Das Jesus-Fragment : Kaiserin Helena und die Suche nach dem Kreuz 3550071469

Aus dem Englischen von Ulrich Enderwitz und Monika Noll. Die Originalausgabe erschien 2000 unter dem Titel The Quest f

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Das Jesus-Fragment : Kaiserin Helena und die Suche nach dem Kreuz
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CARSTEN PETER THIEDE MATTHEW D’ANCONA

DAS

KAISERIN HELENA UND DIE SUCHE NACH DEM KREUZ

Ullstein

Das Jesus-Fragment

Carsten Peter Thiede und Matthew d'Ancona

Das Jesus-Fragment Kaiserin Helena und die Suche nach dem Kreuz

Aus dem Englischen von Ulrich Enderwitz und Monika Noll

Ullstein

Die Originalausgabe erschien 2000 unter dem Titel The Quest for the True Cross bei Weidenfeld & Nicholson, London. Die Übersetzung wurde von Carsten Peter Thiede durchgesehen. Die deutschsprachige Ausgabe weicht geringfügig von der englischen ab. © 2000 by Carsten PeterThiede und Matthew d'Ancona

Bildnachweis: Abbildung 1 Kuratorium des British Museum; Abbildungen 2,3,4, 6, 7,8, 9, 10,11,12,14 C. P. Thiede; Abbildung 5 Michael Hesemann; Abbildung 13 Römisches Museum Augst.

Der Ullstein Verlag ist ein Unternehmen der Econ Ullstein List Verlag GmbH & Co. KG ISBN j-550-07146-9 Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2000 by Econ Ullstein List Verlag GmbH & Co. KG, München Alle Rechte Vorbehalten. Printed in Germany Gesetztaus der Aldus und der Goudy Sans bei Franzis print & media GmbH, München Druck und Bindung: GGP Media, Pößneck

Meinen Patenkindern in Großbritannien, den Vereinigten Staaten, der Schweiz und Deutschland William Branton, Mark Schelbert, Laurent Schmidt-Rossel, Jennifer Thiede und Michael Zopffür ihre eigene große Suche in unserem global village. Carsten Peter Thiede

Meinen Eltern, dem Helden und der Heldin meines Lebens. Matthew d'Ancona

Inhalt

Vorwort zur deutschen Ausgabe 11

Einleitung 13 1 Der Baum des Lebens: eine kurze Geschichte des Kreuzes 19 Königin Helena und die Geburt des christlichen Europas 35

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Die Entdeckung des Wahren Kreuzes 59

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Wie ein Stück Walnussholz Geschichte machte S3

Juden und Römer in Jerusalem 133

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Das früheste christliche Symbol 161

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Die immer währende Suche 191

Anmerkungen 207 Danksagung 251

Register 253

Und er rief zu sich das Volk samt seinen Jüngern und sprach zu ihnen: Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach. Markus 8,34

Nicht jede zweifelsfrei echte Reliquie muss eine Fälschung sein. Hippolyte Delehaye

Vorwort zur deutschen Ausgabe In Piesport an der Mosel begann unter Kaiser Konstantin dem Großen der systematische Weinanbau. Eine Kelteranlage, in der man noch römische Traubenkerne fand, wurde dort 1985 ent­ deckt. Vor der Pfarrkirche steht heute, auf einem Stein erhöht, ei­ ne Gedenkstandarte, die an ein Ereignis erinnert, das einer alten Legende zufolge auf der anderen Moselseite stattfand, oberhalb von Neumagen: Dort, auf einem Plateau jenseits der Weinberge, das man Konstantinhöhe nennt, soll im Jahre 312 n. Chr. der in Trier residierende Augustus Konstantin seine Truppen versam­ melt haben, um auf Rom zu marschieren. Und hier, so will es die Ortslegende, erschien ihm im Schlaf eine Stimme, die ihn er­ mahnte, die Schilde seiner Soldaten mit dem himmlischen Zei­ chen zu markieren. Gemeint war das Christusmonogramm, die ineinander gehenden ersten beiden Buchstaben des griechischen Wortes Christus, X und P. Auf hunderten von Inschriften, Mün­ zen und Handschriften ist es überliefert. So vorbereitet zog er in die Schlacht und besiegte seinen Widersacher Maxentius an der Milvischen Brücke vor Rom. Ob Konstantin seine Vision tatsächlich bei Neumagen, dem rö­ mischen Noviomagus hatte, oder doch eher kurz vor Rom, wie die Forschung heute meint, gehört in den Bereich, mit dem sich auch dieses Buch immer wieder befasst: der Grauzone zwischen Legen­ de und historischer Wirklichkeit. Unbestritten ist, dass Konstan­ tin tatsächlich in Trier residierte - auch seine Empfangshalle, die heute zur evangelischen Kirche umgebaute Palastbasilika, steht immer noch -, und dass er von hier aus seinen Siegeszug antrat, der ihn zum ersten christlichen Kaiser des Römischen Reichs machte. Unbestritten ist auch, dass er sich und seine Truppen un­ ter das christliche Zeichen stellte. Die Anfänge dieses Zeichens, des Kreuzes, sind ein lange ver­ nachlässigtes Thema der abendländischen Geschichte, das hier zum ersten Mal seit langem und auf neuestem Kenntnisstand in deutscher Sprache dargestellt wird. Unsere Spurensuche führt uns auf den Wegen der Helena, Konstantins Mutter, die ebenfalls

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lange in Trier residierte, zurück zum historischen Kreuz des Jesus von Nazareth, seinen angeblichen oder wirklichen Resten und der einzigartigen Bedeutung, die es in Kunst und Literatur, in Politik und Religion, für das Werden Europas hatte. Sie führt uns schließlich vor allem zu einem Fragment der Inschrift über dem Kreuz, das bis heute erhalten geblieben ist. Die erstmals vollstän­ dige Rekonstruktion dieses dreisprachigen Holzstücks steht im Mittelpunkt des Buchs. Sollte sich die These der Echtheit durch­ setzen, hätten wir hier ein tatsächlich einzigartiges Objekt der Antike, das im Jahre 30 n. Chr. hergestellt wurde und dessen Be­ deutung weit über das Christentum hinausreicht. Erfreulich ist, dass wir mit dem Vorschlag, diese Inschrift, der Titulus, sei tatsächlich die echte, von Pilatus in Auftrag gegebene Tafel, nicht allein stehen. Seit der Veröffentlichung der englischen Ausgabe erhielten wir bereits Zustimmung aus der Fachwissenschaft, von Archäologen, Historikern und Textforschern wie Martin Biddle (Oxford), Step­ han Borgehammar (Uppsala) und Karl Jaros (Wien). Der deutsche Wissenschaftsjournalist Michael Hesemann (Düsseldorf) publi­ zierte nahezu zeitgleich den Bericht seiner eigenen Recherchen über die verschiedenen Objekte, die in der römischen Kirche San­ ta Croce in Gerusalemme aufbewahrt werden; Carsten Peter Thiede schrieb dazu das Vorwort. Der Meinungsaustausch mit Michael Hesemann, der sich über mehr als ein Jahr erstreckte, ist uns ein Beispiel gelungener Kollegialität. Nun hoffen wir, dass auch die geringfügig überarbeitete deutsche Ausgabe zu einer De­ batte führt, wie sie in den angelsächsischen Ländern bereits be­ gonnen hat. Daniel Johnson sprach in seiner Rezension der engli­ schen Ausgabe unseres Buchs im Daily Telegraph (29. April 2000) von den Experten, deren Skepsis sie für die Wahrheit blind mach­ te, die in der Tradition verkörpert ist. Er sah, dass sich dies zu än­ dern beginnt, und dass dieses Buch einen Beitrag dazu liefert. Auch wenn es um das Kreuz und die Inschrift des Pilatus geht, hat die Archäologie nichts an Faszination und Anschaulichkeit verlo­ ren.

Carsten Peter Thiede und Matthew d'Ancona

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Einleitung Horch! Ich will den schönsten Traum erzählen, Er kam mir als Gesicht, mitten in der Nacht, Da die übrigen Menschen schon zu Bett waren, Mir schien, als sähe ich den schönsten Baum, Er schwebte in der Luft, umstrahlt von Licht.

Das Traumgesicht vom Kreuz, 9. Jahrhundert

Dieses Buch handelt von einem Symbol, vielleicht dem mächtigs­ ten Symbol der gesamten Weltgeschichte. Es handelt ferner von dem heiligen Gegenstand, den das Symbol der Tradition zufolge darstellt, und es befasst sich mit der historischen Zeit, in der aus dem Gegenstand das Zeichen wurde. Es macht sich Gedanken dar­ über, durch welche Fäden Geschichte und Glaube miteinander verbunden sind und wie die Forschung dazu beitragen kann, diese Verbindungen sichtbar und begreifbar zu machen. Es untersucht eine Epoche des fundamentalen Wandels in der Geschichte des Abendlandes, eine Zeit, in der sich ein römischer Kaiser gemein­ sam mit seiner Mutter die liturgischen Gebräuche des Christen­ tums, seine Ursprünge in überlieferten Ereignissen, materiellen Objekten und sichtbaren Orten aneignete. Schließlich berichtet es von einer Reise - und von einer Entdeckung. Die Idee zu dem Buch kam uns in Jerusalem, wo so vielen Auto­ ren schon so viele Ideen gekommen sind. Zwei Jahre nach dem Erscheinen unseres ersten gemeinsamen Buches Der ]esus-Papyrus befanden wir uns in der Heiligen Stadt bei Dreharbeiten zu ei­ nem für das amerikanische Fernsehen bestimmten Dokumentar­ film über die darin vorgetragenen Ansichten, die bereits eine lebhafte internationale Diskussion ausgelöst hatten. Dieses Buch vertrat die kühne, ja nach Meinung einiger Kommentatoren toll­ kühne These, in den frühesten noch erhaltenen Papyri des Neuen Testaments gebe es schlagende Beweise dafür, dass die Evangelien von Zeitgenossen oder Fast-Zeitgenossen Jesu geschrieben wur­ den und dass sich zumindest zwei Fragmente (das eine von Mar-

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kus, das andere von Matthäus) mit hoch entwickelten forensi­ schen Untersuchungsmethoden auf den Beginn der sechziger Jah­ re nach Christi Geburt, vielleicht sogar noch früher, datieren las­ sen.1 Damals schrieben wir, der so genannte Tunnel zwischen dem Leben Jesu und dem Werk der Evangelisten sei sehr kurz gewesen und habe sich vielleicht nur über Jahre (und nicht Jahrzehnte) er­ streckt; deshalb sei die Behauptung, ihre Erinnerungen wären notwendigerweise fehlerhaft oder gefälscht, nicht zutreffend. Auf der Grundlage historischer Beweismittel (statt bloßer Hypothe­ sen) wagten wir die These, die ersten Leser der Evangelien hätten die Predigten, von denen in diesen alten Büchern berichtet wird, womöglich noch selber gehört. Zum Abschluss unseres Jesus-Pa­ pyrus schrieben wir, denkbar sei ein »neues Paradigma« in der Er­ forschung der frühen Kirchengeschichte, von dem aus man die Verlockungen der heutigen theologischen Orthodoxie in Frage stellen, einen unbefangenen Blick auf die frühe christliche Über­ lieferung werfen, eine Neubewertung der archäologischen und schriftlichen Quellen vornehmen und sie mit allen zur Verfügung stehenden forensischen und naturwissenschaftlichen Methoden untersuchen könne. Dieses Buch ist keine Fortsetzung des Jesus-Papyrus, auch wenn es sich ähnliche Ziele gesetzt hat. Damals in Jerusalem, an jenem brennend heißen Nachmittag, flüchteten wir uns in die Kühle der Grabeskirche und beobachteten dort eines der ehrwür­ digsten und geheimnisvollsten Rituale der christlichen Welt. Es war etwa halb sechs, und in einer Prozession zogen hinter den Franziskanern die armenischen Mönche vorbei, die sich gemein­ sam mit der griechisch-orthodoxen Gemeinde diese heilige Kir­ chenanlage teilen. Beide Orden sangen im Wettstreit miteinander ihre unterschiedlichen Gesänge, bis die Vorhalle der Kreuzfahrer­ kirche von einer sonderbaren, unvergesslichen Polyphonie wider­ hallte. Die Mönche schritten einige Stufen hinab in die Kapelle der heiligen Helena, der Mutter des Kaisers Konstantin, um dort die Messe zu zelebrieren. Diese märchenhaft ausgeschmückte Ka­ pelle war bereits bis zum letzten Platz gefüllt mit Pilgern aus aller Welt; sie standen in Erwartung eines Gottesdienstes, den schon unzählige Vorgänger unzählige Male gehört hatten. Als die Mu­ 14

sik durch die kühle Luft der Kreuzfahrerkirche wogte, hinaus in den Hofraum, wo sich die Touristen mit ihren Kameras drängel­ ten, wurde es einen Augenblick lang vollkommen still. Nach dem Schlusssegen wagten sich ein paar Gottesdienstbesu­ cher weiter ins Innere der Kirche vor, bis zu einer sehr viel älteren Krypta, die kaum sorgfältiger aus dem Fels gehauen war als eine alte Zisterne: ein Ort des schweigenden Gebets, fast ohne jeden Schmuck, mit nur ganz wenigen liturgischen Gegenständen und minimaler Dekoration. In der Stille des kleinen unterirdischen Raumes konnten wir uns kaum vorstellen, dass wir uns mitten in einer extrem gespaltenen und von Gewalt gezeichneten Stadt be­ fanden. Hier entdeckte der Überlieferung zufolge Kaiserin Helena das Holz des Wahren Kreuzes (oder besser, sie fand es wieder): das lignum crucis, die erhalten gebliebenen Stücke des Lebensbaumes, das Holz, das dem im heiligen Boden von Eden ausgesäten Samen entstammen soll. Und genau hier begann, als die Pilger die Stufen zum Tageslicht und zum Menschengewühl im arabischen Viertel Jerusalems emporstiegen, auch unsere große Suche. Was hat sich hier, so fragten wir uns, vor mehr als 1600 Jahren tatsächlich abge­ spielt? Gibt es irgendeinen glaubwürdigen Beleg für die Legende von Helenas Kreuzauffindung? Gibt es noch Überreste dessen, was sie dort entdeckt haben soll ? Und was mag den Urchristen das Kreuz bedeutet haben - das Kreuz nicht nur als kirchliches Sym­ bol, sondern als konkretes, anbetungswürdiges Objekt? Wie Helena sind auch wir weit gereist, um Antwort auf diese Fragen zu finden. Auf unserer Suche kamen wir durch ganz Euro­ pa. Wir reisten von Rom, wo am ehemaligen Standort des Palastes der Kaiserin heute die Kirche Santa Croce in Gerusalemme steht, bis nach Trier, wo sich ihre zweite Residenz befand; wir suchten al­ le Stätten im Heiligen Land auf, an denen sich frühe Belege dafür finden, dass das Kreuz als Symbol schon von den ersten Christen verehrt wurde. Nicht anders als jene Pilger des vierten Jahrhun­ derts, die vermeintliche Splitter des Wahren Kreuzes sammelten, mussten wir Realität und Schein voneinander scheiden und das Ganze zu begreifen suchen. Unser Ziel war, zu einer glaubhaften Geschichte des Kreuzes zu gelangen und die - erstaunlich fest verankerte - Meinung, derzufolge die ganze Helena-Legende per definitionem Unsinn sei, zu hinterfragen. 15

Edward Gibbon schrieb einmal, Helena habe offenbar »die Leichtgläubigkeit des Alters mit den leidenschaftlichen Gefühlen der frisch Bekehrten« verbunden.2 Wir möchten dagegenhalten, dass viele heutige Forscher, die über dieses Thema arbeiten, sich ebenfalls der Leichtgläubigkeit schuldig machen, wenn sie so eil­ fertig die antike Überlieferung als Unsinn abtun - als hätten Le­ genden nur das eine Ziel, die Wahrheit zu entstellen und zu ver­ bergen. Nach unserer Ansicht erfüllte die Überlieferung in den Gesellschaften der Antike eine sehr viel differenziertere Funktion, die wenig zu tun hat mit der Rolle, die der volkstümlichen Tradi­ tion in der heutigen Welt noch geblieben ist. Seit der Aufklärung hat man nicht bloß die Bedeutung der Evangelien als historisches Dokument erheblich unterschätzt; auch die Rekonstruktion der frühchristlichen Welt aus überlieferten Legenden und archäologi­ schem Material wurde erschwert durch eine übertriebene Skepsis, die an Unwissenschaftlichkeit grenzte. Richtig ist, dass manche christliche Schriftsteller nicht immer genau das gemeint haben, was sie sagten; aber das heißt nicht, dass alles, was sie gesagt haben, unwahr ist oder keinerlei reale Grundlage besitzt. Dieses Buch ist eine unverhohlen revisionistische Arbeit, ein radikaler Angriff auf die Hauptprämisse, von der die heute übli­ che Behandlung seines Themas ausgeht: dass nämlich das Kreuz erst seit Konstantin und Helena das bedeutsamste christliche Symbol geworden sei und dass die große Rolle, die es in unseren Gesellschaften spielt, sich fast ausschließlich jenem Kaiser ver­ danke. Unserer Meinung nach findet man die zentrale Stellung des Kreuzes im Leben der Kirche vielmehr von Beginn an, und die Christen in Palästina verehrten es viel früher, als man bislang ver­ mutet hat. Nach unserer Ansicht besaß dieser Kult eine ungeniert materielle Dimension, und die ersten Gläubigen versammelten sich selbst dann noch an der Kreuzigungsstätte, als dort schon ein heidnischer Tempel stand. Als Helena 326 nach Jerusalem kam, schloss sie an eine lokale Tradition an, während sie zugleich eine neue Tradition für das gesamte Kaiserreich begründete. Sie war nicht die erste Pilgerin, die das Wahre Kreuz auffinden wollte; sie war bloß die bedeutendste. Im Zentrum unserer Suche steht eines der ungewöhnlichsten Objekte der christlichen Kultur, das zugleich ungewöhnlich ver16

nachlässigt worden ist: der so genannte Titulus Crucis, der sich heute in der Reliquienkammer von Santa Croce in Gerusalemme befindet, das mutmaßliche Kopfbrett des Wahren Kreuzes mit ei­ nem Teil der Inschrift, unter der Jesus starb. Der eine oder andere Autor hat wohl beiläufig erwähnt, dass dieser erstaunliche Ge­ genstand niemals in einer streng wissenschaftlichen Studie un­ tersucht worden ist; aber seltsamerweise machte sich keiner der Autoren, die auf den Mangel hinwiesen, selbst an die Arbeit.3 Im vierten und fünften Kapitel unseres Buches liegt nun die erste umfassende wissenschaftliche Analyse des Titulus vor - und sie kommt, was die mögliche Herkunft dieses nahezu vergessenen Gegenstands angeht, zu frappierenden Schlüssen. Nach unserer Überzeugung verdient er ebenso viel Aufmerksamkeit und Dis­ kussion wie das Turiner Leichentuch. Seit zweitausend Jahren haben sich Männer und Frauen vom Kreuz faszinieren lassen und aus dessen offenbar unauslöschli­ chem Bild je eigene Schlüsse gezogen. In diesem Buch begeben wir uns auf die Suche nach den historischen Ursprüngen dieser Faszination.

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I. Der Baum des Lebens: eine kurze Geschichte des Kreuzes Sie nahmen aber Jesus und führten ihn hin. Und er trug sein Kreuz und ging hinaus zu der Stätte, die da heißt Schädelstätte, das ist auf Hebräisch Golgatha. Johannes 19,16-17

Das Kreuz allein ist unsere Theologie.

Martin Luther Mythenkunde ist nichts anderes als das Studium jener religiösen Legenden oder Heldensagen, die dem Forschenden so fremd sind, dass er nicht an ihre Wahrheit glauben kann.

Robert Ranke-Graves

In der abendländischen Kultur hat das Kreuz im wörtlichen wie im übertragenen Sinn den Stoff für Legenden abgegeben. Noch heute ist es weltweit das augenfälligste religiöse Symbol. Sein zentraler Stellenwert im Geistesleben weckt noch immer die Neugierde der Forscher. Sein Einfluss zeigt sich in der Baukunst ebenso wie in der künstlerischen Ikonographie, in kirchlicher Li­ turgie und religiösem Dekor, in den von Menschen getragenen Abzeichen und den Emblemen, mit denen sie ihre friedlichen Ab­ sichten zum Ausdruck bringen. Kein Symbol hat je eine solche geheime oder offene - Macht über das menschliche Denken und Fühlen besessen.1 Doch das Interesse an dem konkreten Gegenstand, den dieses Symbol repräsentieren soll, hat im Laufe der Jahrhunderte und insbesondere seit der Aufklärung spürbar nachgelassen. Martin Luther, der protestantische Reformator des sechzehnten Jahrhun­ derts, hat in der Nachfolge seines Lehrmeisters Paulus an der fun­ damentalen theologischen Bedeutung des Kreuzes festgehalten und ihm damit in der postreformatorischen Welt seinen Erfolg als religiöses Symbol gesichert. In seiner Heidelberger Disputation (1518) erläuterte er seine Deutung des Kreuzes. Luther zufolge

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lehrt uns das Kreuz, an die Hoffnung zu glauben, auch wenn es keine Hoffnung gibt. Die Weisheit des Kreuzes ist tief verborgen in einem undurchdringlichen Geheimnis. Und es führt kein ande­ rer Weg zum Himmel, als dass man das Kreuz Christi auf sich nimmt. Deshalb, so Luther, müssen wir darauf sehen, dass weder das tätige Leben mit seinen guten Werken noch das kontemplati­ ve Leben mit seinen Gedankenflügen uns vom rechten Weg ab­ bringt. Beide sind voller Verlockungen und verschaffen uns inne­ ren Frieden, aber gerade darum bergen sie wirkliche Gefahren, es sei denn sie werden durch das Kreuz gemäßigt. Das Kreuz ist der sicherste von allen Wegen. Und Luther betont: Gesegnet ist, wer diese Wahrheit versteht.2 Aber nicht minder einflussreich für die Herausbildung des mo­ dernen Denkens war Luthers unerbittliche Skepsis gegenüber heiligen Reliquien. So fraglos der große protestantische Reforma­ tor dem Kreuz eine zentrale Rolle zubilligte, so sehr verachtete er die Anbetung seiner vermeintlich authentischen Überreste; er verachtete sie fast ebenso stark wie die Leichtgläubigkeit derer, die damit Handel trieben und an ihre magische Macht glaubten. Lu­ thers Beitrag zur Geschichte des Wahren Kreuzes bestand darin, dass er die Forscher nach ihm veranlasste, Spekulationen über Herkunft und eventuelle Erhaltung solcher Artefakte als unseriös abzulehnen. De facto gab Luther damit eine reiche Legenden-, Sagen- und Forschungstradition dem Vergessen anheim. Seine Vorfahren hegten niemals Zweifel daran, dass die materiellen Überreste des Kreuzes - oder wenigstens Teile davon - die Kreuzigung Jesu überdauerten; und mit der ganzen obsessiven Energie, die das voraufklärerische Denken aufbringen konnte, haben sie deren Ursprünge und Schicksale aufgeschrieben. Zur Zeit Luthers waren fast vierhundert Jahre vergangen, in denen man nichts über den Verbleib des Wahren Kreuzes wusste. Nach Helenas umfangreichen Ausgrabungen befand sich der Hauptteil der Vera Crux in der Obhut des Bischofs von Jerusalem und wurde nur bei höchsten religiösen Zeremonien öffentlich zur Schau gestellt. Doch 614 drang der persische Heerführer Shahrbaraz im Auftrag des Königs Chosroes II. nach Palästina vor und zog am 5. Mai in die Heilige Stadt ein. Bei dem nun folgenden

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Blutbad sollen damaligen Berichten zufolge 60000 Menschen umgekommen und weitere 35 000 als Sklaven verkauft worden sein; das Heilige Grab wurde verwüstet und das Wahre Kreuz der christlichen Königin von Persien, Meryem, als Geschenk gesandt. Doch bereits im Jahre 627 schlug Kaiser Heraclius die Perser bei Ninive und brachte das Heilige Kreuz im Triumphzug nach Jeru­ salem zurück. Auch in den folgenden Jahrhunderten zog das Kreuz als mate­ rieller Gegenstand die Phantasie der Christenheit in seinen Bann. Adelsfamilien ebenso wie Ordenshäuser suchten echte oder ge­ fälschte Stückchen des Originals zu erwerben, um ihren Einfluss zu mehren. Schon 569 schuf Venantius Fortunatus anlässlich der Ankunft einer solchen Reliquie im Kloster von Poitiers seine berühmten Hymnen auf das Kreuz; beide, Vexilla regis prodeunt und Pange, lingua, gloriosi proelium certaminis, werden noch heute in abgewandelter Form gesungen. Auch die Entstehung der großen altenglischen Verserzählung Das Traumgesicht vom Kreuz hing mit einem solchen Ereignis zusammen: König Alfred erhielt 885 von Papst Marinus einen Splitter vom Wahren Kreuz. Nur wenige Werke der Weltliteratur geben so eindringlich wie­ der, mit welcher Macht ein einzelnes Bild das Fühlen und Denken eines ganzen Kontinents erobern kann. Der Autor dieser Verse spricht von einer durch und durch mystischen Erfahrung, aber was ihn am meisten daran erstaunt, ist die unverkennbar materi­ elle Realität seiner Vision, das Sinnliche an ihr:

»Mir schien, als sähe ich den schönsten Baum, Er schwebte in der Luft, umstrahlt von Licht, Der hellste aller Bäume. Das ganze Symbol war Mit Gold überzogen; prächtige Edelsteine Bedeckten den Erdboden, und fünf Gemmen waren Auf dem Querbalken.«3 Ebenso wie bei Cynewulf, dem Autor des großen, Kaiserin Helena gewidmeten angelsächsischen Gedichts Elene, gibt es auch hier keinen Beleg dafür, dass der anonyme Dichter sich auf eine Wall­ fahrt begeben hat, um das Wahre Kreuz zu sehen.4 Ohne Zweifel aber war das mystische Erleben beider Autoren aufs Engste ver­ 21

knüpft mit dem unerschütterlichen Glauben an die materielle Realität des Kreuzes - das, wie jeder Gebildete wusste, von Helena entdeckt worden war und in Jerusalem, der heiligsten aller Städte, aufbewahrt wurde. Im Jahre 1187 indessen ging es erneut verloren, diesmal end­ gültig. Bei den Kreuzfahrerkönigen war es üblich, das Kreuz mit in die Schlacht zu nehmen, als Ermutigung für das eigene Heer und als magische Waffe im Kampf gegen die Ungläubigen. Baldu­ in I. hatte es vor seinen Truppen hergetragen, als er das Heer des ägyptischen Wesirs bei Ramla besiegte, und von da an wurde es für die Kreuzfahrer so wichtig, wie es die Bundeslade für die Ju­ den gewesen war. In einer Geschichte der Kreuzzüge heißt es: »Für die Soldaten und ihre Heerführer war es das Allerheiligste, das bis zum bitteren Ende verteidigt werden musste, das entweder den Sieg bescherte oder Trost in der Niederlage spendete.«5 Eben deshalb wurde seine Eroberung zum Hauptziel des Sultans Saladin (1137/8-1193), der Jerusalem nach achtundachtzigjähri­ ger Besetzung durch die Franken zurückgewinnen konnte. Im Juli 1187 marschierte das fränkische Heer nach Hattin auf der Hoch­ ebene von Galiläa, um sich dort den Eindringlingen zu stellen; nach den Worten von Saladins Privatsekretär al-Imad sah es aus wie »ein wanderndes Gebirge, ein Meer wogender, schäumender Wel­ len«. Mitten in diesem ehernen Ozean befand sich der Bischof von Akko, der hoch erhoben über dem Kopf seines Pferdes das Wahre Kreuz trug. Im Morgengrauen des 4. Juli kam es zur Schlacht, nachdem al-Imad zufolge die Franken angegriffen hatten:

»Die glühend heiße Sonne versetzte sie noch mehr in Zorn; die Männer ritten einen Angriff nach dem andern - im wo­ genden Dunst der Luftspiegelungen und unter Durstqualen, bei feuerheißem Wind und mit angsterfüllten Herzen. In weitem Bogen ließen diese Hunde ihre Zungen heraushän­ gen und jaulten unter den Schlägen. Sie hofften zum Wasser zu kommen, aber vor ihnen lag die Hölle mit lodernden Flammen, und die unerträgliche Hitze übermannte sie.«6

Die Franken wurden geschlagen, sowohl vom Durst als auch von den eigenen inneren Zwistigkeiten, und Saladin blieb als Sieger

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auf dem Schlachtfeld. Unter den Toten war der Bischof von Akko, und das Kreuz war verschwunden. Wieder hatte die christ­ liche Welt ihre kostbarste Reliquie verloren.7 Später, in den neun­ ziger Jahren des zwölften Jahrhunderts, versuchte Richard Löwenherz sie zurückzuerlangen; auch die Königin von Georgien wollte sie für 200000 Dinare freikaufen. Aber das Kreuz war um keinen Preis wiederzubekommen. Um sein Schicksal rankten sich sagenhafte Geschichten; es hieß, die Templer hätten es irgendwo vergraben, vielleicht im Heiligen Land, vielleicht in Frankreich. Drei Jahrhunderte später behaupteten die Christen in Konstanti­ nopel - freilich ohne Erfolg -, das Holz sei in ihrem Besitz. Für die Christenheit stand fest: Das Kreuz, die Vera Crux, war auf dem Schlachtfeld bei Hattin für immer verloren gegangen. Dies aber tat dem faszinierten Interesse am Ursprung des Kreu­ zes und an seiner Geschichte nicht den geringsten Abbruch. Der berühmteste unter den Detektiven, die dieser Frage nachgingen, war Jacobus de Voragine, der religiöse Enzyklopäde des dreizehn­ ten Jahrhunderts, dessen Sammlung wundersamer Ereignisse und Heiligenleben, die Legenda aurea, zu den einflussreichsten und meistgelesenen Büchern der damaligen Zeit gehörte. Jacobus zu­ folge stammte das Holz, an dem später Jesus Christus gekreuzigt wurde, aus den Uranfängen der menschlichen Geschichte. Ein En­ gel gab Seth, dem Sohn Adams, einen Zweig des Baumes, unter dem sein Vater gesündigt hatte, und sagte, »sein Vater werde ge­ sund, wenn dieses Holz Frucht trägt«. Seth pflanzte den Zweig auf Adams Grab, wo er heranwuchs und noch zu Salomos Zeiten stand. Der große König bewunderte seine Schönheit so sehr, dass er ihn fällen und aus dem Holz eine Brücke über ein Gewässer bauen ließ. Seine heilige Bestimmung erkannte jedoch erst die Königin von Saba, die dem Bericht der Legenda aurea zufolge »im Geiste« sah, dass »der Heiland der Welt an diesem Holze hängen sollte«. Später, so berichtet Jacobus, tauchte das Holz wieder auf, um seine gewaltige Aufgabe in der Geschichte der Menschheit zu übernehmen. »Als die Zeit des Leidens Christi nahte«, schreibt er, soll das Holz, das Salomo später hatte vergraben lassen, an die Erdoberfläche gekommen sein. »Die Juden sahen das, nahmen das Holz und bereiteten daraus dem Herrn das Kreuz.« Es bestand aus vier verschiedenen Holzarten: der Palme, der Zeder, der Zypresse 23

und dem Ölbaum. Die Legende schließt mit der Wiederauffin­ dung des Kreuzes durch die Kaiserin Helena (siehe unten Kapitel 2 und 3), mit dem Augenblick, da die Geschichte, die von Adams Ungehorsam bis zur Erlösung der Menschen reicht, der Welt of­ fenbart wird und als ein Ganzes ihren konkreten Ausdruck in der Kontinuität des heiligen Holzes findet. Noch heute sagt man, Gol­ gatha - wörtlich »der Schädel« - repräsentiere den Schädel Adams, in dem der Same des Baumes des Ewigen Lebens keimte und Wurzeln schlug. Jacobus war ein religiöser Autor und eher Geschichtenerzähler als Historiker. Seine Berichte von den Schlachten des Kaisers Konstantin sind ein hoffnungsloser Wirrwarr, und er weiß nicht einmal genau, ob der römische Feldherr, über den er schreibt, der Kaiser selbst ist oder »Konstantins Vater, der gleichfalls Konstan­ tin hieß« (auch hier irrt Jacobus - der Vater hieß Constantius und trug den scherzhaften Beinamen Chlorus). Ferner erfindet er ei­ nen »Papst Eusebius« - vermutlich eine Verwechslung mit Euseb von Caesarea, dem Biografen des Kaisers. Wichtig für unseren Zusammenhang ist die Legenda aurea nicht, weil sie uns viel über die Geschichte des Wahren Kreuzes mitzuteilen hätte, sondern weil sie vermittelt, wie fasziniert Jacobus' Leser von der konkre­ ten Realität des Kreuzzeichens sind und wie sehr sie nach - wie immer unglaubhaften und künstlich fabrizierten - Geschichten über seine materielle Herkunft verlangen. Für sie war die Bedeu­ tung des Kreuzes als Kultbild unlöslich verquickt mit dem Arte­ fakt selbst. Woher dieses Holz kam und wohin es ging, diese Fra­ gen standen im Zentrum ihres Interesses und ihrer Wissbegierde. In diesem Kapitel soll gefragt werden, was eigentlich der Gegen­ stand ihrer Neugier war.

