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German Pages 168 [169] Year 2022
Al-Ḥallāǧ oder die Religion des Kreuzes
CIBEDO-Schriftenreihe herausgegeben von der Christlich-Islamischen Begegnungs- und Dokumentationsstelle Arbeitsstelle der Deutschen Bischofskonferenz Herausgeberkomitee: Timo Güzelmansur, Tobias Specker SJ, Christian W. Troll SJ
Roger Arnaldez
Al-Ḥallāǧ oder die Religion des Kreuzes Die Suche nach dem Absoluten aus christlicher und muslimischer Perspektive Mit einem Geleitwort von Ahmad Milad Karimi Vorwort und Übertragung ins Deutsche von Christian W. Troll SJ
Verlag Friedrich Pustet Regensburg
Originaltitel: ῌallāj ou la religion de la croix Nouvelle édition © Librairie Philosophique J. Vrin, Paris, 2022 http://www.vrin.fr (Première édition: Librairie Plon, Paris, 1964)
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. www.cibedo.de © 2022 Verlag Friedrich Pustet, Regensburg Gutenbergstraße 8 | 93051 Regensburg Tel. 0941/920220 | [email protected]
ISBN 978-3-7917-3327-2 Umschlag: Vollnhals Fotosatz, Neustadt a. d. Donau Umschlagentwurf: Andreas A. Gottselig, Frankfurt am Main Satz: Vollnhals Fotosatz, Neustadt a. d. Donau Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg Printed in Germany 2022 eISBN 978-3-7917-7393-3 (pdf) Unser gesamtes Programm finden Sie im Webshop unter www.verlag-pustet.de
Inhaltsverzeichnis Geleitwort
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Vorwort des Übersetzers Vorwort
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Das Leben von al-Ḥallāǧ I.
Der Todesrausch
II. Vom Gesetz zur Ekstase III. Die Ekstase des al-Ḥallāǧ
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IV. Jesus in der Meditation von al-Ḥallāǧ Schlusswort Meinungen
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Biographie eines Unverstandenen Abkürzungen Glossar
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Namensregister
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Schriftstellenregister Die Autoren
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Geleitwort Roger Arnaldez hat 1964 eine Studie mit dem Titel „Hallâj ou la religion de la croix“ veröffentlicht, die im Jahr 2022 mit unverändertem Titel neu aufgelegt wird. Es ist keine textexegetische, ideengeschichtliche Analyse des Gesamtwerks von al-Ḥallāǧ, wie es der akademische Lehrer des Autors, Louis Massignon, eindrücklich vorgelegt hat. Es handelt sich auch nicht um einen mystischen Diskurs islamischer Geistestradition, die ohne die bleibende Bezogenheit zu al-Ḥallāǧ undenkbar ist. Arnaldezʼ Versuch ist bemerkenswert originell, indem er präzise und pointiert auf die Topoi und die Wegmarken von al-Ḥallāǧs Denkweg nicht bloß deskriptiv eingeht, sondern sich diesem religiösen Denken stellt. Der Text liest sich wie eine Meditation, ein konzentrisches Ringen um die Fragen, die bei al-Ḥallāǧ dezidiert im Kontext des Islam bedacht werden, aber in ihrer Tiefe, ihrer Bedeutung grenzüberschreitend sind. Arnaldez gelingt hier die Darstellung dieser Grenzüberschreitung. Seine Kunst besteht darin, kurz und knapp zu schreiben, nicht ausschweifend, aber gerade in der Kürze die Gedanken in ihrer substantiellen Bedeutung hervorzuheben. Daher konkurriert sein Werk kaum mit dem großen Werk von Louis Massignon. Ihm gelingt es, intensiver zu schreiben, aber mit leichter Feder, so dass die Komplexität der Gedanken nicht verloren geht, sondern deren Tiefsinn in ihrer Reduktion auf das Wesentliche durchleuchtet, damit sie uns alle betreffen und berühren. Nicht nur die reizvolle Darstellung der mehrdeutigen Satansfigur sowie der Ekstase als einer vergeistigten Existenzerfahrung, mit Gott in Gott vernichtet zu werden, sondern auch die Assoziationen mit dem Tod Jesu, insbesondere die tiefgreifende Erfahrung des Kreuzes, sind außerordentlich lesens- und bedenkenswert. Arnaldez hat damit ein schlichtes, stilles Meisterwerk vorgelegt, keine „Sekundärliteratur“ zu al-Ḥallāǧ, sondern eine eindringliche Literatur, die vor allem davon Zeugnis gibt, dass die Suche nach dem Absoluten, die Arnaldez durch al-Ḥallāǧ nachvollziehen wollte, wie es in seinem Vorwort anklingt, ein Stück weit seine eigene Suche geworden ist. Den deutschsprachigen Leserinnen und Lesern war der Band bis heute nicht zugänglich. Der Versuch, den Text nach über 50 Jahren ins Deutsche zu übersetzen, verlangt zum einen Mut, weil Verlage, die immer mehr ihr Programm von der Laune des Marktes und von Verkaufs-
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Geleitwort
strategien bestimmen lassen, sich an ein solches Werk nicht heranwagen. Zum anderen erfordert der Entschluss zur Übersetzung einen klaren Sachverstand und das Feingefühl, den bleibenden Wert der darin enthaltenen Gedanken für die Gegenwart einzuschätzen, die allen voran den subtilen und zuweilen eleganten Versuch eines interreligiösen Dialogs im Text spürt. Dies alles wird man Christian W. Troll SJ zuerkennen müssen, der das Werk ins Deutsche übertragen hat. Er ist aber kein Übersetzer im eigentlichen Sinn. Er überträgt nicht die Gedanken von einer Sprache in die andere. Christian Troll ist ein Über-setzer, der aus einem „Zwischen“ der Sprachen und der Religionen überhaupt Theologie begreift. Theologie ist für ihn ein ständiger Akt der Übersetzung: sich im Spiegel des anderen sehen und sich im Antlitz des anderen erkennen. Troll ist im Duktus präzise, bleibt in beiden Sprachen mit ganzem Ernst Theologe und hat in diesem Zusammenhang stets das Arabische im Blick. Er ringt um Worte, die für ihn nicht bloße Worte sind, sondern lebendige, geistige Instanzen. Oder ist es die Liebe für die Religion(en) des Kreuzes, die ihn zu Arnaldezʼ al-Ḥallāǧ führt? Der intellektuelle Mut und die Hingabe an diffizile Fragen der Theologie dürften ihn fasziniert haben. Beides findet in der äußerst gelungenen Übersetzung, gut und flüssig lesbar, auch einem Nichtfachpublikum zugänglich, einen adäquaten Ausdruck. Letztlich scheinen der Autor und der Übersetzer mit al-Ḥallāǧ für die Idee einzustehen, dass Philosophie und Theologie keinen Fortschritt kennen. Es gibt keine alten und veralteten Gedanken und Bücher. Es gibt aber Fragen, Grenzfragen, grenzüberschreitende Fragen, die nicht verjähren, nicht ablaufen; ihre Lebendigkeit überdauert die Zeiten, ihre Eindringlichkeit zwingt zum Lesen und Übersetzen. Der Band über das Leben, Wirken und Denken eines muslimischen Mystikers, der zeit seines Lebens gotttrunken und gottsuchend war, zeigt ein eindrückliches Exemplum dieser Idee auf, das in der vorliegenden Übersetzung unbedingt lesenswert ist. Münster, im Januar 2022
Ahmad Milad Karimi
Vorwort des Übersetzers Wer die Komplexität und die Feinheiten der Diktion des islamischen Mystikers al-Ḥallāǧ (244–309 H./857–922 n. Chr.) kennt, versteht, welche Herausforderung es darstellt, über ihn ein relativ kurzes und klares Buch zu schreiben. Der vorliegende Band hat das Anliegen, ein breiteres Publikum mit einem faszinierenden und bewundernswerten Leben bekannt zu machen, das bisher der deutschsprachigen Öffentlichkeit fast unzugänglich geblieben ist. Der französische Islamkundler Louis Massignon (1883–1962) widmete al-Ḥallāǧ fast sein ganzes Leben und legte die Ergebnisse seiner äußerst detaillierten, tiefschürfenden Forschungsergebnisse in dem umfangreichen vierbändigen Werk „La passion de Hallâj“ vor, das allerdings nicht zuletzt aufgrund seines eigenwilligen Stils kaum größere Verbreitung gefunden hat. Der Philosoph und Islamkundler Roger Arnaldez (1911–2006), ein Schüler und Freund Massignons, zeichnet in der vorliegenden Studie den geistlichen Weg des vielleicht bedeutendsten Vertreters der frühen islamischen Mystik nach. Drei Kapitel befassen sich mit al-Ḥallāǧs Auffassung von Leben und Tod, seinem Übergang vom Buchstaben zum Geist, der diesen mit Leben füllt, seiner Suche, die bis zum Absoluten vordringt, und schließlich mit der Natur seiner Ekstase (sukr). Der Platz, den al-Ḥallāǧ selbst in einer Art prophetischer Vorschau des eigenen gewaltsamen Todes dem Kreuz als dem Symbol der restlosen und gelassenen Annahme extremen Leidens einräumt, führt Arnaldez dazu, in einem vierten Kapitel die Aussagen und die Unterschiede zwischen dem koranischen ʿĪsā ibn Maryam und dem Jesus der Evangelien herauszustellen. Al-Ḥallāǧ folgte dem Koran getreu, aber er durchdringt ihn in einer selten erreichten Tiefe. Er war weder Schiit noch Gnostiker. Sein Vokabular mag an verschiedenen Stellen Anlass zu diesem Missverständnis gegeben haben, und man hat ihn entsprechend von schiitischen oder gnostischen Interpretationen her gelesen, indem man aus seinen Aussagen Begriffe entnahm, die in ihrer gnostischen Deutung nicht dem Gottesbild von al-Ḥallāǧ entsprechen. Seine Sprechweise bietet in keiner Weise die gewohnte Bilderwelt der Gnosis. Vor allem aber hat der al-Ḥallāǧ eigene Überstieg in die Mystik immer eine koranische Basis. Seine gesamte Lehre und seine mystische Erfahrung verdanken sich seiner Meditation der Schöpfung, die die körperlich verfasste Welt
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als gottgewollt bejaht, und nicht einer wie auch immer gedachten Lehre von Emanationen, die in unserer Welterfahrung nur eine niedrige Welt (dunyā) sieht, der es zu entfliehen gilt. Im Gegenteil, der Schöpferakt ist absolut frei. Er vollzieht sich am Ursprung des Seins jedes Geschöpfes und besonders bei jedem Menschen. Al-Ḥallāǧ begründet seine mystische Lehre und gibt ihr eine ontologische Bedeutung. Er betrachtet das Leben als ein Geschenk. Der Leib wird nicht verneint, aber er muss von Gott durchdrungen werden. Der Tod ist ein weiteres Geschenk Gottes, den man in heiliger Weise geistlich zu nutzen gerufen ist, im Prozess der Hingabe in Leben, Leiden und Tod hinein in die Vereinigung mit Gott. Der Tod ist der privilegierte Ort des Zeugnisses (šahāda). Die Erfahrung des Todesleidens wird das Denken al-Ḥallāǧs nach und nach durchformen. Er geht von der einfachen koranischen Lehre aus: Mittels der vorgeschriebenen rituellen Handlungen legt der Leib Zeugnis für Gott als den Herrn ab; aber der Koran spricht auch von der Aufrichtigkeit des Herzens (qalb as-salīm, Koran 26:89), und das Gesetz erfüllt sich nicht ohne die Intention, die nīya: „Alles für dich, o Gott!“ Nach seiner Interpretation des berühmten Lichtverses (Koran 24:35) „wird das Herz zum Herd des reinen Glaubens“. Gleichfalls übersteigt al-Ḥallāǧ die Formel der šahāda, indem er die Idee Gottes, seines Schöpfers, vertieft. Er steht dabei im Gegensatz zum Gnostiker Ibn al-ʿArabī (gest. 638/1240), dessen existentieller Monismus von Gott her diesen als das Eine denkt, das bei sich selbst bleibt und welchem durch den Menschen nichts hinzukommt. In Ibn al-ʿArabīs monistischem Denken existieren die Menschen lediglich dafür, Gott die Möglichkeit zur Selbstmanifestation (taǧallī) zu geben. Al-Ḥallāǧ hingegen vertieft sein Ich in seinem Herzen, das auch nach der transformierenden Erfahrung Gottes in seiner Individualität bestehen bleibt. Seine Personalität findet ihr Prinzip im Schöpferakt, der das Sein verleiht. Al-Ḥallāǧ bezeugt, dass seine Erschaffung ein Akt der Freundschaft, der Großzügigkeit des transzendenten Gottes ist. Der Mystiker versteht sich während einer ausgedehnten Periode seines Lebens als Werber für den Islam, als Zeugen für das göttliche Wesen, verstanden als schöpferische Wahrheit (ḥaqq). Nach der von seinem Sohn Ḥamd verfassten Biographie formulierte al-Ḥallāǧ jedoch keine feste Lehre, bevor er sich nach zwei Jahren der Zurückgezogenheit und zwei weiteren Jahren Aufenthalt in Mekka 904 in Bagdad niederließ. In seinen frühen Predigten beschreibt er die
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Zustände des Herzens nach Art der Sufis. Er gibt den Attributen des Mitleids (raḥmān) und der Güte (raḥīm), die gewöhnlich äußerlich verstanden werden, den Sinn einer Freundschaft (auliyāʾ) zwischen Gott und seinem Diener. Diese krönt Gott, indem er in der ersten Person spricht: „Ich bin nahe dem Herzen derer, die mich lieben; wenn sie auf mich blicken, dann schaue ich meinerseits auf sie.“ Die Kenntnis Gottes weitet sich bei ihm in Liebe. Seine Treue besteht darin, Zeuge dieser Liebe zu sein, nicht nur seiner Liebe zu Gott, sondern der Liebe Gottes zu ihm. Er versteht sein geschaffenes Wesen als Zeugen unter den Menschen. In der Ekstase gelangt er dahin zu sagen: „Ich bin die (schöpferische) Wahrheit (anā al-ḥaqq)“, Worte, die u. a. letztlich zu seiner Verurteilung zum Tode führen. Arnaldez analysiert dann die Ekstase in diesem Sinn. Ausgangspunkt ist die Meditation des Schöpferaktes. Wenn Gott Wahrheit ist, dann ist sein Schöpferakt Wahrheit, und deshalb ist die Schöpfung ein Akt der Freisetzung, ohne dass dies eine Emanation implizieren würde. Der so geschaffene Mensch kann und darf sich nicht vernichten. Im Gegensatz zur Lehre von Bāyazīd Bisṭāmī (gest. 261/874), al-Ǧunaid (gest. 298/910) und anderen ist die Ekstase nach al-Ḥallāǧ nicht ein In-GottVernichtetwerden (fanāʾ). Sie ist vielmehr die wesentliche, lebendige Erfahrung der grundlegenden Vereinigung des Geschöpfes mit seinem Schöpfer. Man soll die Schöpfung nicht nur von ihrem Endziel aus betrachten, sondern vor allem von ihrem Ursprung her, der ein Akt Gottes ist und in dem Gott einen Charakter der Innerlichkeit hat. Hier findet al-Ḥallāǧ das persönliche Band zwischen Gott und seinem Diener, denn dieser verdankt seine Existenz einem göttlichen Akt „des Wesens des Wesens“ (dāt ad-dāt), d. h. der Liebe, die die göttliche Personalität begründet. Es ist die Liebe, die eine Kontinuität in der vom Schöpfer zum Geschöpf gehenden ontologischen Diskontinuität etabliert. Er hat aus der Menschheit ein geschaffenes Bild seines Wesens gemacht und kann sich in einem menschlichen Subjekt ausdrücken, das er durchlichtet. Der Mensch verschwindet dann vor dem göttlichen „Ich“, indem es seine Einheit (tauḥīd) in seinem Schöpferakt verkündet. Die Ekstase des al-Ḥallāǧ ist von al-Qušairī (gest. 465/1074) beschrieben worden „als ein gewisses Wort Gottes, adressiert an das Innere der Seele in einer Sprache, die selbst Wort und Antwort darstellt, ohne dass der Gläubige etwas davon weiß“. So erklärt sich al-Ḥallāǧs Aussage: „anā al-ḥaqq“. In einer interessanten Analyse der koranischen Verneinung Satans von
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Gottes Befehl, sich vor Adam niederzuwerfen (Koran 2:34), erklärt alḤallāǧ, wie ein hohes geistliches Leben scheitern kann, wenn man meint, lieben zu können, ohne zu akzeptieren, sich lieben zu lassen. Al-Ḥallāǧ verstand sein Leben und Wirken als prophetische Sendung, die Menschen zu Gott zu rufen, sie an ihren Status als Geschöpfe zu erinnern, an die Quelle ihrer Existenz zu führen, zu dem, was ihnen das Sein verleiht und so den wahren Grund ihres Seins darstellt. Sie ergab sich aus der ekstatischen Erfahrung, durch die er in das Innere Gottes auf dem Niveau des Schöpferaktes Gottes eingedrungen war, das in einer Person und in der Liebe begründet ist. Das Gesetz (šarīʿa), unter dem sich die Gemeinschaft der Nachfolger Muhammads konstituiert, war für ihn nichts anderes als ein Mittel, diesen Appell zur Rückkehr zum Prinzip allen Seins zu konkretisieren. Grundsätzlich aber richtete al-Ḥallāǧ diesen Appell an alle Menschen. Al-Ḥallāǧ war geschenkt worden, das Prinzip der Existenz aller und jedes Menschen in dem sie konstituierenden Akt des Schöpfers zu erkennen. Es handelte sich um eine positive Vision, die sich auf den universalen schöpferischen Akt der geheimnisvollen Freigebigkeit Gottes hin öffnete. Diese Einsicht galt es zu bezeugen: Gott ist das Ganze in allen. Al-Ḥallāǧ predigte allen Geschöpfen die Dankbarkeit gegenüber der einmaligen Personalität Gottes. Bei aller Universalität seiner Vision und der Zentralität des Kreuzes in seinem Denken blieb er Muslim. In der Meditation von alḤallāǧ ist Jesus nicht der gekreuzigte Jesus Christus der Evangelien, denn nach dem Koran wurde dieser nicht gekreuzigt (Koran 4:157 f.). ʿĪsā ibn Maryam ist der Sohn der Maria, geboren ohne menschlichen Vater, durch eine Art fiat Gottes: „sei! (kun)“ (3:45–47), analog zum kun bei der Erschaffung Adams (3:59) und bei der Schöpfung (2:117). Der Geist, der im Augenblick seiner Empfängnis wirksam ist, wird von al-Ḥallāǧ im Sinne der Einheit des Geistes der Heiligkeit (rūḥ al-qudus) mit dem Geist Jesu verstanden. Wenn al-Ḥallāǧ verkündet, dass er „in der Religion des Kreuzes (dīn aṣ-ṣalīb) sterben werde“, meint er nicht das Kreuz des Jesus der Evangelien, sondern das Kreuz als Symbol der absoluten Aufrichtigkeit, des totalen Selbstverzichts „in der radikalen Annahme des göttlichen Handelns“. Ein kurzes Schlusswort der luziden und eindringlichen Darstellung Arnaldez’ präzisiert, warum alḤallāǧ trotz seiner Kreuzestheologie als ein orthodoxer sunnitischer Muslim zu betrachten ist. Er lädt dazu ein, den Buchstaben zu übersteigen, der Teil des Koran ist. Er ist Sunnit gerade auch dort, wo er, so wie
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der Koran selbst, schweigt: Es fehlt al-Ḥallāǧ die Vorstellung einer Teilnahme des Menschen am Heil der anderen Menschen und am göttlichen Geheimnis der Inkarnation, um als Christ gelten zu können. Ebenso wenig kennt er die christliche Vorstellung eines ewigen Lebens, das das wahre Schicksal des von Gott für Gott geschaffenen Menschen zu seiner Erfüllung bringt, noch eine Ausrichtung dieses Lebens auf diese Zukunft mit und in Gott durch Christus. Al-Ḥallāǧ findet Gott sozusagen ‚hinter sich‘ im Schöpferakt, nicht dagegen ‚vor sich‘ in einer von Gott geschenkten ewigen Teilnahme am göttlichen Leben selbst. Fratelli tutti, die Enzyklika von Papst Franziskus „über die Geschwisterlichkeit und die soziale Freundschaft“ (3. Oktober 2020), ist inspiriert von einem der einflussreichsten Heiligen und Mystiker der Kirche, Franz von Assisi (ca. 1182–1226), „der sich als Bruder der Sonne, des Meeres und des Windes verstand und noch viel tiefer eins mit denen“ wusste, „die wie er von menschlichem Fleisch waren“ (FT 2). Der Papst hat sich vom Großimam Ahmad al-Tayyeb anregen lassen, in einem gemeinsam verfassten Dokument über die Geschwisterlichkeit aller Menschen daran zu erinnern, dass Gott „alle Menschen mit gleichen Rechten, gleichen Pflichten und gleicher Würde geschaffen hat und […] sie dazu berufen hat, als Brüder und Schwestern miteinander zusammenzuleben“ (Abu Dhabi, „Dokument über die Geschwisterlichkeit aller Menschen für ein friedliches Zusammenleben in der Welt“ vom 4. Februar 2019). Kann al-Ḥallāǧ mit seiner Vision der Schöpfung und der Einheit des von Gott geschaffenen Menschengeschlechts als Pate dieses Dokuments gelten? Möge die nun in Deutsch zugängliche Studie eine vertiefte Auseinandersetzung mit al-Ḥallāǧ ermöglichen, um diese und zahlreiche weitere Fragen zu diskutieren, die sich beim Studium dieses originellen und bei allem spezifisch Muslimischen dennoch ins Universale brückenschlagenden Mystikers ergeben. Frankfurt, im Januar 2022
Christian W. Troll SJ
Vorwort ʿalā dīni ṣ-ṣalībi yaqūmu mautī In der Religion des Kreuzes werde ich sterben. (Diwān al-Ḥallāǧ) Der Name al-Ḥallāǧ bleibt zuinnerst verbunden mit dem großen Orientalisten, der ihn dem Westen bekannt gemacht hat, Louis Massignon [1883–1962]. Dieser Pionier der Islamkunde in Frankreich hat während seines gesamten Lebens dem muslimischen Märtyrer fundierte Forschungen gewidmet, deren Umfang immens ist; ein philosophisches und theologisches Nachdenken, dessen Tiefe seinesgleichen sucht; eine religiöse und menschliche Sympathie, die die nackten, trockenen Gegebenheiten der Geschichte beseelt und durchleuchtet. Man könnte den Entschluss, nur wenige Monate nach dem Hinscheiden des geschätzten Meisters ein Buch über al-Ḥallāǧ vorzulegen – noch dazu ohne die lang ersehnte Veröffentlichung der zweiten Edition der „Passion d’al-ῌallāj“ abzuwarten –, streng kritisieren. Allerdings lag es mir fern, eine neue Studie dieses wichtigen muslimischen Mystikers erstellen zu wollen. Ich trage nur eine Reflexion vor über alles, was Massignon uns in seinen Werken hinterlassen hat, den Versuch, eine äußerst reiche religiöse Erfahrung zu verstehen im Licht all dessen, was er, Massignon, mir mitgeteilt und im Islam zu entdecken geholfen hat, seit ich ihn vor 25 Jahren kennengelernt habe. Dieses Buch hat mir Gelegenheit geboten, mich ihm und seinem Denken anzunähern. Bin ich ihm treu geblieben? Eine schwierige Frage! Seine Persönlichkeit beseelte eine solche Kraft, dass nur er wusste und sagen konnte, was er zu sagen hatte. Nach ihm kann keiner hoffen, dies fortzusetzen. Ihn nachahmen zu wollen würde nur lächerliche Imitation produzieren. Wozu sollte ich mich also entscheiden? Manche haben gedacht, al-Ḥallāǧ sei eine Kreation Massignons. Sicher, unter den verschiedenartigen Gesichtern, die die muslimischen Autoren von diesem Mystiker zeichnen, galt es zu wählen. Durch eine minutiöse Kritik hat Louis Massignon einen Charakter und eine Persönlichkeit rekonstruiert und dabei die tendenziösen Urteile eliminiert, die in entstellender Weise versuchten, den Märtyrer zu verdammen oder ihn zu vereinnahmen. In dieser Sache hat mich die These der
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„Passion d’al-ῌallāj“ überzeugt: Al-Ḥallāǧ war ein sunnitischer Mystiker, und es gilt ihn sorgfältig zu unterscheiden von den zahlreichen esoterischen Gnostikern in gewissen Regionen und in gewissen Sekten des Islam. Der Mensch, dessen Suche nach dem Absoluten ich nachvollziehen wollte, ist in diesem Sinn der massignonsche al-Ḥallāǧ. Auf der anderen Seite glaubte ich, beim Schreiben dieses Buches der bleiben zu müssen, als den unser Meister mich gekannt hatte. Ich wende auf das Objekt meiner Studie die Form des Denkens an, die die meine ist, von der er mir eines Tages mit einem Lächeln sagte, sie sei griechisch geblieben. Das war aus seinem Mund kein Kompliment. Aber schließlich hat er nie versucht, mich darin zu einer Änderung zu bewegen; er hat mich so, wie ich bin, akzeptiert, trotz dieses ‚ärgerlichen‘ intellektuellen Erbes. Es scheint mir, dass die wesentliche Bedingung meiner Treue zu ihm darin bestand, es mir zu verbieten, eine Person zu spielen, in der er mich nicht wiedererkennen würde. Vieux-Marché, im Juli 1963
Roger Arnaldez
Das Leben von al-Ḥallāǧ Um das Jahr 244 H. (858) wurde in al-Baida, in der Region Fārs, Abū ʿAbdullāh al-Ḥusain ibn Manṣūr geboren, der unter dem Namen alḤallāǧ bekannt werden sollte, „der Baumwollkämmer“, ein Beiname, der im Sinn von „Baumwollkämmer der Gewissen“ interpretiert wurde, denn dem Vernehmen nach offenbarte er während seiner Predigten in der Region von Ahwāz seinen Zuhörern die Geheimnisse ihrer intimen Gedanken. Im Übrigen hat es noch andere, weniger wunderbare Erklärungen gegeben. Das ist nicht von Bedeutung. Halten wir einfach fest, dass er, wenigstens in den Anfängen seines Lebens als Sufi, das Baumwollkämmer-Handwerk ausüben konnte. Dies zeigt, dass die asketischen Übungen nicht unbedingt ein Sich-Zurückziehen aus der Welt bedeuteten. Im Alter von 16 Jahren wurde er Schüler des Sahl at-Tustarī [gest. 238/896] und stellte sich gewohnheitsgemäß in den Dienst seines Meisters. Er folgte ihm ins Exil nach Basra, als Sahl dafür verbannt wurde, dass er die Meinung vertrat, die Umkehr (tauba) sei gesetzlich vorgeschrieben. In der Tat bestand die Disziplin dieses Mystikers wesentlich darin, dass man in seinem Denken dauernd die Idee wachhält, von Gott angeschaut zu sein. Seine Lehre erinnerte ferner daran, dass man, um in der Gegenwart Gottes zu bleiben, sein Herz durch Akte der unablässig erneuerten Reue vor den schlechten Neigungen der Seele beschützen müsse. Andernfalls verliere man die Qualität eines wahren Gläubigen. Der Glaube ist die religiöse Haltung des Menschen im Angesicht des Schöpfers, und er macht aus dem Gläubigen einen Beweis (ḥuǧǧa) Gottes vor der Schöpfung. Er impliziert ein göttliches Geheimnis. Diese Lehre wird die Grundlage der persönlichen Meditation des al-Ḥallāǧ bilden. Dann, im Jahre 262/876, begibt sich al-Ḥallāǧ nach Bagdad zu einem anderen Sufi-Meister: ʿAmr al-Makkī [gest. 297/909]. Wie Sahl war auch al-Makkī Sunnit und folgte den Traditionen des Propheten (ḥadīṯ). Er war ein Rigorist, der jeglichen inneren Eindrücken misstraute, die ein Mensch in seiner mystischen Askese erfahren konnte. Diese Strenge sollte seinen Schüler al-Ḥallāǧ prägen, wenn dieser auch nicht seiner Schlussfolgerung folgte, die göttliche Gnade begrenze ihre Wirkungen dahingehend, dass sie das Herz zu einer exakten und skrupulösen Beobachtung der rituellen Vorschriften disponiert.
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In dieser Epoche heiratete al-Ḥallāǧ die Tochter eines anderen Mystikers. Danach verließ er al-Makkī, in Unzufriedenheit mit dieser Heirat, und schloss sich al-Ǧunaid an, der sein geistlicher Leiter wurde. Wir werden noch von der Lehre dieses großen Sufi-Meisters zu sprechen haben, der dachte, dass „der Heilige von diesem Leben an und der Auserwählte nach dem Tod von Gott zerstört werden“ (P., 37), in der Weise, dass dieser Gott allein bleibt, isoliert vom Zeitlichen, während die geschaffenen Wesen wieder zu dem werden, was sie waren, bevor sie existierten, nämlich reine Ideen. Al-Ḥallāǧ blieb 20 Jahre lang in dieser strengen Schule der Abtötung und des Entwerdens. Allerdings lernte er andere Lehrer kennen, vor allem an-Nūrī [gest. 295/907], Freund von al-Ǧunaid und wie er Schüler von al-Muḥāsibī [gest. 243/857], dessen Ideen über die Gottesliebe er zu einer Lehre der reinen Liebe fortentwickelte: Man muss Gott gehorchen, weil man ihn liebt, ohne eine Belohnung zu erwarten. Al-Ḥallāǧ, der „Gott vollkommen Liebende“, wird die religiöse Realität der Liebe vertiefen und dabei die Klippe des Quietismus meiden, der dem Menschen einen zu großen Anteil zugesteht und unmittelbar in die Mühle der Kritik der muslimischen Orthodoxie gerät, die lehrt, Gott bedürfe in keiner Weise der Liebe der Menschen. Er verlange von ihnen nichts anderes als ehrfürchtigen Gehorsam. Um 282/895 machte al-Ḥallāǧ die Pilgerfahrt nach Mekka; nach seiner Rückkehr zog er sich für ein Jahr in die Einsamkeit zurück. Dann brach er mit den Sufis, legte das weiße, wollene Gewand der Sufis ab und begann ein Leben der Verkündigung, zunächst in Ḫorāsān, Fārs und Ahwāz, dann, nach einer zweiten Wallfahrt nach Mekka, in Indien und Turkestan, ja bis zu den Grenzen Chinas. Die Verkündigungstätigkeit setzte al-Ḥallāǧ schweren Gefahren aus. Ein mystisches Denken, selbst wenn es, wie das seine, eine orthodoxe Intention hat, droht stets die institutionellen Strukturen einer Religion ins Wanken zu bringen. Aber die Situation im muslimischen Osten dieser Epoche war besonders bedrohlich. Seit dem Kalifat ʿAlīs hatte man erlebt, wie sich eine Oppositionspartei zunächst gegen die Umaiyaden, dann gegen die Abbasiden entwickelte. Diese Partei brachte diverse schiitische Gruppierungen hervor, in denen sich unter dem Deckmantel des Islam die religiösen Ideen des alten Persiens erhalten konnten, so sehr, dass die Schia zu einer permanenten Bedrohung für das Kalifat von Bagdad wurde. Jedes Mal, wenn man sich vom legalis-
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tischen Islam entfernte, konnte man der Sympathie für den schiitischen Islam bezichtigt werden. Aber noch bedrohlicher: In derselben Epoche predigten auch qarmātische Missionare überall im Land. Diese soziale und philosophisch-religiöse Bewegung, die die ganze nahöstliche Welt entflammte, vertrat eine Initiationslehre in sieben Graden und benützte einen esoterischen Symbolismus, mit dem man leicht eine hermetische Lehre wie die von al-Ḥallāǧ verwechseln konnte, umso mehr, als sich unser neuer Prediger in seinem Eifer mit äußerst suspekten Personen verband, die er für sein Apostolat zu gewinnen suchte. Man gab damals all denen, deren Denken oder deren Aktivitäten die etablierte Macht beunruhigten, den Namen zanādiqa (Plural von zindīq). Zahlreich waren die Unglücklichen, denen dieses Etikett die schrecklichsten Foltern brachte. Schließlich wurde al-Ḥallāǧ nach seiner Reise nach Indien, einem Land, das in der Vorstellung der Muslime das Vaterland der Magie und Hexerei war, verdächtigt, einer „satanischen Inspiration“ verfallen zu sein. Es bildeten sich schon zu seinen Lebzeiten Legenden. Selbst wenn ihr Ursprung nicht Böswilligkeit war, so trugen sie jedenfalls dazu bei, viele gegen ihn aufzubringen. Im Jahre 294/906 machte al-Ḥallāǧ eine dritte Wallfahrt nach Mekka, wo er zwei Jahre verbrachte. Diese Periode seines Lebens scheint entscheidend gewesen zu sein. Zurück in Bagdad, ändert er sein Leben, verzichtet auf weite Reisen und widmet sich einer intensiven Predigttätigkeit in der Hauptstadt des Kalifats, wo er sich den Schmähungen seiner Feinde ausgesetzt sieht. Er ist damals bekleidet mit der muraqqaʿa, einer Art Lumpenkleid, aus Flicken zusammengenäht und über die Schultern geworfen. Nach der muslimischen Tradition war dies die Bekleidung Jesu, während Muhammad die Mönchskutte aus weißer Wolle getragen hatte. Es bestand ein „Konflikt zwischen der muraqqaʿa und der Wolle“, schreibt Louis Massignon, „die weiße Kutte war das Zeichen der Sammlung aller strikten und disziplinierten Sunniten, während das aus bunten Flicken zusammengenähte Gewand das Zeichen aller umherwandernden Sufis sein wird, der undisziplinierten Bettelmönche, der Qalandar von Tausendundeiner Nacht“ (P., 51). Das Tragen dieser Kleidung nimmt somit eine tiefe Bedeutung an: Al-Ḥallāǧ hat die legale Praxis der strikten, von Muhammad eingeführten Gesetzesbeobachtung überschritten; er befindet sich über dem Niveau der Propheten; er hat Jesus als Führer, aber natürlich den Jesus des sunnitischen Islam.
Das Leben von al-Ḥallāǧ
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Al-Ḥallāǧ predigte dem Volk auf den Märkten und in den Moscheen. Aber er unterhielt auch Beziehungen mit bedeutenden Persönlichkeiten und hohen Funktionären. So machte er sich bei allen Parteien suspekt: Die reinen Sunniten, verführt von den Begriffen und dem Vokabular seines Sufismus, fürchteten in ihm einen möglichen schiitischen Agitator; aber einige ʿalīdische Gruppen, die versuchten, beim Kalifen Richtungen zu stärken, die ihren Ambitionen gewogen waren, wollten nicht, dass sich eine rein sunnitische Mystik wie die von al-Ḥallāǧ ausbreite. Im Jahre 297/909 veröffentlichte Ibn Dāwūd al-Iṣfahānī [gest. 297/909], der Sohn des Gründers der ẓāhirītischen Schule, die vorgab, man könne das ganze Gesetz aus der wörtlichen Interpretation der Texte ableiten, eine fatwā gegen al-Ḥallāǧ, der daraufhin unter polizeiliche Aufsicht gestellt wurde. Allerdings gelang es ihm im folgenden Jahr zu entkommen und sich in Sous bei Ahwāz zu verstecken. Im Jahre 301/913 wurde er erneut festgenommen. Nach einem ersten Prozess in Bagdad verbrachte er acht Jahre in den Gefängnissen der Hauptstadt. Dann fand ein zweiter Prozess statt, der sieben Monate lang dauerte und mit seiner Verurteilung zum Tode endete. Al-Ḥallāǧ war von seinen Freunden verleugnet worden, besonders vom Sufi aš-Šiblī [gest. 334/945]. Der Einzige, der ihm treu blieb, war sein enger Freund und der intimste Kenner seines Denkens, derjenige, der ihm durch seine mystische Lehre am nächsten gestanden hatte und mit dem er sich durch eine gemeinsame ekstatische Liebe zu Gott tief verbunden wusste: sein Kampfesgenosse Ibn ʿAṭāʾ [gest. 309/922]. Dann begann die Passion des al-Ḥallāǧ. Er wurde vor allem aus politischen Motiven hingerichtet. Aber seine Folterung und sein Tod haben eine religiöse Bedeutung, die ein Licht auf seine gesamte mystische Erfahrung wirft.
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fa ǧāʾat sakratu l-mauti bi-l-ḥaqqi ḏālika mā kunta minhu taḥīdu Dann wird der Todesrausch die Wahrheit bringen: „Das ist es, dem du zu entkommen suchtest!“ (Koran 50:19) Die Koranzitate in diesem Werk sind entnommen: Der Koran. Neue Übertragung von Hartmut Bobzin, München 2010.
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Die moralischen Kategorien und die Etikette der Tugend können nicht auf starke Persönlichkeiten angewandt werden, die sich selbst in Frage stellen, die sich nicht vom zufälligen Lauf der Ereignisse prägen lassen, sondern die von Anfang ihres Lebens an stark hingezogen zu sein scheinen zu einem Ende hin, das ganz ihres ist, das sie vorausahnen und nach und nach entdecken; zu einem Ende hin, auf das sich alles ausrichtet und das den Schlüssel bieten wird für das, was sie gewesen sind, für den Sinn ihres Schicksals. Solche Menschen können weder nach ihren Taten noch nach ihren Worten beurteilt werden: Diese sind nichts als Schein, der nichts von dem verrät, was sie sind; denn sie leben nur, um zu sein, nicht um zu erscheinen. Ihr Sein ist für sie ein Geheimnis, das sie nicht auszudrücken oder zu manifestieren versuchen, denn sie wissen, dass sich selbst oder anderen gegenüber sich auszudrücken oder zu manifestieren bedeuten würde, ein Bild von sich selbst zu schaffen, das einen verlogenen Kult hervorruft und das nur ins Verderben, zum Verlust des wahren Seins führen kann. Wenn man sich einer religiösen Seele wie der von al-Ḥallāǧ nähert, dann muss man sehr darauf achten, sie nicht nach den Taten ihres Lebens, nach den Worten ihrer Gebete oder nach den Mahnungen zu beurteilen, die ihre Freunde und ihre Jünger einander überliefert haben und die uns überliefert worden sind. Was könnte man aus ihnen erschließen? Dass al-Ḥallāǧ ein Schwärmer, ein Verrückter war, eine von Stolz und Selbstgefälligkeit geprägte Person, ein Scharlatan, der sich inszenierte, ein Gaukler, der sich für seine Tricks applaudieren ließ, ein Zauberkünstler? Ja, all das kann man sagen, wenn man zugibt, dass seine Taten und Gesten, Wort für Wort genommen, etwas von ihm wiedergeben. In Wirklichkeit rekonstruiert man so nur ein „Ich“, das bei anderen sicher das Ich wäre, mit dem sie sich identifizieren, das bei ihm jedoch nichts anderes war als ein künstliches Ich, das für ihn nicht existierte, an das er keine Gedanken und keine Sorge verschwendete. AlḤallāǧ gehörte nicht sich selbst, und folglich kann er sich uns nicht mitteilen. Auch der Gegensatz von innerem und äußerem Menschen ist hier nicht angebracht: Er täuscht uns, er ist der Ursprung aller irrtümlichen Einschätzungen, denen man verfallen kann. Das Sein von al-Ḥallāǧ bestand nicht in seinem persönlichen Drama, weder an sich noch für sich gesehen. Wie wir sehen werden, stand er diesseits jeglicher Innerlichkeit, die der Reflexion des Bewusstseins unzugänglich wäre, und jenseits jeglicher Projektion seiner selbst. Er kann unmöglich durch eine
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Rolle oder eine Haltung bestimmt werden. Al-Ḥallāǧ suchte sich nicht, indem er sich in sich zurückzog; noch weniger suchte er sich, indem er seine Personalität in der Welt entwarf. Er war wirklich Visionär, derjenige, dessen Blicke die gesamte äußere Welt durchdringen, ohne sich darin aufzuhalten, und die in diesem Jenseits ein geheimnisvolles Diesseits seiner inneren Welt zu erfassen scheinen. Was aber sah er? Das beschreiben zu wollen würde bedeuten, in die Kategorien des Denkens eine Erfahrung einzubringen, die ihnen entgeht. Versuchen wir dennoch diese Erfahrung anzudeuten und vermeiden wir es dabei, irgendeine Äußerung an einem rigiden Konzept festzumachen. Man kann sich darauf einlassen zu sagen, dass er seinen eigenen Tod sah, ja in einer Art inspirierter Wahrsagung selbst seinen Tod am Galgen, an dem er erhängt werden sollte. Es gibt Menschen, die niemals an ihren Tod denken, bis zu dem Tag, da sie realisieren, dass auch sie sterben müssen; der Tod ist in diesem Fall ein grauenhaftes Schreckgespenst, das die Lebenskräfte paralysiert und auflöst und dabei ein langes und schreckliches moralisches Leiden bereitet; andere dagegen erleiden ihr ganzes Leben als von der Idee oder eher der Furcht vor dem Tod Verfolgte; er präsentiert sich ihnen als ein Bruch, als ein Verlust all dessen, was sie lieben, als ein brutaler Stillstand, der dem Leben ein Ende setzt, indem er es auf ewig unvollendet sein lässt; wieder andere schließlich träumen ohne Erschrecken von einem Tod, der zu ihnen kommt, nachdem sie alles getan haben, was sie hier auf Erden zu tun hatten, nachdem sie alle ihre Aufgaben erfüllt haben, so dass sie diese Welt mit Genugtuung verlassen, so wie ein guter Schauspieler, nachdem er seine Rolle perfekt gespielt hat, die Bühne verlässt, begleitet vom Beifall und Bedauern der Zuschauer. Alle diese Haltungen sind bestimmt von Vorstellungen des Todes, von Bildern eines Menschen, der dem Leben ganz und gar fremd gegenübersteht, dessen Gesichtszüge man zu erkennen versucht, indem man äußere Elemente aus all dem sammelt, was man vom Tod anderer weiß. Für alle diese Menschen ist der Tod ein Eindringling: Er ist wie der Vorhang, der fällt, ob nun das Stück zu Ende ist oder nicht, ob die Symphonie gut aufgeführt wurde oder schlecht. Für al-Ḥallāǧ war der Tod wie der Schlussakkord, auf den hin alles konvergierte und der die Klangqualität und den Sinn des Lebens angibt. Man hat oft darüber diskutiert, ob das Leben eine Meditation des Lebens oder eine Meditation des Todes sein sollte. Es ist eine Frage der
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Philosophie, die Spinoza [1632–1677] gut gestellt hat. Aber eine solche Alternative existierte für al-Ḥallāǧ nicht, denn er trennte das Leben nicht vom Tod. Wir werden zurückzukommen haben auf die Qualität dieser zutiefst mystischen Erfahrung. Sie ist inspiriert durch die Meditation der zwei göttlichen Attribute: Gott ist zugleich der, der lebendig macht, und der, der tötet1; er ist es auch, der die Toten auferweckt 2. Schließlich ist er der Schöpfer des Todes und des Lebens.3 Somit, weil es sich um zwei geschaffene Wirklichkeiten handelt, deren Ursprung in zwei Attributen Gottes liegt, garantiert die göttliche Einheit, die der Mystiker meditiert, die wesentliche Einheit des Todes und des Lebens. „Tötet mich also, meine Gefährten, denn in meinem Mord ist mein Leben! Mein Tod ist in meinem Leben und mein Leben ist in meinem Tod. Ja, für mich ist die Auslöschung meines Wesens das nobelste der Geschenke, und in meinen Attributen weiterzuleben ist das übelste der Übel“ (D. Q, X). So zu bleiben, wie man ist, d. h. ein Leben zu leben, das sich nicht auf den Tod bezieht, bedeutet das nicht eigentlich, zu vegetieren und zu existieren wie ein Tier? Al-Ḥallāǧ intendierte nicht einfach, die Begriffe zu verkehren, zu sagen, dass das Leben in Wirklichkeit der Tod ist und dass der Tod das Leben ist. Er war weit entfernt von diesem Gemeinplatz der spiritualistischen Moral. Ebenso fern war ihm die Idee des „Stirb und werde“, dass man sterben müsse, um wirklich zu sein. Wenn der Tod als Beenden des Lebens einen Wert in sich hätte, warum ergäbe man sich ihm nicht sofort? Aber in Wirklichkeit ist der Tod die Krönung des Lebens, und jeder Sieg im wirklichen Leben ist ein Tod. Die Schwierigkeit besteht darin, dass man in solchen Kontexten natürlich denkt, dass das Wort „Tod“ in einem figurativen Sinn gebraucht
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Koran 2:258; 3:156; 7:157; 9:117; 10:56; 13:81; 15:23; 40:68; 44:8; 50:43; 57:2. In all diesen Versen sind die beiden Ideen des Lebendigmachens und des Tötens assoziiert. Es gibt äußerst viele Verse zu diesem Thema. Manchmal wird das Verb „wiederbeleben“ oder einfach „lebend machen“ in einem persönlichen Modus (Koran 2:73) verwendet, was den Akt Gottes angibt; andernorts hat man das Partizip oder Nomen des Agierenden (muḥyi al-mautā), das ein göttliches Attribut offenbart (Koran 30:50; 41:39). Koran 67:2; Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī [gest. 606/1209] berichtet, dass man über diese Erschaffung des Todes diskutiert hat. Einige sagten, der Tod sei die Negation der Attribute des Lebens (Wissen und Macht); andere, denen ar-Rāzī sich anschließt, dachten, der Tod sei ein existentielles Attribut (sifa wuǧūdiya), dem Leben entgegengesetzt, denn das Nichts könne nicht geschaffen werden.
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wird: Tod der Welt, Tod den Leidenschaften; und zweifellos findet sich diese Idee bei al-Ḥallāǧ wie bei allen Mystikern. Aber um der Ablehnung Ausdruck zu verleihen, die er der Welt entgegenbringt, verwendet er nicht das Bild des Todes: Das hieße, dieses Bild in einem zu negativen Sinn zu gebrauchen – auch wenn es sich nur darum handelt, eine Illusion zu negieren –, während für ihn der Tod etwas wesentlich Positives ist. Das weltliche Leben hat mich umschmeichelt, so als ob ich nicht wüsste, was es wert ist. Gott verbietet uns, was es an Verbotenem bietet, und ich, ja, ich habe mich ferngehalten selbst von dem, was es an Erlaubtem anbietet. Die Welt hat mir ihre rechte Hand gereicht, ich habe sie, so wie ihre Linke, abgelehnt. Es erschien mir, als sei sie in Not, und so habe ich ihr all ihr Gut überlassen. Hätte ich mich mit ihr verbinden und so in Furcht vor ihrer Verachtung leben sollen? (D. M, 45) Er sagte nicht, dass er der Welt abstirbt: Er begnügte sich damit, nicht von ihr zu leben. Ein andermal sagte er, dass das Leben ein Gefängnis sei, und er bat Gott, ihn daraus zu befreien. Es handelt sich bei dieser Bitte jedoch um das soziale Leben: „Ich gebe mein Herz zurück inmitten all dessen, was nicht du bist; ich sehe nichts als meine Entfremdung von all diesem und deine Familiarität mit mir. Ach, so bin ich hier im Gefängnis des Lebens, umgeben von allen Menschen; entreiße mich dem doch, auf dich hin, hinaus aus meinem Gefängnis“ (D. M, 30). Man kann also nicht sagen, dass der Tod diese Befreiung sei. Wenn al-Ḥallāǧ dem Leben in der Gesellschaft und der Anhänglichkeit an die Welt entfliehen wollte, weil er in ihr ein Risiko wahrnimmt, von Gott abgewendet zu werden, dann dachte er ganz und gar nicht, dass man diese Welt total negieren müsse; er macht sie eher transparent, indem er sie durchdringt mit der Gegenwart Gottes, dessen Kreatur er ist. Er unterscheidet sich darin von anderen Menschen, die der Welt ihren Stempel aufdrücken, der Welt, die sie besitzen wollen. Sie irren sich, auch hinsichtlich des religiösen Lebens, das sie führen, wenn sie meinen, dies müsse ganz auf Gott gerichtet sein. Folglich stehen die beiden Realitäten dunyā (die diesseitige Welt) und dīn (Religion) nicht im Gegensatz zueinander, sondern gehören zusammen; sie können beide entweder authentisch oder verlogen sein: „Ich habe den Menschen ihre diesseitige
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Welt und ihr religiöses Leben überlassen und mich allein um deine Liebe gekümmert, um dich, meine Religion und meine diesseitige Welt“ (D. M, 3). Der Tod darf also nicht verwechselt werden mit dem Absterben gegenüber der Welt. Er bedeutet auch nicht das Verschwinden des Geistes, der in der Ekstase versinkt. Al-Ḥallāǧ kannte dieses Verschwinden in Gott, aber um davon zu sprechen, benutzt er nicht das Wort „Tod“ (maut), sondern das spezielle Verb talifa (vernichtet werden, vergehen): „O du, an dem mein Geist hängt, während er sich in Ekstase verliert!“ (D. Q, I, Versikel 6). Auch besteht die Spiritualität von al-Ḥallāǧ nicht darin, dem Körper zu entfliehen. Im Gegenteil, der Körper spielt in ihr eine sehr wichtige Rolle; auch dieser muss von Gott durchdrungen werden: „Es bleibt mir nichts, weder im Herzen noch in den Eingeweiden, durch das ich ihn nicht wahrnehme und er mich nicht wahrnimmt“ (D. M, 60). „Du bist da zwischen den Wänden des Herzens […] und du erfüllst das Ich in meinen Eingeweiden so, wie die Geister Eingang finden in die Körper. Ach, nichts Unbewegliches bewegt sich, es sei denn, du bewegst es durch einen geheimen Elan“ (D. M, 61). „Mein Geist hält dich fest zwischen meiner Haut und meinen Knochen“ (D. M, 35). So ist der Tod, den al-Ḥallāǧ meditierte, eindeutig der Tod, der den Körper betrifft und der zum Grab führt. Es ist der Tod, den er auf eine so positive Weise sieht wie das Leben, denn er betrachtet ihn in Gott so, wie er das Leben, den Körper und die Welt in Gott anschaut. Der Tod geht mit dem Leben einher, so wie der Körper mit dem Geist, die Welt mit der Religion: „O du mein Glück in diesem Leben, o meine Ruhe in meinem Grab“ (D. Q, IX). In der Schöpfung gibt es keine Gegensätze, keine Widersprüche; denn Gott ist der alles Umfassende und der Einzige. An unüberwindbare Gegensätze zu glauben bedeutet, den Glauben an die göttliche Einheit aufzugeben und die Existenz eines Bereiches anzuerkennen, wo die Dualität herrscht und wo Gott nicht eindringt. Die Wallfahrt nach Mekka ist ein Symbol der Vereinigung der Menschheit in Gott, gewissermaßen ein Vorwort zum großen Tag der Versammlung während der Auferstehung der Toten. Wenn aber das Symbol eine Realität geworden ist, dann macht es keinen Sinn mehr, die Reise nach Mekka zu unternehmen, ja, diese Praxis wird dann sogar gefährlich, denn sie führt vor die Einigung zurück, als man noch glaubte, man müsse sich physisch deplatzieren, um sich zu vereinigen; als der Körper durch seinen natürlichen Gegentypus noch „auf Distanz“ war, wie ein
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Seiendes gegenüber dem anderen in der Dualität. „Fest in seinem Körper, leuchtend in seinem Grund, ewig in seinem Geist, begabt mit Urteil und Wissen, kehrt der Mensch durch den Geist zurück zu denen, die in sich den Geist haben, während die Masse in der Erde bleibt – Moder“ (D. M, 53). Es wird nicht vom Leib (ǧism) gesagt, dass er vermodert, sondern von seiner Masse (haikal), seinen Gliedern, von allem, was ihn in Gegensatz bringt zu anderen Körpern, von allem, was ihn lokalisiert. Aber es gibt eine Wahrheit des Leibes, wo Gott handelt und wohnt. Wenn man ihn gefunden hat, dann braucht man nicht mehr nach Mekka zu pilgern oder das rituelle Pilgerkleid (iḥrām) anzulegen, welches für den Körper ein Symbol seines reinen Wesens ist. Man vollzieht dann, in seinem eigenen verklärten Leib, alle Riten der ḥaǧǧ. Es gibt für die Menschen eine Wallfahrt (ḥaǧǧ). Ich für meine Person habe eine Wallfahrt, die in mir wohnt. Sie bringen Lämmer als Opfer dar; ich für meine Person opfere meinen Atem und mein Blut. Es gibt gewisse Personen, die in Prozession um das Heiligtum kreisen, aber nicht durch die Bewegung ihrer Glieder; sie kreisen in Prozession um Gott (den, der ihrem Körper innewohnt), und Gott dispensiert sie davon, in den heiligen Bereich (ḥaram) einzutreten. (D. M, 51) Hierin sah Louis Massignon eine geistliche Wallfahrt.4 Das ist genau richtig, unter der Bedingung, dass man nicht vergisst, dass für al-Ḥallāǧ der Geist nicht im Gegensatz zum Leib steht, und dass man aus der geistlichen Wallfahrt nicht eine Wallfahrt im Geist macht. „Bei Gott, der Atem des Geistes mit dem Gedanken, der mir kommt, bläst sich ein in meine Haut, Atem von dem Atem, den Isrāf īl (der Engel der Auferstehung) seiner Trompete einblasen wird.“5 Es ist unbestreitbar, dass es sich hier um eine Anspielung auf die Verklärung des Leibes durch den Geist handelt, vergleichbar mit der Auferstehung. Die geistliche Wallfahrt ist also sicher die, die sich wirklich im von Gott belebten Leib vollzieht, und nicht nur eine Wallfahrt der Intention und dem Geiste 4 5
Er übersetzte: „Ich für meine Person unternehme eine Wallfahrt (geistlich) hin zu meinem geliebten Gastgeber“ (D., 86). Zur Frage des Motivs der Stellvertretung der ḥaǧǧ vgl. Lexique, 62, 3; 203; 205; P., 276. D. M, 21. Massignon hat zwei recht verschiedene Übersetzungen dieses Textes geliefert (vgl. D., 57 und P., 124).
