintlichen Unbequemlichkeiten materieller und prozessualer Rechtsnormen mit Hilfe von „schwarzen Löchern“ zu umgehen. 61 Siehe Markus D. Dubber, Policing Possession: The War on Crime and the End of Criminal Law, in: J. Crim. L. & Criminology 91 (2002), S. 829; siehe auch die Diskussion über das Besitz-Polizeiregime in Kapitel 4, Abschnitt E. 62 18 U. S. C. § 2332g; 18 U. S. C. § 2332h; 18 U. S. C. § 2339B.

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Vorbereitung oder Anstiftung zu einem terroristischen Akt verbunden ist“.63 (Das australische Strafgesetzbuch kriminalisiert ebenfalls den Besitz einer „Sache“, die „mit der Vorbereitung, der Anstellung einer Person für oder der Unterstützung bei einer terroristischen Handlung verbunden ist“.64) Besitzdelikte sind nicht nur deshalb bedeutsam, weil sie das Konzept des unvollständigen Delikts über die ohnehin schon weiten Grenzen bekannterer unvollständiger Delikte wie Versuch und Verschwörung hinaus erweitern (die im Krieg gegen den Terror ebenfalls an vorderster Stelle stehen), sondern auch, weil sie die Nutzlosigkeit und Oberflächlichkeit selbst des elementarsten Grundprinzips des angloamerikanischen Strafrechts, actus reus, anschaulich entlarven. Traditionell erfordern sowohl Versuch als auch Verschwörung die Begehung einer Handlung, egal wie weit entfernt oder minutiös sie auch sein mag. Theoretisch wird die Versuchsstrafbarkeit erst dann begründet, wenn die schwer fassbare Grenze zwischen Vorbereitung und Versuch überschritten ist.65 Verschwörung erfordert normalerweise (wenn auch im zeitgenössischen amerikanischen Strafrecht nicht unbedingt66) die Begehung irgendeiner offenkundigen Handlung zur Förderung der verschwörerischen Absprache. Besitz erfordert keine Handlung, egal wie sie gestaltet wird. Besitz ist eher ein Status als eine Handlung, ein Status, der die Beziehung zwischen einer Person und einem Objekt beschreibt, am offensichtlichsten durch Körperkontakt oder zumindest Nähe, aber – im Falle des sogenannten konstruktiven Besitzes – auch indirekt durch eine andere Person. Die strafrechtliche Haftung für Besitz erweitert das allgemeine Konzept der unvollständigen Strafbarkeit über die künstlichen und bekanntermaßen flexiblen Grenzen der Versuchsstrafbarkeit und der Verschwörung hinaus, indem sie es dem Staat ermöglicht, wahrgenommene Bedrohungen in einem noch früheren Stadium zu identifizieren und zu beseitigen. Es besteht keine Notwendigkeit, irgendein Handeln abzuwarten, sobald der Besitzer durch den Besitz offenbart hat, dass er selbst ein kriminelles Risiko darstellt, wobei der Besitz allein oder in Kombination mit einer Eigenschaft des Besitzers (z. B. Waffenbesitz eines Vorbestraften: felon-in-possession) einen ausreichenden Beweis für dessen Gefährlichkeit darstellen kann. Die Bedeutung des Gegenstands liegt schließlich in seiner Relevanz für die Diagnose der Gefährlichkeit seines Besitzers und nicht seiner eigenen Gefährlichkeit. 63

Terrorism Act 2000, §§ 16 (2) & 57(1); siehe auch Antje Du Bois-Pedain, Terrorist Possession Offences: Curiosity Kills the Cat?, in: Cambridge L. J. 2009, S. 261; Jacqueline Hodgson / Victor Tadros, How to Make a Terrorist Out of Nothing, in: Mod. L. Rev. 72 (2009), S. 984 (diskutiert den Terrorism Act 2000, § 58(1)). 64 Sec. 101.4; siehe allgemein Andrew Lynch, Legislating with Urgency: The Enactment of the Anti-Terrorism Act [No 1] 2005, in: Melbourne U. L. Rev. 30 (2006), S. 747. 65 § 5.01(2) Model Penal Code („substantial step“); siehe allgemein Markus D. Dubber / Mark G. Kelman, American Criminal Law, 2. Aufl. 2009, Kap. 6.C. 66 Siehe § 5.03(5) Model Penal Code (kein „overt act“ erforderlich, wenn das vollendete Delikt eine schwere Straftat darstellt); Dubber / Kelman, American Criminal Law (Fn. 65), Kap. 8. B.

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Urteile über die Gefährlichkeit des Besitzers sind von Natur aus willkürlich und treiben einen Großteil der zeitgenössischen Polizeiarbeit voran, nicht nur den Krieg gegen den Terror, der durch ein dichtes und weites Netz von Besitzdelikten erleichtert wird, die so häufig sind, dass die Frage normalerweise nicht lautet, ob ein Verdächtiger ein Besitzdelikt begangen hat, sondern nur welches und vor allem, ob diese Straftat als hinreichend gefährlich angesehen werden kann, um einschneidendere staatliche Eingriffe (über die initiale Observation, Ermittlung, Durchsuchung und Beschlagnahme hinaus) zu rechtfertigen.67 Besitzdelikte verbinden unvollständige mit stellvertretender, oder abgeleiteter, Kriminalität in mindestens zweierlei Hinsicht. In allen Fällen ist die Besitzverantwortung insofern abgeleitet, als sie nicht auf einer Handlung, sondern auf dem Verhältnis zu einer gefährlichen Sache beruht. Die Strafbarkeit des Besitzes geht vom Gegenstand selbst aus. Im Falle des konstruktiven Besitzes ergibt sich die Strafbarkeit aus dem tatsächlichen Besitz der Gegenstands durch eine andere Person (so dass der konstruktive Besitz tatsächlich doppelt abgeleitet ist, vom Objekt zum physischen Besitzer und dann vom physischen Besitzer zum konstruktiven Besitzer). Dadurch kann der konstruktive Besitz auch geteilt werden, so dass sich mehr als eine Person im konstruktiven Besitz einer Sache befindet, insbesondere wenn der konstruktive Besitz aus der „Beherrschung oder Kontrolle“ über ein Gebiet (z. B. eine Wohnung oder ein Auto) und nicht über eine Person (die sich im tatsächlichen Besitz befindet) resultiert. Die Haftung für Verschwörung, ein weiteres seit langem bekanntes Merkmal des amerikanischen Strafregimes, das auch im Krieg gegen den Terror häufig vorkommt, kann ebenfalls sowohl als unvollständig als auch als stellvertretend angesehen werden, vor allem in den Rechtsordnungen, die – wie das Bundesstrafrecht der USA – der so genannten Pinkerton-Regel folgen, die alle Verschwörer für jede materielle Straftat verantwortlich macht, die vorhersehbar zur Förderung der Verschwörung begangen wird, auch wenn sie nicht die üblichen Voraussetzungen für die Teilnehmerhaftung (insbesondere die Voraussetzung einer vorsätzlichen Erleichterung oder Anwerbung) erfüllen.68 Die bereits erwähnte „materielle Unterstützung“, die 1996 mit dem „Antiterrorism and Effective Death Penalty Act“ (AEDPA) eingeführt wurde, unterstreicht die Rolle der stellvertretenden Kriminalität im amerikanischen Strafregime in 67 Für eingehendere Diskussionen über Besitzdelikte und ihre Rolle im Krieg gegen die Kriminalität und ihre Verbindung zur behandlungsorientierten Ideologie, die dem amerika­ nischen Model Penal Code zugrunde liegt, siehe Dubber, Policing Possession (Fn. 61); Markus D. Dubber, The Possession Paradigm: The Special Part and the Police Power Model of the Criminal Process, in: R. A. Duff / Stuart Green (Hrsg.), Defining Crimes: Essays on the Criminal Law’s Special Part, 2005, S. 91; siehe auch Andrew Ashworth, The Unfairness of RiskBased Possession Offences, in: Crim. L. & Phil. 5 (2011), S. 237; Gideon Yaffe, In Defense of Criminal Possession, in: Crim. L. & Phil. 10 (2016), S. 441. 68 Pinkerton v. United States, 328 U. S. 640 (1946); siehe allgemein Dubber / Kelman, American Criminal Law (Fn. 65), Kapitel 8. B. 1.

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zweierlei Hinsicht. Erstens kriminalisiert sie wie beim Besitz Verhaltensweisen, die sonst nicht mit den altvertrauten Grundsätzen der Teilnehmerverantwortlichkeit vereinbar wären, die den Nachweis einer vorsätzlichen Erleichterung oder Anwerbung erfordern. Hier ist zu beachten, dass der „Antiterrorism and Effective Death Penalty Act“ ursprünglich kein subjektives Tatbestandsmerkmal in Bezug auf die Gewährung materieller Unterstützung enthielt; erst nach der Intervention des Berufungsgerichts im bereits zitierten Humanitarian Law Project-Falles fügte der Kongress die Anforderung ein, dass die Person wissentlich materielle Unterstützung für eine terroristische Organisation gewähren muss. Es ist in der Tat ein weiteres Merkmal des amerikanischen Strafregimes, dass das Erfordernis von mens rea oft als Hindernis für die effektive Ausübung der Polizeimacht – zum Beispiel durch Beweisvermutungen verschiedener Art – eliminiert oder umgangen wird, wie zum Beispiel durch den Gebrauch verschuldensunabhängiger Haftung und etlicher Beweisvermutungen im Besitzstrafrecht und die Beibehaltung von schweren Straftaten mit verschuldensunabhängiger Haftung, einschließlich der „felony murder“-Doktrin, veranschaulicht wird.69 Zweitens veranschaulicht der Tatbestand der materiellen Unterstützung im „Anti­terrorism and Effective Death Penalty Act“ eine Polizeistrategie, die ihren bedeutendsten, wenn nicht sogar ihren ersten Ausdruck im „Money Laundering Control Act“ von 1986 fand, der die Geldwäsche zum Arsenal eines bundesweiten Kriegs gegen die organisierte Kriminalität im Allgemeinen und die Drogenkriminalität im Besonderen hinzufügte. Die bundesstaatliche Straftat der Geldwäsche erweitert das Bundesstrafrecht über die Mitglieder einer kriminellen Organisation hinaus auf diejenigen, die es durch die Bereitstellung oder den Einsatz von Geldern der Organisation ermöglichen, sich finanziell zu erhalten. Dies führte zu einer wesentlichen Ausdehnung des Strafnetzes, so dass selbst Personen wie der pensionierte Bundesverwaltungsrichter und der Chirurg im Humanitarian Law Project-­Fall, die Innenarchitekten und Immobilienmakler in Fällen der Geld­ wäsche,70 oder die Strafverteidiger, die sowohl in Fällen materieller Unterstützung als auch der Geldwäsche als Beklagte auftauchen, erfasst wurden.71 Ein strafrechtliches Regime, das von der Strafverfolgung getrieben wird und das materielle Strafrecht im schlimmsten Fall als Hindernis und bestenfalls als unvollkommene, wenn auch leider notwendige Erleichterung betrachtet, bevorzugt keine engen und genauen Straftatbestandsdefinitionen. Kein Wunder also, dass der Krieg gegen das Verbrechen und der Krieg gegen den Terror kein besonderes Interesse am Prinzip der Legalität im Allgemeinen und Bestimmtheitsgrundsatz („void-for 69