Die ersten Christen galten vielen Menschen der Antike als Wahn­ sinnige, weil sie dem offensichtlich irrwitzigen Glauben anhin­ gen, ein gekreuzigter Mann sei von göttlichem Rang. So schreibt Justinus, der Märtyrer, in seiner Apologie: »Sie behaupten, unser Wahnsinn bestehe darin, dass wir an die zweite Stelle nach dem unwandelbaren und ewigen Gott, dem Schöpfer der Welt, einen Gekreuzigten setzen.« Im ersten Brief an die Korinther sagt Pau­ lus, manchen sei »das Wort vom Kreuz« nichts als »eine Torheit«. 24

Diese Abneigung war mit Sicherheit auch einer der Gründe dafür, dass Sueton wie so viele seiner Zeitgenossen die christliche Lehre für einen »neuen und verderblichen Aberglauben« hielt.8 Das Paradoxon - als solches sahen es die damaligen Menschen kann man sich kaum drastisch genug vorstellen. Die Kreuzigung galt nicht bloß deshalb als grauenvoll, weil die Opfer barbarische Qualen erdulden mussten, sondern auch weil sie etwas über deren niederen sozialen und moralischen Status aussagte. In seiner Rede In Verrem beschreibt Cicero die Kreuzigung als summum supplicium, als »höchste Strafe«. Sie drohte Sklaven, Mördern, Verrätern und Ketzern, sie war eine furchtbare öffentliche De­ mütigung und eine langwierige Hinrichtungsmethode. Quintilian fordert in den Declamationes minores, Kreuzigungen müssten an den belebtesten Plätzen stattfinden, weil ihr Ab­ schreckungswert so hoch sei. Und Martin Hengel, der Tübinger Historiker des Neuen Testaments, schreibt:

»Ein gekreuzigter Messias, Gottessohn oder Gott musste je­ dem - ob Jude, Grieche oder Barbar -, der aufgefordert wur­ de, etwas derartiges zu glauben, wie ein Widerspruch in sich erscheinen, und sicherlich galt es als anstößig und töricht... Für Paulus und seine Zeitgenossen hatte das Kreuz Jesu nichts Didaktisches, Symbolisches oder Spekulatives an sich, sondern war etwas Konkretes und höchst Anstößiges, das die Mission der frühchristlichen Prediger sehr erschwerte.«9 Die frühchristlichen Schriftsteller verschaffen uns natürlich eini­ ge Kenntnisse über diese Form der Todesstrafe.10 Dass man zum Beispiel die Opfer ans Holz nagelte, wird im Brief des Paulus an die Kolosser erwähnt (2,14). Johannes spricht davon, dass man ih­ nen die Knochen brach, offenbar um ihre Qual zu beenden; als die Soldaten jedoch zu Jesus kamen, um ihm die Beine zu brechen, sa­ hen sie, »dass er schon gestorben war« (Joh 19, 33). In der Apos­ telgeschichte heißt es, man habe Jesus »an das Holz gehängt« (5, 30; 10,39). Sehr viel detaillierter schildert der jüdische Historiker Josephus, wie dieses Verfahren während des großen Judenauf­ stands an einer Gruppe von Flüchtlingen durchgeführt wurde:

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»Als (die Römer) sie gefangen zu nehmen drohten, mussten sie sich verteidigen, und nach diesem Kampf fanden sie es zu spät, um Gnade zu erbitten: Sie wurden also zunächst ausge­ peitscht und dann vor ihrem Tod mit allen möglichen Mit­ teln gefoltert und nahe der Stadtmauer gekreuzigt. Titus empfand Mitleid mit ihnen, aber da ihre Zahl - es sollen bis zu fünfhundert gewesen sein - so groß war, dass er es nicht wagte, sie entweder laufen zu lassen oder in Gewahrsam zu nehmen, erlaubte er seinen Soldaten, nach Gutdünken mit ihnen zu verfahren, zumal er hoffte, der grauenvolle Anblick der unzähligen Kreuze könnte die Belagerten zur Aufgabe bewegen. So trugen die Soldaten, außer sich vor Wut und Hass, die Gefangenen hinaus und nagelten sie zum Spott in verschiedenen Positionen an die Kreuze, und es waren so vie­ le, dass es nicht genug Platz für die Kreuze und nicht genug Kreuze für die Körper gab.«11

Aus derart grauenvollen Erinnerungen können wir mit ziemli­ cher Sicherheit erschließen, in welcher Weise Jesus und andere Gekreuzigte im Palästina des ersten Jahrhunderts hingerichtet wurden. Auch archäologische Funde haben unsere Kenntnisse von diesen Praktiken erweitert - nicht zuletzt die Entdeckung der Qumran-Schriftrollen, der so genannten Schriftrollen vom Toten Meer, im Jahre 1947. Erwähnt wird die Hinrichtungsmethode in einer der in Höhle 4 gefundenen Handschriften, während sich in der so genannten Tempelrolle aus Höhle 11 vom Ende des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts die folgende richterliche Anord­ nung findet: »Hat einer Geheimnisse seines Volkes verraten und sein Volk einer fremden Nation ausgeliefert und seinem Volk Schaden zugefügt, dann hängt ihn an den Baum, wo er sterben soll... Ihre Körper sollen nicht die Nacht hindurch am Baum blei­ ben; ihr müsst sie noch am selben Tag begraben, denn was da hängt, ist verflucht von Gott und den Menschen.«12

Die Praxis, die der Qumran-Autor hier meint, wurde wahrschein­ lich von den Persern bis zur Perfektion entwickelt und findet sich

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oft bei Herodot erwähnt. Es gibt jedoch einige Belege dafür, dass sie schon früher von anderen Völkern, von Indern, Assyrern, Skythen, Numidiern und Karthagern gepflegt wurde. Im Römi­ schen Reich sah die Hinrichtungsprozedur offenbar folgender­ maßen aus: Zuerst wurde das Opfer ausgepeitscht, dann musste der Unglückliche den Querbalken des Kreuzes zur Hinrichtungs­ stätte tragen, wo er mit ausgestreckten Armen ans Holz genagelt, hochgezogen und am senkrecht stehenden Pfahl befestigt wurde. Der römische Schriftsteller Seneca (ca. 4 n. Chr. bis 65 n. Chr.) schrieb, man suche nach immer entsetzlicheren Variationen: »Ich sehe Kreuze, die nicht nur auf eine einzige, sondern auf viele ver­ schiedene Arten funktionieren: manche lassen die Opfer mit dem Kopf nach unten hängen; andere durchbohren ihnen die Ge­ schlechtsteile; wieder andere strecken und überdehnen ihnen die Arme auf dem Querbalken.«13 In einigen Fällen wurde das Opfer am senkrechten Pfahl an ei­ nen Streckbalken gehängt, das patibulum. Es gab auch Balken, die wie ein Y aussahen, die furca. Und bisweilen nagelte man das Op­ fer an einen noch im Boden wurzelnden Baum; dieses Verfahren wendete man, Tertullian zufolge, unter Kaiser Tiberius gegen be­ stimmte Priester an. Das ganze Grauen der Kreuzigung wurde uns drastisch vor Au­ gen geführt, als man 1968 im Nordosten von Jerusalem, in Giv'at ha-Mivtar, einige Skelette ausgrub.14 In einem der Ossuarien (Knochensärge) fand man die sterblichen Überreste eines männli­ chen Erwachsenen im Alter zwischen 24 und 25 Jahren, etwas über ein Meter sechzig groß und in einer Aufschrift als »Yehohanan« gekennzeichnet. Der Unterschenkel war gebrochen und ein erhaltener Fersenknochen war mit einem eisernen Nagel durchbohrt worden; diesen hatte man zunächst durch ein kleines Stück Pistazien- oder Akazienholz, dann durch den Fersenkno­ chen des Unglücklichen und schließlich in einen senkrechten Pfahl aus Olivenholz getrieben. Das Skelett des Yehohanan lässt sich auf das erste nachchristliche Jahrhundert datieren, so dass die Kreuzigungspraxis, von der es zeugt, für unsere Fragestellung re­ levant wird. Mit allergrößter Wahrscheinlichkeit ist auch Jesus auf diese Weise gestorben. Im Zentrum unseres Buches steht eine neue wissenschaftliche

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Untersuchung des Titulus von Santa Croce sowie die Frage nach seinem Zusammenhang mit der Behauptung aller vier Evange­ lien, am Kreuz Jesu sei eine Aufschrift angebracht worden (Mt 27,37; Mk 15, 26; Lk 23,38; Joh 19,19). Als erstes müssen wir daher herausfinden, ob ein solcher Akt sadistisch-theatralischer Demütigung im Kontext der damaligen Hinrichtungsrituale, ih­ rer Funktion im Palästina des ersten Jahrhunderts, überhaupt plausibel ist.15 Dafür sprechen könnte allein schon die Tatsache, dass alle vier Evangelisten die Aufschrift erwähnen - während es so viele Ein­ zelheiten im Leben und Sterben Jesu gibt, bei denen sie nicht völ­ lig übereinstimmen. Bei Matthäus heißt es: »Und oben zu seinen Häupten setzten sie die Ursache seines Todes, und war geschrie­ ben: DIES IST JESUS, DER JUDEN KÖNIG.« Markus sagt: »Und es war oben über ihm geschrieben, wofür man ihm Schuld gab, näm­ lich: DER KÖNIG DER JUDEN.« Einige Handschriften des LukasEvangeliums präzisieren, die Inschrift »DIES IST DER JUDEN KÖ­ NIG« sei »mit griechischen und lateinischen und hebräischen Buchstaben (oben über ihm geschrieben)«. Die genaueste Dar­ stellung jedoch findet sich bei Johannes: »Pilatus aber schrieb eine Überschrift und setzte sie auf das Kreuz; und war geschrieben: JE­ SUS VON NAZARETH, DER JUDEN KÖNIG. Diese Überschrift la­ sen viele Juden; denn die Stätte war nahe bei der Stadt, da Jesus gekreuzigt ward. Und es war geschrieben in hebräischer, lateini­ scher und griechischer Sprache.« Diese einhellige Darstellung der Geschichte des Titulus durch die vier Evangelisten wurde allerdings lange Zeit gerade von je­ nen ins Feld geführt, die, wie der große Theologe Rudolf Bult­ mann (1884-1976), bezweifeln, dass die Evangelien als historische Berichte gewertet werden können. Bultmann übte scharfe Kritik an der Rede von einer Inschrift, denn der Bericht über sie sei »als sekundär erwiesen«.16 Ganz unklar ist jedoch, was ihn dazu ver­ anlasste, eine solche Behauptung aufzustellen. Man könnte in ihm das klassische Beispiel eines Bibelkritikers sehen, der Tatsa­ chenbeweise absichtlich übersieht, wenn sie seinem vehementen Zweifel am historischen Wahrheitsgehalt der Evangelien in die Quere kommen. In Wahrheit gibt es gute Gründe für die Annahme, dass solche

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Inschriften im römischen Strafrecht als Mittel der Abschreckung verbreitet waren. Cassius Dio zum Beispiel schildert die Bestra­ fung eines Sklaven im Jahr 23 v. Chr.; vor seiner Kreuzigung wur­ de er »quer über das Forum geführt und trug dabei eine Schriftta­ fel, auf der der Grund für seine Hinrichtung genannt war«.17 Aus dem vorhandenen Quellenmaterial geht hervor, dass diese Be­ kanntmachung in der Regel auf eine vermutlich mit Gips geweiß­ te Tafel gemalt oder auf Pergament geschrieben und dann am Holz befestigt wurde.18 Einen späteren Beleg für die Vorstellung, dass man damals mit bestimmten Zeichen und Inschriften den Grund für besonders harte Strafen angab, liefert Sueton. Bei einem offiziellen Essen in Rom, so der Historiker, schickte der geistesgestörte Kaiser Caligula »einen Sklaven, der von einem Liegesofa einen schmalen Sil­ berstreifen gestohlen hatte, zu seinen Scharfrichtern; sie sollten dem Mann die Hände abhacken, sie ihm dann um den Hals bin­ den, so dass sie auf seine Brust herabhingen, ihn an den Tischen vorbeiführen und auf einem Schild erklären, warum er in dieser Weise bestraft wurde«.19 Derselbe Historiker berichtet, dass Do­ mitian seinen Hunden einen Straftäter vorwarf, der um den Hals ein Schild mit den Worten trug: »Ein thrakischer Anhänger, der schlecht über seinen Kaiser geredet hat.« Mit anderen Worten, solche Schrifttafeln waren im Römischen Reich durchaus ge­ bräuchlich, und es gibt keinen triftigen Grund, von vornherein zu unterstellen, dass ein solches Schild zur Demütigung des gekreu­ zigten Jesus nicht eingesetzt worden sei. Wenn das Kreuz tatsäch­ lich nach seinem Tod aufbewahrt wurde, dann mit großer Wahr­ scheinlichkeit auch der Titulus.

Was geschah nach Jesu Kreuzigung mit dem Kreuz? Haben die ersten Jünger es gerettet oder wenigstens versucht, es zu retten? In diesem Buch behaupten wir, dass es bei den Urchristen nicht bloß als Symbol, sondern auch als kultisch verehrter Gegenstand fortlebte, selbst bei denen, die ihn nicht mit eigenen Augen sehen konnten. In den folgenden zwei Kapiteln geht es um seine Wie­ derauffindung durch Kaiserin Helena im Jahr 326; im Anschluss daran belegen wir anhand von neuem Quellenmaterial, dass das Kreuz und die Kryptogramme, in denen es dargestellt wurde, 29

schon bei den Urchristen weit verbreitete Symbole waren. Zunächst freilich gilt es zu prüfen, welche Belege wir bereits be­ sitzen. Man braucht nur nachzulesen, mit welch leidenschaftlichen Gefühlen Paulus über das Kreuz und seine zentrale Stellung im Leben der Christen schreibt, um zu erkennen, wie wichtig das Bild der Kreuzigung für die ersten Jünger Christi gewesen ist. »Da nun die Juden Zeichen fordern und die Griechen nach Weisheit fra­ gen«, schreibt er im ersten Brief an die Korinther, »predigen wir den gekreuzigten Christus, den Juden ein Ärgernis und den Grie­ chen eine Torheit; denen aber, die berufen sind, Juden und Grie­ chen, predigen wir Christus, göttliche Kraft und göttliche Weis­ heit.«20 Für Paulus war das Kreuz der Wesenskern der neuen Religion: »Es sei aber ferne von mir, mich zu rühmen als allein vor dem Kreuz unsres Herrn Jesu Christi, durch welchen mir die Welt gekreuzigt ist und ich der Welt.«21 Spätere Autoren folgten Pau­ lus in seiner Akzentsetzung, allerdings bisweilen in eher prosai­ scher Form. So schrieb Tertullian um 200 n. Chr., das Kreuz werde als Gegengift gegen Verletzungen verwendet, zum Beispiel gegen den Stich eines Skorpions: »Wir glauben an einen Schutz, sofern wir nicht zugleich von Misstrauen ergriffen sind, und schlagen sofort das (Kreuz-)Zeichen.«22 Dies sei keineswegs dasselbe wie die heidnische Anbetung hölzerner Götzenbilder: »Ein Kreuz ist rein stofflich ein Zeichen aus Holz; bei euch wird auch eine höl­ zerne Gestalt angebetet.«23 Heutzutage gilt Paulus allgemein als eigentlicher Begründer des Christentums. Aber das faszinierte Interesse, das er und - was noch wichtiger ist - seine weniger gebildeten Leser dem Kreuz entgegenbrachten, ist bislang nur von der theologischen Seite her untersucht worden. Immer wieder wird behauptet, es sei eine un­ widerlegliche Tatsache, dass das Kreuz erst nach Helenas Ausgra­ bungen sowie der politischen und religiösen Verwertung ihres Fundes durch ihren Sohn zu einem zentralen Symbol der christli­ chen Welt wurde. Jan Willem Drijvers, von dem die detaillierteste wissenschaftliche Monographie über die Kaiserin stammt, hält es für eindeutig erwiesen, dass »das Kreuz in den ersten drei Jahr­ hunderten des christlichen Zeitalters als Symbol nur geringe Be­ deutung hatte«.24 In einer gleichfalls neueren Konstantin-Biogra30

fie heißt es, das Kreuzzeichen sei »als christliches Emblem nahezu unbekannt gewesen«.25 Und ein Standardwerk über das Bild des Kreuzes in der Geschichte befindet, es gebe »bis in die Zeit nach Konstantin dem Großen keine bekannte bildliche Darstellung der Kreuzigung«.26 Dies ist schlicht und einfach nicht der Fall. Zutreffen mag, dass wir heute über keine künstlerisch ausgearbeitete Darstellung der Kreuzigung verfügen, die älter wäre als der im Lateranmuseum ausgestellte Marmorsarkophag von der Mitte des vierten Jahr­ hunderts, auf dessen fünf Bildfeldern die Passion Christi zu sehen ist.27 Aber es gibt glaubhafte Beweise dafür, dass das einfache, schmucklose Bild des Kreuzes lange vor Konstantins langer Regie­ rungszeit als zentrales christliches Symbol verwendet wurde. Da­ mals benutzte man zwei Zeichen: T und sß . Jahrhundertelang ist über Ursprung und Bedeutung dieser Symbole gestritten worden, und einige Forscher haben sogar behauptet, sie hätten überhaupt keinerlei religiösen Inhalt.28 Sie wurden auch in Verbindung ge­ bracht mit dem altägyptischen Lebenssymbol ankh, dem Henkel­ kreuz, einer Hieroglyphe, die häufig in der Hand des Osiris zu se­ hen ist und angeblich den Schlüssel zum Nil bedeutet. Die meisten Forscher indessen sind sich einig darin, dass das so genannte ChiRho ein Kryptogramm war, das für den ersten und zweiten Buch­ staben des Namens Christus stand: X (Chi) und P (Rho). Zugleich aber - und, wie wir sehen werden, besonders für Kaiser Konstantin - war es ein Symbol, das die konkrete Form des Kreuzes selbst meinte. Es vertrat also nicht nur den Namen Christi, sondern auch das Werkzeug, mit dem er getötet wurde und das, wie die Schriften des Paulus zeigen, für die ersten Christen von eminenter Bedeu­ tung war. Dieser ingeniöse Doppelsinn muss den Urchristen sehr zupass gekommen sein, denn unter dem Druck von Neros Verfol­ gung wurden sie zu Erfindern meisterlicher Kryptogramme, was ihnen half, die Ausübung ihrer Religion so weit wie möglich ge­ heim zu halten.29 Im Jahr 165 zitiert der römische Rechtsanwalt Minucius Felix einen Nichtchristen mit dem Satz, die Christen könnten einander an »geheimen Symbolen und Zeichen« erken­ nen (occultis se notis et insignibus noscunt).30 Unterschätzt wird in diesem Zusammenhang immer die Ent­ deckung des Papyrus Bodmer 14 (in der Bodmer-Sammlung Co3i

logny-Genf), einer Abschrift des Lukas-Evangeliums, die ver­ mutlich aus dem Jahr 225 und vielleicht sogar aus noch viel frühe­ rer Zeit stammt. In dieser Handschrift verwendet der Schreiber das -f- ganz unverkennbar an drei verschiedenen Stellen, woraus sich schließen lässt, dass es spätestens seit der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts im Mittelmeerraum gebräuchlich war.31 Seit beinahe vierzig Jahren verfügen wir über eine Ausgabe dieser Handschrift, aber wie es scheint, hat sie fast nichts an der ortho­ doxen Lehrmeinung über die Geschichte des Kreuzes ändern kön­ nen. Kaum weniger interessant sind die auf die Wand gemalten Symbole, die man unter der Peterskirche in Rom entdeckt hat. Diese komplizierten Kryptogramme hatten, nach Meinung ihrer größten Interpretin Margherita Guarducci, einen doppelten Zweck: Nicht nur sollten sie den Christen ermöglichen, ihre Ge­ fühle in Zeiten der Verfolgung frei zu äußern, sie sollten den Gläubigen auch selber Trost spenden.32 Nach diesen Vorgaben der so genannten disciplina arcani - erhielten manche Buchsta­ ben eine ganz spezielle Bedeutung. E zum Beispiel stand für Eden; N für Sieg; R für Auferstehung; S für Gesundheit und A für An­ fang oder Leben. So konnte ein einzelner Buchstabe in »ein herr­ liches Blatt der christlichen Spiritualität« verwandelt werden.33 Und es gab keinen größeren Schatz als das Symbol, das Namen und Kreuz Christi in eins darstellte, das Chi-Rho, das an der Mau­ er G der vatikanischen Nekropolis so häufig zu sehen ist. Die In­ schriften auf dieser Mauer lassen sich auf die Zeit zwischen 290 und 315 datieren - ein weiterer Hinweis darauf, dass das Symbol bereits allgemein in Gebrauch war, bevor Konstantin es hochoffi­ ziell als kaiserliches Feldzeichen übernahm.34 Es gibt also mehr Belege als allgemein angenommen, die dafür sprechen, dass das Kreuz, lange bevor Helena es als erhabenes Bild für die Macht des Kaiserreichs verwendete, ein bedeutendes christliches Symbol war. Im Folgenden werden wir die These ver­ treten, dass es damals keine bloß spirituelle Überlieferung gab, sondern dass von Beginn an die materielle Realität der Kreuzi­ gung Jesu - der Ort, wo sie stattgefunden hatte, und das Holz, das seine Mörder benutzt hatten - allerhöchsten Stellenwert besaß. Die Kaiserin und Konstantin profitierten von einer fest etablier32

ten Tradition, die, wie wir sehen werden, im Heiligen Land selbst besonders stark war, und nutzten sie für die Zwecke des Gesamt­ reiches. Sie haben keine neuen Fundamente gelegt; sie haben auf bereits vorhandenen aufgebaut. Und eben darin bestand, wie die beiden folgenden Kapitel zeigen werden, ihr eigentliches Ingeni­ um.

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2. Königin Helena und die Geburt des christlichen Europas Jesus hat alle, die mit mancherlei Leiden und Lasten beladen sind, gerufen, ihr Joch abzuwerfen und sein Joch auf sich zu nehmen, das sanft, und seine Last, die leicht ist. Sein Joch und seine Last ist das Kreuz. Unter diesem Kreuz zu gehen ist nicht Elend und Verzweiflung, sondern Erquickung und Ruhe für die Seelen, ist höchste Freude. Dietrich Bonhoeffer, Die Nachfolge und das Kreuz Es ist das Wesen des Kreuzes zu erschüttern.

Reinhold Schneider, Kreuz und Geschichte

In der von Michelangelo Simonetti entworfenen Sala a Croce Greca des Vatikanischen Museums steht ein mächtiger, mit impo­ santen Bildern von Schlachten und kaiserlichen Triumphen ver­ zierter Porphyrsarkophag. Die kriegerische Thematik der Reliefs weist nach allgemeiner Überzeugung darauf hin, dass der ein­ drucksvolle Sarg ursprünglich für Kaiser Konstantin selbst ge­ dacht war. Tatsächlich aber barg er die sterblichen Überreste seiner Mutter Helena, die dann in dem als »Tor Pignattara« be­ kannten Mausoleum an der Via Labicana vor der Aurelianischen Mauer beigesetzt wurden.1 Im zwölften Jahrhundert brachte man ihre Gebeine in die Kirche S. Maria in Aracoeli, während der Sarg für das Begräbnis des Papstes Anastasius IV. (1153-54) verwendet wurde. Heute zieht er kaum noch die Neugier der Touristen auf sich, die an ihm vorbeiströmen, um zur Sixtinischen Kapelle zu gelangen. Darin liegt eine Ungerechtigkeit, denn Kaiserin Helena - Flavia Iulia Helena Augusta - ist mit Sicherheit eine der erstaunlichsten Frauen, die je gelebt haben. Sie kam, wie wir sehen werden, aus bescheidenen Verhältnissen und gründete eine Kaiserdynastie; sie gab dem Christentum als Weltreligion eine neue Richtung, weil 35

sie in den zwanziger Jahren des vierten Jahrhunderts ein unge­ wöhnliches Abenteuer auf sich nahm; und sie schuf, im Bündnis mit ihrem Sohn, die Idee des europäischen Christentums. Sie war eine harte und unerbittliche Politikerin am Kaiserhof, förderte überaus großzügig Kunst und Architektur und unternahm noch im hohen Alter eine Pilgerreise auf den Spuren der Bibel, denen sie mit dem unbeugsamen Ehrgeiz einer Detektivin folgte. Ohne Übertreibung lässt sich sagen, dass die Idee eines christlichen Eu­ ropa, eines Kontinents, der (wie lose auch immer) durch einen Glauben zusammengehalten wird, nicht entstanden wäre, hätte es nicht diese streitlustige Frau mit ihrem dynastischen Genie gege­ ben. Die Helena der christlichen Legende ist ein frommes, keu­ sches, überirdisches Wesen. Die Helena der Geschichte war sehr viel robuster und fest entschlossen, das Reich, das ihr Sohn über­ nommen hatte, zusammenzuhalten und nichts zu dulden, was diesem Ziel im Wege stand.2 Die Rolle, die sie in der Geschichte des Wahren Kreuzes spielte, ist beachtlich genug; aber selbst wenn sie ihre gefahrvolle Wallfahrt nach Jerusalem nie angetreten hät­ te, bliebe sie eine Gestalt von welthistorischem Gewicht. Was uns unter anderem dazu ermutigt hat, unsere Gedanken in einem Buch darzulegen, war die Entdeckung, dass in neuerer Zeit, einmal abgesehen von Evelyn Waughs religiösem Roman Helena, kaum etwas über die Kaiserin geschrieben worden ist.3 Dieser Ro­ man erschien erstmals im Jahre 1950 und beginnt mit einer amü­ santen einleitenden Anekdote:

»Berichtet wird (und ich persönlich glaube es), dass vor eini­ gen Jahren eine Dame, die für ihre Gegnerschaft gegen die Kirche bekannt war, frohlockend von einem Palästinabesuch zurückkam. >Endlich habe ich die richtige Aufklärung beküm­ mern, erzählte sie ihren Freunden. >Die ganze Geschichte mit der Kreuzigung ist von einer Engländerin namens Ellen er­ funden worden. Ja, der Führer zeigte mir die Stätte, wo es pas­ siert ist. Selbst die Geistlichen geben es zu. Ihre Kapelle nen­ nen sie nach dieser Erfindung des Kreuzes Inventio Crucis.Bringt die drei Kreuze, die gefunden wurden, und Gott wird uns offenbaren, welches dasjenige war, an dem Christus hing.Heilige< ge­ nannt«, und wurde nach Coels Tod selber König. Ihr Sohn Kon­ stantin, so Henry weiter, trat seinerseits die Thronfolge von Con­ stantius an, als dieser in York starb. In der Historia regum Britanniae (1137-39) stellt Geoffrey von Monmouth noch eine weitere Variante dieser unglaubhaften Ge­ schichte vor. Nach seinen Worten erhob sich Coel, Herzog von Colchester, gegen einen gewissen König Asclepiodotus und be­ stieg dessen Thron. Seine Tochter Helena heiratete später Con­ stantius, der in Britannien Tributzahlungen einforderte. Ihr Sohn Konstantin brachte der Insel den Frieden und wurde dann von einer Gruppe römischer Adliger gebeten, das Unrecht zu süh­ nen, das der Tyrann Maxentius ihnen angetan hatte. Einen zen­ tralen Stellenwert in Geoffreys Bericht nahm die Behauptung ein, Konstantin sei ein Vorfahr von König Artus gewesen; damit schuf er eine genealogische Verbindung zwischen dem späten Rö­ mischen Reich und dem einstigen und künftigen König. Im Jahr 1295 war die Vorstellung, Konstantins Mutter sei Bri­ tin gewesen, in Europa bereits so verbreitet, dass sie Eingang in die Legenda aurea finden musste: »Andere behaupten..., sie sei die Tochter des britischen Königs Clohel gewesen.« Sie war seine einzige Tochter, und als Constantius nach Britannien kam, nahm er sie zur Frau. Daher fiel ihm nach dem Tode des Königs die Insel zu. »Das bezeugen auch die Briten, mag man auch in andern Quellen lesen, Helena stamme aus Trier.«9 41

Später, während des Hundertjährigen Krieges, fanden es die englischen Propagandisten angebracht, die Legende noch weiter auszuspinnen. In den dreißiger Jahren des fünfzehnten Jahrhun­ derts fügte John Lydgate seiner Übersetzung von Boccaccios De casibus illustrium virorum eine lange Hymne auf den britischen Konstantin hinzu und feierte ihn als »höchsten Monarchen, Fürs­ ten und Herrscher / Über die Welt, von Ost bis West«.10 Beim Konzil von Konstanz (1414-18) berief sich die englische Delega­ tion auf Konstantin als Präzedenzfall: Er habe das erste ökumeni­ sche Konzil einberufen und »als Erster den Christen gestattet, sich ungehindert in allgemeinen Konzilien zu versammeln, um gegen Kirchenspaltung und Ketzerlehren zu kämpfen«. Besonders reizvoll fand Heinrich VIII. die Idee, dass Konstan­ tins Mutter Britin gewesen sei; er verwertete sie bei der Ausein­ andersetzung mit dem Papst über seine Scheidung und trug das kaiserliche Diadem als Zeichen seines Widerstandes. Erst nach dem sechzehnten Jahrhundert verlor diese Legende ihre Bedeu­ tung, und Edward Gibbon hat nur noch Hohn und Spott für sie übrig. In diesem Punkt wenigstens ist Gibbons Spott wohl durchaus gerechtfertigt. Für die englischen Mythenerzähler war es ganz selbstverständlich, einen Zusammenhang zwischen späteren Dynastien und den kaiserlichen Genen zu suchen, aus denen Konstantin hervorgegangen war. Und die Briten waren keines­ wegs das einzige europäische Volk, das Helena für sich reklamier­ te. Orderic Vitalis zum Beispiel, der anglonormannische Chronist des zwölften Jahrhunderts, gibt die französische Tradition wieder, nach der Constantius Chlorus Helena in Neustria kennen lernte. Unstrittig ist, dass Konstantins Vater tatsächlich mit Britanni­ en verbunden war: Im Jahre 296 unterwarf er dort den Usurpator Allectus. Constantius Chlorus war ein ehrgeiziger Mann aus der Balkanprovinz; geboren wurde er im März 250 in Illyricum, dem heutigen Dalmatien. Sein unglaublicher sozialer Aufstieg wurde gekrönt von der Ernennung zum Präfekten der Prätorianergarde durch Maximian. Die Niederwerfung des Allectus war zwar wich­ tig, weil sie demonstrierte, dass er über militärisches Können ver­ fügte und seine Truppen auch weit von der Heimat entfernt loyal waren. Dennoch hielt Constantius sich offenbar nicht einmal ein 42

ganzes Jahr in Britannien auf, er stellte lediglich die Ordnung wieder her und konsolidierte nach der Unterdrückung des Auf­ stands die Währung des Landes. Als Maximian ihn zum Caesar von Gallien und Britannien ernannte, ließ er sich in Trier nieder. Erst sehr viel später, im Jahre 306, kehrte Constantius zum Schau­ platz seines Triumphes zurück. Eher zufällig also - und nicht aus patriotischer Neigung - kam Konstantin in jenem Jahr nach York (Eburacum), wo er an der Seite seines Vaters war, als dieser starb, und von dessen Truppen zum Augustus ausgerufen wurde. Dann reiste der junge Thronfolger, offenbar ohne Zeit zu verlieren, nach Gallien ab. So faszinierend der Gedanke ist, dass Helena aus der Adels­ schicht der Briten stammte, so spricht doch sehr viel mehr dafür, dass sie aus dem Vorderen Orient kam und von niedriger Geburt war.11 Als Geburtsorte wurden viele Städte genannt: Naissus, Caphar, Edessa, außerdem Trier und natürlich Colchester. Am wahrscheinlichsten ist jedoch, dass sie aus dem in Bithynien oder Kleinasien gelegenen Drepanum, dem heutigen Hersek, stammte und dort um 248 geboren wurde. Im sechsten Jahrhundert - zuge­ gebenermaßen keine besonders frühe Quelle - berichtet Proco­ pius, Konstantin habe Drepanum den Namen Helenopolis gege­ ben, weil seine Mutter dort geboren sei. Euseb (Bischof von Caesarea in Palästina ca. 313 bis 339) schreibt in seiner Vita Constantini, Konstantin sei gegen Ende seines Lebens in Helenopolis, der nach seiner Mutter benannten Stadt, krank geworden. Helenas soziale Herkunft lässt sich eindeutiger nachweisen. Bei Eutropius, der um die Mitte des vierten Jahrhunderts schrieb, heißt es, Konstantin stamme »ex obscuriore matrimonio«; Am­ brosius spricht in seiner Grabrede für Theodosius (395) von Helena als einer »stabularia«, das heißt wörtlich: einer Herbergs­ wirtin, die natürlich von geringer Geburt, vielleicht sogar eine Konkubine war. Für Ambrosius gehörte die bescheidene Herkunft ganz wesentlich zu Helenas Geschichte, zu ihrer von Gott einge­ gebenen Großtat ebenso wie zu ihrem Aufstieg durch das Wirken der göttlichen Gnade. »Christus«, so schreibt er drastisch, »hob sie aus dem Schmutz zur Macht empor.« In einem nur wenig spä­ ter entstandenen Text mit dem Titel Origo Constantini wird Helena als »vilissima« bezeichnet. Philostorgius schrieb um die

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Mitte des fünften Jahrhunderts, sie sei »eine Frau aus dem Volk, die sich nicht von einer Dirne unterschied«. Zwar mussten heidnische Autoren ein ureigenes Interesse dar­ an haben, die große christliche Stammmutter als einfache und da­ her moralisch suspekte Frau darzustellen, aber die Tatsache, dass die Quellen in diesem Punkt beinahe einhellig berichten, scheint doch auf einen realen Kern hinzuweisen. Konstantins Vater Constantius war ein ambitionierter Mann aus der Provinz, dessen Fa­ milie ihm nie gestattet hätte, eine stabularia wie Helena zu heira­ ten, mit der er sich aller Wahrscheinlichkeit nach einließ, als er dem Kaiser in den Balkanprovinzen diente. Sie wird zwar nicht als seine offizielle Ehefrau, aber in einer ähnlichen Funktion, viel­ leicht nur als die concubina des Heerführers, seine Mätresse, an­ erkannt worden sein. Konstantin wurde 272 oder 273 als Flavius Valerius Constantinus in Naissus, einer Garnisonsstadt an der Nisava geboren. Später freilich, im Jahre 289, wurde seine Mutter aus politischen Gründen beiseite gedrängt, und Constantius hei­ ratete Flavia Maximiana Theodora, die Stieftochter Maximians, die ihm sechs Kinder schenkte. So herzlos diese Verstoßung unzweifelhaft erscheinen musste, so wesentlich war sie für die Rolle, die Constantius in der neu gebildeten Tetrarchie spielen wollte. Nach dem März 293 wurde die Herrschaft über das Reich auf zwei Augusti und zwei Cäsaren aufgeteilt; Diokletians Cäsar war Galerius, während Constantius dieselbe Funktion für Maximinian ausübte. Das Reich war im Norden von den Germanen und im Osten von den Persern be­ droht; und die innenpolitischen Verhältnisse waren völlig ungesi­ chert. Entscheidend für den jungen Konstantin wurde, dass sein Vater tat, was ihm zweckdienlich erschien, um diese dynastisch spaltbare politische Ordnung zusammenzuhalten, auch wenn das kurzfristig die Demütigung seiner Mutter beinhaltete. Die un­ mittelbare Folge für ihn war, dass er am Hof von Nicomedia in Bithynien, der zweiten Hauptstadt des Reiches, leben konnte, wo er seine Erziehung unter der persönlichen Aufsicht von Diokleti­ an erhielt; später konnte er das Opfer, das seine Mutter gebracht hatte, mehr als wettmachen. Konstantins Lehrjahre bereiteten ihn auf das Kriegshandwerk vor - und nicht auf ein Leben als Philosophenkönig, das er später 44

anstrebte. Allerdings traf er am Kaiserhof auch zum ersten Mal mit dem christlichen Redner und Philosophen Laktanz zusam­ men. An Diokletians Seite kämpfte er in Ägypten gegen den Usurpator Domitius Domitianus und mit Galerius 297 und 298 gegen die Perser. Mit Diokletians Abdankung im Jahre 305 brach die erste Tetrarchie auseinander, aber Konstantin hatte nun offen­ bar schon ehrgeizigere Ziele als die Bewahrung dieser viergeteil­ ten Macht oder einer Variante derselben. Im März 307 wurde er zum Augustus ernannt; er gab sich als Nachkomme des Kaisers Claudius II. Gothicus (268-70) aus, legitimierte also seinen An­ spruch auf die absolute Macht nicht durch das System der Tetrar­ chie, sondern durch die Erbfolge. Sein erster Rivale im Kampf um die absolute Macht war Maxentius, den er 312 in der Schlacht an der Milvischen Brücke besiegte. Zwölf Jahre später schlug er, am 18. September 324, seinen aufrührerischen Mitkaiser Licinius bei Chrysopolis. So wurde Konstantin zum ersten Alleinherrscher des Reiches seit den Anfängen von Diokletians Regierungszeit (284-86). Sei­ ne Panegyriker feierten ihn als Rector Totius Orbis, als Weltbe­ herrscher und zweiten Alexander. In diesem Buch ist nicht Raum für eine erschöpfende Würdigung seiner Herrschaft und seines Charakters; uns interessiert hier nur, inwieweit die Ereignisse seiner Regierungszeit und seine persönlichen Ambitionen er­ klären helfen, was seine Mutter im Jahre 326 dazu bewog, nach Jerusalem zu reisen. Eine wichtige Rolle spielte, dass Konstantin in seiner Person die soldatische Skrupellosigkeit seines Vaters mit den Träumen eines Staatsgründers vereinte. Mit großem Ei­ fer ließ er Kirchen bauen und warb tatkräftiger als jeder andere Herrscher des Altertums für seine Religion. Er schuf die Stadt Konstantinopel, die zur Hauptstadt des Oströmischen und später des Byzantinischen Reiches wurde. Er baute einen gigantischen bürokratischen Apparat auf, gründete Städte und ließ für seine Herrschaftsgebiete eine neue Goldmünze - den solidus - prägen, die siebenhundert Jahre lang ihre Reinheit und ihr Gewicht be­ wahrte. Trotz seines schroffen und rauen Charakters, der seine Herkunft aus der Balkanregion bekundete, war Konstantin der erste europäische Idealist: Er entwarf eine eigene einheitliche Währung und hinterließ Europa mit dem Christentum jenes 45

Bindemittel, durch das es bis zur Aufklärung zusammengehalten wurde. Bei alledem scheint Helena eine zentrale Rolle gespielt zu ha­ ben, selbst wenn man die Spuren der hinter den Kulissen wirken­ den Politikerin bisweilen mühsam suchen muss. Nachdem Kon­ stantin im Jahre 306 in York zum Augustus ausgerufen worden war, übernahm er die Residenz seines Vaters in Trier, die zehn Jah­ re lang sein Hauptquartier und der Gegenpol zum Stützpunkt des Galerius in Thessaloniki blieb. Seine Mutter, die damals schon auf die sechzig zuging, wohnte offenbar zusammen mit ihrem Sohn im Trierer Gebäudekomplex der Familie, dessen Vorzeigestück die prachtvolle, 74 Meter lange und 32,5 Meter breite Basilika war. Deshalb war die Helena-Tradition (zu der auch die Legende gehörte, dass sie dem Dom das Gewand Jesu geschenkt habe) in Trier immer sehr lebendig. In einer Lebensbeschreibung der Kö­ nigin, verfasst im neunten Jahrhundert von Altmann von Hautvillers, behauptet der Autor sogar, sie sei in Trier geboren; aber das war eine unverkennbar eigennützige These, auf die nicht mehr Verlass war als auf den übereifrigen Versuch der britischen Chro­ nisten, ihr eine englische Abstammung anzudichten. Die interessanteste Hinterlassenschaft aus der Zeit, die Helena in Trier verbrachte, sind die Überreste der aus dem ersten Viertel des vierten Jahrhunderts stammenden Bauwerke, die man 1945/46 und 1965-68 unter dem Dom freilegte. Zu Tage kam bei diesen Grabungen ein Raum, der 316 erbaut, aber nach 330 abge­ rissen wurde. Der Fund lässt darauf schließen, dass die mittelal­ terliche Überlieferung einen wahren Kern enthält: Ihr zufolge hatte sich an dieser Stelle der Palast der Königin befunden, den sie dann dem Bischof Agritius von Trier als Geschenk überließ. Be­ kräftigt wurde die These durch die Entdeckung von Resten einer luxuriösen Deckenmalerei, die aus derselben Zeit stammt. Die fünfzehn Bildfelder, die akribisch rekonstruiert wurden und heute im Trierer Diözesanmuseum ausgestellt sind, zeigen menschliche Gestalten und tanzende Putti. Aus dem verschwenderischen Ge­ brauch des Purpurs schlossen einige Forscher, die dargestellten Personen seien Mitglieder der konstantinischen Dynastie: unter ihnen Helena, Konstantins Frau Fausta, seine Halbschwester Constantia und die Frau seines Sohnes Crispus; einer anderen 46

Deutung zufolge handelt es sich um allegorische Darstellungen der Jahreszeiten oder um Personifizierungen von Weisheit, Schönheit, Jugend und Gesundheit.12 Sollten die Bilder tatsächlich Mitglieder der Kaiserfamilie dar­ stellen, dann wäre es umso verwunderlicher, dass die Deckenma­ lerei offenbar schon wenige Jahre nach ihrer Fertigstellung wie­ der zerstört wurde. Die plausibelste Erklärung für diesen offenkundigen Akt des Vandalismus ist, dass die Fresken ein Op­ fer der tiefsten Krise wurden, die Konstantin während seiner Re­ gierungszeit erlebte - einer Krise innerhalb der eigenen Familie. Stellvertreter des Kaisers und Cäsars in Trier war sein Sohn Crispus, dessen Mutter Minervina zu den Konkubinen Konstantins gehörte. Damals schien es, als liege eine glänzende Zukunft als christlicher Kaiser vor ihm, und sein Erzieher Laktanz bereitete ihn auf diese Aufgabe vor; in den Jahren 318,321 und 324 hatte er auch das Amt eines Konsuls inne.13 Dann jedoch, im Jahre 326, ließ Konstantin ihn urplötzlich vor Gericht stellen und hinrichten - wahrscheinlich wegen ehebrecherischer Beziehungen zu seiner Frau Fausta. Nur wenig später wurde Fausta in ihrem Bad erstickt. Konstantin erließ ein Edikt (die so genannte damnatio memoriae), das verbot, die Namen der beiden Schuldigen je wieder zu erwähnen, und nicht zufällig kommt die ganze blutige Geschichte bei Euseb nirgendwo vor. Bedenkt man diese Ereignisse, so scheint es plausibel, dass die Fresken in Trier zerstört wurden, um Crispus und Fausta restlos aus dem historischen Gedächtnis zu streichen. Helena könnte bei der Zuspitzung dieser Krise eine zentrale Rolle gespielt haben, denn sie mochte ihren Enkel sehr und wollte ihn unzweifelhaft zum Nachfolger seines Vaters aufbauen. Glaubt man der im vierten Jahrhundert entstandenen Epitome des Aurelius Victor, dann war es der Zorn der Kaiserin, der Faustas Schicksal besiegelte: »Auf Veranlassung seiner Frau Fausta, so glaubt man, ließ Konstantin seinen Sohn Crispus töten. Als seine Mutter Helena, durch den Tod des Enkels in tiefe Trauer gestürzt, den Kaiser zur Rede stellte, tötete er auch seine Frau Fausta, in­ dem er sie in einem heißen Bad erstickte.« Eine spätere Fassung derselben Geschichte finden wir bei Zosimus, dem heidnischen Historiker des frühen sechsten Jahrhun­ derts: 47