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nach. Sie setzt einen Zustand als realisiert voraus, der der Erfahrung eines solchen Leibes durch den Mystiker entspricht. An anderer Stelle schreibt Massignon: Ibn ʿAṭāʾ (der Verteidiger von al-Ḥallāǧ) erklärte: Im Bait al-Ḥaram (dem heiligen Bereich von Mekka) gibt es den maqām (die Stufe) des Abraham; aber im menschlichen Herzen, da befinden sich die Spuren von Gott selbst; wenn das Haus Pfeiler hat, so hat sie das Herz auch; die des Bait al-Ḥaram sind aus gewöhnlichem Stein, während die des Herzens aus kostbarem Stein sind, bestehend aus Klarheiten der Weisheit. Das bedeutet, dass das innere Aufopfern des Herzens über das Opferfest gestellt wird. (P., 277) Zweifellos wird hier das Herz im figurativen Sinn verstanden. Aber es gilt, wie sehr oft bei muslimischen Denkern: Wie sublim die Funktionen des Herzens auch sein mögen – das Herz ist bei al-Ḥallāǧ zuerst „ein Stück Fleisch“ (muḍġa) mit seinen Falten und Hüllen. Und Massignon selbst notiert in Bezug auf die mystische Union bei al-Ḥallāǧ, dass „die mystische Union des Herzens, weit davon entfernt, ein Verschwinden des Herzens darzustellen, das von Bāyazīd Bisṭāmī ohne Erfolg erbeten wurde, nach al-Ḥallāǧ seine heiligende Auferstehung ist“ (P., 486). Es war übrigens normal, dass der Glaube an die Auferstehung den muslimischen Mystiker dahingehend bewegte, eine Spiritualität der Desinkarnation zu verneinen. Man darf also die geistlichen Opfer nicht so verstehen, dass der Leib daran nicht teilnähme. Ganz im Gegenteil: Die Worte „Ich opfere meinen Atem und mein Blut“ müssen in ihrem eigentlichen, wörtlichen Sinn verstanden werden. Das Leben ist also, wie der Tod, eine Darbringung und ein Opfer. Der Tod ist nichts anderes als das letzte Opfer vor der Auferstehung. Und was ist ein Opfer anderes als die vollkommene Anerkennung eines Geschenks? Nichts wäre gottloser, als im Opfer eine Zurückweisung dieses Geschenks zu sehen. Der Mensch kann die Gaben Gottes auf zwei Arten zurückweisen: indem er sie zerstört oder sie gänzlich vernachlässigt oder indem er sie sich aneignet und aus ihnen Güter macht, die ihm rechtlich zustehen. Der Asket, der versucht, sich vom Leben loszulösen, der seinen Leib durch eine Disziplin bändigt, die ihn erschöpft, der versucht, das Leiden durch Übung zu besiegen und mit seiner moralischen Kraft zu beherrschen, so dass der Tod nichts mehr für ihn ist, weil er
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praktisch in sich schon vernichtet hat, was in ihm sterben soll, dieser Asket weist die göttlichen Gaben des Lebens und des Todes zurück. Im Gegensatz dazu erfreut sich der Weltmensch seines Lebens so, als wäre es unverbrüchlich verbunden mit seiner Person; er bemüht sich, alles, was von außen den Verlauf stören könnte, zurückzudrängen, und er ist davon überzeugt, dass er selbst zusammen mit seinem Leben verschwinden wird, dass sein Tod nichts bedeutet, weil sein Leben ja er selbst ist. Auch dieser Mensch weist das doppelte Geschenk Gottes zurück. Eine Gabe zu empfangen heißt, sie als solche zu empfangen, sich ihrer so zu bedienen, dass man ohne Unterlass den Gedanken an denjenigen im Geist gegenwärtig hat, der sie geschenkt hat. Der Respekt, die Verehrung, die Liebe, die man dem Geber entgegenbringt, misst sich an dem Gebrauch, den man von dem macht, was er geschenkt hat. Je verehrungswürdiger und heiliger der Geber ist, desto geheiligter ist die Gabe: Wenn man sie erhält, hält man sie nicht fest, man gibt sie nicht profanen Manipulationen preis, man behandelt sie wie ein überantwortetes Gut, dessen man sich nicht gegen den Willen des Gebers bedient. So gesehen bedeutet ein Geschenk zu empfangen – im starken Sinn des Wortes – nicht, es zu nehmen und dann fortzugehen und sich frei seinen Beschäftigungen hinzugeben, dankbar oder nicht. Nein, das Geschenk ist ein Band, das eine geistliche Gemeinschaft in Weisen des Austauschs verwirklicht, die von einer unendlichen Feinheit sind. So soll der Mensch sein Leben und seinen Tod als Geschenke Gottes empfangen, die seine Vereinigung mit Gott sicherstellen. Das wahre Opfer ist der richtige und heilige Gebrauch dessen, was derjenige schenkt, der leben und sterben lässt. Um fähig zu sein, den Tod so anzunehmen, wie man ihn annehmen soll, gilt es das Leben so zu akzeptieren, wie es akzeptiert sein soll. „Du wohnst in meinem Herzen, wo, von dir kommend, Geheimnisse leben. Willkommen bist du in dieser Bleibe. Und noch willkommener bist du für den, der dir nahekommt. Denn innen ist kein anderes Geheimnis als du, den ich kenne. […] Ich hier, meinen Tod annehmend, wenn dies dein Gefallen findet; o du, der du mich tötest, was du wählst, das wähle auch ich“ (D. M, 23). Dieses Einwilligen (riḍā) in den Tod ist nicht eine passive Resignation. Wenn al-Ḥallāǧ im Geheimnis seines Lebens die Gegenwart Gottes erkennt, dann akzeptiert er den Tod wie ein höchstes Zeugnis dieser Gegenwart; das wahre Leben lässt den Tod verstehen, ihn verlangen und im Gegenzug seine ganze Bedeutung gewinnen.
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Hatte al-Ḥallāǧ eine Vorahnung oder eine prophetische Vision seiner Hinrichtung? Muss man wörtlich verstehen, was seine Schüler berichtet haben, und alle die Texte, die uns überliefert worden sind, als authentisch betrachten? Ohne Zweifel gibt es hier eine unerlässliche kritische Arbeit zu leisten. Massignon hat sich ihr gewidmet; aber wir geben so wie er zu, dass der Geist der ḥallāǧischen Mystik nicht aus der rein historischen und wissenschaftlichen Untersuchung seiner Texte erhoben werden kann. Al-Ḥallāǧ ist im Islam auf verschiedene Weise verstanden worden: Einige haben ihn von Ideen und Lehren her verstanden, deren Ursprung leicht nachzuweisen ist; dies sind Zeugen, die es abzulehnen gilt. Andere scheinen von seiner Originalität des Denkens und Lebens berührt worden zu sein; sie haben dies in Erzählungen oder Traditionen ausgedrückt, die ein objektiver Historiker durchaus in Zweifel ziehen kann, denen aber dennoch ein großer Wert für das Erkennen der Bedeutung der Originalität seines Denkens und Lebens zukommt. Wir zögern nicht zu glauben, dass al-Ḥallāǧ den Tod wesentlich als einen gewaltsamen Tod gesehen hat, wobei die Gewalt für ihn den positiven Charakter des Todes unterstreicht. Trägt ein spektakulärer Tod – und wir dürfen hier diesem Begriff keinerlei pejorativen Sinn zuschreiben – nicht das Zeugnis seiner Wirklichkeit in sich? Nun hat aber al-Ḥallāǧ den Menschen eine Lehre bis hin zu seinem Tod vermitteln wollen, der dramatisch und exemplarisch sein sollte. Das Leiden und der schändliche Tod eines Gerechten gelten immer als Skandal. Man stellt sich vor, dass es da eine verborgene Verfehlung gab, und es gab in der Tat Muslime, die diese Vermutung im Falle von al-Ḥallāǧ hatten. Einer seiner Freunde berichtete: Ich lief hinter al-Ḥusain ibn Manṣūr (al-Ḥallāǧ) in den Gässchen von al-Baida, als der Schatten einer Silhouette von einer Terrasse auf ihn herabfiel; al-Ḥallāǧ erhob sein Haupt und richtete seinen Blick auf eine schöne Frau. Da drehte er sich zu mir um und sagte zu mir: „Du wirst sehen, der Schaden, den mein Blick verursacht hat, wird auf mich zurückfallen, auch wenn du lange darauf warten solltest.“ – Und an dem Tag, als er am Galgen aufgehängt wurde, war ich in der Menge und weinte. Er aber warf oben vom Schafott aus seinen Blick auf mich und sagte zu mir: „Mūsā, derjenige, der sein Haupt zu dem, was du gesehen hast, aufrichtete und der sich
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erhob zu dem hin, was ihm verboten war, muss jetzt über die Menge erhoben werden, so“; und er zeigte mir den Galgen. (P., 15) Diese Anekdote reduziert die Bedeutung des Leidens erheblich. Die Idee einer solchen göttlichen Bestrafung, so als ob Gott den Schuldigen in extremis wieder einfange, ist wenig ḥallāǧisch. Louis Massignon weist auf eine parallele Erzählung im Werk des Mystikers ʿAmr alMakkī hin, die einen Verdacht auf das Zeugnis des Freundes wirft. Wenn man allerdings die falsche Idee, die diese Erzählung suggeriert, beiseitelässt – denn inwiefern sollte ein Blick, der unter diesen Umständen geworfen wurde, einen Schaden verursachen? Und wem gegenüber? Der Frau? Das ist ganz unwahrscheinlich. Sollte es aber so sein, welche Angeberei sich selbst gegenüber würde das dann bedeuten? Hatte er nicht seit langem bereut? –, so stellen sich die authentischen Elemente der Erzählung des Freundes, von diesem falsch interpretiert, als symbolisch heraus und erklären sich durch den folgenden Text des Diwan: „Wie leer ist doch die Erde von dir, dass sie sich aufrichten, um dich zu suchen in den Himmeln? Du siehst die, die nach dir ausschauen, aber in ihrer Blindheit erkennen sie dich nicht“ (D. M, 1). Auf der Erde selbst, in den Seienden der Schöpfung, muss man die Gegenwart Gottes sehen, der seine Macht aufscheinen lässt. Aber man sieht die Schatten, man erhebt die Augen, um das Original zu erkennen, und man erfasst nichts. So tat es al-Ḥallāǧ wie die Mehrheit der Menschen. Das war ein Irrtum. Allerdings hatte er die Wahrheit sehr schnell begriffen, und da er ein aus dieser Erde geschaffenes Wesen war, hatte er danach verlangt, das Einwohnen Gottes zu manifestieren, indem er sich am Galgen aufopferte, ausgesetzt den Blicken, die die Menschen auf den Himmel richteten. So zeigt die Anekdote, korrekt gelesen, auf das Ziel, auf das al-Ḥallāǧ sehr früh seine Anstrengungen ausgerichtet hatte. In diesen Schatten selbst, auf der Erde, soll Gott erscheinen. „Als ich trinken wollte, um meinen Durst zu löschen, da warst du es, dessen Schatten ich im Becher sah“ (D. M, 31). Al-Ḥallāǧ bezieht hier Position hinsichtlich eines theologischen und philosophischen Problems: Implizit kritisiert er ein Denken platonischen Typs, das aus der Höhle herauskommen möchte. Aber was findet es? Ist Gott nicht in seiner Transzendenz unzugänglich für den menschlichen Intellekt? Vergeblich ist der Versuch, der ihn mittels des Intellekts von allem, was seiner unwürdig ist, entkleiden will. Ein solcher ist Gott ohne Zweifel
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nicht: „Nichts gleicht ihm.“ Aber der negative Weg auf der Ebene der Spekulation ermöglicht nicht, etwas zu erfassen. Für die Mystiker kann man zu Gott in seiner heiligen Reinheit nur gelangen durch die Zustimmung seiner Kreaturen gegenüber der Zustimmung, die Gott seiner Schöpfung gegeben hat. Die Zustimmung ist das freie Feld, das dem Willen Gottes überlassen ist. Sie ist das Zeugnis der Allmacht seines souveränen und einmaligen Willens. Der Koran präsentiert die Existenz jedes geschaffenen Wesens, selbst des leblos-materiellen Wesens, als gebunden an seine Zustimmung zum Dekret des Schöpfers: „Darauf erhob er sich zum Himmel, der noch Rauch war, und sprach zu ihm und zu der Erde: Kommt beide her, ob aus freien Stücken oder unter Zwang! Sie sprachen: Wir kommen aus freien Stücken!“ (Koran 41:11). Nichtsdestoweniger ist der Mensch unter allen Geschöpfen das Wesen, das am fähigsten ist, zuzustimmen und zu bezeugen, d. h. den Willen Gottes aufscheinen zu lassen. Folglich ist die Vereinigung des Menschen mit Gott durch die Zustimmung der anerkannte Beweis für die Einzigkeit und für die Transzendenz Gottes. Wenn die (freie) Annahme der Schöpfung des Lebens Zeugnis für Gott ablegt, welch ein Zeuge wird dann derjenige sein, der die Schöpfung seines eigenen Todes akzeptiert.6 Ein noch expliziterer Versuch, die Hinrichtung von al-Ḥallāǧ zu rechtfertigen, wurde von seinem Schüler Ibn Fātik gemacht. Er sah den Herrn im Traum und fragte ihn: „Herr, was hat al-Ḥusain ibn Manṣūr getan?“ Gott antwortete ihm: „Ich habe ihm die Realität geoffenbart, er aber hat die Menschen für seinen persönlichen Nutzen gerufen, und ich habe ihn der Strafe unterzogen, die du gesehen hast“ (P., 10). Man sieht, bis zu welchem Unverständnis das Verlangen führen kann, diesen Tod, der das essentielle Geheimnis des Lebens von al-Ḥallāǧ ausmacht, mit plausiblen Gründen zu erklären. Aber man stößt auch hier auf einen Irrtum, der, wie im vorhergehenden Bericht, ganz nahe an der Grenze zur Wahrheit liegt. Ja, al-Ḥallāǧ hat die Menschen zu Gott gerufen. Für seinen persönlichen Nutzen? Was macht das für einen Sinn? Es gibt nur eine sinnvolle Antwort, die befriedigen kann: Durch seine totale Zustimmung bestand sein persönlicher Nutzen in Gott selbst. Und das ist genau richtig. Warum dann aber die Bestrafung am Galgen? Ibn Fātik sieht nicht, was für al-Ḥallāǧ eine evidente Wahrheit war: dass die Wor-
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Erinnern wir uns daran, dass dem Koran zufolge Gott den Tod geschaffen hat.
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te der Lehren und Ermahnungen unfähig sind, wirklich zu Gott zu rufen, dass es einer anderen Art von Zeugnis bedurfte. „Du bist der eloquente Ausdruck dessen, was die Manifestation Gottes klar bezeugt“ (D. M, 63). Da al-Ḥallāǧ ganz und gar von Gott durchdrungen war, war er davon überzeugt, dass man Gott den Menschen beweisen müsse. Ich habe meine Menschheit (nāsūt) eingeführt in deine Gegenwart vor den Menschen, und wenn du nicht meine Göttlichkeit (lāhūt) gewesen wärest, wäre ich aus der intimen Wahrheit (ṣidq) herausgefallen. Die Sprache des Wissens dient dazu, zu sprechen und anzuordnen; die Sprache des verborgenen Geheimnisses ist eloquenter als das gesprochene Wort. (D. M, 42) Aufgehängt am Galgen, wo sich im Opfer die bezeugende Vereinigung mit Gott erfüllt, erlangt al-Ḥallāǧ also die Vollkommenheit der Eloquenz, die Menschen von einer Wahrheit überzeugen soll, die kein Ausdruck in Worten oder im Denken vermitteln kann. Der sehr karge Bericht, den sein Sohn von al-Ḥallāǧs letzten Augenblicken gegeben hat, ist in seiner Einfachheit äußerst aufschlussreich. Dieser Text flößt Vertrauen ein, denn der Autor versucht weder zu interpretieren noch zu rechtfertigen. Erkennt er nicht in aller Aufrichtigkeit an, dass sein Vater sich an die öffentliche Verkündigung einer Lehre machte, die er selbst nur zur Hälfte kennt? Hier die wesentlichen Passagen: Und die einen sagten: „Er ist ein Zauberer.“ Andere: „Er ist verrückt.“ Andere wiederum: „Er wirkt Wunder; er ist erschöpft, wenn er betet.“ Kurz, man diskutierte über ihn, bis der Sultan ihn festnehmen und ins Gefängnis werfen ließ […] Und als die Nacht kam, an deren Ende er früh beim Morgengrauen aus dem Kerker gezogen werden sollte, stand er auf, vollzog das rituelle Gebet mit zwei Prostrationen. Dann, als er sein Gebet beendet hatte, rief er ohne Unterlass: „Täuschung, Täuschung!“ – bis der größte Teil der Nacht vergangen war. Dann, nachdem er lange geschwiegen hatte, rief er aus: „Wahrheit, Wahrheit!“ – Er stand wieder auf, legte den Kopfschleier an und kleidete sich in seinen Mantel, breitete seine Hände aus, sein Antlitz in die Richtung der Kaaba gewandt, dann, in Ekstase geratend, unterhielt er sich mit Gott […]: „Wie kann es sein,
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I. Der Todesrausch da du es doch warst, der meinen Anfang gewollt hat, der mein Wesen genommen hat, um dir als Symbol (unter den Menschen) zu dienen? […] Wie kann es sein, dass ich jetzt dem Tod preisgegeben hingehe, hingerichtet, am Galgen aufgehängt, verbrannt und meine Asche den Winden ausgeliefert? Ah! Die kleinste Partikel der Asche, Korn der Aloe (so für dich verbrannt), verheißt dem Körper meiner Transformationen eine sicherere Wirklichkeit als die der größten Gebirge.“ […] Als der Morgen gekommen war, ließ man ihn aus dem Gefängnis führen, und ich sah ihn, wie er in seinen Ketten tanzte und rezitierte: „Derjenige, der mich einlädt und der nicht mit irgendeiner Art von Ungerechtigkeit in Verbindung gebracht werden kann, hat mir ein Getränk ausgeschenkt gleich dem, das er getrunken hat, so wie es der Gastgeber tut für den, den er empfängt. Dann, als der Kelch herumgereicht wurde, ließ er die Matte der Hinrichtung und das Schwert herbeibringen. So geht es dem, der den Wein trinkt, im Zeichen des Drachens, mitten im Sommer.“7 Man führte ihn auf den Platz, und man hackte seine Hände und Füße ab, nachdem man ihm 500 Schläge mit der Geißel verpasst hatte. Dann wurde er gekreuzigt, und ich hörte ihn am Galgen sich in Ekstase mit Gott unterhalten […] Nach dem Beginn des Abends (als die Stunde des Gebets kam) gab man seitens des Kalifen die Erlaubnis, ihn (vom Galgen) abzunehmen. Aber man sagte: „Es ist zu spät, lassen wir das bis morgen.“ Als der Morgen gekommen war, nahm man ihn vom Galgen herunter, und man führte ihn nach vorne, um ihn zu enthaupten. Und ich hörte ihn schreien und sehr laut rufen: „Das, was der Ekstatiker will, ist der Einzige, allein mit ihm selbst.“ – Dann rezitierte er diesen Vers: „Diejenigen, die nicht an sie (die letzte Stunde) glauben, wünschen sie (zum Spott) rasch herbei; und die an sie glauben, die fürchten sie, denn sie wissen, dass sie die Wahrheit (al-ḥaqq) ist.“8 Das war sein letzter Ausspruch. Sein Nacken wurde durchschnitten, dann wurde sein Körper in eine Matte gewickelt, über die man Petroleum goss, und verbrannt. Dann
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Massignon hat von diesem Vers in P., 8 und D., 73, 4 zwei geringfügig verschiedene Übersetzungen geboten. Wir legen hier eine strikt wörtliche Übersetzung vor. Der letzte Vers spielt auf das ekstatische Frohlocken an. Koran 42:18. Wir übersetzen gemäß den Vorschlägen des tafsīr al-ǧalālain.
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trug man seine Asche oben auf den Leuchtturm, damit der Wind sie zerstreue. (P., 5 ff.) Dies ist der Bericht über den Tod von al-Ḥallāǧ. Zweifellos erschütternd und wunderbar, berührt er nichtsdestoweniger durch seinen schlichten Ernst, ohne alles Bemühen um Effekt. Er lässt in mancher Hinsicht unmittelbar an die Berichte der Evangelien über den Tod Jesu am Kreuz denken. Wir werden darauf zurückkommen. Freilich erfordert der Bericht einige Bemerkungen. Al-Ḥallāǧ, der die Menschen zu Gott führen wollte, wurde nicht verstanden. Man „disputierte über seinen Fall“: Man wollte seine Handlungen und seine Worte einem etablierten dogmatischen Kanon gemäß beurteilen. Wenn auch seine Lehre eine gewisse spekulative Theologie impliziert, kann sie nicht darauf reduziert und nicht zum Objekt einer rein intellektuellen Untersuchung der Formulierungen gemacht werden. Er wird verurteilt, aber die Verurteilung führt in die Irre. Man glaubt ihn für seine Heterodoxie zu bestrafen, die man ihm zuschreibt, man möchte in seiner Person den zindīq9 töten, in der Realität aber lassen seine Hinrichtung und sein Tod die Wahrheit seiner Orthodoxie aufscheinen, denn die von ihm angenommene Opferung bezeugt authentischer als irgendein Akt des Glaubens (credo, ʿaqīda) die absolute Transzendenz Gottes. Und das weiß er. Das ist der Sinn der Worte „Täuschung! Täuschung!“. In Analogie mit dem, was der Koran über den Tod Jesu sagt, haben einige Sufis gedacht, der wahre al-Ḥallāǧ, ein heiliger Mann, sei nicht tatsächlich gekreuzigt worden, sondern im letzten Moment – gemäß der Lehre des Doketismus – gab es eine Substitution. Ibn al-ʿArabī berichtet von einer Vision, im Laufe derer al-Ḥallāǧ ihm gesagt habe: Die Hände der Kreaturen hatten mein Haus erreicht, als ich es verlassen hatte für die doppelte Vernichtung in Gott, zurücklassend Aaron als Führer meines Volkes (vgl. Koran 7:142). Da sie aber wussten, dass er schwach war, weil ich nicht da war, haben sie sich
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Man nennt zindīq eine Person, meist einen nichtarabischen Konvertiten, der unter dem Mantel des Islam Lehren bekennt, die von Arten der Gnosis inspiriert sind, und der nicht an die vollkommene, transzendente Einzigkeit Gottes glaubt.
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I. Der Todesrausch versammelt, um mein Haus zu zerstören. Sie hatten es schon zerstört, als ich nach meiner ekstatischen Vernichtung zu ihm zurückkam; ich näherte mich ihm und sah, dass es schon der Hinrichtung preisgegeben war; ich schämte mich, ein Haus zu bewohnen, an das sich die Hände der Kreaturen gemacht hatten, und ich habe von ihm die göttliche Emanation, in der ich gewohnt hatte, zurückgezogen. Man sagte dann: Al-Ḥallāǧ ist tot! – Nein, ganz und gar nicht! Er ist nicht tot, das Haus ist eingestürzt, aber der Bewohner hatte sich schon davongemacht. (P., 382)
Diese Interpretation ist im Wesentlichen ein Produkt der gnostischen Thesen der esoterischen Mystik. Sie kann sich zweifellos auf den Koran berufen, denn das Wort „Täuschung“ (makr) ruft die Verse ins Gedächtnis, in denen Gott sagt: „[Die Juden] schmiedeten Ränke, und auch Gott schmiedete Ränke. Gott ist der beste Ränkeschmied. Damals, als Gott sprach: ,Jesus, siehe, ich will dich zu mir nehmen und dich zu mir erhöhen und dich von denen, die ungläubig sind, reinigen‘“ (Koran 3:54 f.; vgl. P., 296, Anm. 3). Er täuscht so die Juden, die nichts als ein Scheinbild kreuzigten. Während Louis Massignon die Hirngespinste des Ibn al-ʿArabī ablehnt, scheint er zuzugeben, dass al-Ḥallāǧ an diese Texte gedacht hat und vielleicht einen Augenblick lang gehofft hat, vor der Hinrichtung bewahrt zu werden. Das geht aus der Erklärung für den Ausruf „Wahrheit! Wahrheit!“ hervor. „Das heißt: Es ist also wahr … ich werde wirklich hingerichtet werden!“ (P., 296, Anm. 4). Es ist in der Tat möglich, dass al-Ḥallāǧ wie Jesus am Ölberg einen Augenblick menschlicher Schwäche hatte und sich wünschte, dass der Kelch an ihm vorübergehe. Hierauf werden wir im Zusammenhang der Frage, die er ein wenig später stellt („Wie geschieht das?“), zurückkommen. Nichtsdestoweniger scheint es, dass man die beiden Ausrufe „Täuschung!“ und „Wahrheit!“ in einem Sinn verstehen kann, der sie nicht als gegensätzliche Begriffe, sondern komplementär zueinander sieht, wobei man die Anspielung auf den koranischen Text über Jesus beibehält. Die Gegenüberstellung der zwei Verben „makarū wa-makara llāhu“ (sie schmiedeten Ränke, und auch Gott schmiedete Ränke) in dem Vers hat für einen Mystiker normalerweise eine spezielle Bedeutung: Der Mensch glaubt zu handeln, in Wirklichkeit aber ist es Gott, der handelt. Die Juden sind, indem sie Jesus täuschen, in Wirklichkeit selbst von Gott getäuscht. Ebenso werden die
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Muslime, die einen verräterischen Vorwand vorbringen, um al-Ḥallāǧ als zindīq zu töten, getäuscht, denn der Häretiker, den sie zu töten glauben, ist nicht der Mensch, der genau durch seinen Tod sein Zeugnis für den einzigen Gott erstrahlen lässt. Ja, noch mehr muss gesagt werden: Sie verurteilen ihn im Namen des Dogmas ihrer Religion. Aber dieses Dogma, die festgelegte Formel des credo, stellt, als ihnen äußerlich bleibend, selbst eine Täuschung dar. Wie wir gesehen haben, ist es also „ihre Religion“, die ihnen al-Ḥallāǧ überlässt, denn für ihn ist Gott selbst seine Religion. „Vor allem verlange vom Menschen nicht eine Religion (dīn), denn dies lenkt ihn ab vom sicheren Prinzip. Nur ein solches Prinzip kann von ihm Rechenschaft verlangen, in dem sich die Gesamtheit der Werte und Bedeutungen ausdrückt, so sehr, dass in Ihm allein der Mensch verstehen kann“ (D. M, 50). Die Idee, dass das Gesetz in seiner fest vorgegebenen Formulierung eine göttliche Täuschung ist, ein ambivalentes Heilsmittel, das zum sicheren Verderben dessen führt, der es sich als ein Erfolgsrezept anzueignen sucht – diese Täuschung findet sich nicht selten bei den muslimischen Mystikern. Man findet es klar entwickelt durch al-Bisṭāmī10, bis hin zu seinen extremen Konsequenzen. Bei al-Ḥallāǧ erinnert es eher an Paulus: „Wenn du dich aber Jude nennst, dich auf das Gesetz verlässt … und, belehrt aus dem Gesetz, zu beurteilen weißt, worauf es ankommt […] Du belehrst also andere Menschen, aber dich selbst belehrst du nicht? […] Denn Jude ist nicht, wer es nach außen hin ist …“ (Röm 2,17 f.21.28). „Was sollen wir nun sagen? Ist das Gesetz Sünde? Keineswegs! Jedoch habe ich die Sünde nur durch das Gesetz erkannt. Die Sünde aber ergriff die Gelegenheit, die ihr durch das Gebot gegeben war, und bewirkte in mir alle Begierde […] ich musste erfahren, dass dieses Gebot, das zum Leben führen sollte, mir den Tod brachte“ (Röm 7,7 f.10). Trotz der Tatsache, dass Paulus sich in einem anderen geistlichen Umfeld bewegte, zeigte auch er klar die unheimliche Ambiguität des Gesetzes, und dieselbe beängstigende Frage stellt sich den Mystikern des Islam. Al-Ḥallāǧ denkt, wiederum wie Paulus: „Setzen wir also durch den Glauben das Gesetz außer Kraft? Im Gegenteil, wir richten das Gesetz auf“ (Röm 3,31). Man muss zum Fundament des Geset-
10 Louis Gardet, Expériences mystiques en terres non chrétiennes, Paris 1958, 118 ff.; P., 529.
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zes gehen und darf es nicht zerstören. „Nein, ich spiele nicht mit dem Bekenntnis der Einzigkeit Gottes (tauḥīd), aber nichtsdestoweniger vernachlässige ich es. In welchem Sinn vernachlässigen, in welchem spielen? Die Wahrheit ist, dass ich dieses Bekenntnis der Einzigkeit Gottes bin“ (D. M, 67). Sie, die Muslime, vernachlässigen das Gesetz nicht; sie hören nicht auf, es zu bejahen, und doch bleibt es für sie wie ein Spiel auf der Oberfläche. Das ist es, was al-Ḥallāǧ von denen unterscheidet, die ihn anklagen und ihn töten. „Ich habe den Kult, der Gott geschuldet ist, verneint, und diese Verneinung war mir eine Pflicht, während es für die Muslime eine Sünde darstellt“ (D. Y, 2). Aber nun die Rechtfertigung, die seine Ankläger als Täuschende und Getäuschte entlarvt, die Anklage, die die Wahrheit aufscheinen lässt: Wenn der Liebende beim vollen Elan der Großzügigkeit ankommt und wenn er von der Vereinigung mit dem Freund durch Trunkenheit im Gebet abgelenkt ist, dann muss er das feststellen, wofür seine Leidenschaft ihn als Zeuge nimmt: Beten [das heißt hier: das rituelle Gebet verrichten] wird für die, die lieben, Gottlosigkeit. (D. M, 20, erste Rezension) Es wird uns gesagt, dass al-Ḥallāǧ beim Verlassen seines Gebets ausrief: Täuschung, Täuschung! Wenn man weiß, bis zu welchen Tiefen das Gebet transzendiert werden muss, ist es verständlich, dass er bei dieser Gelegenheit an die Verblendung der legalistischen Muslime dachte. Und dieses Denken beschäftigte ihn, der sich verschrieben hatte, die Menschen zu erleuchten, bis zum Morgengrauen. Dann sieht er im Gedanken an seinen unmittelbar bevorstehenden Tod, dass jetzt der Moment gekommen ist, wirklich vor den Menschen zu bezeugen, dass er sich vor ihren Augen darbringen wird, nicht als bestrafter Häretiker am Kreuz, sondern als einer, der von Gott besessen ist, aufgelöst durch die Tat der Transzendenz, die ihn bewohnt. Wahrheit, Wahrheit! Wahrheit des Todes, dieses Geschenk Gottes, das reinste von allen seinen Geschenken; Wahrheit einer Gegenwart, die transparent wird in der Zustimmung des Hingerichteten; denn der Mensch, der so zu sterben akzeptiert, bringt nicht den Anblick seines gefolterten Leibes dar, sondern den Anblick dessen, für den er stirbt, dessen, der ihn töten wollte und dessen allmächtige Hand er preist. Das Glück
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kommt von Gott, sagte al-Ḥallāǧ, aber das Leiden, das ist Gott selbst: „Alle Güter, die ich benötigte, habe ich erhalten, außer dem, der die Lust meiner Ekstase während meiner Hinrichtung sein wird“ (D. M, 6; P., 622, 23). Seine Kreuzigung stellt die Erfüllung dieses Verlangens dar. Und der Gegensatz Täuschung – Wahrheit nimmt so seine tiefste Bedeutung an. Die Muslime täuschen sich und werden nicht nur getäuscht, wenn sie sagen und glauben, einen Häretiker verurteilt zu haben, sondern vor allem, wenn sie glauben, den Tod zu verleihen und den vermeintlichen Schuldigen zu beseitigen. Gott allein gibt den Tod, und sein Tod ist eine Transfiguration, die ihn manifestiert. In dem Moment, in dem ihm diese Wahrheit aufschien, war alḤallāǧ ganz und gar verwandelt. Er erhob sich und hüllte sich in seinen Mantel, wie es der Prophet tat, als er die Offenbarung empfangen hatte: „Du Eingehüllter! Steh auf und warne“ (Koran 74:1 f.). Er wandte sich nicht einfach nach Mekka, wie es für das kanonische Gebet verlangt wird, sondern er breitete seine Hände auf die Kaaba hin aus; er trat ein in eine Ekstase und betete nicht mehr, sondern unterhielt sich mit Gott in einem Austausch von Vertraulichkeiten im innersten Geheimnis, das man munāǧāt nennt. Und wir gelangen zur Frage: Wie geschieht es? Ist es ein Zweifel, der den Verurteilten im Moment äußerster Zuspitzung angreift? Ist es eine Frage, die einen Vorwurf, ja einen Ausdruck der Verzweiflung impliziert? Wäre es möglich, dass al-Ḥallāǧ jetzt die Wahrheit seines Todes gesehen hat? Nein, die Frage beinhaltet die Antwort, so wie das Erleiden der Hinrichtung in die Lust der Vereinigung eingebildet ist. „Wie geschieht das …?“ Dadurch, dass dieser verstümmelte Körper, auf Asche reduziert, seine Ausdehnungsmasse (haikal) verlieren wird, die ihn an einen bestimmten Punkt der Welt gegenüber anderen ihm äußerlichen Körpern lokalisierte; dass er, verklärt, mit Herrlichkeit bekleidet, die Realität seines reinen Wesens erreichen wird, dieses Geschöpf, über welches das Handeln Gottes in souveräner Weise verfügt. Es ist übrigens bemerkenswert, dass al-Ḥallāǧ in voller Ekstase an seinen Leib denkt; dies bestätigt, was wir schon bezüglich der Art seiner Spiritualität gesagt haben. Vergessen wir nicht, dass die menschliche Realität, wenn die körperliche Masse zu Moder wird, sich dennoch nicht in den reinen Geist verflüchtigt. Das Dogma der Auferstehung der Leiber ist für al-Ḥallāǧ eine Wahrheit, die ihren Sinn in dieser Welt selbst findet. Wie alles, was Gott geschaffen hat, hat der Leib seinen sicheren Wert, sobald man in ihm unbedingt das schöpferi-
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sche Werk Gottes sieht. Deshalb stellt die Idee, dass der Hingerichtete nicht al-Ḥallāǧ selbst sei, sondern ein irgendwie substituiertes Wesen oder ein Phantasma ohne Konsistenz, eine Hypothese dar, die das ḥallāǧische mystische Abenteuer jeglicher Bedeutung beraubt. Die Verse, die er rezitiert, gewinnen erst so ihr ganzes Profil. Es ist nicht die ekstatische Trunkenheit, die eine ganz und gar spirituelle Gunst Gottes darstellt, die durch ihre Gewalt einen Körper erschüttert und zerrüttet, der nicht fähig ist, sie zu ertragen. Sicher provoziert Gott die Trunkenheit, aber er ist es ebenfalls, der die Tortur der Verstümmelung und der Enthauptung als eine zweite Gunst gewährt, die der ersten folgt und diese zu ihrem Gipfel führt. Und so sind wir nun angekommen bei den letzten Worten, die alḤallāǧ aussprach, beim Vers 18 der Sure 42: „Und die an sie [d. h. die letzte Stunde] glauben, die fürchten sie …“ Ist das der Ausdruck einer Angst vor dem Geheimnis des Todes? Um jegliches Missverständnis auszuschließen, übersetzte Massignon: „Diejenigen, die glauben, erwarten sie mit Ehrfurcht.“ Dass er damit das wesentliche Verlangen zum Ausdruck bringt, das al-Ḥallāǧ immer noch beseelte, ist unbestreitbar. Allerdings kann man fragen, ob der Märtyrer in diesem letzten Augenblick auf die Erwartung seines ganzen Lebens anspielen wollte. Der arabische Begriff mušfiqūn impliziert, für sich genommen, nicht diese Erwartung. Die Kommentatoren verstehen ihn in seiner Bedeutung von Furcht (ḫauf). Aber man sollte nicht vor einer solchen Bedeutung zurückschreckend haltmachen. Die Furcht ist ein mystischer Zustand (ḥāl), und al-Ḥallāǧ selbst benutzt dieses Wort: „Ich nähere mich (Gott), und die Furcht (ḫauf) entfernt mich von ihm; ein Verlangen, das in den verborgenen Windungen meines Gedärms existiert, ängstigt mich“ (D. Q, I, Vers 8). Indem er diesen Vers rezitierte, drückte al-Ḥallāǧ also den Zustand (ḥāl) aus, zu dem er in seiner Ekstase gekommen war. Er weiß nicht nur, dass die letzte Stunde die Wahrheit ist, sondern in dem Moment, in dem die Stunde ihn erreicht, wird er selbst durch seine Annahme zu dieser Wahrheit, zu dieser ḥaqq, die Gott ist. Er nähert sich Gott, und die Furcht entfernt ihn von ihm: Das ist der interne Rhythmus der „Zustände“ (aḥwāl), den so viele muslimische Mystiker beschrieben haben. Man kann, so sagen sie, nicht ohne Ehrfurcht (haiba) in die Familiarität Gottes (uns) eintreten. Zweifellos wird man bemerken, dass al-Ḥallāǧ hier den Begriff ḫauf benutzt, der Furcht, die die niedrigste Stufe in der Hierarchie der verschiedenen Formen von
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Furcht darstellt. Die Wahl dieses Wortes und Verses ist äußerst aufschlussreich. Sie lässt die Antwort verstehen, die al-Ḥallāǧ von seinem Galgen herab auf die Frage von Abū Bakr aš-Šiblī (gest. 334/945) gegeben hatte: „Was ist dies, die Mystik?“ – „Ihre niedrigste Stufe, die siehst du hier.“ – „Und ihre höchste Stufe?“ – „Du kannst sie nicht erreichen, und doch wirst du morgen sehen, was geschehen wird. Ich bezeuge sie im göttlichen Geheimnis, wo der sitzt, den du bezeugst und der dir verborgen bleibt“ (P., 9). Die Angst vor dem Tod ist die Angst vor der letzten Stunde. Sie unterscheidet sich von der Angst vor Leiden, wie physisch sie auch sein mag im Jenseits. Als al-Ḥallāǧ am nächsten Morgen diesen Vers rezitierte und mit aš-Šiblī redete, hatte er schon die Auspeitschung überstanden, die Verstümmelung und das Leiden einer langen Nacht, aufgehängt am Galgen. Der Tod musste eine sehnlichst erwartete Befreiung gewesen sein. Und siehe, in seinem gemarterten Leib bleibt noch eine Furcht in seinen Eingeweiden. Denn – wiederholen wir es klar – im Koran, so wie bei den Sufis, ist die ḫauf eine äußert menschliche, ja die fleischlichste aller Arten von Furcht, wie auch immer ihr Wert und ihre Bedeutung im mystischen Leben sein mögen. Wie stets bei al-Ḥallāǧ ist der Körper nicht vergessen und nicht verachtet oder vernachlässigt wie etwas Schändliches. Er spielt eine sehr bedeutende Rolle in diesem Drama des Zeugnisses, abgelegt für Gott im Tod. Welches metaphysische Geheimnis liegt in dieser heroischen Furcht! Heroisch, denn ein Ungläubiger, ein Mensch, nicht gestützt durch einen Glauben, der ganz Leben war, hätte den Tod herbeigewünscht und ihn keineswegs gefürchtet. Sicher kann man sich fragen: Wie kann das sein? Wie kann es sein, dass dieser sein Körper, der am Ende unsäglicher Torturen leblos zusammenfallen wird, noch seine zerquetschten Fasern hergibt, in einer Furcht zu erzittern, die ganz inspiriert ist vom Jenseits, durch das Wissen, dass die letzte Stunde die Wahrheit ist? Wie ist es möglich, dass er teilnimmt an einem Zustand, der nur für den Geist einen Sinn zu ergeben scheint? AlḤallāǧ hat die Antwort gegeben: Die kleinste Partikel dieser Asche wird seinem verklärten Leib Realität verleihen. Weil er auferstehen soll, stellt der Leib des Gläubigen die Hinterlegung des Glaubens an die Auferstehung dar; er wird nicht nur fähig sein, ohne Schwäche bis zum Ende zu leiden, ohne Verlangen nach dem Nichts, sondern er wird leben in der in seinem Fleisch gesammelten mystischen Erfahrung eines Todes, der ein Vorspiel zu seiner Glorie als Auferstandener ist: „Du wirst morgen
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sehen, was geschehen wird.“ Die niedrigste Stufe der Mystik ist, dass man Furcht am Galgen haben kann: ein Leib, der an der Furcht des Geistes teilnimmt. Aber die höchste Stufe ist der Geist, der den Körper mit sich reißt, um mit ihm die unerschöpfliche schöpferische Macht (alḥaqq) zu bezeugen, die in einem Geschöpf am Werk ist, das sich mit ihm identifiziert, nachdem es darauf verzichtet hat, das Geschenk Gottes für sich zu beanspruchen und zu besitzen. Das wird nicht sichtbar und bleibt den schaulustigen Zuschauern verborgen, die in der Täuschung verschlossen sind. Das Zeugnis ist jedenfalls da und all denen angeboten, die das Verlangen nach der Wahrheit haben. Sie, die allem Anschein zum Trotz bis zur Quelle des Geheimnisses gehen, werden verstehen, dass diese Selbstaufgabe, die sie dem Hingerichteten zuschreiben, so als ob Gott sich zurückgezogen hätte, um ihn den Richtern zu überantworten, noch einmal eine Gnade ist, die aus einer höheren Realität entspringt. Hatte al-Ḥallāǧ nicht gesagt: Für mich gibt es keine Entfernung mehr, nachdem du dich zurückgezogen hast, nachdem ich mich versichert habe, dass die Nähe und die Entfernung (für dich) ein und dasselbe sind. Was mich betrifft, so gilt: Selbst wenn ich von dir verlassen bin, ist dieses Verlassensein ein Gefährte für mich. Und ferner, wie könnte das Verlassensein wirklich sein, wenn die Liebe doch das wiederfindet, was sie verloren hat? Ehre sei dir in der Hilfe, die du absolut ohne Vermischung mit dem, was nicht du bist, dem reinen Diener gewährst, der sich vor keinem anderen in Anbetung niederwirft außer vor dir! (D. M, 13) Die vollkommene göttliche Transzendenz wäre nicht respektiert und könnte deshalb nicht bezeugt werden, wenn das Geschöpf sich Gott nähern könnte ohne eine Furcht, sich von ihr zu entfernen. Aber weder Furcht noch Distanz – und noch weniger der Tod und auch das Leiden eines erschöpften Körpers – stellen Negationen dar. Alles kommt von Gott, alles bezeugt Gott, und je mehr man in den Negativitäten verloren zu sein scheint, desto mehr ist man Zeuge, geeint im Zeugnis mit dem, der alles und über allem ist. So stellt al-Ḥallāǧ im Angesicht seines Todes denjenigen ins Zentrum seines Lebens, von dem alles kommt und zu dem alles zurückkehrt. Wie oft wiederholt der Koran, dass Gott der einzige Schöpfer ist,
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d. h. der einzige Handelnde in der Welt: Er ist der Sämann, er lässt die Bäume wachsen, er breitet die wohltuenden Regenfälle aus, er lässt aus dem Feuerstein den Funken entspringen. Und was für die unbeseelten Dinge und die Pflanzen gilt, gilt noch mehr für den Menschen, der ausgehend von einem Klumpen Lehm durch einen „Samentropfen“ sich zu einem Wesen aus Fleisch und Knochen bildet und dann zu einer „zweiten Schöpfung“ befördert wird, in der Gott ihn wachsen lässt (vgl. Koran 23:13–15). Nach den Kommentatoren besteht diese zweite Schöpfung in all dem, was der Mensch empfängt, von dem Moment an, wo er als menschliches Lebewesen vollendet ist, bis zu seinem Tod. Am Ende lässt Gott ihn sterben und erweckt ihn vom Tod (23:16 f.). Dies ist die Rückkehr, die zahlreiche Verse erwähnen; zitieren wir im Besonderen: „Verkünde frohe Botschaft den Geduldigen! Die sprechen, wenn ein Schicksalsschlag sie trifft: Siehe, wir sind Gottes, und zu ihm kehren wir zurück“ (2:155 f.), und: „Bei uns ist das Jenseits und das Diesseits“ (92:13). Solche Texte haben einige Theologen zu einer Kausalitätslehre inspiriert, die viele Parallelen mit der von Nicolas de Malebranche (französischer Metaphysiker [1638–1715]) vertretenen Lehre aufweist: Die Dinge hier auf Erden sind alle okkasionell; die einzig wirkliche Ursache ist Gott. Aber diese Ideen bleiben im Bereich der Spekulation. Stellen wir uns vor, dass sie sich beleben, durchdrungen werden von mystischer Intuition und Inbrunst bis dahin, dass sie eine in jedem Augenblick gelebte Erfahrung werden. Dann werden wir verstehen, dass die Bedeutung dieser Verse die Realität selbst wird. Der Theologe sagt: Es ist durch Gott, dass der Mensch lebt. Ein Mystiker wie al-Ḥallāǧ sagt: Es ist in Gott, in seiner schöpferischen Kraft, dass der Mensch lebt, stirbt und aufersteht. Die Qualität einer solchen Erfahrung ist offensichtlich unaussprechlich und nicht mitteilbar. Aber man kann wenigstens ihre Bedingungen erfassen: sich nicht definieren als ein „Innen“, das von außen entweder Gutes oder Übles erhält; das Leben nicht zum einzigen positiven Wert machen, so dass man es sich aneignet wie eine Perfektion des Seins – indem man es seinem eigenen singulären Wesen einverleibt –, und den Tod zu einer reinen Vernichtung des so verstandenen Lebens machen, denn dieses angebliche Leben wird ein Tod im negativen Sinne des Begriffs sein. Man darf sich nicht in sich selbst verschließen. Es ist Gott, der jede Sache umhüllt und umgürtet: Wie könnte man unter diesen Bedingungen ihm nicht begegnen? (vgl. Koran 4:125; 41; 54).
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Diese Texte hatte al-Ḥallāǧ meditiert, und alle führten ihn dahin, im Tod den privilegierten Moment des Zeugnisses zu sehen. Da er selbst das höchste Zeugnis war, verlieh er dem Leben, das er akzeptiert hatte, seine wahre lebendige Realität, seinen wahren Wert als Zeugnis. Die Geschöpfe verirren sich in der dunklen Nacht, während sie dich suchen und nichts wahrnehmen als Anspielungen. Es ist durch Vermutung und Einbildung, dass sie sich in Richtung auf Gott ausrichten, und gewandt zur Atmosphäre rufen sie die Himmel an. Nun ist aber der Herr unter ihnen, in jedem Ereignis, in allen ihren Zuständen, von Stunde zu Stunde. Sie würden sich nicht, auch nur einen Augenblick, von ihm zurückziehen, wenn sie wüssten! Denn er zieht sich nicht zurück von ihnen, nein, keinen Moment lang. (D. M, 56) Alles ist zusammengefasst in den folgenden Versen, die, so hoffen wir, durch das, was vorausging, in ihrem wahren mystischen Sinn verstanden werden: „Ja, geh und benachrichtige meine Freunde, dass ich mich auf die hohe See eingeschifft habe und dass mein Boot zerbricht. In der Religion des Kreuzes werde ich sterben. Ich möchte nicht mehr nach Mekka noch nach Medina gehen“ (D. M, 56).