Zu felony murder, siehe Kapitel 4. G. Siehe z. B. United States v. Blarek, 7F.Supp.2d 192 (E. D.N. Y.1998) (Inneneinrichter); United States v. Campbell, 977 F.2d 854 (4th Cir. 1992) (Immobilienmakler). 71 Siehe z. B. United States v. Stewart, 2009 U. S. App. LEXIS 25184 (2d Cir. 2009) (materielle Unterstützung: material support); United States v. Ferguson, 142 F.Supp.2d 1350 (S. D.  Fla. 2000) (Geldwäsche); siehe allgemein Dubber / Kelman, American Criminal Law (Fn. 65), Kap. 11. 70

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vagueness“) im Besonderen zeigen. Zwei der zentralen materiellrechtlichen Werkzeuge im bundesrechtlichen Krieg gegen das Verbrechen, der ­Racketeer Influenced and Corrupt Organizations Act (RICO) und die „honest services fraud“ Variante des Bundesgesetzes gegen Postbetrug,72 zeichnen sich nicht nur durch große Flexibilität und Breite aus, sondern sind gerade aus diesem Grund besonders erfolgreich. Ihre Knetbarkeit und Reichweite machen sie zu nützlichen Werkzeugen in den Händen von Staatsbeamten, die sie nach freiem Ermessen so führen und formen, wie sie es für die jeweilige strafpolizeiliche Maßnahme gegen Verbrechen, Drogen und Terror für erforderlich halten.73

2. Über den Krieg gegen das Verbrechen hinaus? Der Krieg gegen das Verbrechen ist mittlerweile so zur Normalität geworden, dass es schwer fällt, sich überhaupt einen von Grund auf anderen Ansatz zur Strafmacht vorzustellen, der – zum ersten Mal in der Geschichte der amerikanischen Republik  – einen Schritt zurückträte, um die Legitimität des Unterfangens des staatlichen Strafens kritisch zu beurteilen. Die Ansicht, dass Strafmacht souveräne Polizeimacht bedeutet, hat sich so sehr verfestigt, dass selbst der Vorschlag die als selbstverständlich angesehene Polizeimacht durch eine amerikanische Polizeiwissenschaft zum Zweck einer polizeiinternen Kritik zu ergänzen, absurd erscheint. Eine staatliche Macht, die mit dem Wesen der Souveränität so eng verbunden ist, kann nicht kohärenten und umfassenden Grenzen oder Richtlinien irgendeiner Art unterworfen werden, egal wie zahnlos, unverbindlich oder beratend sie sind. Ein radikalerer und transformativerer Ansatz würde natürlich aus dem lange dominanten Paradigma des Strafpolizeistaats hinter sich lassen und die Möglichkeit (konzeptionell, wenn nicht tatsächlich) eines Strafrechtsstaates erkennen, indem er das Phänomen der staatlichen Strafmacht aus der Perspektive des Rechts und nicht (nur) der Polizei betrachtete. Wie ich in diesem Buch argumentiert habe, müssen sich die Staaten, die sich als Teil des modernen rechtlich-politischen Projekts verstehen, das die Legitimität der Staatsmacht auf der Anerkennung der Autonomiefähigkeit jedes Einzelnen gründet, der harten und vielleicht unmöglichen Herausforderung stellen, die schärfste Form staatlicher Macht gegenüber ihren vermeintlich autonomen Subjekt-Objekten zu legitimieren: die Legitimation der Strafe als die vorsätzlich angedrohte und tatsächliche Verletzung der Autonomie genau der Personen, deren Autonomie der Staat manifestiert. Es ist längst überfällig, die strafrechtliche Macht des Staates nach über zwei Jahrhunderten 72

Markus D.  Dubber / Tatjana Hörnle, Criminal Law: A Comparative Approach, 2014, S. 640 ff. 73 Markus D. Dubber, The New Police Science and the Police Power Model of the Criminal Process, in: Markus D. Dubber / Mariana Valverde (Hrsg.), The New Police Science: The Police Power in Domestic and International Governance, 2006, S. 107.

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offen und vollständig in das US-amerikanische rechtlich-politische Projekt zu integrieren, und anzuerkennen, dass staatliches Strafen nicht (nur) eine Frage der Verbrechenskontrolle, der öffentlichen Gesundheit oder einer anderen Maßnahme bei der Verwaltung der staatlichen Haushaltsressourcen – d. h. der Wahrung des (inneren; domestic) Friedens – ist. Ein Land, das sich als globaler Vorkämpfer für begrenzte Staatsmacht, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und individuelle Rechte präsentiert, kann es nicht dauerhaft vermeiden, sich der größten Herausforderung für die Legitimität der Staatsmacht zu stellen. Die Aussichten für diese Neukonzeption der staatlichen Strafe sind düster. Gelegentlich tauchen zaghafte Vorschläge zur Verringerung der Überbelegung der Gefängnisse auf. Diese Vorschläge sind jedoch nicht nur ihrem Umfang nach (durch die Behandlung eines wenn auch wichtigen Themas am Ende des Strafprozesses), sondern auch in ihrer Begründung (durch die Berufung auf bewusst polizeiliche Argumente der Sparsamkeit und Zweckmäßigkeit anstatt auf Gerechtigkeitsüberlegungen) bescheiden. Gleichzeitig reißt die Serie mit deprimierend alltäglichen Enthüllungen über den übermäßigen Gewalteinsatz durch Polizisten bei Interaktionen mit „Verdächtigen“, vor allem immer wieder mit Afroamerikanern und Angehörigen anderer ethnischer Minderheiten, nicht ab. Videos zeigen eine bemerkenswert zwanglose Ausübung von Gewalt, die oft so extrem ist, dass es auf ein systemisches und grundlegendes Versagen von Polizeibeamten hindeutet, die Objekte des polizeilichen Missbrauchs als gleichberechtigte Mitglieder eines gemeinsamen rechtlich-politischen Projekts anzuerkennen, d. h. als Mitmenschen, die über die gleiche Autonomie verfügen wie ihre polizeilichen Gegenüber und den gleichen Status als Subjekte /  Objekte der staatlichen Macht innehaben. Diese Aufnahmen machen nur das sichtbar, was vorher unsichtbar war. Wie Mitglieder von rassischen und ethnischen Minderheiten, und insbesondere junge afroamerikanische Männer wissen, zieht sich deutlich ein roter Faden durch diese häufig tödlichen Interaktionen zwischen Polizeibeamten (d. h. Vertretern der patriarchalisch-staatlichen Strafmacht im Alltag) und Mitgliedern von Minoritäten: einen endemischen und tiefsitzenden Mangel an Respekt, der dadurch entsteht, dass der Gewalthaber den Gewaltunterworfenen nicht als gleichwertig in dem wesentlichen rechtlich-politischen Sinne anerkannt wird. Die „Black Lives Matter“-Bewegung hat die fundamentale und zutiefst disruptive Natur dieser zwischenmenschlichen Respektlosigkeit deutlich herauskristallisiert. Ebenfalls hervorgehoben hat sie die existenzielle Anfälligkeit von Afroamerikanern für diese Form der Misshandlung seitens einer anderen Person, die eine öffentliche Funktion ausübt und die von einer gewaltigen Staatsmacht unterstützt wird. Wie wir bereits gesehen haben, ist das Verhältnis zwischen Rasse und Strafe so alt wie die amerikanische Strafe selbst und reicht zurück bis auf die unbegrenzte Ermessensbefugnis der Sklavenhalter, Mitglieder ihres Haushalts zu disziplinieren, und die Funktion der Strafvollzugsanstalten als supplementäre Quasi-Haushalte,

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die herrenlose (lordless) und schließlich „befreite“ Sklaven kontrollierten, züchtigten und unterdrückten, weit über das Ende des Bürgerkriegs hinaus. Wir haben aber auch gesehen, dass der Zusammenhang zwischen Strafe und Sklaverei in vielerlei Hinsicht über die kurze Geschichte des amerikanischen Strafens hinausgeht. Die Genealogie der Strafe (zumindest in ihrer üblichen, heteronomen Form, im Gegensatz zu dem außergewöhnlichen Spektakel eines Sokratischen Prozesses durch indirekte Selbstverurteilung) reicht zurück bis zur Disziplinarmacht des Hausvaters über seinen Haushalt, einschließlich menschlicher und nichtmenschlicher Ressourcen.74 Der römische „paterfamilias“ hatte die Macht über Leben und Tod über die Unfreien, Leibeigenen, Frauen, Kinder und Sklaven. Die Strafe selbst – und insbesondere die Inhaftierung – wurde als staatliche Sklaverei angesehen, von den „Vätern“ des liberalen Strafrechts (Beccaria, Bentham, Kant, Feuerbach) über das amerikanische Gefängnis„recht“ (slaves of the state) in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis hin zu zeitgenössischen Überresten der Idee des „zivilen Todes“ (manifestiert in der weiterhin weit verbreiteten Wahlrechtsentzugs für Verbrecher: felon disenfranchisement).75 Obwohl die zentrale Rolle, die Rasse im amerikanischen Strafregime immer gespielt hat, nicht geleugnet werden kann, ist Rasse weder eine ausschließlich amerikanische Geschichte, noch ist sie die ganze amerikanische Geschichte. Diese Geschichte muss auch den Status der Objekte der Strafmacht des Staates als solche berücksichtigen, von Anfang an jenseits und immer außerhalb des Narrativs des amerikanischen rechtlich-politischen Projekts: als bloße Objekte der Polizeimacht des Staates, „der Macht der Souveränität, die Macht, Menschen und Dinge innerhalb der Grenzen ihrer Herrschaft zu regieren“. Diese buchstäblich häus­ liche Macht, tief verwurzelt in der uralten ursprünglichen heteronomen Macht des Hausvaters über seinen Haushalt (domus) und über alle und alles darin, über „Insassen“76 statt über „Mitbürger“, beschränkte die Fähigkeit zur Autonomie auf einen Hausvater-Herrscher aus eigenem Recht und verweigerte sie allen anderen, den Haushalt-Beherrschten. Die Geschichte des amerikanischen Strafens ist, wie wir gesehen haben, in erster Linie eine Geschichte der Strafpolizei. Es ist eine Geschichte des Versäumnisses, die Herausforderung des Strafrechts als Recht anzuerkennen, oder ein legitimes System staatlicher Bestrafung zu konzipieren, das Täter und Opfer als Personen erkennt und behandelt, die zur Autonomie fähig sind. Stattdessen ist es eine Geschichte der Vernachlässigung des Problems und der Menschen, die von dem massiven Staatsregime von Verbrechen und Strafe betroffen sind.77 74