»Als Konstantin die ungeteilte Macht zufiel, verbarg er sein schlimmes Wesen nicht länger, sondern tat einfach, was ihm gefiel... Sein Sohn Crispus, der, wie schon erwähnt, in den Rang eines Cäsars erhoben wurde, geriet in den Verdacht, er habe ein Verhältnis mit seiner Stiefmutter Fausta; Konstan­ tin vernichtete ihn ohne Rücksicht auf die Gesetze der Natur. Als seine Mutter Helena darüber entrüstet war und sich den Verlust des jungen Mannes sehr zu Herzen nahm, machte Konstantin, gleichsam um sie zu trösten, das eine Übel durch ein noch größeres wett; er ließ ein unerträglich heißes Bad anrichten, dann Fausta hineinführen und erst herausholen, als sie tot war.«14

Einiges spricht dafür, dass zwischen Helena und Fausta ein Kon­ kurrenzkampf entbrannt war. Die Mutter des Kaisers arbeitete im Interesse von Crispus, während Fausta dasselbe für den eigenen Sohn tat. Vielleicht hasste die Erstere Fausta auch deshalb, weil sie die Halbschwester von Theodora war, die sie, Helena, von Kon­ stantins Seite verdrängt hatte. Diesen Vorwurf, die Kaiserinwitwe trage persönliche Verantwortung für Faustas Tod, haben viele His­ toriker zurückgewiesen, und die beiden zitierten Quellen sind al­ les andere als überzeugend. Gleichwohl ist schon die Tatsache, dass die Geschichte als glaubhaft galt, aufschlussreich genug. Helena war und blieb ein gewaltiger Machtfaktor an Konstantins Hof. Wie man weiß, besaß Helena auch in Rom ein ausgedehntes Anwesen, den so genannten Fundus Laurentus, sowie einen prachtvollen Wohnsitz, den Sessorianischen Palast. An seinem einstigen Standort steht heute die Kirche Santa Croce in Gerusalemme, in der der Titulus untergebracht ist; es wird sogar behaup­ tet, die bescheidene Kapelle, die unterhalb der von Mussolini er­ bauten Reliquienkammer liegt, sei damals das Privatgemach der Kaiserin gewesen.15 Gleichgültig, ob diese spezielle Zuordnung korrekt ist oder nicht, in jedem Fall kann man in der Kirche (die ursprünglich einfach Basilica Heleniana genannt wurde) und in ihren Grundmauern aus dem vierten Jahrhundert allenthalben historische Belege finden. An dieser Stelle stand vermutlich vom Ende des zweiten Jahrhunderts an eine römische Villa, aber Helena ließ zusätzlich einen Circus, ein Amphitheater und öffent48

liehe Bäder errichten, um ihren Palast in ein politisches und sozia­ les Zentrum des römischen Südostens zu verwandeln. Eine In­ schrift in der Nähe der Kirche weist auf die Instandsetzung der Bäder - der Thermae Helenae - nach einer Brandkatastrophe hin, und von den übrigen sieben Inschriften, in denen Helena erwähnt wird, sind noch zwei in dem betreffenden Stadtteil gefunden wor­ den. Ganz offensichtlich hat Konstantin diesen Teil Roms gern als mütterliche Domäne betrachtet. Vielleicht hat er sogar beim Bau der Peterskirche an seine Mutter gedacht: Im Liber Pontificalis heißt es, ein mächtiges goldenes Kreuz auf dem Grab des heiligen Petrus habe damals in schwarzen Emailbuchstaben den Namen Helena Augusta getragen. Um kund zu tun, wie wichtig sie für ihn in persönlicher und für das Reich in institutioneller Hinsicht war, ehrte der Kaiser seine Mutter gegen Ende des Jahres 324 mit dem Titel der Augusta. Natürlich gab es viele Präzedenzfälle; als Letzte hatte Galeria Va­ leria, die Ehefrau des Galerius, den Titel erhalten. Im Fall der Helena hatte die Beförderung jedoch eine sofortige und politisch bedeutsame Auswirkung. Die Zahl der Münzen mit ihrem Porträt und der Inschriften mit ihrem Namen nahm beträchtlich zu, und in einigen Fällen wurde ausdrücklich ein Zusammenhang mit Konstantins Sieg über Licinius bei Chrysopolis hergestellt.16 Helena war also weit mehr als eine besonders geehrte Herrscher­ witwe; sie war jemand, der im konstantinischen Reich mitregier­ te, und auf dessen Münzen erschien sie als Inkarnation der securitas rei publicae, des Wohls und der Sicherheit der Republik. In den Inschriften nannte man sie procreatrix, mater oder genetrix - die stabularia von niedriger Geburt war also zur Begründerin einer Kaiserdynastie geworden. Natürlich war das auch für Konstantin selbst vorteilhaft, denn mit Hilfe solcher dynastischen Ansprüche konnte er die eigenen Rechte sichern und die der anderen, von Theodora geborenen Kinder seines Vaters sowie ihrer Nachkom­ men beschneiden. Aber es ist kaum anzunehmen, dass in der Würdigung, die der Kaiser seiner Mutter zuteil werden ließ, ja in dem von ihm höchstpersönlich etablierten Helenakult nicht noch erheblich mehr zum Ausdruck kam: nämlich der machtvolle Ein­ fluss auf die Geschäfte des Gesamtreiches, den sich die nunmehr über siebzigjährige Kaiserwitwe verschafft hatte.17 49

Im letzten Teil dieses Kapitels wollen wir jenes Christentum be­ trachten, dem Konstantin und seine Mutter - beide, wenn auch auf je eigene Weise, mit dem Eifer des Konvertiten - anhingen. Die Christianisierung des von ihnen regierten Reiches haben sie zwar nicht, wie oft behauptet wird, zu Ende gebracht; aber bei der Suche nach dem, was daran fehlte (und was sich leicht finden lässt), verliert man den Blick dafür, dass sie in der Geschichte des Abendlandes ein außerordentliches Geschehen darstellt. Thema dieses Buches ist das Kreuz, und im Zeichen des Kreu­ zes hat Konstantin - so jedenfalls berichten seine Biografen - sich dem neuen Glauben angeschlossen. Nicht lange vor seinem Sieg über Maxentius in der Schlacht an der Milvischen Brücke - viel­ leicht sogar erst in der Nacht davor - hatte der Kaiser eine Vision, in der er die Weisung erhielt, die Schilde seiner Soldaten mit dem Kreuzzeichen bemalen zu lassen. So jedenfalls erzählt es Laktanz (ca. 240 bis ca. 320), der Lehrer von Konstantins ältestem Sohn Crispus, in seiner Abhandlung Über die Todesarten der Verfolger, die vermutlich 314 erschien: »Konstantin wurde in einem Traum befohlen, die Schilde der Soldaten mit dem himmlischen Zeichen Gottes zu markieren und dann die Schlacht zu schlagen. Er tat, wie geheißen, und mittels eines schräg gestellten X (transversa X littera), bei dem die Spitze des Kopfes kreisförmig umgebogen war, brachte er das Zeichen Christi auf ihren Schilden an. Bewehrt mit diesem Zeichen, griff das Heer zu den Waffen.«18 Nach Darstellung des Bischofs Euseb von Caesarea (in seiner späteren Vita Constantini) erblickten Konstantin und »sein ganzes Heer« eines Nachmittags am Himmel ein Kreuzzeichen aus Licht und die Worte »Hierdurch siege« (en touto nika); dann erschien Christus dem Kaiser im Traum und befahl ihm, für seine Truppen Standarten in der Form des heiligen Symbols anfertigen zu lassen und »mit seinem Bild gegen den Feind zu kämpfen«. Der Bericht des Euseb gilt gemeinhin als wenig glaubwürdig; allerdings haben einige Forscher den Versuch unternommen, die Lichterscheinung, die der Kaiser und sein Heer sahen, als eine Sonneneruption zu erklären.19 Wie immer es um das genaue Wann und Wie dieses vermeintlich göttlichen Eingreifens bestellt sein mag, jedenfalls reagierte Konstantin darauf, indem er die heidnischen Feldzeichen gegen ein neues, christliches Zeichen 50

austauschte, das bald allgemein labarum genannt wurde. Den An­ stoß zu Konstantins Interpretation gab unzweifelhaft der Bischof Ossius von Cordoba (ca. 257 bis ca. 357), der von 312 bis 326 am Kaiserhof als oberster kirchlicher Berater tätig war; sein Einfluss muss eine entscheidende Rolle bei Konstantins Beschluss gespielt haben, sich dem Glauben an den Gekreuzigten anzuschließen. Was auch immer von Eusebs Bericht zu halten ist - er hat uns die beste Beschreibung des neuen Symbols hinterlassen. Wie der kai­ serliche Biograf berichtet, bestand die Standarte aus einem langen goldüberzogenen Lanzenschaft und einer am oberen Teil sitzen­ den Querstange, die ihm die Form des Kreuzes verlieh; an seiner Spitze war ein Kranz aus Gold und kostbaren Edelsteinen befe­ stigt, der das Christusmonogramm Chi-Rho (die beiden Anfangs­ buchstaben des griechischen Namens Christos, X und P) um­ schloss. Auch die Schilde seiner Soldaten versah der Kaiser mit dem Chi-Rho, das nun die traditionellen Sinnbilder des Krieges wie Blitze, Tiere und Darstellungen des Kriegsgottes Mars ablös­ te.20 Als er nach seinem Sieg über Maxentius in Rom einzog, wur­ de die riesige neue Basilika, die sein Rivale errichtet hatte, auf sei­ nen Namen umgewidmet und im Hauptschiff ein großes Standbild des Siegers aufgestellt - in den Händen hielt er das christliche labarum. Was dieses geniale Symbol, das sowohl den Namen Christi als auch das Werkzeug repräsentierte, mit dem man ihn umgebracht hatte, unter anderem so attraktiv machte, war seine Ähnlichkeit mit dem römischen Siegeszeichen oder tropaeum, das erstmals Ende des dritten vorchristlichen Jahrhunderts auf römischen Münzen aufgetaucht war. Den frühchristlichen Autoren war die­ se Ähnlichkeit - fraglos weil sie ihren potenziellen Nutzen er­ kannten - bereits aufgefallen. Schon Justinus der Märtyrer zeigte in seiner Beweisführung, dass das Kreuz nichts Verwerfliches sei, sondern das Zentrum des tropaeum bilde, das bei allen Umzügen als Zeichen römischer Allmacht umhergetragen wurde. Bei Tertullian hieß es, Jesus triumphiere »per tropaeum crucis«, und Euseb griff das Bild auf und nannte Konstantins himmlisches Zei­ chen »das Siegeszeichen, die Trophäe des Lichtkreuzes«. Diesem Geistlichen und Biografen ist es zu danken, dass aus dem christli­ chen Erinnerungssymbol das höchste Reichsabzeichen wurde 5i

offiziell schließlich unter Theodosius II. (408-50).21 Was Euseb erkannt hatte, war die außerordentliche Vielseitigkeit dieses Symbols, das Anspielungsgeflecht, von dem jeder, der es sich zu Eigen machte, profitieren konnte. Auf dem Schlachtfeld fungierte es als Talisman, und in der Kapelle stand es im Mittelpunkt der Kontemplation. Und weil Kaiser Konstantin es verwendete, konn­ te er sich als dreizehnter Apostel darstellen.22 Als der Kaiser seine Entscheidungsschlacht gegen Maxentius schlug, gab er sein Heer also unmissverständlich in die Hand des Christengottes, und der Sieg seiner Truppen lieferte den unwider­ leglichen Beweis, dass er als Kaiser eine Rolle beim Offenbarwer­ den der göttlichen Vorsehung zu spielen hatte. Da der Gott der christlichen Verkündigung ihm in der Stunde der Not beigestan­ den hatte, erwies er sich für Konstantin als ein mächtigerer Bun­ desgenosse als seine zahlreichen Konkurrenten, die auf dem Markt der Religionen zu Beginn des vierten Jahrhunderts mit ihm wetteiferten. Die Übernahme des Monotheismus war nicht das eigentlich Erstaunliche. Euseb behauptet, schon Constantius Chlorus habe sich ein wenig mit solchen Religionen beschäftigt. Und Konstantin selbst hatte sich in seiner Jugend gern einen Schützling des Apoll genannt, der ihm gleichfalls in einer Traum­ vision erschienen war-auf seinem Weg vom Rhein in den Süden, wo er Maximian in Marseille besiegte. Apoll erschien ihm, so hieß es, in Begleitung der Siegesgöttin, schenkte ihm Lorbeerkränze und verhieß ihm eine lange und erfolgreiche Regierungszeit. An­ geblich war dies die Erfüllung der »göttlichen Gesänge der Dich­ ter«, womit man Vergils prophetische Ankündigung eines gött­ lich inspirierten Weltherrschers meinte. Im Jahr 311 erhob Konstantin die Sonne zu seinem Schutzgott und ließ diesen auf Münzen als seinen unbesiegbaren Bundesge­ nossen, als Sol Invictus, darstellen. Das kosmische Bündnis zwi­ schen dem Kaiser und dem Sonnengott findet sich noch lange nach der Schlacht an der Milvischen Brücke auf konstantinischen Münzen, während die klassischen heidnischen Götter schon 317 weitgehend verschwunden waren. Man hat die These vertreten, der Sonnenglaube sei für die römische Aristokratie eine attraktive Zwischenstation auf dem Weg vom Heidentum zum Christentum gewesen; richtig ist, dass Jesus oft als Sol fustitiae bezeichnet oder

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von Bildhauern in einer dem Gott Sol sehr ähnlichen Gestalt dar­ gestellt wurde. Derlei theologische Promiskuität galt nicht als Zeichen des Wankelmuts, sondern der Klugheit - als Beweis für die Suche des Herrschers nach demjenigen Gott, der seinem Volk Wohlstand daheim und Triumphe im Krieg bescheren würde.23 Der Kaiser er­ klärte sich nun nicht mehr selbst zum Gott, sondern handelte im Dienst einer Vorsehung, ließ sich von ihr leiten und stand unter dem Schutz ihres göttlichen Wirkens. Es gab, wie es in einer der historischen Studien zu Konstantins Regierungszeit heißt, »Ge­ dankenbrücken zwischen Heidentum und Christentum, über die Männer wie Konstantin vom einen zum anderen wechseln konn­ ten, ohne dass es eines Wunders oder magischen Eingriffs von oben bedurfte«.24 Für einen kriegerischen und opportunistischen Illyrer bedeutete der Übergang von der Anbetung des Sol zur An­ betung des christlichen Gottes keinen großen Sprung. Und noch einfacher fiel ihm der Sprung, wenn die Vorsehung allem An­ schein nach zu seinen Gunsten eingriff. Die Schlacht an der Milvischen Brücke nannten Konstantins Propagandisten einen Sieg des Neuen über das Alte: Überwindung der Scharlatanerie durch die Reinheit, des besudelten Heidentums durch das widerständige imperiale Christentum.25 Der Kaiser hatte sich also mit einer Religion verbündet, deren zentrales Symbol ein gut erkennbarer und sichtlich mächtiger Ta­ lisman war, welcher ihm fast umgehend einen Sieg in der Schlacht beschert hatte. Ebenso wie seine Mutter mag er auch fasziniert gewesen sein von der organisierenden Kraft des Christentums, von seiner womöglich reichsweit wirksamen Attraktivität und der offenkundigen Fähigkeit seiner Anhänger, soziale Einheiten zu bilden. Zumindest hat er wohl erkannt, dass die christliche Re­ ligion seine kaiserliche Autorität würde stärken können, während seine unmittelbaren Vorgänger sie nur als Bedrohung wahrge­ nommen hatten. Dennoch bleibt Konstantins Entschluss, Christ zu werden, eine ungewöhnliche Entscheidung, die sich in letzter Instanz der eindeutigen Analyse widersetzt. Auf einer bestimm­ ten, wie immer unreflektierten Ebene handelte es sich offenbar um eine echte Bekehrung und nicht bloß um den Schachzug eines klugen Politikers, der genau abzuschätzen sucht, welchen politi53

sehen Vorteil es ihm bringt, wenn er sich zu diesem oder jenem Glauben bekennt. Wie jeder Beobachter der heutigen Politik be­ zeugen kann, gehen Aufrichtigkeit und Skrupellosigkeit häufig Hand in Hand. Der Glaube, dem er sich zuwandte, machte damals gerade eine Periode der heftigsten Spaltungen durch und drohte zwischen der Abfallbewegung der Donatisten in Afrika und der offenen Häre­ sie in Alexandria zerrissen zu werden. Dort lehrte der Presbyter Arius, Christus sei weder ewig wie Gott noch ihm gleichzustellen (wegen dieser theologischen Position wurde er 318 oder 319 von der dortigen Synode und 325 vom Konzil zu Nizäa verurteilt).26 Vor allem aber war die Kirche noch unlängst von den Tetrarchen Diokletian und Galerius verfolgt worden, weil beide ihre ein­ drucksvolle Zellenstruktur und den mächtigen Zusammenhalt der christlichen Gemeinden unverkennbar als Bedrohung für die Einheit des Reiches und den genius populi Romani ansahen. In bestimmtem Sinne war das Frühchristentum trotz aller in­ neren Spaltungen neben der Armee die einzige organisierte Kraft im Römischen Reich. Deshalb war es, zumindest in der Vorstel­ lung, bedrohlich; und, wichtiger noch, die Kirche war in Zeiten politischer Instabilität ein bequemes Feindbild und ein nützlicher Sündenbock. Denkbar ist auch, dass Konstantin und Maxentius bereits eine gewisse Sympathie gegenüber dem Christentum be­ kundet hatten und Galerius und Diokletian mit der neuen Attacke gegen diese Religion nicht zuletzt die beiden Kronprinzen in Be­ drängnis bringen wollten.27 Im Februar 303 ließ Diokletian die christliche Kirche in Nicomedia niederreißen, und am folgenden Tag befahl er den Christen in einem Edikt, ihre heiligen Texte und ihre Kirchen zu übergeben; die Ersteren sollten verbrannt, die Letzteren zerstört werden. In weiteren Edikten wurde unter ande­ rem bestimmt, dass alle Christen, die nicht opferten, mit dem To­ de rechnen müssten. Erst im April 311 erließ Galerius auf dem Sterbebett ein Toleranzedikt, mit dem er den Verfolgungen, die er selbst zuvor betrieben hatte, ein Ende setzte - ein Widerruf, den Euseb als »sichtbares Zeichen der göttlichen Vorsehung« bezeich­ nete. Konstantin aber wird nicht entgangen sein, dass die Verfol­ gungen im Grunde ein Fiasko waren, dass sie hier mehr und dort weniger durchgesetzt wurden und nicht im Geringsten dazu

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beitrugen, dem Reich eine einheitliche Religion zu oktroyieren. Sicherlich kam ihm damals die Idee, dass man eine religiöse Bewe­ gung, die man nicht zerstören kann, für die eigenen Zwecke einspannen muss. Edward Gibbon zufolge bedarf es größter Akribie, wenn man die fast unmerklichen Schritte nachzeichnen will, mit denen der Monarch sich zum Schutzherrn und schließlich zum neuen An­ hänger der Kirche machte.28 Nach wie vor hatte er das Amt des heidnischen Pontifex Maximus inne. Nur ganz allmählich wur­ den seine Münzen christlich, und der 315 ihm zu Ehren errichtete Triumphbogen enthielt keinerlei christliche Symbole. In Sachen Religion setzte Konstantin ganz offensichtlich auf eine langsame Entwicklung. Aber so behutsam er den Übergang vollzog, so si­ cher ist, dass er sich am Ende tatsächlich zum Christentum be­ kehrte. Im Jahr 313 erließ er gemeinsam mit seinem Mitkaiser Licinius das so genannte Edikt von Mailand, das auf dem Tole­ ranzedikt des Galerius aufbaute und den Christen ausdrückliche Vorrechte gewährte. In seiner Regierungszeit musste jegliches konfiszierte christliche Eigentum zurückerstattet werden, kirchli­ cher Grundbesitz wurde von der Steuer befreit, Geistliche wurden von öffentlichen Dienstleistungen im Gemeinwesen freigestellt, und die kaiserlichen Beamten in den Provinzen wurden angewie­ sen, den Bau von Kirchen zu organisieren. Konstantin selbst bewies ein erstaunlich detailliertes Interesse an der Ernennung von Bischöfen, von denen es achtzehnhundert in seinen Provinzen gab. Er schaffte die Kreuzigung ab und er­ klärte im Jahre 321 den Sonntag zum öffentlichen Feiertag. Er en­ gagierte sich persönlich im Kampf gegen Donatismus und Aria­ nismus und berief 325 das Konzil von Nizäa ein, an dem zweitausend höhere Geistliche teilnahmen, vor denen er - gegen den Ketzer Arius - verkündete, Gott sei homoousios mit Gott, we­ senseins oder »von ein und derselben Substanz«. Es wäre verwe­ gen, diesen ziemlich raubeinigen und kriegerischen Herrscher als Theologen zu bezeichnen; aber Konstantin war Konzeptualist ge­ nug, um zu erkennen, dass theologische Spaltungen das Dogma von der christlichen Einheit, das er in seinem Reich einführen wollte, ernsthaft bedrohten. Welche Rolle spielte Helena in diesem ungewöhnlichen Ge­

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schehen ? Man hat oft die Annahme geäußert, sie hätte ebenso wie Constantius mit dem neuen Glauben geliebäugelt; richtig ist, dass der Letztere und seine zweite Frau Theodora ihrer Tochter einen auffallend christlichen Namen gaben: Anastasia (was Auferste­ hung bedeutet). Theodoret, der Kirchenhistoriker des fünften Jahrhunderts, behauptet, Konstantin sei von seinen Eltern christ­ lich erzogen worden, und einige Historiker meinen, an dieser Ge­ schichte sei etwas Wahres.29 Aber Theodoret scheint lediglich zu spekulieren. Nach einer anderen These, die von heutigen For­ schern aufgestellt wurde, soll Helena jüdischer Abstammung ge­ wesen sein; ihre Entdeckung des Kreuzes ließe sich auch als Süh­ netat für die Mitwirkung der Juden an der Kreuzigung Christi deuten.30 Doch die einzige Quelle für Helenas jüdische Herkunft ist der Actus Silvestri, ein viele Male kopierter Text aus der zwei­ ten Hälfte des fünften Jahrhunderts, in dem die Königin als An­ hängerin des Judentums sich zunächst gegen die Bekehrung ihres Sohnes zum Christentum ausspricht. Sie wird dann selber zu die­ sem Glauben bekehrt, als der Kaiser in Rom eine Diskussion zwi­ schen jüdischen und christlichen Gelehrten veranstaltet. Es ist aber sehr unwahrscheinlich, dass eine solche Disputation zur Zeit Konstantins stattgefunden hat, und nur wenige Forscher halten den Actus Silvestri - trotz all seines Reizes, seiner Lebendigkeit für eine zuverlässige historische Quelle. Möglich ist, dass Helena, wie die Vita Constantini behauptet, von ihrem Sohn bekehrt wurde und nicht umgekehrt. Möglich ist ferner, dass sie von Lukian, dem führenden Kopf der Theologen­ schule von Antiochia, bekehrt wurde, der die Lehre des Arius und seines Verteidigers Euseb von Nicomedia (nicht zu verwechseln mit Euseb, dem Konstantin-Biografen) verbreitete. Mit Sicherheit war Lukian, der im Januar 312 den Märtyrer­ tod starb, ein Günstling der Königin, und diese Tatsache mag den Anstoß für ihren Konflikt mit Eustathius von Antiochia, einem dezidierten Ariusgegner, gegeben haben, dessen Absetzung im Jahre 327 auf die feindliche Haltung der Königin zurückgeführt wird.31 Athanasius, von 328 bis 373 Bischof von Alexandria, gibt diese Meinung in seiner Historia Arianorum folgendermaßen wieder:

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»Bischof in Antiochia war ein gewisser Eustathius; er war ein Bekenner und hing dem orthodoxen Glauben an. Da er mit Eifer nach Wahrheit strebte und die Irrlehre der Arianer ver­ abscheute und niemanden mit solchen Glaubensüberzeu­ gungen empfangen wollte, wurde er bei Kaiser Konstantin denunziert, unter dem Vorwand, er habe die Mutter des Kai­ sers beleidigt.«

Vielleicht hatte Helena sogar von sich aus einen Hang zum Aria­ nismus, obgleich man daraus nicht schließen darf, sie hätte die Theologie instinkthafter betrieben als ihr Sohn. Wie er besaß sie den Scharfsinn der religiösen Propagandistin, den Blick, der dieje­ nigen Elemente des Christentums zu erkennen vermochte, die sich - wie vor allem das Kreuz - für imperial-dynastische Zwecke einsetzen ließen. Auf ihrem Anwesen, dem Fundus Laurentus, ließ sie im zweiten Jahrzehnt des vierten Jahrhunderts die Basili­ ka Santi Marcellino e Pietro errichten. Es spricht einiges dafür, dass sie auch den Bau der Basilika St. Peter, der wohl großartigsten architektonischen Leistung der Konstantinischen Epoche, mitini­ tiierte. Ihr bedeutsamster Beitrag zum neuen Reichschristentum lag freilich nicht auf dem Gebiet der Baukunst, sondern der Glau­ bens- und Bibellehre. Er bestand in einer Reise.

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3. Die Entdeckung des Wahren Kreuzes »Aber woher weißt du, dass Er nicht will, dass wir es haben - das Kreuz meine ich ? Ich wette, Er wartet darauf, dass einer von uns losgeht und es findet gerade jetzt, wo es am dringendsten gebraucht wird.« Evelyn Waugh, Helena Vielleicht kann man sagen, sie sei die erfolgreichste Archäologin der gesamten Menschheitsgeschichte gewesen. Amos Elon, Jerusalem Sie verband die Leichtgläubigkeit des Alters mit den leidenschaftlichen Gefühlen der frisch Bekehrten.

Edward Gibbon

Mitte der zwanziger Jahre des vierten Jahrhunderts unternahm eine vom Balkan stammende Frau, die auf die achtzig zuging, eine äußerst beschwerliche Reise mit unsicheren Erfolgsaussichten. Ihre Suche führte sie weit fort in viele Provinzen des Römischen Reiches. Sie kam durch unzählige Städte und Siedlungen und musste auf ihrem Weg mit vielen Widrigkeiten fertig werden. Aber als sie nach zweijähriger Reise zu ihrem Sohn zurückkehrte, hatte sie eine der größten Entdeckungen in der europäischen Kul­ tur- und Religionsgeschichte gemacht, die seither nicht nur zu Werken der Kunst und der Dichtung inspiriert hat, sondern auch zum Auslöser von Wallfahrten wurde. Von heute aus lässt sich nicht mehr erkennen, warum Kaiserin Helena gerade diesen Zeitpunkt in ihrem Leben wählte, um ihre Odyssee in den Vorderen Orient anzutreten. Aber die stürmi­ schen Ereignisse um die Mitte der zwanziger Jahre müssen eine Rolle bei der Entscheidung über ihre Reise gespielt haben. Im September 324 hatte Konstantin auf der asiatischen Seite des Bos­ porus, bei Chrysopolis, seinen letzten Rivalen Licinius besiegt. In Nizäa hatte er 325 ein großes Konzil einberufen, um die Spaltun­ gen innerhalb des Christentums, die seine Funktion als integrie­ 59

rende Kraft des Reiches in Frage zu stellen drohten, aus der Welt zu schaffen. Und im Jahre 326 hatte der Kaiser seinen Sohn Crispus und seine Frau Fausta hinrichten lassen - Letztere womöglich auf Helenas Betreiben. Dies hat einige Historiker zu der Folgerung veranlasst, Zweck ihrer Pilgerfahrt sei es gewesen, für die Sünden, die sie in ihren letzten Lebensjahren begangen hatte, Buße zu tun. Aber die Vor­ stellung einer unter der Last ihrer Schuldgefühle gebeugten Kai­ serin lässt sich kaum vereinbaren mit dem Bild, das wir aus Helenas skrupellosem Verhalten an Konstantins Hof gewinnen können. Sehr viel wahrscheinlicher ist, dass sie sich durch Faustas Tod befreit fühlte, weil sie nun endlich ungehindert zusammen mit ihrem Sohn die Christianisierung des Reiches betreiben konnte - die seit 324 allem Anschein nach mit deutlich erhöhtem Tempo voranschritt. Im Heiligen Land musste der Kirchenbau be­ aufsichtigt werden. Außerdem gab es in den Ostprovinzen, ver­ mutlich ausgelöst durch den plötzlichen Wechsel der Religions­ politik nach dem Sieg über Licinius, politische und religiöse Unruhen, die die kaiserliche Anwesenheit erforderlich machten wenn schon nicht die des Sohnes, dann wenigstens der Mutter. Vor allem war da der mystische Zauber, der über den heiligen Stätten lag. Der Glaube, dem sich Konstantin und Helena an­ geschlossen hatten, hatte viel Reizvolles zu bieten; aber was sie zweifellos besonders beeindruckt hatte, war sein unübersehbar historischer Charakter. Die Ereignisse, von denen die Evangelien erzählen, lagen nur drei Jahrhunderte zurück, und überdies ge­ schah alles in einem von Rom beherrschten Land. Den Pilgern konnte daher der Eindruck vermittelt werden, sie träten hier in unmittelbaren Kontakt mit Jesus.1 Die Stätten, an denen er gelebt, gepredigt und gelitten hatte, ließen sich relativ leicht identifizie­ ren. Es bestand Aussicht, dass man kostbare Gegenstände, die mit seinem Leben und seinem geistlichen Wirken zusammenhingen, würde ausgraben können. In diesem Konkretismus, dieser »Histo­ rizität«, steckte ein großes Machtpotential für alle, die sich mit ihm verbündeten. Wenn es möglich war, der kaiserlichen Dynastie eine Religion dienstbar zu machen, dann musste dasselbe auch für deren Ursprungsort und die materiellen Zeugnisse gelten, die die Religionsgründer hinterlassen hatten. Wer das wollte, konnte kei­ 60

nen heiligeren Ort finden als die Stätte, an der Jesus gestorben und wieder auferstanden war, und keinen heiligeren Gegenstand als das Kreuz, an dem er gehangen hatte. Vierzehn Jahre waren ver­ gangen, seit der Kaiser das christliche Symbol übernommen hatte, und die Aussicht, die durch dieses Symbol repräsentierten Über­ reste des Holzes - das ligmim crucis - zutage zu fördern, muss Konstantin und seine Mutter besonders gelockt haben.2 Der Anstoß zu dem ausgefallenen Vorhaben kam mit fast hun­ dertprozentiger Sicherheit vom Jerusalemer Bischof Macarius. Welche einflussreiche Stellung er auf dem Konzil von Nizäa (325) hatte, lässt sich daran ablesen, dass er seinen Kollegen die Formu­ lierung abringen konnte, sein Bischofsstuhl besitze »uraltes« und »traditionelles« Ansehen. Dies war, wie wir sehen werden, nur ei­ ner der Siege, die er bei seinem Versuch, dem Bischof der Provinz­ hauptstadt Caesarea seinen Rang als Metropolit streitig zu ma­ chen, erringen konnte. Und schon in Nizäa legte Macarius dem Kaiser, der als junger Kronprinz zusammen mit Diokletian Paläs­ tina besucht hatte, wahrscheinlich nahe, die großen Stätten des Christentums zum höheren Ruhm dieser Religion und damit des Kaiserreichs zurückzufordern. Die erste und wichtigste Aufgabe bestand in der Zerstörung von Aelia Capitolina, jenem heidnischen Tempel an der Westseite des hadrianischen Forums, den der Kaiser im Jahre 135 genau dort errichten ließ, wo Jesus gestorben und auferstanden sein soll. Sei­ ne Absicht war es, eine colonia civium Romanorum zu schaffen, aus der Asche der jüdischen Stadt nach dem großen Aufstand von Bar Kochba ein zweites Rom erstehen zu lassen. Der östliche Hü­ gel war ein neues Kapitol geworden, und über dem Heiligen Grab erhob sich der Venustempel. Euseb vermutet, Hadrian habe das getan, um jede Erinnerung an die Passion Christi auszulöschen und die Verbreitung des Evangeliums zu hintertreiben. Doch of­ fenbar erzielte er die entgegengesetzte Wirkung: Statt die heiligs­ te Stätte des Christentums, über der nun ein pompöses heidni­ sches Bauwerk stand, dem Vergessen anheimzugeben, machte er für sie Werbung.3 An diesem Ort begannen die Baumeister, Steinmetze und Aus­ gräber des Bischofs mit ihrer Arbeit. In deren Verlauf geschah, was Macarius sicher inbrünstig gehofft hatte: Das mutmaßliche

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Grab Jesu wurde entdeckt (Euseb nennt die Entdeckung ein »Bild für die Rückkehr des Erlösers ins Leben«), Dieser archäologische Triumph veranlasste Konstantin, ein Neues Jerusalem zu planen, dessen Zentrum das Heilige Grab bilden sollte. In einem von Eu­ seb wiedergegebenen Brief an Macarius beauftragte der Kaiser den Bischof mit dem Bau »einer Basilika, die schöner sein muss als alles auf Erden«. Und zur Überwachung dieser Bauarbeiten und vieler anderer mehr - schickte Konstantin seine hochbetagte Mutter zu ihrer letzten und wichtigsten Reichsmission in den Vorderen Orient. Den Einzelheiten von Helenas Reise widmet Euseb die Absätze 42 bis 47 im Dritten Buch der Vita Constantini und beginnt seine Geschichte folgendermaßen:

»Denn sie hatte beschlossen, die Pflichten zu erfüllen, die ihr die fromme Anbetung Gottes, des Königs der Könige, aufer­ legte, und empfand es als ihre Aufgabe, ihm in Gebeten Dank zu sagen, sowohl wegen des eigenen Sohnes, der ein so mächtiger Kaiser geworden war, als auch wegen ihrer Enkel, der Söhne ihres Sohnes, der in Gottes Gunst stehenden Cä­ saren; und deshalb reiste sie, da sie zwar im vorgerückten Al­ ter, aber von ungewöhnlicher Klugheit war, mit jugendli­ chem Tatendrang in das ehrwürdige Land, um es zu inspizieren und um zugleich in wahrhaft kaiserlicher Sorge den Städten und Menschen in den östlichen Provinzen ihren Besuch abzustatten.«4 Euseb zufolge weihte Helena »dem Gott, den sie anbetete«, so­ gleich zwei Kirchen, eine in Bethlehem und eine auf dem Ölberg: »So ließ Helena Augusta, die fromme Mutter eines frommen Kai­ sers, über den zwei geheimnisvollen Grotten diese beiden stattli­ chen und prachtvollen Monumente der Frömmigkeit errichten, die es wert sind, in immer währender Erinnerung behalten zu werden; sie errichtete sie zu Ehren Gottes, ihres Erlösers, und zum Beweis ihres heiligen Eifers, und ihr Sohn stand ihr bei mit seiner kaiserlichen Macht.«5 Glaubt man dem Biografen ihres Sohnes, so war die Reise der Kaiserin auch ein Triumph der gottgefälligen Freigebigkeit: 62

»Im Glanz kaiserlicher Autorität gab sie zahlreiche Beweise ihrer Großzügigkeit, sowohl den Städten als Ganzem als auch den einzelnen Menschen, die an sie herantraten, und zugleich teilte sie mit großzügiger Hand Geschenke unter den Soldaten aus. Besonders reichlich indessen gab sie den mittellosen und schutzlosen Armen. Manchen schenkte sie Geld, anderen einen großen Vorrat an Kleidung; die einen holte sie aus der Gefangenschaft oder aus der grausamen Knechtschaft der Bergwerke; andere befreite sie von unge­ rechter Unterdrückung; wieder andere ließ sie aus der Ver­ bannung heimkehren.«