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a-lam našraḥ laka ṣadraka wa-waḍʿnā ʿanka wizraka allaḏī ʾanqaḍa ẓahraka wa-rafaʿnā laka ḏikraka fa-ʾinna maʿa l-ʿusri yusran ʾinna maʿa l-ʿusri yusran fa-ʾiḏā faraġta fa-nṣab wa-ʾilā rabbika fa-rġab Haben wir dir nicht die Brust geweitet, dir nicht abgenommen deine Last, die schwer auf deinem Rücken lag, und haben wir nicht deinen Ruf erhöht? Darum siehe, mit dem Schweren kommt auch Leichtes. Siehe, mit dem Schweren kommt auch Leichtes. Wenn du frei bist, dann bemühe dich und richte dein Begehren auf den Herrn! (Koran 94)
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Die Sure 94 beschert uns einige Unsicherheiten, die die Kommentare behandeln. Wir sind inspiriert von der Übersetzung und den Bemerkungen von Régis Blachère. Es ist sicher, dass al-Ḥallāǧ die Sure im Sinn seiner eigenen Sehnsüchte und seiner persönlichen Probleme meditiert und interpretiert hat, wie es die folgenden Verse bezeugen: „Du hast mein Herz mit einer Last beladen, die mein Leib kaum tragen kann, aber das Herz weiß das zu tragen, woran die mekkanischen Opfer scheitern“ (D. M, 62). Diese Last ist die des Glaubens. Es steht geschrieben im Koran: „Wir haben den Himmeln, der Erde und den Bergen das anvertraute Gut angeboten, doch sie weigerten sich, es auf sich zu nehmen, und fürchteten sich davor. Da nahm der Mensch es auf sich. Doch er ist frevlerisch und ignorant“ (33:72).11 Wie viele Koranverse, so gibt auch dieser Anlass zu verschiedenen Kommentaren. Einige sagten, dieses Gut des Glaubens sei das Bekenntnis, dass es keine Gottheit gebe außer Gott. Aber dann wies man sie darauf hin, dass die Himmel, die Erde und die Berge in der ihnen eigenen Sprache fähig sind, die Einzigkeit Gottes zu bezeugen. Andere dachten, dies anvertraute Gut sei die Erkenntnis Gottes durch das, was der Glaube einschließe.12 Diese Hinweise sind interessant; sie helfen, die Position zu verstehen, die al-Ḥallāǧ annahm und deren gesamte Bedeutungen er entfaltete. Wenn es ein Bekenntnis seitens der leblosen Seienden gibt, dann kann es auch ein Bekenntnis seitens des menschlichen Leibes geben. Dies hat in der Tat durch die Rezitation des Glaubensbekenntnisses und durch die Verrichtung aller vorgeschriebenen kultischen Handlungen stattgefunden. Aber dort findet sich nicht das wahrhaftige Gut des Glaubens: Dies besteht nämlich in einer Erkenntnis, die allein im menschlichen Herzen wohnen kann. Leider neigt das menschliche Herz zur Ungerechtigkeit und zur Ignoranz. Es ist versucht, diese [ihm geschenkte] Erkenntnis sich selbst zuzuschreiben, und so verändert es sie und macht sich selbst blind. 11 Die Vereinigung seiner Würde und seiner Fehlbarkeit/Schwäche im Menschen ist ein Geheimnis, das die Engel nicht verstanden haben, als Gott ihnen sagte, dass er den Menschen zu seinem Stellvertreter auf Erden machen werde. Sie waren beunruhigt: „Willst du jemanden auf ihr einsetzen, der Unheil auf ihr anrichtet und Blut vergießt?“ Gott antwortet, indem er darauf hinweist, dass es sich da um ein Geheimnis handelt: „Siehe, ich weiß, was ihr nicht wisst“ (Koran 2:30). 12 Vgl. dazu die Bemerkungen von Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī, VI, 593 ff.
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In derselben Weise, in der der Herr die Brust des Propheten geweitet hat, damit er diese Erkenntnis tragen könne, ohne sie zu verstümmeln, ohne sie auf die eigenen menschlichen Dimensionen zu reduzieren, in derselben Weise weitet er das Herz jedes Menschen, der berufen ist, ihn in der Reinheit des Glaubens zu erkennen. Aber was wird der Leib tun? Gott vergisst ihn nicht. Er befreit ihn von der Last, die ihn erdrücken würde. Was ist diese Last, von der die Sure 94 spricht? Auch hier diskutieren die Kommentatoren. Man kann zwei Interpretationen festhalten, die die Chance haben, dieselben zu sein wie diejenige, die al-Ḥallāǧ übernahm, als er diesen Text meditierte. Die erste spricht von einer Erleichterung hinsichtlich der Bürde der Prophetie, die auf den Schultern des Propheten lastete: den Anforderungen, der prophetischen Sendung nachzukommen, ihren Verpflichtungen treu bleiben, sie [d. h. die prophetische Aufgabe] in allen Aspekten ihrer Realität zu bewahren; diese Aufgabe hat Gott für Muhammad leicht gemacht. Die zweite Interpretation spielt an auf die respektvolle Furcht (haiba) und auf den Schrecken (fazaʿ), den der Prophet bei seiner ersten Begegnung mit dem Engel Gabriel erfahren haben musste, als er vom Krach des Donners13 eingehüllt wurde. Tatsächlich suggeriert der Kontext der ganzen Sure die Idee einer Ermutigung zur Verkündigung. Der Glaube ist eine Sache: Er betrifft das Herz, das ihn tragen kann. Aber die Verkündigung des Glaubens ist etwas anderes: Sie kommt nicht ohne den Dienst des Leibes aus, und ohne die besondere Hilfe Gottes genügt er dieser Aufgabe entweder nicht und fällt in Ermüdung, in Ermattung, oder – überwältigt durch Erschaudern vor der Größe der Wahrheit, der er dienen muss – er wird wie benommen und abgestumpft. Diese Unterscheidung zwischen dem Glauben und seiner Verkündigung ist für al-Ḥallāǧ wesentlich. Das Erste, der Glaube, gehört zur Domäne des Herzens im geistlichen Sinn des Wortes, der Leib bleibt ihm gegenüber fremd, während er doch eine unersetzliche Rolle in Bezug auf das Zweite, die Verkündigung, spielt. Wenn der Islam mit einem Bekenntnis des Glaubens, der šahāda („Es gibt keine Gottheit außer Gott“), beginnt, dann ist es ganz und gar notwendig, dass der Glaube vom Herzen empfangen und von ihm getragen wird. Aber es ist auch notwendig, dass er sich durch ein Zeugnis manifestiert, das sich des Leibes bedient, 13 Ar-Rāzī, VIII, 429.
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zunächst der Zunge, um die Worte auszusprechen, die das Credo formulieren; dann der Glieder, um die Forderungen des Gesetzes praktisch umzusetzen; und schließlich des ganzen Leibes, um die lichte Realität des vollkommenen Glaubens in einem ganz und gar gereinigten Herzen auszustrahlen, das über die Ungerechtigkeit und die Unwissenheit triumphiert hat, zu denen der Mensch neigt.14 Aber in Sure 94 wendet sich Gott an den Propheten, um ihn in seiner Sendung zu unterstützen, das geoffenbarte Wort zu predigen. Kann dieser Text auf einen anderen Menschen angewandt werden? Kann alḤallāǧ aus ihm für sich selbst Nutzen ziehen? Wir berühren hier das grundlegende kanonische Problem jeglicher Mystik. Wenn, wie es die strikte Orthodoxie lehrt, Muhammad das Siegel der Propheten ist, wenn die Offenbarung nur ein Gesetz bringt, was haben dann die Menschen, wenn sie einmal den Koran empfangen haben, anderes zu tun als alle ihre Sorgen darauf zu verwenden, die Gesetze in einem Geist des Gehorsams und der Demut rigoros zu befolgen? Diese legalistische Tendenz war im Islam sehr stark; sie konnte allerdings nicht absolut vorherrschen, ohne aus der Religion einen Aberglauben der Formel und der kultischen Handlung zu machen. Das Gesetz selbst spricht von der Ehrlichkeit des Herzens; will man ausschließlich dem Buchstaben folgen, dann gilt dennoch: Nicht dem Buchstaben, sondern Gott ist ein Kult zu erweisen, ihm mit der tiefen Intention (nīya) zu dienen. Sicher ist der Koran das ewige und unerschaffene Wort. Aber wenn der Mensch ihn als ein ‚an sich‘ betrachtet und den vergisst, der zu ihm spricht, dann fällt er in eine unheilbare Götzenverehrung, denn er macht dann aus der Botschaft, die die Götzen verurteilt, einen Götzen. Muhammad hat den Koran überbracht, und darin unterscheidet er sich von allen Menschen, die ihm folgen werden. Aber er hat ihn auch von Gott in einer persönlichen Inspiration erhalten, die parallel zur Offenbarung ist und sich dennoch von ihr unterscheidet. Darin gleicht er allen Menschen und ist für sie ein Vorbild. „Der Pakt der prophetischen Sendung ist eine Fackel des göttlichen
14 Man könnte den Vers 72 der Sure 33 übersetzen: „Der Mensch ist ungerecht und unwissend gewesen“ und ihn als ein Wachrufen der Erinnerung an den Ungehorsam Adams und seiner Nachkommenschaft verstehen. Wir folgen einem Kommentar, den ar-Rāzī angibt, der in dem Vers den Ausdruck eines Hangs des Menschen zum Bösen sieht.
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Lichtes; der Ort, wo die Inspiration aufgehängt ist, ist die Nische des Herzens“ (D. M, 21). Es gibt für al-Ḥallāǧ also ganz klar einerseits die Prophetie (nubūwa) und andererseits die Inspiration (waḥy). Louis Massignon übersetzt in diesem Vers des Diwan das Wort waḥy mit vollem Recht mit „ekstatischer Inspiration“, um klar zu zeigen, dass al-Ḥallāǧ diese für die Mystik beansprucht. Was in diesem ḥallāǧischen Text außerdem die Aufmerksamkeit auf sich zieht, ist die Erwähnung der „Nische“ (miškāt), von der in der Sure des Lichtes die Rede ist: „Gott ist das Licht der Himmel und der Erde. Sein Licht ist einer Nische gleich, in welcher eine Leuchte steht. Die Leuchte ist in einem Glas, das Glas gleicht einem funkelnden Gestirn, entflammt von einem segensreichen Ölbaum, nicht östlich und nicht westlich. Sein Öl scheint fast zu leuchten, auch wenn das Feuer es noch nicht berührte. Licht über Licht! Gott leitet, wen er will, zu seinem Licht“ (Koran 24:35). Die Kommentare zu einem solchen Text waren nicht überraschend zahlreich und vielfältig. Ar-Rāzī gibt die Interpretation der Sufis wieder: Die Nische, das ist die Brust; das Glas, das ist das Herz; die Leuchte, das ist die Erkenntnis; der gesegnete Ölbaum ist das, was die Engel inspiriert, wenn Gott sie zu den Menschen sendet, so wie es geschrieben steht. Zahlreich sind diejenigen, die der Meinung sind, dass die „Ähnlichkeit“ des göttlichen Lichtes, von dem die Rede ist, der Glaube im Herzen ist, entweder im Herzen Muhammads oder im Herzen jedes Gläubigen. Über die miškāt selbst schreibt ar-Rāzī in Erklärung der Vergleiche: „Wenn die Leuchte sich nicht in einer Nische befindet, dann verteilt sich ihr Licht, wenn sie jedoch in eine Nische gesetzt wird, dann konzentriert es sich, so dass die Erleuchtung umso intensiver ist.“ In gleicher Weise: „Wenn die Leuchte in ein durchsichtiges Glas gestellt wird, dann werden seine Strahlen nach der einen und der anderen Seite reflektiert wegen der Klarheit des Glases und seiner Durchlässigkeit, die das Aufscheinen des Lichtes verstärken.“ Schließlich ist es so: „Die Strahlkraft der Leuchte variiert je nachdem, woraus sie ihre Flamme entnimmt. Ist die fettige Substanz ganz und gar sauber, dann ist die Qualität der Flamme anders als die Qualität einer Flamme, die sich aus unreiner Substanz speist. Nun aber gibt es unter den fettigen Substanzen, die eine Flamme hervorbringen, keine, die so viel Strahlkraft hervorbringt wie das Olivenöl.“15 15 Ar-Rāzī, VI, 281, 283.
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Gott ist Licht der Wahrheit; genau deshalb ist er auch das Licht, das das Universum leitet und die Menschen führt. Dieses Licht wird durch die an den Propheten gerichtete Offenbarung gezeigt, wie die in der ganzen Welt ausgebreiteten Strahlen der Sonne, die die Welt verwandeln zum Zeichen der Einzigkeit, der Macht und der Weisheit des Schöpfers; es erscheint auch im Gesetz, das der Koran vermittelt. All dies betrifft die Prophetie. Aber es gibt im Herzen des Menschen, des Propheten und des Gläubigen, eine „Ähnlichkeit“ (miṯl) dieses Lichtes.16 Das Herz wird so zu einem brennenden Herd reinen Glaubens. Ar-Rāzī suggeriert gar die Idee eines optischen Brennpunktes. Daher übersetzte Massignon den oben zitierten Vers des al-Ḥallāǧ folgendermaßen: „Der Punkt, an dem sich die ekstatische Inspiration festmacht, ist verborgen in der Nische des Herzens.“ So erkennt al-Ḥallāǧ die ursprüngliche und partikulare Natur der prophetischen Sendung an: In dieser Hinsicht behauptet er nicht, er sei dem Propheten gleichzusetzen oder gar, dass er ihn in seiner Funktion, das Gesetz als Regel für das Leben zu vermitteln, ersetzen wolle, was al-Ḥallāǧ erlauben würde, das Gesetz zu vernachlässigen. Er teilt in keiner Weise die Verachtung einiger Mystiker, die extremen schiitischen Richtungen angehörten, für den Koran und für den, der ihn im Namen Gottes verkündet hatte. Es ist jedoch gerade seine Meditation des Koran, die ihn überzeugt: Das offenbarte Wort Gottes kann sich nicht auf einen Text, der einfach geschrieben oder gelesen wird, beschränken; indem der Text außerhalb des Menschen bleibt, bleibt er sich selbst gegenüber äußerlich. Al-Ḥallāǧ hatte bezüglich des Problems der Buchstaben eine klare Position bezogen. Während er einerseits mit der sunnitischen Orthodoxie fest daran glaubte, dass der Koran als das Wort Gottes unerschaffen ist, war er andererseits der Meinung, dass „die Buchstaben geschaffen sind und die Atemzüge der Menschen hervorruft; die Buchstaben sind das, was die sprechende Person ausspricht; Gott ist wesentlich frei von alldem“ (P., 594 ff.). Niemand ist deshalb davon dispensiert, über die Schrift und ihre Rezitation hinaus bis zum Schöpfer des Ausgesprochenen und der Phoneme zurückzugehen, um so die ewige Substanz seines Wortes zu erfassen. Allein im Herzen gelangt man dorthin; es ist im Herzen, wo das Licht aufscheint. 16 Wir geben dem Wort miṯl die starke Bedeutung von „Ähnlichkeit“, in Übereinstimmung mit zahlreichen Kommentaren zu diesem Vers (tafsīr al-ǧalālain).
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Man versteht somit die grundsätzliche Bedeutung folgender Zeilen Massignons über al-Ḥallāǧ: Seine Weise zu denken ist experimental (von der Erfahrung her); es handelt sich um eine mentale Selbstbeobachtung, die sich des koranischen Vokabulars bedient, um die Seelenzustände Muhammads darzustellen, der als Typ des reinen Glaubenden gesehen wird, und es handelt sich um die Intentionen, die benötigt werden, um den Kult vollkommen zu vollziehen. – Bis zu welchem Punkt diese Geisteshaltung im Islam zugelassen ist, kann man diskutieren. Was uns jedoch von Anfang an wichtig erscheint, ist, dass al-Ḥallāǧ ganz und gar und spezifisch ein Muslim war. Nicht nur die ursprünglichen Begriffe seines Lexique und der Rahmen seines Systems, sondern der ganze Elan seines Denkens entspringen einer einsamen, exklusiven, langsamen, tiefschürfenden, leidenschaftlichen und praktischen Meditation des Koran; er begann damit, indem er die Worte Gottes in seinem Herzen erklingen ließ, so wie Muhammad selbst es getan haben muss, und indem er die mentale Erfahrung des Propheten neu machte. (P., 465) Am Anfang seiner mystischen Berufung ist al-Ḥallāǧ in den Zirkeln der Sufis geformt worden, die zu den ahl al-ḥadīṯ, den Sammlern aller Traditionen des Propheten, gehörten. Wenn sich auch viele von ihnen mit denen verbanden, die die Möglichkeit einer juristischen Anwendung boten, um das Gesetz nach den Anforderungen der Zeit zu bestimmen, interessierten sich andere für die erbaulichen Berichte, die fähig waren, die Frömmigkeit zu nähren. So erschien der Prophet als Beispiel des inneren religiösen Lebens. Wir erörtern hier nicht die Probleme der Authentizität dieser Traditionen mit moralischer und mystischer Tendenz.17 Bemerken wir einfach, dass man sich eine völlig falsche Idee von der Personalität Muhammads machen würde, wenn man in ihm nur den Organisator einer Gemeinschaft und einen Kriegsführer sehen wollte. Zweifellos hat sein tiefer Glaube sich auch auf der Ebene der geistlichen Werte ausgedrückt. Unter seinen Gefährten war Abū Ḏarr (al-Ġifārī, gest. 32/653) bekannt für seine frommen Gefühle und seine asketischen 17 Vgl. zu dieser Frage Lexique, 120 ff.
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Übungen. Dies beweist, dass der Islam bei gewissen Gläubigen, die dem Propheten nahestanden, von Anfang an eine innere Bedeutung hatte. Eine Dichtung des Diwan bringt, wenn auch in sibyllinischer Weise, al-Ḥallāǧs Denken über das Gesamt dieses Problems zum Ausdruck: Kehre zu Gott zurück, denn der Abschluss ist Gott. Es gibt also keine Gottheit am Ende deiner Mühe außer ihm. Er ist wirklich mit (maʿa) dem Menschen, seinen Geschöpfen, die im mīm, im ʿain und in der rituellen Reinigung den Sinn seines Seins erhalten haben […] Denn das mīm eröffnet, was Gott an Höchstem und Tiefstem hat, das ʿain eröffnet das, was er an Entferntestem und an Nächstliegendstem hat. (D. M, 65) Man darf nicht haltmachen, weder bei der Sendung des Propheten noch beim gelesenen oder rezitierten Buch. Das Ende ist Gott selbst. Die Bemühung des Mystikers beginnt mit der Offenbarung, geht durch sie hindurch und endet beim Einzigen. Der Buchstabe mīm bezeichnet Muhammad, der Buchstabe ʿain ʿAlī, seinen Schwiegersohn, den schiitische Sekten über den Propheten erhoben, indem sie ihn als Verwalter des inspirierenden göttlichen Lichtes betrachteten. Al-Ḥallāǧ wies deutlich darauf hin, dass der wahre Gläubige sowohl des einen wie des anderen bedarf, d. h. der Offenbarung und der Inspiration; beide empfangen in einem gereinigten Herzen, denn Muhammad, zusammen mit dem Gesetz, macht die Transzendenz Gottes und die schöpferische Macht bekannt, die sich ausdehnt bis hin zu den geringsten Seienden dieser niederen Welt, während ʿAlī, der die Erleuchtung des Herzens repräsentiert, den Zugang zum mystischen Leben eröffnet, das sich nach dem binären Rhythmus von Ferne und Nähe vollzieht, von Ehrfurcht (haiba) und von familiärer Intimität (uns). Nun formen die beiden Buchstaben mīm und ʿain die Präposition maʿa (im Arabischen schreibt man die Vokale nicht), welche „mit“ bedeutet. Nur mit dem aufrichtigen Gläubigen ist Gott, und der Mensch glaubt nicht wirklich, wenn er nicht die beiden Zugangswege [zu Gott] vereint, dargestellt durch Muhammad und ʿAlī. Stellen wir jedoch fest: Die beiden exemplarischen Persönlichkeiten unterscheiden sich nicht wirklich, solange man im Ersten der beiden den Gesandten sieht, der mit der privilegierten Sendung beauftragt war, den Menschen die Offenbarung zu bringen. Aber beide sind vergleichbar hinsichtlich der Inspiration, dieses
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Lichtes des Herzens, der Fokussierung des Lichtes des offenbarten Glaubens. ʿAlī hat hier keinen Vorrang, es sei denn in der Lehre extremer Schiiten. So ist al-Ḥallāǧ, als er sich noch im jungen Alter in der mystischen Askese übte, ein sunnitischer Muslim, der an den Koran und an das vom Himmel herabgekommene Gesetz glaubte und Muhammad nachahmen wollte, nicht als Prophet, sondern als Modell eines innerlichen Lebens vollkommenen Glaubens. Dieses Ideal hat er sein ganzes Leben über bewahrt, und bis zum Morgen seiner Passion hat man ihn sein Gebet verrichten, meditieren und den Koran rezitieren gesehen. Ohne Zweifel gingen diese kultischen Handlungen und diese Verehrung des Buches bei ihm weit über Gestus und gesprochenes Wort hinaus; sie hallten bis ins Tiefste des Herzens wider; sie brachten die Zustände hervor, von denen der sakrale Text spricht, und die gelebten Empfindungen einer realen religiösen Bindung an die verinnerlichte Wahrheit. Freilich, alle diese Zustände, oder fast alle, empfangen ihren Namen von koranischen Versen, und es ist die Meditation dieser Verse, die erlaubt, sie zu erlangen. In der Tat ist es so, wie Massignon schreibt: „Wenn der Koran nicht zum Ziel hat, die Wege, zu ihnen zu gelangen, zu lehren, so sagt er deutlich, dass nur die Hilfe des (Heiligen) Geistes […] dahin führt, und er lässt Muhammad lakonisch sagen, dass die Geistsendung bei einigen eine übernatürliche Tatsache ist, ein göttliches Geheimnis: ,Sprich: ›Der Geist geht aus auf das Geheiß von meinem Herrn!‹‘ (Koran 17:85). Diese berühmte Antwort des Koran […] beweist, dass bei diesen Erwählten die Praxis der Gebote und die Hilfe des Heiligen Geistes intim verbunden sind …“ (P., 502 f., 3). Die Liste der mystischen Zustände (aḥwāl) mit Definitionen und Beispielen ist in allgemeinen Werken über den taṣawwuf, wie etwa der Risāla des al-Qušairī (gest. 465/1074) und vielen anderen18, schon oft aufgeführt worden. Erwähnen wir beispielshalber den Frieden mit Gott (ṭumaʾnīna, Koran 2:262; 3:122; 4:104), die Zustimmung zum Willen Gottes (riḍā, Koran 10:7; 89:27), das bedingungslose Sich-Verlassen auf Gott (tawakkul, Koran 3:153) etc. Diese „Zustände“ sind für al-Ḥallāǧ göttliche Berührungen, Aufrufe (dawāʾī), die eine wirkliche Spur im Herzen hinterlassen, „Griffe“ (prises), wie Louis Massignon sagt. 18 Vgl. Lexique, 44; P., 493.
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Al-Ḥallāǧ bewahrte also als guter sunnitischer Muslim und geprägt von einem religiösen Leben die äußere Offenbarung des Gesetzes und das innere Licht des Herzens, das ein Geschenk des Geistes ist und „Zustände“ entwickelt. Aber ausgehend von dieser Haltung, die den Anfängen angehört, wird er sich darüber hinaus gerufen gewusst haben, und zwar, um es so zu sagen, zu einem Diesseits und Jenseits. ,Diesseits‘, denn so wie es, unter der Manifestation des Wortes, Gott, den Sprechenden, zu entdecken gilt, so muss man unter den Erweisen (šawāhid), die die Zustände des Herzens sind, denjenigen selbst erreichen, der sie sendet. Er unterscheidet klar das göttliche Handeln selbst von den verschiedenen Berührungen, die es im Herzen bewirkt. Er spricht den mystischen Zuständen nicht a priori jegliche Realität ab; er gibt zu, dass es für den Anfänger nützlich sein kann, sie zu betrachten, aber er verbietet ihm, an ihrer Schönheit Gefallen zu finden, denn sie gehören ihm nicht; es sind nur vorübergehende Etappen, Mittel der Gnade, nicht ihre Quelle selbst. (P., 494) Er muss also zur Quelle zurückgehen. Aber er ist gleichzeitig gerufen, darüber hinauszugehen; an diesem Punkt unterscheidet er sich am meisten von den anderen Sufis. Es gibt im mystischen Leben, besonders im Islam, eine Gefahr: das Verlangen nach „einer geheimen Genugtuung der Seele, nach einem einsamen Traum, nach einer Auszeit, um Gott zu lieben, außerhalb des realen Lebens“ (P., 495).19 Al-Ḥallāǧ wollte dieser Gefahr nicht verfallen. Er hatte eine Berufung zum missionarischen Apostolat; er wollte die Wahrheit Gottes allen Menschen zeigen; und er begnügte sich nicht damit – ohne aber vorzugeben, eine Offenbarung im eigentlichen Sinn des Wortes, die Offenbarung eines Buches, zu überbringen –, Muhammad in der Intimität seines Herzens nachzuahmen, nein, er wollte ihn als Prediger in einem sichtbaren öffentlichen Leben nachahmen, und dies, ohne sich dabei mit einer Belehrung zufriedenzugeben, wie sie einige Anwärter auf den Sufismus
19 Die Gefahr besteht auch im Christentum, aber vom Christen, der seinen Glauben authentisch lebt, wird sie durch die Realität des mystischen Leibes und der Gemeinschaft der Heiligen abgewendet.
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gaben. Dieses aktive Leben, das seinen Leib der Ermüdung, Gefahren und Leiden aussetzte, die ihn notwendigerweise der Ruhe und Stille der inneren Meditation entrissen, stellte den Anteil des Leibes am Dienst Gottes im Zeugnisgeben dar, und wir haben gesehen, wie weit dieser Dienst ging. Es ist wichtig zu verstehen, dass für al-Ḥallāǧ dieses Diesseits und dieses Jenseits sich vereinten. Die Zweiheit des Kultes, der dem durch den Propheten geoffenbarten Gesetz konform ist, und ebenso der Devotion des Herzens findet im Islam Ausdruck in einem Paar von Begriffen, das ständig und überall wiederkehrt: das ẓāhir (das Ersichtliche, das Äußere und auch der Buchstabe der Texte) und das bāṭin (das Nicht-Ersichtliche, der innere, der verborgene Sinn der Texte). AlḤallāǧ kennt diesen Gegensatz, er respektiert ihn, und er konnte als Muslim nicht anders, als von ihm auszugehen. Aber er entdeckt in der Befolgung des ẓāhir sowie in der Spiritualität des bātin, was man als einen regelrechten religiösen Komfort bezeichnen könnte: hier köstliche Ruhe in dem Sich-Erfreuen an den Gnadengeschenken, dort ein gutes Gewissen in der Konformität mit dem Gesetz. Das Paar ẓāhir/ bāṭin umschreibt ein „Ich“, das weder allein in der Innerlichkeit seines Herzens noch allein in der Äußerlichkeit seines Leibes ein reiner und transparenter Zeuge der Wahrheit Gottes (al-ḥaqq) sein kann. Selbst wenn man in der mystischen Askese das ẓāhir dem bāṭin opfert, bleibt das innere Ich bezogen auf das äußere Ich. Es ist deshalb so, dass das Diesseits des bāṭin und das Jenseits des ẓahir sich vereinen, um dieses Ich aufzulösen, das mit seinem Doppelgesicht nichts anderes tut, als sich in sich selbst einzuschließen, indem es seine gegenseitige Bezogenheit als falsches Absolutes errichtet. Das menschliche Herz kann das anvertraute Gut des Glaubens ertragen, aber es ist ungerecht und unwissend; weitet Gott es, so öffnet es sich der Wahrheit, die die Quelle all seiner Kraft und all seines Reichtums ist. „Ich aber habe ein Herz, dessen Augen weit geöffnet sind auf dich, und es ist ganz und gar in deiner Hand“ (D. M, 43). Die menschlichen Schultern können dieses Gewicht nicht tragen, und Gott sagt: „Habe ich nicht diese Last von deiner Schulter genommen?“ (Koran 94:2 f.). Man versteht, welche Bedeutung dieser Vers für al-Ḥallāǧ erlangte. Ja, es handelt sich um göttliche Hilfe, die die Aufgabe des Leibes erleichtert: Und von nun an, Freund Gottes, ist es nicht länger dein eigener Leib, die äußere Fassade des vergänglichen Ich, das mit den Leiden und Strapazen der Verkündigung und des Kampfes für den
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Glauben konfrontiert ist, es ist der Geist, den Gott deinem Leib einflößt. So konnte al-Ḥallāǧ zu Gott singen: „Du bist der Rhythmus meines Atems und der Knoten meines Körpers“ (D. M, 64). Und im gleichen Gedicht zeigte er, wie sein Leib für ihn nicht länger das Zentrum der Organisation und der Aufteilung des Raumes war, sondern dass er diese Funktion dem allgegenwärtigen Gott übergab: „Wenn mein Verlangen mich zum Osten wendet, du bist im Osten, ja der Osten meines Verlangens; wenn es sich zum Westen wendet, du bist der Horizont, der die Richtung meines Blickes angibt; wenn es sich nach oben wendet, du bist das Oben; wenn es sich nach unten wendet, du bist jeder Ort. Du gibst jedem Sein seinen Ort, ohne dich selbst in ihm zu verorten.“ So sah al-Ḥallāǧ seinen Leib in der Allgegenwart, die ihn verortet, und nicht mehr in der usurpierten zentralen Position, auf die er sich zurückzieht. Seine Verkündigungsreisen und seine Pilgerfahrten sind in Bezug auf diese räumliche Vision zu verstehen. In der Biographie, die er über ihn verfasst hat, stellt sein Sohn diese Periode seines Lebens folgendermaßen dar: Dann sagte er zu einem seiner Jünger: „Pass auf meinen Sohn Ḥamd auf, bis ich zurückkehre, denn ich muss in die Länder des Götzendienstes eindringen, um ihre Bewohner zu Gott zu rufen, er sei gelobt und hochgepriesen!“ Er machte sich auf; ich erhielt Nachrichten von ihm: Er ging bis nach Indien, dann ging er ein zweites Mal nach Ḫorāsān, betrat Transoxanien und Turkestan, bis er Mā Sīn (GroßChina) erreichte. Und er rief die Menschen zu Gott, und er verfasste Bücher für sie, die ich selbst nicht in Händen gehalten habe. Ich weiß nur, dass ihm in den Briefen, die er nach seiner Rückkehr aus Indien erhielt, der Beiname „Fürsprecher“ gegeben wurde, in den Briefen aus Mā Sīn und Turkestan „der Vermittler/Spender des Nötigen“, in denen aus Ḫorāsān „der Hellsichtige“, in denen aus Fārs „Abū ʿAbd Allāh, der Asket“, in denen aus Ḫuzistān „der Scheich der Baumwollkämmer der Gewissen“. Und eine Gruppe in Bagdad nannte ihn „der in Entzückung Geratene“ und eine andere Gruppe in Basra „der Hingerissene“. (P., 4) Dieser Bericht lässt die Bedeutung erspüren, die al-Ḥallāǧ seinen Missionen „in die Länder des Götzendienstes“ zumaß. Freilich, die Regionen, die er besuchte, waren schon mehr oder weniger tief vom Islam
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berührt worden. Es handelte sich für ihn also nicht darum, ihnen das Gesetz zu bringen, das der Prophet und seine Gefährten verkündet und das ihre Nachfolger propagiert hatten. Was war dann also die Idolatrie, die es noch zu bekämpfen galt? Es war nicht der heidnische Polytheismus, nicht einmal die „Beigesellung“20 (širk), die der Islam einigen Juden oder Christen zum Vorwurf macht. Louis Massignon bemerkt zu diesem Thema, dass die ahl al-ḥadīṯ die Bezeichnung širk auch auf lasche Muslime in Bezug auf ihre Vernachlässigung und ihr Vergessen des „zuallererst zu bedienenden Gottes“ anwandten. Und er fügt hinzu: Die Erfahrung der Mystiker, und vor allem die von al-Ḥallāǧ, zeigte ihnen, dass im kontemplativen wie im aktiven Leben Gott selten das einzige, unmittelbare Objekt der glühendsten Gedanken und der überzeugendsten rituellen Akte war, weil notgedrungen zwischen ihm und uns diese Gedanken und Akte liegen und von daher die Gefahr der impliziten Beigesellung (širk ḫaf ī) […] Der širk, den al-Ḥallāǧ verurteilt, das ist der schlechte Gebrauch der Mittel, um zu Gott zu gelangen, die vorgeschriebenen Werke, wenn man sie selbst als das Ziel nimmt anstelle der von ihnen angezielten Realitäten. (P., 675) Diese Verkündigungstätigkeit ist also ein Aufruf dazu, vor den Menschen diese Wahrheit zu bezeugen, die das vergängliche Ich ganz und gar umfasst: Gott, den Schöpfer der Herzen und der Leiber. Sicherlich ein gefährliches Unternehmen. Ging al-Ḥallāǧ in seinem Zeugnis für Gott nicht so weit, dass er wie ein weiterer Prophet erschien, der den koranischen Islam zerstört, ja noch mehr, galt er nicht von gewissen schiitischen Perspektiven her als ein ganz vom himmlischen Licht durchdrungenes göttliches Wesen? Und würden die Gläubigen, skandalisiert von der Idee, dass er ein solcher sei, ihn nicht der Lüge und des Treuebruchs bezichtigen? Leider ist genau das passiert. Die verschiedenen Namen, die ihm seine Bewunderer gaben, sind ein Beweis dafür. Was die anderen angeht, so mussten sie versuchen, ihn zu vernichten, womit sie Erfolg hatten. 20 Dies ist die Form des Unglaubens, der darin besteht, Gott im Denken oder in der Anbetung ein Seiendes beizugesellen, das nicht Gott ist.
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Das ganze Drama des al-Ḥallāǧ liegt hier: Kann der Mensch der Zeuge Gottes sein? Um zum Herzen dieses Dramas vorzustoßen, muss man die Bedeutung des Wortes „Zeuge“ genau verstehen, wenigstens so, wie al-Ḥallāǧ es entsprechend seiner Erfahrung verstand. Schließen wir hier sogleich das ‚Zeugnis durch das Wort‘ aus; es ist zu äußerlich, wenn es auch im Islam der verpflichtende Ausgangspunkt ist, die šahāda: „Ich bezeuge, dass es keine Gottheit gibt außer Gott und dass Muhammad der Gesandte Gottes ist.“ Dann gibt es das ‚Zeugnis des Herzens‘; aber vor wem kann das Herz bezeugen? Stellt es eine ganz intime und direkt nicht vermittelbare Gewissheit dar? Wenn man sich vornimmt, Jünger auf dem Weg zu leiten, damit sie selbst die Erfahrung der „Zustände“ nachvollziehen, riskiert man dann nicht, diesen Zuständen eine zu große Bedeutung zuzumessen, als ob sie das Ziel wären, das es zu erreichen gilt? Al-Ḥallāǧ hat diesen Irrtum aufs heftigste angeprangert. Im Übrigen neigt das Herz zu Unwissenheit und zu Missbrauch: Gott hat uns davor gewarnt. Es braucht also ein ‚existentielles Zeugnis‘: Gott aufzuzeigen als den Handelnden im Geschöpf, das ganz und gar sein Werk ist, ganz sein eigenes Werk. Aber was werden die menschlichen Massen sehen? Das Endziel dieses Aktes, den Menschen, der bezeugt, isoliert von Gott. Das Beste, das man erwarten kann, ist, dass der Zeuge verstanden wird wie ein Zeichen. Jedoch, das Zeichen ist das eine, das andere ist das, was es bezeichnet. Gehen wir weiter: Die Bedeutung im Zeichen zu erfassen bedeutet nicht, das Bezeichnete in sich selbst direkt zu erfassen. Al-Ḥallāǧ hat die Unzulänglichkeit der Zeichen betont. Sie können nur eine Hinführung sein, selbst wenn Gott im Koran ihren Wert offenbart. Die Notwendigkeit des Absoluten, die alḤallāǧ charakterisiert, lässt ihn verstehen, dass es notwendig wäre, dass der Bezeichnete selbst im Zeichen gegenwärtig ist. Wozu aber würde dann das Zeichen dienen? Und doch muss es so sein: Zeichen und Bedeutung stellen eine Zweiheit dar; zweifellos konvergieren sie hin zum Bezeichneten, dem dritten Endpunkt, der genau für den, an den sich das Zeichen wendet, an dritter Stelle kommt. Diese Weise, Gott zu erreichen, ergibt sich aus einer Dialektik, deren Wert auf den Menschen bezogen ist. In Wirklichkeit steht Gott in sich selbst nicht am Ende der Mühe um die Dechiffrierung der Zeichen. Vergessen wir nicht: Wenn er im Koran vom hindeutenden Wert der Schöpfung spricht, dann ist er schon da, um zu sprechen. Nicht am Punkt der Begegnung des
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Zeichens und der Bezeichnung sollen wir ihn mittels eines Weges des Denkens suchen, wie konkret und mit dem Realen verbunden es auch sein mag. Er ist es, der das Zeichen schafft und ihm seine Bedeutung gibt; es ist seine schöpferische Macht im Herzen jeder seiner Kreaturen, die gleichzeitig Macht ist, ihn durch alles, was er schafft, bezeichnen zu lassen. Wenn man in der Masse der Berge, die die Erde solide befestigen, wie der Koran es beschreibt, Zeichen der Weisheit und Allmacht erblickt, dann bleibt man noch außen vor, gebunden an das bezeichnende Seiende eines Geschöpfes. Man dringt erst in das Geheimnis ein, wenn man zu fühlen beginnt, bis hin zu einer inneren, lebendigen und beherrschenden Überzeugung, dass diese Berge in sich zusammenfallen könnten, aufgrund ihrer Masse sich und alles zerstören könnten, würde Gott sie nicht unerschütterlich erhalten. Und ebenso, dass alles, was den „Leib“ des Seins, der wir sind, ausmacht, durch das bloße Spiel seiner Kraft zerstört und vernichtet würde, würde Gott ihn nicht erhalten. Genau dies ist die große Lehre des Koran: Alles, was Gott seinem Geschöpf schenkt, indem er es erschafft, und was der Mensch versucht, ist als positive Realität zu betrachten, die diesem geschaffenen Sein gehört; all das wird Kraft zur Vernichtung, wenn das Geschöpf sich von seinem Schöpfer trennt. Das Zeichen, wenn es bewohnt ist von dem, der ihm seine Bedeutung gibt, kann nichts anderes bedeuten als eine Sache: dass nämlich alles, was ihm an sich selbst als wesentlich real, positiv, stark erscheint, in Wahrheit Keim der Zerstörung und der Vernichtung ist; und umgekehrt, dass seine Realität, seine Positivität, seine Kraft allein dem schöpferischen Akt gehören, der ihm zu sein schenkt. Das Zeichen bezeichnet nur, indem es zurücktritt, nicht indem es auf seiner Zeichenqualität insistiert. Aber zurücktreten heißt nicht, dass es verschwindet, denn sonst würde sich Gott dem Menschen direkt manifestieren und es gäbe nicht mehr das wesentliche Geheimnis seiner Transzendenz. Und wenn das Gebirge sich glättete auf das Niveau der Ebene, was hätte es uns dann noch zu zeigen? Es ist nicht das Nichts als solches, das Gott als den Ersten berühren lässt, den Einzigen, der sein soll, es ist auch nicht die vollkommen vollzogene Vernichtung der Geschöpfe, die ihn als den Letzten hervorkommen lässt, als den Einzigen, der bleibt, um zu sein. Was kann das Nichts bezeugen und wem? Wäre es außerdem nicht seltsam zu denken, dass das Sein Gottes sich nicht manifestieren kann, es sei denn auf dem Hintergrund des Nichtseins? Es ist also notwendig, dass das Geschöpf existiert, um ein Zei-
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chen im Allgemeinen zu sein; aber es ist ganz besonders notwendig, dass es existiert, wenn es ein Zeichen sein soll, das von Gott bewohnt ist. Aber dann muss es so sein, als wäre es nicht. Der Zeuge Gottes kann also nur ein Zeichen in diesem zweiten Sinn sein. Seine Möglichkeit ist bedroht durch zwei Unmöglichkeiten, die ihn einschnüren: auf der einen Seite das Zeichen, das weiterhin in seinem eigenen Sein betrachtet wird und das nicht hinweisen kann, es sei denn von außen und in indirekter Weise; auf der anderen Seite das von dem, den es bezeichnet, vernichtete Zeichen, das nichts mehr bezeichnen kann. So schrieb denn al-Ḥallāǧ einerseits: „Derjenige, der sagt, er kenne Gott durch sein Werk, ist derjenige, der sich mit dem Werk ohne den Meister des Werkes begnügt“ (Ṭaw. XI, 8); und andererseits: „Wenn es ein exklusives Attribut Gottes wäre, das ihn selbst uns zeigt, warum sollte dann sein Platz unter uns verborgen bleiben?“ (D. M, 63). Es ist also möglich, dass sich für einen Menschen die Bedingung der Existenz realisiert, die aus ihm einen Zeugen Gottes macht. Aber der Zeuge ist derjenige, der vor anderen bezeugt, und bezüglich dieses Punktes bleibt die Schwierigkeit bestehen. Konnten die Volksmengen, die al-Ḥallāǧ sahen und hörten, in ihm die sehr subtile Art, Zeichen zu sein, ausmachen, die ihn zu einem wirklichen Zeugen machte? Das ist kaum wahrscheinlich, und die Reaktionen, die sich durch die Namen, die man ihm gab, erahnen lassen, bestätigen diesen Zweifel. Nichtsdestoweniger konnte al-Ḥallāǧ auf sich selbst die Worte anwenden, die Gott zum Propheten sprach: „Nicht dir ist aufgetragen, sie zu leiten, sondern Gott leitet, wen er will“ (Koran 2:272), und: „Gesandter, übermittle du, was zu dir herabgesandt wurde von deinem Herrn! Wenn du es nicht tust, dann hat sich deine Botschaft nicht erfüllt […] Sei jedoch nicht betrübt über die ungläubigen Menschen“ (Koran 5:67 f.). Zweifellos konnte al-Ḥallāǧ nicht vorgeben, ein „persönlicher“ Zeuge zu sein, der mit all dem, was er an Zuständen, Zeichen der Gnade, göttlichen Bezeugungen in sich fand, die Initiative ergriffen hätte zu bezeugen. Besser als irgendeiner sonst wusste er, dass es Gott war, der in ihm sein eigenes Zeugnis gab. Trotz all der Leidenschaftlichkeit, mit der er sich der Predigt hingab, dachte al-Ḥallāǧ nicht daran, aus der Predigt seine eigene Sache zu machen. Er glaubte, oder besser: er verspürte, dass Gott für ihn sprach. „Es ist durch Gott, dass ich Gott gezeigt habe […] Wenn du Gott in seiner eigenen Realität zeigst, wird Gott für dich sprechen …“ (D. M, 63). Ist er möglicherweise einer Illusion anheimge-
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fallen? Wir stellen diese Frage, so wie sie sich ihm stellen konnte, nicht wie sie ein Psychologe oder ein Psychiater stellen würde, der den „Fall“ al-Ḥallāǧ untersucht. Nun ist es bemerkenswert, bis zu welchem Punkt al-Ḥallāǧ in Bezug auf die Reinheit seines Zeugnisses hellsichtig, streng, fordernd, intransigent war. Er verschont sich nicht von Kritiken. Er könnte sicher die Worte auf sich anwenden, die er in den Mund Satans gelegt hat: „Ja, aus der Perspektive des Versprechens ist dein Versprechen wirklich die Wahrheit, aber zu Beginn waren die Anfänge meiner Berufung hart“ (D. M, 14). Denn Satan ist, wie wir sehen werden, ebenfalls ein Zeuge der Einzigkeit Gottes. Aber er hat seinen Willen über das hinaus, was ein Geschöpf kann, aufrechterhalten, um in seinen rituellen Handlungen eine absolute Reinheit der Intention zu erreichen. Dies ist es, was ihn zugrunde gerichtet hat. Um diesen Fehler zu vermeiden, musste alḤallāǧ Schwierigkeiten auf sich nehmen, die noch schmerzlicher waren als die, auf welche Satan in Bezug auf sich selbst hinweist. Wenn es schon ein Widerspruch ist, Gott in Wahrheit anbeten zu wollen, während man gleichzeitig die Initiative und die Kontrolle der kultischen Handlungen behält, die man ihm darbringt, ist es dann nicht ein noch undenkbarerer Widerspruch – wenn dies möglich ist –, seine ganze Aktivität zu entfalten, um sich hinzugeben, oder eher, um sich gänzlich passiv den Händen des Schöpfers zu überlassen? Ja, al-Ḥallāǧ kannte die Gefahren gut, denen er auf dem Weg begegnete; es waren die Gefahren, denen Satan begegnet ist. Und wenn der Verdammte solch enorme Anstrengungen gemacht hatte, um dann am Ende doch verflucht zu werden, was sollte man dann vom Mystiker sagen als von dem Menschen, der in derselben Situation, belehrt von diesem schrecklichen Beispiel, alles zu fürchten hatte vor einem Fall und der dennoch einen Ruf hörte, dem er sich nicht entziehen konnte? Die strengsten Vorsichtsmaßnahmen sind unerlässlich – zweifellos. Aber dennoch darf man seine Hoffnung nicht auf die Vorsichtsmaßnahmen setzen, die man trifft; sie wären ausschließlich negativ: sich davor zu hüten zu glauben, dass ein wirklicher Fortschritt erzielt wurde, während man dem Bewusstsein von sich selbst Raum gibt, wie verhalten auch immer. Es geht vor allem darum, seine Momente des Versagens festzustellen, freilich unter der Bedingung, dass man dabei den Rausch des Versagens vermeidet, aus welchem einige Menschen persönliche Tröstungen und Befriedigungen ziehen. Das sicherste Mittel scheint es
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zu sein, seinen Blick immer nach vorne zu richten und unablässig die Distanz vor Augen zu haben, die es noch zu durchlaufen gilt, in der Weise, dass dieses Spektakel nicht das Verlangen weckt, seine Kräfte zu sammeln, um es zu überwinden, sondern dass man die Überzeugung mitbringt, dass man es nicht mit eigener Kraft überwinden kann, ohne jedoch gleichzeitig die Hoffnung auf Hilfe von Gott zu verlieren. Auch dieser Geisteszustand wird wieder nur von einer göttlichen Gnade resultieren. Al-Ḥallāǧ sagte: „Dass der Gott der Wahrheit die Realität umfasst, das ist Wahrheit, und der Sinn dieses Ausdrucks gibt Anlass für ein minutiöses Examen. Ich habe die Existenz durch die Quelle der Nichtexistenz umfasst, aber mein Herz, ausharrend in seiner Härte, erweichte sich nicht“ (D. M, 40). Wie tief al-Ḥallāǧ auch in seinem ganzen Sein von Gott durchdrungen war, er ignoriert nicht, dass er ihn weder ergreifen noch über ihn verfügen kann, denn das Gegenteil ist der Fall: Gott ist es, der ihn erfasst, wenn er kommt, um bei ihm zu wohnen: „Dein Bild ist in meinen Augen, dein Vermächtnis auf meinen Lippen, deine Wohnung in meinem Herzen; wo nun verbirgst du dich, du?“ (D. Y, 1). Man könnte sagen, dass Gott genau durch seine Transzendenz in seinem Geschöpf gegenwärtig ist als der Existenzgebende, ohne den es nichts wäre, während er alles ist, und dass nur er allein alles ist. Eine solche Strenge bei al-Ḥallāǧ erlaubt uns nicht zu glauben, dass er Opfer einer Illusion war. Jedenfalls hatte er sich sicherlich nicht aus Gefälligkeit der Illusion hingegeben. Was seine Erfahrung betrifft, so entgeht sie uns natürlich. Der Skeptiker wird sich leichttun, von einem halluzinogenen Zustand zu sprechen. Die Freunde, ja sogar die Feinde des Mystikers haben manchmal, ohne Psychologen zu sein, zugegeben, er sei verrückt, ohne die Art seiner Verrücktheit näher zu präzisieren. Manchmal haben sie es vorgezogen anzunehmen, dass das Zeugnis von al-Ḥallāǧ nichts als das Zeugnis eines Menschen war. Sein Sohn beendet seine kurze Biographie mit folgender Erzählung: Ich habe Ibrāhīm Ibn Fātik, Schüler meines Vaters, am dritten Tag nach seiner Hinrichtung sagen gehört: „Ich habe im Traum den Herrn der Herrlichkeit gesehen; es schien mir, ich sei vor ihm und fragte ihn: ,Herr, was nun hat al-Ḥusain ibn Manṣūr getan?‘ Und er sagte mir: ,Ich habe ihm die Realität eröffnet, aber er hat die Menschen zu Gott auf seine eigene Initiative hin gerufen, und ich habe ihn die Strafe erleiden lassen, wie du gesehen hast.‘“ (P., 10)
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Eine Anschuldigung der gleichen Art findet sich im Bericht des gnostischen Mystikers Ibn al-ʿArabī von Murcia (gest. 1240): Er soll im Traum eine Versammlung der Hauptpropheten gesehen haben, vereint, um für al-Ḥallāǧ Fürbitte einzulegen. Welche Notwendigkeit gab es, für ihn einzutreten? Weil es ihm an Respekt gefehlt habe, indem er sagte: „… die Sorge des Propheten entsprach nicht seiner noblen Funktion.“ Al-Ḥallāǧ habe auf die Sure 93 angespielt, in der man lesen kann: „Dein Herr hat dich nicht verlassen noch gehasst. Dein Herr wird dir so geben, dass du befriedigt sein wirst.“ – Einige Kommentatoren erklären den Ursprung dieser Offenbarung so: Als die Ungläubigen sahen, dass der Prophet mehrere Tage ohne göttliche Inspiration geblieben war, gaben sie vor, er sei verlassen und gehasst von Gott. Der Herr verspricht ihm dann, ihm den Sieg über die Ungläubigen zu verleihen und zu veranlassen, dass sie in den Islam eintreten, so dass er zufrieden sei. Und man fügt hinzu, dass der Gesandte Gottes gesagt habe: „Ich werde nicht zufrieden sein, solange ein einziger Mensch meiner Gemeinschaft in der Hölle sein wird.“21 Auf einen Kommentar dieser Art soll sich al-Ḥallāǧ bezogen haben, denn er habe dem Propheten vorgeworfen, Fürbitte nur für die großen Sünder seiner Nation eingelegt zu haben, nicht aber für alle Menschen, Ungläubige oder Gläubige. So sagt Ibn al-ʿArabī, alḤallāǧ habe Muhammad übertreffen wollen, indem er für die gesamte Menschheit Fürbitte eingelegt habe und sie durch seine Predigt zur Reinheit des Glaubens führen wollte. Aber er habe vergessen, dass es Gott allein ist, der Fürbitte einlegt: „Während er der Freund Gottes war, sagt der Prophet in der Erzählung dieser Vision, war Er es, der meine Zunge war, als ich sprach, er selbst, der Fürbitte einlegt und vor dem man Fürbitte einlegt, denn angesichts seines Seins bin ich nur ein Nichts.“ 22 Und al-Ḥallāǧ, überzeugt vom Irrtum, lässt sich durch das Schwert des Gesetzes hinrichten. Seit seinem Tod entkleidet er sich beim Anblick des Propheten. Das ist der Grund dafür, dass die Versammlung sich geeinigt hat, um seine Vergebung zu erhalten. Die Haltung von Ibn al-ʿArabī erklärt die Situation von al-Ḥallāǧ gut. Der Gnostiker aus Murcia bekennt sich zu einem existentiellen