Siehe Kapitel 4. Ebd. 76 Zur polizeilichen Konnotation von „Insasse“ (inmate) siehe Fn. 53. 77 Wie ich bereits an anderer Stelle argumentiert habe, gilt dieses Versäumnis für Täter und Opfer gleichermaßen. Siehe Dubber, Victims in the War on Crime (Fn. 41) über die Inanspruchnahme von „Opferrechten“ (victims’ rights) in einem Strafpolizeisystem. 75

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Für unsere Zwecke ist die Geschichte des amerikanischen Strafens auch nicht eine Geschichte des Strafrechts. Die Tatsache jedoch, dass die Geschichte des amerikanischen Strafens nicht ohne eine Miene zu verziehen als kontinuierliche Vollendung eines klar definierten und erkannten Legitimationsprogramms im Lichte der Prinzipien der Legitimation staatlichen Handelns in einer modernen liberalen Demokratie dargestellt werden kann, schließt eine kritische Analyse des Strafrechts als Recht nicht aus. Stattdessen zum Schluss zu kommen, dass eine kritische Analyse des amerikanischen Strafrechts als Recht unmöglich – oder unangemessen – ist, als Auferlegung eines fremden rechtsnormativen Bezugspunktes, würde bedeuten, dass die Vereinigten Staaten ein von Grund auf alegales und rein polizeiliches Herrschaftsprojekt – und nicht nur der Strafherrschaft – verfolgt, das sich grundlegend von dem rechtlich-politischen Projekt der modernen westlichen liberalen Demokratien unterscheidet. Diese Schlussfolgerung ist sicherlich nicht absurd, wenn man das Programm der massenhaften Unschädlichmachung des Krieges gegen das Verbrechen der letzten fünfzig Jahre sowie die lange und beschämende Geschichte des Rassismus im amerikanischen Strafprojekt berücksichtigt. Es ist jedoch wichtig, eine breitere Diagnose des allgemeinen (oder externen) Sonderwegs auf der Ebene des amerikanischen rechtlich-politischen Projekts als Ganzes nicht mit einem pönalen (oder internen) Sonderweg zu verwechseln, der stattdessen auf ein anhaltendes Versäumnis hinweist, die strafrechtliche Macht des Staates ins­ besondere als Teil dieses umfassenderen liberalen rechtlich-politischen Projekts zu verstehen. Soweit die Vereinigten Staaten als den Werten der „Rechtsstaatlichkeit“, der „individuellen“ oder „konstitutionellen Rechte“ (wenn auch nicht unbedingt der „Menschenrechte“) und der zentralen Bedeutung der personalen Autonomie als Dreh- und Angelpunkt jeder Untersuchung über den Grund und die Grenzen staatlicher Macht verpflichtet angesehen werden können – und sich selbst so verstehen –, bleibt eine kritische Analyse des amerikanischen Strafrechts als Recht nicht nur möglich, sondern dringend notwendig.

3. Ein vergleichender Anhang Um das amerikanische Strafregime aus einer konstruktiv vergleichenden Perspektive zu betrachten und nicht als dystopischer Strafpolizeistaats-Schreck­ gespenst, werfen wir abschließend einen vergleichenden Blick darauf, wie sich die innere Spannung zwischen Strafen als Polizei und Recht in Deutschland und insbesondere im deutschen Strafgesetzbuch vor dem Hintergrund des Model Penal Code, Amerikas bestem und letzten Versuch der Erstellung einer umfassenden Darstellung des Strafsystems manifestiert. Im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten wird in Deutschland das Spannungsverhältnis zwischen Polizei und Recht – und das schon seit einiger Zeit – als ein historisches Kuriosum betrachtet, eine Erinnerung an die prägende Anfangsphase

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der deutschen Strafrechtrechtswissenschaft avant la lettre. Im Bereich der staat­ lichen Strafmacht, wo die Herausforderung, den Polizeistaat in einen Rechtsstaat zu verwandeln, um die Jahrhundertwende (von Gründervätern, allen voran P. J. A. Feuerbach unter dem Einfluss von Kant und Beccaria) erkannt, benannt und (theoretisch) gelöst wurde, perfektioniert die Strafrechtswissenschaft seit über zwei Jahrhunderten den Strafrechtsstaat mit ihren diversen Entdeckungen, die sich (wenn auch manchmal unvollkommen und verspätet) im positiven (und kodifizierten) Recht „des Gesetzgebers“ widerspiegeln. In diesem ungeniert eindimensionalen und selbstgefälligen Narrativ erscheint das Strafgesetzbuch von 1871 als sichtbare offizielle Verankerung des liberalen Strafrechts durch einen mächtigen Akt der staatlichen Selbstbeschränkung, der als Höhepunkt einer Tradition liberaler Strafgesetzbücher stilisiert wird, ausgehend von Feuerbachs Bayerischem Strafgesetzbuch von 1813, gefolgt vom Preußischen Strafgesetzbuch von 1851, das sich dann im Jahr 1870 in das von „Wilhelm, von Gottes Gnaden König von Preußen usw.“ verkündete Strafgesetzbuch des Norddeutschen Bundes verwandelte, nur um 1871 schließlich in das deutsche Strafgesetzbuch umbenannt und vom selben Wilhelm, nun „von Gottes Gnaden Deutscher Kaiser, König von Preußen usw.“, verkündet zu werden. Bei näherer Betrachtung stellen sich die liberalen Züge des Strafgesetzbuches allerdings als nicht ganz so eindeutig heraus und werden in der Regel entweder auf seine vermeintlichen Feuerbachschen Ursprünge oder auf ein vages Gefühl des 19. Jahrhunderts als „das Zeitalter bürgerlicher Freiheit“ zurückgeführt (eine deutsche Entsprechung des amerikanischen Zeitalters des „Laissez faire“ oder – im Strafrecht – „des Schutzes der individuellen Interessen, die die Kriminalverwaltung des 19. Jahrhunderts geprägt haben“78). Selbst diese Beschwörungen einer vermeintlichen Vorliebe des 19. Jahrhunderts für Rechte des Einzelnen – z. B. im Gegensatz zu „öffentlichen und sozialen Interessen“79 – gehen oft mit der Anerkennung eines scheinbar diametral entgegengesetzten starken Sinns für die Macht des Staates einher, verkörpert durch Persönlichkeiten wie Binding, aber auch Liszt, denen es gelungen war, ihren Ruf als Vorkämpfer des Strafliberalismus mit einem positivistisch-etatistischen Verständnis der Strafmacht zu vereinigen. Was von den liberalen Elementen des deutschen Strafgesetzbuches übrig bleibt, ist kaum mehr als eine dünne Vorstellung des liberalen Legalismus, die den Schwerpunkt auf Berechenbarkeit, „Rechtssicherheit“ und „Genauigkeit“ (oder zumindest Fehlerminimierung) legt statt auf den Schutz individueller Rechte oder einer auf Autonomie beruhenden Personalität.80

78

Francis Bowes Sayre, Public Welfare Offenses, in: Colum. L. Rev. 33 (1933), S. 55, 67. Ebd. 80 Radbruch verteidigte Anfang der 1930er Jahre mit Nachdruck Liszts „Law & Order“-­ Liberalismus, der die körperliche Züchtigung befürwortete. Siehe Gustav Radbruch, Autoritäres oder soziales Strafrecht, in: Der Mensch im Recht: Ausgewählte Vorträge und Aufsätze über Grundfragen des Rechts, 1957, S. 63, 68–70 (zuerst erschienen1933). 79

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Schließlich erscheint das deutsche Strafgesetzbuch weniger als Denkmal für die (Selbst-)Einschränkung und -kritik der staatlichen Strafmacht, sondern eher als pragmatisches Symbol für die selbstbewusste Ausübung neu konsolidierter staatlicher Macht.81 In dieser rechtsrealistischen Lesart passt das deutsche Strafgesetzbuch von 1871 auch nicht besonders gut zu der anderen vermeintlichen Quelle seines mutmaßlichen Liberalismus, Feuerbachs bayerischem Strafgesetzbuch von 1813. Erstens war das deutsche Gesetzbuch, anders als das bayerische, nicht das Ergebnis eines Versuchs, ein Gesetzbuch zu entwerfen, das eine bestimmte Sichtweise der staatlichen Strafmacht so perfekt wie (politisch) möglich abbildet (insbesondere die Sichtweise einer bestimmten Person, nämlich Feuerbach, der speziell beauftragt wurde seine in diversen Veröffentlichungen dargelegte Theorie umzusetzen). Zweitens folgt der Inhalt des deutschen Gesetzbuches nicht eigentlich dem von Feuerbach, und selbst wenn er es täte, würde eine Ähnlichkeit zwischen dem deutschen und dem bayerischen Gesetzbuch wenig zur Begründung seiner mutmaß­ lichen liberalen Ausrichtung beitragen. Wie wir bereits erwähnt haben, zeigt selbst eine flüchtige Lektüre des Feuerbachschen Gesetzbuches, dass es sich nicht nur um die doktrinäre Manifestation einer generalpräventiven Strafrechtsideologie handelt, die mit einem von Feuerbachs Einflüssen (Beccaria) vereinbar sein mag, aber dann nur schwerlich mit dem anderen (Kant), es sei denn, wir übersehen nicht nur Kants unmissverständliche und ausdrückliche Ablehnung von Beccarias abschreckungsbasierten Ansichten, sondern auch Kants eigene Theorie der staatlichen Bestrafung, die im strafrechtlichen Bereich seinen kategorischen Imperativ ausarbeitete, keine Person als bloßes Mittel zum Zweck eines anderen zu behandeln. Tatsächlich sind die Ähnlichkeiten zwischen dem Bayerischen Strafgesetzbuch von Feuerbach und dem Model Penal Code – und nicht dem deutschen Strafgesetzbuch – auffallend und einen genaueren Vergleich wert. Da ist die Hingabe an eine Strafideologie, die mit viel systematischer Energie angewendet wird. Dann gibt es, damit verbunden, den richtungweisenden Einfluss eines einzelnen, professoralen Verfassers. Außerdem gibt es den Versuch, jedes Thema mit genügend Details zu behandeln, um die korrekte Umsetzung der ideologischen Vision zu gewährleisten; beide Texte sind in der Tat Ausbildungshandbücher und kodifizierte Lehrbücher für Staatsbeamte, die weder mit dem neuen Strafsystem in Form und Inhalt, noch mit der es motivierenden Ideologie vertraut sind – und ihr sehr wahrscheinlich sogar feindlich gegenüber stehen. Schließlich gibt es noch die inhaltliche Ähnlichkeit; beide Gesetzbücher sind nicht nur als Handbücher für die Kriminalverwaltung konzipiert, sondern spiegeln auch einen streng konsequentialistischen Ansatz zu der anstehenden Aufgabe wi 81 Siehe hier Hays kritische historische Analyse der „rule of law“-Ideologie des englischen „Bloody Code“ in der Praxis (wobei niemand den Bloody Code mit einem Denkmal des liberalen Strafrechts oder auch nur einem „Code“ verwechseln würde). Siehe Douglas Hay, Property, Authority and the Criminal Law, in: Douglas Hay u. a. (Hrsg.), Albion’s Fatal Tree: Crime and Society in Eighteenth-Century England, 1975, S. 17; siehe Kapitel 3.