In vielerlei Hinsicht ähnelte ihre Reise einer Wallfahrt. Euseb schreibt unter Berufung auf Psalm 132, 7, ihr Wunsch sei gewe­ sen, überall dort zu beten, wo Christi Füße die Erde berührt hat­ ten, und sie habe keine einzige Kirche übergangen, auch nicht die »in den kleinsten Ortschaften«. Als Mutter des Kaisers vergleicht er Helena mit der Jungfrau Maria, der Mutter Jesu. Bei der Schil­ derung ihres Wirkens in Bethlehem kommt das deutlich zum Ausdruck: »Die fromme Kaiserin beehrte die Stätte, wo sie, die das himmlische Kind gebar, in den Wehen lag.« Aber Helena benutzte ihre Reise auch dazu, die Herrschaft ihres Sohnes als wohltätig anzupreisen: Deshalb verteilte sie bei den Heereseinheiten, die in Gefahr standen zu meutern, Geld und machte auf ihrem Weg Ge­ schenke aller Art. Den Armen gab sie, wie wir sahen, Almosen und Schutz; Gefangene befreite sie ebenso wie diejenigen, die zur Arbeit in den Bergwerken verurteilt oder in die Verbannung ge­ schickt worden waren. Unverkennbar war ihre Reise nicht nur ei­ ne private Wallfahrt, sondern zugleich ein spektakuläres öffentli­ ches Ereignis; sie setzte nicht bloß das konstantinische Ideal einer religiösen Monarchie in Szene, sondern spiegelte auch die innere Glaubensüberzeugung einer christlichen Konvertitin wider.6 Die Rituale einer kaiserlichen Rundreise standen nicht im Gegensatz zur Demut der christlichen Pilgerin. Man hat darauf hingewiesen, dass »Helena, als sie die Brücke zwischen Kaiserin und Pilgerin schlug, ihren Nachfolgern den Weg ebnete; die Reise zu den heiligen Stätten wurde im christli­ chen Römischen Reich zu einer Selbstverständlichkeit«.7 Das 63

stimmt, doch es wäre ganz falsch zu meinen, ihre Reise sei die erste ernst zu nehmende Pilgerfahrt nach Jerusalem gewesen. Es gibt vereinzelte, aber überzeugende Belege dafür, dass vor ihr be­ reits viele andere die peregrinatio ad loca sancta angetreten hat­ ten: etwa der Bischof Melito von Sardis um das Jahr 170, der in seiner Predigt »Über das Osterfest« daran erinnerte, dass er »zu dem Ort kam, wo all dies verkündet und getan ward«. Euseb be­ richtet in seiner Kirchengeschichte, ein kappadokischer Bischof namens Alexander sei um das Jahr 210 nach Jerusalem ge­ kommen, »um dort zu beten und die (heiligen) Stätten zu be­ sichtigen«. Firmilian, Bischof im kappadokischen Caesarea, und Origenes, der große Bibelforscher, haben beide im dritten Jahrhundert nachweislich dieselben Stätten besucht. Jahre vor Helenas Pilgerfahrt schreibt Euseb über Bethlehem, es sei »so berühmt, dass die Menschen vom äußersten Ende der Welt her­ beieilen, um es zu sehen«; und längst hat er, bevor sie ihre Reise antritt, ein biblisches Ortslexikon, das Onomasticon,8 veröffent­ licht, was davon zeugt, dass es schon weit vor den um die Mitte der zwanziger Jahre einsetzenden konstantinischen Ausgrabun­ gen unter den Pilgern einen Bedarf an Informationen dieser Art gab. Diese erste Welle der Wallfahrten ist umso erstaunlicher, als die Stätten, die die Pilger besonders dringend zu sehen wünschten, von Hadrian überbaut worden waren.9 Sie zeugt davon, dass die Jerusalemer Kirche und insbesondere die Kreuzigungsstätte eine magnetische Anziehungskraft nicht bloß auf die in der Region le­ benden Christen ausübte, sondern auch auf Gläubige, die von viel weiter her kamen. Sie kamen, obwohl sie wussten, dass ein der Aphrodite geweihtes heidnisches Bauwerk sie hindern würde, die heiligste Stätte des Evangeliums zu sehen. Mit Hadrians Sieg über die jüdischen Aufständischen unter Bar Kochba (134-135) ging also Jerusalems Ausstrahlung nicht verloren, sondern blieb ungemindert in den Herzen der Christen bestehen. Und genau dies hatten Konstantin und Helena bei ihrer unermüdlichen Su­ che nach neuen Quellen numinoser Macht ganz offenkundig be­ griffen.10 Reisen war in der Spätantike sowohl eine extravagante als auch eine mühsame Angelegenheit. Der rastlosen Elite des Römischen 64

Reiches eröffneten sich durch das Reisen viele Möglichkeiten, aber zugleich stellte es hohe Anforderungen. Auf dem Meer war Piraterie gang und gäbe; zu Lande bildeten Straßenräuber eine nicht minder große Gefahr; und die von den Wohlhabenden be­ nutzte Kutsche, das zweirädrige carpentum, bescherte den Rei­ senden eine holprige Fahrt. Für eine Frau in hohem Alter war die Fahrt nach Jerusalem, selbst wenn man alle Privilegien berück­ sichtigt, die sie als Kaiserin genoss, ein ehrgeiziges und womög­ lich tollkühnes Unternehmen. Euseb schildert die Reiseroute der Kaiserin nicht im Einzelnen; aber es lässt sich rekonstruieren, welchen Weg sie eingeschlagen haben muss.11 Wenn Helena den Landweg wählte, muss sie von Bithynien aus gestartet und dann durch die Kilikische Pforte nach Antiochia gereist sein. Von dort fuhr sie nach Tyros, Caesarea und schließlich nach Jerusalem - ei­ ne Reise von etwa zweitausend Kilometern. Auf dem Seeweg hin­ gegen wäre sie bei günstigem Wind in ungefähr vierzehn Tagen nach Caesarea Maritima oder Jaffa, nordwestlich oder westlich von Jerusalem, gelangt. Die Reise selber war sicher ein gewaltiger Trubel, und eine wahre Armee wird Helena begleitet haben: Diener und Köche, Soldaten, die sie schützen mussten, und Kundschafter, die vorge­ schickt wurden, um sicherzustellen, dass nirgendwo ein Ver­ kehrshindernis die Fahrt der Kutsche aufhielt.12 Als kaiserliche Gesandte von allerhöchstem Rang genoss sie die erlesenste Gast­ lichkeit, die der cursus publicus - jenes von Augustus geschaffene Verkehrssystem, in dem allen, die von Amts wegen reisten, be­ sondere Vorrechte zuteil wurden - zu bieten hatte. Im vierten Jahrhundert gab es entlang der Reiserouten bereits zahlreiche Zwischenstationen - die mansiones für Reisende aus der Kaiser­ familie und die stationes für alle Übrigen -, wo man Proviant auf­ füllen, Pferde, Kutschen und Kutscher auswechseln, sich ausru­ hen und etwas essen konnte. Diese Gasthäuser lagen zwischen vierzig und fünfzig Kilometer voneinander entfernt, etwa die Strecke, die man als Reisender an einem guten Tag hinter sich bringen konnte; ihre Dienste mussten sie jedem anbieten, der im Besitz einer offiziellen diploma, eines Begleitschreibens, war.13 Natürlich lud dieses System zum Missbrauch ein, und es wurde tatsächlich missbraucht. Im Jahre 343 beschloss ein ökumenisches

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Konzil in Sophia, Bischöfe dürften nur am kaiserlichen Hof er­ scheinen, wenn eine Ladung vorliege. Und 362 stellte Julian der Abtrünnige fest: »... der cursus publicus ist durch die schamlose Anmaßung gewisser Leute zuschanden geworden«. Obgleich Euseb hervorhebt, wie freigebig Helena gegenüber denen war, die ihr auf ihrer Reise begegneten, wird eine Reisende von ihrem Rang überall, wo sie sich aufhielt, auch große Kosten verursacht haben. Die aus vornehmer Familie stammende Pilge­ rin Melania die Jüngere wohnte bei ihrem Aufenthalt in Konstan­ tinopel im Palast des Lausus, des Schatzmeisters von Theodosius II., und Paula, eine reiche Witwe, die im Jahre 385 ihre Pilgerfahrt antrat, wurde vom Statthalter Palästinas eingeladen, in seiner Je­ rusalemer Villa zu wohnen (was sie ablehnte, um stattdessen in einer Klosterzelle in Bethlehem zu nächtigen). Wie viel höher müssen also die Ansprüche der Kaiserinmutter gewesen sein, ei­ ner Frau in den Siebzigern, die an das Leben im Sessorianischen Palast und im kaiserlichen Wohnsitz von Trier gewöhnt war. So hat man die durchaus plausible Vermutung geäußert, eben diese Ansprüche seien der wahre Grund für ihr Zerwürfnis mit Bischof Eustathius von Antiochia gewesen. Jedenfalls fällt es nicht schwer, sich auszumalen, in welcher Gemütsverfassung die Kaiserin schließlich in der Heiligen Stadt eintraf, wo sie mit Bischof Macarius Zusammentreffen wollte.

Konstantins Pläne für das Heilige Land, deren Durchführung Helena beaufsichtigen sollte, waren von atemberaubendem Um­ fang. Spätestens ab diesem Zeitpunkt wurde der christliche Glau­ be nicht mehr nur in versteckten Heiligtümern und Privaträumen praktiziert, er wurde zu einer Religion mit öffentlicher Prachtent­ faltung, die man besonders prunkvoll in ihrem Herkunftsland fei­ erte. In Bethlehem wurde über der Grotte, in der Jesus der Tradi­ tion zufolge geboren wurde, die Geburtskirche errichtet; heute steht an der Stelle der größere Kirchenbau, den Justinian im sech­ sten Jahrhundert dort hinsetzen ließ. Auf dem Ölberg entstand die Himmelfahrtskirche, die so genannte Eleona, eine dreischiffi­ ge Basilika über einer Krypta, in der Jesus zu seinen Jüngern ge­ predigt haben soll. Spätere Geschichtswerke berichten, Helena habe während ihrer Wallfahrt bis zu vierzig Kirchen gestiftet, und 66

Euseb ordnete ihr ohne Zögern die Kirchen in Bethlehem und auf dem Ölberg zu. Egeria, eine Pilgerin vom Ende des vierten Jahr­ hunderts, spricht von Konstantins Bauvorhaben »sub praesentia matris suae«, woraus sich schließen lässt, dass Helena mit der gesamten Bautätigkeit des Kaisers im Heiligen Land assoziiert wurde.14 Sie war nicht die einzige kaiserliche Beauftragte, die Konstan­ tin ins Heilige Land entsandte. Auch Faustas Mutter Eutropia schickte er dorthin mit dem Auftrag, an diversen Vorhaben mit­ zuwirken, und allem Anschein nach ließ er auf ihr Drängen eine Kirche bei Mamre bauen, an jener Stätte, wo Abraham den drei Männern begegnete. Die Befugnisse für das Gesamtunternehmen lagen jedoch bei der Kaiserin. Herzstück des Ganzen war der Komplex des Heiligen Grabes, der die Kreuzigungsstätte auf Gol­ gatha und das Grab Christi umfasste; eingeweiht wurde er erst am 13. September 335, lange nach der Reise der Kaiserin. Hier gab es in ein und demselben Baubezirk zwei getrennte Baustellen. Auf der einen entstand eine fünfschiffige Basilika (das »Martyrium«), die im Jahre 333 die Bewunderung des so genannten Pilgers von Bordeaux erregte: »Dort wurde unlängst auf Anweisung des Kai­ sers Konstantin eine Basilika erbaut, eine Kirche von bewun­ dernswerter Schönheit; entlang der Kirche befinden sich Wasser­ becken, aus denen man Wasser schöpft, hinter ihr ein Baptisterium, wo die Kinder getauft werden.« Hieran grenzte ein Hofraum, der auch den Golgathafelsen um­ schloss, und an ihn das Grab selbst, das später mit einer Rotunde, der so genannten Anastasis (Auferstehung), überbaut wurde. Eu­ seb hat dies alles nie gesehen, er starb im Jahre 340; die Pilgerin Egeria jedoch berichtet von den Gottesdiensten, die dort in späte­ ren Jahren zelebriert wurden. Die noch erhaltene Kirche, ein Kreuzfahrerbau aus der ersten Hälfte des zwölften Jahrhunderts, hat allerdings kaum etwas mit der ausgesucht schönen Basilika gemein, die die Autoren des vier­ ten Jahrhunderts so rühmen. Heute liegt der Komplex des Heili­ gen Grabes fast völlig versteckt; Zugang zu ihm hat man nur über einen kleinen, in einer Straße des arabischen Viertels gelegenen Vorplatz. Wie Charles Couasnon in seinen Vorlesungen zum Christusgrab sagt, »hat die Stadt die Kirchenanlage verschlungen; 67

man nähert sich ihr, ohne sie zu sehen«; und beim Eintreten be­ schleicht den Besucher, wie es der andere große Jerusalemforscher L. H. Vincent formuliert, »das bedrückende Gefühl, in einem La­ byrinth zu sein, die Empfindung eines Durcheinanders«.15 Das ei­ gentliche Grab im Innern der Kirche ist heute umgeben von ei­ nem »scheußlichen Kiosk« (wie der große schottische Maler David Roberts es nannte). Aber die Basilika, die Euseb beschrieb, war alles andere als scheußlich. Er sah in ihr ein »göttliches Monument der Unsterb­ lichkeit«. Das Hauptschiff war beidseitig flankiert von Seiten­ schiffen und überragt von Emporen, die auf hohen Säulen ruhten; die Wände der Seitenschiffe waren mit Marmor verziert; das Hauptschiff mündete in eine mit einer Halbkuppel gedeckte Ap­ sis, ihrerseits gesäumt von zwölf Säulen, auf denen Silbergefäße standen. Egeria, die den Orient zwischen 381 und 384 besuchte, sprach vom Martyrium als einem Bauwerk, »das Konstantin, ver­ treten durch seine Mutter, soweit es das Vermögen seines Reiches zuließ, mit Gold hat ausschmücken lassen, mit Mosaiken und kostbarem Marmor«.16 Konstantin wünschte sich eine Manifes­ tation seines majestätischen Wirkens als Gesetzgeber und Vertre­ ter Gottes auf Erden, eine Kundgebung gottgewollter Macht, die so Ehrfurcht einflößend sein sollte, wie es Maurer und Steinmet­ ze nur irgend bewerkstelligen konnten.17 Er wollte ein Neues Rom, Nova Roma, errichten. Helenas Aufgabe in Jerusalem bestand in der Beaufsichtigung dieses Vorhabens. Aber die Kaiserin hatte es auf weit mehr abge­ sehen - jedenfalls, wenn wir Ambrosius, Rufinus und anderen Vätern der schriftlichen Inventio-Crucis-Tradition vertrauen dürfen. Diese Autoren waren felsenfest davon überzeugt, dass Helena ihre Reise antrat, weil sie glaubte, das Holz des Kreuzes finden zu können. Die Anfänge dieser Tradition haben wir bereits betrachtet. Was uns jetzt interessiert, ist die Tatsache, dass sie trotz aller Materialfülle und trotz ihrer rhetorischen Kraft von heutigen Forschern ignoriert wird. Jan Willem Drijvers, einer der nachdenklichsten Wissenschaftler, die sich in neuerer Zeit mit der Frage befasst haben, begründet das folgendermaßen:

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»Eine Legende ist... das Produkt der Phantasie. Nach einhel­ liger Auffassung besteht die Funktion einer Legende darin, irgendetwas zu erklären und ihm Sinn zu verleihen. Die Le­ gende von der Kreuzauffindung enthält zwar historische Elemente und beruht womöglich auf einem historischen Er­ eignis, das heißt auf der Entdeckung eines Holzstücks in Je­ rusalem, das man für das Kreuz Christi hielt; aber als Erzäh­ lung ist sie im Großen und Ganzen reine Fiktion.«18 Anders als viele seiner skeptischeren Kollegen ist Drijvers bereit anzuerkennen, dass in der Znventio-Crncis-Tradition vielleicht ein Körnchen Wahrheit steckt; doch nicht anders als sie bestreitet er, dass Helena dabei irgendeine Rolle gespielt haben könnte.19 Es gehört zu den Hauptthesen unseres Buches, dass diese Annahme falsch ist und die Überlieferung trotz aller ausschmückenden und reiner Phantasie entstammenden Zusätze ernst genommen wer­ den sollte. Mit fast hundertprozentiger Sicherheit hat sie einen Wahrheitskern. In späteren Kapiteln betrachten wir die archäolo­ gischen Funde, die man an der Stätte des Heiligen Grabes gemacht hat, und das historische Material, aus dem hervorgeht, dass das Kreuz in dieser Region schon in frühester Zeit Gegenstand kulti­ scher Verehrung war. Vor allem werden wir die erste erschöpfende Analyse des in Santa Croce in Gerusalemme aufbewahrten Titulus Crucis vorlegen. Zunächst aber müssen wir die - allgemein für überzeugend gehaltenen - Argumente prüfen, die gegen die Helena-Legende in Anschlag gebracht worden sind. Euseb von Caesarea (ca. 260 bis 339) ist nach einhelliger Auffas­ sung der Vater der Kirchengeschichte. Seine Kirchengeschichte erschien in ihrer endgültigen Gestalt nicht lange nach dem Sieg über Licinius im Jahre 324 und vor der zwei Jahre später stattfin­ denden Hinrichtung von Crispus. Seine Rede Zum Lobe Konstan­ tins stammt von 336, und nach dem Tod des Kaisers 337 veröf­ fentlichte er seine umfassende Biografie.20 Noch in der Moderne hat Euseb starke Gefühlsreaktionen aus­ gelöst. In einer Konstantin-Biografie aus neuester Zeit heißt es, er sei »nicht nur ein mittelmäßiger Stilist, sondern auch ein depri­ mierend unsachlicher Historiker... Den Kaiser entstellte er zum 69

frömmelnden Eiferer«.21 Und Jacob Burckhardt hielt ihn für »den ersten durch und durch unredlichen Geschichtsschreiber des Al­ tertums«. Aber wenigstens in einem Punkt nehmen moderne Historiker Euseb sehr gern beim Wort - oder besser: beim fehlen­ den Wort. Denn bei der Schilderung von Helenas Reise nach Jeru­ salem erwähnt der Chronist nirgendwo die Auffindung des Kreu­ zes. Edward Gibbon spricht in Bezug auf die /nvenfio-Legende vom »Schweigen des Euseb..., das alle, die denken, mit Befriedigung, und alle, die glauben, mit Bestürzung aufnehmen«. Diese Auffas­ sung kommt den meisten unter den heutigen Wissenschaftlern, die die Lücke bei Euseb - wie es bei einem von ihnen heißt - »un­ glaublich überzeugend« finden22, natürlich sehr entgegen. Im­ merhin berichtet Konstantins Biograf überschwänglich von der Entdeckung des Heiligen Grabes und von der dort errichteten Kirche, sagt jedoch kein Wort über die Auffindung des lignum crucis durch die Kaiserin, die dann Ambrosius und die späteren Autoren so sehr zum Erzählen animiert. Fast ausnahmslos kom­ men die Forscher zu dem Schluss, dass das Schweigen des Euseb sie berechtigt, die Helena-Tradition in Bausch und Bogen als Lü­ gengeflecht abzutun. Interessant ist nun, dass alle, die schnell bei der Hand sind, wenn es darum geht, das Forschungsinteresse für den histori­ schen Wert und die historische Objektivität der ersten christli­ chen Quellen als »Kleben am Buchstaben« zu rügen, ebenso schnell bereit sind, selbst am Buchstaben zu kleben, wenn es ih­ nen in ihr wissenschaftliches Geschäft passt. Denn das Schweigen des Euseb ist nicht schon per se ein hinreichender Grund, die Ge­ schichte der Inventio Crucis als falsch zu verwerfen, obwohl ge­ nau das die allermeisten Autoren zum Thema tun.23 Das argumentum e silentio ist bei der Analyse antiker Texte immer eine heikle Sache. Man geht fehl in der Annahme, dass Schriftsteller wie Euseb die Absicht hatten, über einen Gegen­ stand umfassend zu berichten, oder dass man das von ihnen er­ wartete. Wie wir bereits sahen, machte es ihm nichts aus, weder Crispus noch Fausta nach ihrem Tod zu erwähnen, obgleich die Familienkrise von 326 natürlich zu den unwiderstehlichsten Er­ eignissen in der Regierungszeit des Kaisers zählte.24 Gemeinhin 7°

gilt Euseb als parteiischer, eigennütziger und oftmals unaufrichti­ ger Autor - was er nicht sagt, ist häufig ebenso interessant wie das, was er sagt. Die Frage ist, ob er irgendeinen einsichtigen Grund hatte, eine so ungeheuerliche (und potenziell Anstoß erre­ gende) Lücke zu lassen und die Auffindung des Kreuzes durch die Kaiserin einfach zu übergehen.25 Es gibt mehrere Möglichkeiten. Als Historiker könnte Euseb Zweifel an der Echtheit des betreffenden Objekts gehabt haben. Als Theologe neigte er dazu, der Auferstehung Christi einen größeren Stellenwert einzuräumen als seinem Tod. Außerdem pflegte er von Haus aus eine eher vergeistigte Religiosität und sah wie Origenes in der christlichen Gottesanbetung eine metaphysi­ sche Erfahrung. Eine Entdeckung, die so konkret für den materi­ ellen Ursprung des Glaubens stand und, was noch schlimmer war, seine womöglich götzendienerische Zukunft verkörperte, könnte er durchaus mit Abscheu betrachtet haben. Mag sein, dass Euseb Konstantin und andere Gläubige von etwas abzubringen suchte, was für ihn nichts war als eine auf Reliquien und heiligen Stätten beruhende primitive Form der Frömmigkeit.26 Es gibt sogar die These, er habe befürchtet, dass die Auffindung des Kreuzes Kon­ stantin zu viel Macht verschaffen und das Christentum zu einer bloßen Unterabteilung der Reichsideologie herabsetzen würde. Dieser Interpretation zufolge hat Euseb in seinem Bericht dem Grab, also dem Ort der Auferstehung, mehr Augenmerk als Gol­ gatha, der Todesstätte, geschenkt, weil er partout nicht wollte, dass das Kreuz auf ein kaiserliches Feldzeichen reduziert würde. Eine solche These freilich lässt sich kaum mit der Tatsache in Einklang bringen, dass Euseb stets das hohe Lied des Kreuzes als »Reichs­ trophäe« gesungen hat.27 Man könnte sogar sagen: Er war der kai­ serliche Kreuz-Ideologe par excellence. Vielleicht gibt es einen viel einfacheren Grund, weswegen der stolze, großspurige Höfling und Geschichtsschreiber von Helenas Entdeckung lieber schwieg, während er die Kaiserin sonst in jeder Hinsicht rühmte. Euseb war Erzbischof von Caesarea und in dieser Funktion durch die Kirche von Jerusalem und ihren offenbar un­ aufhaltsamen Aufstieg in gefährlicher Weise bedroht. Jerusalems Anspruch, der »Mittelpunkt der Welt« zu sein, hat vermutlich mit der Auffindung des Wahren Kreuzes eine gewaltige Durch­

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schlagskraft erhalten. Das Holz in der Grabeskirche und die Mög­ lichkeit, dass der Bischof dort die Macht hatte, Partikel dieser Ehr­ furcht heischenden Reliquie zu verschenken - beides stellte für die kirchliche Autorität von Caesarea und für Euseb persönlich eine starke Bedrohung dar. Auf dem Konzil von Nizäa war beschlossen worden, dass Jerusalem neben den Bischofssitzen von Rom, Ale­ xandria und Antiochia einen besonderen Ehrenplatz erhalten soll­ te, obwohl es theoretisch dem Metropoliten von Caesarea unter­ geordnet blieb. Dass Euseb die Kreuzauffindung mit keinem Wort erwähnt, ist gewiss frappierend; aber nicht weniger frappierend ist, wie sehr er sich bemüht, jede Erwähnung von Macarius zu ver­ meiden - den er nur nennt, wenn er unmittelbar aus den Briefen Konstantins zitiert. Es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, dass der verärgerte Bischof von Caesarea sich jeder Anspielung auf die Inventio Crucis enthält, um den immer mächtiger werdenden Bi­ schof von Jerusalem zu brüskieren. (In diesem Kampf freilich trug Jerusalem den Sieg davon, denn im fünften Jahrhundert wurde der Bischofssitz in ein Patriarchat verwandelt.)28 Natürlich ist das nur eine Hypothese, aber Euseb selbst springt ihr bei - wenn auch nur versehentlich. In der Vita Constantini zi­ tiert er einen Brief Konstantins, in dem der Kaiser von einem »Unterpfand der heiligen Passion« spricht. Diese Formulierung lässt, wie John Henry Newman in seinen Two Essays on Biblical and Ecclesiastical Miracles feststellt, offenbar nur eine einzige Deutung zu: »Läsen wir sie, ohne zu wissen, dass der Historiker, wo immer er im eigenen Namen schreibt, sich darüber aus­ schweigt, dann bekämen wir gewiss den Eindruck, dass Konstan­ tin hier das Kreuz gemeint hat.«29 Genau so ist es. Und aufschlus­ sreich ist ferner, dass Euseb in seiner früheren Rede Zum Lobe Konstantins, mit der er 336 das dreißigste Jubiläum der Thronbe­ steigung feiert, die Basilika des heiligen Grabes als einen »dem heilbringenden Symbol geweihten Tempel« und als »Gedenkstät­ te« bezeichnet, die »voll ist von ewigem Sinn und von den Zei­ chen des Sieges, den der Große Erlöser über den Tod errang« womit er nur das Kreuz meinen kann. Anders als nach Konstan­ tins Tod fühlte sich der Geistliche in seiner Tricennatsrede vor dem Kaiser zu der Bemerkung genötigt, dass die Basilika vor al­ lem ein Denkmal der Kreuzigung war. 72

Es gibt also gute Gründe, das Schweigen des Euseb nicht für ba­ re Münze zu nehmen. Aber damit bleibt man noch auf der Argu­ mentationsebene. Wichtiger sind die Belege, die dafür sprechen, dass Helena in Jerusalem tatsächlich einen Holzbalken entdeckt hat, und die Gründe, die es als nahezu sicher erscheinen lassen, dass die von ihr gewählte Ausgrabungsstelle tatsächlich der Ort der Kreuzigung und des Christusgrabes ist.

In jeder Kultur spielt die Tradition eine je eigene Rolle. In unserer hoch technisierten Gesellschaft gilt sie als Damm gegen die Flut­ wellen des Wandels. Ihre Funktion besteht darin, das Beste zu bewahren und künftige Generationen von Entartung und will­ kürlichen sozialen Praktiken abzuhalten. Doch in antiken Gesell­ schaften - etwa im Palästina des ersten bis vierten Jahrhunderts besaß die Überlieferung eine grundsätzlichere Funktion. Sie dien­ te nicht nur der Bewahrung bestimmter Verhaltensweisen; sie war auch ein Mittel zur Weitergabe von Informationen an die nächste Generation. Überlieferung in diesem Sinn war eine Sache von großer Dringlichkeit,30 fleißiges Auswendiglernen wichtiger Maximen oder das Im-Gedächtnis-Behalten bedeutsamer Stätten eine hochheilige Aufgabe und eine soziale Pflicht. Grabstätten galten als besonders bedeutsam und werden in der Bibel oft erwähnt.31 Nach wie vor gibt es die alte jüdische Redens­ art »dessen Grab bis heute bei uns ist«. Zu Jesu Zeiten, so erfahren wir, konnten die Menschen angeben, wo sich die Gräber von hochrangigen Persönlichkeiten - wie etwa Alexander Jannaeus, Johannes Hyrcanus oder Helena Adiabene und deren Söhne - be­ fanden. Hegesipp berichtet, das Grab des Jesus-Bruders Jacobus, der 62 n. Chr. umgebracht wurde, sei im Jahre 175 noch immer vorhanden gewesen. Und vor dem zweiten jüdischen Aufstand war genau bekannt, wo sich die Grabstätten von David und Salo­ mon befanden; Josephus zufolge hatte Herodes der Große das Bauwerk restaurieren lassen. Für die ersten Christen wäre es unvorstellbar gewesen, dass sie einmal die Orte vergessen könnten, wo man ihren Heiland hinge­ richtet und begraben hatte und wo entdeckt worden war, dass er vom Tode auferstand. Zu Beginn des jüdischen Aufstands von 6673 n. Chr. flohen die meisten Christen nach Pella, einer Stadt in 73

Peräa auf der anderen Seite des Jordan, aber sie kehrten zurück und blieben bis zum zweiten Aufstand 131-35 n. Chr. als Gemeinde in Jerusalem. Auch nach diesem epochalen Ereignis mitsamt seinen schlimmen Folgen gab es in Aelia Capitolina noch eine Gemeinde nichtjüdischer Christen, so dass die topographische Überlieferung weiterleben konnte. Wie wir bereits sahen, war die Tradition stark genug, um Pilger aus weit entfernten Gegenden anzuziehen, und dies trotz der Tatsache, dass Golgatha und das Grab unter einem heidnischen Monument verschwunden waren. Auffallend ist auch, dass damals, so scheint es, keine andere, leichter zugängliche Stätte zur Debatte stand. Die Tradition besaß offenbar so viel Ge­ wicht, dass niemand eine Alternative vorzuschlagen wagte. Lange bevor Euseb mit den konstantinischen Ausgrabungen der späten zwanziger Jahre zu tun hatte, hielt er den Zusammenhang von Ort und Geschehen in seinem Onomasticon fest, wo er Golgatha so be­ schreibt: »...die Schädelstätte, wo Jesus gekreuzigt wurde; besichti­ gen kann man sie in Aelia, nördlich vom Berg Zion«.32 Tatsächlich haben die Evangelisten die Ereignisse der Passions­ geschichte übereinstimmend an einen Ort außerhalb der Stadt verlegt, was bedeuten würde, dass die christlichen Pilger ganz un­ sinnigerweise an die von ihnen erwählte Stätte kämen.33 Im Brief an die Hebräer heißt es, Jesus habe, »auf dass er das Volk heiligte durch sein eigenes Blut, gelitten draußen vor dem Tor«.34 Richtig ist auch, dass Grabstätten innerhalb der Befestigungsanlagen ver­ boten waren. Aber die Mauern der Stadt Jerusalem veränderten sich in den Jahren nach der Kreuzigung ganz erheblich. Zur ersten Mauer aus der Eisenzeit und zum zweiten nördlichen Außenwall der Stadt kam unter Herodes Agrippa zwischen 41 und 44 n. Chr. eine dritte, neue Maueranlage hinzu, und nach Meinung der Ar­ chäologen lag diese schon jenseits des Golgathafelsens.35 Dieser Befestigungsring sollte die jenseits des Nordwalls entstandene neue Vorstadt, die so genannte Neustadt, schützen und wird so­ wohl die Kreuzigungsstätte als auch den Garten des Joseph von Arimathia umschlossen haben. Erneut ist frappierend, wie zuver­ sichtlich Macarius und andere daran festhielten, dass Stätten in­ nerhalb der Befestigungsanlagen mit Golgatha und Grab iden­ tisch waren. Sie konnten das nur aufgrund einer außerordentlich starken, nie in Frage gestellten Lokaltradition. 74

In dieser Tradition waren Glaube und Heilserwartung aufs engste miteinander verquickt. Die ersten Christen glaubten, ihr Messias sei dort, wo der heidnische Tempel stand, gestorben und auferstanden. Aber zugleich glaubten sie, derselbe Ort werde auch der Schauplatz seiner Wiederkunft sein, und in den Gottesdiens­ ten, die sie in der Kirche auf dem Berg Zion, außerhalb von Aelia Capitolina, abhielten, sagten sie dieses Ereignis voraus. Die Über­ lieferung, von der Helena zehrte, hatte also nichts Antiquiertes, sie war kein Gegenstand pedantischer Debatten unter den gelehr­ ten Graubärten Jerusalems und anderer Städte. Sowohl für die Christen, die in unmittelbarer Umgebung der heiligen Stätten lebten, als auch für jene, die sie besuchten, war sie eine Sache von vitaler Bedeutung. Ein Irrtum in dieser Frage hätte geheißen, dass man nicht wusste, an welchem Ort der Sohn Gottes in allernäch­ ster Zeit wiederkehren würde. Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass Helena ihre Ausgrabun­ gen an der richtigen Stelle vornahm. Damit erhebt sich nun die Frage: Was hat sie gefunden - wenn sie denn überhaupt etwas fand? In den folgenden Kapiteln untersuchen wir den Titulus von Santa Croce, um herauszubekommen, ob er womöglich ein Stück jenes Holzes sein könnte, das sie gefunden haben soll. Aber zunächst müssen wir fragen, ob sie überhaupt etwas fand, denn selbst das wird von heutigen Forschern bestritten, die ihre (stum­ men) Argumente aus dem Bericht des Euseb beziehen. Wir behaupten, dass Euseb - in dieser Debatte zumindest - un­ verhältnismäßig viel Beachtung zuteil wurde, zu viel im Vergleich zu einem anderen großen Geistlichen.36 Bischof Cyrill von Jeru­ salem (ca. 315 bis 386) wurde um 349 von Acacius, Eusebs Nach­ folger, zum Bischof ernannt. In seinem beruflichen Werdegang ging es außerordentlich turbulent zu, mehrfach wurde er von sei­ nem Bischofsstuhl verbannt; allenthalben erregte er Verdacht, bei Arianern ebenso wie bei Nichtarianern, und im Jahre 379 war das Konzil von Antiochia seinetwegen so beunruhigt, dass es den hei­ ligen Gregor von Nyssa nach Palästina sandte, um über seine Amtsführung in Jerusalem Bericht zu erstatten. (Gregor kam zu dem sarkastischen Schluss, die Kirche der Heiligen Stadt sei sitt­ lich verderbt, aber theologisch ohne Fehl und Tadel.) Cyrill war kein Kirchenhistoriker vom Rang des Euseb und wohl auch weni­ 75

ger erfolgreich am Kaiserhof. Genau wie dieser verfolgte er ei­ gennützige Zwecke, nämlich die der Kirche von Jerusalem, für die er unermüdlich warb und deren Unabhängigkeit gegenüber dem Metropoliten von Caesarea er vertrat. Doch seine Schriften wer­ den als Quelle für den uns interessierenden Zusammenhang un­ terschätzt. Während man im Zweifel allzu häufig zu Gunsten von Euseb urteilt, wird Cyrill allzu oft mit Argwohn behandelt oder gänzlich ignoriert.37 Ende der vierziger Jahre, noch als Priester, schrieb Cyrill in einer Reihe von Vorlesungen, den so genannten Katechesen, die er in der Fasten- und Osterzeit hielt: »Schon ist die ganze Welt ange­ füllt mit Stückchen, die vom Holz des Kreuzes stammen.« Und er setzte hinzu: »Das heilige Holz des Kreuzes legt Zeugnis ab: Heute kann es hierselbst besichtigt werden, und dank jener Gläubigen, die (Splitter) davon mitnehmen, ist es von hier aus in fast alle Ge­ genden der Welt gegangen.« Und noch ein drittes Mal erwähnte er »das Holz des Kreuzes, das von dieser Stelle aus in Splittern über die ganze Welt verstreut wird«.38 In einem 351 verfassten Brief an Kaiser Constantius II. kommentierte der Bischof ein Lichtkreuz, das man über Golgatha gesehen hatte, mit folgenden Worten:

»Während in den Tagen Eures kaiserlichen Vaters Konstan­ tin seligen Angedenkens in Jerusalem das Erlösungsholz des Kreuzes gefunden ward (dank göttlicher Gnade konnte eine, die mit edlem Herzen nach Heiligkeit strebte, die lange ver­ borgenen heiligen Stätten auffinden), geschehen heute, ho­ her Herr, zur Regierungszeit Eurer göttlichen Majestät, Wunder nicht auf der Erde, sondern am Himmel, gleichsam um anzuzeigen, wie sehr Euer Glaubenseifer die Frömmig­ keit Eures Vorfahren übertrifft: In Jerusalem sah man das Zeichen des Sieges, den unser Herr Jesus Christus, der einge­ borene Sohn Gottes, über den Tod errungen hat, also das hei­ lige Kreuz, als aufblitzendes und funkelndes helles Lichtzei­ chen.«39 Einmal abgesehen von Cyrills hochtrabenden Schmeicheleien an die Adresse seines kaiserlichen Herrn, sind diese vier Zitate von erheblicher Bedeutung für uns. Ganz unmissverständlich spricht 76

der Bischof hier aus, dass sich bereits ein gewaltiger Kult um die materiellen Überreste des Kreuzes entwickelt hat; er berichtet, dass Splitter des lignum crucis weite Verbreitung gefunden haben und dass das Holz während der Regierungszeit Konstantins ent­ deckt wurde. Direkter hätte er es kaum sagen können. Wie Helena und ihr Sohn begriff Cyrill, welche Macht in den heiligen Stätten und den dort zutage geförderten Reliquien steck­ te und wie notwendig ein Christentum war, das sich nicht auf eso­ terischen Spiritualismus, sondern auf die Bedürfnisse des Volkes stützte. »Solltet ihr geneigt sein, daran (an der Kreuzigung) zu zweifeln«, riet er seinen Schülern, »so werdet ihr allein widerlegt durch die Stätte, die jedermann besichtigen kann, dieses gesegne­ te Golgatha... wo wir gerade versammelt sind.«40 Cyrill sprach die Bedürfnisse von Christen an, die empfanden wie der Pilger von Bordeaux (er besuchte das Heilige Land im Jahre 333 und hat­ te bei jeder der von ihm besuchten Stätten eine ganz bestimmte Bibelstelle im Kopf).41 Auch in den Katechesen verwies der Bi­ schof direkt auf die historischen Quellen, die Galiläa zu bieten hatte: den Ölberg, Gethsemane, Golgatha, Bethlehem, das Haus des Kaiaphas, das leer stehende praetorium des Pilatus und andere vergleichbare Stätten. Er erkannte, dass der Glaube künftig auf Reliquien und Orten, auf der Erinnerung an Ereignisse und deren Einbeziehung in die liturgischen Gebräuche der Kirche aufbauen würde. Vor allem sah er, dass das lignum crucis eine unvergleichliche magische Kraft besaß, dank derer Ungläubige zur Übernahme der wahren Religion bewegt und Gläubige davon überzeugt werden konnten, dass die Grabeskirche »der Mittelpunkt der Welt« sei. Mit dem Verschenken von Kreuzpartikeln konnte man diese Bot­ schaft zudem im Nu an alle weitergeben, die unfähig oder nicht bereit waren, eine beschwerliche Wallfahrt nach Jerusalem zu un­ ternehmen. Kein Wunder also, dass Euseb, der befürchten musste, dass sein Caesarea von dem nachgeordneten Bischofssitz in den Schatten gestellt würde, sich in seiner Vita Constantini weigerte, die Kreuzauffindung an die große Glocke zu hängen. Für die Behauptung des Cyrill, dass Partikel des Kreuzes sich »über die ganze Welt« verbreiteten, gibt es Quellenbelege. Schon 359 rühmte sich ein »Martyrium« bei Tixter in Mauretanien, es