21 Vgl. tafsīr al-ǧalālain, Verse 3–5. 22 Kommentar des az-Zamaḫšarī (gest. 538/1144) zu Vers 5.
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Monismus: Das Sein ist Eines, und das ist Gott. Der Mensch, abstrahiert von Gott, ist Nichts. Aber es geht ganz anders beim „Freund Gottes“. Sein „Herr“ ist, wie Henri Corbin [1903–1978] schreibt, „personalisiert in einer personal eignen und ungeteilten Beziehung mit seinem Vasallen der Liebe […] Dieser Herr ist weder das nichtpersonale Selbst und noch weniger der Gott der dogmatischen Definitionen, die in sich existieren, ohne Beziehung zu mir, ohne von mir erprobt zu sein. Er ist derjenige, der sich selbst durch mich selbst kennt, d. h. in der Kenntnis selbst, die ich von ihm habe, denn das ist die Kenntnis, die er von mir hat: Nur mit ihm alleine, in dieser syzygischen Einheit, ist es möglich zu sagen du.“23 Nichts dieser Art findet sich bei al-Ḥallāǧ: Die Kenntnis, die Gott von sich selbst hat, ist für ihn ein Geheimnis. Wenn er sagt, Gott spreche durch ihn, denkt er nicht, er sei die Zunge, durch die Gott zu sich selbst spricht. „Kein Gedanke gerichtet an einen anderen als an dich kommt in mein Geheimnis; meine Zunge spricht nur von deiner Liebe“ (D. M, 64). Die Anrufungen von al-Ḥallāǧ kommen aus einem Herzen, das nur ein Geschöpf ist, das nichts zu Gott bringt als die Antwort auf seinen Ruf: Hier nun ich, hier nun ich; o du mein Geheimnis und meine Zuversicht! Hier nun ich, hier nun ich, o du mein Ziel und mein Sinn! Ich rufe dich an … nein, du bist es, der mich zu dir ruft. Wie hätte ich dich angerufen: „Du bist es“24, wenn du mir nicht eingeflüstert hättest: „Ich bin es“? O Wesen des Wesens meiner Existenz, o Ende meines Planes, o du, mein Sprechen, mein Aussagen, mein Stammeln! (D. Q, I) Wenn er sich Gott zuwendet, ist al-Ḥallāǧ ganz und gar al-Ḥallāǧ und nicht der Spiegel, in dem Gott sich erkennen kann; freilich verinnerlichte er sein „Ich“ in seinem Herzen, in seinem intimen Geheimnis (sirr), wo seine Personalität ihr Prinzip wiederfindet, den Akt des Schöpfers, der ihm Sein verleiht, rein aufgrund von Großzügigkeit, Wohlwollen,
23 Henri Corbin, L’imagination créatrice dans se soufisme d’Ibn Arabī, Paris 1958, 75 ff. 24 Anspielung auf die Sure al-Fātiḥa, Vers 5 (die einführende Sure des Koran, die während des rituellen Gebets rezitiert wird): „Dir dienen wir, dich rufen wir um Hilfe an.“
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Freigebigkeit. Aus diesem Innersten kann er bezeugen. Aber dieses Zeugnis bleibt das einer Transzendenz und eines Geheimnisses. Dieses „Ich“ des Geheimnisses, das alles Gott verdankt, für das Gott alles ist, ist nichts anderes als Gott, der gegenwärtig ist in ihm, der ihm zu sein schenkt – denn auf diesem Niveau, wem anderen kann man da begegnen als Gott? Aber zur gleichen Zeit übersteigt dieser Gott, der ganz das „Ich“ ist, es unendlich, denn er ist allein in seiner Einzigkeit: Er ist nicht das ganze „Ich“, weil er das Ganze ist, und er ist nicht das Ganze, weil er unvergleichlich mehr ist als das Ganze, indem er der Schöpfer von allem ist. So bezeugt ihn der Zeuge Gottes durch die Wahrheit, die in ihm sein Zeuge-Sein konstituiert; aber indem er das tut, bezeugt er ihn als den, der über sein Bezeugen hinausgeht, denn Gott lässt sich nicht einschließen in dieses Bezeugen. Riskieren wir Vergleiche: Ich kann zugunsten einer Person bezeugen, weil ich gesehen habe, dass sie diese oder jene gute Handlung vollzogen hat – ein äußeres Zeugnis, gegeben aufgrund einer objektiven Kenntnis; ich kann für sie bezeugen, weil ich ihr Freund bin, weil ich durch intime Überzeugung weiß, dass sie in diesen Umständen nicht schlecht gehandelt haben kann. Ich bezeuge, indem ich mich aufgrund einer Kenntnis des Herzens verbürge. Diese beiden Formen des Zeugnisses finden sich, wenn es sich um Gott handelt: Man ist Zeuge seines Werkes (das ist das Zeugnis, zu dem der Buchstabe des Koran aufruft), oder man ist Zeuge eines Lichtes im Herzen (das ist die mystische Verinnerlichung des Gesetzes). Aber es gibt für den Zeugen Gottes eine dritte Form des Zeugnisses, als ob der Freund, von dem wir im zweiten Beispiel gesprochen haben, nicht nur ein anderer wäre, mit dem man durch Freundschaft verbunden ist, sondern der Schöpfer dieser Freundschaft wäre und wie wenn man entdecken würde, dass man nicht existiert, es sei denn durch seine Freundschaft. Wenn man dann für ihn Zeugnis ablegt, legt man Zeugnis für sich selbst ab. Man bestätigt, dass es für ihn allein ist, dass man existiert, und dass er durch seine Existenz verleihende Freundschaft das Tiefste des Seins ist, das man empfangen hat. Man bezeugt also für sich – für das reelle und wahre „Ich“. Aber wer sieht nicht, dass man zur gleichen Zeit für etwas viel Größeres als für sich Zeugnis ablegt? So war es, wenn al-Ḥallāǧ Gott bezeugte. In ein und demselben Zeugnis legt er Zeugnis ab für sich und für die Transzendenz. So ist es gut, bevor wir die Erklärungen untersuchen, in denen al-Ḥallāǧ sagt, dass er nur noch eins sei mit Gott, uns zunächst bei all
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den Äußerungen aufzuhalten, wo er die Transzendenz durchscheinen lässt. „O Geheimnis meines Geheimnisses! Du hältst dich so zurück, dass du der Konzeption jedes lebendigen Geschöpfes entgehst. Gleichzeitig offenbar und verborgen, durchleuchtest du jedes Ding für jedes Ding“ (D. M, 68). Geheimnis meines Geheimnisses: Das ist der poetisch kondensierte Ausdruck der Theorie vom „Ich“. Das Geheimnis ist das Ich des Menschen, zurückgeführt auf jenen Punkt, wo Gott es zu sein erschafft. Und das Geheimnis meines Geheimnisses ist mein Schöpfer. Die gewählten Ausdrücke weisen in vollkommener Art auf die enge Einheit der Geheimnisse im Vertrauen auf die Schöpfung hin, die Transzendenz des Schöpfers, so dass kein Lebender sich es in der Idee, die er sich von ihm möglicherweise machen möchte, aneignen kann. Hier kommt nun die wesentliche Entdeckung zum Vorschein: Durch diese Transzendenz, die er durch die konstante Beziehung des „Offenbaren“ und des „Verborgenen“ der göttlichen Handlung bezeugt, kommt al-Ḥallāǧ dazu, eine geheimnisvolle und unerschöpfliche Großzügigkeit zu bezeugen, die sich nicht damit begnügt, ihn allein zu verklären, sondern die auch alle anderen verklärt. Im Namen dieser transzendenten Großzügigkeit muss er also für alle Menschen Zeugnis ablegen, und er kann es, weil auch sie im Sein, das sie erhalten, Geschenke der überbordenden wohltuenden Gnade Gottes sind. Geführt vom Gesetz ist er zu dieser schöpferischen Wahrheit gelangt, die dem Menschen den Koran gegeben hat, um sie zu diesem Gesetz zu führen; aber diese Offenbarung ist ihnen nur gesandt worden, weil sie zunächst geschaffen worden sind. Die ausschließliche Fürbitte für die Gläubigen der muslimischen Gemeinschaft verschließt sich im Gesetz. Nun ist aber das Gesetz nicht für sich selbst geschaffen worden, es ist eine Leitung (hudā) auf dem geraden Weg, der zu Gott führt. Wenn man durch das Gesetz zu ihm zurückkommt, dann ist es nicht Gott, der Offenbarer, den man findet, sondern – denn man ist ja nicht mehr auf dem Weg, man ist am Ziel, wohin man geführt wurde (ihtidāʾ) – man findet Gott den Schöpfer und Existenzgeber aller Seienden, aller Menschen. Dies ist der Grund, warum al-Ḥallāǧ verkünden konnte, dass er sich nicht mehr um die verschiedenen religiösen Bekenntnisse kümmere; er spricht ihnen nicht ihren Wert ab und verfällt nicht in einen Synkretismus, der sie alle auf die gleiche Ebene stellen würde. Er bleibt Muslim dort, wo er ein Gesetz braucht: am Beginn und auf dem Weg – aber es handelt sich bei Menschen nun
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nicht mehr um Gläubige und Ungläubige. Es handelt sich um alle Geschöpfe, weil man sich auf dem Niveau des Aktes des Schöpfers befindet. Der Koran hat alle Menschen aufgerufen, sich als Geschöpfe zu bekennen; die einen haben gehört, die anderen nicht. Belohnungen und Strafen sind verkündet worden: Versprechen und Drohungen unterstreichen nur die Bedeutung des Aufrufs. Die Befehle sind bestimmt, die Gläubigen in einen reinen Gehorsam einzuüben, in eine Nüchternheit vollkommener Demut vor Gott. Das ist der Weg, auf dem der Koran führt. Al-Ḥallāǧ ist ihn gegangen und hat für sich das Versprechen erfüllt gesehen, am Ende aller Schwierigkeiten der Etappen. Aber von jetzt an verwandelt sich das Universum. Ein anderer Text unterstreicht die schöpferische Großzügigkeit Gottes in einer Perspektive der Transzendenz: „Das Licht deines Angesichts bleibt ein Geheimnis, wenn man es anblickt; es ist die unverdiente und barmherzige Großzügigkeit“ (D. M, 54). Und es will uns scheinen, dass die gesamte Lehre, die wir zu erklären versucht haben, in dieser folgenden muqaṭṭʿa enthalten ist, deren jeden Begriff man in Bezug auf das vorher Gesagte abwägen könnte. Die wohltuende Gnade ist etwas, das sich wie ein Geheimnis darstellt. Sie quillt hervor aus seiner Barmherzigkeit und scheint auf wie ein Blitz, der hervorbricht von den Rändern seiner Tugenden. Manchmal schaut er mich an, und manchmal schaue ich ihn an. Ihn, der sich, wenn er will, von oben herablässt von seinen Gipfeln über unsere Brüder. Dann erblickt man ihn, wie er von innen her, in seiner reinen Intention, hervorkommt aus einem Ozean, wo sich die konfessionellen Praktiken in Strömungen sammeln; und jedes Ding bezeugt, dass er das Ganze ist, und so bezeuge ich ihn, in seiner Wirklichkeit, ohne ihn in diesem oder jenem Tropfen seines Taus festzumachen. (D. M, 48)25
25 Massignon übersetzt den zweiten Teil des Verses 3 folgendermaßen: „Fließend wie ein Meer, das uns tränkt durch die konfessionellen Praktiken“. Aber die Worte ʿan faid scheinen eher ein Hervorquellen zu bezeichnen als das Fließen selbst, und tamwīh, Verbalnomen der zweiten Form, bedeutet „überschwemmen“ oder „eine große Menge Wasser beinhalten“. Die Bedeutung von „tränken“ kommt normalerweise der vierten Form dieser Wurzel zu.
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Wenn man also die Substanz dessen festhält, was Ibn al-ʿArabī berichtet, dann ist es nicht verwunderlich, dass al-Ḥallāǧ der dezidierten Meinung war, der Prophet habe für alle Menschen Fürbitte einlegen müssen, und dass es einen [legitimen] Platz dafür gibt, eine „Religion“ zu verkünden, die nicht bloß das Gesetz der Gemeinschaft der Gläubigen ist, sondern die die Wahrheit Gottes selbst in jedem menschlichen Geschöpf manifestiert. Wenn man also gründlich nachdenkt, dann wird man verstehen, dass sein Vorwurf, wenn es sich denn um einen Vorwurf handelt, nicht die Person des Propheten selbst betrifft, sondern diejenigen, die in ihm nur den Chef der religiösen Gemeinschaft sehen, den Prediger des Gesetzes, die Muhammads Rolle auf eine Würde unterhalb der Würde seiner Funktion als Gesandter begrenzt haben. Denn die prophetische Sendung besteht darin, die Menschen zu Gott zu rufen, sie an ihren Status als Geschöpfe zu erinnern. Das Gesetz, unter dem sich die Gemeinschaft konstituierte, war nichts anderes als ein Mittel, diesen Appell zu konkretisieren, d. h. diejenigen, die ihn hörten, von den Irrtümern und der Unwissenheit loszulösen, die ein Hindernis für die Rückkehr zum Prinzip allen Seins darstellen. Es ist normal, dass Muhammad für die Seinigen Fürbitte eingelegt hat, es ist normal in den Grenzen der materiellen Verkündigung des Gesetzes, das Belohnungen (waʿd) verspricht und Strafen (waʿīd) androht. Die Fürbitte Muhammads „betrifft nur diejenigen seiner Gemeinschaft, die schwere Sünden begangen haben, die aber dennoch das Gesetz befolgt haben und aufgrund seines Wortes an es geglaubt haben. Es vermittelt ihnen das geschaffene Paradies, nicht die verwandelnde Vision“ (P., 746 ff.). Al-Ḥallāǧ hatte zu aš-Šiblī gesagt: „Die Propheten haben Macht über die Gnaden erhalten, sie haben sie in ihrem Besitz, sie verfügen über sie (um sie zu verteilen), ohne dass die Gnade über sie verfügt (um sie zu verwandeln); was die anderen betrifft (die Heiligen), so haben die Gnaden Macht über sie erhalten, es sind die Gnaden, die über sie verfügen (und die sie verwandeln), und nicht sie, die über sie verfügen“ (P., 739). Aber wenn nun alle prophetischen Sendungen gleichwertig sind, weil alle darin bestehen, exklusiv und in totaler Aufrichtigkeit die Botschaft und das Gesetz zu übermitteln, dann verband sich al-Ḥallāǧ – und darin, sagt Louis Massignon, besteht seine Originalität – mit den verschiedenen Physiognomien der Propheten: mit Abraham, der über die Auferstehung meditierte, mit Mose vor dem brennenden Dornbusch, die Vision erbittend, und mit Muhammad hinsichtlich
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des miʿrāǧ 26. Dargestellt hat er sie „nicht als Typen zunehmender Heiligung, sondern als immer durchscheinender werdende einfache Figuren der Vision“ (P., 741, 2). Ein Typ wäre ein zur Nachahmung gegebenes Modell, Heiligkeit jedoch reproduziert sich nicht in dieser Weise. Eine Figur hat sicherlich einen exemplarischen Wert, aber sie ist letztlich ein dynamischer Wert: Man gleicht sich ihr an, man kopiert sie jedoch nicht. So bildet sich die „Physiognomie“ des Muhammad auf einen Weg hin, der, obwohl er mit dem Gesetz beginnt, doch besser den Endpunkt durchscheinen lässt, als es die Wege tun, auf denen sich andere Propheten engagiert haben. Mose verkündete Gott als Gesetzgeber, Muhammad verkündete ihn als Richter, doch seine Sendung führte ihn weiter. Al-Ḥallāǧ zeigt, […] dass Muhammad durch eine spezielle Gnade in seiner isrāʾ [Auffahrt in den Himmel] aufgehängt wurde am extremen Horizont des Geschaffenen 27 und dass sein Blick, für einen Augenblick abgewandt von den Geschöpfen (Ṭaw. II, 7), von Gabriel und selbst von der geschauten Form Adams, direkt in eine immense, alles Verstehen übersteigende Essenz fiel, von der er sich zugestehen musste, dass er sie nicht würdig loben konnte (Ṭaw. II, 8). Diese einfache und negative Vision reinigte seinen Glauben ein für alle Mal, schenkte ihm die sakīna28 , ohne ihn mit Gott zu vereinen, da es seine Sendung war, den Richter zu verkünden, der die Göttlich-
26 Es handelt sich um die Auffahrt des Propheten bis zum siebten Himmel. Der Koran ist nicht präzise in seinen Aussagen zum Thema. Aber er stellt den Kommentatoren die Elemente dieses Glaubens zur Verfügung. Die miʿrāǧ wird in Zusammenhang gebracht mit der isrāʾ, der Nachtreise: Muhammad wurde in einer Nacht von Mekka nach Jerusalem transportiert (Koran 17:1). 27 Das ist eine Interpretation der Verse 6–9 der Sure 53, bezeugt von ar-Rāzī in seinem Kommentar: „Der Engel Gabriel richtet sich auf in Majestät, während er (der Prophet) sich am oberen Horizont befand. Dann näherte er (der Prophet) sich, und er blieb aufgehängt in (einer Distanz von) wenigstens zwei Bogenlängen.“ Diese Interpretation wurde in der Übersetzung von Régis Blachère übernommen. Aber der größere Teil der Kommentatoren ist der Meinung, es handle sich in diesen Versen um den Engel, nicht um den Propheten. 28 Das ein Zustand der Ruhe, der bereit macht, die göttlichen Offenbarungen zu erhalten. Dieser Zustand ist nach al-Ḥallāǧ ein Präludium der intellektuellen Vision Gottes. „In Mose und in Muhammad ist den Gläubigen die abrahamische Berufung zur sakīna angezeigt, der Zugang des Verstandes zu der reinen Vision der göttlichen Essenz, die geistliche Präfiguration der Entblößung des Menschen in der mystischen Vereinigung“ (P., 742).
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II. Vom Gesetz zur Ekstase keit von den Geschöpfen isoliert, nicht den Geist, die die Menschheit mit Gott vereint. (P., 743 ff.)
Es gibt da einen dialektischen Rhythmus, auf den wir zurückkommen werden. Aber man sieht schon hier klar, dass die Sendung eines Propheten geistlich nicht darauf begrenzt ist, eine Botschaft zu vermitteln, selbst wenn es materiell gesprochen nichts anderes ist. Al-Ḥallāǧ ist in dieser Sache einer Meinung mit der sunnitischen Orthodoxie. Er glaubt nicht, dass der Prophet als solcher ein Licht erhalten hat, das seine Personalität verwandelt; aber er ist überzeugt von der persönlichen Rolle, die jeder Gesandte spielt, von seiner von Gott gewollten „Physiognomie“, die seine Botschaft auszeichnet. Und tatsächlich, wenn der Gehalt seiner Botschaft auch nur getreu wiederholt werden darf, so können der Sinn, die Ausrichtung und die Bedeutung dieser Botschaft nicht erfasst werden, es sei denn durch eine offenbarende „Figur“, die des Mannes Gottes, den Gott auserwählt hat, um die Kreaturen zu sich zu rufen. Es ist also gut, dass Muhammad für die Muslime betet, denen er das Gesetz übermittelt hat, damit sie sich der Belohnungen erfreuen, die denen versprochen sind, die sich diesem Gesetz unterworfen haben und es mit Demut und im Gehorsam beobachtet haben. Dennoch ist es alḤallāǧ erlaubt festzustellen, dass diese Fürsorge, obwohl sie legitim ist, nicht an die Höhe der Würde seiner Funktion reichte. Denn der Geist der Sendung Muhammads bestand darin, die Menschen zu rufen, ihr Nichts vor Gott anzuerkennen, während die Belohnung, die er für seine Gläubigen erbat, nichts als eine äußere, geschaffene Sanktion darstellte. Aber genauso, wie die materielle Übermittlung des Gesetzes ihn nicht daran hinderte, dieses mit dem Geist zu beleben, den er darstellte, so hinderte ihn sein Gebet für die gesetzestreuen Gläubigen nicht daran, Zeuge eines gereinigten Glaubens für alle zu sein. Nur, es war für die anderen sowie für ihn selbst schwierig, sein Zeugnis, das verpflichtend über das Gesetz gegeben werden musste, in seiner ganzen mystischen Reinheit zu erfassen. Es scheint, dass der Bericht von Ibn al-ʿArabī, wenn er uns etwas über al-Ḥallāǧ lehrt, nichts anderes bedeuten kann: Al-Ḥallāǧ hat Muhammad niemals verleugnet; nur dies: Er hat endgültig das Gesetz überschritten, und zwar genau nach dem Geist, den der Prophet darstellte. Und am Ende hat al-Ḥallāǧ darüber hinausgehend ein Geschenk
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der göttlichen Freigebigkeit empfangen, ein Geschenk, das nicht mehr eine Belohnung war, das nicht gebunden war an eine Observanz, sondern das ihn direkt umfing: das Geschenk, das Prinzip selbst seiner Existenz in dem ihn konstituierenden Akt des Schöpfers zu erkennen. Auf eine negative Vision dessen, wohin das durch die Figur des Propheten spiritualisierte Gesetz führte, folgte gemäß dieser Dialektik, auf die wir anspielten, eine positive Vision jenseits jeglichen Gesetzes, eine ekstatische und verwandelnde Union, eine Vision, die sich auf den universalen schöpferischen Akt der geheimnisvollen Freigebigkeit Gottes hin öffnete. Diese Vereinigung war zu intim, als dass er sich ihrer für sich allein hätte erfreuen können, besonderer Tropfen des göttlichen Roséweins Gottes. Er musste der Zeuge Gottes sein für alle, denn Gott ist das Ganze in allen. Dies konnte Ibn al-ʿArabī nicht verstehen. Es war so einfach, einen Fehler im Leben von al-Ḥallāǧ zu entdecken, so wie viele andere es getan haben. Die Idee einer zwillingshaften Doppeleinheit, sosehr diese sich gegen die Bemühungen der gewöhnlichen Einbildung auflehnt, lässt sich derart gut schematisieren und beschreiben im Vergleich zu der ḥallāǧischen Notion des Zeugen, die nur aus clair-obscur gemacht ist und deren Züge man nicht fixieren kann. Die großen psycho-kosmologischen Fresken der Gnostik sind so anziehend, verglichen mit der schwer zu fassenden Freiheit der gelebten Erfahrung eines al-Ḥallāǧ. Es bedurfte der ganzen Finesse der Intuition eines Louis Massignon, seiner langen, geduldigen und scharfsinnigen Meditation, des Reichtums seiner religiösen Sensibilität, um das wahre Gesicht von al-Ḥallāǧ wiederherzustellen und ihn von den Karikaturen zu befreien, die treulose Schüler von ihm angefertigt hatten. Diese waren oft wohlmeinende, manchmal gar ehrliche Bewunderer, aber dennoch unfähig, ihn zu verstehen. Al-Ḥallāǧ bricht also als Zeuge des göttlichen Wesens, erfasst als schöpferische Wahrheit, in weit entfernte Länder auf, wendet sich hin zu einem Orient, wo Gott der Orient des Orients ist, in der gleichen Weise wie im Diesseits. Gott ist das Wesen seines Wesens, das Geheimnis seines Geheimnisses; er bricht auf, erleuchtet von einem verwandelnden und vereinigenden Licht, das ihn in jedem Seienden die Erscheinung des schöpferischen Aktes selbst sehen lässt; er bricht auf, um zu verkünden: Gott ist das Ganze aller Seienden, und er gibt jedem Anteil an sich selbst.
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II. Vom Gesetz zur Ekstase Für die Funken des religiösen Lichtes gibt es innerhalb der Schöpfung Herde; und für das göttliche Geheimnis bewahren sich im Innersten der diskreten Herzen jungfräuliche Gewissen. Und damit sie existieren, wohnt am Grund der Seienden das Sein des Gebers der Existenz, der sich mein Herz reserviert hat, es anweist und erwählt. (D. M, 22)
Und hier nun das Gedicht, in dem unseres Erachtens das Denken von al-Ḥallāǧ in seiner ganzen Fülle aufleuchtet: Ich habe mich gefragt: Wie könnte mein Gesamt meinen Anteil tragen; er ist so schwer; die Erde könnte mich nicht mehr tragen. Ah! Sollte er sich über die ganze Weite der Schöpfung ausstrecken, um sich auszuruhen, mein Anteil, mit der ganzen Weite der Schöpfung, würde gehalten bleiben in meiner Umarmung. (D. M, 33) Bringt al-Ḥallāǧ nicht hinter dem Anschein eines Wortspiels die umarmende Durchdringung mit Gott zum Ausdruck, wenn er sagt: „Siehe, mein Teil hat sich gebunden an den Anteil meines Teils, und mein Gesamt hat sich gesehnt nach dem Ganzen meines Ganzen“ (D. M, 46)? Es ist also dies, was er predigt, woraus er die Kraft zu predigen schöpfte. Nichtsdestoweniger bleibt die vorher gestellte Frage: Wenn al-Ḥallāǧ für sich selbst der Illusion entgangen ist zu glauben, dass er Gott durch Gott verkünde, während er eigentlich nur von sich selbst sprach, konnte er dann durch dieses Wort seine Hörer berühren? Er war Theologe und Philosoph, und die Worte, deren er sich bediente, waren von einer grundlegenden Ambiguität gezeichnet: Behielten sie einfach die technische Bedeutung der intellektuellen Spekulation oder sollten sie, über diese Bedeutung hinaus, das Denken an unaussprechliche Wahrheiten erwecken? Eine Hörerschaft führt das, was sie hört, immer zurück auf ihr bekannte Schemata, selbst wenn die Botschaft, die man an sie richtet, sich nicht schematisieren lässt. Aus diesem Grund hat sich die gnostische Interpretation der ḥallāǧischen Erfahrung so leicht verbreitet. Selten übersteigt das Vulgäre die Ebene der materiellen Bilder; die kultivierten Menschen wiederum überschreiten selten die Ebene der Ideen. Sie träumen von ihnen, statt sich ihrer als Sprungbrett dafür zu bedienen, um sich in das Unbekannte des mystischen Abenteuers hochzuschwingen. Dass al-Ḥallāǧ nicht verstanden wurde, weiß man. Er selbst
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litt darunter, und er verlangte, dass zumindest ein Versuch zu verstehen gemacht werde: „O ihr Unbekümmerten, die ihr mein Anliegen nicht kennt, werdet ihr verstehen, wer ich bin und was ich darlege?“ (D. M, 58). Aber darüber hinaus gilt: Muhammad, der Prophet, hatte nur zu predigen und zu bezeugen, das Übrige lag nicht im Bereich seiner Verantwortung, denn sonst hätte er genau genommen gesprochen, um verstanden zu werden; er hätte dann die Menschen mit einer persönlichen Intention zu Gott gerufen. Die Menschen verstehen nicht – er hat es selbst gesagt –, es sei denn, das „Prinzip“ geht zu ihnen. Der Prophet konnte noch an seine Gemeinschaft denken. Al-Ḥallāǧ hatte nichts, solange er sich nicht in Gott einsam gemacht hatte. Er hatte sich nicht um eine menschliche Gesellschaft zu kümmern. Mit ihren Strukturen wäre sie nichts als ein Gefängnis für ihn gewesen. Einzig und allein wichtig war ihm ein wirklich reales Universale, das Gesamt der Menschheit, die ein Gesetz nicht empfangen kann, weil ihre Wirklichkeit nicht sozial, sondern ontologisch ist; sie besteht in der Totalität des schöpferischen Handelns. Man denkt vielleicht, al-Ḥallāǧs missionarische Reisen durch die Welt seien möglicherweise nur eines der Gesichter seines mystischen Lebens gewesen. Ja, er erfuhr durch das Erleben der physischen Erschöpfung, dass sich sein Körper auf die belebende Kraft des Schöpfers reduzierte, der ihm das Leben schenkte. Aber schließlich plant man eine Reise, organisiert sie, man muss Maßnahmen und Entscheidungen treffen, zu denen individuelle Initiative gehört. Außerdem verlangte alḤallāǧ brennend danach aufzubrechen, um die Wahrheit zu verkünden, und wenn sein Wunsch im Wesen mystisch war, musste er sich dennoch herablassen bis zum konkreten Willen, ihn zu realisieren. Wir geben gerne zu, dass diese Aktivität der Predigt und der Mission in fernen Ländern, was immer ihre mystische Inspiration war, nicht in perfekter Weise das Zeugnis verwirklichen konnte, das al-Ḥallāǧ zu geben begnadet war. Aber es stellte doch auch nicht ein Scheitern dar, noch eine sinnlose Episode, einen irregeleiteten Versuch. Al-Ḥallāǧ ist auf einem geraden Weg gegangen, bis zu seinem Ende, was bei ihm das Bewusstsein impliziert, dass er diesen Weg zu verfolgen hatte, solange er noch nicht am Ziel angelangt war. Keine Unvollkommenheit entgeht seiner Wachsamkeit: „Ich war eingetaucht in die Gnade der Liebe mit einer äußersten Freude, und siehe, hier bin ich geschlagen mit der Bestrafung für diese exzessive Freude“ (D. Y, 4). Worauf und auf welche
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Periode seines Lebens bezieht sich dieses Geständnis? Es ist schwer zu sagen. Aber man kann denken, dass diese äußerste Freude (baṭar) recht gut passt zur Leidenschaftlichkeit seines Seelenzustands, als er vom Verlangen brannte, die Wahrheit Gottes zu verkünden. Das Wort baṭar ist sehr stark, denn es kann Respektlosigkeit, ja Mangel an Respekt für Gott bezeichnen. Hatte al-Ḥallāǧ etwa gespürt, dass sein Enthusiasmus noch zu viele persönliche Harmonisierungen enthielt? Das Erstaunlichste ist, dass er von einer Bestrafung redete, genau wie die, die ohne Verstehen von Bestrafung sprachen, um seine Hinrichtung zu rechtfertigen. Aber es kann sich hier nicht um seine Hinrichtung handeln, weil er sagte, dass er die Strafe schon erleidet. Im Übrigen konnte al-Ḥallāǧ das hier von ihm verwendete Wort für Strafe (ʿuqūba) nicht im Sinne einer Strafe für einen Fehler verstehen: In diesem Fall befände er sich noch auf der Ebene des Gesetzes, die er doch überschritten hat. Dank einer Logik der mystischen Erfahrung, die also persönlicher Natur war, ist er gereinigt worden durch eine Bestrafung, die Leiden bedeutet. „Das Leiden, sagte er, ist Er selbst, während das Glück von Ihm kommt“ (P., 622). Die Belohnung ist immer eine äußere, während die Bestrafung eine Gnade der Liebe sein kann. „Ich verlange nach dir, nicht dass ich nach dir verlange um der Belohnung willen, sondern ich verlange nach dir um der Bestrafung willen (ʿaqāb)“ (D. M, 7). Wir können also zugeben, dass al-Ḥallāǧ sich niemals vorgemacht hat, seine Reisen in die Ferne hätten ihm gezeigt, dass es noch mehr zu tun gab und er es auf andere Weise zu tun habe, als er es schon getan hatte. Wir haben eine klare Spur dieses Fortschritts in der von seinem Sohn verfassten Biographie: Die Erzählungen über ihn mehrten sich nach seiner Rückkehr von dieser Reise. Dann brach er wieder auf, machte die Pilgerschaft (nach Mekka) zum dritten Mal und blieb zwei Jahre lang dort zu geistlichen Übungen. Dann kehrte er zurück, sehr verändert im Vergleich zu dem, der er vorher gewesen war; er erwarb eine Immobilie in Bagdad und baute sich ein Haus. Er begann damit in der Öffentlichkeit eine Lehre zu predigen, die ich nur zur Hälfte kenne. (P., 459) Dieser Bericht ist ganz äußerlich und recht naiv. Aber deshalb ist er nicht weniger wertvoll. Analysieren wir ihn: Hamd, der Sohn von alḤallāǧ, spricht von einer Veränderung, ohne jede weitere Präzisierung.
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Aber er weist auf eine Tatsache hin, die von großer Bedeutung ist: Zurückgekehrt von seinen Reisen, verbrachte der mystische Missionar zwei Jahre mit religiösen Übungen, dann ließ er sich in Bagdad nieder. Zu dieser Zeit war die Rede von einer „Lehre“, die er verkünden wird, während von dieser vorher nichts berichtet wurde. Kurz gesagt, von außen her gesehen gibt es eine Veränderung. Aber was weiß man vom Inhalt seiner ersten Predigten? Ihre Themen sind auf bewahrt in den riwāyāt29. Diese Bezeichnung ist ein Terminus technicus, der die traditionellen, von Erzählern überlieferten Berichte bezeichnet. Diese Traditionen (ḥadīṯ) betrafen die Regeln der praktischen Frömmigkeit und waren schon fast alle von den ahl al-ḥadīṯ akzeptiert. Bei al-Ḥallāǧ jedoch bilden sie eine Kategorie, die Louis Massignon mit Sorgfalt darstellte. Zunächst sind sie „ausgewählt und gruppiert gemäß den Hinweisen auf die göttlichen Berührungen (ḥālāt: die Zustände), zu deren ,Verkosten‘ ihn seine persönlichen Meditationen, sein Leben der Askese und des Gebets geführt hatten“ (P., 64). Sie beschreiben also Zustände des Herzens und erreichen noch nicht das Niveau des intimen Geheimnisses. Der Ratschlag, den sie geben, geht hervor aus dem göttlichen Licht in der „Nische“ des Herzens. Die Zustände des Herzens entsprechen der Spiritualisierung und der Verinnerlichung der Riten des Gesetzes; so wird der Ritus „ein heiligender Ritus, der den Gläubigen durch seine Ausführung mit dem speziellen Willen Gottes vereint, den er erfüllt“ (P., 65). Ferner werden diese Traditionen nicht in der normalen Weise dargestellt; statt durch die Aufzählung aller Überlieferer (die Kette, die man mit silsila bezeichnet) eingeführt zu werden, stützen sie sich (isnād) auf eine Hierarchie von „koranischen Symbolen, von traditionellen theologischen Begriffen, die für al-Ḥallāǧ die Stufen darstellen, durch die man aufsteigt zurück zur präexistenten Idee im göttlichen Wesen, die von Ewigkeit her in Gott der Typus dieser Devotion des geoffenbarten Kultes war“ (ebd.). So zum Beispiel der isnād der riwāya 6: „Beim sich als wahr erwiesenen Glauben, bei der erlangten Gewissheit, beim absoluten Wissen …“; der isnād der riwāya 9: „Beim von Gott zugelassenen Intellekt, beim Intellekt, der von Gott zugelassen wurde,
29 Vgl. deren Übersetzung in Massignon, P., 893 ff.
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beim letzten Dornenstrauch 30, beim ewigen Leben, beim undurchdringlichen Geist …“; der der riwāya 10: „Beim Haus Gottes, beim Bogen Gottes31, bei dem immensen Raum, wo Gott residiert …“ Dieser Typ von isnād „ist nicht das wohl kaum zu verifizierende Zeugnis einer Reihe von Menschen, die allein die Kraft ihres Erinnerungsvermögens empfiehlt und die gestorben sind; es ist das Zeugnis von Geschöpfen, die noch subsistieren, erkennbar und sichtbar für alle: wie ,die Wüste beim Morgenrot, der schnelle Blitz, das Grün der Pflanzen, die Farben der Blumen‘ (R. 8; 11; 16); oder die nur den Gläubigen zugänglichen Geheimnisse, wie ,die fiṭra, der große kérub, die wohlverwahrte Tafel‘ (R. 4; 7)“ (P., 65 ff.).32 Die Form all dieser isnād erinnert im Übrigen an den Beginn mehrerer Suren des Koran: „Beim hellen Morgen und bei der Nacht, wenn sie still ist!“ (Koran 93:1 f.). „Bei der Sonne und ihrem Morgenlicht, beim Mond, wenn er ihr folgt, beim Tage, wenn er sie erstrahlen lässt …“ (91:1–3). Diese Formeln des Eides und der Bezeugung lassen fast immer erschaffene, materielle Seiende intervenieren. Man findet auch „bei einer Seele und dem, der sie gestaltete“ (91:7), und „beim Schreibrohr und was sie schreiben (die Engel)“, was eine Anspielung auf die wohlverwahrte Tafel (68:1) ist und den Anrufungen von allego-
30 Anspielung auf Koran 53:13 ff.: „Ja, er (Muhammad) erschaute ihn zum anderen Male auch, am anderen Ende, bei dem Dornenstrauch, dort, wo der Zufluchtsgarten liegt versteckt, als den Dornenstrauch bedeckte, was ihn bedeckt.“ Unsere Übersetzung folgt den Kommentaren: Der Dornenstrauch ist ein wundersamer Baum, der am Ende des siebten Himmels wächst. Al-Maʾwā, „der Zufluchtsort“, ist ein Garten des Paradieses. Der Dornenstrauch ist bedeckt mit dem Thron Gottes oder von den Seraphinen. Für die wörtliche Wiedergabe der Texte und die entsprechenden Anmerkungen vgl. die Übersetzung von Blachère, II, 84 ff. 31 Der Bogen am Himmel, der vor der Vernichtung bewahrt, oder – am wahrscheinlichsten – der Bogen, von dem beim miʿrāǧ (vgl. oben) die Rede ist im Hinblick auf die beiden Spannweiten des Bogens. Es handelt sich hier um eine Anspielung auf die Grenze, auf die Muhammad bei seiner Himmelsreise gestoßen ist. Massignon gibt an dieser Stelle eine sehr technische Erklärung, auf die wir nur verweisen: P., 851–853 und Tafel XXV. 32 Die fiṭra (Koran 18:30: „Und richte nun dein Antlitz auf die Religion […] als göttliche Begabung, fiṭra, mit welcher er die Menschen schuf“) ist ein in den Verstand aller Menschen eingeprägtes, hineingedrucktes Zeichen, das sie dem Monotheismus unterwirft. Der große kérub ist Isrāf īl, der am Tag der Auferstehung die kleine Trompete bläst. Die Traditionen sehen Isrāf īl damit beauftragt, die wohlbehütete Tafel zu überwachen (Koran 85:21), auf der das Original des Koran bei Gott erhalten ist.
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rischen Seienden der riwāyāt von al-Ḥallāǧ ähnelt. Aber einerseits richtet al-Ḥallāǧ viel öfter einen Appell an spirituelle und symbolische Seiende, andererseits sind die spürbaren Realitäten, die er zum Zeugnis anruft, für ihn nicht einfach äußere Zeichen der Existenz und der Macht Gottes. Im Unterschied zum Koran, der sie nebeneinanderstellt, ordnet sie al-Ḥallāǧ zu einer Hierarchie, die aus dem Spürbaren herausfällt und in die spirituelle Welt eintritt, um schließlich zum Geheimnis Gottes zu gelangen. Auch ist der bezeichnende Wert der sinnbegabten Geschöpfe Grundlage dieser aufsteigenden Hierarchien, nicht mehr die eines Zeichens an den Verstand, damit er die Beziehung mit dem Bezeichneten herstelle. Dieser Wert ist wie das Echo eines Appells, der das Ohr, das Denken, das Herz und das ganze Wesen hin zur Quelle dieses Anrufs zieht. Das sinnliche Bild wird das bezeugende Zeichen, von dem wir sprachen. Siehe riwāya 13: „Beim funkelnden Rubin, beim Licht, das zur Gärung bringt, bei der Form, die existieren lässt, bei der bezeugten göttlichen Herrlichkeit. Gott sagt: Ich bin der Mitleidende, ich bin der Wohltäter, ich bin der Freund für meine Diener. Und wer ist mein Diener? Es ist der, der gelobt ist in meinem Andenken, meinem Namen und meiner Liebe.“ Al-Ḥallāǧ ruft zunächst ein Aufleuchten hervor, das alles um ihn herum auslöscht, das die Augen anzieht, indem es sie von jeglicher anderer Erwägung löst. Einmal lässt er diese Irradiation als aktiv verstehen, dann als schöpferisch, um in ihr schließlich die göttliche Herrlichkeit erscheinen zu lassen, die da ist „der höchste Geist, der Akt Gottes“ (P., 897, Anm. 5). Dank dieses dynamischen Engagements in der Bewegung des isnād also kann man den lebendigen Sinn des hadīṯ verstehen, der darauf folgt. Gott erklärt, dass er der Mitleidende und der Wohltäter ist; dies ist koranisch. Aber er ist auch der Freund seines Dieners; der Äußerlichkeit des Mitleids und des Wohltuns folgt die Innerlichkeit der Freundschaft, die sie beide begründet und ihnen die Dynamik verleiht, dank derer sie sich selbst offenbaren in der schöpferischen Macht des Seins und des Wertes, die beide wesentlich konstituieren. So ist die Lehre des Koran transfiguriert, und das, was sein reales Prinzip ausmacht, ist von jetzt an offenbar. Das ist der Grund, warum der Diener Gottes sich nicht länger aufgrund der Tugend des Gesetzes darstellt, wie derjenige, der sich unterwirft, gehorcht und das Kultgesetz erfüllt, d. h. im Hinblick auf eine Aktion, die absolut konform ist mit den koranischen Vorschriften, aber nichtsdestoweniger stets angebunden an den, der handelt; stattdessen wird der Diener Got-
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tes dargestellt als derjenige, der von Gott im Andenken, im göttlichen Namen und in der göttlichen Liebe von Gott gelobt wird, ohne dass in der Definition dieses Menschen irgendetwas oder irgendeiner interveniert außer Gott selbst. Gott ist wirklich das einzige Zentrum unter den Themen der riwāyāt. Man sieht es in den Texten dieser hadīṯe. Al-Ḥallāǧ spricht noch manchmal von Gott in der dritten Person, wie es sich im Koran findet. Vom koranischen Wir im Sinn des Pluralis Majestatis findet sich in den riwāyāt keine Spur mehr, außer einem Mal, in einem eigenartigen Zusammenhang, wo man dieses Wir des souveränen Richters verschwinden sieht vor dem Ich des Königs, der sein Königreich in sich vereint: „Gott sagt: Wir werden am Tag der Auferstehung zeigen, dass ich, ich der König der Könige bin; an dem Tag, an dem dann alle Tage derer, die verstorben sind, wiederkommen werden“ (R. 12). Besser konnte al-Ḥallāǧ nicht zeigen, wie sehr seine Verkündigung sich davor hütete, die Verkündigung eines Gesetzes zu sein. Er stellte sich nicht als einen neuen Propheten dar; wenn er über Muhammad hinausging, dann geschah dies nicht in der Ordnung des Gesetzes, es gehörte zur Ordnung der Vision. Er predigte die Dankbarkeit gegenüber der einmaligen Personalität Gottes, über die negative Offenbarung hinaus, die die Prophetie von dieser Einzigartigkeit brachte: „Es gibt keine Gottheit außer Gott“ und „Es gibt nichts, das ihm gleichen würde“. Wir berühren hier genau den Punkt, an dem al-Ḥallāǧ sowohl über das Gesetz als auch über den Propheten hinausgeht. Er verbot seinen Schülern, ihre Zeit mit der Rezitation oder der Meditation der šahāda, dem bekannten Bekenntnis des muslimischen Glaubens (lā ilāha illā llāh …), zu vergeuden. Gott allein kann uns die wirkliche šahāda aussprechen lassen, indem er uns dazu führt, uns des Geheimnisses seiner Einheit bewusst zu werden, im Vollzug seines Aktes selbst, indem er uns zunächst in unserem Herzen unser Ich verneinen lässt, um es uns daraufhin behaupten zu lassen, er selbst durch seine Gegenwart. Die Ekstase zeigt uns übrigens, dass die šahāda nicht mehr ist als ein vorgehängter Schleier […], er fällt mit dem Gesetz, wenn die Gnade kommt, die die Vereinigung vollzieht. Al-Ḥallāǧ verurteilt die kriminelle Illusion gewisser Leute, die sich vorstellen, dass sie durch die Rezitation der šahāda wirklich bezeugen, dass Gott einmalig ist,
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was bedeutet: sich selbst Gott beigesellen. Denn sich vorzustellen, dass man Gott „vereint“33, heißt, sein eigenes Ich zu bestätigen; und sein eigenes Ich zu bestätigen bedeutet implizit, ein Beigeseller (mušrik) zu werden. Die Wahrheit ist, dass Gott sich selbst als Einer verkündet durch die Zunge derer seiner Kreaturen, die er selbst erwählt. Gott allein kann sich einmalig machen. (P., 787 ff.) Das genau ist es, was die riwāyāt bezeugen. Gott spricht in ihnen in der ersten Person: Ich, ich bin mit meinem Diener, wenn er meiner allein gedenkt und wenn er über meine Größe, meine Macht, meine Milde und meine Barmherzigkeit meditiert. Ich, ich bin dem Angsterfüllten nahe; ruft er mich an, so erhöre ich ihn, wenn er an mich glaubt. Und ich, ich bin mit dem Waisenkind, wenn ich ihm seine Mutter und seinen Vater wegnehme, bis es groß geworden ist. Ich, ich habe ein Königreich für den, der sich meiner Herrlichkeit, meiner Macht, meiner Gewalt und meiner Größe erinnert, und ich, ich bin nahe dem Herzen derer, die mich lieben; wenn sie meine Perspektive einnehmen, dann nehme ich ihre Perspektive ein … (R. 2) Wenn man diesem Text eine abstrakte, allein für die Intelligenz relevante Belehrung entnehmen wollte, dann würde sie kaum mehr bedeuten, als was der Koran sagt. Man findet in ihr, wie im Koran, das „Andenken“ an Gott, an seine Macht, seine Barmherzigkeit und andere göttliche Attribute, die Sorge für die Waisen. (Aber es wird nicht vorgeschrieben, gerecht mit ihnen zu sein, es ist Gott selbst, der verkündet, dass er sie unterhält.) Das gilt ohne Einschränkung, bis ans Ende des ḥadīṯ, wo die Personalität Gottes in Liebe ausbricht und so den koranischen Rahmen sprengt. Was diesen hadīṯ von Anfang bis Ende auszeichnet und ihn so von den geoffenbarten Versen unterscheidet, ist der persönliche Ton des durch den Ekstatiker vermittelten Wortes Gottes. Aber ist es Gott, der spricht, oder al-Ḥallāǧ? Der Prophet wiederholte 33 Diese Illusion hat eine grammatikalische Begründung: Das Wort tauḥīd, das die Einzigkeit und die Verkündigung der Einzigartigkeit Gottes bezeichnet, ist ein Verbalnomen der 2. Form im faktitiven Sinn des Verbums waḥḥada (einzigartig machen).
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jeweils, rezitierte das ihm vom Engel diktierte Wort. Hier jedoch ist es, wie wir schon gesehen haben, Gott, der durch al-Ḥallāǧ spricht, den er erwählt und zu sich erhoben hat als Zeugen. Aber zweifellos verblieben in al-Ḥallāǧ einige Schatten seiner Personalität, wie er in einem Gedicht bekannt hat: Ein Geheimnis ist dir gezeigt worden, das dir seit langem verborgen war; eine Morgenröte bricht an, während du dich noch im Schatten befindest. Du bist es, der deinem Herzen das Innerste deines Geheimnisses verschleiert. Du allein bist der Grund dafür, dass dein Herz versiegelt ist. (D. M, 52) Man darf annehmen, dass die Pilgerfahrt nach Mekka und der zweijährige Aufenthalt in tiefer Zurückgezogenheit in der Heiligen Stadt ihm halfen, die vollkommene Reinigung zu erlangen. In seinem Gebet, das er bei seiner „Abschiedswallfahrt“ vor den versammelten Pilgern verrichtete, sagte er: O du Führer der Verirrten! Herrlicher König! Ich erkenne dich an als den Transzendenten; ich sage dir über alle Verherrlichungen, die dir dargebracht worden sind, hinaus: „Ehre sei dir!“, über allen Proklamationen deiner Einheit mit den Worten: „Es gibt keine Gottheit außer Gott!“, über allen Begriffen derer, die über dich nachgedacht haben. O mein Gott! Du weißt, dass ich nicht fähig bin, dir so zu danken, wie es dir gebührt. Komm also in mich, damit du selbst dir dankst, sieh, dies ist die wirkliche Danksagung. Es gibt keine andere.34 Dieses Gebet definiert schon die Liebe, die sich von jetzt an öffnen wird wie die Blume der Erkenntnis des göttlichen Wesens selbst. „Die Liebe, sagte al-Ḥallāǧ, sie besteht darin, dass du aufrecht stehen bleibst bei deinem Geliebten, wenn du seiner Qualitäten beraubt sein wirst; dann nämlich kommt die Qualifikation von seiner Qualifikation“ (P., 476). Hier stellt sich das Problem der Beziehung zwischen der Liebe und der Erkenntnis. Al-Ḥallāǧ ist nicht der Theorie der reinen Liebe gefolgt, die 34 Louis Massignon, The Passion of al-Hallāj, Mystic and Martyr of Islam. Translated by Herbert Mason. Vol. 1: The Life of al-Hallāj, Princeton 1982, 221–223.
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die Lehre des an-Nūrī andeutete. Er hatte verstanden, dass im mystischen Leben die Liebe ohne Erkenntnis und Wissen schnell in eine persönliche Genugtuung verfällt und eine Art Verletzung Gottes wird, denn man begnügt sich schließlich mit dem, was man in sich erfährt. Die Liebe allein lässt nicht eine Realität erfassen; sie erfasst nichts als sich selbst und genügt nicht dem grundlegenden Anspruch des mystischen Lebens. Man muss also auf das Wissen zurückgreifen. Aber das Wissen ist verschiedenartig. Ob es sich nun stützt auf die Sinne oder auf die Ideen, auf die Autorität der Offenbarung und der prophetischen Traditionen oder auf das freie Spiel der Reflexion, es kann von seinen Methoden her nur die Existenz eines Schöpfergottes anzeigen und dabei negieren, dass die Zweitursachen, die ja einfache Geschöpfe sind, auch nur den geringsten Anteil am Werk der Schöpfung haben. Nichtsdestoweniger gibt es ein höheres Wissen über all dies hinaus, das nach einem rein übernatürlichen Weg verläuft und das zum göttlichen Geheimnis kommen lässt. Es ist das, was der Koran „das Wissen bei uns“35 nennt. Al-Ḥallāǧ hat dieses Wissen tief meditiert, als er die Äußerlichkeit der dem Koran entstammenden Wissenschaften überstieg. Der Mensch kann sich dieses Wissen weder durch intellektuelle Anstrengung noch durch Askese aneignen; er muss es empfangen. Aber was ist es? Es ist nicht das Wissen, das Gott von seinen Geschöpfen als Geschöpfen hat. „Derjenige, der sagt: ,Wie er mich kennt, so kenne ich ihn‘, der spielt auf das Wissen (das Gott von den Geschöpfen hat) an und nimmt Bezug auf seinen ursprünglichen Plan (als Schöpfer); dieser ursprüngliche Plan bewegt sich außerhalb des Wesens; aber wie kann, was das Wesen verlässt, das Wesen erreichen?“ (Ṭaw. XI, 10). Diese „science de chez Nous“, so wie sie Louis Massignon definiert, ist „das finale Wissen, das uns das einfache Verstehen der realen Beziehungen zwischen den vergänglichen Dingen genau im Augenblick ihrer Realisierung gibt, es ist ihre göttliche Begründung, indem es uns dauernd, durch das Geflecht der Ereignisse hindurch, mit dem Plan Gottes verbindet, durch eine Teilnahme an seinem wesentlichen Leben. Dieses Wissen ist einzigartig, es kommt hervor aus der göttlichen Einheit selbst, es ist das einfache Prinzip jeglicher Determination.“ Es ist, sagt er ferner, „eine liebe35 Koran 28:64. Korrekt wohl Vers 78: ʿalā ʿilmin ʿindī. Die angegebene Koranstelle scheint ungenau zu sein. Ich finde auch: al-ʿilm ʿinda llāh (67:26), ʿindahu ʿilm al-ġaib (53:35).