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der, auch wenn Feuerbach – im Gegensatz zu Wechsler – die Generalprävention gegenüber der Spezialprävention oder Behandlung betont. Interessanterweise, während Feuerbach im Gegensatz zu Wechsler kein komplettes behandlungsorientiertes „Besserungsgesetzbuch“ (Correctional Code) an sein Strafgesetzbuch angehängt hat, so beschäftige er sich doch mit der Vollstreckung der Strafe. Wie wir bereits erwähnt haben, beschreibt Feuerbach ausführlich und im grafischen Detail die Bedingungen, unter denen Übeltäter in Gefangenschaft (bzw. Strafsklaverei) gehalten werden sollen, einschließlich der Länge und des Gewichts von Eisen­ kugeln und Ketten.82 Dezidiert „progressive“ Reformbemühungen erwiesen sich bis 1933 als weit­ gehend wirkungslos, als die Nationalsozialisten das zweispurige Sanktionssystem in das deutsche Strafgesetzbuch aufnahmen, das das traditionelle schuldbasierte Strafsystem durch ein von Gefährdungsdiagnosen getriebenes Behandlungsregime ergänzte, das „Maßregeln der Sicherung und Besserung“ anstelle von Bestrafung vorschrieb.83 Das Strafgesetzbuch wurde Mitte der 70er Jahre überarbeitet, aber seine Grundstruktur und sein Ansatz – einschließlich des zweispurigen Systems – blieben bestehen.84 Es ist leicht zu erkennen, dass das zweispurige Spannungsverhältnis zwischen Strafen und Maßregeln im Strafgesetzbuch das sichtbarste Abbild einer katego­ rischen Unterscheidung zwischen Strafrecht und Strafpolizei im deutschen Straf­ gesetzbuch ist, auch wenn diese Lesart dem vermeintlichen Triumph des Rechtsstaats über den Polizeistaat auch – und gerade – im Strafbereich entgegenlaufen würde. Das deutsche Strafgesetzbuch kann daher als strafrechtlicher Text mit einem strafpolizeilichen Anhang (mit beunruhigender Herkunft) angesehen werden. Tatsächlich erhält die Straf-Spur den bei weitem größten Teil der wissenschaftlichen (und dogmatischen) Aufmerksamkeit. Nachdem der polizeiliche Aspekt des Strafregimes extrahiert war, wurde es in einen peripheren Zusatz übertragen und dann entsprechend ignoriert (zusammen mit den als „Ordnungswidrigkeiten“ umbenannten „Polizeivergehen“85). Wie wir gesehen haben, haben einige Kom 82

Siehe Kapitel 4. Gewohnheitsverbrechergesetz vom 24. November 1933, RGBl. I, S. 995, Art. 3, § 17. 84 Der „Alternativentwurf“ zum Strafgesetzbuch einiger deutscher und schweizerischer Professoren wird generell als „liberaler“ als der offizielle Entwurf dargestellt, sah aber davon ab, dramatische Änderungen vorzuschlagen, die das gesamte strafrechtliche Kodifizierungsprojekt in Form, Inhalt oder Anspruch von Grund auf neu gestaltet hätten. Beispielsweise empfahlen die Autoren des Alternativentwurfs die Einführung von Vorsatzdefinitionen, die bemerkenswerterweise nirgends im Strafgesetzbuch auftauchten (und bis heute noch nicht auftauchen); inhaltlich änderten die vorgeschlagenen Definitionen allerdings nichts an der lang etablierten Taxonomie von Vorsatz und Fahrlässigkeit. Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches, 1966. 85 „Polizei“-Delikte waren zunächst im Strafgesetz, später in separaten Polizeistrafgesetzen kodifiziert, und wurden schließlich umbenannt in Ordnungswidrigkeiten mit ihrem eigenen Gesetz. Siehe Paul Johann Anselm von Feuerbach, Über die Polizeistrafgesetzgebung überhaupt und den zweiten Teil eines „Entwurfs des Strafgesetzbuchs, München 1822“, in: A ­ nselm Ritter von Feuerbach’s (…) Biographischer Nachlaß, hrsg. von Ludwig Feuerbach, Bd. 2, 2. Aufl. 1853, S. 346; siehe auch Gesetz über Ordnungswidrigkeiten (OWiG). 83

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mentatoren (darunter Wolfgang Naucke und Günther Jakobs86) die anhaltende Bedeutung des polizeilichen Aspekts des deutschen Strafrechts hervorgehoben, in dem sie ihn aus seiner bequem beruhigenden Verbannung wieder hervorzerrten, sowohl konzeptionell (aus dem Randgebiet des Strafgesetzbuches und der Strafrechtswissenschaft, und sogar aus dem „Verwaltungsrecht“, im Gesetz über Ordnungswidrigkeiten) als auch zeitlich (aus einer angeblich längst überwundenen, unwissenschaftlichen Phase der Geschichte des deutschen Strafrechts). Im Model Penal Code gibt es kein zweispuriges System, das die Spannung zwischen Strafen als Recht und Polizei repräsentieren könnte. Der Model Penal Code ist ein einspuriges Behandlungssystem der Strafpolizei, das sich der Diagnose und pönal-korrigierenden Behandlung antisozialer Gefährlichkeit widmet. „Bestrafung“ wurde für tabu erklärt und aus dem Code gestrichen, als „Behandlung“ „ein modischer Euphemismus für das ältere, hässliche Wort wurde“ (Henry Hart).87 Ohne „Bestrafung“ konnte es keine strafrechtliche Spur geben. Das soll nicht heißen, dass „Recht“ im Projekt „Model Penal Code“ keine Rolle spielt. Wechsler zum Beispiel äußerte sich besorgt darüber, dass „die Verwaltung … den Bereich des Strafrechts ohne wirksame rechtliche Anleitung dominiert“, ein Zustand, den eine „Gesellschaft, die wie wir an dem Glauben an das Recht festhält, nicht unbesorgt betrachten kann“.88 Wechslers Sorge über die „Bedeutung und Vernachlässigung des Strafrechts und die weitreichenden Kluft zwischen Recht und Verwaltung“89 prägt das Projekt des Model Penal Code als Unternehmen der Legal Process-Schule: ein Rechtsreformprojekt, das nicht nur ein Modell für (rationale, systematische, wissenschaftliche usw.) Regeln erstellt, sondern auch einen institutionellen Rahmen für die Erstellung und Anwendung dieser Regeln durch die staatlichen Beamten schafft, die am besten geeignet sind, ihren Ermessensspielraum in pragmatisch zielstrebiger Art zu nutzen. Diese formale prozessuale Rechtsauffassung (als „Rechtsprozess“) ist jedoch mit einem strafpolizeilichen System ebenso vereinbar wie mit einem strafrechtlichen System. Darüber hinaus ist es mit jedem strafpolizeilichen Regime vereinbar, einschließlich eines Regimes – wie die auf den Model Penal Code folgende Kampagne des war on crime –, das die operativen Ausgangsvermutungen innerhalb eines behandlungsorientierten Regimes verschiebt: von der Abschreckbarkeit zur Unabschreckbarkeit, von Ungefährlichkeit zur Gefährlichkeit und von der Behandelbarkeit zur Nicht-Behandelbarkeit. Außerdem soll damit nicht suggeriert werden, dass die Bestimmungen des Model Penal Code nicht so interpretiert werden könnten, dass sie eine Vorstellung 86

Wolfgang Naucke, Vom Vordringen des Polizeigedankens im Recht, d. h.: vom Ende der Metaphysik im Recht, in: Gerhard Dilcher / Bernhard Diestelkamp (Hrsg.), Recht, Gericht, Genossenschaft und Policey: Studien zu Grundbegriffen der germanistischen Rechtshistorie, 1986, S. 177, 185; Günther Jakobs, Bürgerstrafrecht und Feindstrafrecht, in: HRRS 2004, S. 88. 87 Hart, The Aims of the Criminal Law (Fn. 12), S. 405. 88 Wechsler, The Challenge of a Model Penal Code (Fn. 2), S. 1102. 89 Ebd.

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von Straftätern widerspiegeln, die nicht als Soziopathen mit individualisierter Diagnose einer abnormalen („kriminellen“) Gefährlichkeit gelten, sondern als Personen, die ihre eigene Fähigkeit zur Autonomie ausüben, um damit die Autonomie einer anderen Person ganz oder teilweise zu verweigern, d. h. als Ausdruck einer autonomiebasierten modernen Vorstellung von Recht. Als Mustergesetz konnte der Model Penal Code nur dann erfolgreich sein, wenn er ein breites Spektrum von Vorstellungen über Täter und Straftaten berücksichtigen konnte, einschließlich solcher, die sich wesentlich von den Vorstellungen unterscheiden, die das Projekt Model Penal Code selbst motiviert und geprägt haben. Tatsächlich benötigte der Model Penal Code keine grundlegende Überarbeitung (entweder durch das American Law Institute oder die verschiedenen Rechtsordnungen, die ihn adaptiert haben), selbst als sich in den Jahrzehnten nach seiner Veröffentlichung der Besserungs-Behandlungsmodus in einen Sicherungs-Behandlungsmodus, und, zumindest in der strafrechtlichen Wissenschaft, sogar in eine sanftere („just deserts“) Version des von Wechsler seinerzeit als atavistisch und barbarisch verworfenen Retributivismus verwandelte.90 Schließlich beansprucht der Model Penal Code den Mantel der Wissenschaft ebenso wie das deutsche Strafrecht, und zwar aus dem gleichen Grund und mit dem gleichen Ziel. Beide streben eine objektive Perspektive an, aus der sie ein rationales und – am Ende – korrektes Strafrechtssystem aufbauen können, indem sie sich nicht nur aus dem Tagesgeschäft der staatlichen Strafmacht (bei der Bestimmung von Normen, ihrer Anwendung und der Durchsetzung von Strafen für ihre Verletzung) heraushalten, sondern auch aus der essentiellen Aufgabe, dieses gewalttätige Geschehen in all seinen unangenehmen – und faktisch illegitimen – Aspekten zu legitimieren. Diese gemeinsame Beschwörung der Wissenschaft sollte jedoch nicht die offensichtlichen und grundlegenden Unterschiede zwischen den Wissenschaftsvorstellungen in beiden Systemen verdecken. Auf der einen Seite steht die verhärtete Auffassung, dass das Recht selbst eine Wissenschaft ist, die sich von anderen wissenschaftlichen Unterfangen, insbesondere den Sozial- und Geisteswissenschaften, aber auch der (forensischen) Medizin, abhebt, und diese auf die Rolle juristischer Hilfswissenschaften reduziert, die – ausnahmsweise und behutsam – herangezogen werden können, um in die rechtswissenschaftlichen Erkenntnisse der Juristen bei Bedarf eingebunden zu werden oder eher die Umsetzung solcher Entdeckungen in einzelnen Fällen zu steuern. Auf der anderen Seite steht, die Sichtweise der Legal Process-Bewegung der Nachkriegszeit, die im Anschluss (oder ggf. in Anlehnung) an die Legal Realism-Schule der Vorkriegszeit, den Formalismus als bloße Verschleierung willkürlicher Entscheidungen (nicht nur durch Richter, sondern – was noch wichtiger ist – durch den Gesetzgeber) aufgegeben hat und bestrebt ist, den bestmöglichen rechtlichen Prozess (auch und gerade im „vernachlässigten“ Bereich 90

Siehe z. B. Herbert Wechsler, Book Review, in: Colum. L. Rev. 49 (1949), S. 425 (Besprechung von Jerome Hall, General Principles of Criminal Law, 1947).