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beherberge einen dieser Splitter als Andenken, als »memoria sa(n)cta de ligno crucis«.42 Nach den Worten des Gregor von Nyssa pflegte der 379 verstorbene heilige Macrina ein Stückchen des Kreuzes in einem Medaillon bei sich zu tragen.43 Gegen Ende des vierten Jahrhunderts schreibt Johannes Chrysostomos, jeder­ mann »reiße sich« um Splitter vom Holz.44 Zu Beginn des fünften Jahrhunderts sind sie, wie Quellen belegen, nach Gallien, Afrika, Kleinasien, Syrien, Italien und anderswohin gelangt.45 In einem 403 verfassten Brief an Sulpicius Severus, dem ein solcher Splitter beigegeben war, erklärte Paulinus von Nola, Zweck der Reliquien sei es, die innere Vision der Kreuzigung mit Leben zu erfüllen: »Mit seinem geistigen Auge wird man in diesem winzigen Stückchen die ganze Bedeutung des Kreuzes sehen.«46 Diejenigen, die höhere religiöse Ansprüche hatten, wurden an­ gesichts der Verbreitung dieser Splitter argwöhnisch. Anlässlich einer der jährlichen Kreuzverehrungen mahnte Hieronymus, es sei kein besonderes geistiges Verdienst, solche Holzreliquien zu besichtigen oder zu besitzen: »Mit dem Kreuz meine ich nicht das Holz, sondern die Passion. Dieses Kreuz gibt es in Britannien, in Indien, in der ganzen Welt... Wohl dem, der alles im eigenen Herzen trägt: das Kreuz, die Auferstehung, die Stätten von Chris­ ti Geburt und von Christi Himmelfahrt.«47 Ambrosius war zwar von heiliger Ehrfurcht gegenüber Hele­ nas Entdeckung erfüllt, befürchtete aber sichtlich, dass jemand versucht sein könnte, das Holz selber anzubeten, »denn das ist der Irrtum der Heiden und die Torheit der Sündigen«.48 Aber derlei hochgelehrte feine Unterscheidungen machten keinerlei Eindruck auf die Tausende, die nach Jerusalem strömten, um das Holz zu sehen, von dem Cyrill in so verzücktem Ton sprach. Von diesem Phänomen zeugt noch heute eine außeror­ dentliche Quelle: der Bericht der Pilgerin Egeria, die den Vorderen Orient zwischen 381 und 384 bereiste. Es ist reiner Zufall, dass er überhaupt erhalten geblieben ist; siebenhundert Jahre lang war er verschollen und wurde erst im ausgehenden neunzehnten Jahr­ hundert in einer Abschrift wieder entdeckt. Dass es ihn aber noch gibt, ist für den, der die Geschichte des Kreuzes schreiben will, von unermesslichem Wert. Egerias mitunter atemloser Bericht ent­ hält eine wunderbar detaillierte Schilderung der Jerusalemer Li­

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turgie, die sich unter Cyrills Federführung herausgebildet hatte und in der Folge weiterentwickelt wurde. Wir werden ihr noch einmal zu Beginn des nächsten Kapitels begegnen; dort sehen wir eine Frau vor uns, die ihre Leser nicht im Zweifel darüber lässt, dass für die Pilger, die wie sie von weit­ her angereist waren, um die vermeintlichen materiellen Überres­ te jenes Kreuzes zu besichtigen, an dem Jesus gestorben war, das Berühren des Holzes und des Titulus ein leidenschaftliches, erre­ gendes Erlebnis war. Nachdem die Gläubigen die Holzteile ge­ küsst hatten, begaben sie sich in den Innenhof der Kirche - der so voller Menschen war, »dass man die Tore nicht öffnen kann«. Drei Stunden lang folgten sie dort den Bibellesungen, dem Vortrag von Texten über die Leiden Christi und von Stellen aus den Prophe­ ten, die seine Passion vorhergesagt hatten:

»Bei den einzelnen Lesungen aber kommt es zu einer großen Rührung und zu solchen Klagelauten im ganzen Volk, dass es verwunderlich ist. Es gibt niemanden, weder alt noch jung, der nicht während dieser drei Stunden des Tages so sehr weint, wie man es nicht für möglich halten möchte - (und zwar) weil der Herr das für uns gelitten hat. Wenn schon die neunte Stunde begonnen hat, wird die Stelle aus dem Johannesevangelium vorgelesen, wo er seinen Geist aufgab; auf diese Lesung folgen ein Gebet und die Entlassung.«49 Nicht minder interessant ist Egerias Bericht von der Enceniae, ei­ nem Weihgottesdienst am 3. Mai, den man für den Tag der Kreuz­ auffindung hielt. Am zweiten Tag dieses Festes wurde das Kreuz wie am Karfreitag öffentlich gezeigt:

»Wenn dann die >Tage der Weihe< gekommen sind, wird acht Tage lang gefeiert. Schon sehr viele Tage vorher beginnen Scharen von überall her zusammenzukommen, nicht nur Mönche und Apotaktiten aus den verschiedenen Provinzen, das heißt aus Mesopotamien, Syrien, Ägypten oder der Thebais, wo es sehr viele Mönche gibt, sondern auch aus allen an­ deren verschiedenen Orten und Provinzen. Es gibt nieman­ den, der an diesem Tag nicht zu einem so bedeutenden 79

Freuden- und Ehrentag nach Jerusalem ziehen möchte. Welt­ liche Personen, Männer und Frauen aus allen Provinzen, ver­ sammeln sich wegen dieses heiligen Tages in gleicher Weise mit gläubigem Herzen in Jerusalem. Bischöfe aber sind in die­ sen Tagen - wenn es wenige sind - mehr als vierzig oder fünf­ zig in Jerusalem; mit ihnen kommen viele Kleriker. Was soll ich weiter erzählen ? Wer an diesen Tagen nicht bei den großen Feierlichkeiten dabei gewesen ist, glaubt, eine sehr große Schuld auf sich geladen zu haben, wenn es keinen Grund gab, der einen von dem guten Vorsatz abgehalten hat.«50 Egerias schwärmerische Schilderung bietet einen einzigartigen Einblick in das Denken und Fühlen der Pilger im vierten Jahrhun­ dert. Erwähnt sie einmal die Beschwerlichkeiten der Reise, so setzt sie gleich hinzu: »... wenn man überhaupt von Mühe sprechen kann, wo ein Mensch sieht, dass sein Verlangen erfüllt wird« .51 Al­ lein der Ton, den sie anschlägt, sagt etwas über die Mühen, die Männer und Frauen bereitwillig auf sich nahmen, um die heiligen Stätten und ihre Reliquien zu sehen.52 Mit Freuden ergriff sie, wie andere Pilger auch, die von der konstantinischen Kirche gebotene Chance, den Glauben an Örtlichkeiten zu binden, die in den Evan­ gelien beschriebene konkrete Welt mit den Sinnen zu erleben. Schon das allein war eine grundlegende Neuerung in der Ge­ schichte des Christentums als Volksreligion. Aber Egerias Bericht ist noch aus einem anderen Grunde bedeutsam: Er zeigt nämlich zweifelsfrei, dass man vor ihrer Pilgerfahrt in Jerusalem etwas ent­ deckt und aufgefunden hatte, dass die Nachricht von dieser Ent­ deckung bis in die entlegensten Winkel der in Entstehung begriffe­ nen christlichen Welt gedrungen war und dass die unmittelbare Berührung mit diesem großartigen Fund bereits als eines der tief­ greifendsten Erlebnisse galt, die der neue Glaube zu bieten hatte. Wer hatte dieses Etwas gefunden? In der Regel wird angenom­ men, Ambrosius und seine Nachfolger hätten die Helena-Legen­ de auf die Jerusalemer Tradition aufgepfropft.53 Demnach wären jene Rhetoriker und Geschichtsschreiber, die uns die Geschichte von Helenas Entdeckung hinterlassen haben, schlicht und einfach Propagandisten gewesen, die den Namen von Konstantins Mutter allein aus politischen Gründen in Zusammenhang mit der Aus80

grabung dieser allerheiligsten Reliquie brachten. Auch mit einer solchen Deutung überschätzt man die Rolle, die die reine Erfin­ dung in der Überlieferung der Spätantike gespielt hat. Ambrosius konnte es sich keineswegs erlauben, in seiner Rede am Sarg des Theodosius eine solche Behauptung einfach aus der Luft zu grei­ fen und seinen hochrangigen Zuhörern als Tatsache zu präsentie­ ren. Dieser Augenblick wäre denkbar ungeeignet gewesen, um ei­ ne These in den Raum zu stellen, die - wie viele heutige Forscher geltend machen - wirklich durch nichts begründet war. Ambrosi­ us muss aus einer Quelle geschöpft haben, die tiefer und reicher war als seine Phantasie. Es gibt keinen zwingenden Grund für die Annahme, dass er das von ihm Gesagte nicht glaubte. Andere vor ihm müssen es gleichfalls geglaubt haben. Die entscheidende Fra­ ge lautet daher, warum man es nie auch nur entfernt für möglich gehalten hat, dass seine Aussagen authentisch waren. Helena, die Mutter Konstantins, starb 328 oder Anfang 329, nicht lange nach ihrer Rückkehr aus dem Heiligen Land. Ihr Werk war noch nicht vollendet, aber sie hatte eine Reihe bedeutsamer - reli­ giöser, dynastischer und kultureller - Vorhaben auf den Weg ge­ bracht. Vom niederen Rang einer stabularia war sie aufgestiegen zu einer Stellung von beinahe kosmischer Bedeutung am Firma­ ment der spätrömischen Welt. Ihr war fast ebenso sehr wie ihrem Sohn jene überwältigende Macht zugefallen, die mit der Stiftung einer Staatsreligion verbunden ist, mit der Errichtung eines Glau­ benssystems, das die Macht des Staates und die Macht eines ei­ fernden Gottes zu einem Ganzen synthetisiert. In Rom hatte sie ohne Skrupel die Feinde ihrer Dynastie vernichtet; im Heiligen Land hatte sie die Umwandlung des Christentums von einem durch und durch privaten Glauben in eine imposante öffentliche Religion betrieben. Ihre große Reise wurde zum Vorbild für die höheren Stände, die sich bemühten, ihren Glaubenseifer, eusebia, unter Beweis zu stellen.54 Die Kaiserin Eudokia, Gemahlin des Theodosius II., un­ ternahm 438 eine Wallfahrt ins Heilige Land, die im Grunde eine unverhohlene Hommage an ihre berühmte Vorgängerin war. Eu­ dokia nahm an der Einweihung diverser Kirchen teil und betete am leeren Grab, wo sie »wie eine bußfertige Jungfrau« nieder81

kniete. Natürlich hatte die Demut ihre Grenzen: Bei ihrer An­ kunft in Jerusalem saß die Kaiserin in einer mit Gold und Edel­ steinen verzierten Kutsche, eskortiert von einer Einheit der kai­ serlichen Garde. Aber der Anblick einer Augusta, die vor den heiligen Stätten niederkniet, muss Aufsehen erregend gewesen sein. Später, als Kaiser Marcianus 451 von den Bischöfen in Chalkedon zum »neuen Konstantin, neuen Paulus, neuen David« er­ hoben wurde, wurde seine Gemahlin Pulcheria als »neue Helena« gepriesen. Zu dieser Zeit war der Kult der großen Kaiserin un­ leugbar schon fest etabliert. Nachahmung war der erste Lohn, den die Nachwelt für sie be­ reithielt. Aber Helena hatte weit mehr getan, als einen auf ihre Per­ son gerichteten Kult zu stiften. Sie hatte mitgeholfen, ein christli­ ches Kaiserreich zu begründen und dem neuen Bündnis zwischen Gott und Kaiser mit ihrer mutmaßlichen Entdeckung des Kreuzes eine sichtbare Gestalt zu geben. Diese Kreuzauffindung sollte ge­ waltige Folgen für die Geschicke der Menschheit haben. Ein heute vergessener kirchlicher Autor des späten neunzehnten Jahrhun­ derts formulierte es so: »Wir könnten mehreren Holzpartikeln nachforschen, die aus Jerusalem weggebracht wurden, und damit vor Augen führen, wie der Einfluss des Kreuzes sich hierhin und dorthin verbreitete und sich überall im Leben und Handeln Euro­ pas und in der europäischen Geschichte geltend machte.«55 Das Schicksal des Jerusalemer Hauptfragments ist unbekannt; man weiß lediglich, dass es auf dem von der Sonne versengten Schlachtfeld bei Hattin im Jahre 1187 verloren ging und seither zum Gegenstand von Mythenbildung, Geheimkulten und Ge­ heimwissen geworden ist. Aber als kluge Investorin ließ Helena nicht den gesamten heiligen Fund zurück. Ein entscheidendes Stück davon hatte sie vorausgeschickt nach Rom, in ihren impo­ santen Sessorianischen Palast. Heute ist aus ihrem ehemaligen Wohnsitz eine Kirche geworden, eine Kirche in der Obhut von Zisterziensermönchen, die dort schweigend durch dunkle Hallen und Gänge wandern. In einer verschlossenen Glasvitrine in der von Mussolini erbauten Reliquienkapelle wird der Titulus Crucis aufbewahrt, das mutmaßliche Kopfbrett, das die Kaiserin vor sechzehn Jahrhunderten wieder entdeckt hat. In diesen kalten Raum mit seinen Geheimnissen führt uns nun unsere Suche. 82

4. Wie ein Stück Walnussholz Geschichte machte ... dann sehnen sich die Menschen danach, auf Wallfahrt zu gehen, und erfahrene Pilger zieht es zu fremden Gestaden, zu weit entfernten Schreinen, die in verschiedenen Ländern bekannt sind. Chaucer, The Canterbury Tales Der Patriarch setzte sich auf seinem Thron wieder in Positur und griff nach dem Miniaturbild, das an einer Kette um seinen Hals hing. »Selbst eine kleine Öllampe«, sagte er, »kann einen großen Raum erhellen.« William Dalrymple, Front the Holy Mountain

Sammlerstücke Es ist Karfreitag in Jerusalem, und wir schreiben das Jahr 383 n. Chr. Eine heilige Handlung wird begangen und beobachtet: »Vor (den Bischof) wird ein mit Leinen gedeckter Tisch ge­ stellt, und die Diakone stehen um den Tisch herum. Dann wird ein vergoldetes Silberkästchen gebracht, in dem sich das heilige Holz des Kreuzes befindet; es wird geöffnet, das Kreuzesholz wird herausgehoben und zusammen mit der (Kreuzes-)Inschrift auf den Tisch gelegt. Wenn es nun auf den Tisch gelegt worden ist, hält der Bischof im Sitzen die beiden Enden des heiligen Holzes mit den Händen fest; die Diakone aber, die (um den Tisch) herum stehen, bewachen es. Es wird deshalb so bewacht, weil es üblich ist, dass das Volk, einer nach dem anderen, kommt, sowohl die Gläubi­ gen als auch die Katechumenen. Sie verbeugen sich vor dem Tisch, küssen das heilige Holz und gehen weiter. Und weil irgendwann einmal jemand zugebissen und einen Splitter vom Kreuz gestohlen haben soll, deshalb wird es nun von

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den Diakonen, die (um den Tisch herum) stehen, so be­ wacht, dass keiner, der herantritt, wagt, so etwas wieder zu tun.«1 Dies ist die früheste erhalten gebliebene Schilderung von der Ver­ ehrung des Kreuzes und von der Inschrift des Pilatus, dem Titulus, in Jerusalem. Es ist ein unschätzbarer, aufregender Augenzeugen­ bericht von einem liturgischen Ereignis, voller mystischer Bedeu­ tung. Und wir verdanken diese Schilderung Egeria, der Pilgerin aus dem vierten Jahrhundert, die wir in Kapitel 3 vorgestellt ha­ ben. Wie wir sahen, ließen sich Gläubige überall im Römischen Reich von Kaiserin Helenas Gründung einer christlichen Archäo­ logie - denn darauf liefen ihre Ausgrabungen hinaus - inspirie­ ren. Ihre Reise nahmen sich andere Frauen zum Vorbild, die ihre Frömmigkeit dadurch unter Beweis stellten, dass sie die Kirchen aufsuchten, die Helena in Jerusalem und Bethlehem hatte erbau­ en lassen. Während des Aufenthalts im Heiligen Land forschten diese Frauen auch nach Spuren anderer biblischer Stätten - sie suchten das Haus des Petrus in Kapernaum, das Dorf Nazareth, das Dörfchen Emmaus. Die meisten dieser frühen Pilger aus der Zeit nach Konstantin schrieben ihre Erlebnisse nicht nieder, oder wenn sie es taten, führten sie Tagebücher, die nie für eine Veröf­ fentlichung bestimmt waren. Nur zwei derartige Berichte aus dem vierten Jahrhundert, dem Jahrhundert Helenas, sind erhalten geblieben. Der erste wurde wenige Jahre nach dem Besuch der Kaiserin verfasst, und zwar 333 von einem unbekannten Pilger aus Bordeaux; er ist eigentlich eher ein ausführliches Reisejournal als eine persönliche Schilde­ rung. Der zweite Bericht aber ist von anderer Art. Er besteht aus einer Reihe von Briefen, die an eine Gruppe frommer Frauen ge­ schickt wurden und die nicht etwa ein bejahrter Kaufherr oder ein kühner Ritter verfasst hat und auch kein mit großem Gefolge rei­ sender Bischof, sondern eine vermutlich spanische Dame, die zwi­ schen 382 und 384 n. Chr. die heiligen Stätten besuchte. Sie hieß Egeria oder vielleicht auch Aetheria - fast alles, was wir über sie wissen, ist den erhalten gebliebenen Teilen ihres Buches entnom­ men. Aber da Anfang und Ende des Textes (die uns zweifellos über

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ihre Identität Aufschluss gegeben hätten) verloren gegangen sind, ist ihr Name nur durch den Brief eines spanischen Abtes, Va­ lerius von Bierzo, überliefert, der 695 n. Chr. starb, rund dreihun­ dert Jahre nach ihrem eigenen Tod.2 In verschiedenen hand­ schriftlichen Kopien dieses Briefes über die faszinierende Frau wird sie Egeria, Aetheria oder Etheria genannt. Wer also war sie? In der römischen Mythologie bedeutet Aetheria »die Luftige«, während Egeria eine Quellnymphe ist. Ihre Heimat kann Süd­ frankreich (Aquitanien) oder auch, wie die meisten Forscher annehmen, Nordspanien (Galizien) gewesen sein. Reich genug, um sich bei ihrer Pilgerfahrt nach Jerusalem den Umweg über Konstantinopel (Byzanz) leisten zu können, hielt sie sich lange in der Region auf, reiste ausgiebig in Galiläa und Samaria umher, be­ suchte zweimal Ägypten, sah Edessa - heute Urfa - und kehrte schließlich nach drei Jahren heim. Sie konnte Griechisch, schrieb aber Latein, die Sprache des Westens - nicht das klassische Latein Ciceros oder Senecas, sondern ein grobes, alltagssprachliches Idi­ om, in dem bereits die Anfänge des Spanischen erkennbar sind. Egerias Ehrgeiz zielte nicht aufs Literarische, sondern war auf Praktisches gerichtet. Als fromme Kundschafterin wollte sie ihre Freundinnen zu Hause wissen lassen, wie die heiligen Stätten aussahen, und vor allem, wie die großen Feste des christlichen Jahres dort begangen wurden. In ihren Augen hatte die Liturgie in Jerusalem Vorbildfunktion für die Kirche als Ganzes, und das zu einer Zeit, als Rom bereits dabei war, eine Vormachtstellung in der Christenheit zu erringen. Hier, und nur hier, in Jerusalem, konnten Christen die Einheit von Zeit und Raum erfahren und festlich begehen; nur hier war es möglich, in den Herzen der Gläubigen vergangenes und gegenwärtiges Heil zu verknüpfen. Für Egeria waren das Kreuz und der Titulus die sichtbaren Zei­ chen dieser Einheit, nicht nur Talismane oder Reliquien, sondern leibhaftiges Zeugnis universaler Wahrheiten. Dementsprechend bemüht sich Egeria, das, was sie sieht, so de­ tailliert und anschaulich wie möglich zu schildern: Auch diejeni­ gen, die nicht in eigener Person zu den heiligen Stätten pilgern können, sollen mit ihrem inneren Auge sehen, was sie erblickte. Und denjenigen, die selbst die Pilgerfahrt unternehmen wollen, können die Briefe als unentbehrlicher Reiseführer dienen. 85

Um ihren Ehrgeiz angemessen zu würdigen, müssen wir daran denken, welche Bedeutung für die frühchristliche Kirche die Idee des Zeugnisses hatte, wie wichtig es war zu sehen und zu berühren. Paulus hatte den Korinthern deutlich gesagt, dass sie nach Jerusalem gehen konnten, um dort die Stätten zu sehen und Zeugen zu befragen. Darin lag die Bedeutung seines Hinweises auf die »mehr als fünfhundert Brüder«, die den auferstandenen Christus gesehen hatten und von denen die meisten noch am Le­ ben waren.3 Ganz ähnlich hatten auch der Evangelist Johannes und mit ihm der Verfasser des Hebräerbriefs betont, dass es sich bei Golgatha und dem leeren Grab um wirkliche Orte handelte, die den Zeitgenossen bekannt waren und nicht weit weg von der Stadtmauer lagen.4 Und es gab eine noch ältere Aufforderung an die Pilger, zur hei­ ligsten Stadt Gottes zu ziehen und sie sich anzusehen, die vorvä­ terliche Weisung in Psalm 122: »Ich freute mich über jene, die so mir sagten: >Lasset uns zum Haus des Herrn gehen! < Unsere Füße stehen in deinen Toren, Jerusalem.« Beim Heiligen Grab findet sich ein eindrucksvoller Beleg dafür, dass einige der frühesten christlichen Besucher von jenseits des Mittelmeers glaubten und ausdrücklich bekundeten, der Weisung des Psalms mit ihrem Be­ such Folge zu leisten. In den Stein des Abhangs von Golgatha ritz­ ten sie den einfachen Umriss eines Bootes, unmittelbar unterhalb des Tempels der Venus, den Kaiser Hadrian im Jahre 135 n. Chr. auf der Hügelkuppe hatte errichten lassen. »Domine ivimus«, lautet die lateinische Inschrift unter dem Boot: »Herr, wir sind an­ gekommen!«5 Dieses ungewöhnliche Graffito - ein inbrünstiger Ausruf, der durch die Jahrhunderte zu uns dringt - ist noch heute zu sehen. Wir werden im folgenden Kapitel auf seine Bedeutung zurückkommen. Wie vor ihr Helena wusste auch Egeria, was sie tat. Damals wie heute gab es viele Gründe, eine Pilgerfahrt zu unternehmen, per­ sönliche, politische oder monastische. Aber für fromme Christen war der alles überragende Grund das Verlangen nach Empirie, das Bedürfnis, die Steine und heiligen Reliquien zu sehen und zu berühren, die einer spirituellen Botschaft körperliche Form ver­ liehen. Zum ersten Mal in der Religionsgeschichte der mittelmeerischen Welt war ein Glaube entstanden, der seine Anhänger

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nicht einfach nur an ein Pantheon von zumeist abwesenden gött­ lichen Mächten verwies, nicht bloß an die Mythen von Gotthei­ ten, mit deren marmornen Standbildern Stadt und Land übersät waren. Im christlichen Glauben war der eine und einzige Gott in Jesus Mensch geworden, ein Mensch mit normalen Neigungen und Gewohnheiten, den viele gesehen hatten. Die Augenzeugen die »fünfhundert« des Paulus und viele mehr - behaupteten zu wissen, wo er in Bethlehem zur Welt gekommen und wo er in Na­ zareth aufgewachsen war, wo er in Kapernaum gelebt und wo er das Abendmahl mit seinen Jüngern gefeiert hatte, wo er von Pila­ tus verurteilt, wo er gekreuzigt und bestattet worden war, wo er sich nach seiner Auferstehung seinen Jüngern gezeigt hatte und sogar, wo er zum Himmel aufgefahren war. Solche Dinge zu wis­ sen hieß selbstverständlich nicht, sie erklären oder auch nur ver­ stehen zu können. Dennoch bleibt bemerkenswert, dass sich diese Tradition der Verehrung heiliger Stätten so nachdrücklich in ei­ nem Landstrich erhalten hatte, in dem sich die vom Neuen Testa­ ment geschilderten Ereignisse zwischen dem Tode Jesu und dem vierten Jahrhundert abspielten.6 Christliche Grundvorstellungen sind unserer Kultur so tief eingepflanzt, dass man leicht darüber vergisst, wie revolutionär sie in den ersten Jahrhunderten des neuen Glaubens gewirkt ha­ ben müssen. Was da vorgestellt wurde, war schließlich einzigar­ tig, ohne Beispiel in der Geschichte der Menschheit: ein Gott, der Menschengestalt angenommen hatte, während er gleichzeitig Gott als ein geistiges Wesen geblieben war. Paulus versuchte, dafür Worte zu finden, als er seinen Brief an die Korinther mit ei­ ner Formulierung beschloss, die alle Christen auswendig kennen: »Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des heiligen Geistes sei mit euch allen!«7 Am Ende des Matthäusevangeliums beauftragt Jesus seine An­ hänger, in die Welt hinauszuziehen und »alle Völker« zu taufen, und zwar »auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des hei­ ligen Geistes«.8 Der Sohn, der Herr Jesus Christus, hatte unter den Menschen gelebt. Er war Fleisch geworden in einer Welt, in der Gottheiten wie Pilze aus der Erde schossen und Opfer forder­ ten, sich allerdings nicht gleichzeitig dazu herabließen, wie Sterb­ liche unter den Sterblichen zu wandeln. 87

Deshalb war, wie im vorangegangenen Kapitel bemerkt, Hadri­ ans Bauprojekt so wichtig für die frühen Christen, denn es steckte unbeabsichtigt genau den Ort ab, an dem die düstersten und größ­ ten Ereignisse in Christi Leben stattgefunden hatten. Und die Pil­ ger kamen und trafen am Felsen außerhalb des Tempelbezirks ein: »Domine ivimus«. Aber galt ihre Begeisterung überhaupt etwas historisch Wirkli­ chem? Was war das für ein Ding, das Egeria sah und berührte und das so viele andere vor ihr geküsst hatten ? War es eine Fälschung? Ein raffiniert zurechtgemachtes Artefakt? Oder ein echtes Ob­ jekt, das mit dem Leiden und Sterben Jesu verknüpft war? Wie im letzten Kapitel angemerkt, werden weltweit Tausende Splitter vom Wahren Kreuz aufbewahrt (wenn auch nicht genug, um wie manche Kritiker gespottet haben - sich zu ganzen Wäldern zu addieren oder auch nur den Schaft eines einzigen römischen Kreuzes zu ergeben9). Wie wir gesehen haben, erheben viele Kult­ orte nach wie vor Anspruch darauf, ein echtes Bruchstück der Vera Crux zu besitzen, als Wahrzeichen ihrer behaupteten Ver­ bindung mit der göttlichen Macht. Der Titulus allerdings ist nur an einem einzigen Ort erhalten geblieben, falls er denn erhalten geblieben ist. Nur eine einzige Kirche beziehungsweise Reliquiensammlung erhebt heute An­ spruch auf den Besitz der Inschrift auf dem Kreuz Jesu oder eines Teils dieser Inschrift: Santa Croce in Gerusalemme, eine Kirche an der Peripherie des antiken Rom, eine der sieben offiziellen Pilger­ kirchen in der Ewigen Stadt. Der Name dieser Kirche ist an sich schon interessant - Jerusa­ lem in Rom; er weist darauf hin, dass Helena den Kreis der Ge­ schichte ihres Glaubens zu schließen versuchte. Im ersten Jahr­ hundert waren Petrus und Paulus aus Jerusalem gekommen, um die Gemeinden in der Stadt des Kaisers zu stärken.10 Und hier starben sie den Märtyrertod, Petrus nach der Überlieferung in Neros Vatikanischen Gärten, Paulus als römischer Bürger an einem Ort, der heute Tre Fontane heißt. Ihre - archäologisch gut beglaubigten - Begräbnisstätten kann man besuchen: in den vati­ kanischen Scavi (dem Ausgrabungsareal des Neronischen Fried­ hofs) und unter der Kirche von San Paolo fuori le Mura. Helena wandelte in ihren Spuren. Nach ihren großen Entdeckungen hät-

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te sie sich ihrem Sohn in Byzanz - seiner neuen Hauptstadt, die bald schon Konstantinopel heißen sollte - anschließen können, und nichts hätte sie gehindert, in ihre vorherige Residenz in Trier oder zu einem ihrer früheren Wohnsitze in Naissus oder gar in York zurückzukehren. Sie traf indes eine für ihren unabhängigen Geist typische Entscheidung. Sie schickte einige der Reliquien, die sie auf Golgatha gefunden hatte, ihrem Sohn und reiste an­ schließend nach Rom zurück, in die Stadt, in der Petrus und Pau­ lus den Ruhm des Märtyrertodes erlangt hatten und deren Bi­ schof bereits anfing, Anspruch auf die Obergewalt über alle anderen Bistümer im Reich zu erheben. In Rom angekommen, nahm Helena erneut ihren Wohnsitz im Sessorianischen Palast, einer aufwendigen kaiserlichen Villa, die Septimius Severus er­ baut und Heliogabal, ein Anhänger orgiastischer syrischer Son­ nenkulte, der 222 n. Chr. ermordet worden war, vollendet hatte. Die Villa lag ideal, nahe einer Hauptstraße, die aus der Stadt aufs Land hinausführte; ein Amphitheater, ein Zirkus und öffentliche Bäder, die sie nach einem Brand wiederherstellte und verschöner­ te, ließen sich zu Fuß erreichen. Ihr Palast ist heute die Kirche von Santa Croce in Gerusalemme. Natürlich nicht ganz: Von der Straße aus präsentiert sich die Kirche als barockes Bauwerk, während die Seitenkapelle mit dem Reliquarium ein typisches Beispiel der frühen Architektur des Fa­ schismus Mussolinis ist; die unteren Teile der Nordwestfassade allerdings stammen aus dem vierten Jahrhundert, und die Reste des Sessorianischen Palastes hat man in dem an die Kirche an­ grenzenden Gelände ausgegraben. Sogar ein paar Mauerreste des Amphitheaters gibt es dort noch; man hat sie einem italienischen Militärmuseum eingegliedert. In ihrem Palast in Rom versammelte Helena die Objekte, die sie aus Jerusalem mitgebracht hatte.11 Dass sie eine Kapelle dafür baute, ist wenig wahrscheinlich, geht man von der eigenwilligen Verwendung aus, die sie für die Nägel vom Kruzifix fand. Nach Ambrosius12 - dem Bischof, dem wir schon früher begegnet sind ließ Helena den einen Nagel in das Zaumzeug eines Pferdes einar­ beiten und aus dem anderen ein Diadem fertigen und schickte bei­ des ihrem Sohn - der das Zaumzeug brav für sein Lieblingspferd benutzte.13 Es darf bezweifelt werden, dass die christliche Ge­ 89

meinde in Rom Zugang zu den Reliquien in ihrem Palast hatte; es gibt jedenfalls keine Quellen aus der Zeit, die über ähnliche litur­ gische Szenen in Rom berichten, wie sie uns Egeria so anschaulich aus Jerusalem schildert. Helenas Funde scheinen also ihr Privatbesitz geblieben zu sein, eifersüchtig gehütete Zeugnisse ihrer Bedeutung und erhabenen Stellung als einflussreiche Mutter des Kaisers. Erst in der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts, nachdem sowohl Helena als auch Konstantin gestorben waren, wurde die Erlaubnis erteilt, die größte Halle des Palastes in eine Kirche zu verwandeln. Es war ein geräumiger, aber wenig eindrucksvoller Raum, 36,46 Meter lang, 21, 80 Meter breit und nicht weniger als 22,15 Meter hoch. Eine Apsis kam hinzu, die nach Südosten, das heißt, in Richtung Jeru­ salem, wies; aus einem daneben liegenden Flur des Palastes wurde ein Seitenschiff, und den direkten Zugang zum Palast versperrte man. Durch einen Gang, der um die Apsis lief, schuf man Zugang zu einem weiteren Raum. Dieser Raum, der heute Helena-Kapel­ le heißt, diente damals als Aufbewahrungsstätte für die Reliquien aus Jerusalem; er ist der einzige Ort innerhalb der Kirche von Santa Croce in Gerusalemme, wo man heute noch Mauerwerk aus dem vierten Jahrhundert sehen kann. Der einzige »archäologische« Fund, der sofort angeblich der Kirche von Rom übergeben und der Öffentlichkeit zugänglich ge­ macht wurde, war die aus dem Prätoium stammende berühmte Scala Santa (oder Heilige Treppe), die sich heute gegenüber der Kirche San Giovanni in Laterano befindet. Mit der Kaiserin ist sie nur durch die allerdürftigste späte Legende verknüpft und kann schwerlich Anspruch auf Echtheit erheben. Zu Helenas Zeiten war das gesamte Gelände mit einer ausgedehnten Palastanlage bebaut; der Komplex wurde von Konstantin selbst dem Bischof von Rom übergeben. Bis zum heutigen Tag ist die Lateranbasilika und nicht etwa der Petersdom im Vatikan die offizielle Amtskirche des Bi­ schofs von Rom. Hier wurde die Treppe zu einem nicht bekannten Zeitpunkt platziert; man verehrte in ihr die Stufen, die Jesus auf dem Weg zum Audienzsaal des Pilatus in Jerusalem hinaufgestie­ gen war. Für Rompilger wurde sie bald schon zu einem unverzicht­ baren Programmpunkt. Auch Martin Luther, der damals noch kein Rebell war, ging auf den Knien die Stufen nach oben, als er 1510 90

Rom besuchte. Im ausgehenden sechzehnten Jahrhundert befahl Papst Sixtus V. seinem Architekten Domenico Fontana, gegenüber der Lateranbasilika eine neue Kapelle zu erbauen, und die acht­ undzwanzig Marmorstufen wurden hinübergeschafft, wo sie sich auch heute noch befinden. Die Treppe zählt nicht zu jener Art von Reliquie, die auf historische Weise mit Jesus verknüpft war und an der Helena deshalb besonders interessiert gewesen wäre. Tatsache ist nämlich, dass der römische Statthalter in Jerusalem kein festes Prätorium besaß. Der Verwaltungssitz befand sich in Caesarea; und wie seine Vorgänger und Nachfolger besuchte auch Pilatus nur bei bestimmten Anlässen Jerusalem und wohnte dann in einer der Residenzen des Herodes Agrippa. Das bedeutet, dass Macarius und sein Ausgräberteam gar nicht sicher hätten wissen können, wo sie nach den »echten« Stufen suchen mussten - falls diese überhaupt existierten. Die moderne archäologische Forschung hat nachgewiesen, dass sich das Interimsprätorium des Pilatus gar nicht dort befunden haben kann, wo die den heutigen Pilgern vor­ gezeichnete Via Dolorosa es platziert, nämlich an der Stelle der Antoniafestung (heute steht dort eine arabische Jungenschule). Viel wahrscheinlicher ist, dass sich Pilatus im südlichen Hasmonäerpalast einquartierte. Dieser Palast, der teilweise ausgegra­ ben wurde und dessen Überreste im darüber erbauten Wohl-Mu­ seum zu besichtigen sind, liegt im jüdischen Viertel der Altstadt; Spuren einer antiken Treppe finden sich dort nicht. Aber wie steht es mit den übrigen Reliquien ? Die Kirche, die an der Stelle des Sessorianischen Palastes erbaut wurde, birgt zwar vielleicht den Titulus, aber dennoch heißt sie Santa Croce in Gerusalemme und nicht, wie man vielleicht erwar­ ten würde, Santo Titolo in Gerusalemme. Das hat seinen Grund darin, dass die Inschrift immer als integrierender Bestandteil des Kreuzes betrachtet worden ist. In manchen Berichten taucht er tatsächlich gar nicht als eigenständiges Objekt auf, während er in anderen nur erwähnt wird, weil er dazu dient, das Wahre Kreuz zu beglaubigen. Es überrascht deshalb nicht, dass das Kreuzkloster in Jerusalem ebenfalls Bruchstücke des Wahren Kreuzes beherbergt, die ihm dann den Namen gegeben haben. Wie bereits erwähnt, wusste Cyrill von Jerusalem schon in den achtziger Jahren des vierten Jahrhunderts zu berichten, dass solche angeblichen

Bruchstücke verteilt wurden, und Helena wird durch die Legende von jeher mit dem Besitz und der Verbreitung von Stücken des Wahren Kreuzes in Verbindung gebracht. Die Splitter in Santa Croce sind nur leider zu klein, um sie mit irgendeinem verlässli­ chen Verfahren zu analysieren. Mehr lässt sich über den Nagel sagen, der zusammen mit dem Titulus gezeigt wird. Auch wenn Ambrosius von Mailand nur von den zwei Nägeln spricht, die Helena Konstantin schickte, leuchtet es doch ohne weiteres ein, dass es ursprünglich vier gab - zwei für die Füße und zwei für die Arme. Dank der Entdeckung des von ei­ nem Nagel durchbohrten Fersenknochens im Sarg des Yehohanan - jenes Juden aus Giv'at ha-Mivtar in Jerusalem, der im ersten Jahrhundert gekreuzigt wurde - wissen wir, dass die Künstler des Mittelalters irrten, wenn sie die Füße des Opfers übereinander ge­ legt und von einem einzigen Nagel durchbohrt malten, und dass frühchristliche Bilder wahrheitsgetreuer sind. Die Füße wurden getrennt ans Kreuz genagelt, rechts und links an dem senkrechten Balken.14 Die Arme wurden entweder mit Stricken am Kreuz fest­ gebunden oder angenagelt, wobei die Nägel nicht durch die Hand­ flächen, sondern durch die Handgelenke getrieben wurden. Im Falle Jesu berichten die Evangelien explizit, dass die Arme ange­ nagelt, nicht festgebunden wurden (Joh 20,25-28; Lk 24,}8-39).15 Was immer mit den Nägeln geschehen sein mag - einschließlich der Möglichkeit, dass sie alle von Helena und ihren Ausgräbern aufgespürt wurden - wir können jedenfalls davon ausgehen, dass es ursprünglich vier waren (in späteren Legenden findet sich noch ein fünfter Nagel). Der eine Nagel, den man in Santa Croce sehen kann, hat einen neuen Kopf. Spätere schmückende Hinzufügungen machen es ei­ nem leicht, die Echtheit von Reliquien zu bezweifeln, aber ganz so eindeutig ist die Sache nicht. Erstens ist es durchaus möglich, dass dieser angeblich beim Heiligen Grab gefundene Nagel seinen Kopf verloren hatte. Der Nagel, der im Ossuar von Giv'at ha-Mivtar ge­ funden wurde, hatte jedenfalls keinen Kopf mehr; er war offenbar unter der Wucht des Hammerschlages abgebrochen. Noch interes­ santer allerdings erscheint der Umstand, dass der Nagel in Yehohanans Fersenknochen und der in Santa Croce aufbewahrte Nagel fast gleich aussehen: Der von Yehohanan ist 12 Zentimeter lang