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volle, erfahrene Weisheit, deren erste Wirkung es ist, dass sich in uns das ,fiat‘ Gottes formt“ (P., 542). Dieses Wissen „de chez Nous“ hatte al-Ḥallāǧ erfasst und empfangen, als er zu seinen missionarischen Reisen auf brach, aber es hatte sich, so scheint es, noch nicht vollkommen in Liebe entwickelt. Das Unverständnis derer, die er ansprach, ob Feinde oder gar Freunde, der Tratsch, die törichten Legenden und schließlich die schändlichen Verleumdungen, die sowohl sein asketisches Verhalten wie seine Predigten hervorriefen, all dies, was für einen anderen das äußere Zeichen eines Scheiterns gewesen wäre, wurde von ihm innerlich als positive Gnade erfahren, die im Leiden die Reinigung seiner Intention vervollständigen würde, indem sie die letzten Spuren seines eigenen Ich entfernen würde. An diesem Punkt weitete sich sein Erkennen in eine Liebe, die bis dahin nur in ihm eingehüllt war: Die Liebe, solange sie verborgen bleibt, ist in Gefahr; sie ist auf dem Höhepunkt der Sicherheit, wenn man sich einer Situation aussetzt, in der man sich in Acht nehmen muss. Und erfüllt mich die Liebe mit ihrem Duft nicht noch mehr, wenn der Hauch der Verleumdungen ihn ausbreitet, so wie es mit dem Feuer ist, das zu nichts nütze ist, solange es im Feuerstein verschlossen ist? Und jetzt, da die Wolke da ist, wo die Schergen versammelt sind und das Klatschmaul mein Ansehen (meinen Namen) zerreißt, da verlange ich, von deiner Liebe verlassen zu werden, sollte ich mich je dem entziehen, was ich höre und sehe. (D. M, 24) Das Ende dieses Gedichtes ist im Arabischen sehr zweideutig. Die Deutung, die wir vorschlagen und die der Text unterstützt, schien uns im Einklang zu stehen mit dem Anfang. Inmitten der Anschuldigungen und Lügen, die sein Leben in Gefahr bringen – denn auf diese Weise macht man ihn zu einer politisch gefährlichen Person –, sah al-Ḥallāǧ die Liebe Gottes in sich hervorbrechen, so wie der Funke einem Feuerstein entspringt. Er bat seinen Herrn, ihm die Kraft zu verleihen, dass er sich diesen Verleumdungen nicht durch das Verlassen der Welt entzieht, indem er sich an einen Zufluchtsort zum Gebet zurückzieht oder gar die Hauptstadt verlässt, wo die Ansammlung der Gerüchte die größte Gefahr darstellte. Er bat, dass er höre und sehe bis zum Ende; dass er den Lärm des nahenden Gewitters höre, dass er die Wolken über seinem
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Haupt sich zusammenziehen sehe, dass er sich nicht verberge, denn so würde er die Liebe Gottes verbergen. Ja, er würde dieser Liebe verlustig gehen, sollte er sich die Ohren zuhalten und seine Augen schließen. Gott hatte dem Propheten gesagt: „… und haben wir nicht deinen Ruf erhöht?“ (Koran 94:4). Er verwandte, um zu Muhammad zu sprechen, das majestätische Wir und das Wort ḏikr, das dieselbe Bedeutung hat wie das Wort fama im Lateinischen. Unter den Menschen wird man große Dinge von ihm sagen, und man wird sein Andenken bewahren; der Herr der Welten verkündet dies, aber er bleibt außerhalb und darüber in der unberührbaren Herrlichkeit seiner Souveränität. Hier stand al-Ḥallāǧ in Beziehung zu dem, was das Intimste bei Gott ist, seiner Liebe. Es ist nicht mehr die Rede von seinem ḏikr, sondern von seinem Namen (ism), d. h. von dem, was ihm am meisten zu eigen ist, was bei den alten Beduinen Objekt eines wirklichen Kultes war: von seiner Ehre (ʿird). Die Menschen werden ihn zerreißen, aber in diesem Zerreißen wird der aufscheinen, „der am Grunde der Ekstase west“, „der Herr des Glanzes, der Herrlichkeit und der Majestät“ (Ṭaw. X, 24). Es handelt sich dabei in keiner Weise mehr um seine persönliche Ehre. Nach dem Qāḍī Ibn al-Ḥaddād, der ihn eines Nachts beten hörte, sagte er: „Ich bitte dich darum: Mit Rücksicht auf diese geheiligte Nähe, die du bis zu mir herabkommen lässt, und bei den noch höheren Stufen, die ich von dir erbitte, gib mich nicht mir selbst zurück, nachdem du mich mir selbst entrissen hast […], vermehre die Zahl meiner Feinde in deinen Städten und derer unter deinen Gläubigen, die meinen Tod fordern!“ (P., 122). Und eines Tages sagte er auf dem Markt, nahe der Türe der Moschee: „O Leute! Wenn die Wahrheit von einem Herzen Besitz ergriffen hat, dann leert sie es von allem, was nicht sie selbst ist. Wenn Gott Zuneigung zu einem Menschen fasst, dann tötet er in ihm alles, was nicht er selbst ist. Wenn er einen seiner Gläubigen liebt, lädt er die anderen ein, ihn zu hassen, damit sein Diener sich Ihm nähert, um sich eines Sinnes zu machen mit Ihm“ (P., 125). Die ekstatische Offenbarung der Liebe ist somit gebunden an die Existenz aller dieser Feinde, daran, dass al-Ḥallāǧ ihre Existenz akzeptiert. Es sind nicht Feinde; sie führen den Willen Gottes aus, so gut sie es können, auf dem Niveau des Gesetzes und im Namen des Gesetzes, das ihr Leben leitet. Al-Ḥallāǧ akzeptierte in diesem Moment, um der Liebe Gottes treu zu sein, die Qualen, die sich abzeichnen. Ohne dass man bei al-Ḥallāǧ von einer Begabung der Voraussicht sprechen muss,
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war ihm die politische Situation genügend bekannt, um zu wissen, welchen Gefahren er ausgesetzt war. Er hat also auch an den Tod denken und ihn in der Perspektive der Liebe sehen können, die von jetzt an allein für ihn zählte. Er brauchte nicht mehr zu reisen und die Wahrheit zu predigen, er brauchte nur das zu sein, wozu Gott ihn von seinem Ursprung an gemacht hatte, und dem gegenüber treu zu bleiben, was er war, reduziert auf sein reines Wesen: Er hatte nichts anderes zu tun, als dies, da wo er ist, zu sagen. In einem Text, der annähernd zu al-Ḥallāǧs Lebzeiten entstanden ist, lässt ihn einer seiner Schüler, vielleicht alWāsiṭī, in einer Art von Traum sagen: „Hätte ich meine Predigt und mein Sprechen desavouiert, dann hätte ich mich vom Saal der Ehre verbannt […] Und ich, wenn ich auch getötet worden bin, gekreuzigt, die Hände und Füße abgehauen, ich bin nicht von meiner Meinung abgegangen“ – Treue zu seiner Erfahrung, zu der Gnade, die er empfangen hat. Wenn auch der Kontext, aus dem dieses Zitat stammt, des Quietismus verdächtig ist, der nicht ḥallāǧisch ist, erlaubt diese feierliche, alḤallāǧ zugeschriebene Aussage uns doch zu verstehen, worin von jetzt an seine Ehre, seine futuwwa besteht: gegen heftigen Widerstand diese höchste Wahrheit zu künden, die die berühmte Formel anā al-ḥaqq („Ich bin die schöpferische Wahrheit“) zum Ausdruck bringt. Denn dieses „Ich“ ist jetzt das persönliche, veritable Sein, zu dem Gott ihn in seiner Liebe gebracht hat, um aus ihm seinen Zeugen zu machen. Es ist dieses Zeugnis, das seine Feinde skandalisieren wird und das ihn zu den letzten Foltern führen wird. Louis Massignon schreibt: „Im Gebet am Abend vor seiner Hinrichtung sagt er zu Gott: ,Du hast diesem Zeugen hier (d. h. al-Ḥallāǧ) eine gewisse eigene Identität zugewiesen (um von dir in der ersten Person zu sprechen). Und du bist es, der mein Wesen genommen hat, um dir als Symbol (unter den Menschen) zu dienen, als du – mich manifestierend im letzten meiner Zustände – gekommen bist, um mein Wesen verkünden zu lassen (d. h. dich, meinen Schöpfer) durch mein geschaffenes Wesen.‘ Es ist diese zweite und definitive Erwählung, die die letzte Periode des öffentlichen Lebens von al-Ḥallāǧ charakterisiert“ (P., 115). Aber was hat es mit dieser Ekstase auf sich, die ihn bevollmächtigte zu sagen: anā al-ḥaqq?
III. Die Ekstase des al-Ḥallāǧ
yā ayyatuhā n-nafsu l-muṭmaʾinnatu rǧiʿī ʾilā rabbiki rāḍiyatan marḍiyyatan fa-dḫulī f ī-ʿibādī wa-dḫulī ǧannatī O du befriedete Seele, kehr heim zu deinem Herrn, glücklich und zufrieden, und tritt ein zu meinen Knechten, und tritt ein in meinen Garten. (Koran 89:27–30)
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III. Die Ekstase des al-Ḥallāǧ
Bis jetzt haben wir al-Ḥallāǧ auf dem Weg folgen können, auf dem er sich engagiert hatte, um das Sein zu finden. Das war möglich, weil wir eine Reihe leicht erkennbarer Anhaltspunkte zur Verfügung hatten: zum einen die Idee eines schöpferischen Aktes, der in der unergründlichen Transzendenz Gottes gründet. Das Endziel dieses Aktes ist dasselbe, welches das Sein des Geschöpfes und seine Fortdauer im Sein aktiv schenkt. Von daher konnten wir ahnen, in welche Richtung wir gingen. Ein weiterer Anhaltspunkt war das dem Propheten geoffenbarte Gesetz: ganz Teil des Koran und der Person Muhammads. Wir haben gesehen, was die prophetische Funktion und die Grenze der Himmelfahrt (miʿrāǧ) Muhammads waren: Es genügte uns, zu extrapolieren, um mit unseren Blicken das noch mutigere Emporfliegen der ḥallāǧischen Mystik begleitend zu betrachten. Aber von nun an scheint uns jeglicher Bezug, jeglicher Vergleich zu fehlen beim Versuch, die ekstatische Erfahrung selbst zu erfassen, um ihre Natur und ihre Charakteristika anders als in einer spekulativen Übertragung zu verstehen. Es ist wahr: Dies gilt für die mystische Erfahrung im Allgemeinen; sie kann poetische Bilder inspirieren oder theologische Begriffe nähren, aber sie bleibt außen vor, in ihrem Geheimnis. Im Fall von al-Ḥallāǧ sind wir mit einer noch viel größeren Schwierigkeit konfrontiert. Ja, er hat Gedichte geschrieben, aber er hat in keiner Weise versucht, über die „Qualität“ und das Wesen seiner Ekstase zu sprechen, weil diese sich oberhalb der „Zustände“ (aḥwāl) situiert, wie sublim auch immer deren Stufe sein mag. In abstrakten Begriffen gesagt, stellt seine Ekstase eine ontologische Erfahrung des Seinsaktes dar. Seine Ekstase übersteigt also jegliches reflektiertes Bewusstsein. Der Mensch, der sich sich selbst zuwendet oder der sich Fragen stellt wie etwa „Wo? Wie?“ oder der sich ganz und gar Gott zuwendet, denkt noch an seine qibla, seine korrekte Gebetsausrichtung; und selbst derjenige, der rückhaltlos die Gaben, die Gott ihm schenkt, annimmt und diese in seinem Herzen genießt, hat keinen Zugang zur wahrhaftigen Ekstase. In den Ṭāwasīn heißt es: Derjenige, der die Umzäunung der Realität erreicht, vergisst mich. Seine Aufmerksamkeit ist abgelenkt von mir (d. h., erklärt Louis Massignon, er verliert sich in dem sinnlosen Wissen, das er von diesem Erreichen hat). Und dennoch! Nein! Es gibt keine Entlastung dafür. Am Herrn allein musst du dich heute festhalten! […] So habe
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ich einen Vogel unter anderen Vögeln gesehen – einen Vogel mit zwei Flügeln (die beiden Wissensweisen der Intuition, himma, und des „mystischen Zustandes“, ḥāla) –, er negierte meine Herrlichkeit (d. h. meine Vereinigung mit Gott), gleichzeitig blieb er dabei zu fliegen. Er fragte mich, wo er den Frieden des Herzens finden könne. Und ich sagte ihm: „Schneide dir den Flügel mit der Schere des Entwerdens (fanāʾ) ab, sonst kannst du mir nicht folgen.“ Und er sagte mir: „Mit meinem Flügel fliege ich zu meinem Freund!“ – „Pech für dich!“, sagte ich ihm. Nichts gleicht Ihm, dem Hörenden, dem Sehenden. Und, in der Tat, er fiel daraufhin in den Ozean der Reflexion, wo er ertrank. (Ṭaw. 5–10; P., 855 ff.) Wie sehr man auch in der Nähe Gottes sein mag, man bleibt dennoch verloren, solange das Bewusstsein Fragen stellt. In einem Gedicht beschreibt al-Ḥallāǧ die Situation desjenigen, der sich der Reflexion überlässt: Ich habe meinen Herrn mit dem Auge meines Herzens gesehen und habe ihm gesagt: Wer bist du? – Er sagte mir: Du! – Nun, du bietest keinen Ort, um auf die Frage „Wo?“ zu antworten, es gibt keine Frage „Wo?“, wenn es sich um dich handelt. Du bietest von dir aus der Imagination keinerlei Imagination, so dass sie wissen könnte, wo du bist. Du bist derjenige, der jeden Ort umfasst bis dahin, wo kein Ort mehr ist. Aber, wo bist du dann? (D. M, 10) Die Gewissheit der einzigartigen Gegenwart Gottes in der Ekstase ist nicht eine Antwort auf eine Frage, denn dann wäre Gott nicht mehr allein, sondern mit ihm würde der mit der Antwort beglückte Fragende verbleiben. Ach, ist es ich, ist es du? Das würde bedeuten: zwei Götter. Die Anerkenntnis von „zwei“ sei mir fern, ja, sei mir fern. Es gibt stets ein persönliches Sein, das dir gehört, auf dem Grund meiner Negativität. Mein Ganzes deinem Ganzen hinzuzufügen, das ist Illusion und Heuchelei. Wo ist dann dein Wesen, getrennt von mir, dort, wo ich es sähe? Siehe da, mein Wesen hat sich mit Klarheit erfüllt, dort wo kein Ort sich befindet! (D. M, 55; A. H., 75)
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In der Ekstase darf also nichts subsistieren, was mit der individuellen menschlichen Person verbunden wäre, d. h. getrennt vom Akt, der ihm sein Personsein verleiht, ein äußerst personaler Akt, wo sich die Wahrheit jeder Personalisierung befindet, die Person par excellence. Bis hierher haben wir gesehen, dass sich al-Ḥallāǧ gegen einen Aufruf dazu gewehrt hat, sein Sein, seine Existenz auf den schöpferischen Akt zurückzuführen, der seine gesamte Realität ausmacht; von den drei Endpunkten her – Gott, der gibt; das, was er gibt; der Mensch, der das Geschenk empfängt – haben sich die beiden letzteren vor der einzigartigen Existenz des ersteren auszulöschen. Dies bleibt wahr, aber nun muss man präzisieren und weitergehen: Es ist nicht mehr das Sein, das al-Ḥallāǧ durch seine Ekstase direkt in Frage stellte, es ist die Person. Das wirkliche „Ich“ der Person, das ist das „Ich“ der Person, das sie zur Person macht. In diesem Sinn konnte er sagen: anā al-ḥaqq! Gott ist gleichzeitig das Ganze, und das Ganze der menschlichen Person, die selbst das synthetische Ganze des geschaffenen Wesens ist, das der Mensch ist. Aber man hat die Tendenz, sein eigenes Ganzes sich als in sich verschlossen vorzustellen, definiert als eine Totalität unter anderen. Auch ist man geneigt, seine eigene Person als eine Alterität zu betrachten. Wenn der Mensch an Gott selbst denkt, isoliert er sich: Es gibt das Ich und das Nicht-Ich. Die Schwierigkeit, die man beim Versuch erfährt, die ekstatische Erfahrung von al-Ḥallāǧ zu verstehen, kommt von den Fragen: Wie ist mein Ganzes, in seiner Realität, das Ganze, Gott? Wie ist meine Person, in ihrer Wahrheit, die göttliche Person? Wenn Gott einzig ist, dann wird auch ganz zu Recht die Fülle des göttlichen Wesens, seine Person, einzig sein. Wenn im strikten Sinn, den die Ontologie diesem Wort gibt, es kein anderes Sein als Gott gibt – das ist die Bedeutung, die auf diesem Niveau das Dogma des tauḥīd, der Einzigkeit Gottes, annimmt –, dann können noch viel weniger irgendwelche weiteren Personen als Gott selbst existieren. Besteht nicht der große Irrtum darin, dass die menschliche Person als ein Sein in sich, ja schlimmer noch, als ein unabhängiges für sich betrachtet wird, als ein irreduzibler kleiner Gott? Das ist der Grund, warum al-Ḥallāǧ schreibt, dass ein Ganzes dem Ganzen Gottes hinzuzufügen Illusion und Heuchelei ist. Illusion, denn wenn ich nicht ganz und gar mein Ganzes vom Ganzen Gottes her nehme, dann ist mein Ganzes nichts, eine zweigesichtige (bi-waǧhain) Heuchelei, denn diese Illusion
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ist nicht möglich, außer für den, der sein Herz der Wahrheit des tauḥīd nicht geöffnet hat, während er mit den Lippen bekennt, Diener des einzigen Gottes zu sein. Man kann nicht gleichzeitig an Gott und an sich selbst glauben. Man muss anerkennen, dass diese Illusion und diese Heuchelei dermaßen verbreitet sind, dass sie bei den meisten Gläubigen sozusagen normal sind, selbst bei solchen, die einen hohen Grad an Spiritualität erreicht haben. Das Geschöpf, das sich als Sein aufführt, offenbart also am Grund seines Selbst eine Negativität, ein wenigstens implizites Nein gegenüber Gott (lāīya). Somit ist diese Person in sich, in der wir die vollkommenste und konstanteste Realität dessen, was wir sind, sehen, nichts als ein Akt der Negativität, und sie konstituiert sich in dieser Negativität, ein Opfer ihrer Illusion selbst zu sein. Allerdings wäre da nichts als ein reines Nichts, wenn sich nicht eine wirkliche Person, nämlich die Gottes, in diesem Trugbild verbergen würde. Der Mensch irrt sich nicht über das, was er ist, denn er ist real; er entstellt seine Person nicht einfach, nur weil er Person ist. In seinem Aufstieg zur Wahrheit durchläuft er einen Moment der Ambiguität: Er überzeugt sich von seiner Nichtwesentlichkeit vor Gott; er glaubt, er müsse sein illusorisches „Ich“ zerstören, um zum Sein zu gelangen. Am Ende seiner Suche ist er nichts mehr. Er sieht das Wesen Gottes getrennt von sich selbst. An diesem Punkt kann er sich wie Muhammad in seiner isrāʾ zufriedengeben mit dieser Sicht aus der Ferne und sagen: „Ich kann dich nicht so loben, wie es sein muss […] Du bist in der Tat derjenige, der allein sich loben kann zu sein“ (Ṭāw. II, 8; P., 483). Al-Ḥallāǧ sagte über den Propheten: „Er verneinte sein Verlangen (Gott zu besitzen) und folgte seiner Berufung (als sterblicher Mensch bestimmt zu Prophetie). Muhammad hat seinen Blick nicht nach rechts gewandt, hin zur Realität der Dinge, noch nach links, hin zu seiner eigenen Realität. Sein Blick […] hat nicht die verbotene Umzäunung aufgebrochen, die er überflog“ (ebd.). So, wie Louis Massignon schreibt: „Die Ekstase Muhammads bestand also darin, die Unzugänglichkeit Gottes zu besichtigen“ (P., 850). Oder aber man will sein eigenes, persönliches Entwerden (fanāʾ) sich vollziehen sehen: Zerstört von Gott ist man nicht mehr als die vorzeitliche Idee, die er hatte, bevor er den Leib schuf, in welchem sich die Seele eine illusorische Personalität geschaffen hat – das ist die Lehre von al-Ǧunaid, einem der Lehrer von al-Ḥallāǧ –, oder man ist, wie Abū Yazīd alBisṭāmī, erfasst von einer Art Furor des Nichtseins und man macht aus
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dem fanāʾ, dem Akt der Aufhebung von allem, was nicht Gott selbst ist, den glorreichen Abschluss seiner Erfahrung. Ich erlangte, schreibt Bisṭāmī in seinen šaṭaḥāt, die Ebene des Nichtseins, und ich hörte nicht auf, dort zehn Jahre lang zu fliegen, bis ich vom „Nein“ im „Nein“ durch das „Nein“ hindurchging. Dann erreichte ich die Privation, welche die Ebene des tauḥīd ist, und ich hörte nicht auf, durch das „Nein“ im Mangel zu fliegen, bis dahin, dass ich des Mangels im Mangel ermangele und von der Privation durch das „Nein“ befreit bin, im Mangel der Privation. (Lexique, 278) So sehen die Fallen aus, wenn man so sagen darf, die auf dem Weg des Mystikers aufgestellt sind: Al-Ḥallāǧ hat sie exakt vermieden, und wenn man bedenkt, wie er damit umgegangen ist, versteht man die Originalität und – vielleicht – die Überlegenheit seiner mystischen Erfahrung ein wenig besser. Wir haben bereits gesehen, dass al-Ḥallāǧ im Gegensatz zum Propheten sich nicht der Kontemplation des göttlichen Wesens hingegeben hat, einer „einfachen und negativen Vision“ (P., 744), die nicht die Kraft hat, mit Gott zu vereinen: „Muhammad“, von al-Ḥallāǧs Standpunkt aus gesehen, „hat, nachdem er seinen fleischlichen Begierden entsagt hatte, sein Verlangen, Gott zu sehen, zunichte gemacht und hat sich willentlich in der Schwebe gehalten, hat sein intimes Bewusstsein und sein Herz hinter sich gelassen; nur sein geistliches Auge (baṣar, naẓar), das darüber hinausstieß, hat den kompletten Zyklus der zwei ,Bogenlängen‘ (Koran 53:6–9) durchlaufen und erfasst, hat das unzugängliche göttliche Wesen im Innern dieses Kreises situiert, jenseits jeglichen Wissens über das Geschaffene“ (P., 852 f.). Indem er sich auf den Weg der Mehrzahl der Sufis begab, dabei jedoch die einfachen mystischen „Zustände“ dadurch überstieg, dass er sich zur Quelle der Gnade selbst, die sie schenkt, rufen ließ, hatte al-Ḥallāǧ vom Innern her diese negative Vision erleuchten können, die Ausdruck in der Äußerlichkeit des Gesetzes findet (denn das Gesetz ist ein Zeichen der unbegreiflichen Transzendenz, vor der man sich nur verbeugen und der man nur gehorchen kann). Er hat die Werte des Herzens und des inneren Geheimnisses wieder eingeführt, über die hinausgehend er die Offenbarung der Liebe erhalten hat, die ihn zur höchsten Stufe der Einigung mit Gott führen sollte. Bei Muhammad erlaubte die Vernichtung
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des Verlangens der Seele nur eine rationale Erkenntnis der göttlichen Majestät und, im Gehorsam gegenüber dem Gesetz, einzig das Gefühl des Respekts (übrigens unter verschiedenen Namen), ein wenig in derselben Weise, wie Kant in Bezug auf das moralische Gesetz nichts erlauben sollte als ausschließlich das Gefühl des Respekts. Al-Ḥallāǧ führte wieder die Liebe ein, die der legalistische Sunnismus nicht anerkannte, während er gleichzeitig bei der Beurteilung der Wahrheit (taṣdīq) des Gehalts des Glaubens und des Kultes auf der Rolle des Verstandes (ʿaql) bestand. In Bezug auf die Haltung von al-Ǧunaid hier nun eine Bemerkung der Art, wie al-Ḥallāǧ selbst sie hätte machen können. Ist es nicht ein zu spekulatives Vorgehen, wenn man als Ziel des mystischen Lebens die Rückkehr zu einer vorzeitlichen Idee im göttlichen Denken, zur Idee des Selbst, vorschlägt? Bedeutet es nicht, dem fanāʾ (Entwerden) einen Wert absoluter Negation zu geben? Im Koran, der die Quelle dieser Vorstellung ist, und in der Entwicklung des Sufismus ist fanāʾ immer mit seinem Gegenteil assoziiert, dem baqāʾ, der Subsistenz. Für al-Ǧunaid entwird die menschliche Person, und Gott subsistiert. Für al-Ḥallāǧ – und viele werden ihm Gefolgschaft leisten – folgen in der mystischen Erfahrung selbst Entwerden und Subsistieren aufeinander: Der Mensch stirbt sich selbst, um auf ewig in Gott wieder zu leben. Aber man sieht die Gefahr dieser Lehre im Islam. In den Perspektiven des Gesetzes wird der Mensch nach dem Tod in dieser Welt beim Jüngsten Tag auferweckt und subsistiert ewiglich entweder in einem geschaffenen Paradies oder in einer geschaffenen Hölle, die kein Ende kennen. Man bleibt stets Geschöpf, und Gott bleibt transzendent, für die Erwählten im Garten [des Paradieses] sowie für die Menschen dieser Erde. Aber wäre eine Ewigkeit in Gott nicht širk [Gott Gefährten beizugesellen], in dem Seiende, die nicht Gott sind, auf ewig mit ihm assoziiert wären? Deshalb gab al-Ǧunaid dem fanāʾ diese Bedeutung von totaler Annihilation jeglichen Geschöpfes, damit nach seiner Rückkehr zu Gott niemand existiere außer Gott allein. Al-Ḥallāǧ hatte verstanden, dass al-Ǧunaid nur durch einen Exzess von Intellektualismus zu diesem Schluss, dem er sich verpflichtet wusste, gekommen war. Dieser Intellektualismus minimisierte den schöpferischen Akt und führte alǦunaid auf den Pfad einer Emanationslehre. Das Denken von alǦunaid erinnert an das Spinozas: „In Gott gibt es jedoch notwendig
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eine Idee, die das Wesen dieses oder jenes menschlichen Körpers unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit ausdrückt […] Der menschliche Geist kann mit dem Körper nicht absolut zerstört werden, sondern es bleibt von ihm etwas übrig, was ewig ist.“36 Ja, es gibt bei Spinoza sicherlich eine Liebe, aber es ist eine „intellektuelle Liebe des Geistes zu Gott, die ein Teil der unendlichen Liebe ist, womit Gott sich selbst liebt“37. Aber im Gegensatz dazu stellt al-Ḥallāǧ die Liebe ins Zentrum seines Denkens und entdeckt im Herzen seiner Erfahrung diesen Schöpferakt, mit all dem, was er an der menschlichen Intelligenz Undurchdringlichem enthält. Diesem Schöpferakt ist, so wie es zahlreiche muslimische Theologen wiederholen, jegliche Vorstellung von Ursache fremd. Jedoch wird dabei das Geheimnis dieser Macht nicht berücksichtigt, das ihn konstituiert: Seiende aus dem Nichts entstehen zu lassen. Wenn man aber den Glauben an eine Schöpfung angenommen hat, muss man sofort bedenken, dass die Beziehung des geschaffenen Menschen zum schöpferischen Akt gänzlich verschieden ist von der, um die es bei der Beziehung zwischen einem Wesen in dieser Welt und seiner archetypischen Idee in Gott geht. Die Schöpfung erlaubt es nicht mehr, die Geschöpfe wie bloße Erscheinungen zu betrachten, auch wenn die menschliche Kreatur eine Seele empfangen hat, die sich in Schein und Illusion einwickeln kann, in der sich eine Heuchelei festsetzen kann, die sie in sich selbst falsch klingen lässt. Wenn Gott Wahrheit ist, dann ist sein schöpferischer Akt Wahrheit, und das Geschöpf kann sich als Werk dieses Aktes nicht zu einem bloßen Phantasma reduzieren, das zur Gänze beseitigt werden muss. Von da an verwandelt sich alles: Die Erkenntnis kann nicht mehr stattfinden aus der Entfernung, sie kann nicht länger der Versuch des Blickes sein, die Umzäunung zu durchbrechen oder den Schleier zu durchdringen. „Denn der Beobachter beobachtet die Umzäunung von außen, nicht von innen. Was aber das Wissen des Wissens der Realität angeht, so erkennt es sie nicht und wird bei ihr nicht ankommen, denn jedes Wissen bedeutet einen Beobachter und jede Umzäunung ein ,verbotenes Gut‘ (ḥarām)“ (P., 854). Das Wissen des Wissens ist die Erkenntnis der Realität von innen her. Sie ist aus Liebe gemacht, und die Liebe impliziert
36 Éthique, V, propositions 22 f. 37 Ebd., proposition 36.
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die Person. Die Realität der Person gründet in der Realität der Schöpfung, und ihre Beziehung weitet sich aus in der Liebe. Was Abū Yazīd Bāyazīd Bisṭāmī angeht, so hat auch er sich eingeschlossen in einer zu intellektuellen Suche. Er hat aus dem fanāʾ eine persönliche Sache gemacht: Derjenige, der ausschließlich daran denkt zu zerstören, bindet sein Denken nur an das, was er zerstört, an sich selbst, den er zu zerstören trachtet. In seiner Ekstase rief er aus: subḥānī! (Ehre sei mir!) Dagegen bezieht sich dieser Ruf im Koran nur auf die Verherrlichung Gottes in seiner transzendenten Majestät: subḥān allāh! Man berichtet, dass Bāyazīd Bisṭāmī während des Austretens aus der Ekstase über seine Worte erschrak. Al-Ḥallāǧ schreibt dazu: Armer Abū Yazīd! Er war angekommen an der Schwelle der inspirierten Aussage. Diese Worte kamen sicher von Gott. Aber er erkannte das nicht. Er war geblendet von den Sorgen um sein Ich (das er sich aufrichten sah wie ein imaginäres Hindernis) in dem Zwiegespräch (zwischen Gott und ihm). Der Weise dagegen, der Gott seine Worte in seinem Herzen formen hört, beachtet nicht mehr Abū Yazīd (sein Ich) und kümmert sich nicht weiter darum, diese Worte zurückzunehmen noch über ihre Enormität zu erschrecken. (P., 851, Anm. 3) Von nichts anderem zu träumen als total in Gott zu entwerden, seine ganze Ehre dahinein zu legen, um die einzige Herrlichkeit Gottes im Glanz seiner unvergleichlichen Einzigkeit, die allein real ist, zu finden, bedeutet zu vergessen, dass der Mensch nicht anders kann als zu seinem Herrn, dem Schöpfergott, zu gelangen, der ihm Sein und Personsein verliehen hat. Dass man das, was in sich Negativität ist, zerstören muss, ist sicher. Aber wenn man alles absolut zerstört – was darauf hinausläuft, den göttlichen Akt zu zerstören, der Existenz (īǧād) und Subsistenz (ibqāʾ) verleiht –, was bleibt dann dem Menschen anderes übrig als das Unternehmen der Selbstzerstörung selbst, welche, es sei hier bemerkt, seiner Intention nach ein Sakrileg ist, eine Ablehnung, die vorgibt, mit der göttlichen Freigebigkeit gleichgestellt zu sein. Bāyazīd Bisṭāmī suchte die Herrlichkeit, die darin besteht, nichts als die Herrlichkeit Gottes zu akzeptieren. Dies erklärt den Stolz, der in einigen seiner Äußerungen zutage tritt: „Ehre sei mir! Wie groß ist doch meine Ehre. Ich habe genug, ja mehr als genug von meinem ‚Ich
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allein‘. Dein Gehorsam mir gegenüber, o Gott, ist größer als mein Gehorsam dir gegenüber.“ Er hat geglaubt, dass die Unermesslichkeit der Leere, wohin ihn seine Askese führte, der Unermesslichkeit Gottes gleiche, dass die Ehre, sich selbst zu entwerden, zusammenfalle mit der Ehre des einzigen Seins, das von nichts vernichtet werden kann. Aber diese Leere ist illusorisch, denn sie war nur mit Illusionen erfüllt. Das wirkliche fanāʾ kann nicht der letzte Zielpunkt des asketischen Willens sein, sich zu entwerden, denn dann bleibt das Entwerden menschliche Sache und führt zu keinerlei Form von Ehre. Um ein mystischer Wert zu sein, muss das fanāʾ von einem Anrufen an Gott resultieren; es findet nicht statt, es sei denn, Gott kommt, um zu regieren, um ganz und gar im Geschöpf zu residieren, das keinerlei verschlossenen und dunklen Winkel für sich behält. Wenn die Sonne untergeht, verschwinden die Schatten der Dinge in der Dunkelheit. Aber ist sie das Mittel, um den Schatten zu zerstören? Ist es nicht eher so, dass die Dinge [durch die Sonne] transluzid werden? Im Vergleich mit dem Irrtum von Bāyazīd Bisṭāmī übersetzt nichts besser als dieser Vierzeiler von alḤallāǧ die Erfahrung des authentischen fanāʾ: Die Sonne dessen, den ich liebe, ist strahlend aus der Nacht aufgegangen, und es wird keinen Sonnenuntergang geben. Ja, die Sonne des Tages erhebt sich in der Nacht, und die Sonne der Herzen wird nicht untergehen. (D. M, 9) Louis Gardet fällt über diesen Mystiker [d. h. al-Bisṭāmī] ein Urteil, das hilft, die Originalität von al-Ḥallāǧ zu verstehen: Abū Yazīd hatte geglaubt, alle Bildnisse zerstört zu haben, die Gott ihm auf seinem Weg anbot. Er hatte sich an das letzte Bildnis gehängt, das er sich für sich selbst fabriziert hatte: den letzten Akt der Abschaffung aller Bildnisse. Es ist vielleicht seine Einheit mit Gott, die er eher als Gott selbst sucht. Und siehe da, der finale Akt, den er erreichte, stellt sich dar wie eine vollendete Einsamkeit, der taǧrīd, den er als eine radikale Leere in einem einenden Akt erfährt, das fanāʾ bi-l-tauḥīd.38
38 Gardet, Expériences mystiques en terres non chrétiennes, 129.
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Dieser letzte Ausdruck weist in der Tat auf einen Akt der Vernichtung der gesamten Vielfalt der Vorstellungen hin, die das ausmachen, was die Menschen ihr „Ich“ nennen, in Wahrheit ein armes Ding, ohne Unterlass hin und her gezerrt in die verschiedensten Richtungen. „Vernichtung durch die Einzigkeit“, sagt al-Bisṭāmī. In Wirklichkeit ist es nur ein Täuschungsmanöver, das diesen Menschen auf der Suche nach der absoluten Transzendenz in die Irre geführt hat. Er hat geglaubt, dass es in seinem Entwerden die göttliche Einheit war, die den Schleier der Erscheinungen, der „Bildnisse“ zerreißen würde. Aber eine Vernichtung der menschlichen Person mit ihren gefühlsmäßigen psychologischen Bindungen kann niemals aus sich heraus das Erreichen der Realität des einzigen Gottes bewirken. So ist die ḥallāǧische Ekstase nicht eine Vereinigung mit Gott durch ein Entwerden in Gott, in der Idee, die Gott von jedem Sein hat, das er erschaffen wird. Auch ist sie nicht eine Vereinigung durch den Akt der Entleerung von allem, was nicht sie ist. Sie ist die wesentlich lebendige Erfahrung der grundlegenden Vereinigung des Geschöpfes mit seinem Schöpfer. Um, soweit das auf dem Umweg der Spekulation möglich ist, die Bedeutung dessen zu verstehen, was al-Ḥallāǧ auf diese Weise enthüllt wurde, halten wir uns zunächst bei der Idee der Schöpfung auf. In einer Theologie der reinen Transzendenz versteht man nicht, dass es Schöpfung gibt: Was kann sie für einen so erhabenen Gott bedeuten, der so eingeschlossen in der Vollkommenheit seiner eigenen Selbstgenügsamkeit ist, der an nichts denken müsste als an sich selbst, ohne auch nur im Leisesten berührt zu sein von der geringsten Idee von etwas, das nicht er selbst ist? Man versteht, dass die vertiefte Meditation einer solchen Lehre zu der Überzeugung führt, dass die Vielfalt der Seienden nichts als eine sinnlose Erscheinung ist und dass man die Leere herstellen muss. Was aber ist mit dem Sein der Erscheinung? Es dürfte keine Erscheinung geben, während nur Gott allein existiert. Sicher gehört dieser Einwand der theoretischen Ebene an. Der Mystiker braucht sich damit nicht abzugeben; er steht ja im Wirbelsturm seiner Abschaffungen. Wie dem auch sei, al-Ḥallāǧ hat nichtsdestoweniger die rationale Erkenntnis nicht vernachlässigt, obwohl er wohl wusste, dass man durch ein intellektuelles Vorgehen nicht zu Gott gelangen könne. Seine mystische Theologie beruht auf einer kohärenten dogmatischen Theologie. „Betrachte mit dem Auge des Intellektes das, was ich dir
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beschreibe, denn der Intellekt hat seine Eignungen, um zu hören, zu erfassen und zu sehen“ (D. M, 22). Es ist wahr, dass diese Fähigkeit nicht über eine gewisse „Umzäunung“ der Realität hinauskommt, und selbst da, wo sie einige Wahrheiten erfassen kann, erschließt sie nicht alle. Derjenige, der nur auf sie stolz wäre, würde sich verirren. „Wer nach Gott verlangt und den Verstand als Führer nimmt, wird vom Verstand auf eine Weide geführt, wo man in der Perplexität debattiert; der Verstand vermischt das Äquivoke mit den Wünschen seines Herzens, und er sagt, in seiner Perplexität: Existiert er?“ (D. M, 66). Die Tatsache der Schöpfung stellt sicher ein undurchdringliches Geheimnis dar. Es allein durch den Verstand erklären zu wollen, würde es noch weiter verdunkeln und den Suchenden in Gefahr bringen, den Schöpfer zu leugnen. Allerdings darf man auch nicht einfach das übersehen, was das menschliche Denken von diesem Geheimnis erfassen kann. So versteht man gut, dass in der hiesigen Frage die Erscheinung nicht nichts sein kann. Sie ist Erscheinung und als solche geschaffen. Man ist also nicht weitergekommen: Wie und warum hat der transzendente Gott so erschaffen, dass die Schöpfung entweder Schein oder Wahrheit ist? Dieses Wie und dieses Warum sind nicht an Gott gerichtet. Diese Fragen wären nicht angebracht. Vielmehr wenden sie sich an den Menschen, der Gott in dieser Weise konzipiert. Al-Ḥallāǧ hat sehr gut gesehen, dass das Bekenntnis des Glaubens an den tauḥīd, die Einzigkeit Gottes, nicht real und vollkommen ist, solange es ein Akt bloß der Intelligenz und der rationalen Rede bleibt. Nun ist es aber genau so, dass die Lehre der absoluten Transzendenz eines Gottes, der eingeschlossen ist in seiner Einzigkeit, die Frucht eines intellektuellen Glaubensbekenntnisses ist. Zweifellos ist Gott weit erhaben über (taʿāla) jeglicher Kreatur. Aber wenn der Verstand von dieser Idee Besitz ergreift, dann verhärtet er sie und passt sie sich an, so sehr, dass der Gläubige den tauḥīd nur logisch, negativ erreicht und dass das Bekenntnis dieser Einzigkeit der Einzigkeit selbst äußerlich bleibt. Der Verstand muss also anerkennen, dass er angesichts der Wahrheit Gottes sein Objekt nicht erreichen kann, weil der tauḥīd, den er denkt und formuliert, außerhalb der Einzäunung des realen tauḥīd bleibt. Es ist also nach dem Eingeständnis selbst des wohlgeleiteten Verstandes unmöglich, die Transzendenz in dieser schneidenden und abrupten Weise zu begreifen. Es gibt eine Schöpfung. Warum? Wie? Wir
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richten die Frage nicht an Gott. Aber es ist notwendig, dass wir uns eine Transzendenz vorstellen können, die der Tatsache der Schöpfung nicht widerspricht. Da gibt es einen Anspruch an das Denken, der, wenn man ihn erfüllt, die theoretische Grundlage der ḥallāǧischen Erfahrung darstellt. Dass die Schöpfung in der Wahrheit des tauḥīd und die Einigung mit Gott im Zeugnis für die göttliche Einzigkeit, die es erlaubt zu sagen: anā al-ḥaqq, gegründet sei, findet gleichzeitig seine Begründung und Rechtfertigung. Wenn der transzendente Gott erschaffen konnte, dann entdeckt das Geschöpf umgekehrt in ihm durch die Gnade Gottes, die es im Sein konstituiert, sein aktuelles Prinzip und in diesem Prinzip die Transzendenz der schöpferischen Einzigkeit. Es ist wahr, wie es auch mehrere muslimische Theologen gesehen haben: Wenn man einmal akzeptiert, dass Gott erschafft, dann ist die Schöpfung die einzige Form des Handelns, die die Transzendenz Gottes respektiert und verkündet. Denn wenn es sich um eine normale Kausalität handeln würde, dann müsste die Ursache auf die Ebene der Wirkung herbsteigen und ihr etwas von sich selbst mitteilen. Ferner, wenn die Ursache agiert und übermittelt hat, dann hat sie nichts weiter zu tun: Wenn das Feuer das Wasser erwärmt hat, braucht man es nicht weiter. Gott aber schenkt das Sein – und diese Gabe ist keine Übermittlung – einmal, weil der Empfangende nicht existiert, bevor er empfangen hat, und weil zu empfangen für ihn nichts anderes ist, als geschaffen zu werden; zum anderen, weil der Schöpfer nicht sein Sein gibt, denn es existiert ja nichts, dem er geben könnte, bevor er es nicht geschaffen hat. Die Schöpfung respektiert also das reine In-sich Gottes. Nichtsdestoweniger bleibt diese Formulierung abstrakt und intellektuell, noch äußerlich und negativ. Es bleibt die Aufgabe, sie in Gott zu verinnerlichen. Ist das möglich? Al-Ḥallāǧ hat gedacht, man könne zu einer adäquateren Formel gelangen, die zweifellos eine Formel bleiben würde, die aber adäquater die Grundlage bilden könnte für die Erfahrung, die er machte. Da wir dahin gekommen sind zu sagen, dass die Schöpfung die Transzendenz respektiert, genügt es nun, diese Aussage ganz und gar positiv zu wenden, indem wir sagen: Die Schöpfung drückt aus, sie manifestiert die Transzendenz, jedoch nicht den Geschöpfen, sondern in Gott und für Gott. Die Schöpfung ist also in dem Innen Gottes, wo es keinen Ort gibt (Ṭaw. IX, 9; P., 880), sie ist der göttliche Akt, der die Realität jeglichen Bekenntnisses des Glaubens durch Gläubige an die
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Einzigkeit Gottes konstituiert. Er wird bekannt durch die Gläubigen oder bezeichnet durch den Chor der Kreaturen. Gott benötigt diesen Chor nicht, um sich als Einer zu verkünden; aber er benötigt seine Schöpfung, die sein eigener Akt ist. Es gibt nicht zunächst einmal einen Gott und dann diesen Gott als Schöpfer: Sein Wesen ist schöpferisch. Vergessen wir nicht, dass Gott gemäß der muslimischen Offenbarung „sprechend“ ist. Was sagt er? Dass er Einer und ein Einziger ist: Darin liegen sein Lob und seine ewige Herrlichkeit. Er verkündet den tauḥīd für sich selbst über sein schöpferisches Wort: Dort west sein herrliches Wesen. Denn wenn er nur eins wäre, nach der Weise einer punktuellen Einheit, logisch, leer, dann gäbe es nicht mehr den lebendigen tauḥīd (obwohl der Koran sagt, Gott sei lebendig: ḥayy). Es gäbe nur die vertrocknete Formel der šahāda, gesprochen von armen Seienden, die der schöpferische Akt zurückweisen würde, weit weg von einem unzugänglichen und hochmütigen Gott, in der Wüste dieses Lebens. Aber bitte? Würde Gott erschaffen, um seine absolute Größe angesichts so gedemütigter Sklaven zu behaupten? Ist es das, auf welches sich das Ziel von allem sowohl in dieser Welt als auch in der anderen beschränken würde? Würde Gott sich dann nicht auf die Dimensionen eines miserablen Despoten reduzieren, dessen klägliche Majestät von der Unterdrückung seiner Anbeter abhängen würde? Fern sei uns ein solches Denken! In seinem Schöpferakt, der Wort ist, nennt sich Gott Einer, lobt und verherrlicht sich. Aber weil der Schöpferakt bei seinen Geschöpfen endet, wird der geschaffene Mensch, der in keiner Weise notwendig ist, wenn sich ihm das Prinzip seines Seins enthüllt, das aktuell in ihm wirkt, die Stimme werden können, die authentisch das Lob und die Verherrlichung Gottes erklingen lässt und die Zeugnis gibt von seiner Einzigkeit; dies nicht außen vor, in einer entlegenen šahāda, sondern in der inneren und glühenden Realität der Schöpfung: dieses einmalige Zeugnis seiner transzendenten Einzigkeit, gegeben im Aufscheinen seiner Herrlichkeit durch den einzigen Gott. Der Irrtum besteht also darin, dass man die Schöpfung von ihrem Zielpunkt her betrachtet: dem Geschöpf. Man sieht die Schöpfung nur als das, was vom Schöpfer unendlich weit entfernte Seiende existieren lässt. Aber ist die Schöpfung nicht zuallererst und wesentlich ein Akt Gottes, ein Akt, den es vor allem mit ihm zu verbinden gilt? Weit entfernt davon zuzulassen, dass dieser Akt in der Kontingenz des Geschaffenen degradiert wird, suchen wir ihn in der notwendigen
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Fülle Gottes. So gesehen bindet sich das geschaffene Sein eng an seinen Schöpfer. Der Mensch ist nicht mehr Sklave, er wird intimer Freund Gottes, sein Vertrauter, so wie Gott sich offenbart als der Freund, als der mit dem Innersten des Menschen Vertraute. So versteht man die ganze Bedeutung dessen, was Louis Massignon über die Erfahrung von al-Ḥallāǧ geschrieben hat: Er schreit seine Freude darüber hinaus, zu dem gelangt zu sein, ja, den zu besitzen, „der auf dem Grund der Ekstase west“, jenseits sowohl des Kultes des Zwanges, der die einen dahin verbiegt, sich im strikten Ritus zu verfestigen, wie auch jenseits des Kultes der Begeisterung, der die anderen dahin führt, sich durch geschaffene Objekte und menschliche Prozeduren zur Ekstase erregen zu lassen; der Endpunkt dieser Praktiken ist die götzendienerische Zerstörung der Individualität zu Füßen der undurchdringlichen Gottheit. Aber nach alḤallāǧ endet die Mystik hier nicht. Wo sich die göttliche Einigung vollzieht, ereignet sich eine Liebeshochzeit, in der der Schöpfer schließlich mit seinem Geschöpf zusammentrifft, wo er es umarmt und wo dieses sich seinem Geliebten anvertraut in intimen, familiären, brennenden und redseligen Gesprächen. Das Gespräch zwischen dem Geschöpf und diesem göttlichen Gesprächspartner wird dauerhaft. Ganz am Grund seiner selbst besitzt es ihn und verwendet das „Du und Ich“. Es berichtet ihm alles, gibt ihm alles und bietet ihm alles an, Leiden, Wünsche, Äußerungen des Bedauerns, Hoffnungen. (P., 117) Einige Zitate aus den Ṭawāsīn zeigen uns, wie sehr al-Ḥallāǧ sich der erwähnten Probleme des tauḥīd bewusst war: die Unmöglichkeit für den Menschen, wirklich zu bezeugen, dass Gott einer ist; die Natur der Beziehung zwischen dem bezeugten Objekt und dem menschlichen Subjekt, das es bezeugt; die Schwierigkeiten, die diese Beziehung hervorruft; schließlich das Lob Gottes, in dem sich der Glanz seiner Herrlichkeit parallel mit seinem Schöpferakt verwirklicht. Gott ist einer, einziger, alleiniger, der bezeugte Eine. – Der Eine und die Bezeugung des Einen sind „in ihm“ und „von ihm“ … – Das Wissen der Bezeugung, dass er einer ist, ist ein autonomes, abstraktes Erkennen. – Die (menschliche) Aussage, die bezeugt, dass er einer ist, ist ein Attribut des (geschaffenen) Subjekts, das ihn be-
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zeugt; es ist nicht ein Attribut des Objekts, das als Einer bezeugt wird. Wenn ich nun sage „Ich“, mache dann auch ihn sagen „Ich“? Mein Bezeugen kommt also von mir, nicht von ihm. – Aber wenn ich sage: Die Bezeugung, dass Gott einer ist, stammt vom Subjekt, das ihn bezeugt, dann mache ich aus diesem Bezeugen etwas Geschaffenes. – Und wenn ich sage: Die Bezeugung, dass Gott einer ist, stammt vom Objekt, das es als Einen bezeugt, welche Beziehung ist dann verbunden mit dieser (nichtgeschaffenen) Bezeugung, wer immer auch der Bezeugende sein mag? – Und wenn ich sage: Ja, genau, die Bezeugung, dass Gott einer ist, ist eine Beziehung, die das bezeugte Objekt an das Subjekt bindet, das es bezeugt, dann mache ich aus dieser Beziehung eine logische Definition. – Nun ist es aber so: Das innere Bewusstsein kommt hervor aus ihm, kehrt zurück zu ihm, wirkt in ihm, aber es ist logisch nicht notwendig für ihn.39 Das wahre Subjekt des Satzes (der bezeugt, dass Gott einer ist) bewegt sich und zirkuliert zwischen der (geschaffenen) Vielfalt (des Geschaffenen) der (scheinbaren) Subjekte.40 Von seiner Seite her, in seiner reinen Gottheit, subsistiert Gott, transzendiert jegliches kontingente Sein. Ehre sei diesem Gott, den keine Zweitursache bedingt, sein Beweis ist stark, sein Argument herrlich, er, der Herr des Glanzes, der Herrlichkeit und der Majestät! – Er allein kennt sich, Herr des Glanzes und der Huldigung, Schöpfer der Geister und der Körper. (Ṭaw. VIII, 2–10; IX, 1 f.; P., 877 f.) Es gibt einen Vierzeiler von al-Ḥallāǧ, der sein Denken in vollkommener Weise zum Ausdruck bringt: Ein göttlicher Name, der mit den Seienden der Schöpfung sein soll! Der Mensch auf der Suche nach ihm ist in ein unruhiges Verlangen
39 Die Beziehung ist nicht eine solche, die man definieren und denken kann: Sie gehört der Ordnung des Existentiellen an, im Schöpfungsakt. 40 Wenn die Menschen sagen: „Ich bezeuge, dass es keine Gottheit gibt außer Gott!“, dann sind sie nicht die wirklichen Subjekte des Bezeugens. Noch weniger ist es der Satz, den sie aussprechen, der (im aktiven Sinn von machen) dieses Bezeugen attestiert. Nein, es ist das Objekt (von einem menschlichen Gesichtspunkt aus gesehen) ihres Bezeugens, Gott, der in Wahrheit für sie bezeugt und sich selbst bezeugt in der Innerlichkeit ihres Herzens, geeint durch die Einheit dieses Zeugnisses. Aber man muss Gott sprechen lassen.
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hinein getäuscht worden, indem er aus diesem Namen die Kenntnis einer Seiner Bedeutungen ziehen wollte. Bei Gott! Man kann nicht auf einer ununterbrochenen Straße von Gott hinübergehen zu einer Sache, die, durch ihn manifestiert, ihn manifestiert. (D. M, 69) Kein Geschöpf, kein vom Geschöpf ausgesprochener, geschaffener Name kann Gott in seinem wahren Licht ausdrücken. Der Mensch kann Gott nicht manifestieren, so, als wäre er eine theophane Emanation. Wie weit ist man entfernt von der ontologischen und kosmologischen Vision Ibn ʿArabīs, so wie Henri Corbin sie uns erahnen lässt, wenn er von der „primordialen Traurigkeit der göttlichen Namen spricht, die sich in der Erwartung der Seienden, die sie ,benennen‘ werden, d. h. deren Sein die göttlichen Namen in concreto manifestieren wird, ängstigen, und wenn er auf der anderen Seite vom Mitfühlen des göttlichen Seins spricht, das mit der Traurigkeit der Namen ,sympathisiert‘, die sein Wesen benennen, während es noch kein anderes Sein benennt, und das in seiner Einsamkeit triumphiert in diesem Seufzen, das die Realität dieses ,Du‘ aktualisiert, das also das Geheimnis seiner göttlichen Souveränität ist“. Und Corbin fügt hinzu: „Folglich bist ,du‘ es, dem die Göttlichkeit deines Herrn anvertraut ist, und es hängt von dir ab, ,dich deines Gottes fähig zu machen‘, indem du für ihn antwortest.“ 41 Für alḤallāǧ dagegen ist es Gott allein, der sich manifestiert, in seinem Schöpferakt. Man kann sagen, dass Gott sich in der Totalität dieses Aktes manifestiert, also gleichfalls in seinem End- und Zielpunkt, dem Geschöpf. Er manifestiert sich, indem er es manifestiert, d. h. indem er es erschafft. Aber die reale Kraft Gott zu manifestieren, liegt nicht in dem Geschöpf, sie liegt einzig und allein im Schöpferakt. Die Namen Gottes kennen keinerlei Traurigkeit darüber, dass sie nicht vom Menschen genannt wurden; es ist der Mensch, der sich in der Traurigkeit eines leeren Verlangens verirrt (dies bringt das Wort walah in dem Gedicht, das wir zitiert haben, zum Ausdruck).42 Die einzige Realität, die der Mensch zu finden hat und die ihm den gelassenen Frieden
41 Corbin, L’imagination créatrice dans se soufisme d’Ibn Arabī, 95. 42 Walah bezeichnet die Traurigkeit und die Erregung, die bis zur Demenz führen können. Dieses Wort drückt auch die Betrübnis einer Mutter aus, die von ihrem Kind getrennt ist und sich danach sehnt, es wiederzufinden.