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des Strafrechts) mit der besten verfügbaren Wissenschaft im Sinne des (damals) beginnenden Projekts des modernen amerikanischen Verwaltungsstaates (als eine Art verzögerter „New Deal“ für das Strafrecht) aufzubauen. Wechsler wäre bei dem Gedanken an eine Wissenschaft zurückgeschreckt, die auf ontologischen oder phänomenologischen Erkenntnissen über das Wesen der Dinge basiert, und zwar nicht nur, weil die daraus resultierenden Normen in der Regel so ungenau sind, dass sie den mit ihrer Anwendung und Interpretation beauftragten Staatsbeamten keine Orientierung geben. Tatsächlich wurde sein sozialwissenschaftlicher Eifer durch den Drang geweckt, seiner Ansicht nach unwissenschaftliche Überlegungen über talionische Äquivalenz und Manifestationen des freien Willens, ja sogar althergebrachte, aber ungenaue dogmatische Begriffe (z. B. Vorsatz, Überlegung, Mutwille, scienter, mens rea) mit (seiner Meinung nach) falsi­fizierbaren Behauptungen über z. B. abnormale Gefährlichkeit zu ersetzen, die in der ersten, rechtlich-richterlichen Phase des rechtsdiagnostischen Verfahrens des Model Penal and Correctional Code in neu definierte und geschärfte dogmatische Begriffe gekleidet waren. Umgekehrt hätten deutsche Strafrechtswissenschaftler wenig Verständnis für ein strafrechtliches Forschungsprogramm in dem der (sozial-)wissenschaftliche Fortschritt der juristischen Hilfswissenschaften eine mehr als periphere bzw. dekorative Rolle bei der endgültigen Suche nach dem „richtigen Recht“91 durch die Strafrechtswissenschaft selbst spielen. So oder so, der Einsatz von „Wissenschaft“ – sozial, rechtlich oder anderweitig –, mit dem Ziel, die sie praktizierenden Experten über den öffentlichen Meinungsaustausch zu erheben, ist offensichtlich nicht förderlich für den Versuch, sich einer Frage von grundlegender normativer Bedeutung zu stellen, wie beispielsweise der wesentlichen Herausforderung, die Ausübung der staatlichen Strafmacht in einem aktuellen rechtlich-politischen Projekt zu legitimieren. Soweit diese Interventionen mit gegenseitig inkonsistenten Vorstellungen von „Wissenschaft“ arbeiten, die mit bestimmten parochialen Kontexten verbunden sind, erschweren sie auch die Art von transnationalem systemischem Diskurs, der systemische Herausforderungen auf der geeigneten, systemischen Ebene angehen kann: in diesem Fall auf der Ebene des gemeinsamen rechtlich-politischen Projekts von Ländern, die sich selbst als moderne liberal-demokratische Staaten betrachten. Mit jedem wissenschaftlichen Projekt, das von seinem einzigartigen Zugang zur Wahrheit und von der Hoffnungslosigkeit des anderen überzeugt ist, ist ein bilateraler Austausch – im Gegensatz zu einseitigem Belehren – unmöglich. Es ist unklar, ob es heute angesichts der langjährigen engen Verbindung zwischen „Wissenschaft“ und den Forderungen supranormativer Autorität im Recht (und anderswo) möglich ist, Raum für eine dezidiert wissenschaftliche Unter­ suchung der Legitimitätsherausforderung der Strafmacht in einem modernen liberalen Staat zu schaffen. Vielleicht kann sich ein bescheidenes, unprätentiöses 91

Siehe Kapitel 2.

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und integratives Konzept der „Rechtswissenschaft“ herausbilden, das sich einer systematischen und umfassenden Untersuchung verschreibt, mit Blick sowohl auf die interne Kohärenz und Konsistenz eines bestimmten Regimes von Strafnormen als auch auf die externe Konsistenz des Regimes mit allen normativen Verpflichtungen, die das moderne liberale rechtlich-politische Projekt der legitimen Nutzung staatlicher Macht im Allgemeinen, und der staatlichen Strafmacht im Besonderen auferlegt.92 Jedenfalls habe ich in diesem Buch argumentiert, dass die lange vernachlässigte umfassende und kontinuierliche Erforschung der Legitimität staatlicher Strafe von einem vergleichend-historischen Ansatz profitieren würde, der die Strafmacht des Staates in ihren Kontexten analysiert: 1. als ein staatlicher Herrschaftsmechanismus (Recht vs. Polizei), 2. als Teil der langen Genealogie der staatlichen Macht in einem modernen demokratischen Staat (Autonomie vs. Heteronomie), und 3. als Systemmerkmal in Ländern, die sich als Teilnehmer am liberalen rechtlich-politischen Projekt (USA vs. Deutschland) verstehen. Ich habe auch argumentiert, dass die Vereinigten Staaten noch einen sehr langen Weg vor sich haben, um der Herausforderung der Legitimation der Strafmacht eines liberalen Staates gerecht zu werden, nachdem sie dieses schwierige und möglicherweise unlösbare Strafparadoxon nie erkannt (und schon gar nicht gelöst) haben. Deutschland ist in diesem Prozess weiter fortgeschritten, nachdem es (bestenfalls) die Herausforderung vor zwei Jahrhunderten formuliert und angegangen hat, obwohl wir festgestellt haben, dass Deutschland nicht annähernd so weit ist, wie es zu sein scheint oder sein sollte. Kein Staat kann ohne Selbstwiderspruch den erfolgreichen Abschluss der Legitimierung seines Strafregimes ein für alle Mal zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt verkünden, da hieraus die Gefahr entsteht, dass die Identifizierung der Herausforderung mit ihrer Lösung verwechselt wird. Die Legitimität jedes vermeintlich liberalen Regimes staatlichen Strafens erfordert eine ständige kritische Überprüfung im Allgemeinen und in jedem einzelnen Fall. Oberflächlich vergleichende Blicke auf ein Strafregime zu werfen, das so stark polizeilich geprägt ist wie das amerikanische Regime, kann dazu führen, dass man das selbstzufriedene, aber unangebrachte Gefühl bekommt, das „eigene“ System sei frei von polizeilichen Merkmalen, nicht nur relativ, sondern auch objektiv gesehen. Die Spannung zwischen Polizei und Recht, zwischen Heteronomie und Autonomie, kann bestenfalls gehandhabt und toleriert, aber nicht beseitigt werden. Anders ausgedrückt kann die Vermutung der Illegitimität, die sich aus der staatlichen Verletzung der Autonomie derjenigen Subjekte ergibt, auf deren Autonomie die Legitimität des Staates beruht – d. h. aus der prima facie-Strafbarkeit staatlicher Strafe –, nicht wegbestimmt (oder -definiert), sondern nur immer wieder widerlegt werden, auf systemischer und individueller Ebene, an jedem Tag, in jedem Fall. 92

Vgl. Markus D. Dubber, New Legal Science: Toward Law as a Global Discipline, Juni 2014.

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Sachwortverzeichnis „A Rationale of the Law of Homicide“ (Wechsler / Michael)  248, 316, 319 Abschreckungstheorie (deterrence theory) ​ 90, 275 actus reus 102 f., 192, 209, 213, 215, 224, 304, 326, 336 actus reus non facit reum nisi mens sit rea; s. a. Sloganismus 66 Adams, Herbert Baxter  290 Adams, John  286 Afroamerikanisch  218, 279, 340 Agamben, Giorgio  333 agora; s. a. oikos  157, 178, 187 Ambos, Kai  35, 62, 124 American Law Institute (ALI)  25, 106, 122, 248, 256, 264, 311, 321, 322, 347 Ando, Clifford  157, 186 Angloamerikanisches Strafrecht  17, 30, 32– 36, 66, 72, 80, 88, 115, 122, 188, 211, 213, 249, 261, 289–292, 299, 304, 329 f., 336 – actus reus  102 f., 192, 304, 336 – Handlung, strafbare (act requirement) 96, 99 – harm principle  72, 82, 84 f., 239 – offense vs. defense 103 – positive Generalprävention  34, 43, 69 f., 71, 88–96, 108, 130 – Sloganismus  42, 61, 63–68 – Taxonomismus  30, 34, 122 – Unternehmensverantwortlichkeit (corporate liability)  47, 70 – Wissenschaft 32–36 Antiterrorism and Effective Death Penalty Act (AEDPA) 1996  337 f. Athen, klassisches 156 f., 162, 174, 186 f., 220, 225, 238 Aufklärung  36, 95, 154, 159, 176, 216, 221, 236, 263, 272, 301 Australisches Strafgesetzbuch (Australian Criminal Code) 336

Autonomie  15, 17, 21, 95, 147, 153, 155, 157– 159, 162, 166, 174, 176, 177, 181–183, 189, 194–206, 216, 218, 221, 238, 252, 266, 271, 275, 286, 288, 322 f., 239–241, 340f, 347, 349 Badewannenfall des Reichsgerichts (1940) ​ 130–137 Bayerisches Strafgesetzbuch (1813)  44, 170 Beattie, John  169 Beccaria, Cesare  43 f., 65, 95, 226–232, 239, 272, 274–278, 295 f., 309, 313, 316, 341, 343 f. Behandlungsmodell (treatmentism) 256–259, 319 Beling, Ernst  104, 107, 109 f., 117, 136, 139 Bentham, Jeremy  43, 226 f., 257, 259 f., 277, 284, 296, 311, 316, 322, 341 Berlin, Isaiah  182 Besserung (correction) 22, 70, 85, 89–91, 282, 308 f. Bill for Proportioning Crimes and Punishments (Thomas Jefferson) (1779)  26, 289, 292, 329 Bill of Rights (USA)  18, 20, 275, 313 Binder, Guyora  33 Binding, Karl 51–53, 75 f., 82, 84, 86–88, 239, 343 Birnbaum, Johann Michael Franz  74–76, 81 f., 84 Bishop, Joel Prentiss  285 Bismarck, Otto von  53 Black Lives Matter-Bewegung  16, 31, 340 Blackstone, William  67, 190, 226 f., 290 „Bloody Code“ von England  168, 170, 191, 275, 278, 289, 344 Boyd, Julian  294, 296 f. Bradford, William  275 Bruch des Friedens (breach of the peace) ​ 191, 208 Brunner, Heinrich  263, 314 Bürgerkriege  221–224, 312 f., 328, 341