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und viereckig, die Seiten messen jeweils 0,9 Zentimeter. Der Nagel von Santa Croce ist ohne den neuen Kopf 11,5 Zentimeter lang und viereckig mit ebenfalls einer seitlichen Kantenlänge von 0,9 Zentimetern. Da das Ossuar des Yehohanan erst im Jahre 1968 ent­ deckt wurde, kann es sich bei dem Nagel in Rom nicht um eine kunstreiche Nachbildung des ersteren handeln. Die Übereinstim­ mung ist nahezu vollkommen. Falls der Nagel in Santa Croce eine Fälschung ist, müssen ihm Nägel von einer anderen römischen Kreuzigung als Muster gedient haben, oder er muss einer gängigen römischen Nagelform nachgebildet worden sein, die auch bei der Kreuzigung des Yehohanan Verwendung fand.16 Es erscheint aber zumindest denkbar und vielleicht sogar plausibel, dass einer der in Jerusalem ausgegrabenen Nägel bis in den Sessorianischen Palast der Helena in Rom gelangt und bis zum heutigen Tag erhalten ge­ blieben ist. Alle Quellen, in denen die Nägel erwähnt werden, stim­ men darin überein, dass Helena zumindest einige von ihnen zurückbrachte und dass nur zwei von ihnen nach Byzanz geschickt wurden. Auch hier wieder sollte die Tatsache, dass wir über keine absolut schlüssigen Beweise verfügen, uns nicht davon abhalten, uns über diesen faszinierenden Gegenstand Gedanken zu machen. Drei weitere Reliquien, die von unterschiedlich großem Interes­ se sind, werden in der Reliquienkapelle der Kirche aufbewahrt: zwei Dornen, die angeblich aus Jesu Dornenkrone stammen, ein Knochen des Fingers, mit dem der Ungläubige Thomas die Wunden des auferstandenen Christus berührte, und der Querbalken vom Kreuz des reuigen Diebes, der zusammen mit Jesus gekreuzigt wurde und den die Überlieferung unter dem Namen Dismas kennt. Dieses Holzstück gehört seit 1570 zur Sammlung der Kirche; damals fand man es in den Altarstufen der Kapelle, die der Helena geweiht ist. Zwar reicht die Holzmenge für eine dendrochronologische Untersuchung aus, aber diese ist bislang noch nicht durch­ geführt worden. Theoretisch kann ein Stück Holz dieser Größe ebenso gut überdauert haben wie winzige Bruchstücke - zumal wenn es drei Jahrhunderte lang im günstigen Klima von Jerusalem in einer alten Zisterne unter dem Hadrianstempel lag. Aber selbst wenn wir versuchshalber und ohne alle Quellenbelege einmal an­ nehmen, dass außer dem Kreuz Jesu auch noch andere Kreuze oder Teile davon erhalten blieben und aus Palästina herausgelangten, 93

fehlt uns doch jede Möglichkeit festzustellen, ob es sich dabei um das Kreuz des Dismas oder des zweiten Diebes oder um das irgend­ eines andern von jenen Hunderten handelt, die damals von den Rö­ mern auf einem Hügel wie Golgatha hingerichtet wurden. Einige Beobachter haben darauf hingewiesen, dass sich in dem DismasBalken keine Nagelspuren finden und dass dies im Einklang mit der Ikonographie vieler früher Gemälde steht, auf denen die beiden Diebe am Kreuz festgebunden sind (weshalb sie auch länger gelebt haben könnten als Jesus: siehe Joh 19,31-33). Die Enden des Bal­ kens allerdings, der heute 1,78 Meter in der Länge misst, sind ein­ deutig und säuberlich abgeschnitten - verdächtig nahe dem Punkt, an dem sich bei einem Menschen durchschnittlicher Größe die Nä­ gel befunden hätten. Zufall oder Absicht, es lässt sich unmöglich entscheiden. Bevor nicht eine dendrochronologische Analyse durchgeführt worden ist und man außerdem die pflanzlichen Res­ te, die in den Rissen des Holzes gefunden wurden, untersucht hat, ist eine sichere Beurteilung der Reliquie ausgeschlossen. Was die Dornenkrone in Santa Croce betrifft, so bringen nicht einmal Helenas glühendste Verehrer sie mit dieser Reliquie in Verbindung. Es herrscht kein Mangel an Geschichten von Kreuz­ fahrern, die nach der Eroberung von Byzanz/Konstantinopel im Jahre 1204 Dornen mit nach Hause brachten und zahlreichen Kir­ chen in ganz Europa übergaben; seit den Tagen des Kaisers Justi­ nian im sechsten Jahrhundert war in der Stadt am Bosporus die Dornenkrone verehrt worden. Aber für keine der Dornen exis­ tiert ein Echtheitsnachweis, nicht für die beiden in Rom und auch nicht für die gewichtigeren Stücke in Paris. Beim Handel mit Ob­ jekten aus Byzanz handelte es sich jedenfalls sowohl vom Umfang als auch von der Lieferkapazität her kaum um einen Handel mit anthentischen Gegenständen. Um 1237 bot König Balduin II. dem französischen König Ludwig IX. ein mittelalterliches Stirnband, das aus Gestrüpp geflochten war und ein paar Dornen aufwies, zum Kauf an; später verwöhnte er den unersättlichen Franzosen mit dem »königlichen« Purpurkleid, das die Soldaten Jesus ange­ legt hatten, um ihn zu verhöhnen (Joh 19,2), sowie dem Schwamm, mit dem man seine Lippen befeuchtet hatte, während er am Kreuz hing (Joh 19,34), mit einem Bruchstück des Speers, mit dem man ihm die Seite geöffnet hatte (Joh 19,34), und sogar 94

mit einem Stück des Grabtuches (Joh 20,5-7). ^as ahes ernst zu nehmen, fällt schwer. In Santa Croce dürfte jener Art von maßgeschneiderten Reli­ quien der Zeigefinger des Thomas wohl am nächsten kommen. Skelettreste dieses Apostels erscheinen zur Zeit des Kaisers Se­ verus Alexander (222 - 235 n. Chr.) plötzlich auf der Bildfläche. Der Legende zufolge verwandte sich dieser Kaiser, der ansonsten kaum zu prochristlichen Empfindungen neigte, für die Christen von Edessa, die die sterblichen Überreste des Heiligen, der ihre Stadt christianisiert hatte, bei sich bestatten wollten. Glaubt man den aus der Anfangszeit des dritten Jahrhunderts stammenden »Thomasakten«, so war der Apostel im südöstlichen Indien, in der nahe Madras gelegenen Stadt Mylapore, gestorben, wo sein Grab 1522 von den ersten portugiesischen Seefahrern auf einer Ent­ deckungsfahrt gesehen wurde. Severus Alexander jedenfalls soll pflichtschuldig an die Könige von Indien17 geschrieben haben, woraufhin, einer Version zufolge, im Jahre 232 n. Chr. die Gebeine des Thomas feierlich übertragen wurden - um die kirchliche Be­ zeichnung für diesen Vorgang zu verwenden.18 Als sich die musli­ mischen Heere im dreizehnten Jahrhundert Edessa näherten, wurden die Reliquien auf der Insel Chios, die laut griechischer Überlieferung der Geburtsort Homers ist, in Sicherheit gebracht und kamen schließlich nach Ortona, einer Stadt in den Abruzzen. Und dort befinden sie sich noch heute - es sei denn, man gibt der Version der indischen Christen den Vorzug, der zufolge sie nach wie vor in indischer Erde begraben liegen. Irgendwann hat sich dann ein Fingerknochen nach Santa Croce in Rom verirrt, aus welchen Gründen auch immer. Wessen Finger das war, werden wir nie erfahren. Die Zisterziensermönche und Gelehrten, die über Santa Croce und seine Schätze wachen, warnen zu Recht vor Leichtgläubig­ keit, wenn sie über diese Artefakte reden. Sie geben zu, dass im Mittelalter der Reliquienmarkt außer Kontrolle geriet und dass es möglich war, angeblich heilige Objekt mehr oder minder auf Be­ stellung zu erhalten. Und zwar in solchem Ausmaß, dass 1215 vom Vierten Lateranischen Konzil der Kauf und Verkauf von Re­ liquien ohne Echtheitsnachweis und bischöfliche Erlaubnis unter­ sagt wurde. Wie stets erwies es sich indes auch in diesem Falle als

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schwierig, den Markt zu überwachen: Echtheitsnachweise ließen sich leicht fabrizieren oder für Geld erstehen, und Reliquien zu erwerben blieb für Bischöfe, Könige und Äbte ein zu wichtiger Beweis des Ansehens und der Macht, als dass sie sich strengen Vorschriften gefügt hätten. Wie wir sahen, nahm gerade einmal zwanzig Jahre nach dem Konzil der französische König Lud­ wig IX. ebenso frohgemut wie leichtgläubig den Schwamm in Empfang, der in Joh 19,29 erwähnt wird. Ein Mann wie der sächsi­ sche Kurfürst Friedrich, der seine schützende Hand über Martin Luther hielt und ihn auf der Wartburg versteckte (wo er das Neue Testament übersetzte), besaß eine der wertvollsten Reliquien­ sammlungen in Europa - so heftig Luther auch das Umsichgrei­ fen solcher Reliquien und der Kulte, zu denen sie Anlass gaben, kritisierte. Zur Zeit des großen Reformators und noch lange da­ nach glaubte der normale Christ unbeirrt an die Heilkraft solcher Objekte und suchte mit ihnen in Berührung zu kommen, wo nicht gar sie in seinen Besitz zu bringen. Und für dieses Urbedürf­ nis fand sich in der Bibel auch eine gewisse Rechtfertigung: Die Apostelgeschichte berichtet, dass Menschen in Ephesus geheilt wurden, als sie die »Schweißtüchlein und Binden« berührten, die einst den Körper des Paulus bedeckt hatten (Apg 19,1z).19 Daraus ließ sich schließen, dass Objekte, die mit einem Apostel oder gar mit Jesus selbst in Zusammenhang gestanden hatten, über gewal­ tige Heilkräfte und eine unter Umständen Schrecken erregende Wundermächtigkeit verfügten. Das Urbedürfnis ist bis heute nicht verschwunden. In der Ka­ thedrale von San Nicola in Bari, dem Ort, wo der heilige Nikolaus von Myra begraben liegt, sahen wir, wie kleine Flaschen verkauft wurden, in denen sich allem Anschein nach einfaches Wasser be­ fand; es handelte sich dabei aber um eine Flüssigkeit, die vom marmornen Sarkophag des Heiligen heruntergetropft war. Als Wundergabe gesammelt und verkauft, wird dieses »Heilige Man­ na von San Nicola« seit dem Mittelalter als Salböl verwendet oder auch getrunken, um alle möglichen Beschwerden zu heilen. Und nicht anders als neunzehn Jahrhunderte zuvor in Ephesus gibt es immer noch einen Markt für derartige Dinge. Wie zu erwarten, genossen Dinge, die mit Jesus selbst verknüpft wurden, eine noch höhere Wertschätzung als jene, die man mit 96

nachgeordneten Personen wie Heiligen und Aposteln in Verbin­ dung brachte. Hier hatte das Angebot immer Mühe, mit der Nach­ frage Schritt zu halten. Um mit dieser Situation fertig zu werden, gab es zwei Wege: Zum einen konnte man angeblich heilige Objek­ te in kleinste Stückchen zerlegen, wie das laut Cyrill mit dem Kreuz geschah. Der andere, weniger ehrbare Weg bestand darin, Reliquien zu fabrizieren, die unverkennbar der Phantasie ent­ sprungen waren, wie etwa die Vorhaut von Jesus, die sich anschei­ nend solcher Beliebtheit erfreute, dass mehrere davon existierten. Milch der stillenden Maria, ein Milchzahn von Jesus und Haare aus seinem Bart, Krüge von der Hochzeit zu Kana, übriggebliebenes Brot von der Speisung der Fünftausend und - das Eindrucksvollste von allem - eine Träne, die Jesus vergoss, als er das Schicksal Jerusa­ lems beweinte: All das konnte man im Mittelalter bekommen (und erwarb es auch). Wenn schon der Zeigefinger des heiligen Thomas in Santa Croce absurd anmutet, was soll man dann erst zu den zwei Köpfen von Johannes dem Täufer oder zu den Flügeln des Erzen­ gels Michael sagen, die einst andernorts verehrt wurden ? Bei jeder Beschäftigung mit Reliquien und ihrem Sinn ist es von größter Wichtigkeit, sich diese Situation vor Augen zu führen. In Santa Croce in Gerusalemme lassen sich nur drei der Reliquien in der Kapelle mit einem gewissen Maß an Plausibilität mit Helena in Verbindung bringen: der Nagel, die Bruchstücke vom Kreuz und der so genannte Titulus. Von diesen dreien ist der Titulus der mit Abstand interessanteste Gegenstand, nicht zuletzt deshalb, weil er eine Inschrift trägt. Egeria, die damals, am Karfreitag des Jahres 383 n. Chr., einen Teil davon - oder etwas ihm Ähnliches - küsste, zweifelte nicht daran, dass es sich um ein Stück vom Wahren Kreuz Jesu handelte. Aber bietet uns die mo­ derne Forschung Grund anzunehmen, dass sie Recht hatte?

Der Fall des »Jesus-Fragments« In der ganzen Christenheit finden sich Kirchen mit mittelalterli­ chen oder modernen Kunstwerken, die sich auf, über oder hinter dem Altar befinden und den gekreuzigten Christus darstellen. Über seinem Kopf befindet sich oft ein stilvolles Stück Holz oder 97

Tuch mit den vier Großbuchstaben Inri, die Abkürzung des latei­ nischen Iesus Nazarenus Rex ludaeorum, zu Deutsch »Jesus von Nazareth, König der Juden«. Manchmal wird das als das heilige Monogramm bezeichnet; es handelt sich zweifellos um ein bibli­ sches Textstück, das dem Johannesevangelium 19,19 entnommen ist - oder vielmehr der lateinischen Übersetzung des ursprünglich griechischen Textes, die im ausgehenden vierten und beginnen­ den fünften Jahrhundert von Hieronymus angefertigt wurde. Das INRI-Monogramm findet heute nur noch wenig Beach­ tung, aber es gab eine Zeit, da spielte es im kirchlichen Ritual eine wichtige Rolle.20 Das Gebet gegen Gewitter und Sturm, das aus Sarum, dem mittelalterlichen Salisbury stammt, enthält folgende Passage: »Die triumphale Inschrift: Jesus von Nazareth, König der Juden - Christus triumphiert, möge Christus herrschen, möge Christus uns schützen und von allem Donner, Unwetter und jeg­ lichem Übel befreien und unser Schirm sein. Amen. Sehet das Kreuz des Herrn, fliehet ihr Feinde: Der Löwe vorn Stamme Juda, Davids Spross, triumphiert.« Dass solche Glaubensvorstellungen in England entstanden, muss nicht verwundern. Viele Bruch­ stücke vom Kreuz fanden den Weg über den Ärmelkanal, unter ihnen das Stück der Vera Crux, das Papst Marinus im Jahre 884 König Alfred übergab. Dieser Papst, ein Mann aus der Toskana, mochte die Sachsen und befreite ihr Quartier in Rom, die Schola Saxonum, von der Besteuerung; sein Geschenk war ehrlicher Ausdruck seiner Anglophilie. Wie sehr solch kostbare Objekte da­ zu beitrugen, die Frömmigkeit der Engländer zu entwickeln, dafür gibt es reichlich Belege. Dem großen protestantischen Minister Heinrichs VIII., Thomas Cromwell, wurde von königlichen Be­ auftragten berichtet, in Bury St Edmunds seien »stuke vom heylig kreutz« in Gebrauch, »wovonnen ein gantz kreutz zu ma­ chen«. Die »Triumphale Inschrift«, von der in den Horae aus Sarum die Rede ist - das heißt der Titulus, der in den vier Evangelien er­ wähnt wird - hat nach historischem Urteil wirklich existiert. Die Tatsache, dass alle vier Evangelisten von solch einer Inschrift wis­ sen, ist an sich schon überzeugend; und wie wir gesehen haben, waren Tafeln dieser Art bei Hinrichtungen in der römischen Welt

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gang und gäbe. Der Evangelist Johannes berichtet, die Inschrift sei zusammen mit Jesus vom Kreuz abgenommen worden, nachdem Joseph von Arimathia die Erlaubnis des Pilatus hierzu erlangt ha­ be (Joh 19,38).21 Joseph und seine Helfer mussten sich beeilen, da ein besonderer Sabbat bevorstand (Joh 19,31) und jegliche Arbei­ ten, auch Begräbnisse, bis Sonnenuntergang beendet sein muss­ ten. Höchstwahrscheinlich ließ man den senkrechten Kreuzbal­ ken stehen. Kreuze wurden mehr als einmal benutzt, so dass es nicht lange gedauert haben dürfte, bis ein anderer Verurteilter im Todeskampf dort hing, mit einem eigenen Titulus, der über sein Verbrechen Auskunft gab. Die Evangelien berichten uns nichts Näheres darüber, was mit Jesu Inschrift geschah. Sie an dem leeren Kreuz zurückzulassen wäre unsinnig gewesen. Wurde sie von den römischen Soldaten weggeworfen ? Wurde sie abgenommen, um zusammen mit Jesus bestattet zu werden oder um von Joseph oder einem anderen An­ hänger Jesu für die Nachwelt aufbewahrt zu werden? Mit Sicher­ heit können wir nur sagen, dass sie sich nicht bei den Dingen be­ fand, die von Petrus (Lk 24,12) und dem »Jünger, welchen Jesus lieb hatte« (Joh 20,2-8) gesehen wurden, als sie in das leere Grab hineinschauten. Das bedeutet allerdings nicht, dass es die In­ schrift nicht mehr gab. Dass die Leinentücher eigens erwähnt werden, hat natürlich seinen guten Grund: Jesus hatte seine irdi­ sche Existenz hinter sich gelassen, sie wie die Grabtücher von sich abgestreift. Wohl möglich also, dass sich weitere Objekte im Grab befanden, ohne dass die Verfasser der Evangelien sie für erwäh­ nenswert hielten. Wie dem auch sei - zwischen der Schilderung der Kreuzigung in den Evangelien und der Reiseschilderung, die rund dreieinhalb Jahrhunderte später Egeria liefert, gibt es keinen Hinweis darauf, was mit der Kreuzesinschrift passierte. Ungefähr um die gleiche Zeit aber, da Egeria ihre Schilderung schrieb, be­ gann die Erwähnung des Titulus in den Berichten von Helenas ar­ chäologischen Nachforschungen. Aber ist auch nur im Entfern­ testen vorstellbar, dass es sich bei dem Fund der Ausgräber in Konstantins Zeitalter um dasselbe Kopfbrett handelte, das man über dem Kreuz Jesu befestigt hatte? Wie im letzten Kapitel gesehen, hoben etliche der ersten Histo­ riker der frühchristlichen Zeit, angefangen beim umsichtigen

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Ambrosius von Mailand, den Umstand hervor, dass die Ausgräber drei verschiedene Balken gefunden hatten. Dass es gerade drei waren und sie nahe beieinander lagen, rief, wie vorhersehbar, Aufregung hervor - Bischof Macarius muss einigermaßen er­ leichtert gewesen sein, dass es ihm zu guter Letzt doch noch ge­ lungen war, die Erwartungen der Kaiserin zu befriedigen und für das Bistum Jerusalem Ruhm zu ernten. Warum aber wurden nur drei Kreuze entdeckt, statt Dutzende von Balken in unterschiedli­ chem Verfallszustand? Eine mögliche Erklärung könnte die Tatsache bieten, dass Holz im Gebiet von Jerusalem außerordentlich knapp war; mehr als ir­ gendwo sonst in der römischen Welt dürfte hier ein und derselbe senkrechte Balken wieder und wieder für Kreuzigungen verwen­ det worden sein. Hinzu kommt, dass in einem solchen Klima soli­ de Holzbalken ohne weiteres Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunder­ te überdauern können. Die beschriebenen Holztäfelchen aus dem ersten Jahrhundert, die mit noch absolut lesbaren Texten in Vindolanda gefunden wurden, und die jahrhundertealten Stabkir­ chen in Norwegen sind einschlägige Beispiele. An Jesu Kreuz dürften vor ihm viele andere gekreuzigt worden sein - denken wir daran, dass Jesus nur den waagrechten Balken vom Prätorium des Pilatus zur Stätte seiner Hinrichtung trug - und vermutlich auch noch viele nach ihm. Wie jeder heutige Besucher sehen kann, ist innerhalb des Heiligen Grabes auf dem Hügel von Golgatha nur begrenzt Platz. Es ist durchaus denkbar, dass drei senkrechte Bal­ ken, unter ihnen der für die Kreuzigung Jesu benutzte, viele Jahre lang auf dem Felsen an ihrem Platz standen, als finstere Zeichen einer erbarmungslosen Staatsmacht, ähnlich wie in späteren Jah­ ren die Galgen vor den Stadttoren standen. Die Kreuzigungen auf Golgatha wurden allerdings bald eingestellt. Man hat die These vertreten, es habe die Römer beunruhigt, dass ein Gekreuzigter zwei Tage nach der Hinrichtung aus seinem Grab verschwunden sei, und abergläubische Furcht habe sie bewogen, diese Hinrich­ tungsstätte aufzugeben. Das ist indes reine Spekulation. Tatsäch­ lich scheint es einen weit praktischeren Grund dafür gegeben zu haben. Wie wir gesehen haben, wurde in den Jahren 41 bis 42 n. Chr. der Verlauf der Stadtmauer geändert, da Herodes Agrippa I. den Umfang Jerusalems erweiterte.22 Plötzlich lag Golgatha nicht 100

mehr außerhalb, sondern unmittelbar innerhalb der Mauern. Nach altem Brauch durften öffentliche Hinrichtungen nicht in­ nerhalb der Stadtgrenzen vollzogen werden, sondern mussten an einer leicht zugänglichen Stelle extra muros stattfinden. Etwa elf Jahre nach Jesu Tod wurden deshalb die Kreuzigungen auf Gol­ gatha eingestellt, und die wettergegerbten, blutgetränkten Balken auf dem Hügel waren plötzlich überflüssig. Sie wurden vermut­ lich niedergerissen und in den Steinbruch beim Golgatha-Felsen geworfen - wo sie dann, wenn man den Berichten Glauben schenkt, von Helenas Leuten gefunden wurden. Aufschluss darüber, was mit dem Titulus geschehen sein könn­ te, erhalten wir durch das alles noch nicht. Zwei der Chronisten, die seine Entdeckung erwähnen, sagen ausdrücklich, er habe sich am Wahren Kreuz befunden und liefere den Beweis für dessen Echtheit.23 Ein dritter Bericht, der in Konstantinopel entstand, be­ stätigt zwar, dass der Titulus bei den Kreuzen gefunden wurde, deutet aber an, dass er nicht an einem von ihnen befestigt war.24 Wir haben bereits gezeigt, dass es tatsächlich unsinnig gewesen wäre, den Titulus nach der Kreuzigung am Balken zu lassen. Das machte für manche ein zusätzliches Wunder notwendig, durch das das Wahre Kreuz erkennbar wurde; von diesem Wunder be­ richten Theodoret von Cyrrhus und Rufinus von Aquilea.25 Der einzige frühe Historiker, der sich des Problems offenbar bewusst und daran interessiert war, es zu lösen, war Johannes Chrysostomos (»Goldmund«), ein Mann mit vielen mächtigen Feinden, der den Gipfelpunkt seiner Karriere erreichte, als er Bi­ schof in Konstantinopel, der östlichen Hauptstadt, wurde. In ei­ nem seiner großen bibelexegetischen Werke, der fünfundacht­ zigsten von achtundachtzig Homilien über das Evangelium nach Johannes, entstanden um 398, hat er Folgendes zu sagen: »Das Holz (des Kreuzes) verlor man vielleicht aus dem Auge: Niemand unternahm eine Anstrengung, es zu erhalten, viel­ leicht unter dem Einfluss der Furcht, aber auch, weil man da­ mals mit anderen, dringlicheren Angelegenheiten beschäf­ tigt war. Zu einem späteren Zeitpunkt begannen sie, danach zu suchen, und aller Wahrscheinlichkeit nach befanden sich die Kreuze zusammen an einem Ort. Deshalb mussten sie

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darauf achten, dass jenes, das dem Herrn gehörte, nicht uner­ kannt blieb - erstens, weil es das mittlere war, aber zweitens war es für jedermann erkennbar wegen des Titulus, da die Kreuze der Diebe keine Inschriften trugen.«26 Das ist eine merkwürdige und erstaunliche Reihe von Behaup­ tungen, die wir uns ein wenig näher anschauen wollen. Erstens ist da die Feststellung des Johannes, Jesu Anhänger hät­ ten nichts unternommen, das Kreuz zu erhalten, und hätten Wichtigeres zu tun gehabt. Sie mag lächerlich klingen, aber tatsächlich verdient sie, ernst genommen zu werden. Da die Kreu­ ze wahrscheinlich nicht vor etwa 41 oder 42 n. Chr. abgebaut wur­ den, standen bis zu diesem Zeitpunkt Jesu Anhänger weder vor der Notwendigkeit, noch hatten sie Gelegenheit, ihretwegen et­ was zu unternehmen. Die Kreuze befanden sich auf dem Hügel, für alle sichtbar. Dann wurde die Stadtmauer verschoben, und man hörte auf, Golgatha für öffentliche Hinrichtungen zu nut­ zen. Und Johannes Chrysostomos hat auch ganz Recht, wenn er berichtet, die dortigen Christen seien zu dieser Zeit »mit anderen, dringlicheren Angelegenheiten beschäftigt« gewesen. Für die in den Anfängen steckende christliche Gemeinde in Je­ rusalem herrschten damals düstere und stürmische Zeiten. König Herodes Agrippa I., der das Land als Vasall Roms regierte, be­ schloss, durch die Hinrichtung des Jakobus, des Bruders des Jo­ hannes, die jüdische Priesterschaft in Jerusalem freundlich zu stimmen, und da sich dies als populäre Maßnahme erwies, ging er noch weiter und warf Petrus, den Leiter der Christengemeinde, ins Gefängnis.27 Petrus gelang es auszubrechen, und nachdem er die Leitung der Gemeinde in die Hände des Herrnbruders Jakobus gelegt hatte, floh er aus Jerusalem, vermutlich mit Rom als Ziel.28 Jakobus war ein ebenso fähiger wie strenger Leiter; selbst diejeni­ gen, die später die Strategie des Paulus den Maßnahmen des Jako­ bus (den Paulus selbst in Gal 1,19 als »des Herrn Bruder« bezeich­ nete) vorzogen, räumten so viel immerhin ein. Aber das ganze Autoritätsgefüge und die gesamte Organisationsstruktur hatten sich buchstäblich über Nacht verändert. Manche mochten das Ge­ fühl haben, dass nach dem Weggang des Apostels, den Jesus als seinen »Felsen« bezeichnet hatte, nichts Geringeres als die Zu-

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kunft der Jerusalemer Gemeinde in Frage stand. Und war denn Ja­ kobus sicher vor den Nachstellungen des Herodes Agrippa? Dies waren die wichtigsten Hinderungsgründe, auf die Johannes Chrysostomos drei Jahrhunderte später anspielte. Aber wie drängend die anderen Probleme auch sein mochten, die Jerusalemer Christen nahmen gewiss auch die baulichen Ver­ änderungen der Stadtmauer wahr und machten sich deswegen Sorgen. Sie beobachteten die Arbeit der Bauleute und die Entfer­ nung der Kreuze. Und vielleicht fassten sie auch, wie Johannes Chrysostomos behauptet, den Plan, das heiligste Objekt ihres Glaubens zu bewahren und für die Nachwelt kenntlich zu ma­ chen. Später, als die Situation ihrer Gemeinde sich einigermaßen beruhigt hatte, suchten sie nach den Kreuzen, entdeckten sie da, wo die Römer sich ihrer entledigt hatten und kennzeichneten ei­ nes von ihnen, das mittlere, durch den erhalten gebliebenen Titu/ms, vielleicht geschützt durch eine kleine Gedänkstätte. Auch hier lässt sich ein genaues Datum festlegen: Die Lebens­ verhältnisse der Jerusalemer Gemeinde - die fast ausschließlich aus Juden bestand - blieben nach der Flucht des Petrus noch einige Jahre lang schwierig. Im Jahre 62 n. Chr. wurde Jakobus vom Sanhedrin (Hoher Rat) ungesetzlich hingerichtet. Im Jahre 66 n. Chr. begannen die jüdischen Nationalisten mit ihrem Aufstand gegen die Römer, an dem sich die jüdischen Christen teilzunehmen wei­ gerten. Um Vergeltungsmaßnahmen zu entgehen, flohen, wie wir im letzten Kapitel sahen, die Christen nach Pella jenseits des Jor­ dan. Nachdem der Aufstand niedergeschlagen war, durften Juden nicht mehr in Jerusalem leben - ausgenommen die jüdischen Christen, die sich an dem Aufstand nicht beteiligt hatten. Sie durften in die Stadt zurückkehren, in ihr früheres Viertel an der Stelle, die Zionsberg heißt; dort fingen sie an, ihre Häuser wieder aufzubauen, eine Synagogenkirche zu errichten und ihre Ge­ meinde neu zu organisieren. Die meisten Forscher datieren diese Vorgänge in die Zeit der mittleren und ausgehenden siebziger Jahre des ersten Jahrhunderts.29 Das war also der Augenblick, in dem die Gemeinde, die überlebt hatte, wieder Tritt fasste und neue Hoffnung schöpfte und sich um die Bergung der Kreuze küm­ mern konnte. Für die Römer, die den jüdischen Christen die Rück­ kehr gestattet hatten, gab es keinen Grund, sie davon abzuhalten;

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die jüdischen Behörden, die es vielleicht versucht hätten, waren nicht mehr vorhanden. Was war in der Zeit zwischen dem Tode Jesu und der mutmaß­ lichen Bergung der Kreuze mit dem Titulus passiert? Johannes Chrysostomos gibt mit gutem Grund zu verstehen, dass er nicht mehr am senkrechten Balken hing, als die Römer diesen im Zeit­ raum zwischen 41 und 42 n. Chr. wegschafften. Er bemerkt ferner, dass »die Kreuze der Diebe keine Inschriften trugen«. Das war, wie wir sahen, zu erwarten. Die Inschriften, die dazu da waren, die Umstehenden über das Verbrechen der gekreuzigten Personen zu informieren, wurden zusammen mit dem Leichnam des Betref­ fenden entfernt, um Platz für die Warntafel zu machen, die den nächsten Verurteilten begleitete. Das verleiht der These Plausibi­ lität, dass der Titulus sofort nach Jesu Tod entfernt wurde und dass ihn Joseph von Arimathia oder ein anderer aus dem Kreis der Ver­ trauten an sich nahm. Er wäre dann mit dem Leichnam Jesu be­ stattet und, dem Brauch gemäß, nach der Entdeckung des leeren Grabes einem seiner Verwandten, am wahrscheinlichsten seiner Mutter, übergeben worden. Man vergisst leicht, dass Jesu Familie noch viele Jahre nach sei­ nem Tod in der Jerusalemer Gemeinde fortlebte, als Familiendy­ nastie, die ein kostbares Andenken wie den Titulus sorgsam auf­ bewahrt haben dürfte. Einige betrachteten das Verhältnis der Familie zu Jesus sogar als eine Art von Kalifat, in dem man die Hinterlassenschaft Jesu bewahrte und weitergab. Nach Petrus war der zweite Führer der Jerusalemer Kirche Jakobus, und der hatte sich nicht als Gefolgsmann der ersten Stunde hervorgetan. Aber er war ein Bruder Jesu, und das war offenbar Grund genug, ihn den zehn ursprünglichen Aposteln vorzuziehen, die nach dem Selbstmord des Judas und dem Weggang des Petrus noch verfüg­ bar waren.30 Ähnlich bevorzugt wurde die Familie von Cl(e)opas, den Hegesipp als einen Onkel Jesu bezeichnet.31 Dessen Sohn Si­ meon, »Neffe des Erlösers«, wurde das dritte Oberhaupt der Ge­ meinde in Jerusalem, als Nachfolger seines Verwandten Jakobus.32 Mit anderen Worten, es war Simeon Bar Cleopas, der in den ge­ fährlichen Jahren nach dem Tode des Jakobus, als die Gemeinde im Exil in Pella lebte, die Familientradition fortsetzte. Hegesipp - wie auch Euseb, der ihn zitiert - scheint davon auszugehen, dass Si­

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meon Bar Cleopas in seiner Position bestätigt oder wieder gewählt wurde, nachdem die Gemeinde nach Jerusalem zurückgekehrt war. Ihm wäre demnach die Aufgabe zugefallen, sich um die Auf­ findung und Identifizierung des Wahren Kreuzes zu kümmern. Ihm als führendem Vertreter der Stammlinie Jesu wäre aller Wahrscheinlichkeit nach der Titulus übergeben worden, und zwar in der doppelten Eigenschaft eines heiligen Objektes und eines kostbaren Familienandenkens. Kurz, ihm hätte das dynastische, religiöse und eignerschaftliche Recht zugestanden, das Kopftäfel­ chen beim Wahren Kreuz zu platzieren, als die Stätte nach 73/74 n. Chr. zugänglich wurde. Offenbar begannen Pilger, den Ort aufzusuchen. Zumindest lässt sich das aus den bemerkenswerten Bemühungen Kaiser Ha­ drians schließen, den Zugang zu der ansonsten uninteressanten Stelle an der Nordwestecke der Stadt zu versperren. Ein prächti­ ger Tempel der Venus - oder, auf Griechisch, der Aphrodite33 wurde auf dem alten Hinrichtungsgelände erbaut. Die Kreuze und der Titulus waren für fromme Besucher nicht mehr zugäng­ lich. Die ortsansässigen Christen kannten indes, wie wir gesehen haben, genau die Stelle, wo sie sich befanden, und reichten in Er­ wartung besserer Zeiten ihr Wissen von einer Generation zur nächsten weiter. Diese besseren Zeiten sollten zweihundert Jahre später mit Konstantin und Helena tatsächlich kommen. Demnach ist es möglich, eine plausible, wenn auch nicht be­ weisbare Chronologie aufzustellen, der zufolge der Titulus nach 30 n. Chr. erhalten blieb und das Kreuz um 41 n. Christus von Golgatha entfernt, nach dem Exil der Christen wieder gefunden, nach 135 n. Chr. unter Hadrian in einer Zisterne vergraben und schließlich in den zwanziger Jahren des vierten Jahrhunderts wie­ der ausgegraben wurde. Ist es aber - um uns auf den Titulus zu konzentrieren - denkbar, dass eine solche Holztafel so lange und unter solch wiederholt prekären Umständen erhalten bleiben konnte? Es gibt höchst überzeugende Belege dafür, dass dies möglich ist. Die bemerkenswertesten Beispiele sind die Vindolanda-Tafeln, mehr als eintausendneunhundert beschriebene Täfelchen, beste­ hend aus eigens zu diesem Zweck gefertigten Holzscheibchen, die seit 1973 im römischen Kastell Vindolanda, südlich des Hadrians-

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walles in der Nähe von Bardon Mill in Northumberland gefunden wurden. Sie stammen aus dem Zeitraum zwischen 85 und 125 n. Chr. und wurden von Angehörigen dieser Garnison und deren Klientel sowie von Korrespondenten aus anderen Garnisonen verfasst. Sie umfassen Privatbriefe, Empfehlungsschreiben, Be­ fehle, Einladungen zu Gesellschaften, Einkaufslisten. Offenbar sollte das Archiv einer römischen Einheit, die an die Donau ver­ legt wurde, in einer großen Räumaktion verbrannt werden, was misslang, weil Regen das Feuer löschte. Der Schlamm und nach­ folgende Erdschichten konservierten diese erstaunlichen Zeug­ nisse fast zweitausend Jahre lang. Die Entdeckung weiterer, weni­ ger umfangreicher Sammlungen von Täfelchen hat, zum Beispiel in Carlisle, die Archäologen zu der Überzeugung gebracht, dass Regen im Anschluss an Feuer - und menschlicher Urin, der an den Täfelchen in Vindolanda nachgewiesen wurde - zwar nütz­ lich, aber nicht entscheidend für die Konservierung sind. »Allem Anschein nach reicht ein dumpfiges, sauerstoffarmes Milieu aus, um die Erhaltung (von beschriebenem Holz) zu erklären, wie das auch schon andernorts festgestellt wurde«, lautet der Schluss, zu dem die Forscher angesichts des Materials aus Vindolanda gelang­ ten.34 Das beschreibt haargenau die Umgebung, in der das Kreuz und der Titulus von Helenas Ausgräbern gefunden wurden: in ei­ ner alten Zisterne, die unter Hadrians Tempelfundamenten ver­ mutlich immer noch ein wenig feucht und schlammig geblieben war. Was lässt sich über die mutmaßlichen physischen Eigenschaf­ ten des Kopfbrettes sagen, das bei der Kreuzigung Jesu angebracht wurde? Wir wissen, dass für diese Art von öffentlichem Hinweis­ schild normalerweise Holz - und nicht zum Beispiel Papyrus verwendet wurde.35 Die Quellen aus der Kaiserzeit sprechen hauptsächlich von geweißten Holztafeln, auf die Verordnungen oder Namenslisten geschrieben wurden und die man alba nannte (von daher der heutige Gebrauch des Wortes Album zur Bezeich­ nung gesammelter Informationen). Solche Alben oder tabulae dealbatae (geweißte Tafeln) benutzte man, um wichtige aktuelle Informationen öffentlich bekannt zu machen, im Gegensatz zu Inschriften, die in Stein gemeißelt oder in Bronze graviert wur­ den, um der Nachwelt zur Kenntnis gebracht zu werden. Man 106

schnitzte die Information in das Holz, das dann einen Kalkan­ strich erhielt beziehungsweise nach Ansicht mancher Forscher mit Stuck überzogen wurde.36 Die Buchstaben wurden eingefärbt, gewöhnlich rot oder schwarz. Als Vespasian (der gleiche Kaiser, der in den Jahren um 73/74 n. Chr. der jüdisch-christlichen Ge­ meinde gestattete, nach Jerusalem zurückzukehren) ein Edikt ver­ öffentlichte, durch das er gewisse Privilegien für Ärzte bestätigte, wurde das dem breiten Publikum auf solch einer tabula dealbata kundgetan.37 Ein Forscher, der das vorhandene Material gesichtet hat, kommt zu dem Schluss: »Edikte, bei denen es gewöhnlich um kurzfristige Anordnungen ging, wurden offenbar durchweg auf tabulae dealbatae veröffentlicht.«38 Diese Charakterisierung passt genau auf den Titulus, den Pontius Pilatus im Falle Jesu wie übrigens auch jedes anderen, den er kreuzigen ließ, diktierte und publik machte. Wie wir bereits gesehen haben, erlauben uns die li­ terarischen Quellen, die Verwendung von Tituli zur Anzeige eines Verbrechens bis mindestens in die Zeit nach Kaiser Augustus zurückzuverfolgen. Ein Bericht über einen Sklaven, der auf dem Forum in Rom zur Schau gestellt und dann zu seiner Kreuzigung geführt wurde, ist auf Griechisch abgefasst; spannend ist, dass der Autor, der Historiker Cassius Dio, für »Ursache« der Todesstrafe und »Schuld« dieselben juristischen Begriffe verwendet wie Mar­ kus und Matthäus in ihrer Beschreibung der Inschrift am Kreuz.39 Und nicht weniger bemerkenswert ist, dass Johannes in seiner Schilderung den lateinischen Fachterminus Titulus verwendet, auch wenn er ihn natürlich in griechischer Schrift wiedergibt.40 Diese Praxis der Bekanntmachung war nicht nur eine Geste ri­ tueller Demütigung, auch wenn das natürlich zu ihrem Zweck gehörte. Der Gebrauch von Inschriften sollte andere auf die Schwere des begangenen Verbrechens hinweisen und war aus­ drücklich als Abschreckung gedacht. Der römische Rhetoriker Quintilian (ca. 35 bis 95 n. Chr.), der in der Zeit lebte, als das Neue Testament entstand, empfahl deshalb sogar, die Kreuzigungen unter möglichst großer Beteiligung der Öffentlichkeit zu veran­ stalten; und dem Johannesevangelium zufolge geschah genau dies mit Jesus.41 Ein Titulus konnte nicht so groß sein wie eine gericht­ liche Anzeigetafel oder ein Gerichtsprotokoll. Er musste so groß