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(ṭamaʾnīna) verschaffen wird, ist nicht ein Name, es ist Gott, der sich dem Prinzip selbst jeden Seins offenbart. Die ḥallāǧische Ekstase schreibt sich also ein im Geheimnis einer Schöpfung, von der man, indem man sie in adäquater Weise meditiert, nichtsdestotrotz wissen kann, dass sie nicht ausschließlich in einer „Handlung ad extra“ besteht, die gewiss Gott als Prinzip und Autor hat, die ihn jedoch nicht innerlich betrifft, weder in der Ausübung des Schöpfungsaktes und noch viel weniger in dessen Endziel. Dennoch, die Bemühung von al-Ḥallāǧ geht darüber hinaus. Es ging ihm darum, soweit das menschliche Denken und Sprechen dazu in der Lage sind, in die Natur der Intimität einzudringen, die die Schöpfung in Gott hat. Aber er gelangte hierbei an die Grenze des Ausdrückbaren und Vorstellbaren. Die Begriffe, die er verwendete, sind, wenn man sie wörtlich nimmt, approximativ, ja manchmal irreführend; er sprach von der Ewigkeit, indem er dabei räumliche Schemata und Bilder der Zukunft benutzte. Kurz, es gilt alles, was er sagte, so zu verstehen, dass man niemals aus dem Blick verliert: Gott ist einer, unbeweglich, jeder Kontingenz fremd, ganz und gar sich selbst genügend. Will man den logischen und punktuellen tauḥīd des Glaubensbekenntnisses geschmeidig machen und verlebendigen, muss man sich sorgsam davor hüten, ihn aufzulösen. „Keiner unter den Engeln noch unter den Gott Nahestehenden [muqarrabūn] weiß, warum Gott die Erschaffung vollzogen hat, noch wie sie begann und wie sie enden wird, denn die Zungen hatten noch nicht gesprochen, noch die Augen gesehen, noch die Ohren gehört“ (P., 601). Hier wird also klar beteuert, dass der Schöpferakt (durch den Gott die Schöpfung gemacht hat) von den Kreaturen getrennt werden muss (mit ihren Zungen, ihren Augen, ihren Ohren). Die Idee ist letztendlich einfach: Genauso wie man nicht an seiner eigenen Geburt teilnimmt, ist man nicht Zeuge seiner eigenen Erschaffung, es sei dann, man sei vorher geschaffen worden, um ihr beizuwohnen – eine absurde Vorstellung. Gott erschafft also, bevor Geschöpfe existieren. Dieses „vor“ kann keine temporäre Bedeutung haben, sondern es bedeutet doch auch mehr als eine logische Priorität. Es ist, um es vielleicht mit Faḫr adDīn ar-Rāzī zu sagen, eine Priorität ontologischer Würde.43 Al-Ḥallāǧ 43 Kommentar des ar-Rāzī zu Koran 57:3; „Er ist der Erste“ (VIII, 83).
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spricht also von einer Vorzeitigkeit (azal: die Tatsache, dass Gott kein anderes Wesen vorausgegangen ist), die die Transzendenz, die vollkommene Einsamkeit Gottes in sich selbst zum Ausdruck bringt. „Gott in seinem vorzeitlichen Voraussein, in seinem Ich, war einzig, nichts war mit ihm.“ Und die Meditation des innersten Reichtums des göttlichen Wesens geht weiter: „Also, in sich betrachtete er in seiner Vorzeitigkeit, in seinem Ich, in allem, was nicht sichtbar war, und erkannte die Gesamtheit des Wissens, der Macht, der Liebe, des Verlangens, der Klugheit, der Majestät, der Schönheit, der Herrlichkeit …“ So ist das innere Leben Gottes zunächst einmal eine Betrachtung seiner Attribute (ṣifāt). Dann spricht er und verherrlicht sich durch Ideen (maʿānī). „Also, durch eine Idee, durch alle seine Ideen, in seinem Ich. Er ging durch alle Diskurse, er führte Gespräche aller Gespräche; er bejubelte sich mit aller Vollkommenheit des Sich-Bejubelns.“ Schließlich rekapituliert sich in seinem Wesen (ḏāt) alles und weitet sich aus in der Liebe: Und als er in sich selbst sich so unterhielt, in seinem ganzen Wesen, mit dem Wesen seines Wesens, da war es durch seine Idee, durch alle seine Ideen, dass er betrachtete, und diese Idee, das war die Liebe in der Einsamkeit all dessen, was wir aufgezählt haben, die ganze Zeit lang, die er beim Gespräch und Diskurs verbrachte […] Dann betrachtete er in sich mittels des Attributes Liebe, in der Totalität des Attributes Liebe; denn in seinem Wesen ist die Liebe das Wesen des Wesens. Sie ist für ihn seine Attribute, in allen seinen Ideen. (P., 602, 604) Alle diese Begriffe gehören zum technischen Vokabular der Theologie. Aber wer diese Texte, die man als von einem ekstatischen Hauch animiert erfährt, verstehen will, indem er ihnen rigorose Definitionen auferlegt, würde nicht zu irgendeiner klaren und kohärenten Bedeutung gelangen. Es gilt vor allem zu sehen, dass das Denken einem Schema der Meditation folgt, das in den geistlichen Übungen der Sufis normal ist: Man geht von den Attributen zu den Ideen, um beim Wesen zu enden. Aber die scholastischen Distinktionen verlieren ihren Wert: Es ist immer der eine Gott, den man meditiert. Die Ausdrücke „dann“ und „als“ haben keinerlei temporäre Bedeutung. Alles, was man darüber hinaus sagen kann, ist, dass sie den Fort-
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schritt der mystischen Illumination im Herzen von al-Ḥallāǧ markieren. In der Tat offenbart uns diese großartige geistliche Dichtung vor allem, dass eine Seele, die bei einem Attribut oder einem göttlichen Namen verweilt, ganz und gar durchhaucht ist in der Meditation der Ganzheit, die Gott ist. Sie lehrt uns vor allem, dass diese Totalität das Wesen des Wesens, die Liebe ist, die die göttliche Persönlichkeit begründet. Bemerken wir im Vorübergehen, dass das spekulative, extrinsische Denken haltmacht bei dem Begriff eines Wesens. Allein das Denken, emporgehoben durch die mystische Erfahrung der Intimität, kann das Wesen des Wesens betrachten. Die Liebe wird am Ende erwähnt. Aber sie stellt keine Krönung dar, noch weniger eine Synthese, die durch eine dialektische Energie hervorgehen würde aus dem, was zunächst beschrieben wurde. Sie ist das Prinzip, sie ist unmittelbar die totale Realität. Dies also ist Gott in seiner Vorzeitigkeit. Al-Ḥallāǧ schreibt: „Erst nachher erschuf er die Individuen, die Formen und die Geister.“ Von diesem „nach“ müssen wir sagen, was wir vom „vorher“ sagten. Dieser Satz sagt nur, dass hier die Schöpfung mit den Seienden, die sie hervorbringt, betrachtet wird und dass diese Seienden mit Kontingenz behaftet sind. Die Schöpfung, sofern sie in Verbindung mit den Geschöpfen betrachtet wird, ist übrigens zweifach: Sie gibt zunächst den Dingen eine „erste Existenz“, die ideale Modalität von möglichen Dingen, dann die „zweite Existenz“, d. h. ihre Verwirklichung als Existenz hic et nunc durch das fiat. Es ist durch die zweite, dass Gott den Abstand (bāʾinūna) zwischen seiner Einheit und den Einheiten der geschaffenen Seienden herstellt. Aber die Trennung ist auch geschaffen, und Gott erfüllt sie mit seiner Liebe. Die Liebe allein ist fähig zu schaffen, d. h. in der ontologischen Diskontinuität eine Kontinuität zu schaffen, die vom Schöpfer hin zur Kreatur besteht. Die Schlussfolgerung, zu der Louis Massignon gelangt, lautet so: „Für al-Ḥallāǧ (und das ist das erste Mal, […] dass diese These vorgetragen wird) ist das Geheimnis der Schöpfung Liebe, das Wesen des göttlichen Wesens“ (P., 606).44 Wie den Schleier dieses Geheimnisses lüften?
44 Eine vergleichbare Idee, wenn auch spekulativer, bei ar-Rāzī: Gott in seiner reinen Transzendenz ist vollkommen; Gott der Schöpfer und Offenbarer ist „über der Vollständigkeit“ (fauq al-tamām).
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Hier sind die Ausdrücke, die al-Ḥallāǧ gebraucht, völlig unzutreffend, wenn sie wörtlich verstanden werden. Er versucht zunächst, der Fülle der Liebe Ausdruck zu verleihen. Dann, durch das Attribut „Liebe“, richtete er seinen Blick auf jedes Attribut unter den Attributen … bis dass seine Zeit dort verging … Dann betrachtete er durch die Attribute der Liebe in den Attributen der Liebe, bis genauso viel Zeit verfloss, und noch länger. Dann, in dem Attribut, das ihm eigen ist (die Liebe), betrachtete er durch die Attribute, die ihm eigen sind, bis so genauso viel Zeit verging. Bis dahin, dass er jedes einzeln in allen seinen Attributen betrachtet hatte, bis dass er die Totalität der Attribute in ihrer Vollkommenheit betrachtete, damit so die unbeschreibliche Länge der Dauer seiner Vorzeitlichkeiten, seiner Vollkommenheit, seiner Einsamkeit (infirād), seines Dekretes (mašīyat) vergehe. – Dann lobte er sich selbst, in seinem Ich. Dann lobte er in seinen eigenen Attributen seine eigenen Attribute. Dann lobte er in seinem Namen seine Namen; in jedem Attribut lobte er sein Wesen und sein Lob. (P., 605) Die bewundernswerte Übersetzung Massignons gibt gut das Zittern dieses Menschen wieder, der mehr sieht, als er aussprechen kann. Aber welcher Reichtum des Lebens Gottes, die unendliche Zahl seiner aufstrahlenden Manifestationen (taǧallī), die unzählige Male einander reflektieren in der Grundmanifestation seiner Liebe! Die ganze schöpferische Macht ist da, mit ihrer Kraft, mit ihrem Endziel: dem Lob und der Verherrlichung Gottes. Sie wird sich verwirklichen, aber al-Ḥallāǧ markierte doch einen Schnitt: „Da sagte Gott, dass er diese Attribute der Liebe in der Einsamkeit sichtbar machen werde, damit er in ihnen sehe und damit er mit ihnen lange Gespräche führe.“ Was bedeuten diese Aussagen? Stellen wir uns nicht vor, Gott habe eines schönen Tages beschlossen zu erschaffen. Das wäre in keiner Weise zulässig. Indem er das Bild eines zeitlichen Schnitts verwendet, möchte al-Ḥallāǧ, nachdem er die ausstrahlende Macht der Fülle der Liebe gezeigt hat, sagen, dass die Schöpfung nicht aus einer Überfülle resultiert, die sozusagen überläuft, analog der hyperplѐres des Plotin. Die Liebe erschöpft sich unablässig in Gott selbst, dies ist die Bedeutung des dauernd wiederholten Ausdrucks „… bis dass seine Zeit dort verging“. Gott genügt sich, und sein Lob genügt ihm, selbst wenn seine Liebe Animator seines
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[des Lobes] ist, denn seine Liebe braucht keine anderen zu lieben als ihn. Was aber ist dann mit der Schöpfung? Das ist ein Geheimnis. Sei dem so. Aber wenn sie reines Geheimnis wäre, dann brauchte al-Ḥallāǧ nur einfach zurückzufallen in den äußeren und agnostischen Kult des legalistischen Islam. Was hat er also geahnt? Was hat er verstanden? Er versuchte nicht die Schöpfung von einem Begriff Gottes abzuleiten. Dies ist ein unmögliches Unterfangen, das übrigens auch nicht von Interesse ist. Schauen wir also auf den unmittelbar folgenden Text: „Er schaute in das vorzeitliche ,Vorher‘ und erschuf ein Bild. Dieses Bild ist sein Bild, Bild des Wesens, und er, Gott, wenn er auf eine Sache schaut, dann erschafft er in ihr sein Bild für alle kommende Ewigkeit.“ Diese Art zu schreiben erinnert in unangenehmer Weise an die unzähligen gnostischen Aussagen, die nach Belieben alle erwünschten Entitäten mittels aller möglichen verbalen Kniffe hervorkommen lassen. Ist al-Ḥallāǧ möglicherweise gescheitert? Ist er vielleicht im letzten, im entscheidenden Moment schwach geworden und in die mythischen Kosmogonien zurückgefallen? Nun, lassen wir uns nicht durch seine Sprache in die Irre führen. Er hatte keine große Wahl, um sich auszudrücken, nachdem er einmal der offenkundig unzureichenden spekulativen Sprache und einer sprachlichen Steifheit, die sie nutzlos machte, entsagt hatte. In den letzten Texten hebt sich ein Wort ab: Er schaute. Bis dahin hatte al-Ḥallāǧ gesagt: Er betrachtete. Der Unterschied ist wichtig. Man wird ihn erfassen, wenn man Person und Natur unterscheidet. Das Wesen ist Natur; das Wesen des Wesens, die Liebe, ist Person. Wenn die Liebe sich in der Einzigkeit des Wesens vertieft, dessen Wesen sie in ihrer Einsamkeit (infirād) ist, dann betrachtet sie diese in einer inneren Union. Gott ist dann in der Transzendenz seines In-sich, in der Vorzeitigkeit, in seiner unzugänglichen und nicht vermittelbaren göttlichen Natur (lāhūt), die sich „in einer Weise, die niemand verstehen kann“, liebt. Aber Gott ist durch das Wesen seines Wesens, durch die Liebe, eine Person. Nun hat aber eine Person ein Zentrum, in dem sie sich zentriert. Das Bild eines Blickes, der von einem Zentrum ausgeht, drückt also den Akt der Person aus, einen Akt der Liebe. Auf der Stufe der Natur „betrachtete Gott in seiner Vorzeitigkeit, in seinem Ich, in allem, was nicht sichtbar ist“. Auf der Stufe der Person hat er die Attribute der Liebe in der Einsamkeit sichtbar gemacht; er schaut. Ein menschlicher Blick richtet sich auf ein geschaffenes Objekt. Wie jeder Blick positio-
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niert er sich in einer „Distanz“. Mit dem göttlichen Blick kann es kaum anders sein. Wie jeder Blick nimmt er eine „Distanz“ ein. Er realisiert sich nicht, wie die Betrachtung, in einer der Intuition ähnlichen Vereinigung. Nein, er erschafft das Objekt, das er auf Distanz hält, eine Distanz, die sich zunächst übersetzt durch die zukünftige Ewigkeit. Schließlich ist dieses Objekt, das er erschafft, ein Bild von ihm selbst, da es ja außer ihm nichts gibt, das existiert. Sein Blick trägt ihn und setzt ihn in die Distanz, die er festsetzt. So erscheint im Herzen des Geheimnisses, durch die Meditation der personalen Realität der Liebe, ein Licht, das genügt, um den Beginn des schöpferischen Aktes anzuzeigen und um vor denen, die davon keine Erfahrung haben, die originelle Natur der ḥallāǧischen Ekstase zu rechtfertigen. Aber mehr kann man darüber nicht sagen. Die Schöpfung ist also ein Blick der Liebe; sie ist ganz und gar ein personaler Akt, der jegliche notwendige Emanation ausschließt. Für alḤallāǧ war dies der wichtigste Punkt, den es zu etablieren galt. Der Ekstatiker lenkt alles zurück zu diesem göttlichen Blick, der in ihm aufleuchtet, der seine Person verklärt in der Person Gottes. Wie dem auch sei, selbst diese Investitur konstituiert nicht das allerletzte Endziel der Ekstase, sie führt hin zu ihr. Setzen wir also mit alḤallāǧ die Meditation der Schöpfung fort. Wir haben schon das nichtmitteilbare Wesen erwähnt, das den Namen lāhūt trägt. Jetzt müssen wir von der nāsūt sprechen, dem Menschsein, „dieser Form, die das göttliche Wort vor jeglicher Schöpfung (d. h. der Individuen) angenommen hat, dieses Kleid der Herrlichkeit (kiswa) des Zeugen des Absoluten (šāhid al-qidam)“, wie Louis Massignon nāsūt erklärt. Dieser Ausdruck, wie die meisten der Ausdrücke, deren al-Ḥallāǧ sich hier bedient, hat einige gnostische Resonanzen. Aber – wir haben es schon gesagt – das ist nicht erstaunlich; die rätselhafte Sprache, deren Fremdheit die Sufis selbst betonten, indem sie sie „suriānīya“ (genau die Worte lāhūt und nāsūt sind syrische Wortbildungen)45 nannten, gibt nicht notwendig den ganzen Kontext der Gnosis 45 Vgl. Ignaz Goldziher, Al-Ḥusejn b. Manṣūr al-Ḥallāǧ, in: Der Islam 4 (1913), 165–169. Er spricht von „diese[r] exaltierte[n] Sprache […], die zuweilen die Grenze der Möglichkeiten des arabischen Vokabulars überschreitet, und die dann in einen Modus des Ausdrucks fällt […], der sich jenseits der lexikalischen Tradition abspielt“.
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wieder. Die nāsūt ist also jenes Bild des Wesens, das Gott mit seinem Blick erschafft und mit dem er sich unterhält. In diesem Bild blickte er einen Moment zwischen seinen Momenten. Dann rief er ihn an, in einem Moment zwischen seinen Momenten. Dann sprach er, wünschte ihm etwas, und darauf erweckte er ihn zum Leben. So erlangte dieses Bild (d. h. Adam) Zugang zu dem, was Gott weiß und was er vor diesem Moment nicht wusste. – Dann lobte sie Gott, verherrlichte sie und erwählte sie, mit diesen Attributen, deren Erscheinen er absichtlich in dieser Individualität vorbereitet hatte, indem er sie (die Attribute) in diesem Bild erscheinen ließ. Gott wurde der Schöpfer (ḫāliq), der Ernährer (rāziq). Er vollzog den taṣbīḥ (indem er sagte: Gott sei gelobt) und den tahlīl (indem er sagte: Es gibt keinen Gott außer Gott). Er manifestierte die Attribute ad extra (Attribute der Handlung), und sooft Gott Glanz und Wunder erschuf, die er in ihr (der Individualität des Menschen) erblickte, so oft führte er ihn in das Königreich, und er erstrahlte in ihm und durch es. (P., 605 f.) Man kann nicht verneinen, dass dieser Text, für sich selbst genommen, die Spekulationen der Hermetik über den ersten Menschen in Erinnerung ruft und an zahlreiche analoge gnostische Ideen denken lässt, über Adam oder über Muhammad, z. B. „die muhammadanische Realität“ (al-ḥaqīqa al-muḥammadīya), die bei Ibn al-ʿArabī den Logos bezeichnet: Der Mystiker aus Murcia sollte die ḥallāǧischen Ideen in diesem Sinn interpretieren.46 Das ist übrigens die einfache Interpretation. Sie hat nichts zu tun mit der Erfahrung, deren Rahmen diese Ideen sozusagen sind. Al-Ḥallāǧ beruft sich hier klar auf die Unterscheidung der zwei Schöpfungen, der Schöpfung, die die „erste Existenz“ verleiht, die Form des nāsūt, und die der „zweiten Existenz“, die „zum Leben erweckt“ (našara). Der Übergang von der einen zu der anderen ist gezeichnet von einer Reihe von göttlichen, schöpferischen Akten: die Form des Menschseins, Gott sieht in ihr, er grüßt sie und spendet ihr Beifall. Dann scheint er sie in seine Nähe zu bringen: Er spricht zu ihr, er beglückwünscht sie, indem er ihr gratuliert (tahniʾa), und an diesem 46 Vgl. Georges C. Anawati / Louis Gardet, Mystique musulmane, Paris 1961, 59.
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Punkt verleiht er ihr individuelle Existenz. Dieses Geschenk macht aus ihm den Schöpfer im aktiven Sinn, und gleich darauf sagt al-Ḥallāǧ, dass Gott den taṣbīh und den tahlīl vollzieht: Man kann nicht besser zeigen, dass das Zeugnis Gottes von seiner transzendenten Einzigkeit mit dem Vollzug des Schöpferaktes in seinem Endziel verbunden ist. Nicht dass er sich loben würde, erschaffen zu haben, darüber ist er weit erhaben, sondern er lobt sich, weil sich im vollendeten Akt des Erschaffens – und nicht nur da – die Realität seines Zeugnisses ausdrückt, dass er eins ist, dass er der einzige Meister der glorreichen Majestät ist. Warum diese zwei Etappen im Geschenk der Existenz? Eine schwerwiegende Frage, denn die Einführung solcher Stufen läuft Gefahr, an eine Kontinuität im Wesen glauben zu machen, und riskiert, zum existentiellen Monismus (den, den Ibn al-ʿArabī bekennen wird) zu führen. Es gibt einen Grund, dessen Untersuchung uns erlauben wird, voranzugehen in der Abgrenzung der ḥallāǧischen Ekstase. Die erste Existenz ist diejenige, welche mit einem für diese Mystik wesentlichen Ereignis korrespondiert: dem miṯāq, dem „Bund“. In Vers 172 der Sure 7 ist gesagt, dass Gott die gesamte Nachkommenschaft Adams nahm und allen diesen Menschen befahl zu kommen, damit sie bezeugten, dass er ihr Herr sei. Sie antworteten: Ja, wir bezeugen es. Viele Traditionen haben dieses Thema erweitert, und die Theologen haben es in den verschiedensten Bedeutungen verstanden: Einige haben darin die Bejahung der ursprünglichen Freiheit gesehen, die den menschlichen Verstand charakterisiert; andere haben an eine dem Verstand eingeprägte Markierung (fiṭra) gedacht, die ihm so erlaubt, den Monotheismus anzuerkennen. Die einen ziehen daraus den Beweis einer Initiative, die dem Menschen überlassen ist, die anderen den Beweis für eine rigoros verstandene Prädestination. Für die Sufis definiert der miṯāq eine ideale, ganz und gar reine Situation: Der Mensch, sein ganzes Sein in der Hand Gottes, ohne irgendeinen der Schleier seines empirischen „Ich“, vertieft sich gänzlich in seiner Zustimmung. Der Fortschritt auf dem mystischen Weg besteht also darin, „zurückzukommen“ zum uranfänglichen (primordialen) Zustand. Die finale, ekstatische Erfahrung wird also exakt das sein, was der miṯāq gewesen ist. So dachte al-Ǧunaid, dass der miṯāq sich auf dem Niveau der Ideen der Geschöpfe platziere, in Gott, und dass es das Ziel seiner Mystik sei, das Geschöpf zu zerstören, um davon nichts subsistieren zu
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lassen als seine Idee in der ewigen, göttlichen Einzigkeit. Was ist die Konzeption von al-Ḥallāǧ? Er schreibt: „Wie konnte Adam, noch von den Realitäten abwesend, in der Schwebe vor ihm, auf seine Frage antworten: Bin ich nicht euer Herr? – Es ist Gott, der gleichzeitig der war, der spricht, und der, der antwortet. Er spricht in eurem Namen ohne euch, und es ist ein anderer als ihr, der für euch antwortet; ihr schweigt, ihr, und derjenige, der nicht aufhören wird, bleibt, so wie er immer gewesen ist“ (P., 601 f.). Man denkt vielleicht, dass der Unterschied nur eine Sache von Worten ist. Untersuchen wir also den Text ganz genau. Zunächst einmal entwickelt sich der Dialog des miṯāq nicht zwischen Gott und den ewigen, archetypischen Ideen, sondern zwischen ihm und einem geschaffenen Bild seines Wesens, des nāsūt (Menschseins). Dann ist diese Schöpfung diejenige, die die „erste Existenz“ geschenkt hat, und man ahnt das Interesse an der Distinktion zwischen der ersten und der zweiten Existenz. Rufen wir uns hier die Ausdrücke ins Gedächtnis, auf die wir schon im Vorhergehenden unsere Aufmerksamkeit gelenkt haben: Gott hat nur die Form des Menschseins gegrüßt und bejubelt; er stellte sie vor seine Person, als Bild seiner selbst, das noch nicht das Wort hatte, denn es war nur das Bild des Wesens, vor dem göttlichen Ich (dem alleinigen wirklichen Subjekt in der ersten Person jeglichen Satzes), d. h., Gott allein sprach, fragend und antwortend. Was vor sich geht, ist miṯāq, wo die einzige gegenwärtige „Person“ die Person Gottes ist. Dann haben wir gesehen, dass Gott zum Menschen spricht. Er gibt ihm dann die zweite Existenz des konkreten Menschen, und er ist der Schöpfer, der den taṣbīh und den tahlīl vollzieht. Es handelt sich hier also um die Beschreibung einer Realität, die alḤallāǧ geschenkt wurde und die komplexer und geschmeidiger ist als das System von al-Ǧunaid. Die ḥallāǧische Ekstase besteht in zwei Stufen: Auf der ersten gelangt der Mensch infolge des fanāʾ zum Prinzip seines Seins, das das Endziel seiner Erschaffung ist, der er seine Existenz verdankt (die zweite Existenz); dort spricht Gott zu ihm, in ihm und durch ihn; nachdem er sein empirisches Ich ganz und gar ausgelöscht hat, kann der Mystiker in der ersten Person sprechen und „Ich“ sagen. Er ist geworden „er ist Er“ (hūwa hūwa). Nach Massignon bezeichnet dieser Ausdruck eine „göttliche Investitur eines menschlichen Subjektes“, das derjenige wird, durch den Gott sich ausdrückt. So hatte
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al-Ḥallāǧ das Privileg erhalten, die Einzigkeit Gottes, die allein Gott legitim verkündet, in ihrer vollen Wahrheit zu verkünden. „Das hūwa hūwa […] ist die Stimme der legitimen Predigt: Adam, so wie auch Satan“ (P., 517, Anm. 1). Die Angelegenheit mit Satan hat eine große Bedeutung im Studium des „Ich“, wir werden darauf zurückkommen. Auch er hatte bezeugt, dass Gott einer ist. Dieses Niveau der Ekstase beschreibt Massignon als intellektuelle Erleuchtung, die noch nicht die mystische Union ist. Das Epitheton „intellektuell“ kann in die Irre führen. Es ist nicht die menschliche Intelligenz, die vom Licht erhellt wird; denn man befindet sich jenseits des fanāʾ, sie kann nicht mehr intervenieren, sie ist verklärt mit der ganzen empirischen Person. Die Bedeutung der Aussage ist also, dass der Mensch dann in seiner ausstrahlenden Wahrheit das „Wissen, das bei Gott ist“, das des tauḥīd, „erkennt“, denn sein „Ich“ ist verschwunden vor dem göttlichen „Ich“, indem er Seine Einheit in seinem Schöpfungsakt verkündet. Aber wie hoch diese mystische Stufe auch immer sein mag, es ist nicht die letzte. Tatsächlich situiert sich die zweite Stufe innerhalb des Kreises der „ersten Existenz“, dort, wo der „Pakt“ sich ereignet hat, wo der Mensch nicht mehr spricht, wo Gott zu sich selbst spricht vom Menschen, den er vor sich selbst hält, im Bild des nāsūt. Es ist das Wesen der Einigung (ʿain al-ǧamʿ) oder die Einigung der Einigung (ǧamʿ al-ǧamʿ). Bedenken wir auf jeden Fall – denn es ist leicht, bei so feinen Einsichten die Nuancen zu übersehen –, dass al-Ḥallāǧ da nicht an einen Gott denkt, der seine Ideen betrachtet; wenn Gott betrachtet, dann ist da kein nāsūt; wenn das nāsūt gegenwärtig ist, dann blickt er auf sie und spricht zu ihr als Person. Die ḥallāǧische Einigung ist eine Rückkehr zu Gott, aber nicht wie zu einer Natur, aus der die Seienden per Emanation hervorgegangen sind und in die sie zurückkehren, um in ihr aufzugehen. Sie ist eine völlig unverdiente Gnade, sie ist jedoch nicht eine Herabkunft des Göttlichen in den menschlichen Bereich (ḥulūl), denn sie ist personal. Sie ist, so beschreibt sie al-Qušairī, ein bestimmtes Wort Gottes, adressiert an das Innerste (sirr) der Seele „in einer Sprache, die selbst gleichzeitig Wort und Antwort bereitstellt, ohne dass der Gläubige davon etwas weiß“. Und er fügte hinzu: „Es ist jedoch sicher, dass dies das Wort Gottes ist, obwohl der Gläubige es nicht weiß, und dass der Unterschied zwischen ihm und Gott verschwindet. Das ist die Einigung der Eini-
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gung, wo der Wortführer der Mystiker gesagt hat: anā al-ḥaqq! Ein von Gott geäußertes Wort, wobei jede menschliche Personalität spurlos verschwunden ist“ (P., 405 f.). Dieser Zustand der Einigung ist eindeutig kommend und gehend, und deshalb weiß der Gläubige außerhalb der Ekstase nicht mehr, was sich ereignet hat; auch ein Mystiker wie der „arme Abū Yazīd“ konnte erschrecken über die Worte, die er ausgesprochen hatte und die man ihm berichtete. Was das Beschreiben der Qualität dieser beiden ekstatischen Erfahrungen angeht, so übersteigt dies die menschlichen Kräfte. Wir konnten sie nur in einem Rahmen situieren, indem wir uns einerseits von dem haben belehren lassen, was Massignon die „dogmatische Theologie“ von al-Ḥallāǧ genannt hat (Begriff Gottes, der Schöpfung und des „Paktes“), und indem wir andererseits Vergleiche mit anderen mystischen Systemen gemacht haben. Nichtsdestoweniger, weil die Ekstase auf der göttlichen Person, die blickt und spricht, zu beruhen scheint, werden wir das, was al-Ḥallāǧ von den zwei Personen sagt, untersuchen, deren „Ich“ in seinen Augen einen großen, signifikanten Stellenwert einnimmt, die Person des Pharaos und besonders die des Satans, ohne dass wir uns bei den „Satan-Interpretationen“ aufhalten, die einige seiner Schüler vorgelegt haben (vgl. P., 934 f.). Der Koran erzählt, dass der Pharao seinem Rat sagte: „Ich weiß, dass es für euch keinen anderen Gott gibt als mich“ (28:38). Die Formel ist fast die des Bekenntnisses des Glaubens, aber sie ist in der ersten Person gehalten (in Arabisch: al-mutakallim – derjenige, der spricht). Im Kontrast dazu steht im Buch geschrieben: Es gibt keinen anderen Gott als ihn. Es ist notwendig, dass das „Ich“ vor diesem „Ihm“ verschwindet, gelehrt in der dritten Person (in Arabisch: al-ġaib – der Abwesende). Die Predigt beginnt mit der Ankündigung des Abwesenden durch einen von ihm ausgewählten Gesandten. Sie spricht vom Abwesenden; nun weiß man aber, dass, wenn man z. B. in einer Familie von einem Abwesenden spricht, jeder das Gefühl hat, dass alles, was er machen und sagen kann während dieser Zeit [seiner Abwesenheit], etwas Provisorisches, Unvollendetes, nicht Wesentliches an sich hat. Der Abwesende wird dann erfahren als der Wesentliche, als der, der allen ihre reale und vollständige Bedeutung gibt. Der Abwesende wird gegenwärtig, gegenwärtiger gar als die Anwesenden. Man denkt an das, was er tun, was er sagen würde. Man ist nicht mehr man selbst, man identifiziert sich mehr und mehr mit ihm. Genau das
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passiert in der Gemeinschaft der Glaubenden, wo man den Abwesenden predigt. Der hūwa (Er) macht sich dort gegenwärtig, dominant. Er löscht die individuellen „Ichs“ aus, bringt allen ein und dasselbe Denken, das Denken über ihn, sein Denken. Zweifellos ist das Bild, das wir gewählt haben, inadäquat, um auszudrücken, was sich auf der Ebene des religiösen Lebens realisiert. Aber es gibt uns doch eine gewisse Idee. Der Pharao ist also der Mensch, der die Verkündigung des Abwesenden im Namen eines Gottes ablehnt, der unmittelbar gegenwärtig ist; er weist das hūwa der dritten Person zurück, um ungeduldig und voreilig das „Ich“ zu adoptieren, das er sich in illegitimer Weise angeeignet hat. Aber das, was er sagt, ist nicht ein Irrtum. Man fragte al-Ḥallāǧ: Was sagst du zum Wort des Pharaos? Er antwortete: Es ist ein wahres Wort (kalimat ḥaqq) (P., 615). Es ist wirklich, denn Gott kann nicht das ewig abwesende Sein sein, das sich nie jemals erkennen ließe außer durch Gesandte, Vermittler zwischen ihm und den Menschen. Es ist Wahrheit, dass Gott durch seine Liebe seine Gläubigen aufruft, in der ersten Person zu sprechen und, mehr noch, ihren Herrn sich mit ihnen unterhalten zu lassen. Im Grunde ist der Pharao also ein Beispiel, das es zu meditieren gilt, obwohl man seine Hast und seine Dickköpfigkeit nicht nachahmen sollte. Der Satan liefert das Thema für ein Kapitel der Ṭawāsīn, das Tā Sīn al-Azal. Nach dem Koran befahl Gott den Engeln, sich vor Adam anbetend niederzuwerfen. Alle gehorchten, außer Iblīs, der Satan, der sich seinem Herrn gegenüber weigerte und ein langes Streitgespräch mit seinem Herrn führte. Deshalb wurde er verdammt. Diese oft kommentierte Episode wird von al-Ḥallāǧ folgendermaßen interpretiert: Unter den Einwohnern des Himmels befand sich kein dem Satan vergleichbarer Monotheist: Das Wesen (Gott) erschien ihm in all seiner Reinheit; er versagte sich aus Furcht vor ihm (d. h. aus Respekt, Demut und Ehrerbietung) jeglichen Blick, und er begann den Angebeteten in der asketischen Isolierung (taǧrīd) zu verehren. Er zog sich Verfluchung zu, als er volle Vereinsamung (tafrīd) erreichte, und wurde der Frage ausgesetzt, als er, noch mehr fordernd, Solidarität verlangte. Gott sagte ihm dann: Wirf dich vor Adam nieder! – Nicht vor einem anderen als dir! – Selbst wenn mein Fluch über dich fällt? – Er wird mir in keiner Weise schaden! – Und Satan sagte: Ich leugne deinen Befehl; dies, damit ich dich als heilig
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bestätige! Mein Denken möchte verrückt nach dir bleiben! Was ist Adam? Nichts ohne dich! Wer bin ich also, ich, Satan, dass ich ihn von dir unterscheide? (P., 869) Louis Massignon bemerkt, dass der taǧrīd (Losschälung, Entblößung) und mehr noch der tafrīd (Bewusstsein der Zweitlosigkeit Gottes) Gefahren darstellen. Die Trunkenheit der Askese kann ein Hindernis für die Erlangung der mystischen Einheit sein; die Isolierung in der reinen Observanz des Gesetzes der Einzigkeit verwandelt das Wissen, dass Gott einer ist, in eine Ignoranz darüber, was der tauḥīd wirklich ist; so schließt sie jegliche Perspektive der Einigung aus. In dieser Weise hat Satan sein „Ich“ mit der Verkündigung der göttlichen Einzigkeit identifiziert, weil er das Wesen als eines erkannte, weil er das Wesen (Gott) leidenschaftlich liebte, dessen Gesetz sich zu unterwerfen er akzeptierte, selbst wenn er als Konsequenz seines Ungehorsams gegenüber dem Befehl die schrecklichsten Leiden ertragen müsste. Alles, was er ertragen wird, wird von diesem Herrn kommen, dessen Einzigkeit er anbetet. Alles wird also von ihm akzeptiert werden, in totaler Indifferenz gegenüber den Torturen, in einer Art Quietismus, der in ihm den Stolz hervorquellen lässt. „Ich diene ihm jetzt auf reinere Weise, in einem leereren Augenblick, in einem herrlicheren Moment; denn ich diente ihm im Absoluten für das mir zukommende Glück, und siehe, jetzt diene ich ihm für das seine [für sein Glück]“ (Ṭaw. VI, 6–9, 16). Diese Meditation über Satan ist merkwürdig reich. Zunächst belehrt sie uns über das Schicksal, das den moralischen Werten droht, wenn sie in eine religiöse Mystik transportiert werden. „Gut“ und „schlecht“ sind nicht mehr so klar zugeschnittene Gegensätze wie schwarz und weiß. Sie sind vielmehr eher wie die Vorder- und Rückseite derselben Realität. Alles, was Satan Gott sagt, ist wörtlich wahr, wenn man diesen Ausdruck noch benutzen kann. Auch al-Ḥallāǧ hätte so wie Satan sprechen können, und er hat in der Tat ganz ähnliche Aussagen gemacht. Die Annahme des Leidens, der Folter und des Todes macht das Herz der ḥallāǧischen Mystik aus. Hier die Worte Satans: Bist nicht du es, der mich sehen wird, während du mich bis zu Tode folterst? […] Dann wird dein auf mich gerichteter Blick mir helfen, die Vision meiner Folter zu ertragen! Tu mir nach deinem Willen. –
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Ich werde aus dir den „Gesteinigten“ machen, sagt Gott. – Ist es nicht so, dass das „keine beschützende Umzäunung haben“ nur dem widerfährt, der nicht du selbst bist? Verfahre also mit mir nach deinem Willen. (P., 867) Das ist reiner Quietismus. Sei dem so! Aber beachten wir, bis zu welcher Höhe sich Satan hier erhebt. Lässt ihn, den Anbeter des (göttlichen) Wesens, die Annahme des Foltertodes aus Liebe zu diesem Wesen nicht schon die göttliche Person erahnen? Denn es ist ja nicht nur der Glanz der Natur Gottes, der ihn trösten wird, sondern der Blick – der Schöpferblick –, der ihm zu Hilfe kommen wird. Er freut sich, schutzlos vor seinem Herrn zu stehen, so dass sein Anderssein sich nicht weiter einschließt in einem falschen „Ich“ und er sich so ganz absorbieren lässt von dem Zeugnis, das sein Leiden sein wird. Aber warum ist dann Satan Satan? Diese unsere Frage selbst ist ambivalent. Wir verstehen unter Satan den verfluchten Geist. Was nun, wenn die Verfluchung wie eine Gnade erfahren wird? Was repräsentiert Satan dann? Einen Quietisten, sicher; einen Stolzen, ja, aber verwirrt durch den subtilsten Stolz, den es gibt. Die meisten Menschen verirren sich in der Inkonsistenz ihrer leeren Gedanken, im Irrtum; Satan verirrt sich in der Wahrheit. Er klammert sich eifersüchtig an sie; er sieht keinen Grund, nicht in ihr zu sein, er liebt sie und erkennt sich „gedemütigt“ durch Liebe an. Nun ist aber genau diese Demut sein Stolz. Wenn er Quietist ist, insofern er bereit ist, alles demütig von Gott zu empfangen, dann bewaffnet er sich mit seinem Quietismus, er macht daraus eine gewalttätige, gegen Gott gewandte Herausforderung. Und selbst wenn die Person des Herrn sich in seinem Denken profiliert, legt er die Waffen nicht nieder: Er wird das (göttliche) Wesen und nur es ewiglich lieben, denn es allein ist eins. Er wird alles, was vom einzigen Souverän der Welten zu ihm kommt, lieben, bis zu seinem zu Tode gefolterten Sein; er wird den persönlichen Blick Gottes lieben, der ihn der Folter ausliefert. Die Liebe gehört ihm, Satan. Und er wird sich nicht fragen, ob dieser Blick Gottes nicht ein Blick der Liebe ist, die ihn nicht verdammen will, sondern retten. Al-Ḥallāǧ war bereit, die Verurteilung zu akzeptieren, aber das war eine Phase der Reinigung des „Ich“, eine Weise, dem fanāʾ Ausdruck zu verleihen, denn es bedeutet, nicht Gott zu suchen, wenn man sich nur an Wonnen zu ergötzen sucht.
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Nichtsdestoweniger hatte al-Ḥallāǧ auf einer höheren Ebene der Ekstase anerkannt, dass Gott ihn liebte. Wenn es im sinnlichen Leben der Menschen süß ist, geliebt zu werden (amari amabam, sagte Augustinus) – im mystischen Leben besteht die wahre und schwierige Demut darin zu akzeptieren, geliebt zu werden angesichts des Hochmuts, der nichts als lieben will und der denkt, leider! demütig zu lieben. Das ist das Drama Satans, verirrt im Labyrinth von Gut und Böse, von Stolz und Demut. In moderner Sprache könnten wir sagen, dass der ḥallāǧische Satan das skrupulöse religiöse Bewusstsein darstellt: Je reiner es ist, desto mehr verdunkelt es sich; je ehrlicher, desto hinterhältiger; je klarsichtiger, umso raffinierter wird es. Satan beendete sein dialektisches Plädoyer mit den folgenden Worten, in denen sich Niedergeschlagenheit und Herausforderung vermischen: „Ich, ich bin ehrlich in Liebe!“ Mit einem delikateren Gewissen und weniger gequält sagte al-Ḥallāǧ: „Es gibt keinen Protest, der sich als Liebe ausgibt, in dem sich nicht ein Anstandsfehler verbirgt.“ Die Meditation über Satan ist noch von einem weiteren Interesse: Sie erlaubt, ein wenig in das göttliche Geheimnis einzudringen und von einem anderen Sichtwinkel her das zu klären und zu bestätigen, was wir schon über die Ausweitung und innere Beseelung des monolithischen Gottes des koranischen Islam gesagt haben. Mit den Theologen unterscheidet al-Ḥallāǧ die göttliche Vorschrift (oder den Befehl: amr) und das Dekret (oder den göttlichen Willen: irāda). Gott will selbst, erklärt Massignon (P., 624, Anm. 4), mit einem einfachen und nichtgeschaffenen Willen. Dieser betrifft also die Einheit seines Wesens. Das Dekret ist, ontologisch gesehen, der Grund für das Gesetz, das möchte, dass jedes Geschöpf den tauḥīd bekennt. Satan hat diesem Dekret vollkommenen Gehorsam geleistet. Aber er hat das Gebot (amr), das ihm gegeben war, abgelehnt: sich vor Adam in Anbetung niederzuwerfen, genau im Namen dieses Dekrets. Man wird sich wundern, dass Vorschrift und Dekret nicht übereinstimmen. Aber sie sind nur für das Geschöpf, das sie nicht zur gleichen Zeit und auf dieselbe Art und Weise versteht, formell voneinander verschieden. So wird das Dekret, auf dem Niveau des koranischen Gesetzes, als die Grundlage des Glaubens an die Dankbarkeit gegenüber dem transzendenten Gott verstanden. Die Vorschrift dagegen wird verstanden in den kultischen Akten, wo sich eine Beziehung zwischen dem Menschen und dem Gott der Schöpfung und Vorsehung bildet. Es scheint da also, wie wir schon
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betont haben, in der Vorstellung, die man vom ersten Sein haben kann, einen realen Widerspruch zu geben: Wenn das erste Sein wirklich transzendent ist, wie können dann Schöpfung und Offenbarung geschehen? Wenn es jedoch erschafft und offenbart, was ist dann diese Transzendenz? Das Dekret und die Vorschrift werden auch in der mystischen Himmelfahrt nur nacheinander erreicht. Dies sind die zwei Grade der ḥallāǧischen Ekstase: das Zeugnis in erster Person von der Einzigartigkeit Gottes, der mystischen Vereinung. Das Dekret korrespondiert mit dem Wesen; die Vorschrift korrespondiert mit dem Wesen des Wesens, der Person, der Liebe. Deshalb sagte al-Ḥallāǧ: „Die Vorschrift ist die Quelle der mystischen Vereinigung (ʿain al-ǧamʿ), und das Dekret ist die Quelle des Wissens.“ Hier offenbart sich der wahre Sinn der Verurteilung Satans: „Indem er sich im Stolz darauf versteifte, die Gottheit ganz rein zu lieben, trotz Gott, hat er sich ausgeschlossen von jeder mystischen Einigung mit ihm“ (P., 939). Warum hat Gott den Engeln befohlen, sich vor Adam (in Anbetung) niederzuwerfen? Geschah es, wie Satan glaubt, um ihre Treue zum Bekenntnis der Einheit (tauḥīd) auf die Probe zu stellen? In diesem Fall ist nur Iblīs fest im Glauben geblieben. Aber dies ist es nicht. Adam war noch nicht das Sein im Fleisch, das auf der Erde ungehorsam sein würde: Er war das Bild, mit dem sich Gott in sich selbst unterhielt, in seiner Schöpferliebe. Der den Engeln gegebene Befehl war also eine vertrauliche Mitteilung, eine Eröffnung über das persönliche Geheimnis ihres Herrn. Geblendet von der Eifersucht seiner Liebe, die er für sich selbst wollte, wies Satan somit eine Quelle der Liebe zurück, mit der er sich hätte vereinen müssen, zusammen mit allen Heiligen. Dagegen lobt er sich für seine Isolierung: „Er hat mich isoliert, geeint, hingerissen, verbannt, damit ich mich nicht vermische mit den Heiligen.“ Sich vor Adam zu verneigen, das bedeutete zugleich, den ganzen Plan der Schöpfung anzuerkennen, die Sendung der Propheten, besonders die von Muhammad, der den Weg Gottes vorgegeben hat und der, recht verstanden, erlaubt, jenseits jeden Weges und jeder Methode die Gnaden Gottes zu empfangen, die die mohammedanische Offenbarung verklären: Von jetzt an bleibt nichts bestehen zwischen mir und Gott, weder meine eigene Erhellung noch Demonstration noch Zeichen, nichts, das als Beweis dient. Das hier ist eine strahlende Manifestation beim Aufgang der göttlichen Wahrheit, wie ein leuchtender Stern, der sich mit
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seinem Glitzern wie eine Perle mit Macht ausbreitet. Der Beweis ist für ihn, von ihm, zu ihm, in ihm: der Beweis des Zeugen der Wahrheit selbst; mehr noch, er ist das Wissen jeglicher Erleuchtung. Ja, der Beweis gehört ihm, ist von ihm, ist in ihm und ist zu ihm; es ist wirklich in der Offenbarung des Guten und des Bösen, dass wir ihn gefunden haben. Dass man nicht versuche, den Schöpfer durch sein Werk zu beweisen, wenn ihr doch kontingente Geschöpfe seid, die von ihm abgewichen sind im Bruch der Zeiten! Siehe, meine Existenz, meine Evidenz, meine Überzeugung, die innere Vereinigung meines Zeugnisses für die Einheit und für meinen Glauben. Siehe, wie sich diejenigen ausdrücken, die er in sich isoliert, die die Erkenntnisse erhalten haben, im Geheimen so wie auch am hellen Tag. So ist die Existenz der Existenzen derer, die er zur Ekstase führt, Söhne derselben Art, meine Begleiter, meine Freunde. (D. Q, VIII) Es scheint, dass dieser Text das Denken und die Erfahrung von alḤallāǧ rekapituliert. Im offenbarten Gesetz hat er alles gefunden, vor allem den Weg, der dahin führt, wo kein Weg mehr ist, kein Zeichen, kein Begriff, wo alles Gnade ist. Dort offenbart sich zuerst die authentische Existenz dessen, der ganz und gar absorbiert ist im Bekenntnis des wahrhaftigen Glaubens, der „geeint“ und „vereinsamt“ ist in ihm; dann quillt auf dem Gipfel der Ekstase die Existenz der Existenz hervor, wie eine aufgehende Sonne. Aber auf dieser sublimen Stufe, wo Gott sich mit dem Menschen unterhält, ist der Mystiker nicht mehr allein; er hat vor Gott seine ganze geistliche Familie wiedergefunden. Dies ist es, was Satan weder verstanden hat noch zulassen wollte. „O du befriedete Seele, kehr heim zu deinem Herrn, glücklich und zufrieden, und tritt ein zu meinen Knechten, und tritt ein in meinen Garten“ (Koran 89:27–30). Dieser schöne Vers gibt genau den Geist der Mystik von al-Ḥallāǧ wieder. Dieser unverstandene, angeklagte, verleumdete, leidende und in seinen letzten Martern gefolterte Mensch richtet an die Welt einen Ausruf der Freude und des gelassenen Friedens. Er nimmt an. Er stimmt allem zu, was Gott ihm schickt, aber ohne sich zu verhärten wie Satan, denn er weiß, dass sein Gott ein Gott ist, der aus Liebe erschafft. Für zahlreiche von seiner Lehre beeinflusste Mystiker wird das fanāʾ erscheinen, wie es ihm schon erschienen war: als der ekstatische Moment, der Wendepunkt, an dem alles sich auf Gott hin wendet. Man
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wollte Gott, und siehe, man entdeckt sich als von Gott gewollt: Man pries Gott, nun ist man von ihm gepriesen; man liebte ihn, man war der Liebende, und er war der Geliebte; es ist er, der liebt, und man ist geliebt von ihm; man gab seine Zustimmung zu seinem Dekret; es ist er, der den Diener annimmt, dem er sich in seinem Gebot voller Liebe enthüllt. „Tritt ein zu meinen Knechten, und tritt ein in meinen Garten!“ Die Verse, in denen al-Ḥallāǧ auf seine Ekstasen anspielt, sind zahlreich. Es handelt sich immer um Worte und Blicke der Liebe. Hier eine der bedeutsamsten Aussagen: Ich habe einen Freund, den ich in den Einsamkeiten besuche. Er ist gegenwärtig, selbst wenn er den Blicken entgeht. Du wirst mich nicht sehen, wie ich wegen des Lärms der Worte ihm mein Ohr leihe, um sein Sprechen wahrzunehmen. Seine Worte haben keine Vokale, keine Aussprache, nichts von der Melodie der Stimmen. Es ist, als ob ich ein „Du“ wäre, an das das Wort gerichtet ist, und als ob ich es wäre in meinem Wesen und für es selbst, jenseits der Gedanken, die mir kommen: gegenwärtig, abwesend, nahe, entfernt, nicht greifbar für die Beschreibungen durch Qualitäten, dem Denken tiefer verborgen, als es das tiefe Bewusstsein ist, intimer als der Geistesblitz. (D. M, 11) Das Wort muḫāṭab bezeichnet bei den arabischen Grammatikern die zweite Person. Gott, der dem Menschen näher ist, als es ihm seine eigenen Gedanken sind – die er in der ersten Person zum Ausdruck bringt, die er seinem illusorischen „Ich“ zuschreibt –, Gott adressiert sich an ihn und macht aus ihm, in seinem Wesen selbst, ein „Du“. Die Ekstase, auf ihrem höchsten Grad, ist die Offenbarung dieses „Du“, mit dem sich der Herr in seiner Liebe unterhält, ohne dass es da zu sprechen oder zu antworten gäbe. Man kann das Geheimnis, das die Basis der Ekstase darstellt, ausdrücken, indem man sagt, dass Gott, wenn er sich mit dem Menschen unterhält, das nicht so tut, als handle es sich um ein Objekt oder eine Idee, die er in der dritten Person bezeichnen würde, sondern er behandelt es als Person vor seiner Person, wie ein „Du“, dessen ganze ontologische Realität in dem persönlichen Wort liegt, das es hervorkommen lässt, in den liebevollen Vertraulichkeiten dessen, der allein mit vollem Recht in der ersten Person spricht.