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Sachwortverzeichnis

Bürgerstrafrecht vs. Feindstrafrecht (Jakobs) ​ 30, 93, 161, 164, 216 f., 262–268, 346 Burgh, Richard  93 Bußen  70, 171, 178, 209–211 Carter, James Coolidge  114 Coke, Edward  67, 294–296, 298, 307, 328 Collin, Peter  236, 240 f. Colquhoun, Patrick  160, 170 „Commentaries on the Laws of England“ ​ 103, 154, 160, 169, 191, 274, 299, 324 Common Law-Delikte (common law offenses) ​184  f. Conover, Ted  333 Coughlin, Anne M.  178, 180 Cover, Robert M.  30, 200 „Crime Control“-Modell vs. „Due Process“Modell des Strafprozesses (Packer) 21, 262–265, 268 Cromwell, Thomas  18 Deutsch-Französischer Krieg (1870–71)  53 Deutscher Juristentag  133, 240 Deutschland 17, 19, 26, 29, 31, 47, 58, 61, 68, 95, 111, 113, 142, 153, 158, 163, 170, 181, 189, 205, 229, 234, 236, 238, 248, 272, 342 – Badewannenfall des Reichsgerichts (1940) 130–136 – Bayerisches Strafgesetzbuch (1813) 44, 170 – Bundesgerichtshof  46, 133 f. – Bürgerliches Gesetzbuch  38 – Bürgerstrafrecht  160, 165, 216, 262–264, 267, 346 – Etikettismus (labelism)  42, 69–71 – Grundgesetz  40, 76, 164 – Nationalsozialismus s. NS-Deutschland – Reichsgericht  47, 118, 130–137 – Schulenstreit  51, 86, 239 – Strafrechtswissenschaft  29 f., 34–59, 61– 96, 101–126, 134–150, 189, 211, 229, 243– 245, 250, 266 f., 273, 348 – Teilnahmelehre 47, 121, 123–125, 127, 130 f., 139, 141 Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM)  321 Dicey, A. V.  160, 323

Diebstahl  33, 75, 87, 102, 199, 227, 232, 297 Doppelter Strafstaat (dual penal state)  25 f., 100, 153, 167, 186, 199, 204 f., 217, 237, 261, 264, 268 – Opferschaft  189, 193, 196 f. – Rasse und  231, 235 – Souveränität  187–191, 194, 198, 204 – Strafrecht und Polizei im -n  167 Drogendelikte  207 f. Dudley and Stephens, R v. (1884)  111–121, 131, 141, 150 „Due Process“-Modell vs. „Crime Control“Modell des Strafprozesses (Packer) 21, 262–265, 268 Durkheim, Emile  193 Duve, Thomas  132 Dworkin, Ronald  179 Edward III  301 f. Eichmann, Adolf  47 Einwilligung (consent)  22, 79 England  67–69, 114, 160, 176, 222, 275, 281, 323 f. – Bill of Rights (1689)  275, 285 – „Bloody Code“  168, 170, 191, 275, 278, 289, 344 – Magna Charta (1215)  18, 58, 65–68, 275, 278, 285 – Strafrecht  33, 66–68, 103, 111–116, 119, 172, 221, 227, 324 – Treason Act 1351  223, 299, 301–303 Ermessen, richterliches  48 f., 136 f., 168, 209, 211 Etikettismus (labelism) 30, 42, 61, 68–96, 100, 209 – Besitzstrafbarkeit 96–100 – Erscheinungsformen 69–72 – positive Generalprävention  85–95 – Rechtsgut, Rechtsgüterschutz  72–85 – und Taxonomismus (taxonomism)  68, 100 Europäische Menschenrechtskonvention  214 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte ​ 41 Ewing, A. C.  93 Exzeptionalismus 238 Familia s. a. paterfamilias vs. forum 157, 159, 225, 299 f., 341

Sachwortverzeichnis Farmer, Lindsay  133, 157, 158, 170 Feinberg, Joel  72, 93 felony-murder-Doktrin  257, 249, 259 f., 338 Ferguson, Pamela  208 Ferguson, Robert A.  297 Ferri, Enrico  324 Feuerbach, Paul Johann Anselm von  57, 60, 64, 66, 75, 81, 84, 89, 95, 109, 170, 229– 232, 235, 239 f., 252, 272, 274, 343–345 Fichte, Johann Gottlieb  53 f., 231, 241, 263 finale Handlungslehre  61, 121, 125, 130, 139 Fletcher, George  33–36, 94, 102 Florin, Franz Philipp  219 Formalismus  42, 69, 273, 347 forum s. a. familia  157, 178 Foucault, Michel  154, 162 f. Fowler, Alastair  162 Fraenkel, Ernst  183 f. Freiheit  32, 66, 76 f., 79 f., 53, 301, 308, 311, 313, 343 – negative und positive  181–184 Freiheitsstrafe (imprisonment)  131, 206, 208 f., 228, 318 Freisler, Roland  247–250 Freund, Ernst  184, 223 Frieden  73, 147, 160 – Arten des -s  158, 191 – Bruch des -s  208, 224 – des Haushaltsvorstands  219, 300 – des Königs  271, 301 – des Souveräns  172, 176, 187 – Friedensgemeinschaft 53 – Friedensstaat 176 – frith 157 – Hausfrieden  199, 273 – internationaler 273 – Konzept 160 – Landfrieden 191 – mund 191 – öffentlicher  221 f. – politische Verbrechen  187 – Störung des -s  102, 188 f., 193 – und Recht  79 f., 147, 158, 176 – und Sicherheit  79 – und Würde  188 – Verbrechen gegen den  80 Friedland, Martin  68, 323 Frommel, Monika  247

373

Fuller, Lon L.  56 Gemeinwohl, Delikte gegen das  57, 208 Generalprävention, positive  34, 69 f., 71, 85– 96, 108, 130, 229 Gerechtigkeit 15, 52, 58, 86, 88, 135, 145, 147, 157 f., 178, 181, 183, 189, 207, 232, 262, 276, 279, 283, 319, 330 Gesetzlichkeitsprinzip s. a. Rechtsstaat  40 f., 148, 320 – Doppelter Strafstaat  239 – Herrschaftsmechanismus, Recht und Polizei als  154, 156, 176, 189, 349 – Rhetorik des Strafrechts  110, 148 – Strafrechtswissenschaft 239 Gesinnungsstrafrecht 179 Gewalt, Straf-  15 f., 18–26, 31 f., 44, 59, 84 f., 153, 204, 245, 271, 279, 296, 329 Girardin, L. H.  281, 286 Globig, Hans Ernst von  231 Grotius, Hugo  286 Günther, Klaus  30 Hall, Jerome  33, 327, 347 Halliday, Paul D.  180, 301 Hamilton, Alexander  274 Harcourt, Bernard  72, 82 harm principle s. a. Rechtsgut 34, 72, 82, 84–85, 192, 198, 239, 307 Hart, H. L.A.  86, 201, 262 Hart, Henry M., Jr.  37, 258, 262, 319, 322, 346 Hartung, Fritz  35, 131–137 Hassemer, Winfried  88 Haushalt (household) 157, 178, 186–188, 198, 219–221, 225 f., 233, 238, 283 f., 302, 333, 341 – Makro-  157, 182, 195, 286, 301 – Mikro-  166, 176, 220, 298, 300 f. – Mittel  182, 196, 226, 284 – Staat  159, 161, 193, 274, 276 – Verwaltung (governance)  225 f. – Wohlfahrt 284 Hausväterliteratur s. a. Prinzenspiegel  219, 321 Hay, Douglas  168–170, 344 Head, Thomas  158 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 90–92, 201, 227, 276 f.

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Sachwortverzeichnis

Hegemonie  163, 216 Heteronomie 157, 162, 174, 178, 189, 198, 202, 206, 216, 220 f., 227, 234, 238, 323, 349 Hildebrandt, Mireille  172 Hilger, Christian  241 Hochverrat (treason)  223, 302 – Englischer Treason Act 1351 223, 299, 301–303 Hohfeld, Wesley Newcomb  180 Holder v. Humanitarian Law Project (U. S. Supreme Court) (2010)  334 Homosexualität, Strafbarkeit der  77 Hörnle, Tatjana  32, 39–41, 48, 82 f., 88, 99, 102 f., 106, 110, 120, 155, 166, 192, 212, 214, 239, 257, 266, 339 Hume, David  208 hunch (Rechtsgefühl) 135 Hurd, Heidi M.  260 Huster, Johann Georg  231 Hutcheson, Joseph C.  134–136, 138 Hyperlegalität 168 Idealtypen  159, 161 f., 174 Indian Evidence Act (1872)  68 Indisches Strafgesetzbuch  68 Inhaftierungsraten 16 Internationale Kriminalistische Vereinigung (International Criminalistic Association) ​ 55 Inzest-Entscheidung des BVerfG (2008)  35, 41, 82 Italienisches Strafgesetzbuch  324 Jakobs, Günther  30, 36, 92 f., 161, 164, 178, 205, 216 f., 231, 241, 261–268, 346 Jefferson, Thomas 26, 67, 154, 218, 227 f., 250, 273, 280 f., 283, 286, 288–314, 327–329, 332 – Bill for Proportioning Crimes and Punishments (1779) s. a. Virginia Criminal Law Bill  26, 289, 292, 311, 329 Jescheck, Hans-Heinrich  73 f., 112, 116–118, 120 Jeßberger, Florian  124 Jugendliche 212–214 Juristischer Positivismus  48 f. Kansas v. Hendricks (U. S. Supreme Court) (1997) 213

Kant, Immanuel 43, 54, 65, 86, 90 f., 229, 231–235, 239, 272, 276, 313, 341, 343 f. Kategorischer Imperativ 86, 90, 91, 232 f., 344 Kaufmann, Armin  74 Kienapfel, Diethelm  73 Koch, Arnd  229–231, 240 Kodifizierung (strafrechtliche) 26, 38, 53, 68, 71, 114, 169, 170, 248, 258, 277, 311, 321–326, 345 – Australisches Strafgesetzbuch (Australian Criminal Code)  336 – Bayerisches Strafgesetzbuch  44, 170 – „Bloody Code“ von England 168, 170, 191, 275, 278, 289, 344 – Deutsches Strafgesetzbuch  25, 38 f., 107, 117 f., 125, 142, 164, 246–248, 250, 252, 254 f., 264, 342 f., 244 f. – Model Penal Code s. dort – Preußisches Allgemeines Landrecht (ALR) 170, 182, 246, 251 – Preußisches Strafgesetzbuch 129, 170, 251, 343 Komparativ-historische Analyse  267 Kompensation für Opfer  196–198, 308 Konsequentialismus  51, 65 – normative und empirische Probleme 90 f. – vs. Deontologie  86, 88 – vs. Retributivismus 51, 86, 88, 91  f., 232 Koslowski, Peter  234 f. Kreuzberg-Entscheidung des Preußischen Oberverwaltungsgerichts (1882)  182 Krieg gegen das Verbrechen  168, 265, 331, 338 f. – und 9/11  334 Kriminalpolitik (criminal policy)  52, 243 Kriminologie  36, 50, 64, 89, 214 Krise des modernen Strafstaats (modern ­penal state) 15–20 – liberales Strafen (liberal penality) 15–20 – Stadien der Verleugnung  20–26 Kritische Analyse des Rechts (critical ana­ lysis of law)  36, 153 f., 174, 305, 342 – Staatliche Macht (state power) 177 – Strafmacht (penal power)  177, 204 – Umfang 155 Kühne, Hans-Heiner  240