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sein, dass ihn die Umstehenden lesen konnten, und klein genug, um ihn an einem Querbalken anbringen zu können. Man konnte ihn über dem Kopf der gekreuzigten Person am Kreuz annageln oder festbinden. Manchen Berichten zufolge, in denen von römi­ schen Tituli die Rede ist, wurden diese entweder von jemand an­ derem getragen, der vor dem Verurteilten herging,42 oder sie wur­ den den Verurteilten um den Hals gehängt43. Im Falle von Jesus dürfte die Tafel auf dem Weg nach Golgatha entweder um seinen Hals gehangen haben oder von Simon von Kyrene getragen wor­ den sein, ehe sie dann am Kreuz selbst befestigt wurde.44 Nichts in den schriftlichen Quellen enthält einen Hinweis auf die Größe der Tituli, und obwohl zahlreiche beschriebene Holztafeln aus dieser Zeit auf uns gekommen sind, scheint doch keine von ihnen diesem besonderen Zweck gedient zu haben. Das Fragment in der römischen Kirche Santa Croce ist also einzigartig: Es ist 25,3 Zen­ timeter breit und 14 Zentimeter hoch, was bedeutet, dass bei der rekonstruierten Tafel mit dem gesamten Text die Maße ungefähr 60 mal 21 Zentimeter betragen müssten. Man darf annehmen, dass auf Jesu Titulus in knapper und un­ missverständlicher Form sein Verbrechen geschrieben stand. Drei der vier Evangelien berichten von genau solch einer Inschrift. Das vierte, das Johannesevangelium, fügt den Namen des Gekreuzig­ ten hinzu. Nehmen wir den Faden aus dem vorhergehenden Kapi­ tel auf und schauen uns die vier Versionen genauer an, um sie mit dem in Rom erhalten gebliebenen Fragment zu vergleichen. Ha­ ben wir es bei dem Fragment mit einer getreuen Wiedergabe einer der vier Versionen oder - was faszinierend wäre - mit einer eigen­ ständigen fünften Version zu tun ? Beginnen wir mit der Feststellung, dass uns die Darstellungen in allen vier Evangelien den Text auf Griechisch bieten, ohne aus­ drücklich zu erklären, dass es sich hierbei um die Sprache handelt, in der die Inschrift ursprünglich abgefasst war. Die Evangelisten geben nur den Inhalt des von Pilatus diktierten Textes wieder, und da sie ihre Evangelien auf Griechisch schrieben, benutzten sie die­ se Sprache auch zur Wiedergabe der Inschrift. Einer von den vie­ ren betont allerdings, die Inschrift sei dreisprachig gewesen und auf Hebräisch, Lateinisch und Griechisch in das Holz geschnitten worden (Joh 19,20). Latein ist die Sprache, die wir auf jeden Fall 108

erwarten würden: Die Kreuzigung Jesu war unbestreitbar ein rö­ mischer Verwaltungsakt, und die Sprache Roms, selbst in dieser fernen Provinz, war das Latein. Dass Pilatus bei solchen Gelegen­ heiten stets die Sprache des Kaiserreichs benutzte, geht aus der Inschrift hervor, die er in Caesarea Maritima für einen dem Kaiser Tiberius gewidmeten Tempel verfasste.45 Ein großes Fragment dieser Weihinschrift wurde 1961 entdeckt; der Stein mit dem Textfragment war beim Bau des späteren römischen Theaters als Stufe wieder verwendet worden. Die Inschrift, die Berühmtheit erlangt hat, weil sie die einzige uns bekannte ist, in der Pilatus' Name auftaucht - wobei er den Rang eines »Präfekten« und nicht, wie von Tacitus irrtümlich behauptet,46 den eines »Prokurators« einnimmt -, ist in der Tat in seiner Muttersprache abgefasst. Zumindest aus römischer Sicht wurde Jesus als ein gefährlicher Jude gekreuzigt, der Anspruch auf die Königswürde erhob und den deshalb auch die jüdischen Behörden hingerichtet sehen wollten. Deshalb wirkt es durchaus plausibel, dass die Inschrift auch auf Hebräisch, in der offiziellen Sprache der Juden, auf der Tafel stand. Auf diese Weise machte Pilatus seine Botschaft mehr Menschen verständlich und deutete zugleich an, dass es sich hier nicht um ein Problem handelte, für das nur Rom verantwortlich war.47 Und wenn er den Text ins Griechische übersetzen ließ, so muss auch das nicht überraschen. In einem häufig unterschätzten Maße war Judäa ein vielsprachiges, multikulturelles Land, in dem wie auch anderweitig in der römischen Welt Griechisch die lingua franca war, die über ethnische und religiöse Schranken hinweg von vielen Menschen gesprochen wurde. Denken wir an die Stei­ ne, die im Tempel standen und Nichtjuden bei Strafe des Todes untersagten, weiter ins Innere des Heiligtums vorzudringen: Man hat zwei Exemplare gefunden, und bei beiden ist die Sprache Griechisch. Es hätte der Vernunft widersprochen, die Inschrift an Jesu Kreuz ins Hebräische zu übersetzen, nicht hingegen in die Verkehrssprache der hellenistischen Welt.48 Dass im Johannesevangelium von einem dreisprachigen Titulus die Rede ist, wirkt demnach absolut plausibel. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang übrigens, dass möglicherweise auch der Verfasser des Lukasevangeliums eben diese Dreisprachigkeit des Titulus bestätigt. Nach orthodoxer bibelwissenschaftlicher

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Ansicht, wie sie sich in den Standardausgaben des griechischen Neuen Testaments und in unseren modernen Übersetzungen nie­ derschlägt, handelt es sich bei der betreffenden Stelle im Lukas­ evangelium um eine späte Einfügung, die es verdient, in den kriti­ schen Apparat oder in die Fußnoten verbannt zu werden. Aber stimmt das? Wie gesehen, führt das Johannesevangelium die drei Sprachen Hebräisch, Lateinisch und Griechisch in dieser Reihen­ folge auf. In der längeren Fassung von Lk 23,8 lautet die Reihenfolge Griechisch, Lateinisch, Hebräisch. Wir finden diese Fassung im ursprünglichen, unkorrigierten Text des Codex Sinaiticus, der im zweiten Viertel des vierten Jahrhunderts entstand. Ein anderer wichtiger Text, der Codex Alexandrinus aus dem fünften Jahrhundert - der wie der Sinaiticus in der British Library in St Paneras zu besichtigen ist - enthält ebenfalls die längere Ver­ sion. Andere sehr frühe Bücher und die zwei wichtigsten Gruppen von Manuskripten in Minuskelschrift - unter den Kürzeln f1 und fi3 bekannt - bestätigen diese Lesart, und das gilt auch vom so ge­ nannten Mehrheitstext, jener Gruppe von Handschriften des Neuen Testaments, die als Ergebnis der Bemühungen von Gelehr­ ten, eine im ganzen Reich gültige Version des griechischen Neuen Testaments herauszugeben, in byzantinischer Zeit entstanden.49 Erasmus benutzte sie im Jahre 1516 für die erste gedruckte Aus­ gabe des griechischen Neuen Testaments, und von dort gelangte sie bis in die moderne Zeit. Heute nimmt man gegenüber den Minuskelmanuskripten und dem Mehrheitstext jedoch allgemein eine skeptische Haltung ein. Hinzu kommt, dass der Hinweis auf die drei Sprachen in Lk 23,38 den Text länger macht, was unserer zeitgenössischen Bibelwis­ senschaft als verwerflich gilt - auf Grund der fragwürdigen An­ nahme, dass im Zweifelsfall der kürzere Text besser (weil weniger ausgeschmückt) sein müsse als der längere. Es stimmt allerdings, dass die kürzere Version von Lk 23,38 auf einem Papyrus, dem P75, erhalten und als Berichtigung in den Codex Sinaiticus einge­ tragen ist; außerdem findet sie sich im Codex Vaticanus und in ei­ ner kleinen Anzahl weiterer Manuskripte. Aber wenn man nicht von der Annahme ausgeht, dass ein Papyrus gegenüber anderen Informationsträgern ausnahmslos die bestmögliche Version eines Textes bietet - und zu dieser Annahme besteht kein Anlass -, 110

dann ist die Beweislage bei den Manuskripten zumindest unent­ schieden. Und es gibt, wie wir sehen, durchaus gute Gründe, die für die längere Lesart sprechen. Was auch immer weitere philologische Untersuchungen er­ bringen mögen, eines ist sicher: In einem sehr frühen Stadium, mindestens vor Mitte des vierten Jahrhunderts, hatte eine Text­ version des Lukasevangeliums weite Verbreitung in der Kirche gefunden, der zufolge ein Titulus in drei Sprachen existierte, und zwar in der Reihenfolge Griechisch, Lateinisch, Hebräisch. Das wich markant von der Reihenfolge Hebräisch, Lateinisch, Grie­ chisch im Johannesevangelium ab. Daraus folgt, dass der längere Text im Lukasevangelium nicht vom Johannesevangelium abge­ schrieben worden sein kann. Und ebenso wenig kann ihn Johan­ nes - wenn wir annehmen, das ursprüngliche Manuskript des Lukasevangeliums habe bereits diese Formulierung enthalten von der Schriftrolle seines Kollegen abgeschrieben haben. Was immer sich sonst noch über diese beiden Berichte sagen lässt, sie sind eindeutig unabhängig voneinander. Und für den Philologen gehört dies vielleicht zu den stärksten Argumenten, die sich zu­ gunsten der Echtheit der längeren Version im Lukasevangelium vorbringen lassen. Wer die Eingebung gehabt hätte, ins Lukas­ evangelium eine Stelle aus dem Johannesevangelium einzufügen, hätte sich nicht getraut, bei der Reihenfolge der Sprachen auf dem Titulus derart auffällig abzuweichen.50 Beim Johannesevangelium findet sich die Erwähnung der drei Sprachen in allen Papyri, Codices und Minuskeltexten, die diese Passage enthalten. Aber selbst hier gibt es ein spannendes, wenn auch kleineres Problem, das nur selten ins Blickfeld gerät, weil es im »kritischen Apparat« der Standardausgaben des griechischen Neuen Testaments versteckt ist und deshalb in den modernen Übersetzungen des Textes nicht auftaucht. Wie erwähnt, lautet im Johannesevangelium die Anordnung der Sprachen auf dem Titulus Hebräisch, Lateinisch, Griechisch. Der Text einiger Handschriften und weniger Übersetzungen (z.B. der rev. Elber­ felder Übersetzung) weicht indes von dieser Anordnung ab. Hier heißt es, die Überschrift war in hebräischer und griechischer und lateinischer Schrift geschrieben. Diese Anordnung findet sich in einigen wenigen alten Codices, zu denen der erwähnte Alexandiii

rinus zählt. Die Minuskelgruppe f1 und der Mehrheitstext wei­ sen ebenfalls diese Anordnung auf: Hebräisch, Griechisch, Latei­ nisch. Deshalb erscheint sie auch im griechischen Neuen Testa­ ment des Erasmus und, durch ihn vermittelt, in manchen älteren und neueren Ausgaben. Mit anderen Worten: Der Quellenlage nach ist diese Anordnung der Sprachen erheblich schlechter be­ legt als die Anordnung in der längeren Version von Lk 23,38; aber es gibt sie nun einmal, und deshalb verdient sie Erwäh­ nung.51 Die Unklarheiten werden dadurch noch größer, dass es im Co­ dex W aus den Anfängen des fünften Jahrhunderts, der sich heute in der Freer Gallery of Art in Washington befindet, eine merk­ würdige Lesart gibt, die folgende Anordnung bietet: Hebräisch, Lateinisch, Hebräisch. Das ist eindeutig ein Schreibfehler. Wenn wir aber annehmen, dass für ihn wie für so viele Schreibfehler ein optisches Versehen auf Grund der Tatsache verantwortlich war, dass der erste und die vier letzten Buchstaben in beiden Wörtern gleich sind (Hebraisti = auf Hebräisch; Hellenisti = auf Grie­ chisch), dann können wir diesen Text als weiteren Beleg für die Anordnung Hebräisch, Lateinisch, Griechisch betrachten. Und was noch hinzukommt: Die Manuskripte mit der einen oder ande­ ren der beiden Varianten sind späten Datums. Die ältesten unter ihnen sind der Codex Alexandrinus und der Codex Washingtoniensis, und beide stammen aus dem fünften Jahrhundert. Das heißt, sie wurden etwa hundert Jahre nach Helenas Entdeckung des Kreuzes und des Titulus geschrieben. Hingegen kennen wir mindestens einen relativ frühen Codex mit der Textversion von Lk 23,38, den Sinaiticus, der zeitgleich mit Helenas Entdeckungen entstand und zweifellos den ersten Erwähnungen des Titulus durch Egeria und Ambrosius vorausgeht. Die Frage bleibt, warum ein paar späte Manuskripte im ganzen Reich so viel Unterstüt­ zung fanden, dass sie bei Joh 19,20 prägend für die Texttradition des Mehrheitstextes werden konnten. Darauf gibt es vielleicht ei­ ne überraschende Antwort: die Beeinflussung durch den wieder entdeckten Titulus. Aber fassen wir nach diesem ziemlich fach­ wissenschaftlichen Exkurs erst einmal zusammen, was wir bis jetzt zusammengetragen haben:

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• Alle vier Evangelien berichten vom Titulus. Zwei Evangelien, die des Markus und des Matthäus, wissen nichts von verschie­ denen Sprachen, sondern bieten schlicht und einfach eine grie­ chische Version der Inschrift. Das heißt, sie teilen uns mit, was auf dem Titulus stand, und tun das in der Sprache ihrer Bücher, nämlich auf Griechisch. • Den meisten heutigen Bibelwissenschaftlern zufolge verhält es sich bei Lukas genauso. Es gibt aber starke, wahrscheinlich überzeugende äußere und innere Indizien für die Echtheit der traditionellen Fassung von Lk 23,38, die drei Sprachen auf­ führt, in der Reihenfolge Griechisch, Lateinisch, Hebräisch. • Das Johannesevangelium redet ausdrücklich von drei Sprachen. Es gibt praktisch keinen Zweifel daran, dass die ursprüngliche Version die Reihenfolge Hebräisch, Lateinisch, Griechisch auf­ wies; allerdings gibt es einige späte und überraschend einfluss­ reiche Manuskripte dieses Evangeliums mit der Reihenfolge Hebräisch, Griechisch, Lateinisch. • Keine der Versionen von Joh 19,20 ist identisch mit dem länge­ ren Text von Lk 23,38. Die zwei Evangelien sind voneinander unabhängige Zeugnisse. • Die betreffenden Passagen bei Markus und Matthäus sind so abgefasst, dass sich ein Hinweis auf die benutzte Sprache er­ übrigt. Die Passage bei Lukas folgt entweder dem Vorbild der beiden, oder sie zählt - wofür vieles spricht - ursprünglich drei Sprachen auf. Die Manuskripte des Johannesevangeliums ge­ ben uns keinen Grund, an dem Zeugnis von Joh 19,20 zu zwei­ feln, dass die Inschrift auf dem Titulus tatsächlich dreisprachig abgefasst war. • Dennoch steht die Reihenfolge nicht fest. Sie mag Hebräisch, Lateinisch, Griechisch gelautet haben. Aber andere Anordnun­ gen lassen sich nicht ausschließen: Griechisch, Lateinisch, He­ bräisch (Lukas); Hebräisch, Griechisch, Lateinisch (späte Ma­ nuskripte des Johannesevangeliums).

So viel zur Reihenfolge der Sprachen auf dem ursprünglichen Ti­ tulus. Doch auch der Wortlaut der Inschrift in den einzelnen Evangelien stimmt nicht überein, wie wir bereits kurz in Kapitel 3 haben sehen können. Aber darin sollte man keinen Beweis feh­

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lender Echtheit erblicken - im Gegenteil. Eher sprechen die klei­ nen Unterschiede zwischen den Evangelien dafür, dass in dem je­ weiligen Wortlaut die tatsächlichen, wenn auch manchmal unge­ nauen Erinnerungen von Augenzeugen beziehungsweise von Gewährsleuten, mit denen die Evangelisten sprachen, ihren Nie­ derschlag gefunden haben. Keines der vier Evangelien wurde in Jerusalem verfasst; die Evangelien des Lukas und des Johannes können sogar sehr weit vom Heiligen Land entfernt niederge­ schrieben worden sein. Ihr Zweck war es, einigermaßen genau den Inhalt des Titulus anzugeben, nicht eine textgetreue Wieder­ gabe zu liefern. Tatsächlich hätte kein jüdischer oder griechischrömischer Leser eine solch exakte Übereinstimmung mit dem Original erwartet. Wahre Souveränität bewies ein Verfasser durch die feinen Veränderungen, die er am Text vornahm, die sub­ tilen perspektivischen Verschiebungen. Die Schriftrollen vom To­ ten Meer sind voll von biblischen Zitaten, die solch geringfügige Modifikationen aufweisen. Petrus verfährt auf diese Weise, wenn er in seiner Pfingstrede (Apg 2,14-36) den Propheten Joel (3,1-5) zitiert; Paulus macht in seinem Brief an die Epheser (4,8) das Glei­ che mit Psalm 68,19; es gibt viele weitere Beispiele. Noch einmal: Wenn die vier Evangelien in ihrer Beschreibung des Titulus ge­ ringfügig voneinander abweichen, spricht das nicht gegen ihre Authentizität. Bei allen Unterschieden stimmen die vier Versionen aber im folgenden entscheidenden Punkt überein:

Der König der Juden (ho basileus tön loudaiön; Mk 15,26) Dies ist Jesus, der Juden König (houtos estin lesous ho basile­ us tön loudaiön; Mt 27,37) Dies ist der Juden König (ho basileus tön loudaiön houtos: Lk 23,38) Jesus der Nazoräer (= von Nazareth), der Juden König (lesous ho Nazöraios ho basileus tön loudaiön; Joh 19,19)

Hinzufügen lässt sich noch eine fünfte Version, die früheste Version eines Autors der nachbiblischen Zeit, der nicht nur auf die Wiederentdeckung des Titulus Bezug nimmt, sondern auch mit­ teilt, was er über die Inschrift selbst in Erfahrung gebracht 114

hat - Ambrosius von Mailand.52 Bei ihm, der lateinisch schreibt, findet sich die Version: IESUS NAZARENUS REX IUDAEORUM. Das klingt wie die wörtliche Wiedergabe der griechischen For­ mulierung in Joh 19,19 ; es ist die Version der lateinischen Bi­ bel und kehrt in der späteren christlichen Kunst in allen ab­ gekürzten oder ausgeschriebenen INRI-Inschriften auf den Kreuzen wieder. Es ist gewiss kein Zufall, dass diese Formulierung ein gemein­ sames Element aller vier - oder fünf - Berichte darstellt, da ja tatsächlich das Gesetz verlangte, dass die Tafel, die ein Gekreuzig­ ter trug, Auskunft über die aitia (Griechisch) oder causa poenae (Lateinisch) - den Grund für die Bestrafung - gab. Aus juristi­ scher Sicht wurde Jesus als ein Aufrührer gekreuzigt, der Hoch­ verrat begangen hatte, weil er sich zum »König der Juden« erklär­ te. Er hatte sich damit zum Rivalen des Kaisers gemacht und dessen unveräußerliches Recht usurpiert, darüber zu entschei­ den, wer irgendwo im Römischen Reich die Königswürde bean­ spruchen durfte. Kein Titulus über dem Haupte Jesu hätte ohne diese Formulierung einen Sinn ergeben. Schauen wir uns noch einmal den Hintergrund der Geschichte an. Dass Pilatus nach seinem Kreuzverhör Jesus in irgendeinem politisch relevanten Sinne immer noch für einen echten Feind Roms hielt, ist unwahrscheinlich (Joh 18,36-38). Aber er stand unter ungeheurem Druck, nicht zuletzt wegen einer subtilen Drohung vonseiten der jüdischen Hierarchie: Pilatus wusste, dass er seinen kostbaren Ehrentitel als amicus Caesaris, »des Kaisers Freund« (Joh 19,12), verlieren konnte, wenn die Kunde von seiner Nachsicht gegenüber einem Thronprätendenten nach Rom drang. Der römische Historiker Sueton berichtet von einem Präzedenz­ fall, der schrecklich genug war, um einen Mann wie Pilatus in Angst zu versetzen. Der Präfekt C. Cornelius Gallus, ebenfalls ein amicus Caesaris, war wegen mangelnder Loyalität, Undankbar­ keit und »Verbrechen gegen die Krone« beim Kaiser in Ungnade gefallen. Gallus erlitt die renuntiatio amicitiae, das heißt, die Freundschaft des Kaisers wurde ihm aufgekündigt. Man entließ ihn aus dem Staatsdienst, schloss ihn vom kaiserlichen Hof aus und verbot ihm, in den kaiserlichen Provinzen seinen Wohnsitz zu nehmen. Seine vielen Feinde machten gegen ihn mobil, und

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schließlich beging er in seiner Verzweiflung und Hoffnungslosig­ keit Selbstmord.53 Die Hohenpriester und ihre Anhängerschaft wussten also, dass Pilatus in einer Zwangslage war. Gleichgültig, was der Präfekt von Jesus hielt, nachdem er ihn befragt hatte, der von Jesus nicht bestrittene Anspruch, König der Juden zu sein, konnte - und musste sogar, nach Ansicht mancher Interpreten als Hochverrat interpretiert werden. Tatsächlich wurde das Ge­ wicht dieser gegen Jesus erhobenen Beschuldigung noch einmal ein paar Jahre später bei einer Auseinandersetzung in Thessalonica deutlich, als Paulus, Silas und ein ortsansässiger Christ namens Jason die Botschaft Jesu in der Synagoge verkündeten. Einige Ju­ den gerieten dadurch so sehr in Wut, dass sie einen Auflauf vor Ja­ sons Haus anzettelten, wobei sie aber eine eher politische als theologische Anklage erhoben: »Und diese alle handeln wider des Kaisers Gebote, die sagen, ein anderer sei König, nämlich Jesus.« (Apg 17,7) Für die treuen jüdischen Untertanen war einzig und allein der römische Kaiser König der Juden. Nur ein anderer konnte noch mit Fug und Recht Anspruch auf die Königswürde Israels erheben: der wahre Messias. Und wie viele von denen, die das Kreuz umstanden hatten, weigerten sie sich zu akzeptieren, dass Jesus der Messias war.54 Eine zweite Anschuldigung mit weitreichenden Konsequenzen wurde gegen Jesus erhoben. »Wir haben ein Gesetz«, erklärten die Hohenpriester dem Pilatus, »und nach dem Gesetz muss er sterben, denn er hat sich selbst zu Gottes Sohn gemacht.« Wie Pi­ latus wusste - und wie auch den jüdischen Ältesten klar war, als sie Jesus vor Pilatus beschuldigten -, war »Gottes Sohn« nicht nur ein jüdischer Terminus. Es war auch der offizielle Titel des römi­ schen Kaisers. Augustus hatte mit der Tradition begonnen, als er seinen Adoptivvater Julius Caesar vom Senat für göttlich erklären ließ. Naturgemäß machte das Augustus selbst zum »Sohn Got­ tes«, und so hieß er wörtlich im griechischsprachigen Osten des Reichs. Andere Kaiser folgten dem Brauch, unter ihnen Tiberius, der zur Zeit der Kreuzigung Jesu den römischen Kaiserthron in­ nehatte. Inschriften und Münzen bieten reichlich Belege dafür, dass dieser Titel, in griechischer und in römischer Fassung, weit­ hin Bestandteil des Kaiserkults war. Wenn die Hohenpriester Pila­ tus berichteten, Jesus bezeichne sich als »Gottes Sohn«, und wenn 116

sie aus dieser empörenden Anmaßung als zwingendes Gebot die Todesstrafe herleiteten, dann taten sie es in dem Bewusstsein, dass dies seinen Eindruck auf den römischen Präfekten, den amicus Caesaris, nicht verfehlen konnte. Indem er zwei Titel, die dem Kaiser zustanden, für sich in Anspruch nahm, setzte dieser Reli­ gionsführer das Ansehen des Kaisers gleich in mehrfacher Hin­ sicht herab. Es ist durchaus glaubhaft, dass Pilatus versuchte, sich aus die­ sem Dilemma herauszuwinden. Auch wenn die jüdischen Führer lautstark beteuerten, auf der Seite des Kaisers und der kaiserli­ chen Behörden zu stehen, traute ihnen Pilatus wahrscheinlich nicht. Tatsächlich dürfte sein tiefes Misstrauen gegenüber den Ju­ den, das durch nichtbiblische Quellen reichlich bezeugt ist55, einer der Gründe gewesen sein, warum er zögerte, dem Verlangen der jüdischen Führung nachzukommen und einen einzelnen, allem Anschein nach harmlosen Menschen zu kreuzigen - harmlos für die römischen Behörden, versteht sich. Der politisch sicherste Ausweg bestand für ihn zweifellos darin, Jesus kreuzigen zu las­ sen. Jedenfalls können wir das aus der Darstellung des Johannesevangeliums herauslesen. Die anderen drei Evangelien bestätigen diese Deutung - trotz oder auch dank der kleinen Abwandlungen, die sie beisteuern. Markus, Matthäus und Lukas sind nicht son­ derlich ausführlich, auch wenn Matthäus einige erzählerische Akzente setzt. Dass die vollständigste Schilderung dem Johannesevangelium überlassen bleibt, kann den Historiker kaum überra­ schen, da der Verfasser ausdrücklich versichert, dabei gewesen zu sein: »Und der das gesehen hat, der hat es bezeugt, und sein Zeug­ nis ist wahr, und er weiß, dass er die Wahrheit sagt, damit auch ihr glaubt.« (Joh 19,35) Wie lässt sich entscheiden, welches der vier Evangelien mit sei­ ner Version dem ursprünglichen Text des Pilatus am nächsten kommt? Der Text bei Markus, der am kürzesten ist, reichte der Sache nach aus. Auf die Behauptung, der König der Juden zu sein, stand die Todesstrafe. Markus gibt entweder den Kernpunkt des Textes auf dem Titulus oder auch die ganze Inschrift wieder. Ohne diese eindeutige aitia war keine Inschrift denkbar. Matthäus fügt drei einleitende Wörter hinzu: »Dies ist Jesus... (houtos estin Iesous ...). Das mag ein Beispiel für die wohl bekannte Neigung

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des Matthäus sein, das Material etwas zu erweitern und dadurch seiner Prosa mehr Flüssigkeit und Eleganz zu verleihen. Aber es ist auch ohne weiteres möglich, dass »Dies ist« Teil der ursprüng­ lichen Inschrift war. So viel macht der Bericht des Euseb vom Märtyrertod des Attalus deutlich, eines der Opfer der Christen­ verfolgungen, zu denen es im Jahre 177 n. Chr. in Vienne und Lyon kam. Attalus wurde, wie wir erfahren, durch die Arena ge­ führt, und das Plakat, das vor ihm hergetragen wurde, trug die Aufschrift: »Dies ist Attalus, der Christ« - oder auf Griechisch: »Houtos estin Attalos ho Christianos«.56 Anders bei Lukas. Er macht den Anfang mit der aitia oder causa poenae, »Der Juden König«. Und dann fügt er wie einen nachträg­ lichen Einfall das griechische Wort houtos an: »Der König der Ju­ den - dieser«. Die Art, wie das Lukasevangelium die Sache fasst, ohne an dem juristisch entscheidenden Kern der Anklage etwas zu verändern, läuft auf eine subtile Verschiebung des Akzents hinaus: Pilatus' Haltung gegenüber den Juden wird verdeutlicht. Schaut auf diesen Menschen, scheint er spöttisch zu sagen, diesen gegeißelten, mit einer Dornenkrone gekrönten, gekreuzigten, ab­ solut elenden Menschen - so sieht euer König aus. Die Version, die das Johannesevangelium von der Inschrift lie­ fert, ist mit Abstand die längste. Wie bei Matthäus schließt auch bei Johannes die Inschrift den Namen Jesus ein, aber hier wird kein »Dies ist...« vorausgeschickt, sondern der Beiname an­ gehängt, der diesen bestimmten Jesus von Hunderten anderen im jüdischen Volk unterschied, die den gleichen Vornamen trugen:57 Dieser Jesus kam von Nazareth, er war »der Nazoräer« (ho Nazöraios). Hier ist nicht der Ort für eine ausführliche Diskussion der Frage, welche etymologische Bedeutung Nazöraios hat und welche literarischen und archäologischen Zeugnisse der Stadt Na­ zareth zur Zeit Jesu wir besitzen. Nur so viel sei angemerkt, dass die drei Evangelien des Markus, des Matthäus und des Lukas gele­ gentlich eine andere Form des Attributs Nazarenös (der Naza­ rener) verwenden, dass aber beide Formen stets in Verbindung mit dem Namen Jesu auftauchen. In späteren Jahrhunderten be­ zeichneten sich manche christlichen Gruppen oder Sekten als »Nazarener« oder »Nazoräer« statt als Christianoi, als Christen. Sie beriefen sich dabei auf eine Passage in der Apostelgeschichte,

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wo Tertullus, ein jüdischer Anwalt, im Namen des Hohepriesters Ananias Klage gegen den Apostel Paulus vor dem römischen Pro­ kurator in Caesarea Maritima erhebt: »Wir haben diesen Mann befunden als eine Pest und als einen, der Aufruhr erregt unter al­ len Juden auf dem ganzen Erdboden, und als einen Anführer der Sekte der Nazarener.« (Apg 24,5) Was auch immer die jüdischen und jüdisch-christlichen Interpreten in den Wurzeln des hebräi­ schen Nazoraios an tieferer Bedeutung entdeckt haben mögen,58 zu Jesu Zeiten bezog sich das Wort fraglos auf den Ort, an dem er aufgewachsen war, seine Heimatstadt in Galiläa. Keine unserer frühesten Quellen lässt den geringsten Zweifel daran aufkom­ men; neuere archäologische Forschungen haben außerdem erwie­ sen, dass es damals das Dorf Nazareth gab.59 Wenn Pilatus den Gekreuzigten eindeutig benennen wollte, dann war es durchaus sinnvoll, ihn als Jesus von Nazareth zu bezeichnen. Diese Genauigkeit der Angaben war zweifellos erforderlich, wenn er seine Acta vorlegte, die Jahresberichte, die jeder regiona­ le Statthalter an den kaiserlichen Hof in Rom zu schicken hatte.60 Das Verfahren war offenbar allgemein bekannt, auch in christli­ chen Kreisen: Es findet sich ausdrücklich erwähnt bei Justin, der ca. 160 n. Chr. in Rom starb.61 In diesen behördlichen Berichten musste der Name eines Gekreuzigten in klarer und eindeutiger Form angegeben werden. Die jüdische Namensgebung entsprach nicht der dreiteiligen römischen, die sich aus praenomen (Vorna­ me), nometi (Zuname oder Name der Sippe) und cognomen (Fa­ milienname oder Beiname) zusammensetzte. Die normale Praxis bestand für den römischen Präfekten deshalb darin, nach dem jü­ dischen Namen den Herkunftsort anzugeben, und man darf wohl annehmen, dass Pilatus auf dem Titulus dieselbe Formulierung benutzte wie später, nach der Hinrichtung Jesu, in seinen Acta. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass wohl die Version, die das Johannesevangelium vom Titulus liefert, den Vorzug ver­ dient, weil sie am ehesten zu dem Verfahren passt, das unter sol­ chen Umständen ein römischer Präfekt anzuwenden pflegte. Nur der Evangelist Johannes erwähnt ausdrücklich, dass Pilatus per­ sönlich befahl, einen Titulus zu schreiben, und dass er sich mit sei­ ner ganzen Amtsgewalt dahinter stellte. Als einige der Priester dagegen protestierten, dass die causa poenae nicht genauer be­

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schrieben wurde, und verlangten, es müsse klargestellt werden, dass nur Jesus selbst behauptet hatte »Ich bin der Juden König«, wies Pilatus diese rechtlich unzulängliche Formulierung mit der Gereiztheit des entnervten Bürokraten zurück: »Was ich ge­ schrieben habe, das habe ich geschrieben.« (Joh 19,21-22)

Ein Fragment in Rom Egeria, die Pilgerin und Briefschreiberin aus dem vierten Jahr­ hundert, berichtet uns, der Bischof von Jerusalem habe das Holz vom Kreuz und den Titulus einem kleinen Kästchen entnommen. Das deutet darauf hin, dass um ca. 383 n. Chr. die Objekte nicht mehr vollständig waren und in einem kleinen Behältnis unterge­ bracht werden konnten. Helena hatte mit der Verteilung der Aus­ beute ihrer Grabungen ein bestimmtes Ziel verfolgt: Für die Kai­ serin, die das zukünftige Gedeihen ihrer Dynastie im Auge hatte, waren Konstantinopel und Rom von mindestens ebenso großer geopolitischer Bedeutung wie Jerusalem. Bethlehem und Jerusa­ lem erhielten ihre prächtigen neuen Kirchen; die heiligen Stätten waren ausgegraben und das Christentum in der Geschichte neu verwurzelt. Dafür sollten nun aber die Hauptstädte des Reiches Konstantins die Reliquien bekommen, jedenfalls die meisten. Keiner der Nägel blieb in Jerusalem. Das Wahre Kreuz wurde aufgeteilt. Und der Titulus ? Helena war großzügiger, als man den­ ken möchte. Sie nahm nur ein Stück des unteren rechten Teils der Tafel, mit einem vollständigen Wort auf Griechisch und Latei­ nisch: dem Wort, das Jesus als den Nazarener benennt. Alles ande­ re, die ganze hebräische Zeile (abzüglich der Unterlängen einiger Buchstaben) und der größte Teil der griechischen und lateini­ schen Zeilen, blieb in Jerusalem. Das war typisch für sie - eine ge­ lungene Aufteilung. Die aitia oder causa poenae, der juristische Grund für die Todesstrafe - »Der König der Juden« - stand mehr oder weniger vollständig auf dem Stück, das in Jerusalem blieb. Ein kleineres Fragment aber, auf dem ein Wort stand, das den Titu­ lus eindeutig kenntlich machte, konnte nach Rom gebracht wer­ den. Sicher ist, dass Egeria den Titulus in Jerusalem sah und Am­ 120

brosius zur gleichen Zeit wusste, dass er sich in Rom befand. Beide hatten Recht. Aber nur das römische Bruchstück hat - wie es scheint - überdauert.62 Was teilt es uns mit? Was verrät es uns über seine Vergangenheit und über seinen Echtheitsanspruch? Wie wir am Anfang dieses Kapitels gesehen haben, stellte Helena den römischen Titulus offenbar nicht öffentlich zur Schau. Das ist an sich nicht überraschend. Selbst in Jerusalem wurde das dortige Fragment des Titulus nicht in einem Schaukasten dargeboten; man zeigte es den Einheimischen und den Pilgern unter strengs­ ten Sicherheitsvorkehrungen nur zweimal im Jahr, am Karfreitag und am 14. September, dem Fest der Kreuzerhöhung, auch »Tag des Heiligen Kreuzes« genannt. Was das römische Fragment be­ trifft, so beschloss irgendwann um die Mitte des zwölften Jahr­ hunderts derTitularkardinal der Kirche von Santa Croce in Gerusalemme, es in einen neuen Kasten zu legen, den er selbst stiftete und der sein Siegel trug. Auf dem Stein, über dem sich der Kasten befand, ist eine lateinische Inschrift in Großbuchstaben zu sehen: TITVLVS CRVCIS. Das Siegel weist seinen Besitzer als Gerardus Cardinalis S. Crucis aus, sprich, als Gerardo Caccianemici, Erzbi­ schof von Bologna und Titularkardinal von Santa Croce, der von 1144 bis 1145 als Papst Lucius II. regierte. Daraus folgt, dass er vor 1144 den Kasten für den Titulus ausgewählt und mit seinem Sie­ gel gekennzeichnet haben muss. Das war etwa ein halbes Jahrhundert ehe es im Anschluss an die Eroberung von Byzanz durch die Kreuzfahrer zu einer großen Schwemme gefälschter Reliquien kam und solche Objekte zur in­ flationären Währung politischer Großmannssucht wurden. Wir haben keinen Grund anzunehmen, dass der Kasten des Kardinals im Zusammenhang mit dieser neuen Mode zu sehen ist. Es gibt keine Hinweise darauf, dass der Titulus danach für die Öffentlich­ keit eher zugänglich war als vorher. Er blieb vielmehr ein gehei­ mer Schatz, bis man ihn dreihundert Jahre später, im Jahre 1492, bei Restaurationsarbeiten an einem Mosaik, in deren Verlauf ein Teil der Decke abgetragen wurde, wieder entdeckte. Wie war er an diese Stelle gelangt? Die wahrscheinlichste Erklärung für den Aufbewahrungsort dürfte in dem Kunstwerk selbst zu suchen sein: Kaiser Valentinian III., der von 425 bis 455 regierte, hatte die Kapelle der heiligen Helena mit üppigen Mosaiken in dem glei­ 121

chen Stil ausschmücken lassen, den seine Mutter Galla Placidia in Ravenna förderte. Die Mosaiken zeigten Szenen von Helenas Rei­ se ins Heilige Land und besonders von ihrer Entdeckung des Wah­ ren Kreuzes. Da die Behörden beschlossen hatten, das Fragment nicht zur Schau zu stellen, war der würdigste, symbolisch sinn­ reichste - und auch sicherste - Platz für das Fragment hinter dem Mosaik, das den Augenblick seiner Entdeckung darstellte. Viel­ leicht hat Kardinal Caccianemici sogar geglaubt, die Reliquie kön­ ne von dort oben auf die Kapelle und die Kirche als Ganzes einen segensreichen Einfluss ausüben.