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Halten wir fest, dass die Investitur, die es einem Menschen erlaubt, „ich“ zu sagen, wie Gott selbst in der Bestätigung des tauhīd, ontologisch begründet ist, in der Vereinigung des göttlichen Ich und des menschlichen „Du“ im Innern des suprawesentlichen Wortes des Herrn. Aber ein geschaffenes Wesen kann diese Investitur empfangen, ohne zur Erfahrung dieser Vereinigung Zugang zu haben. Alle die Aussagen von al-Ḥallāǧ, die man so oft missverstanden hat, weil sie von Mischung und Fusion sprechen, dürfen nicht im Sinn einer Interpenetration der göttlichen Natur und der menschlichen Natur verstanden werden – die lāhūt ist nicht mitteilbar, und es geht hier übrigens nicht um Naturen, sondern um Personen –, sie sind vielmehr als geistliche Vereinigung anzusehen. Das Wort rūḥ (Geist) bezeichnet nicht eine spirituelle „Natur“ – das interessiert nur die von Griechenland inspirierten Philosophen –, sondern es bezeichnet wesentlich Geist, Person. Die Ausdrücke sind zuweilen gewagt, riskant, gefährlich. Sie haben als Vorwand für die Anklagen (gegen al-Ḥallāǧ) gedient. Aber es gibt nicht den geringsten Verdacht hinsichtlich dessen, was für al-Ḥallāǧ die Bedeutung der Liebe war. Die naturalistische Auffassung der Liebe, von der man sich so schwer trennen kann und die die Sprache so tief durchdringt, war alḤallāǧ vollkommen fremd. Dass die Worte ihn verraten haben, ist normal. Stellen wir uns – trotz der Schwäche der Bilder – einen Freund vor, der an seinen Freund denkt, der jedoch auch die Macht hätte, ihn wirklich herauszurufen und ihn zum Zeugen des Geheimnisses seines Denkens zu machen. Das ist es, was man von der finalen Ekstase al-Ḥallāǧs sagen kann. Der herausgerufene Freund ist hingerissen, außer sich selbst, um sich zu absorbieren in dem Denken seines Freundes über ihn: Siehe, das bin ich für dich. Und wie der vollkommene Freund nicht „er“ denkt, sondern „du“, entdeckt der herausgerufene Freund in dieser Intimität des „Du“: Das hier ist es, was ich für dich bin. Man sei nun nicht mehr erstaunt über Verse wie diesen: „Ich habe einen Freund, dessen Liebe sich auf dem Grund meines Seins befindet. Sein Geist ist mein Geist, und mein Geist ist sein Geist. Was er auch will, ich will es; was ich will, will er“ (D. M, 32). Der arabische Text benutzt ein grammatikalisches Mittel, um das Fehlen der Identität zwischen den beiden Willen zu bezeichnen (gegen die Lehre der totalen Fusion): Das Verb „wollen“ wird nicht unter gleicher Rücksicht auf Gott und den Menschen angewandt. Ferner bemerkt al-Ḥallāǧ zu Recht, dass alles vom Freund kommt: „Du bist es, der mich hingerissen hat, es ist
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nicht mein Gebet, das mich begeistert hat! Fern sei mir die Idee, mich auf mein Gebet zu verlassen! Das Gebet ist die Perle (eines vom Juwelier geschmiedeten Halsschutzes am Helm), die dich verbirgt vor meinen Augen, sobald mein Denken sich durch meine Aufmerksamkeit auf es von ihm binden lässt“ (D. M, 18). Noch gewagter ist vielleicht dieser Gesang: „Dein Geist ist vermischt mit meinem Geist in einem Wechsel von Annäherungen und Distanzierungen. (Dies ist ein bei den Mystikern wohlbekannter Rhythmus.) Und jetzt bin ich du-selbst, wie du ich bist, während du ganz der bist, nach dem ich verlange.“ Der letzte Vers zeigt allerdings auch gut, dass der Ekstatiker hier nicht das göttliche „Du“ in derselben Weise ist, wie Gott das „Ich“ des Ekstatikers wird, denn Gott bleibt stets zur gleichen Zeit der am meisten Begehrte. Ein letztes Beispiel wird zeigen, bis wohin die Kühnheit von alḤallāǧs Stils gehen konnte: „Dein Geist hat sich vermischt mit meinem Geist, wie der Amber sich vereint mit dem wohlriechenden Moschus. Berührt dich eine Sache, berührt sie mich; so bist du, du bist ich, es gibt keine Trennung mehr.“ Hier muss man das poetische Bild berücksichtigen; übrigens sind es die Bilder der Gerüche, die am besten die Subtilität des Geistes andeuten. Wir haben ausschließlich von der Ekstase gesprochen. Es geht ihr zweifellos ein mystischer Werdegang voraus, der aus den wohlbekannten Rhythmen besteht, die allen Sufis vertraut sind, aus dem Hin und Her der „Zustände“, Stationen und Standplätze. Dieser Werdegang ist ein Weg der Askese und der Prüfung. Die „Zustände“, die ihn markieren, werden noch in einem Bewusstsein geschmeckt, das, wie gereinigt es auch sein mag, immer noch der Heiligkeit Gottes unwürdig ist. „Die letzte Idee, die sich dem Gläubigen, während er zum Zielpunkt gelangt, präsentiert, ist ,mein Anteil‘ und ,mein Ich‘ (empirisch: nafs). Denn die Geschöpfe sind Sklaven ihrer Neigungen, und die Wahrheit Gottes, wenn man deren Wahrheit sieht, ist, dass er heilig ist“ (D. M, 4). Diese Etappen sind notwendig, aber sie genügen nicht; sie werden zu einem Hindernis, wenn man sich zu sehr an sie klammert. Nichts führt zur Ekstase – sie kommt von Gott allein. Es ist Gott allein, der all die Berührungen der göttlichen Ekstase existieren lässt, obwohl der Scharfsinn der größten Meister unfähig ist, sie zu verstehen. Was ist diese Ekstase? Sie ist ein Anreiz, dann
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ein Blick Gottes, der wächst und im Geheimnis der Herzen brennt. Wenn Gott kommt, um dem Innersten des Herzens innezuwohnen, dann verdoppeln sich diese Berührungen. Es gibt drei Bedingungen für diejenigen, die mit dem mystischen Leben begabt sind: zunächst die, bei denen das Innere des Herzens noch entfernt ist von dem Wesen seiner Ekstase und ihr als erstaunter Zuschauer beiwohnt; dann die, wo die Mächte des Inneren gebunden und weggenommen sind; schließlich die, wo sich das Innere einem Angesicht zuwendet, dessen Blick es mystisch vernichtet hinsichtlich aller seiner Fähigkeiten der Beobachtung. (D. M, 19) Der Freund entzückt den Geliebten in die Ekstase und erlaubt dem indiskreten reflexiven Bewusstsein nicht, ihr liebeerfülltes Gespräch zu beobachten.
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yauma yaqūmu r-rūḥu wa-l-malāʾikatu ṣaffan lā yatakallamūna ʾillā man ʾaḏina lahu r-raḥmānu wa-qāla ṣawāban dālika l-yaumu l-ḥaqqu Am Tage, da der Geist und auch die Engel in einer Reihe stehen, da wird nur reden, wem der Erbarmer es erlaubt und wer Treffendes sagt. Jener Tag ist die Wahrheit! (Koran 78:38 f.)
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Die Aufopferung eines am Galgen zu Tode gemarterten Leibes, die freudige Annahme des Leidens und des Todes aus Liebe, eine innige Vertrautheit mit Gott dem Freund, der sich in einem unaussprechlichen Geheimnis mit dem geliebten Geschöpf unterhält, die Anbetung in einer Einheit im Geiste mit einem Herrn, dessen Person ihren Blick voll Gnaden ausstrahlt, über ihr transzendentes Wesen hinaus, ja, das ist es, was al-Ḥallāǧ in seinem Leben als Asket, Prediger, Missionar und Ekstatiker und in seinem schrecklichen Todeskampf vorlebt. Es ist schwer, nicht an Christus zu denken, an den Jesus der Evangelien, an die Seligpreisungen, an die Verklärung, an den Ölberg und das Kreuz. Aber das Wachrufen dieser Erinnerungen ist illusorisch. Man kann nicht absolut ausschließen, dass al-Ḥallāǧ einmal von irgendeiner christlichen Idee berührt wurde. Aber eines ist sicher: Der Jesus, den er meditiert hat, das ist ʿĪsā ibn Maryam des Koran, nicht der Christus der Christen. Im Koran heißt es: „Gott hat dich erwählt und rein gemacht – er erwählte dich vor allen Frauen der Welt“ (Koran 3:42). „Da sandten wir unseren Geist zu ihr“ (19:17). Sie empfing und gebar einen Sohn. Gott hatte über das Kind gesagt: „Auf dass wir ihn zu einem Zeichen (āya) machen für die Menschen und zu einer Barmherzigkeit (raḥma) von uns“ (19:21). Jesus ist nur ein Mensch; er ist ein Prophet. Und dennoch spricht der Koran an manchen Stellen von ihm, wie er von den Engeln spricht: „Maria! Siehe, Gott verkündet dir ein Wort von sich […], einer von den Nahestehenden“ (3:45). Nun sind aber die muqarrabūn, die Nahestehenden, in der Terminologie des Koran die Engel. Wie wir gesehen haben, wird Jesus als Wort Gottes (kalimat Allāh) oder als Wort der Wahrheit (qaul al-ḥaqq; 19:34) bezeichnet. Er spricht von der Krippe, um die Wahrheit hinsichtlich seiner Geburt zu bezeugen. Was seinen Tod am Kreuz angeht, so wird dieser vom Koran verneint. Derjenige, der gekreuzigt wurde, war nur ein Mensch, der ihm gleichsah (4:157). Ist Jesus eines natürlichen Todes gestorben? Das wird im Buch nicht in klarer Weise gelehrt. In Vers 55 der Sure 3 sagt Gott: „Jesus, siehe, ich will dich zu mir nehmen (innī mutawaff īka) und dich zu mir erhöhen.“ Das Wort tawaffā wird benutzt, um auszudrücken, dass Gott einen Menschen sterben lässt, aber mit der Nuance eines Todes, der die glückliche Erfüllung des Lebens darstellt. Da Jesus nicht am Kreuz gestorben ist, könnte er gut zu Gott in den Himmel emporgehoben worden sein, in einer Auffahrt mit Leib und Seele, am Ende einer vollkommen erfüllten Mission. Diese Idee ist von mehreren Kommentatoren aus
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diesem Vers gezogen worden. Am Ende wird Jesus auf die Erde zurückkehren, und er wird am Tag des Gerichts eine Rolle spielen. Die muslimische Eschatologie hat sich auf den Vers 61 der Sure 43 gestützt: „Als der Sohn Marias als Beispiel angeführt wurde“ (Koran 43:57); „Und wir machten ihn zum Beispiel (maṯal) für die Kinder Israels“ (43:59). Dann liest man: „Siehe, er ist – fürwahr – ein ,Wissen‘ über die ,Stunde‘“ (43:61). Die Kommentatoren haben erklärt, dass er von Himmel herabsteigen werde, dass er den Antichrist (ad-daǧǧāl) töten werde, sein Gebet gemäß den Vorschriften des muslimischen Rechts hinter dem Imam verrichten werde, dann alle Schweine töten, das Kreuz zerbrechen, die Kirchen entfernen und die Christen vernichten werde. Das sind die Angaben des Koran und der islamischen Tradition zu Jesus. Wir wissen, dass al-Ḥallāǧ sie meditiert hat. Für ihn, wie für viele andere Muslime, erhebt sich die Figur Jesu, eines einfachen Propheten, eindeutig über die aller anderen, denn er ist auch ein Heiliger. Es ist der Asket, der in Armut gelebt hat und der aufgebrochen ist, um den Menschen Gott zu verkünden. Dieses Bild Jesu ist vielleicht dasjenige, das al-Ḥallāǧ am Anfang seiner Berufung am meisten beeindruckt hat. Aber indem er sich ihm angeglichen hat, hat er es vertieft, er hat seinen Sinn entdeckt, er hat in ihm alle Werte seiner Beispielhaftigkeit realisiert, er hat seine ganze Kraft als Zeichen erfasst, um aus ihm sein tiefes Leben zu nähren. Während also für die Christen das Kreuz Jesu von zentraler Bedeutung ist, verschwindet es notgedrungen im muslimischen Doketismus, dem sich al-Ḥallāǧ angeschlossen hat. Die Figur des Messias (al-masīḥ) bezieht für ihn ihre charakteristischsten Züge aus der wunderbaren Geburt des Sohnes Marias und aus seiner Rolle beim Letzten Gericht. Jesus hat keinen menschlichen Vater. In dieser Hinsicht vergleicht ihn der Islam mit Adam. Von daher steht er außerhalb der Generationen – man kennt ja die exklusive Rolle des Vaters in den arabischen Genealogien. – Die Erwählung Marias erhält also für sich selbst genommen eine wichtige Bedeutung: Sie wurde aus allen Frauen der Generationen erwählt. Der Koran sagt wörtlich: „über“, mit einer Idee der Bevorzugung des Reinsten, ausgedrückt schon im Verb iṣṭafā (wählen, auswählen). Wie Adam ist Jesus direkt erschaffen durch das Wort „kun“ (sei!), das koranische Äquivalent des fiat. Mehr als irgendeinem anderen kann sich ihm der göttliche Schöpferakt offenbaren. Auch wird er der innere Zeuge der Einzigkeit Gottes sein, der sich als Einer in seiner
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Schöpfung bestätigt. Die idealen Bedingungen des miṯāq reproduzieren sich leicht für ihn. In der Tat, Gott warnt die Menschen vor den Entschuldigungen, die sie am Tag des Gerichts für den Bruch des primordialen und vorzeitlichen Bundes, den sie vollzogen haben, vorbringen werden; dann werden sie, freilich umsonst, sagen, dass sie wie ihre Väter vor ihnen gehandelt haben. Jesus dagegen ist von seinem Ursprung her vor diesem schlechten Einfluss der Linie der Vorväter bewahrt: Dazu kann man darauf hinweisen, dass der Jesus des Koran von jeglicher Familie isoliert dargestellt wird. Da ist er und seine Mutter: „Er (d. h. Gott) verlieh mir Segen, wo immer ich auch war, und trug mir das Gebet und die Armensteuer auf, solange ich am Leben bin. Und Ehrerbietung gegen meine Mutter!“ (Koran 19:31 f.). Zweifellos steht geschrieben, dass Gott auch unter den Geschlechtern die Familie Abrahams ausgewählt hat, also das Geschlecht des ʿImrān (Vater der Maria), das aus diesem Geschlecht hervorging (Koran 3:33). Die Begriffe sind dieselben wie die, die bezüglich der Erwählung Marias angewandt werden. Dennoch, wie privilegiert auch immer das Haus ihres Vaters sein mag, Maria entfernt sich von ihm und trennt sich von all den Ihren: „Und gedenke im Buch der Maria: da sie sich vor ihren Leuten an einen Ort im Osten zurückzog und sich vor ihnen abschirmte“ (Koran 19:16 f.). Jesus reproduziert also die Situation des Adam in Bezug auf den miṯāq, mit einem Vorteil: Adam verfiel den Doppeldeutigkeiten der satanischen Verführung, während Jesus, dank des Gebetes seiner Mutter, vor Satan beschützt bleibt. Al-Ḥallāǧ hat in Jesus sicher ein „Beispiel“ der Vereinigung gesehen, die Gott den Heiligen gewährt. Der Geist, von dem während der Empfängnis Jesu die Rede ist, ist interpretiert im Sinne der ḥallāǧischen Lehre der Vereinigung des Geistes der Heiligkeit mit dem Geist des Heiligen. Selbst wenn die Auslegung, die in diesem Geist nur den Engel Gabriel sieht, zurückgewiesen wird, bleiben die Befürchtungen einer Fusion von Gottheit und Menschheit unbegründet. Denn al-Ḥallāǧ vermeidet sowohl den schiitischen ḥulūl wie auch die christliche Inkarnation. Aber wenn Jesus ohne Kreuz für den muslimischen Mystiker ein Modell von solchem Wert gewesen ist, wie soll man dann die Rolle verstehen, die das Holz des Galgens in der religiösen Erfahrung von alḤallāǧ gespielt hat? Gibt es da für ihn ein getrenntes Thema der Meditation, oder bewahrt er einen Bezug zu der koranischen Verneinung der Kreuzigung?
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Es scheint, dass es da einen Bezug gibt. In sich selbst ist der Tod im Islam die Strafe für die Sünde. Er ist das natürliche Ende des Lebens. Er kann nicht irgendeine sühnende und noch weniger einen erlösenden Wert haben. Jesus ist diesen „natürlichen“ Tod gestorben (oder nach einigen wird er wie alle anderen Menschen erst nach seiner Wiederkehr sterben). Der mystische Wert besteht nach al-Ḥallāǧ im Leiden. Es ereignet sich auch im Tod, nicht im Tod als solchem, aber sofern der Tod gebunden ist an Schmerz und Qualen. Der Tod am Kreuz wird also, weil er ein qualvolles Leiden darstellt, eine besonders wichtige Bedeutung annehmen. Sicher, mit den Menschen ist es so, dass man bei ihnen in nichts sicher sein kann. Al-Ḥallāǧ dachte, dass das Leiden mehr und besser reinigt als die Freude, weil man weniger geneigt ist, das Leiden zu dem „seinen“ zu machen. Dennoch ist es nicht ausgeschlossen, dass man sich seiner Beschwerden und seiner Schmerzen rühmt – so wie es Satan tat –, und dann verfällt man in einen wesentlich schlimmeren Zustand als den, in dem man sich für sich über ein glückliches Schicksal freut. Für ein glückliches Schicksal kann man dem Herrn stets danken. Das Kreuz ist also, rein materiell gesehen, niemals das sichere Zeichen dafür, dass der Gekreuzigte ein Mann Gottes ist. Die Zuschauer, die nach dem Bericht des Evangeliums Jesus haben sterben sehen, sind durch diesen Anblick selbst nicht bekehrt worden; es waren der Donner und das Erdbeben nötig dafür, dass eine kleine Gruppe bekannte, er sei der Sohn Gottes (Mt 27,54). Übrigens, der böse Schächer wurde auch gekreuzigt. Und in der Geschichte, mit der wir uns hier befassen, waren diejenigen, die sich am Fuße des Galgens befanden, auch nicht erschüttert. Denn im Denken der Menschen ist es so, dass der Verurteilte entweder seine Strafe erleidet, ohne sich zu beklagen – ein solcher ist dann ein Erleuchteter oder ein verhärteter Krimineller –, oder aber er widerruft und rechtfertigt somit seine Richter, und das ist es, was man im Grunde von ihm erwartet. Al-Ḥallāǧ hat seine Aussage nicht widerrufen. Satan aber auch nicht. Al-Ḥallāǧs Leiden beweisen nichts; sie müssen unter Verdacht gestellt werden. Sollte auch er selbst seine Leiden unter Verdacht gestellt haben? Man wird sagen, dass es schwierig war, sich seiner Leiden zu rühmen, denn sie waren begleitet von einer Verurteilung, einem Tadel, einer öffentlichen Demütigung. Freilich, eine ganze Schule von Mystikern, die malāmatīya, suchte die entehrenden Behandlungen. Man kann aus der
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Verachtung seitens anderer Ruhm erwerben. Dies ist vielleicht das Zeichen des größtmöglichen Stolzes. Nicht das Leiden als solches, das doppeldeutig ist, gilt es zu betrachten, sondern die Art zu leiden. Wenn man glücklich ist, ist man nie sicher, ob man sich genügend vom Glück distanzieren kann, um sich ganz und gar zu Danksagung zu machen. Das Leiden dagegen eröffnet die Möglichkeit, sich ganz und gar zu Annahme zu machen. Aber wie? Hier erlangt die Figur des Hiob für al-Ḥallāǧ eine zentrale Bedeutung. „Gott leuchtete auf im Gewissen des Hiob, er offenbarte ihm die Klarheiten seiner Güte, und das Leiden verlor für Hiob seine Bitterkeit. Da rief er: Mich erfasste Unglück (Koran 21:83); ich habe keine weitere Belohnung für meine Leiden und mein Unglück zu erwarten, denn mein Leiden ist mein Vaterland und mein Glück geworden“ (P., 621 f.). Die Freude ist rein nur in der Ekstase. Aber bevor der Mensch diese höchste Gnade empfängt, ist das einzige Geschenk, das er in all der Reinheit des Geschenkes und der Reinheit seines Herzens empfangen kann, das Leiden. Es existierte für al-Ḥallāǧ sicher eine Asymmetrie zwischen der Freude und dem Leiden, obwohl er diese nicht rechtfertigt. Er handelte nicht wie ein Psychologe; er sprach bezogen auf seine Erfahrung. Aber diese Erfahrung kann das moderne Denken durch die phänomenologischen Beschreibungen leicht verstehen. Die Freude ist immer „moralische“ Freude. Das Vergnügen ist immer „sinnenhaft“. Das Wort „Leiden“ bezeichnet, wie auch das Wort „Schmerz“, Realitäten zweier Ordnungen zugleich. Die Freude ist zweifellos immer begleitet von einem gewissen Vergnügen, das sie dem Bewusstsein integriert und sein Gut darstellt. Damit ein Mensch eine Freude „in sich“ erfährt, muss er total gereinigt sein von jeder spürbaren und organischen Resonanz. Dann kann er in der Freude hingerissen sein, so wie es ihm ergeht im Zustand der Ekstase. Vielleicht ist es außerhalb des mystischen Lebens so, dass manche, und sei es durch den Schock der Freude „in sich“, vor Freude sterben. Aber beim Leiden ist es ganz anders. Wenn es „moralisch“ ist oder wenn es ganz und gar moralisch geworden ist, dann stellt es fast immer eine Reaktion der individuellen Person dar. Ja, man sieht so oft Menschen, die von ihrem Leiden leben und die diesem lange und unablässig einen regelrechten götzendienerischen Kult erweisen. Das ist die Majestät der menschlichen Leiden. Erfahrungsgemäß zeichnet sich die reine Freude nicht durch eine solche Konstanz aus: Die Ekstase selbst
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bleibt nicht, bemerkte al-Ḥallāǧ ausdrücklich. Es ist wahr, dass ein gewaltiger Schmerz langsam zerfressen und zermürben kann, bis er zum Tod führt. Man gibt vor ihm auf wie vor einem Feind; man gibt sich geschlagen, man lässt sich überfluten und auflösen: passive Resignation, die nichts zu tun hat mit einem Einwilligen in den Tod bei alḤallāǧ und, allgemein gesprochen, mit dem fanāʾ der muslimischen Mystiker. Während also die Freude, indem sie ganz und gar moralisch wird, sich reinigt und an den Werten des Geistes teilnimmt, enden der Schmerz und das Leiden auf diesem Weg bei genau den entgegengesetzten Ergebnissen: dem morbiden Kult der individuellen Person oder dem Krebsgeschwür der Verzweiflung und der falschen Resignation; in beiden Fällen verschwindet die Spiritualität. Man weiß, wie sehr al-Ḥallāǧ sich dessen bewusst war, was dem individuellen Gewissen heimlich einen Vorwand bietet, um sich erneut zu bestätigen, nachdem es seine Loslösung von allem proklamiert hat. Auch ist es nicht das moralische Leiden, sondern das physische, woran er dachte, wenn er davon sprach, die Qualen anzunehmen, die ihn Gott näher bringen sollen. Wenn der Körper der Tortur unterworfen wird, dann ist das Bewusstsein ganz und gar absorbiert von dieser fremden „Sache“, die sich im Sein installiert und es durch und durch besetzt hält, diesem Block des Schmerzes, der einfach da ist, massiv, unüberwindlich, unerbittlich. Beim physischen Leiden gibt es keinen Kompromiss, keine Zusammensetzung. Das Bewusstsein kann sich nicht selbst beim Leiden betrachten und Gefallen finden am Spektakel, das es abgibt; es hat nicht die Zeit, Tröstungen zu suchen und gefällige Mythen zu fabrizieren; es ist unfähig, von ihm Abstand zu nehmen und eine Position zu beziehen, um sich in der Großartigkeit dessen zu betrachten, was es leidet. Das Leiden des Körpers kommt so dazu, durch sein „in sich“ das „für sich“ eines Bewusstseins zu besiegen, das nach nichts als seinem eitlen Ruhm verlangt, das nach nichts anderem trachtet, als eine Personalität ohne Konsistenz vorzutäuschen und sich mit einer ersten Rolle und mit Tiraden in Szene zu setzen. Alle muslimischen Mystiker haben in diesem Bewusstsein von sich, das sie (niedere) Seele (nafs) nennen, das größte Hindernis gesehen, das es zu überwinden gilt und dessen geringste Spuren ausgerottet werden müssen. Die Feindschaft gegenüber der (niederen) Seele (muḫālafat an-nafs), dazu bestimmt, ihre Absichten zu bekämpfen, ist unerlässlich, aber schwierig. Denn die (niedere) Seele ist wie die Eigenliebe von La
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Rochefoucauld [1613–1680], oder besser, sie ist die Eigenliebe selbst (ʿuǧb), und sie ist gern bereit, ihr eigener Feind zu sein, solange sie ist. Sie ist von ihrem Wesen her zweideutig, dem Schauspielen vor sich selbst oder anderen hingegeben. Diese affektierte Unaufrichtigkeit (riyāʾ) charakterisiert sie. Aber alle ihre Schliche scheitern am physischen Leiden. Denn was diesem Leiden standhalten kann, das ist nicht die Seele, es ist das Herz (qalb) – auch wenn die arabische Sprache das Herz mit dem Mut nicht in Zusammenhang bringt. Wenn die Seele in die Flucht geschlagen ist, verfällt der ganze Mensch in Angst und Entsetzen, falls das Herz nicht durch Askese und vor allem durch die Gnade Gottes gestärkt worden ist. Allein das Herz, dieses privilegierte „Organ“, empfänglich für die Berührung Gottes, ist fähig, die extremen Leiden des Körpers zu ertragen. So können die moralischen Leiden der Seele noch schmeicheln, die des Körpers aber entblößen das Herz in seinem Freimut und seiner Aufrichtigkeit, das Herz, in dem Gott schon wohnt, gegenwärtig in seinem „innersten Geheimnis“ (sirr). Hüten wir uns allerdings davor zu glauben, dass das Herz das tun kann, was den Intrigen der Seele nicht gelang: sich den Schmerz zu eigen machen, mit ihm zu verfahren, als sei er eine Sache, mit der ich mich schmücken, dessen ich mich rühmen könne. Nein! Der physische Schmerz bleibt für das Herz, was er für die Seele war: ein nicht assimilierbarer Fremdkörper. Aber die Seele wollte gerne eine Fassade aufrechterhalten; diese zerbrach, sie wurde überrannt. Das Herz akzeptiert, denn es sieht darin (im physischen Leiden) ein Geschenk Gottes; ja, es weiß, dass es daraus keinerlei Nutzen, keinen persönlichen Vorteil wird ziehen können. „Ich habe keine Belohnung von meinem Leiden und Unglück zu erhoffen“, sagt Hiob in der Meditation von al-Ḥallāǧ. Was zählt, ist nicht das Geschenk, sondern Gott, der schenkt, Gott, der im Geschenk ist, im Leiden, das er zur gleichen Zeit transfiguriert wie den leidenden Körper. So war die Erfahrung von al-Ḥallāǧ, soweit man sie von außen her verstehen kann. Aber rechtfertigt sie nicht immer noch eine Unzahl von Illusionen? Wie viele Menschen, die keine Mystiker waren, haben noch viel schlimmere Foltern erlitten! Man denkt an die stolzen Stoiker, an Epiktet (gest. ca. 110), ja gar an Schurken, die in der Sache fest geblieben sind und die der Strang, das Fallbeil, der Scheiterhaufen unberührt gelassen hat. Es gibt eine physische Resistenz gegenüber dem Schmerz, auch einen physischen Mut bei einigen Menschen, die aus gröberem
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Stoff gewirkt sind oder die besser in das Erdulden eingeübt sind. Welche Garantie gibt uns dann die Erfahrung von al-Ḥallāǧ? Wir wissen nichts über die nervliche Konstitution, die Resistenz dieses Organismus. Zweifellos, es kann Individuen geben, bei denen das physische Leiden nicht den umwerfenden Charakter hat, den wir beschrieben haben; diese sind fähig, aufgrund der Kraft ihrer Konstitution, gleichsam ohne ein „Herz“ zu haben, ihr Gesicht nicht zu verlieren. Aber das ist in unserem Zusammenhang nicht von Bedeutung. Das Leiden, von dem alḤallāǧ sprach, ist nicht das, was man aufgrund einer physiologischen oder psycho-physioloigschen Energie erträgt: Solange es eine Reaktion des Körpers oder der Seele gibt, präsentiert sich das Leiden niemals „in sich“. Die Erfahrung von al-Ḥallāǧ war die eines Leidens „in sich“, und es genügt, seine Möglichkeit aufzuzeigen. Nun, genau das, was das Leiden in seiner brutalen, unnachgiebigen, massiven Realität symbolisiert, ist das Kreuz. Das Kreuz ist das Instrument, welches die Grenzsituation im Leiden realisieren wird, in der das Herz, gereinigt und durch und durch aufrichtig, diesem nutzlosen, unerklärbaren und unverständlichen Geschenk zustimmt, um durch es die Geste des Schenkens dessen anzunehmen, der sich mit Recht der Geber-Gott (al-wahhāb) nennt. Dem Anschein nach führt das Kreuz zu dieser Folter, die so viele der Schüler von al-Ḥallāǧ zu rechtfertigen, zu erklären versucht haben, nicht wissend, dass das Leiden unzugänglich ist, dass man es nicht analysieren oder gar klären kann – denn dann wäre es nicht mehr das Leiden. Aber das „in sich“ des Leidens existiert nicht, um das „für sich“ des Bewusstseins zu zerstören. Auch ist es in der Tat so, dass das Kreuz sicher eine positive Gnade mit sich bringt, nämlich die der Aufrichtigkeit, der Wahrhaftigkeit, der Öffnung auf die Gegenwart Gottes hin, auf sein Handeln und auf sein Wort. Deshalb also musste Jesus nicht den Tod am Kreuz erleiden. Geboren ohne Vater, unmittelbar durch den Geist Gottes, personifizierte er die Aufrichtigkeit des Glaubens, die Wahrhaftigkeit des Zeugnisses. Der Islam schreibt Jesus eine besondere Rolle am Tag des Gerichts zu. Dieser Glaubensinhalt war für die Mystiker ein Thema der Meditation. Louis Massignon schreibt: „Dank des Studiums des mīṯāq nahm die Theorie eines für jedes Geschöpf verständlichen, intelligiblen Bildes von Gott, das Erscheinen eines transfigurierten menschlichen Wesens, das beim Gericht die perfekte Erfüllung des Bundes durch den
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Geist in der Form des Adam artikuliert, eine präzise Gestalt an“ (P., 683). Jesus wird diese „transfigurierte Form des Richters“ (ebd.) sein. Er wird wiederkommen, um die Wahrheit des Islam zu bestätigen. Gott, sagt al-Ḥallāǧ, wird die geheiligten Geister wiedervereinen, wenn Jesus auf die Erde zurückkehren wird. Es wird auf der Erde ein Thron für ihn aufgestellt werden und ebenso im Himmel. Gott, der ein Buch geschrieben hat, das das Gebet, das Almosen, das Fasten und die Pilgerschaft (ḥaǧǧ) in endgültiger Form enthält, wird ihm dieses Buch durch den Herold der Engel (Michael) zurückerstatten mit den Worten: Leuchte auf (taǧallī) im Namen des Ewigen Königs. (P., 684) Im Koran ist Muhammad gesagt worden: Predige im Namen deines Herrn! Der Unterschied springt in die Augen. Denn bei al-Ḥallāǧ handelt es sich nicht mehr darum, ein äußeres Wort zu verkünden, das von einem transzendenten Meister kommt. Es handelt sich um eine lichtvolle Manifestation der Heiligkeit an alle Heiligen zusammen. Jesus hat nicht nur die Handlungen der Menschen abzuwägen, um ihnen eine geschaffene Belohnung zu verleihen, die nach den Werken bemessen wird. Über dieses moralische und rechtliche Gericht hinaus wird es ein mystisches Gericht geben, das das erstere transfiguriert. Die guten Handlungen, die erschaffen sind, können nur eine erschaffene Belohnung erhalten. Aber für diejenigen, die über die Werke hinaus dazu gelangt sind, dass sie Gott in seiner Liebe bezeugen, wird Jesus in einem reinen Licht das Urteil der Wahrheit verkünden, das ihnen einen „Überschuss“ (ziyāda) an unerschaffenen, absolut unverdienten Gnaden verleiht: nichts weniger als die Schau Gottes selbst. Man wird verstehen: Nicht als Prophet wurde Jesus erwählt, ein solcher Richter zu sein. Er unterscheidet sich nicht von den anderen Gesandten, denn seine Sendung als solche gleicht der aller anderen. Aber Jesus ist heilig, und seine Heiligkeit zeigt sich in seiner Aufrichtigkeit (ṣidq). Vor dem Gericht wird Gott den Propheten die „Frage der Aufrichtigkeit“ stellen und sie nach dem Warum ihrer Sendung fragen. Alle außer Jesus werden schweigen, denn sie haben ja nur die Pflicht zur Verkündigung gehabt; ihre Zunge ist wahrhaftig gewesen, aber sie war nur „auf einer Seite“ von Aufrichtigkeit „geprägt“. Jesus kann antworten, denn er ist
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der einzige Mensch, der absolut arm von sich selbst geboren ist, im Angesicht Gottes, denn er ist der Einzige, der niemals einen anderen Vermittler der Individualisierung gehabt hat als den Geist Gottes; das, was die anderen Heiligen mit der Hilfe des Geistes durch die graduelle Transformation und Renaissance ihres fleischlichen Ich (nafs) in ein geistliches Ich (rūḥ) werden, ist Jesus vom Augenblick seiner Geburt an gewesen, sozusagen auf Anhieb; ein reines Kun! (fiat); er allein hat nicht aufgehört, den Geist als einzigen „Organisator“ seines Leibes zu besitzen … (P., 686 f.) Jesus ist also durch die Gnaden, die er von Gott seit seiner Empfängnis unter der Wirkung des Geistes empfangen hat, der beispielhafte Führer und Richter der Heiligen. Er ist nicht gekreuzigt worden, aber das Kreuz, an dem er nicht starb, bleibt dennoch für die anderen Heiligen das Symbol der extremen Prüfungen, durch die Gott sie in seine eigene Nähe bringen wird. Das Kreuz zeigt den Weg an, dem es zu folgen gilt, oder eher – denn eigentlich gibt es keinen Weg, der dahin führt, wohin Gott seine Freunde ruft – es markiert die Trennungslinie zwischen zwei Gerichten, demjenigen, das die Werke durch geschaffene Belohnungen sanktioniert, und demjenigen, das die Wahrheit der Schöpferliebe aufbrechen lässt. Das Kreuz bringt auch das authentische fanāʾ zum Ausdruck, das vollkommene Beraubtwerden seiner selbst in der totalen Annahme des göttlichen Handelns. Deshalb sagte al-Ḥallāǧ, dass er in der Religion des Kreuzes sterben werde. Es ist nichtsdestoweniger das Kreuz, durch das die muslimische Mystik das Beispiel der Heiligkeit erreicht, welches „in einem ersten Entwurf“ von Jesus Christus gegeben wurde. Wir haben gesehen, wie al-Ḥallāǧ durch seine mystische Theologie das schwierige Problem löst, im Islam die reine Transzendenz Gottes mit der Schöpfung und Offenbarung in Einklang zu bringen. Wir können jetzt diesem Problem eine genauere und in einem gewissen Sinn konkretere, weniger spekulative Form geben. Aṭ-Ṭabarī [Abū Ǧaʿfar Muḥammad ibn Ǧarīr, gest. 310/923] stellt in seinem Korankommentar eine Frage, die er unbeantwortet lässt: Es steht im Buch geschrieben: Lob sei Gott! Nun ist aber der Koran das Wort Gottes. Gott spricht also selbst die Formeln des Lobes; er lobt sich selbst, er preist sich selbst. Aber Gott ist nicht der, der lobt und preist. Er ist der Gelobte und der Gepriesene. Was soll man über diese Schwierigkeit denken? Aṭ-Ṭabarī
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verzichtet darauf, eine kohärente Lehre zu entwickeln. Er sagt, man müsse alle diese Aussagen des Koran aufrechterhalten, auch wenn man sie nicht miteinander in Einklang bringen könne. Man versteht, dass er sich, wie so viele andere Muslime, in einen Agnostizismus flüchtet, der das göttliche Geheimnis respektiert. Im Gegensatz dazu hat al-Ḥallāǧ verstehen wollen, wie sich Gott lobt und preist; er hat es verstanden, indem er dank göttlicher Hilfe zum Zeugen dieses Lobes und Preises wurde. Als Person preist Gott die Majestät seines reinen Wesens. Freilich, die Person, das ist das Wesen des Wesens, das ist die Liebe. Gott liebt seine Vollkommenheit, und in dieser Liebe übersteigt er sie und strahlt sie aus. Er erschafft und er lobt sich in der Schöpfung, im Hinblick auf seine Geschöpfe. So hat der Mensch Zugang zu diesem Lob; exklusiv das geschaffene Wesen zu werden, für das sich der Schöpfer lobt, das ist der Zielpunkt der Ekstase. Der Schöpferakt ist weit davon entfernt, sich auf eine demiurgische, in Bezug auf das göttliche Wesen zweitrangige Funktion zu reduzieren. Er ist verwurzelt in dem, was das Persönlichste in Gott ist, in seiner Liebe. Die erschaffenen Seienden, Körper oder Geister, sind also nicht Schatten, die es zu vertreiben gälte. Ihre kreatürliche Kontingenz setzt sie dem Irrtum und der Illusion aus. Aber man darf sie nicht zerstören, um die Hohlheit auszumerzen, mit der sie behaftet sind. Man muss sie verklären. Die Askese, an deren Ende das Entwerden (fanāʾ) steht, hat kein anderes Ziel als die falschen Anmaßungen des psychologischen Ich zu vernichten, zusammen mit seinem Verlangen, sich des Körpers zu bedienen, um sich seiner zu erfreuen und mit ihm seine eigenen Zwecke zu befriedigen. Die Fātiḥa, die den Koran eröffnende Sure, die man im rituellen Gebet rezitiert, beginnt mit dem Lobpreis Gottes, des Herrn der Welten, des Königs des Tages des Gerichts. So lobt sich Gott zweimal in einem einzigen Akt: einmal dafür, dass er ein Universum erschaffen hat, dessen Meister er durch die sublimen Attribute seines nichtmitteilbaren Wesens ist, zum anderen, dass er es so erschaffen hat, dass der Mensch in der Schöpfung der Zeuge seines Handelns ist und dass er, vollkommen aufrichtig durch das Geschenk seiner Gnade, sein Freund werden kann, mit dem Gott sich in seiner Liebe auf ewig unterhält. Die beiden Zielpunkte des göttlichen Lobes, die die Fātiḥa dem Gläubigen vorstellt, indem sie ihn so zur Heiligkeit ruft, zutiefst zu vereinen, das scheint eindeutig das Ergebnis der Suche von al-Ḥallāǧ
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gewesen zu sein; auf diese Weise vervollständigte er Muhammad durch Jesus (den Jesus des Islam), indem er im allmächtigen und unzugänglichen Herrn, der aus der Höhe seiner Transzendenz seine weit entfernten Geschöpfe durch sein unerbittliches Dekret regiert, den König entdeckte, der sich mit seinen intimen Freunden umgibt. Aber Gott ist nur dieser König-Freund der Menschen, weil er der Furcht erregende Herr ist. Der Koran verkündet vor allem die Transzendenz und lässt die Königsherrschaft der Liebe nur ahnen. Es ist in der Tat notwendig, dass der Mensch in sich selbst zunächst seine Isolation als in diese Welt gleichsam geworfenes Geschöpf wahrnimmt, am extremen Ende des Schöpferaktes; dass er die Kontingenz und Unbeständigkeit seiner eigenen Existenz fühlt, die Irrealität seiner Macht und die Gebrechlichkeit seiner Unternehmungen. Er muss wissen, dass Gott der einzige Allmächtige ist, der Einzige, der der Meister seines Handelns und der einzige Handelnde ist. Aber Gott ist mehr als all dies, und er lässt den Gläubigen dies in der Offenbarung des Gesetzes erahnen. Denn er ist Herr in Bezug auf die Geschöpfe, die ihm alles verdanken, was sie in sich selbst sind; König aber ist er für die Geschöpfe, die er dazu ruft, so zu werden, wie er sie persönlich denkt, ganz im Herzen seiner Schöpferliebe.
Schlusswort Vielleicht verwundert es am Ende dieser Studie, dass wir Louis Massignon folgend die These vertreten konnten, al-Ḥallāǧ sei ein sunnitischer Mystiker gewesen. Ist es nicht das Proprium des Sunnitentums, dass er sich in allem an die Texte des Koran und der Sunna, d. h. an die Traditionen des Propheten hält, die von den Lippen der Überlieferter gesammelt und in unveränderlichen Begriffen festgelegt wurden? Diese dem Buchstaben verpflichtete Religion hat sich hier und dort unter dem Einfluss der durchweg sehr klugen Kommentare weit ausgebreitet; sie hat die Entwicklung einer dogmatischen Theologie zulassen können, des kalām; auch sie hat das Gesetz verinnerlicht und spiritualisiert und eine Askese und Mystik betont moralischen Charakters entwickelt, wie man sie etwa in den Schriften des großen Denkers der muslimischen Orthodoxie, al-Ġazzālī [gest. 505/1111], findet; bei einigen hat sich ferner die Theorie der mystischen Zustände herausgebildet, die die einfache moralische Realität überschreiten können, um sich mit existentiellen Inhalten zu bereichern. Aber bedeutet der Versuch, das Gesetz zu überschreiten – nicht nur um in ihm einen tieferen Sinn zu entdecken, sondern auch um zu einer Qualität der Wahrheit zu gelangen, die man allgemein für unerreichbar hält –, nicht eo ipso, sich den Rängen der verabscheuungswürdigsten Heterodoxie anzuschließen? Genau das aber hat al-Ḥallāǧ getan. Dennoch muss man ihn als Sunnit bezeichnen, vor allem im Vergleich zu den esoterischen Gnostikern. Niemand wird verneinen, dass es eine Art zeitloser Gnosis gibt. Deren Themen werden von Religionen und akzeptierten Philosophien geliehen und manifestieren sich, ohne sich im Wesentlichen zu ändern, im Laufe der Jahrhunderte in verschiedenen Ländern und Epochen in unterschiedlichen Verkleidungen. Wie es eine heidnische Gnosis und eine christliche Gnosis gab, so auch eine muslimische. Der Koran, so wie vor ihm die Bibel und die Evangelien, diente hier kaum zu mehr als zu einem Vorwand für allegorische Auslegungen, die den Text das sagen lassen, was sie wollen, oder eher, die ihm eine Lehre zuschreiben, die außerhalb und ohne ihn schon ganz und gar erstellt wurde, als eine vorgegebene Wahrheit seit dem Beginn der Welt, von den großen Initiierten der Menschheit überliefert. Der gnostische Kommentar lässt das beiseite, was die
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besondere Originalität der Bücher ausmacht, deren verborgenes Geheimnis er zu enthüllen vorgibt. Er substituiert ihrer wahren Botschaft eine Bilderwelt, die sich als symbolisch ausgibt; er affirmiert die geheimsten Kenntnisse des Universums, aber macht staunen durch seine Beliebigkeit, seine Armut, seine kindische Vorliebe für das grundlose und fantastische Geheimnis. Das heißt nicht, dass die Gnostiker niemals tiefe Intuitionen hätten; aber diese haben dann einen Wert in sich selbst, sie verdanken sich dem besonderen Genie eines Menschen, und man kann sie leicht und ohne Schaden vom Wirrwarr der esoterischen Lehren abtrennen. Al-Ḥallāǧ ist nicht in die Falle dieser falschen Brillanten gelaufen; er hat nicht die Vereinfachungen gewollt, die ihm diese fertigen Systeme geboten hätten. Er hatte seine Erfahrung; er suchte das Absolute wirklich, er begnügte sich nicht damit, es zu erlernen, es durch Initiation zu verstehen, mit dem Risiko, es daraufhin für sich selbst auszubeuten. In seinen Augen hatte der Koran einen originellen und unersetzlichen Wert. Er machte es sich nicht zum Ziel, ihn verschwinden zu lassen, um ihn mehr oder weniger unbemerkt mit Lehren zu ersetzen, die nichts mit ihm zu tun haben. Wenn al-Ḥallāǧ das geoffenbarte Gesetz überstieg, dann durch es und in ihm; wenn er weiter ging als der Prophet, dann durch das Empfangen seiner Verkündigung und in Antwort auf seinen Ruf. Al-Ḥallāǧ hat im Koran das gesehen, was man darin selten ausmacht, ob es sich nun um Muslime handelt oder nichtmuslimische Islamologen. Niemandem entgeht der Text des Gesetzes, die Versprechen und die Drohungen, die ihn begleiten, um ihn zu akkreditieren, die eschatologischen Beschreibungen, die das Gesamt krönen, schließlich die Anrufung eines allmächtigen Gesetzgebers, des Schöpfers von allem, was nicht er selbst ist, und folglich des Meisters und absoluten Souveräns. Es ist das, was einen vollkommen isolierten Gott in der Einheit seiner Transzendenz begreifen lässt, zu hoch und zu entfernt, um sein eigenes Geheimnis zu vermitteln. Wenn der Koran nun auch unbestreitbar eine solche Theologie favorisiert, so gibt er ihr doch nirgendwo in dieser exklusiven Form Ausdruck. Sie ist nicht in der Botschaft des Muhammad enthalten; sie ist Werk der Menschen, die nichts als den frappierendsten Aspekt, die Außenseite der Offenbarung betrachten. Halten wir dabei fest, dass al-Ḥallāǧ nicht versuchte, im Koran einen tieferen Sinn zu entdecken: Es gibt Texte, die er bereitwillig wörtlich versteht, wie es reine Juristen tun könnten. Er stützt seine
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mystische Suche nicht auf einen verborgenen Sinn, den der Kommentar ihm eröffnen würde. Nein! Aber er nahm andere Texte wahr, die für ihn sehr klar in ihrer Aussage sind und die ihn lehren, dass über dem Gesetz und doch auch durch es Gott die Menschen zu etwas anderem ruft als zu bloß äußerer Observanz. Das spezifische Merkmal der Prophetie ist sicher gewesen, die Offenbarung des Gesetzes zu bringen, und Muhammad hatte die Sendung, auf der Bedeutung des strikten Gehorsams zu bestehen, denn Gott kommt, die Menschen dort zu suchen, wo sie sind, in dem Zustand, in dem sie sich befinden, d. h. in einem Leben besetzt von materiellen Nöten und zeitlichen Sorgen, und er spricht zu ihnen zunächst in der einzigen Sprache, die sie verstehen können. Es ist die Sprache der Ordnung und der Verteidigung, des Versprechens und der Drohung. Aber im Koran selbst, und neben allen diesen Vorschriften, gibt Gott die nötigen Hinweise, um, wenn man einmal auf den ersten Ruf geantwortet hat, auf dem Weg weiterzugehen. Al-Ḥallāǧ hatte gesehen, dass sich im Buch nicht alles nach der Figur eines reinen Gesetzgebers richtet. Wir haben in diesem Buch unseren Kapiteln einige Verse vorangestellt, die auf das hinweisen, was sich ihm geoffenbart hat. Wenn dem Gläubigen zuweilen nahegelegt wird, Gott vom Gesetz her zu verstehen, dann wird ihm manchmal auch zu verstehen gegeben, dass das Gesetz in seiner vollkommenen Wahrheit von Gott her verstanden werden muss. Oft sagt der Koran: „Wenn sie wüssten!“ oder „Vielleicht versteht ihr“. Was gilt es zu wissen und zu verstehen? Das Gesetz? Aber es ist doch da, offenbart in einem klaren Arabisch, ohne Verbiegungen. Gott selbst spricht es aus. Ist denn da nicht noch etwas anderes, das der Mensch wissen könnte und das er vielleicht verstehen wird? Es ist dieses Wissen, das „bei Gott“ ist und das eine so große Rolle in der Meditation von al-Ḥallāǧ spielt. So lädt der Koran selbst seine Leser dazu ein, über das Gesetz, das er ihnen durch die Vermittlung des Propheten gibt, hinauszugehen. AlḤallāǧ gehorchte, wenn er die Geheimnisse auslotete. Und der Gott, den er gegen Ende seines Lebens in all dem Glanz seiner Herrlichkeit entdeckte, ist kein anderer Gott als der, dessen fernem Ruf er als kleines Kind bei der Verkündigung des Koran lauschte. Das ist es, warum al-Ḥallāǧ Sunnit war. Der Islam von al-Ḥallāǧ entbehrt nicht christlicher Resonanzen, obwohl ein direkter Einfluss des Christentums nicht nachgewiesen
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werden kann. Dieser Gott, der aus Liebe erschafft, der sich mit sich selbst über seine Geschöpfe unterhält und so im Geheimnis seiner Person ihre wahre Personalität gründet, die sie in sich versammelt, um ihnen in seinem Wort das Geheimnis ihres Seins und der Schöpfung zu offenbaren, dieser Gott, der in seiner vorzeitlichen Ewigkeit die Form des nāsūt (Menschseins) betrachtet und sich daran erfreut, ist in eigenartiger Weise humanisiert, ohne irgendetwas von seiner Majestät und Transzendenz zu verlieren. Indem er der logischen und punktuellen Einheit des muslimischen theologischen Legalismus entsagte, fand alḤallāǧ in seinem Gott ein inneres Leben, das der trinitarischen Lehre weniger widerstrebt als die normale Konzeption des rigiden Monotheismus des geläufigen Islam. Das Christentum kann ein mystisches Leben begründen und rechtfertigen; dieses aber folgt nicht notwendig aus ihm, d. h., die wesentlichen Züge des christlichen Dogmas sind nicht bestimmt von einer privilegierten Erfahrung noch dazu bestimmt, auf ihre Forderungen zu antworten. Das Christentum begründet und rechtfertigt die Personalität jedes Menschen; es bietet jedem einen ontologischen Weg zum Heil an; aber es ist vor allem ein göttliches Drama, das das menschliche Drama erklärt und löst. Selbst wenn al-Ḥallāǧ die integrale Wahrheit verkünden wollte, selbst wenn er danach verlangt hat, vor allen zu bezeugen, ist er dennoch nicht fähig gewesen, das Absolute woanders zu suchen als in der Linie seines eigenen Lebens. Konnte er die Menschen retten? Wir haben es bereits gesagt: So wie es schon beim Propheten war, hatte er die Menschen nicht zu erretten und zu erlösen, sondern er hatte nur zu bezeugen. Das bleibt sehr muslimisch. Die Realität des Dramas, in das die gesamte Menschheit verwickelt ist, löst sich auf in eine Vielzahl von unabhängigen Fällen, von denen jeder ein menschliches Leben darstellt. Aber genügt es, durch eine besondere Gnade die ontologische Wurzel seines Seins entdeckt zu haben, selbst wenn man davon überzeugt ist, dass es die aller anderen Seienden ist? Al-Ḥallāǧ hat das glauben können. Viele Christan haben es ebenfalls geglaubt. Allerdings lehrt der Christus der Evangelien, dass man sich nicht selbst erlöst, dass das Geheimnis des Heils das der gesamten Menschheit ist und dass es seine Wurzeln in einem göttlichen Geheimnis hat. Das ist der Grund, warum der ḥallāǧische Islam, ebenso wie der traditionellere Islam, der Geschichte keinen Platz lässt.