Sachwortverzeichnis Lacey, Nicola  33 Landstreicherei /  Vagabundentum (vagrancy) ​ 96–100, 222–225 Lavi, Shai  299 lebenslange Freiheitsstrafe  87, 98, 128, 196, 223 f., 227, 318 Legal Process School  258 Legitimation von Macht  24, 29 f., 58, 84, 96, 108, 124, 153, 155, 159, 201, 235, 271, 321, 349 – Krise des modernen Strafstaats  15–20 – Kritische Analyse  17, 64, 18 – Strafrechtswissenschaft s. dort Liszt, Franz von 51–61, 63, 86–90, 118 f., 133, 145, 239, 243–245, 247, 256 – Fortschrittsdenken 53 – „magna charta“-Parole  55, 60 f., 64–68 – Marburger Programm (1882)  53, 316 Livingston, Edward  277, 311–314, 322, 324, 328 Llewellyn, Karl  329 Locke, John  277 f. Lodge, David  162 Loughlin, Martin  172 M. v. Germany (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) (2009)  41, 214 Machiavelli, Niccolo  166, 219, 225, 321 Magna Charta (1215) 18, 65–68, 167, 275, 285 Magna Farta 18 Maier, Heinrich  93 Maitland, Frederic William  181, 300 f. Malone, Dumas  294 Marburger Programm (Franz von Liszt) (1882)  53, 316 Martinson, Robert  89, 214 Mason, George  291 f. Maßnahmen und Strafen s. Zweispurigkeit des Strafrechts Mayer, M. E.  104 Mead, George Herbert  263 Menninger, Karl  212, 215 Meranze, Michael  287 Michael, Jerome  23, 248, 258, 316 Mill, John Stuart  72 f., 307 – „On Liberty“  85 Model Code of Criminal Procedure (American Law Institute)  315

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Model Code of Pre-Arraignment Procedure (American Law Institute)  315 Model Penal Code (American Law Institute)  s. a. Vereinigte Staaten von Amerika / USA  22, 25, 71, 80, 110, 209 f., 215, 264, 304, 330 – Begrifflichkeit  120, 319–321 – Behandlungsmodell (treatmentism) ​256– 259, 319 – Entstehung  248, 256 f., 315 – jenseits des „Kriegs“ gegen das Verbrechen 339–342 – Kommentare  248, 259, 318, 329 – „Krieg“ gegen das Verbrechen  330–338 – Rechtsvergleichung 342–348 – strafrechtliche  Kodifikation 71, 248, 321–326 – Taxonomismus (taxonomism) 110 – Teilnahmelehre 122 – und Model Correctional Code  325 f. – und Strafrecht/Polizei im doppelten Strafstaat  199, 264 f. – Verfasser  71, 215, 248, 254–256 Mohl, Robert von  160 f., 175, 272 Mommsen, Theodor  186 f. Money Laundering Control Act 1986  338 Morag-Levine, Noga  185 Mord (murder)  75, 111, 112, 118, 131, 164, 178, 197, 199, 239, 246–252, 257, 261, 291, 297 f., 306, 334 – „felony-murder“-Doktrin 257, 259–260, 338 Mörder (murderer)  172, 232, 246 f., 250–252, 254 f., 256 Morris, Herbert  177, 216, 259 Müller, Ingo  30, 245 Naas, Stefan  182 Naturrecht  50, 277 Naucke, Wolfgang  30, 43, 52, 231, 346 Nestler, Cornelius  78 Neumann, Franz  235 New York, Recht von  33, 190, 318, 329 Nixon, Richard  265 Normenstaat (normative state)  183 f. Notstand (necessity) 78 – Deutsches Recht  79 f., 117–120 – Entschuldigung (excuse)  102, 112, 117 f.

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Sachwortverzeichnis

– Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher 248 – Rechtfertigung (justification)  118 f., 120 – Taxonomismus (taxonomism) 120 – und Strafrecht/Polizei im doppelten Strafstaat 178 Notwehr  79, 102, 119, 224, 239, 260, 326 Novak, William J.  171, 294 NS-Deutschland 44–46 – Etikettismus (labelism) 71 – Rechtswissenschaft 45 – Strafrechtslehre  44, 46 f., 49, 54, 83, 164, 239, 243–245 nullum crimen sine lege-Prinzip 64, 109, 254 O’Connor, John E.  288 f. Ohlin, Jens David  125 oikonomikos  183, 299 f. Oikonomikos (Xenophon)  219, 321 oikos  157, 178, 183, 187, 299 Ontologismus (ontologism)  42, 61–63 Opferschaft  189, 193, 196 – Autonomie 197 – Entschädigung 197 – Opferschutzbewegung in den USA  196 Ordeig, Enrique Gimbernat  34 Ordnungswidrigkeiten/Verwaltungsunrecht (administrative offenses)  121 f., 171, 179, 210, 345 f. Packer, Herbert  21, 177, 205, 217, 261–268 Paine, Thomas  159 Paterfamilias  225, 341 pater patriae  157, 223 – bonus  157, 159, 225 – diligens  157, 225 – prudens 157 – vitae necisque potestas s. a. patria potestas 300 patria potestas s. a. vitae necisque potestas Pauly, Johann Christian  158 Pawlik, Michael  36 Peel, Robert  170 Philadelphia Society for Alleviating the Miseries of Public Prisons  287 plea bargaining  17, 49, 179 Polizei  25 f., 70, 84 f., 101, 105, 146 f., 154, 158 f., 162, 165, 167, 216, 241, 281–285

– Begriff der  26, 158, 163, 174 f., 181, 186, 206 – in Deutschland  342–349 – Polizeimacht  21, 160, 163, 171, 173, 184, 187, 189, 272, 276 f., 286, 292, 299 f., 313, 327, 329, 338 f. – Polizeirecht  70, 84, 154–156, 188 f., 210 – Polizeistaat s. dort – Polizeiwissenschaft 158–160, 237, 272, 276 – und Rassismus  340 f. – und Recht 25 f., 70, 84, 101, 154–156, 159, 161–165, 173–185, 189, 199, 204, 220, 227, 231, 238, 242 f., 251, 264, 268, 271, 290 f., 331 – und Strafrecht  154, 167–198, 202–212 Polizeirecht  52, 70, 84, 154, 188 f., 210 Polizeistaat  25, 146, 154, 158–166, 173, 176, 179, 182, 206, 210, 241, 272, 343, 345 Pollock, Frederick  160, 181, 187, 300, 301 Positive Generalprävention 34, 43, 69–71, 85–96, 108, 130 Positivismus, wissenschaftlicher  46, 50 Post, Robert C.  58 Pound, Roscoe  282, 287, 333 Preußisches Allgemeines Landrecht (ALR) ​ 170, 182, 251 Preußisches Polizeiverwaltungsrecht  182 Preyer, Kathryn  291–295, 298 Prinzenspiegel s. a. Hausväterliteratur  219 Privilegien und Rechte  177, 180 Proportionalität  87, 284 Provokationsdoktrin 261 Quäker 279 Radbruch, Gustav  44, 54, 111–120, 187, 195, 238, 244, 247, 343 – „Der Geist des englischen Rechts“  112 f. Rasse und Strafsklaverei  217–236 Raub (robbery)  87, 199 Rawls, John  86, 201, 204, 262, 306 Reagan, Ronald  23 Recht  17, 26, 32, 37–39, 42, 45, 49–53, 68, 70, 72, 75, 77, 81, 84, 86–88, 90, 103, 108, 112–116, 119, 121–124, 132, 134, 136, 139–141, 143–147, 153–157, 159–167, 171, 173–185, 187, 189, 197, 199, 204–206,

Sachwortverzeichnis 210, 213, 216 f., 222, 233, 237, 238, 241– 243, 248, 251, 257, 263, 267, 275–277, 283, 285, 288, 290, 291, 299, 307 f., 313, 327–331, 341, 347–349 – Arten  79 f. – Einwilligung (consent)  79 f. – Gemeinschaftsrechtsgüter  75, 78–80, 84 – Individualrechtsgüter  76, 78 f., 84 – Naturrecht  50, 231, 277 – positivistischer vs. normativer Rechtsguts­ begriff  74 f. – Privatrecht  37–29, 106, 179 Rechtsgut, Rechtsgüter 71  f., 76–84, 118, 189 – Rechtsstaat s. dort – Römisches Recht  37 f., 65, 128, 147, 186 f., 225 – s. a. harm principle – Strafrecht s. dort – und Billigkeit (equity)  181 f. Rechtslehre (Deutschland)  35, 37, 47, 55, 59, 124, 142 Rechtspositivismus  30, 40, 42, 44–46, 48– 50, 107 Rechtssicherheit  56, 343 Rechtsstaat (law state, état de droit) 25, 52, 55–57, 80, 137, 145 f., 153 f., 158–165, 172 f., 179, 182 f., 189, 199, 207, 210, 240 f., 272, 343, 344 Rechtsstaatsprinzip (rule of law); s. a. Gesetzlichkeitsprinzip  40, 166 Rechtswissenschaft  36 f., 50, 115, 129, 135, 141, 143, 146 f. – als Polizeiwissenschaft  145–150 – Aufgabe von  145 f., 148 – Deutschland  36–38, 40, 43, 101, 113, 129, 140 – Hilfswissenschaften der  50, 347 f. – Objektivität 143 Rehabilitierung (Rehabilitation)  85, 89, 214, 317 Religion, Delikte gegen die  75 „Rethinking Criminal Law“ (Fletcher)  32 f., 36, 102 Retributivismus / Vergeltung (retributivism) ​51, 65, 86, 88 f., 91 f., 94, 179, 232, 259, 347 Richterliches Ermessen (judicial discretion) ​ 48 f., 136 f., 169

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Rocco, Alfredo s. a. Italienisches Strafgesetzbuch 324 Römisches Recht  37 f., 65, 128, 147, 186 f., 225 Rousseau, Jean-Jacques  158, 263, 300 Roxin, Claus  62 f., 74, 76–79, 82, 90, 92, 101, 106, 108, 117, 120, 123–125, 128 f., 137– 149, 188 rule of law  18, 65, 67, 154, 160, 167, 168 f., 172, 323, 344 Rüthers, Bernd  68 Sacks, Albert  37, 258, 264, 322, 329 Savigny, Friedrich Carl von 37 f., 50, 65, 146 f., 245 Sayre, Francis Bowes  57, 61, 207–209 Schenke, Wolf-Rüdiger  178 Schmidt, Eberhard  43, 52, 54 Schmidt-Voges, Inken  219 Schönke, Adolf  35, 115, 249 Schuldprinzip  40 f., 66, 83, 133, 242, 245 Schulhofer, Stephen  72 Schünemann, Bernd  66, 105, 240 Schweizerisches Strafgesetzbuch 210, 248, 255 Schweling, Otto  46 Schwinge, Erich  46 Scott, Arthur P.  298 Sellin, Thorsten  187, 228 Simpson, A. W. B.  111 Sina, Peter  75 Sklaverei  65, 205, 218–220, 226–238, 272, 309, 312–314, 328, 341 Slobogin, Christopher  213 Sloganismus (sloganism)  30, 42, 61, 63–68 – und Etikettismus (labelism) 68–71 – und Taxonomismus (taxonomism)  100 f. Smith, Adam  160, 276 Sokrates, Prozess des  186 f. Souveränität  165, 174, 189–191, 194–195, 234, 274, 299–301, 334, 341 – Doppelter Strafstaat  204 – und Hochverrat  302 f. Sozialer Wohlfahrtsstaat  52 Sozialstaat 60 Spurlin, Paul  275, 296 SS-Einsatzgruppen 47 Staat als Opfer  192 f.