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Die Mystik von al-Ḥallāǧ hat die muslimischen Vorstellungen verbreitet und sie einigen christlichen Vorstellungen angenähert. Diese Verbreitung betrifft vor allem das Attribut des „Lebendigen“, das der Koran in Gott offenbart hat. Was bedeutet dies? Für die Kommentatoren wie Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī, die ihn meditiert haben, zeigt dieses Attribut nur an, dass Gott nicht aus Naturnotwendigkeit erschaffen hat, durch Emanation, sondern infolge einer persönlichen und willentlichen Entscheidung. So verstanden, enthüllt uns dieses Attribut nichts vom intimen Leben Gottes. Al-Ḥallāǧ hingegen ist durch seine ekstatische Erfahrung eingedrungen in das Innere Gottes auf der Stufe dieses Schöpferaktes, der begründet ist in einer Person und in der Liebe. Das stellt einen beträchtlichen Fortschritt dar. Allerdings, das Absolute von al-Ḥallāǧ bleibt ein muslimisches Absolutes. Es würde zu weit führen, hier alles erklären zu wollen, was das muslimische Absolute vom christlichen Absoluten unterscheidet. Schematisch sagen wir, dass im Islam die geschaffenen Seienden der Endpunkt der Schöpfung sind. Der Mensch soll durch eine regressive Bewegung zum ursprünglichen Ausgangspunkt zurückkommen, dem Willen Gottes für die einen und seiner personalen Liebe für die anderen. Für sich selbst genommen hat die Schöpfung als das Gesamt der geschaffenen Seienden ihr Ziel in sich selbst: Gott hat alles organisiert, um die Nöte des hiesigen Lebens zu befriedigen; dieses Leben als solches gilt es zu leben, indem man sich einfach an die Macht und Großzügigkeit des Schöpfers erinnert, indem man ihm dankt und anerkennt, dass alles von ihm kommt, und indem man den Befehlen gehorcht, die er als Bedingungen für die Erlangung eines anderen Lebens im Paradies erlassen hat. Wer mehr wünscht, der braucht nur zum Prinzip und zur Quelle seiner Existenz „zurückzukehren“, zu dem, was ihm das Sein verleiht und so den wahrhaften Grund seines Seins darstellt. Die muslimische Mystik macht also nichts anderes, als eine Tendenz, die den Islam zutiefst kennzeichnet, zu verlegen, nämlich das religiöse Ideal hinter sich zu platzieren, an die Ursprünge, wo die göttliche Aktion in der Menschheit sich in der Sendung des Propheten klar zum Ausdruck brachte. Der Bund Gottes mit dem Volk, an das er seine Botschaft adressiert, genau in dem Moment, wo diese Botschaft sich einschreibt in die Geschichte wie der Einschlag eines göttlichen Blitzes, der die Erde trifft, stellt sichtbar den mystischen „Bund“ dar, den der Ekstatiker zu reproduzieren trachtet. Im Gegensatz dazu ist für die Christen die Schöpfung
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zweifelsohne das Endziel des Schöpfungsaktes, sie stellt aber zur gleichen Zeit einen Anfang dar, ausgerichtet auf ein Ziel hin, das sie überschreitet; sie ist eine Schöpfung für … Die materielle Welt ist für den Menschen, und der Mensch ist für Gott. Die Verheißung, die in die abrahamische Allianz eingeschlossen und in Christus realisiert ist, ist weder eine Belohnung für den Gehorsam noch ein Appell, in Gott die Quelle seiner eigenen Existenz wiederzufinden; sie ist die Verheißung eines übernatürlichen Lebens, Teilnahme am inneren Leben Gottes. Diese Teleologie, die das Christentum auszeichnet und die der Idee des „Endes“ der Welt einen positiven Sinn verleiht, ist unzertrennlich verbunden mit einem Plan der Schöpfung, die in der Intimität Gottes Gestalt annimmt. Al-Ḥallāǧ hatte recht, wenn er die Schöpfung eng mit der Liebe verband. Aber hat er nicht gleichzeitig die Liebe zu eng mit der Schöpfung verbunden? Johannes der Evangelist spricht die Offenbarung aus, dass Gott Liebe ist. Selbst wenn Gott durch Liebe schafft, so schlägt er dem Christen nicht vor, ihn einfach durch eine Rückkehr zu den Ursprüngen seines Seins als Schöpfer wiederzufinden, sondern er offenbart ihm eine Bestimmung, die vor ihm und nicht hinter ihm liegt. Er lässt ihn voranschreiten auf dem Weg der Heiligung, indem er ihn mit seinen Gnaden über die Möglichkeiten und die Hoffnungen einer geschaffenen Kreatur hinaus bereichert. Und es ist die gesamte Menschheit, die er voranschreiten lässt auf einer spirituellen Ebene, die nicht mehr die der Schöpfung ist. Gott gibt sich ganz und gar nicht mehr als Schöpfer – es war zur Zeit der Genesis, dass er sich in dieser elementaren Form offenbarte –, er gibt sich als Gott, der Liebe ist, der Vater ist, Vater der Menschen, weil er in seiner Liebe, in der Einheit des Heiligen Geistes, ewiglich den Sohn zeugt. Al-Ḥallāǧ hat eine Erfahrung gelebt, die einer gewissen göttlichen Innerlichkeit einen Sinn verleiht. Er sprach gar von einer Innerlichkeit der Innerlichkeit. Nichtsdestoweniger, aus der Sicht des Christentums bleibt er noch unterhalb dessen, was Gott in seinem Geheimnis ist: Er erfasst nicht das grundlegende Prinzip der göttlichen Vaterschaft. In seiner regressiven Askese sah er nichts jenseits des Schöpfers. Nun aber ist es das Charakteristikum des Islam, ausdrücklich zu verneinen, dass es möglich und erlaubt sei, seinen Blick so weit auszurichten. Und das ist recht so, wenn man die Verheißung im christlichen Sinn nicht akzeptiert, wenn man nicht glaubt, dass der Mensch dazu bestimmt ist,
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etwas anderes zu werden als ein einfaches Geschöpf, dem Gott das Sein verliehen hat. Aber dieser Glaube, der für das Christentum wesentlich ist, stellt in der muslimischen Perspektive ein Gräuel dar. Al-Ḥallāǧ hätte genauso wenig wie jeder andere Anhänger des Islam die Worte unterschreiben können, die Petrus über Christus schreibt: „Durch ihn hat Gott uns die kostbaren und überaus großen Verheißungen geschenkt, damit ihr durch diese Anteil an der göttlichen Natur erhaltet“ (2 Petr 1,4).
Meinungen Sein Geist scheint neugierig und beweglich gewesen zu sein. Ein Zeichen dieser Beweglichkeit ist seine Gewohnheit, die Art seiner Kleidung oft zu wechseln. Der Autor des Werkes Taḏkirat al-auliyāʾ (Erinnerung an die Heiligen), der persische Dichter Farīd ad-Dīn ʿAṭṭār [gest. 618/1220], der ihn in den höchsten Tönen preist, kann sich nicht verkneifen, den unruhigen und gewagten Charakter seiner Theologie hervorzuheben […] Die Lehre, die al-Ḥallāǧ verkündete, ist uns nicht ausdrücklich bekannt; die Worte, die ihm zugeschrieben werden, erlauben uns zu glauben, dass er in den Pantheismus gefallen war und dass er mehr oder weniger die Art der ʿismaʿīlītischen Philosophen angenommen hat. Er gab vor, die Gottheit wohne in ihm. „Ich bin die Wahrheit“, bekannte er […] Als die Erfolge, die er durch seine Predigten hatte […], das Misstrauen des Kalifats gegen ihn erweckt hatten, nahm man ihn im Jahr 301 (H.) fest und stellte ihn an einem der Tore Bagdads mit dieser Inschrift an den Pranger: „Dieser da ist ein Missionar der Qarmaten.“ Vom Pranger wurde er in das Gefängnis geworfen; er blieb dort acht Jahre lang. Aber die Agitation, die er hervorgerufen hatte, ließ nicht nach. Man musste ihn töten, im Jahre 309 (H.) […] Die Grausamkeit der Bestrafung für den pantheistischen Sufi beweist die Größe der Wirkung, die er hervorgerufen hatte, und die Gefahr, die solche Predigten für den Islam darstellten. Aber sie zeigt auf der anderen Seite auch, dass die muslimische Orthodoxie von da an in Bezug auf die Mystik sich ihrer selbst bewusst geworden war und dass sie einen Stützpunkt gefunden hatte, um sich dem Pantheismus zu widersetzen. Bernard Carra de Vaux, Gazali, Paris 1902, 198–200 *** Die klassische Definition der Mystik, die al-Ḥallāǧ aufstellte: „Der Anteil des in der Minneekstase Versunkenen (ḥasb al-wāǧid) ist der ifrād des Einen (al-wāḥid)“, besagt, dass der Mystiker so tief in Gott versinkt, dass nur Gott allein besteht. Das völlige Aufhören des eigenen Seins ist das Endziel des Mystikers, der in Gott vernichtet wird ( fanāʾ
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= Nirvana des Brahmanismus). Ohne einen Einblick in die ifrād-Lehre bleibt die Übersetzung dieser so schlichten und doch so monumentalen Definition wie das Lallen eines Kindes und ein ratloses Tasten im Denken. Sie besagt zugleich, dass ein eigentliches Versinken in Gott nicht real stattfinden kann, da keine Verschiedenheit zwischen Gott und Mystiker besteht. Durch die mystische Intuition wird nur erschaut, dass kein anderes Sein als das göttliche vorhanden ist, und damit ist das „Vernichtetsein in Gott“ schon gegeben. Es kann gar nicht erst noch statthaben. Al-Ḥallāǧ hat der islamischen Mystik diese letzte Vollendung der Gnosis gegeben, und sie ist seitdem ihr fester Besitz geblieben. (In Anmerkung 215 auf Seite 360 kritisiert Horten die Übersetzung von Louis Massignon: Der ifrād darf nicht auf Gott bezogen werden. Stattdessen wird er hier [in der Übersetzung von Ṭawāsīn durch Massignon] als sich auf das Geschöpf beziehend gedeutet, m. a. W. als eine Aktivität des Geschöpfes. Ifrād ist ein Zustand Gottes in der Unbeweglichkeit, nicht eine Aktivität des Menschen.) Max Horten, Die Philosophie des Islam, München 1924, 246 und 360, Anm. 215 *** Ifrād ist ein menschlicher Akt, nicht ein göttlicher, der sein Objekt auswählt, es gesondert ausspricht, es vollkommen trennt von jeglichem anderen, damit es „ganz allein“ sei mit ihm. Ein von al-Kalābāḏī [gest. 384/994] überlieferter Text von al-Ḥallāǧ wendet im Übrigen diesen Ausspruch in unmissverständlichen Worten an: „Der tauḥīd“ besteht darin, dass du dich auf deine Einheit reduzierst, indem du die Einheit Gottes verkündest, und dass so es Gott ist, der dich zum Zeugen deiner selbst macht. Dieser Ausspruch ist so antipantheistisch wie nur möglich. Er lässt durch Gott die persönliche Unsterblichkeit seines Geschöpfes bestätigen, reales Bild seiner Einheit, einer distinkten Einheit, einer einfachen Substanz, Monade. Louis Massignon, La Passion d’al ῌallāj, Paris 1922, 326, 7 ***
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Der Jesus, den er (al-Ġazzālī) vorstellt, ist ein Modell der Armut und der Entsagung […] Andere Mystiker, wie Ibn al-ʿArabī, werden einen Schritt auf die muslimische Christologie hin machen. Indem er über vierhundert Jahre hinweg die Intuition des at-Tirmiḏī [gest. 279/892] wieder aufnimmt, wird Ibn al-ʿArabī Jesus als das Siegel der universalen Heiligkeit betrachten und ihm so eine in gewisser Hinsicht unvergleichliche transhistorische Rolle zugestehen […] Schon lange vor dem allzu klugen al-Ġazzālī und dem Monisten Ibn ʿArabī hatte al-Ḥallāǧ in seinem Fleisch die Stigmata der Liebe reproduziert: Er starb nach einer erstaunlichen Angleichung seiner letzten Stunden an die Jesu: Anklage, Aussagen falscher Zeugen, Geißelung, Kreuzigung, Vergebung gegenüber seinen Feinden … Michel Hayek, Le Christ de l’Islam, Paris 1959, 18 f. *** Wie al-Ǧunaid sieht al-Ḥallāǧ in der höchsten mystischen Erfahrung eine Vereinigung mit Gott; aber dann ging er darüber hinaus und lehrte, dass der Mensch so als der inkarnierte Gott selbst gesehen werden kann, und er nahm dabei nicht, wie man es hätte erwarten können, Muhammad als Beispiel […] Er nahm nicht Göttlichkeit für sich selbst in Anspruch, obwohl sein Ausspruch, der zu seiner Hinrichtung führte, „Ich bin die Wahrheit“ (anā al-ḥaqq), seinen Richtern diese Bedeutung zu implizieren schien. […] In al-Ḥallāǧ haben wir das höchste Beispiel – extremer gar als das des Abū Yazīd – des „trunkenen“ Sufi; so total war seine Absorption im Dienst des göttlichen Willens, wie er ihn verstand, dass er die Konsequenzen, die in seinem Fall sicher desaströs waren, einfach außer Acht ließ. Die Legende von seinem Tod umhüllt ihn mit außergewöhnlicher Noblesse und fordert auf zu einem Vergleich mit der christlichen Erzählung der Kreuzigung, die ihm sehr wohl gegenwärtig gewesen sein mag, als die Folterer sich anschickten, ihn zu töten. Arthur J. Arberry, Sufism. An Account of the Mystics of Islam, London 1950, 59 f. ***
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Zahlreich wären die Texte von al-Ḥallāǧ, wo man das gelebte Zeugnis einer gewissen Linie der Leere und der Vereinsamung (tafrīd) finden könnte. Der Vorwurf, den das kitāb aṭ-ṭawāsīn an Iblīs richtet, ist ganz und gar nicht, dass er diese erfahren habe, sondern dass er daran Gefallen gefunden habe: kurz, dass er seine eigene Suche nach Vereinsamung (tafrīd) die göttliche Einsamkeit (infirād, ifrād) habe verdecken lassen. Nicht erst am Anfang seines Aufbruchs zu Gott, sondern im Abstandnehmen von allem Geschaffenen beklagt sich al-Ḥallāǧ über dieses „Ich“, das durch seine Fragen sich zögernd zwischen ihn und Gott stellt. Und es würde heißen, ihn gründlich misszuverstehen, sähe man darin einen Durst nach pantheistischer Absorption. Einerseits handelt es sich gar nicht darum, eine Rückkehr auf sich zu bekämpfen. Dies würde Untreue gegenüber den göttlichen Avancen bedeuten. Nein, dieses Stadium ist wie überschritten, das „es ist Ich“, das al-Ḥallāǧ so traurig macht, präsentiert sich eher unter dem Aspekt eines ontologischen Knotens. Jedenfalls ist es eine Fusion der Liebe, die gesucht wird, nicht eine substantielle Fusion. Das gesamte Unternehmen von al-Ḥallāǧ wird dominiert von diesem ḥadīṯ, welchen seine riwāyāt zitieren: „Niemand betet Gott an mit einem Akt, der Gott wohlgefälliger wäre als der, ihn zu lieben.“ […] Das Blut des Körpers oder der Seele ist der Preis der Verwandlung der geschlossenen Abgesondertheit in die offene, des tafrīd zum infirād, diese geheime Substitution, deren Symbol vielleicht die bei al-Ḥallāǧ so häufigen alchemistischen Metaphern sind. Ich beabsichtige hier keinesfalls zu sagen, dass al-Ḥallāǧ eine typische Form verkörpert habe, noch nicht einmal, dass er vielleicht eine totale Erfahrung der natürlichen Mystik gelebt habe. Nur glaube ich, in seinen Werken die Spur dieser Bewegung der Verbiegung in sich selbst wiederzufinden, die der natürlichen Mystik eigen ist. Wahrscheinlich spürte er die Anziehungskraft, denn schon „die Feuer des taǧrīd (der asketischen Isolierung) machen trunken“. Aber während bei ihm alles durch die Erfahrung einer übernatürlichen Liebe freier Aufopferung finalisiert bleibt, wurde er sich bald bewusst, dass die „totale Vereinsamung“ seinem Durst nach Gott schaden könnte. Und das demütig angenommene und geliebte Leiden war in seinen Augen der Schlüssel zum Über-sich-selbst-Hinausgehen. […] Die Versuchung zu einer geschlossenen Einsamkeit wurde gebrochen in dem Maß, wie die Authentizität einer übernatürlichen Erfah-
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rung die Seele weiterhin zu einem anderen als sich selbst zog, was ihm erlaubte, die „Trunkenheit“ der Isolierung des taǧrīd oder des tafrīd nicht als eine göttliche Vereinigung (union) zu verstehen, sondern in ihr den infirād, die leidvolle göttliche Einsamkeit, in welcher alles zurückgegeben ist, wirken zu lassen. Georges C. Anawati / Louis Gardet, Mystique musulmane, Paris 41986, 107–110
Biographie eines Unverstandenen 877 Im Alter von 20 Jahren begegnete al-Ḥallāǧ dem Sufi al-Ǧunaid. Dieser sagte zu al-Ḥallāǧ: „Stelle die Frage, die du stellen willst.“ Al-Ḥallāǧ: „Welcher Unterschied besteht zwischen der individuellen Natur (ḫalīqa) und den dem Menschen eingeprägten Formen (rusūm aṭ-ṭabʿ)?“ AlǦunaid: „Ich sehe in deinen Worten nichts als indiskrete Neugier. Warum fragst du mich nicht darüber, was sich in dir abspielt, über dein Verlangen, den Menschen deines Alters zu widersprechen oder über sie hinauszugehen?“ Al-Ǧunaid schwieg für einen Moment, dann sagte er zu ihm: „Welchen Galgen wird dein Blut besudeln?“ Darauf brach alḤallāǧ in Tränen aus und ging von dannen. Dennoch: Die Frage von al-Ḥallāǧ ist in jedem Fall eine sehr gewichtige Frage für einen Mystiker, denn sie setzt das bestimmte Seiende in seiner Form am Ende der Schöpfung dem Subjekt einer freiwilligen Handlung entgegen, das „das ausdrückliche und lebendige Bild“ (Louis Massignon) der schöpferischen Aktivität werden könnte. 895 Während seiner Wallfahrt in Mekka brach sein Meister ʿAmr al-Makkī mit ihm mit den Worten: „Wenn es in meiner Macht stünde, würde ich dich mit eigener Hand töten.“ Er verfluchte ihn, denn er hatte vor alḤallāǧ einen Koranvers rezitiert, und al-Ḥallāǧ hatte vorgegeben, einen ihm gleichen Vers verfassen zu können. Tatsächlich umriss al-Ḥallāǧ seine Theorie der Teilnahme am mentalen Wort Gottes (kalām nafsī); er wollte nicht sagen, dass er fähig sei, einen Vers des Koran zu schreiben, denn dieses Buch stellt ein unnachahmliches Wunder (iʿǧāz al-qurʾān) dar, sondern, dass er imstande sei, das Instrument eines Wunders zu sein (Massignon). 897 Bruch mit den Sufis. Seine Meister glauben nicht an den Wert seiner inneren Offenbarungen. Al-Ḥallāǧ war der Meinung, dass die von ihnen gepflegten mystischen Zustände keine reinen Gnaden Gottes sind; al-Ǧunaid dagegen sah in ihnen reine göttliche Gnaden. Al-Ḥallāǧ wollte diese intermediären Werte eliminieren (isqāṭ al-wasāʾil), um
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Platz zu machen für die unmittelbare Vereinigung mit dem göttlichen Wesen. Ǧunaid sagte zu ihm: „Ich verbünde mich nicht mit Verrückten, die nicht ehrlich das Leben ihrer Genossen teilen […] Ich sehe in deinen Worten viel Anmaßung und ganz und gar nutzlose Ausdrücke.“ 899–902 Predigtreisen. Man verdächtigte ihn, ein qarmatischer Missionar zu sein und politische Agitation zu betreiben. Ein sehr altes Dokument berichtet: „Man sagt, dass er am Anfang seiner Karriere predigte, um Anhänger für die Nachfahren des Hauses ʿAlī zu gewinnen.“ 905 Reise nach Indien. Man beschuldigte ihn der Praxis der weißen Magie (siḥr). Der Arithmetiker Aḥmad al-Ḥāṣib vertrat die Ansicht seines Vaters, al-Ḥallāǧ habe öffentlich erklärt, er gehe nach Indien, um die weiße Magie (siḥr) zu erlernen. „Am Strand stand eine Hütte, wo sich ein Greis befand. ,Kennt sich einer von euch mit siḥr aus?‘ Da nahm der Greis einen Fadenknäuel, gab ein Ende des Fadens al-Ḥallāǧ und warf den Rest in die Luft: Es wurde ein Bogen, auf den er stieg; dann kam er herunter und fragte: ,Ist es das, was du verlangst?‘ – ,Ja.‘ – ,Dies ist nur ein winziges Beispiel für das Wissen unserer Meister‘, sagte der Greis.“ Derselbe Erzähler fügte hinzu: „Später, nachdem er nach Bagdad zurückgekehrt war, hörte ich, dass er vorgab, wundersame Dinge zu tun. Man sagte, er werde von Ǧinnen bedient, und vielerlei Geschichten über ihn waren im Umlauf.“ 908 Al-Ḥallāǧ lässt sich in Bagdad nieder. Er wird beschuldigt, mehrere seiner Wunder öffentlich bekannt gemacht zu haben. Ein Beispiel: Als er das Bad verließ, gab ihm einer seiner Feinde eine Ohrfeige. „Warum hast du mich geohrfeigt?“ – „Die Wahrheit hat mir das befohlen.“ – „Im Namen dieser Wahrheit, gib mir eine weitere Ohrfeige.“ Als der Mann seine Hand erhob, um ihn zu ohrfeigen, verdorrte sie. Was verbirgt sich dahinter? Illusionen exzessiver und leichtgläubiger Bewunderer? Von geschickten Feinden verbreitete Gerüchte? Hatte al-Ḥallāǧ wirklich geglaubt, dass er nicht nur Wunder wirken könne, sondern dass er sie tatsächlich wirkte. Das ist schwer zu sagen. Was
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auch immer, diesmal verlassen ihn die Sufis total: Was sich da ereignete, ging voll und ganz gegen ihre mystische Theologie. Al-Ḥallāǧ beanspruchte, einen Punkt erreicht zu haben, wo seine Personalität hätte zerstört sein müssen; nun aber, wie Massignon sagt, „scheint sie im Gegenteil erhöht, anerkannt und geheiligt“. 909 Fatwā des Juristen Ibn Dāwūd [al-Iṣfahānī, gest. 297/909] gegen alḤallāǧ. Als Sohn des Gründers der Ẓāhiriten war Ibn Dāwūd seinem Vater an der Spitze dieser liberalistischen Schule der Textinterpretation nachgefolgt. Er ist der Autor des Buches Kitāb az-zahra über die platonische (ʿuḏrī) Liebe, von der man stirbt. Es ist eine profane, wenn auch ideale Liebe, ein physisches Verhängnis. Auch konnte Abu Dāwūd nicht die ḥallāǧische Lehre von der Liebe Gottes akzeptieren. 913 Erster Prozess. Man verklagt al-Ḥallāǧ, er habe gepredigt, dass er Gott sei und dass die göttliche Natur in ausgewählte Menschen einfließe. Der Wesir Ibn ʿĪsā, ein überzeugter, jedoch nicht fanatischer Orthodoxer, befasst sich mit dem Dossier von al-Ḥallāǧ. Er sagt zu ihm: „Mach dich daran, die gesetzlich vorgeschriebenen Reinigungen und die religiösen Pflichten zu lernen! Das wird nützlicher für dich sein, als damit fortzufahren, Traktate zu schreiben, wo du nicht weißt, was du sagst.“ Aber Ibn ʿĪsā kann nicht beweisen, dass al-Ḥallāǧ ein zindīq ist. 921–922 Zweiter Prozess. Ins Gefängnis geworfen, erfreut sich al-Ḥallāǧ gewisser Unterstützungen, die ihm eine spürbare Verbesserung der Bedingungen seiner Haft verschaffen. Er erreicht es, mit dem Hof in Verbindung zu treten, ja sogar mit dem Kalifen. Die Wut seiner Feinde verdoppelt sich: Al-Awāriǧī, ein Finanzbeamter, verfasst ein Pamphlet mit dem Titel „Die faulen Tricks des al-Ḥallāǧ“. Außerdem Feindschaft seitens der „Leser des Koran“. Ihr Chef, Ibn Muǧāhid (gest. 324/936), verfolgt in al-Ḥallāǧ den „Autor einer allgemeinen Methode der Koranlektüre, vor allem für die Werke, in denen er den koranischen Text amalgamiert hat […] seinen eigenen Kompositionen gemäß […] als ob Gott, der Autor des inspirierten Textes, gekommen sei, sein Denken zu übernehmen und zu entwickeln“ (Massignon).
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Der zweite Prozess ist angefüllt mit Machenschaften. Der Vorwand, den man anführte, um seine Verurteilung zum Tod zu erreichen, war die Lehre der geistlichen Wallfahrt, interpretiert in äußerst tendenziöser Weise. Nach dem Tod des al-Ḥallāǧ 10. Jahrhundert Fortgesetzte Verfolgungen seiner Schüler. Am Ende des Jahrhunderts platzierte der Häresiograph al-Baġdādī [gest. 429/1037] in seinem Werk Kitāb al-farq baina al-firaq al-Ḥallāǧ in den Rängen der schiitischen Extremisten, als Vertreter der Lehre von der Einwohnung Gottes im Menschen. 11. Jahrhundert Ibn Ǧauzī [gest. 597/1200], ein Feind der Mystik im Allgemeinen, schrieb ein verloren gegangenes Werk gegen al-Ḥallāǧ. Er machte aus ihm einen Zauberer und wies die These derer zurück, die an die Heiligkeit von al-Ḥallāǧ glaubten. 12. und 13. Jahrhundert Interpretation der Schriften von al-Ḥallāǧ im Sinne der Magie. Diese damals schon alte Deutung findet ihren Ausdruck bei al-Būnī [gest. 622/1225], der elf magische Formeln, die al-Ḥallāǧ zugeschrieben werden, veröffentlicht. Man verehrte die alphabetischen Formeln und Figuren, die sich in den Werken des Mystikers finden, als Talismane und Abraxas. Zum Beispiel dieses Gedicht, welches ein Rätsel mit dem Wort tauḥīd ist: „Drei Buchstaben ohne diakritische Punkte, dann zwei punktierte – und der Diskurs bricht ab da! Der erste punktierte Buchstabe stellt diejenigen dar, die den Buchstaben finden; der zweite diejenigen, dem die menschlichen Geschöpfe ihre Zustimmung geben; und die übrigen Buchstaben sind ein Geheimmittel voller Dunkelheiten, die es nicht zulassen, dass man zur Entdeckung geht, noch dass man stehen bleibt.“ Ibn al-ʿArabi, der große Theoretiker der Mystik des existentiellen Monismus, bewunderte al-Ḥallāǧ sehr. Dabei hatte er die Tendenz, ihn in seinem eigenen Sinn zu interpretieren. Was er allerdings in sein Sys-
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tem integriert hat, ist nicht die Lehre, sondern vielmehr die zu einem Typ gestaltete Person von al-Ḥallāǧ, die er zum siebten mystischen Pol (quṭb) machte, der zu Füßen des Propheten Hiob liegt. 14. Jahrhundert Der große ḥanbalitische Reformer Ibn Taimīya (gest. 728/1328), Gegner des Monismus von Ibn al-ʿArabī, sah in al-Ḥallāǧ einen Vorläufer dieser esoterischen Mystik. Für ihn ist al-Ḥallāǧ eine satanische Gestalt, die von Dämonen bedient wird. Der šāfiʿītische Historiker aḏ-Ḏahabī (gest. 748/1348) glaubte auch an eine dämonische Besessenheit: Al-Ḥallāǧ habe gut begonnen, aber schlecht geendet. Erwähnen wir schließlich al-Ǧildākī (gest. 742/1342), der eine alchemistische Interpretation vieler Gedichte von al-Ḥallāǧ vorlegte. Siehe zum Beispiel, wie er folgenden Vers kommentiert: „O Wehen des Windhauchs, geh und sage dem Hirschkalb: Die Tränkung verändert mich nur.“ „Das ist der Rückstand an Erde, der sich bei den Wassern (deren technischer Name ist: ,Wehen des Windhauchs‘) beklagt, denn er reinigt sich in dem Maß, in dem er ihre Feuchtigkeit (zweite Operation des Großen Werkes) ,trinkt‘; er haucht seine Seele aus in einem farbigen Dampf, rot mit einem Halo aus schwarzem Kondenswasser, genannt Kalb der Gazelle.“ Für das Gesamt dieser Frage verweisen wir auf die These von Louis Massignon (P., 928 f.), der auf „die primitive und enge Verbindung [hinweist], die zwischen dem Symbolismus der asketischen Reinigung der Seele und der alchemistischen Forschung besteht“. Die modernen Exegeten sind oft den Irrtümern der Alten gefolgt. AlḤallāǧ verlor sich im Konglomerat der Esoteriker, als Louis Massignon durch eine langwierige und minutiöse Arbeit seine Originalität wiederentdeckte und ihm sein Profil zurückgab.
Abkürzungen A. H. D.
Lexique P. R. Ṭaw.
Akhbār al ῌallāj (3me édition) Le Diwan d’al-ῌallāj, in: Journal asiatique 1931, Nr. 1 Q Qaṣîda (Nummer in römischen Ziffern) M Muqațțaʿāt (Nummer in arabischen Ziffern) Y Yatāmā (Nummer in arabischen Ziffern) Louis Massignon, Essai sur les origines du lexique technique de la Mystique musulmane, Paris 1954 Louis Massignon, La Passion d’al ῌallāj, Paris 1922 riwāyāt Kitâb aṭ-Ṭawâsîn
Glossar ʿain al-ǧamʿ: mystischer Zustand, in dem der Mensch mit Gott vereint ist, und Quelle jeglicher wirklicher Vereinigung, indem man sozusagen die realisierte göttliche Vorschrift wird, Instrument Gottes, Gott gefällig und sich in Gott gefallend. Es ist die fundamentale Vereinigung (vgl. ǧamʿ al-ǧamʿ). amr: 1) wörtlicher Imperativ, 2) göttlicher Befehl, 3) göttliche Vorschrift im Unterschied zu Dekret (irāda). ʿaql: Intellekt, Intelligenz, Verstand. azal: Vorzeitigkeit, intentional bezogen auf aǧal, den Endpunkt, wo sich die vorzeitigen feierlichen Versprechen des miṯāq verwirklichen. bainūna: Distanz nehmen (Verbalnomen von bāna), entfernt sein. Die Lexikographen bemerken, dass diese Wurzel zu den addād (Worte mit entgegensetzten Bedeutungen) gehört und dass sie gleichzeitig Trennung und Vereinigung bedeutet. Es handelt sich also um eine Distanz, die, während sie entfernt, vereint. baqāʾ: in Gott verbleiben nach dem fanāʾ, welches das In-sich-Falsche der Individualität verschwinden lässt. baṭar: Ausgelassenheit, Frechheit, auch Fehlen der Ehrfucht Gott gegenüber. Häufiger Begriff im ḥadīṯ: „Am Tag der Auferstehung wird Gott denjenigen nicht anschauen, der seinen Mantel respektlos am Boden schleifen lässt (Zeichen der Eitelkeit).“ – „Der Stolz ist Verachtung (baṭar) der Wahrheit (ḥaqq).“ Man definiert ihn als die Tatsache, aus Stolz die Wahrheit zu verachten und sie nicht zu akzeptieren, oder auch die Tatsache, dass jemand das in der Wahrheit wählt, was er vorzieht, und die Wahrheit nicht wirklich sieht. Angelerntes rationales Wissen kann den batar nach sich ziehen. ḏikr: Erinnerung, die Gott dauerhaft dem Denken gegenwärtig macht. Bezeichnet auch die angewandten Prozeduren (rhythmische Wiederholung des Gottesnamens, Gebete etc.), um dieses Ergebnis zu erzielen. dīn: die Religion als Gesamt der geoffenbarten Werte und das Leben in Konformität mit diesen Werten; der dunyā entgegengesetzt.
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dunyā: die diesseitige Welt; das Leben in dieser Welt und die Werte, wahr oder falsch, die sich darauf beziehen. faiḍ: fließende Bewegung, Überlaufen; schöpferischer Elan. fanāʾ: Vernichtung von allem, was sich dem reinen Verbleiben (baqāʾ) in Gott widersetzt. fazaʿ: zeigt eine Rückbewegung an, die begleitet ist von Verblüffung und Angst. Dieses Wort gehört zu den addād und umfasst gleichzeitig die Idee eines Rufes nach Hilfe. Der ḥadīṯ wendet ihn auf die Engel an, die von dieser Angst befallen wurden, als Gabriel als Übermittler einer Botschaft an Muhammad gesandt wurde und sie dachten, es handle sich um die Ankündigung der Auferstehung. Es passt gut zum Propheten im Augenblick, da er die Offenbarung empfängt. fikr: diskursive Reflexion. fiṭra: bezeichnet die Kenntnis von Gott, die Gott in den Menschen bei seiner Erschaffung legt. Es wurde diskutiert, ob dies bedeutet, dass jedes Kind von Natur aus Muslim ist, oder ob es dies nur potentiell ist, bis es das Bekenntnis des Glaubens ablegen kann. Man hat gesagt, dass die fiṭra darin bestand, dass jeder Mensch mit der Kenntnis Gottes als Herrn aller Dinge, sofern er ihr Schöpfer ist, geboren wird. Die interessanteste Deutung ist die, die dieses Wort mit dem mīṯāq erklärt: Die fiṭra, die jeder Mensch beisitzt, wenn er geboren wird, ist konform mit der, gemäß der er geschaffen wurde, als Gott die gesamte Menschheit aus dem Rücken Adams hervorkommen ließ. futuwwa: die Qualitäten eines feurigen jungen Mannes, die aus ihm einen „Ritter“ machen. Bei den Mystikern ist die futuwwa charakterisiert durch die Einstellung, die anderen über sich selbst zu stellen; daher bedeutet sie ein Gesamt von Tugenden wie Freigebigkeit, Uneigennützigkeit, Verzicht etc. ġāʾib: 1) was verborgen ist, abwesend, verschwunden; 2) die dritte Person, die, über die man spricht und die nicht präsent ist. ġaib: das göttliche Geheimnis. ǧamʿ: totale Vereinigung (vgl. ǧamʿ al-ǧamʿ). ǧism: der organische Körper mit seiner substantiellen Form.
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ḥadīṯ: Tradition, die auf den Propheten zurückgeht, gestützt auf eine isnād; Kette der Übermittler (silsila), die die Zuverlässigkeit des Tradierten garantieren. ḥadīṯ qudsī: Traditionen, in denen Gott in der ersten Person spricht. ḥaǧǧ: Pilgerfahrt nach Mekka, gesetzliche Vorschrift, Zeichen der Gemeinschaft der Gläubigen. Einige Gelehrte denken, dass einem Pilger vergeben werden kann dank der Verdienste der anderen. haiba: Ehrfurcht; mystischer Zustand, der ein Paar mit uns bildet; Familiarität mit Gott, intimes Verhältnis zu ihm. haikal: bedeutet jeglichen Körper, lebendig oder leblos. ḥāl (aḥwāl): mystischer Zustand, dem eine gewisse Dauer zukommt. ḫāliq: Gott der Schöpfer. ḥaqīqa: Realität. ḥaqq: Gott als oberste Wahrheit und Schöpfer aller Wahrheiten. ḥaram: Zustand gesetzlichen Verbots; geheiligter Ort. ḫauf: Furcht; Furcht vor Gottes Drohungen; „Zustand“, der am Anfang der mystischen Himmelfahrt steht. Bildet ein Paar mit Hoffnung (raǧāʿ) auf die Versprechen Gottes. Vgl. waʿd und waʿīd. ḥayy: lebendig, lebend. Attribut Gottes. himma: Bestrebung, Vorhaben; das Denken, das auf das lenkt, was es beschäftigt; einer wichtigen Sache gewidmete Aufmerksamkeit; Wünsche und Gebete für den Erfolg eines Projektes. ḥubb: Liebe. Vgl. maḥabba und ʿišq. hudā: die Führung des Geschöpfes durch Gott; das geoffenbarte Gesetz, das es leitet. Vgl. ihtidāʾ. ḥuǧǧa: Beweise. ḥulūl: Einwohnung, Einflößen Gottes in einem Geschöpf; Verortung des göttlichen Glanzes über einem bestimmten Geschöpf. hūwa hūwa: Massignon hatte den Begriff zunächst definiert als den waḥdānī aḏ-ḏāt (denjenigen, dessen Wesen Gott eint). Aber er hat diese Definition korrigiert: „Das hūwa hūwa ist einfach derjenige, durch den Gott eine Idee ausdrückt, die Stimme der legitimen Predigt.“ ifrād: göttliche Einsamkeit; der einzige Gott, sofern er allein ist mit sich selbst. iḥrām: 1) das Sprechen der Worte „Gott ist groß“ am Anfang des Gebetes; 2) rituelles Gewand des Mekkapilgers; 3) Sakralisierung.
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ihtidāʾ: die Führung des Geschöpfes durch Gott unter dem Aspekt, dass er seinen Zielpunkt erreicht. Vgl. hudā. ʿilm: Wissen um die göttlichen und religiösen Dinge. infirād: Zustand der Seele, die von Gott in die Einsamkeit versetzt worden ist. irāda: Gottes ewiger Wille; göttliches Dekret. Es ist der Schöpferwille, der alles tut, was er will. Man unterscheidet ihn vom normativen Willen, der sich ausdrückt im Gesetz durch den amr. ʿišq: Verlangen der Liebe; Begriff in der Sprache der Liebespoesie, von al-Ḥallāǧ angewandt auf Gott. lāhūt: „Welt“ der Gottheit oder des göttlichen Wesens (Gardet). maḥabba: gegenseitige Liebe zwischen Gott und seinem geistlichen Geschöpf (Massignon, Gardet). „Die Liebe heißt, dass du bei deinem Geliebten stehen bleibst, wenn du deiner Qualitäten beraubt sein wirst und wenn dann deine Qualifizierung von seiner Qualifizierung kommt“ (al-Ḥallāǧ). mīṯāq: „Bund“, vorzeitlicher Pakt. muḫālafat an-nafs: Kampf gegen das an das Sinnliche gebundene empirische Ich. muḫāṭab: derjenige, den man anspricht, die zweite Person. munāǧāt: Gebete, in denen der Mystiker sich mit Gott im Geheimen unterhält. nafs: fleischliche Seele (Gardet). nāsūt: Welt oder Form der Menschheit. nīya: Intention (verlangt in der Ausübung der religiösen Pflichten). qalb: Herz, tieferes und weniger variables Ich als das Ich der Seele, zwischen dem Fleischlichen und dem Geistlichen. raǧāʿ: Hoffnung, Zuversicht. Vgl. ḫauf. rāziq: Gott, sofern er sich um alle Bedürfnisse seiner Geschöpfe kümmert. riḍā: gegenseitiges Einverständnis zwischen der Seele und Gott; gelebte Übereinstimmung mit dem göttlichen Willen (Gardet).
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Glossar
rūḥ: Geist; geistliches Ich und die geistliche Realität dieses Ich; Ort der Intimität des persönlichen „Geheimnisses“; Realität des „Ich“. šahāda: Bekenntnis des Glaubens, das darin besteht zu sprechen: „Ich bezeuge, dass es keine Gottheit gibt außer Gott und dass Muhammad der Gesandte Gottes ist.“ sakīna: Friede der Seele. sakra: Todeskampf; Schwindelgefühl, verursacht durch das Nahen des Todes. ṣidq: mystischer Zustand, der in einer totalen Transparenz des Herzens besteht; ontologische Authentizität im Gegensatz zur sich selbst gefallenden Lüge; Kondition reiner Liebe und Öffnung zur Heiligkeit. širk: „Beigesellung“, das Gott-Beigesellen (im Denken oder kultischen Handeln) von Seienden, die nicht Gott sind. Im weiteren Sinn: Jede Sorge, die nicht Gott zu ihrem Objekt hat oder die sich nicht auf ihn zurückführt, kann širk genannt werden, zum Beispiel die Liebe der Dinge dieser Welt, das Anhängen an Ideen oder an menschliche Werte, die wie absolute Wahrheiten behandelt werden. sirr: der „Grund“ des Herzens, Ort des intimen Geheimnisses des Seins und der geistlichen Person. tafrīd: erworbene und geschlossene „Einsamkeit“ (Gardet). taǧallī: Erleuchtung, Ausstrahlung. taǧrīd: asketische Isolierung, abgeschlossene, erlangte Einsamkeit (Gardet). tahlīl: das Sprechen von „Es gibt keine Gottheit außer Gott“. taḥmīd: das Gott-Loben, indem man spricht: al-ḥamdu lillāh. Dieses Lob richtet sich an den ḫāliq und den rāziq (siehe diese Begriffe). tašbīh: Gottes Lob sprechen mit den Worten: subḥāna ʿllāh. Dieses Wort der Verherrlichung richtet sich an Gott in seiner Einzigkeit und Transzendenz. taṣdīq: innerliche Zustimmung zur Wahrheit, tiefe Verpflichtung für das, was man für wahr hält. tauba: Reue. tauḥīd: 1) Verkündigung der Einheit Gottes; 2) „Vereinheitlichung“, Erfahrung der Einheit Gottes (Gardet).
Glossar
159
tawakkul: mystischer Zustand des Vertrauens auf Gott und des totalen Verlassens auf Gott, wie das eines kleinen Kindes in den Armen seiner Mutter. tumaʾnīna: Zustand der Seele, die den Frieden gefunden hat. uns: Zustand, der zusammen mit haiba ein Gegensatzpaar formt; familiäre Intimität mit Gott. waʿd: das göttliche Versprechen, Objekt der Hoffnung (raǧāʿ), dem waʿīd entgegengesetzt. waǧd: Ekstase. waḥy: die Offenbarung als Inspiration seitens Gottes. waʿīd: die göttliche Drohung, Objekt der Furcht (ḫauf), waʿd entgegengesetzt.
Namensregister Abraham 28, 68 f., 126, 141 Abū Ḏarr al-Ġifārī 51 Adam 12, 48, 69, 108‒111, 113 f., 116 f., 125 f., 132, 155 aḏ-Ḏahabī, Šams ad-Dīn Muḥammad ibn Aḥmad 152 al-Awāriǧī (Finanzbeamter zur Zeit von al-Ḥallāǧ) 150 al-Baġdādī, ʿAbd al-Qāhir ibn Ṭāhir 151 al-Būnī, Aḥmad ibn ʿAlī 151 al-Ġazzālī, Abū Ḥāmid Muḥammad ibn Muḥammad 136, 143, 145 al-Ǧildākī, ʿAzz ad-Dīn Aidemir 152 al-Ǧunaid (von Bagdad), Abū l-Qāsim 11, 17, 89, 91, 109 f., 145, 148 f. al-Ḥāṣib, Aḥmad 149 al-Ḥusain, Abū ʿAbdullāh ibn Manṣūr (al-Ḥallāǧ) 16, 30, 32, passim ʿAlī ibn Abī Ṭālib 17, 19, 52 f., 149 al- Iṣfahānī, Dāwūd 19, 150 al-Kalābāḏī, Abū Bakr Muḥammad 144 al-Muḥāsibī, al-Ḥārit ibn Asad 17 al-Qušairī, Abū l-Qāsim ʿAbd al-Karīm 11, 53, 111 al-Tayyeb, Ahmad 13 al-Wāsiṭī (Schüler von al-Ḥallāǧ) 84 ʿAmr al-Makkī 16 f., 31, 148 Anawati, Georges C. 108, 147 an-Nūrī, Abū l-Ḥusain 17, 81 Antichrist (ad-daǧǧāl) 125 Arberry, Arthur J. 145 Arnaldez, Roger 7‒9, 11 f., 15 ar-Rāzī, Faḫr ad-Dīn 24, 46‒50, 69, 102, 104, 140 aš-Šiblī, Abū Bakr 19, 41, 68 Aṭ-Ṭabarī, Abū Ǧaʿfar Muḥammad ibn Ǧarīr 133 ʿAṭṭār, Farīd ad-Dīn 143
at-Tirmiḏī, ibn ʿĪsā ibn Saura as-Sulamī 145 at-Tustarī, Sahl ibn ʿAbd Allāh 16 Augustinus von Hippo 116 az-Zamaḫšarī, Abū l-Qāsim Maḥmūd ibn ʿUmar 63 Bāyazīd Bisṭāmī, Abū Yazīd 11, 28, 93 f. Blachère, Régis 46, 69, 76 Bobzin, Hartmut 21 Carra de Vaux, Bernard 143 Corbin, Henri 64, 101 Epiktet (Stoiker) 130 Franziskus (Papst) 13 Franz von Assisi (Franziskus) 13 Gabriel (Engel) 47, 69, 126, 155 Gardet, Louis 37, 94, 108, 147, 157 f. Goldziher, Ignaz 107 Ḥamd (Sohn von al-Ḥallāǧ) 10, 56, 74 Hayek, Michel 145 Hiob 128, 130, 152 Horten, Max 144 Iblīs (Satan) 7, 11, 18, 61, 111‒118, 126 f., 146, 152 Ibn al-ʿArabī, Muḥyī d-Dīn 10, 35 f., 63, 68, 70 f., 108 f., 145, 151 f. Ibn al-Ḥaddād (Qāḍi zur Zeit von alḤallāǧ) 83 Ibn ʿAṭāʾ Aḥmad Ibn Dāwūd al-Iṣfahānī, Abū Bakr Muḥammad 19, 28, 150 Ibn Fātik, Ibrāhīm 32, 62 Ibn Ǧauzī, Abū l-Faraǧ ʿAbd ar-Raḥmān 151 Ibn ʿĪsā (Wesir zur Zeit von al-Ḥallāǧ) 150 Ibn Muǧāhid (Ibn Ǧabr), Abū l-Ḥaǧǧāǧ 150 Ibn Taimīya, Taqī ad-Dīn Aḥmad 152 ʿImrān (Vater von Maria) 126 Isrāfīl (Engel der Auferstehung) 27
162 ʿĪsā ibn Maryam (Jesus von Nazareth) 9, 12, 18, 36, 123‒127, 131‒135, 145 Johannes (Evangelist) 141 Kant, Immanuel 91 Karimi, Ahmad Milad 8 La Rochefoucauld, François (de) 130 Malebranche, Nicolas de 43 Maria (Maryam, Mutter von Jesus) 9, 12, 124‒126 Mason, Herbert 80 Massignon, Louis 7, 9, 14, 18, 27 f., 30 f., 34, 36, 40, 49 f., 53, passim
Namensregister Michael (Engel) 132 Moses (Mūsā) 30 Muhammad (Prophet) 18, 47 f., 51‒54, 58, 63, 68, passim Paulus 37 Petrus 142 Pharao 112 f. Platon/platonisch 31, 150 Plotin 105 Satan → Iblīs Spinoza, Baruch (de) 24, 91 f. Troll, Christian W. 8, 13
Schriftstellenregister Bibelstellen Mt 27,54 Röm 2,17 ff. Röm 3,31 Röm 7,7 ff. 2 Petr 1,4
127 37 37 37 142
Koranstellen 1 1:5 2:30 2:34 2:73 2:117 2:155 f. 2:258 2:262 2:272 3:33 3:42 3:45 3:45–47 3:54 f. 3:55 3:59 3:122 3:153 3:156 4:104 4:125 4:157 f. 5:67 f. 7:142 7:157 7:172
134 64 46 12 24 12 43 24 53 60 126 124 124 12 36 124 12 53 53 24 53 43 12, 124 60 35 24 109
9:117 10:7 10:56 13:81 15:23 17:1 17:85 18:30 19:16 f. 19:17 19:21 19:31 f. 19:34 21:83 23:13‒15 23:16 f. 24:35 26:89 28:38 28:64 28:78 30:50 33:72 40:68 41 41:11 41:39 42:18 43:57 43:59 43:61 44:8 50:19 50:43 53:6–9 53:13 ff. 53:35 54
24 53 24 24 24 69 53 76 126 124 124 126 124 128 43 43 10, 49 10 112 81 81 24 46, 48 24 43 32 24 34, 40 125 125 125 24 21 24 69 76 81 43
Schriftstellenregister
164 57:2 57:3 67:2 67:26 68:1 74:1 f. 78:38 f. 85:21 89:27
24 102 24 81 76 39 123 76 53
89:27‒30 91:1‒3 91:7 92:13 93 93:1 f. 94 94:2 f. 94:4
85, 90, 118 76 76 43 63 76 45‒48 55 83
Die Autoren Roger Arnaldez (1911–2006) war ein französischer Islamwissenschaftler. Nach dem Studium der Philosophie und Literatur, welches er mit der Promotion beendete, unterrichtete er am Lycée Mont-de-Marsan (1937– 1938) sowie an einem französischen Lycée in Kairo (1938–1939), dessen stellvertretender Leiter er nach Kriegsdienst und deutscher Kriegsgefangenschaft von 1945 bis 1946 war. Von 1948 bis 1950 war er französischer Kulturattaché in Kairo, danach Professor in Heliopolis (1950– 1955), anschließend Professor für arabische Literatur in Bordeaux (1955–1957) sowie Professor für arabische Philosophie und muslimische Zivilisation an der Fakultät für Literatur in Lyon (1957–1968) und später für arabische Philosophie und Islamwissenschaft an der Sorbonne in Paris (1969–1978). Er war außerdem Herausgeber der Werke des Philon von Alexandria. Im Jahre 1986 wurde er zum Mitglied der Académie des sciences morales et politiques und 1997 zu deren Präsident gewählt. Er war ebenso assoziiertes Mitglied der königlichen belgischen Akademie und korrespondierendes Mitglied der Akademie der arabischen Sprache in Kairo. Ahmad Milad Karimi, Dr. phil., geb. 1979 in Kabul, Studium der Philosophie, Mathematik und Islamwissenschaft in Darmstadt, Freiburg i. Br. und Neu-Delhi. Seit 2016 Professor für Kalām, islamische Philosophie und Mystik an der Universität Münster. Christian W. Troll SJ, Ph. D., geb. 1937 in Berlin, 1957–1961 Studium Philosophie und Theologie in Bonn und Tübingen, 1961–1963 Arabisch in Beirut. 1963 Mitglied des Jesuitenordens. Studienaufenthalte in Iran, Pakistan und Indien. 1976–1988 Professor für islamische Studien am Vidyajyoti Institute of Religious Studies in Neu-Delhi, 1988–1993 Senior Lecturer am Centre for the Study of Islam and Christian-Muslim Relations in Birmingham und 1993–1999 Professor für islamische Institutionen am Päpstlichen Orientalischen Institut. 1992–2001 Lehrtätigkeit an der Ilahiyat Fakültesi der Universität Ankara. Seit 2001 Honorarprofessor an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main.
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