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Sachwortverzeichnis

Staatsgewalt (state power)  52, 161, 278 Steinfeld, Robert J.  286 Stephen, James Fitzjames  67, 114, 257, 316, 323 Stern, Simon  274 Stolleis, Michael  46 Stooss, Carl  256 Störer  178, 188 f., 194, 204 Störung  22, 171, 187–191, 261 Strafbares Verhalten (Taxonomie)  121, 124, 127 f., 139 Strafe, -n  15–20, 22, 29, 32, 36, 43, 58, 85, 90–92, 95, 112, 121–124, 149, 165, 163, 172 f., 179, 186 f., 194, 197–198, 201–212, 215–217, 261–263, 271–274, 277–280, 283, 307 f., 310, 316, 319, 328, 340–342, 345 – Aufgabe  51–53, 87, 93 – exzessives  283, 310 – in Deutschland  237–246, 251 – Legitimation  236, 288, 327, 349 – patriarchales  194, 274, 282 – Recht auf Strafe  51, 87 – Schutz der Rechtsordnung  52 – Staatssouveränität 183 – Strafen, liberales (liberal penality)  29, 36 – Strafrecht und Polizei  167 – Strafrechtswissenschaft  54, 73 – Straftheorien s. dort – Todesstrafe s. dort – und Maßnahmen  25 f., 41, 71 Strafen und Maßnahmen s. Zweispurigkeit des Strafrechts Strafgewalt  16, 22, 24, 44, 84 f., 153, 296, 329 Strafmacht  15, 16, 20–26, 52–56, 60 f., 65, 81, 85, 100 f., 106, 123, 138, 154–156, 163–165, 173, 177, 199 f., 203–205, 207, 210, 236, 239, 243 f., 259, 267 f., 327, 329, 339, 343–348 – Entstehung  195, 218 f. – Gewalt 202 – in den USA  187, 272–281, 291, 298–316 – Laienbeteiligung 31 – Legitimation  17 f., 29 f., 36, 44, 50 f., 58 f., 61, 69, 84, 96, 108, 115, 124, 153, 201, 235, 271, 321, 330 – Objekte 190, 216–218, 220, 225 f., 231, 237, 341 – Subjekte 190

Strafparadox (penal paradox) Strafpatriarchat 281–285 Strafrecht (criminal law)  32, 58 f., 79, 100, 112, 167, 195, 197 f., 204, 206, 212, 215, 226 – als öffentliches Recht  37 f. – als Privatrecht  37 f. – Anglo-Amerikanisches s. dort – Aufgabe  73 f., 206, 306 – Bürger  220, 267 – „Crime Control“-Modell vs. „Due Process“-Modell des Strafprozesses 21, 262– 265 – Deutschland  17 f., 25, 30, 35–42, 50, 60– 62, 66, 81, 86–88, 95, 101, 115, 118, 133, 143, 149, 153, 162, 172, 234, 240, 242, 250, 273, 277 – Einwand der Schuldunfähigkeit (insanity defense)  261, 326 – England  66, 113, 172, 186, 221 – Feind  216 f., 220, 267 – Kodifizierung  53, 321–326 – Kompetenz (expertise)  49, 134, 274, 325 – Krieg gegen das Verbrechen (war on crime) s. dort – liberales Strafen (liberal penality), Krise des  15–20 – materielles  170, 253, 262–265, 334, 338 – Positive Generalprävention  34, 43, ­69–71, 85–96, 108 – Rechtswissenschaft s. dort – Theorie  32, 35, 88, 90–96, 130, 137, 145, 274 – und Legitimation der Strafgewalt (penal power)  16, 22, 24, 44, 84 f., 153, 296, 329 – Vereinigte Staaten von Amerika / USA s. dort Strafrechtswissenschaft 29–32, 35–61, 63, 68, 69, 71, 73, 81–83, 86, 88 f., 93, 95 f., 100, 107 f., 113, 115–121, 124–127, 130, 134, 136–139, 142, 144–147, 149 f., 229, 243, 245, 266 f., 273, 343, 346, 348 Strafsklaverei  205, 217–237, 309, 345 Straftheorie, -n  22, 32, 33, 35 f., 86, 88, 91, 92 – Abschreckung  85 f., 91 f., 236, 276 – absolute und relative  89 – expressive 93–95

Sachwortverzeichnis – positive Generalprävention  93, 108, 231 f. Swain, Simon  174, 266 Täterstrafrecht  99, 179, 239, 250, 251, 255 f. Tatherrschaftslehre; s. a. Roxin  62, 130, 138, 139, 142 f. Tatstrafrecht  99, 179, 239, 250, 255 Taxonomismus (taxonomism)  30, 34, 37, 42, 61, 68, 100–145 Teilnahmelehre  47, 123, 124, 127, 130 f., 139, 141 – Objektive Theorie  125 – Subjektive Theorie  125 Teilnahmestrafbarkeit 121–145 Theorien  34, 69, 86, 88, 113, 126 – Deontologische 85 – Strafe s. Straftheorie – Strafrecht 86 Tiedeman, Christopher G.  223 Tierquälerei  73, 78 Todesstrafe 168, 199, 224, 227, 229, 232, 275, 281 f., 289, 291 f., 297, 309, 313, 320 Tomlins, Christopher L.  290 Tonry, Michael  16 Turner, Jenia Iontcheva  49 U. S. Supreme Court  18, 31, 32, 42, 97, 166, 180, 187, 189, 222 f., 250, 264–266, 320, 334 Utilitarismus  88, 262 Vagheit 253 Verantwortlichkeit, strafrechtliche 101 f., 102 f., 107–110, 117, 119 f., 122, 189, 202, 245, 260–262 – Badewannenfall des Reichsgerichts (1940) 130–136 – conspiracy (Verschwörung)  304, 324 – dreistufige Prüfung  39, 102 – Prinzipien  98 f., 245 – Taxonomismus (taxonomism)  117, 126 – Teilnahmelehre  47, 127, 304 – Unternehmensverantwortlichkeit 245 – Voraussetzungen 107 Verbrechen (crime); s. a. Strafrecht 39–42, 52, 57, 72, 75, 80, 84–86, 89–91, 97, 101, 103, 107, 110, 112, 120, 168, 171, 179, 187 f., 194, 196–205, 207 f., 212, 218, 222,

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224, 226, 230, 233, 277, 281–288, 289, 291, 293, 295, 299, 301, 305–314, 318 f., 327 f. Vereinigte Staaten von Amerika / USA s. a. Anglo-Amerikanisches Strafrecht  16, 32, 95, 155, 205, 217, 263, 271, 331, 349 – Amerikanische Revolution  222, 272, 299 – Amerikanischer Bürgerkrieg 221–225, 312 f., 328 – Amerikanischer Rechtsrealismus  134 f. – Anglo-Amerikanisches Strafrecht s. dort – Bill of Rights (USA)  18, 20, 275, 313 – Black Lives Matter-Bewegung  16, 31, 340 – „Common Law“-Delikte (common law offenses)  184 f. – „Federal Criminal Code“-Kommission 304 – „felony-murder“-Doktrin  257, 249, 259 f., 338 – Frühe Republik  222, 274, 279, 306–311 – Gründungsväter (Founding Fathers) 159 – Krieg gegen das Verbrechen (war on crime) s. dort – plea bargaining  17, 49, 179 – Polizeimacht  21, 154, 160, 187, 189, 233, 272, 276, 292, 299, 300 f., 338 f., 341 – Pönaler Exzeptionalismus  238 – Pönaler Sonderweg  342 – Sentencing Guidelines  86, 166 – Strafverfahrensrecht 18 – Todesstrafe  23, 168, 291 f., 297, 309, 320 – U. S. Supreme Court  18, 31, 32, 42, 97, 166, 180, 187, 189, 222 f., 250, 264–266, 320, 334 – U. S. Verfassung  18, 218, 303, 312 – 8. Zusatzartikel zur U. S. Verfassung (Eighth Amendment) 275 – 13. Zusatzartikel zur U. S. Verfassung (Thirteenth Amendment) 218–220, 233 f., 312, 328 – Verfassungsrecht 171, 180, 185, 238, ­264–267 – Virginia Criminal Law Bill (1779)  289– 314 – Waffenbesitzrecht  221, 223, 224, 313, 336 Verhältnismäßigkeit 168, 283, 285, 290, 293 f., 307–310 Verschwörung (conspiracy)  304, 334–337

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Sachwortverzeichnis

Verwaltungsrecht  70, 154, 168, 179, 183, 188, 197, 272, 326 – und Strafrecht  209 f., 336 verwörteln (bewordle)  135, 138 Vinogradoff, Paul  187 Virginia Committee for the Revision of the Laws 290 Virginia Criminal Law Bill (1779); s. a. Jefferson 289–314 – Hochverrat und Souveränität  301, 302 – Präambel 289, 295, 296–298, 305–311, 328 Vogel, Joachim  245 Voltaire 226 Vormbaum, Moritz  55 Vormbaum, Thomas  43, 52 War on crime (s. Krieg gegen das Verbrechen) Warren, Earl  264 Weber, Max  159, 161

Wechsler, Herbert; s. a. Model Penal Code ​ 247–261, 264, 316, 319 f., 345–348 – und der Model Penal Code  57, 215, 255, 257–259, 322–330 Weigend, Thomas  49, 73 f., 125 Weimarer Republik  44 f., 146, 183 f., 243 Weiner, Robert O.  331 Welzel, Hans  61–63, 107–109, 121 Werle, Gerhard  55, 124, 217, 250 Wilson, Woodrow  135 Wolf, Erik  104 Würde, Recht auf  40 Wythe, George  291, 295 Xenophon  219, 321 Ziemann, Sascha  116 Zweispurigkeit des Strafrechts 22, 25, 41, 54, 70 f., 87, 133, 164, 243, 246, 247, 317, 345