Rund dreihundertfünfzig Jahre nach der Aktion des Kardinals und über tausend Jahre nach der großzügigen Ausstattung der Kapelle durch Kaiser Valentinian war eine gründliche Restaura­ tion dringend erforderlich. Am 1. Februar 1492 erschien hinter ei­ ner beschädigten Stuckschicht ein Ziegelstein mit der Aufschrift: TITVLVS CRVCIS. Die Restaurateure nahmen ihn weg und ent­ deckten einen Hohlraum dahinter. Und dort stand er, der Kasten aus Blei, ebenfalls mit einer Aufschrift, die Auskunft über seinen Inhalt gab. Die Wiederentdeckung des Kastens hätte hässliche Emotionen, wie sie für die damalige Zeit typisch waren, hervorru­ fen können. Dies war das Jahr, in dem ein Seefahrer jüdischer Herkunft, ein gewisser Christoph Columbus, einen neuen Konti­ nent entdeckte, und es war auch das Jahr, in dem Spanien sämtli­ che Juden aus dem Land trieb, von denen viele nach Italien flohen oder in andere Länder auswanderten. Der Antisemitismus schlug wieder einmal hohe Wellen. Einmal mehr wurden Juden als die Mörder Christi geschmäht, und Andenken an die Kreuzigung gal­ ten nicht nur als religiöse Artefakte, sondern auch als angebliche Beweise für das Verbrechen des jüdischen Volkes. Zumindest den Titulus und andere mit dem Kreuz zusammenhängende Reliqui­ en als Belege für die Passion des Herrn öffentlich zur Schau zu stellen mochte den kirchlichen Behörden durchaus sinnvoll er­ scheinen. Um sich der Absurdität dieses gefährlichen Denkens klar zu werden, braucht man sich nur daran zu erinnern, dass auf dem Fragment des Titulus der gekreuzigte Christus ja ausdrück­ lich als Jude, als der »Nazoräer«, kenntlich gemacht wurde. Von 1492 bis zum heutigen Tag waren der Titulus und die ande­ 122

ren Reliquien mehr oder minder ununterbrochen zugänglich, je­ denfalls im Prinzip. Tatsächlich aber hatte die Öffentlichkeit nie wirklich Zutritt zu ihnen. Bis 1520 war die Kapelle der heiligen Helena Teil eines Gebäudekomplexes, der sich nur durch den Haupttrakt des Klosters erreichen ließ. Frauen durften diese Räumlichkeiten nicht betreten, außer an einem Tag im Jahr, näm­ lich am 20. März. Nach 1570 wurden die Reliquien in einem ande­ ren Raum des Klosters aufbewahrt und der Gemeinde an be­ stimmten, festgesetzten Tagen gezeigt. Dass Papst Innozenz VIII., angeblich einer Eingebung folgend, die Kirche anderthalb Monate nach dem Fund aufsuchte, sorgte allerdings dafür, dass sich die Kunde von der Existenz und dem Aufbewahrungsort der Kopfta­ fel allgemein verbreitete. Am 12. März 1492 besuchte er die Kir­ che und betete vor dem Titulus. Vier Jahre später erklärte Papst Alexander VI. das Fragment für eine echte Reliquie63 und ver­ sprach, dem Stil der Zeit gemäß, jedem, der den Titulus am letzten Sonntag im Januar an Ort und Stelle verehrte, vollständigen Sün­ denablass. Seit 1575 bis zum heutigen Tage zählt Santa Croce zu den sieben Kirchen in Rom, deren Besuch einem Pilger unter der Voraussetzung bestimmter kultischer Handlungen eine vollstän­ dige Vergebung seiner Sünden sichert. Im Jahre 1930 begannen die Arbeiten an einer neuen, zur Aufbewahrung der Altertümer bestimmten Seitenkapelle; als sie 1952 fertig gestellt war, hatten die Reliquien endlich eine dauernde Bleibe gefunden. Bei all den Ortswechseln und der in Abständen wiederkehren­ den öffentlichen Zurschaustellung des Titulus nach 1590 waren weitere Beschädigungen des Holzes unvermeidlich. Es gibt (und gab) Buchstaben, die bis dicht an den Rand des Bruchstückes reichten, aber dank jahrhundertelanger - und im Gefühlsüber­ schwang häufig heftiger - Befingerung sind sie an manchen Stel­ len beschädigt. Dennoch erlauben die Reste der Beschriftung, die überdauert haben, immer noch eine überraschend präzise Be­ schreibung des Inhalts der Tafel; die folgende Rekonstruktion ist Ergebnis und Zusammenfassung der eigenen Beobachtungen, zu denen wir mehrfach, zuletzt am 22. November 1998, Gelegenheit hatten, der Auswertung unschätzbarer neuer Fotografien von Ferdinando Paladini64 und einer Analyse der wenigen wissen­ schaftlichen Untersuchungen, die es zum Titulus gibt.65 123

• Das Fragment besteht aus Holz, und zwar aus einer im Nahen Osten damals häufig anzutreffenden Holzart, nämlich aus Wal­ nuss, mit botanischem Namen Juglans regia.66 • Es wiegt 687 Gramm, misst an seiner breitesten und längsten Stelle 25,3 mal 14 Zentimeter und ist 2,6 Zentimeter stark. • Das Holz war ursprünglich weiß bemalt, was zu der römischen Praxis passt, solche alba oder tabulae dealbatae genannten Be­ kanntmachungstafeln weiß anzustreichen. • Die Buchstaben, die ins Holz geschnitzt sind, weisen Spuren ei­ ner Färbung auf, die uns dunkelrot erschien, die aber von ande­ ren als schwarz beschrieben wurde. Wir nehmen an, dass es sich ursprünglich tatsächlich um rote Farbe handelte, die aber im Laufe der eintausendneunhundertsiebzig Jahre, die seitdem vergangen sind, einen Schwarzton angenommen hat. Rot, gele­ gentlich aber auch Schwarz, stünde im Einklang mit der römi­ schen Praxis. • Es gibt drei Zeilen mit fragmentarischer Schrift, Hebräisch oder Aramäisch (das Erhaltene reicht nicht aus, um das sicher zu entscheiden), Griechisch und Lateinisch. Aus den oben erläu­ terten historischen Gründen nehmen wir an, dass die Sprache in der ersten Zeile Hebräisch ist. • So beschädigt das Fragment auch ist, über die Reihenfolge der drei Sprachen besteht kein Zweifel: Hebräisch (oder Ara­ mäisch), Griechisch, Lateinisch. Wie wir gesehen haben, spricht der unseren Standardausgaben zugrunde liegende griechische Text des Neuen Testaments ganz entschieden gegen die Annah­ me, es könne sich bei dem Fragment um eine späte Fälschung handeln. Erinnern wir uns: Zur Zeit von Helenas Entdeckung gab es bereits im ganzen Reich Abschriften der Evangelien im Überfluss; die ersten beiden großen Codices (die antike Form des Buches), der Sinaiticus und der Vaticanus, wurden gerade geschrieben. Sie alle weisen für das Johannesevangelium die Reihenfolge Hebräisch, Lateinisch, Griechisch auf. Und das früheste Manuskript des Lukasevangeliums, das die drei Spra­ chen erwähnt, der Codex Sinaiticus, entstand tatsächlich unge­ fähr zeitgleich mit Helenas Besuch der Heiligen Stätten, gibt aber die Reihenfolge Griechisch, Lateinisch, Hebräisch an. Es versteht sich von selbst, dass ein Fälscher, der für Helena oder 124

für die christliche Gemeinde in Jerusalem arbeitete, der Anord­ nung der Sprachen im einen oder anderen der beiden Evangeli­ en gefolgt wäre. Eine neue Abfolge zu erfinden, die im klaren Widerspruch zu den aufgezeichneten Evangelien stand, wäre für jemanden, der seinem Werk doch gerade den Schein von Echtheit verleihen wollte, schierer Widersinn gewesen. Prak­ tisch läuft das darauf hinaus, dass es sich bei dem Titulus von Santa Croce um alles Mögliche handeln kann, nur ganz gewiss nicht um ein Objekt aus dem vierten Jahrhundert. Jeder Zeitge­ nosse, der es zu Gesicht bekam und es mit dem griechischen Text der Evangelien verglich, hätte einen Schwindel sofort ge­ merkt (man sieht förmlich die große Glocke vor sich, an die der eifersüchtige Euseb, der Macarius um jeden Preis diskreditieren wollte, die Sache gehängt hätte). Es ergibt sich also folgendes Bild: Der Titulus wurde um 326 n. Chr. von Helenas Ausgräberteam auf Golgatha entdeckt. Zu dieser Zeit war er noch vollständig. Ein kurzer vergleichender Blick in einen Evangeliencodex genügte, um zu bestätigen, dass der Text weitgehend dem Johannesevangelium entsprach (aber nicht ganz, wie wir noch unten sehen werden) und diesem dem Lukasevangelium gegenüber Recht gab, nur dass bei den Spra­ chen der zweite und dritte Platz vertauscht waren. Letzteres legte die Annahme nahe, dass der Wortlaut des Titulus älter war und dass sich die abweichende Lesart im Codex mit dem Johannese­ vangelium aus der Gedächtnislücke eines Augenzeugen erklärte, dessen Erinnerungen zwar inhaltlich richtig, aber nicht wortge­ treu waren. In einer Situation, in der sich der Glaube gerade erst entfaltete und in der die Detailgenauigkeit der Augenzeugenbe­ richte von essentieller Bedeutung war, schuf dies allerdings be­ reits ein Problem. Die einzige Lösung bestand darin, einen offizi­ ellen Codex mit der abweichenden Lesart herauszubringen und dafür zu sorgen, dass davon Abschriften angefertigt und diese im Reich verbreitet wurden. Unter der Annahme, dass der Text auf dem Titulus den wahren Wortlaut der römischen Inschrift wiedergab, war dies eine Korrektur, die man als statthaft betrachten konnte. Und genau das geschah. Anfang des fünften Jahrhunderts wurde ein sorgfältig gearbeiteter Codex in sorgfältiger Schrift

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herausgebracht, der Codex Alexandrinus. Nach dem Sinaiticus und dem Vaticanus ist dies die drittälteste existierende Bibelhand­ schrift. Andere Codices folgten ihrem Beispiel, und schließlich wurde sie die anerkannte Lesart des byzantinischen »Mehrheits­ textes« und behielt normative Bedeutung bis zur ersten gedruck­ ten Ausgabe des Neuen Testaments, die Erasmus herausbrachte.67

• Die hebräische Zeile ist durch das ständige Berühren in frühe­ ren Jahrhunderten, durch mangelhafte Aufbewahrung oder einfach durch Ungeschick beim Herausschneiden des für Rom bestimmten Stückes (immer angenommen, das Fragment ist echt) so stark beschädigt, dass nichts außer sechs, vielleicht auch sieben Unterlängen der Buchstaben erhalten geblieben sind. Da nur eine begrenzte Zahl von hebräischen oder aramäi­ schen Buchstaben solche Verlängerungen aufweisen und da sich auf Grund der anderen zwei Zeilen eine Rekonstruktion versuchen lässt, bei der natürlich die vorgeschlägenen hebräi­ schen oder aramäischen Buchstaben zu den Stellen passen müs­ sen, wo sich die Unterlängen befinden, scheinen fundierte Ver­ mutungen durchaus im Bereich des Möglichen. • Außergewöhnlich ist, dass der Text in der griechischen und der lateinischen Zeile von rechts nach links geschrieben ist. Was im Hebräischen bis heute korrekt ist, nimmt sich in diesen beiden Sprachen höchst merkwürdig aus. Es gibt alte etruskische Texte und antike griechische Inschriften mit Wörtern oder Buchsta­ ben, die von rechts nach links verlaufen, aber aus dem Zeitraum, um den es hier geht, kennen wir keinen einzigen geschlossenen Text, der auf diese Weise eingeritzt wäre. Auch dieser sehr selt­ same umgekehrte Schreibstil spricht entschieden gegen die An­ nahme, dass es sich bei dem Titulus von Santa Croce um eine Fälschung handelt. Ein Fälscher, der etwa von Helena oder Macarius oder auch von einem mittelalterlichen Kardinal beauf­ tragt worden wäre, hätte etwas derart Ausgefallenes einfach nicht riskiert, da es ihm ja darum gegangen wäre, seine Arbeit als echt erscheinen zu lassen. Schon grundsätzlich hätte der Auftraggeber bei ihm nicht bloß ein Fragment bestellt. Und dann hätte er ihn mit einem Muster versorgt, einem abzuschrei­ benden Text. Dass die Schrift einer späteren Textfassung oder 126

Textkopie von rechts nach links verlief, kann man mit Fug und Recht ausschließen. Weit wahrscheinlicher ist, dass der Schrei­ ber des ursprünglichen Titulus, der auf Geheiß des Pilatus und vielleicht sogar nach dessen lateinischer Vorlage schrieb, es ein­ fach so hinschrieb und dass der Irrtum sich nicht mehr rückgän­ gig machen ließ, als man ihn bemerkte. Hier kommen wir dem Kern der Sache näher: Wer hätte damals, im Jahre 30 n. Chr. so etwas überhaupt bemerkt? Ganz gewiss keine Hebräischleser, denn diese hatten ja ihre erste Zeile, von rechts nach links ge­ schrieben, wie es sich gehörte, und hätten sich nicht die Mühe gemacht, weiterzulesen und festzustellen, dass sich weiter un­ ten etwas Auffälliges befand. Die Umstehenden, die Griechisch und Lateinisch lasen, werden sich natürlich gewundert haben aber der Text blieb, so sonderbar er auch geschrieben war, lesbar und verständlich. Die causa poenae blieb keinem Leser verbor­ gen. Wir können daher Vermutungen über die Person des Schreibers anstellen: Er war wohl ein Jude, aufgewachsen als Hebräisch- oder Aramäischsprechender, bei Pilatus beschäftigt oder als Sklave in seinen Diensten, ein Hofangestellter, der zur Hand war, als der Titulus in dem knappen Zeitraum zwischen endgültigem Urteil und Kreuzigung diktiert werden musste. Pi­ latus diktierte seinen Text auf Lateinisch, in der offiziellen Spra­ che der römischen Verwaltung. Aber da die Hauptgruppe, an die sich die Inschrift richtete, die Juden von Jerusalem waren, befahl er dem Schreiber, mit der hebräischen Zeile zu beginnen. Dann fuhr er in der Eile fort, auch die folgenden Zeilen von rechts nach links zu schreiben. Und falls ihm beim Schreiben der letz­ ten Zeile noch Bedenken kamen, entschied er sich für das nun­ mehr einheitliche Schriftbild und schrieb auch hier von rechts nach links. Das alles ist natürlich reine Spekulation. Von allen Geheimnissen, die den Titulus von Santa Croce umgeben, ist dies das allergrößte. Aber wir können sicher sein, dass kein Fäl­ scher von sich aus auf solch ein Schema verfallen wäre. • In der griechischen Zeile lesen wir: BCyNEPAZAN. Alle Buch­ staben - mit Ausnahme des Z - verlaufen spiegelbildlich ver­ kehrt von rechts nach links, und das y steht für Y oder OY, auf Griechisch Ypsilon oder Oomikron + Ypsilon. Da wir ja von rechts nach links lesen, haben wir also: NAZAREN (O) YC B ... 127

Auf Deutsch heißt das »Nazarener K...«, was vervollständigt bedeutet »K(önig der Juden)«. Da »Nazarener« nie ohne das vorangehende Wort »Jesus« vorkam, können wir versuchswei­ se das griechische IH2OYS, Iesous hinzufügen: »(Jesus der) Na­ zarener, K(önig der Juden)«. Nur in der Version des Johannesevangeliums steht »von Naza­ reth«. In allen Manuskripten seines Evangeliums finden wir aber NAZÖPAIOX, nicht NAZAPHNO(y)S. Die letztere Variante kommt zwar in den Evangelien vor, wo sie nur mit »o« (dem grie­ chischen Omikron) geschrieben wird, nicht allerdings bei Johan­ nes.68 Und wo sie vorkommt, steht sie nicht im Zusammenhang mit dem Kreuz und dem Titulus. »Nazarenos« ist demnach zwar eine sprachgeschichtlich legitime Form, taucht aber in keinem Evangelientext auf, in dem von der Inschrift die Rede ist und von dem ein Fälscher selbstverständlich Gebrauch gemacht hätte. So haben wir also noch einen weiteren indirekten Beweis für die Echtheit des Fragments.69 Man hat die These vertreten, bei der griechischen Schreibweise handele es sich um nichts weiter als um einen Latinismus, mit an­ deren Worten, der Schreiber, der nach einer lateinischen Vorlage oder nach lateinischem Diktat gearbeitet habe, mit dem Griechi­ schen aber nicht sonderlich vertraut gewesen sei, habe die lateini­ schen Wörter einfach nur in griechische Buchstaben übertragen, also transkribiert.70 Diese These hat etwas für sich, wenn man da­ von ausgeht, dass eine korrekte griechische Schreibweise ein O und nicht ein Y oder den Diphthong OY erfordert hätte. Das konn­ te nur jemand schreiben, der lateinisch dachte (»Nazarinus«), aber das Gedachte aufs Griechische (»Nazarenos«) übertrug und dabei zu Y in einer seltenen, aber gut belegten Form oder auch zu einer Verbindung (wissenschaftlich gesprochen, einer »Ligatur«) von O und Y gelangte. Der Schreiber muss sich indes bei seiner Entscheidung irgendetwas gedacht haben, da er mit y einen Buch­ staben benutzt hat, der im Lateinischen kein Gegenstück hat. Vielleicht stand er unter dem Einfluss einer anderen Stelle des la­ teinischen Textes. Ob nun aber aus Platzmangel, ob unter dem Einfluss des lateinischen Textes oder ob aus mangelhafter Kennt­ nis des Griechischen - er lässt jedenfalls den bestimmten Artikel

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ho (ö auf Griechisch) vor BAXILEY2, König, weg. Im Lateinischen gibt es keine bestimmten Artikel, im Griechischen hingegen sind sie normal, und sämtliche Manuskripte des Johannesevangeliums weisen ihn an dieser Stelle auf. NAZAPENyS müsste natürlich mit einem H (Eta), d. h. dem langen, offenen -E-, nicht mit einem E (Epsilon) geschrieben wer­ den. Die Schreibweise unseres Schreibers ist jedoch kaum etwas Besonderes. Damals wurden Eta und das lange Epsilon fast auf gleiche Weise ausgesprochen. Es gibt Hunderte von Beispielen für die Verwechslung, besonders in griechischen Texten, die auf einen lateinischen Text zurückgehen. Auch wenn die formal richtige Schreibweise ein H verlangt hätte, nahm doch niemand Anstoß, wenn ein E dastand - oder auch, wie andere Beispiele bezeugen, wenn das Umgekehrte der Fall war. Und dann ist da das auffällige y. Im ersten Jahrhundert n. Chr. findet man es in griechischen Texten für den Einzelbuchstaben Y, aber auch für den Diphthong OY verwendet.71 Auch ein jüdi­ scher Schreiber mit geringen Kenntnissen wäre mit dem Zeichen vertraut gewesen, da es in der Zeit vor der Herodes-Dynastie als Abkürzung für Schekel benutzt wurde.72 Wissenschaftlern zu­ folge, die sich mit der Herkunft dieses Zeichens beschäftigt ha­ ben, »steht es offenbar für das königliche Emblem und folglich für das Placet des Königs«.73 Unser jüdischer Schreiber war au­ genscheinlich nicht ungeschickt: Indem er das y benutzte, löste er nicht nur das Problem seiner Unsicherheit hinsichtlich der korrekten griechischen Schreibweise, denn der Buchstabe, den er benutzte, ließ sich als Y oder auch als OY lesen. Er konstatierte darüber hinaus auch noch einmal die causa poenae, die »königli­ che« Behauptung, den Anspruch Jesu, »König der Juden« zu sein. Vielleicht war dies sogar ausschlaggebend für seine Wahl, und es verbarg sich noch ein anderes, subtileres Motiv dahinter: Es gab, wie wir mit Sicherheit wissen, viele Juden, die Jesus für den Messias hielten, jene, die nicht »Kreuziget ihn!« schrien, Männer wie Joseph von Arimathia und viele andere. Einer dieser messianisch gesinnten Juden konnte durchaus eben jener Ange­ stellte oder Sklave gewesen sein, der den Text des Pilatus in das Stück Holz schnitt. Ohne seinem Herrn zu nahe zu treten, der von dieser symbolischen Nebenbedeutung gar nichts ahnte, 129

konnte der Betreffende das y verwenden, um ein subtiles Glau­ bensbekenntnis abzulegen. Umstehende, die weder beide Sprachen beherrschten noch mit Geldsymbolen und ihrer Bedeutung vertraut waren, hatten den­ noch keine Mühe, das Wort und die Zeile zu verstehen. Das y war eine wohl vertraute Erscheinung in der damaligen griechischen Schrift, nicht zuletzt als Zeichen für den Diphthong OY, und es gibt mindestens eine, auf Rhodos gefundene, griechische Inschrift aus dem ersten Jahrhundert n. Chr., die es enthält.74 Auch hier wieder kennen wir keinen einzigen Evangelienpapyrus, der dieses Symbol verwendet, obwohl andere Abkürzungsformen, so ge­ nannte nomina sacra (Heilige Namen), gegen Ende des ersten Jahrhunderts bereits in Gebrauch waren.75 Kein Fälscher konnte diese Version erfunden oder aus irgendeinem Text der Evangelien übernommen haben. Das ist abermals ein Beweis, dass der Titulus in Santa Croce nicht das Werk eines Fälschers sein kann - und zwar ein Beweis, der schwerer wiegt, als es bislang für möglich ge­ halten wurde. In der lateinischen Zeile steht: ERSVNIRAZAN, in seitenver­ kehrter Schrift von rechts nach links verlaufend. Das bedeutet NAZARINUS RE(X) oder, zu Deutsch, Nazarener (von Nazareth) Köni(g). Die naheliegende Rekonstruktion liefert uns das lateini­ sche Äquivalent zur griechischen Zeile: IESUS NAZARINUS REX IUDAEORUM, Jesus von Nazareth, König der Juden. Hier liegt möglicherweise ein Fall von so genanntem Itazismus vor, den wir aus zahllosen Beispielen kennen: E und I wurden häufig gleich ausgesprochen. (Das E in der gestochenen Rekonstruktion über dem Titulus in Rom ist eine Erfindung.) Betrachten wir die Schreibweise aus einer römischen Perspektive, steckt vielleicht aber noch mehr dahinter. Hauptsächlich dank der lateinischen Fassung der Bibel in der Vulgata sind wir heute an die Schreibwei­ se -enus gewöhnt. Tatsächlich aber ist sie nicht korrekt, wenn man vom Latein der Literatur und der Inschriften ausgeht. Die übliche Nachsilbe bei einem Ortsnamen lautet -inus oder -ensis. Mit anderen Worten, das vertraute Nazarenus leitet sich wahr­ scheinlich von der griechischen Endung ab, bei der das Eta als lan­ ges E ausgesprochen und verstanden wird. Um es noch einmal an­ ders zu sagen: An der lateinischen Zeile des Schreibers (soweit sie

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erhalten geblieben ist) lässt sich nichts aussetzen, und das korrek­ te klassische i im Wort Nazarinus stützt unsere Annahme, dass die Ursprungssprache der Anordnung von Pilatus Lateinisch war. Dank dieses philologischen Hinweises dürfen wir sogar vermu­ ten, dass die lateinische Zeile dem Schreiber nicht diktiert, son­ dern schriftlich gegeben wurde. Jedenfalls stellt das i ein weiteres wichtiges Steinchen in dem Mosaik dar, das die Echtheit des Titu­ lus bezeugt. Ein Fälscher hätte natürlich die bekannte lateinische Bibelversion mit ihrem e übernommen. Wie wir bei der Untersuchung des auffälligen y in der griechi­ schen Zeile gesehen haben, kann in solchen Zusammenhängen der Vergleich mit Inschriften aus derselben Zeit außerordentlich nützlich sein. Wenn wir die noch vorhandenen griechischen und lateinischen Texte aus dieser Periode und dieser Region durch­ mustern, stellen wir fest, dass die Buchstaben auf dem Titulus den damals gängigen Formen entsprechen.76 Da wir wissen, dass es sich bei dem ursprünglichen Kopfbrett um einen römischen Text aus der Rechtssphäre handelte, den der Präfekt auf Latei­ nisch abgefasst hatte, mag es lohnend sein, sich den einzigen an­ deren Text genauer anzusehen, der unzweifelhaft mit Pontius Pi­ latus in Zusammenhang steht, nämlich die Stifterinschrift aus dem Tiberieum in Caesarea Maritima. Drei fragmentarische Zeilen sind erhalten geblieben: JTIBERIEVM / JNTIVSPILATVS / ]ECTVSIVD[AEA]E]: ... Tiberieum / ... (Po)ntius Pilatus / ... (Praefjectus Iud(aea)e. Von den Buchstaben, die in beiden Texten vorkommen, sind das A, das R (wobei man die seitenverkehrte Schreibweise auf dem Titulus in Rechnung stellen muss), das I, das V und das E gleich. Das S ist sehr ähnlich (auch hier wieder muss man seine exzentrisch seitenverkehrte Form auf dem Titu­ lus in Rechnung stellen). Nur das zweite R auf dem Titulus weicht ein wenig ab; es ist kunstvoller ausgeführt als das erste und das R aus Caesarea. Der Diagonalstrich beginnt mit einer Rundung, was für einen Schreiber spricht, der sich mit Pergament und Papyrus wohler fühlte als mit Holz oder Stein. Interessant ist, dass der Schreiber, weil er für einen römischen Präfekten arbeitete, zumindest bemüht war, römischen Schreib­ normen zu genügen. Bei der griechischen Zeile tat er sich nicht so viel Zwang an. Sogar die gleichen Buchstaben variieren: In der

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griechischen Zeile macht das E, das sich als Großbuchstabe im Griechischen und Lateinischen eigentlich nicht unterscheidet, ei­ nen fast verspielten Eindruck. Und zwei Buchstaben danach tref­ fen wir auf das faszinierende y.

Zu welchem Schluss führt uns also diese epigraphisch-philologische Analyse? Es gibt absolut keinen Grund, den Titulus in Santa Croce für eine Fälschung aus der Zeit Helenas oder auch aus dem Mittelalter zu halten. In ihrem Stil ähnelt die Schrift auf dem Stück Holz stark den Buchstabenformen des ersten Jahrhunderts. Wer diesen Text schrieb, war weder ein Kopist noch ein Fälscher. Damit wird die Echtheit des Fragments in Rom nicht bewiesen. Aber es gibt keinen Grund, dieses Stück Holz von vornherein aus dem Kreis archäologischer Überbleibsel auszuschließen, die mög­ licherweise zweitausend Jahre europäischer Geschichte überlebt haben und es deshalb verdienen, dass man sich auch in Zukunft wissenschaftlich mit ihnen beschäftigt. Sich eine Meinung über den historischen Ursprung eines Artefakts zu bilden ist etwas völ­ lig anderes, als es zum Gegenstand eines Reliquienkults zu ma­ chen. Wer Gründe für die Echtheit eines antiken Objekts geltend macht, bezieht deshalb nicht schon theologisch Stellung oder macht sich der Leichtgläubigkeit beziehungsweise des Funda­ mentalismus schuldig. Im Idealfall werden die Kirche von Santa Croce in Gerusalemme und das »Außenamt« des Vatikans (das in dieser Frage ein Mitspracherecht hat) eines Tages eine biotechnologische Analyse in Auftrag geben. Pollen, Samen und sonstige organische Materie müssen in den Rissen und Einkerbungen des Holzes verborgen sein. Die Herkunft dieser Stoffe lässt sich feststellen. Irgendje­ mand wird die Forderung nach einer dendrochronologischen Un­ tersuchung erheben.77 Andere werden nach einer RadiocarbonAnalyse (C-14-Verfahren) verlangen.78 Unabhängig davon, wie die Sache weitergeht, können wir hier und jetzt ein einziges Frag­ ment vorweisen, das Anspruch darauf erhebt, der Rest des Titulus zu sein, der am Wahren Kreuz über dem Haupte Jesu hing. Unse­ re Instrumente, die klassischen Instrumente der Historiographie und der Philologie, liefern künftigen Forschungen einen vorläufi­ gen Befund, der ermutigend genug ist. 132

5. Juden und Römer in Jerusalem Ich selbst ließ auch einige Abhandlungen über dieses Thema drucken, und da sie kein Mensch kaufte, tröstete ich mich damit, dass ein paar Glückliche sie lesen würden. Oliver Goldsmith, Der Pfarrer von Wakefield

Grenzen werden der historiographischen Analyse durch die Menge der erhalten gebliebenen Quellen, durch deren Erhaltungszustand und durch die historische Wahrscheinlichkeit oder Zufälligkeit ihres Überdauerns gesetzt. Gabriele Boccaccini, Beyond the Essene Hypothesis

Ein hebräischer Gott Wir wissen nicht, welchen Wortlaut der Text in der ersten Zeile auf dem Titulus von Santa Croce ursprünglich hatte. Nichts als ein paar Unterlängen haben überdauert, und die Evangelien, auch jene beiden, die ausdrücklich von einer hebräischen Zeile spre­ chen (mag diese nun die Anfangs- oder die Endzeile bilden), zitieren und paraphrasieren nur den griechischen Text. Die Her­ ausforderung allerdings bleibt: Kann uns wissenschaftliche De­ tektivarbeit dem, was der Schreiber auf Hebräisch schrieb, näher bringen? Diese Frage könnte Bedeutung für unser Verständnis der frühchristlichen Gemeinden in Judäa haben, die - so eine Grundthese des vorliegenden Buches - das Kreuz in einem Maße verehrten, wie das bisher noch nirgends angemessen gewürdigt wurde. Mehr als einmal haben Forscher versucht, den hebräischen Text auf der Basis des Griechischen zu rekonstruieren: »Jesus der Nazarener/Nazoräer, der König der Juden«. Wie sah das auf Hebräisch aus? Die ersten, die sich mit dieser Frage beschäftigten, waren im Mittelalter die Mönche von Santa Croce selbst. Das Ergebnis ihrer Bemühungen ist immer noch an einer Wand der Seitenkapelle zu besichtigen; zumindest handelt es sich um eine einfallsreiche Ver­ vollständigung des Titulus. Die ausführlichste Untersuchung die­

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ser Art wurde in Paris von Rohault de Fleury unter dem Titel Mé­ moire sur les instruments de la passion de notre Seigneur JésusChrist herausgebracht. Praktisch allerdings wiederholt er nur die Formulierung von Santa Croce und verweist auf Rufinus, der das Jerusalemer Fragment sah und berichtet, bei den Sprachen handele es sich um Hebräisch, Griechisch und Lateinisch.1 Rohault de Fleury führt auch einen gewissen Abbé Sionnet an, der 1845 be­ hauptet hatte, der vollständige hebräische Text, den er in lateini­ schen Buchstaben wiedergab, laute: ISCHOU NTSRNOUS.2 Die einzige Publikation indes, die sich bislang auf seriöse Weise um die Lösung der Frage bemüht hat, findet man in den Annales de philosophie chrétienne von 1839.3 Schon die Entstehung des Beitrags liefert ein faszinierendes Beispiel dafür, wie sich Wissen­ schaftler wechselseitig befruchten können: Die Herausgeber der Annales erklären ihren Lesern in einem Vorwort, dass es sich bei dem Artikel um einen Auszug aus einem Buch handele, den »der Gelehrte M. Drach« ihnen aus Rom geschickt habe, und zwar in Form eines Briefes, der an Abbé Liberman, einen »konvertierten Juden«, adressiert sei. Den einleitenden Worten des Briefs können wir entnehmen, dass »der Gelehrte M. Drach« selbst jüdischer Herkunft war; er spricht von den Juden als von »unserer Nation«. Offenbar waren sowohl der Verfasser als auch der Adressat des Briefes mit dem Hebräischen einigermaßen vertraut. Drach er­ läutert, die Reste der hebräischen Buchstaben - im Jahre 1839, al­ so vor über anderthalb Jahrhunderten, konnte er sicher noch mehr erkennen als wir heute - seien ihm von hebräischen Mün­ zen aus der makkabäischen Zeit vertraut. Weder der Papyrus Nash noch die entscheidend wichtigen Schriftrollen vom Toten Meer waren damals, als er seine Forschungen durchführte, bereits entdeckt;4 Münzen stellten das verbreitetste Vergleichsmaterial dar. Drach hält die wenigen erhalten geblieben Spuren nicht für Unterlängen unter der Zeile mit dem einstigen hebräischen Text. Seiner Rekonstruktion nach handelt es sich um mittlere und un­ tere Partien von Buchstaben in der mutmaßlichen Zeile. Und er gelangt zu dem Ergebnis, dass diese Buchstaben eine Form des Hebräischen ergeben, die er als »verdorbenes« Syrisch bezeich­ net. Man habe es zu Jesu Lebzeiten gesprochen, und es sei keines­ falls mit dem klassischen Syrisch zu verwechseln. Was er damit 134

meint, ist eine in der Region gesprochene Form des Aramäischen. Seine Rekonstruktion lautet: »Ye-ch-u-ang no-st-r-i me-le-hh Y-e-hu-da-y-a«. Hier handelt es sich offenkundig um halb gebildetes Rätselra­ ten ohne solide Basis. Drach bezieht sich aber auch auf einen ge­ wissen Leonardo di Sarzana, der den Titulus im Jahre 1492 sah, und zwar mit einer hebräischen Zeile, die natürlich noch weniger beschädigt war als im Jahre 1839.5 Dieser Leonardus Sarzanensis beschreibt die Zeile in einem Brief an Jakob von Volterra mit Da­ tum vom 4. Februar 1492.6 Da aber Leonardos Entzifferung des Textes von der Drach'schen Rekonstruktion an einer Stelle - bei der Schreibweise des Wortes »Jesus« - abweicht, urteilt Drach, sein mittelalterlicher Vorgänger habe den Text »offenbar nicht sorgfältig gelesen«. Er ist überzeugt davon, dass Leonardo die Buchstaben des ersten Wortes falsch gelesen habe und dass auf dem Fragment der Text vor dem letzten Wort, »der Juden«, abbre­ che. Der Fall wird noch zusätzlich durch Leonardos Handschrift kompliziert: Drach bemerkt, Leonardo habe die Zeile in der Kur­ sivschrift der portugiesischen Juden abgeschrieben; er verspricht Jakob, ihm später eine genauere Kopie mit den tatsächlichen Buchstaben in ihrer ursprünglichen Form zukommen zu lassen. Von diesem Brief fehlt jede Spur. Tatsächlich ist »Jesus«, das erste Wort in einem Text, der, wie gesehen, von rechts nach links verläuft, in der griechischen und der lateinischen Zeile nicht erhalten geblieben.7 Wir haben des­ halb keinen Grund anzunehmen, dass die hebräischen Buchsta­ ben an der entsprechenden Stelle über der griechischen Zeile je­ mals lesbar waren. Es gab sie auf dem größeren Fragment, das aus Jerusalem bezeugt ist, aber keiner von denen, die es sahen und die allesamt lateinisch- oder griechischsprachige Personen waren, fühlte sich bemüßigt, die hebräische Zeile zu zitieren. Bei dem, was Leonardo di Sarzana las und was Drach zu rekonstruieren glaubte, handelt es sich also wohl leider um ein reines Phantasie­ produkt. Zwei weitere Rekonstruktionen, die viel neueren Datums sind, haben mehr zu bieten. Als Erstes ist da der deutsche For­ scher Gerhard Kroll, der in einem Buch, das elfmal aktualisier­ te,8 für eine aramäische Version eintritt: »Yeshua Nazoraia Mal*35

in hebräisch/aramäischer Schrift, Nehmen wir einmal probehalber an, der letzte Buchstabe von Yeshua blieb in der fragmentarischen hebräischen Zeile erhalten, dann hätten wir rechts außen ein Ayin (V). Ein Schnitt im Holz ließe sich theoretisch als Längsstrich des Ayin interpretieren. Die Lücke allerdings zwischen diesem hypothetischen 17 und den Doppellängen weiter links ist zu schmal für das, was nach Krolls aramäischer Rekonstruktion dort stehen müsste. Hinzu kommt, dass die Einkerbung rechts außen, die den unteren Teil eines V darstellen müsste, zu weit oben liegt, um den anderen Überresten von Buchstabenlängen in oder vielmehr unter der Zeile zu entsprechen. Müssen wir deshalb von einer anderen hebräischen Schreib­ weise ausgehen? Eine Marmorinschrift, die 1961 in Caesarea Ma­ ritima gefunden wurde, könnte uns weiterhelfen. Der aus dem dritten Jahrhundert n. Chr. stammende Fund ist das Fragment ei­ ner Liste von Priesterfamilien, von denen eine in Nazareth ansäs­ sig war. Hier haben wir eine authentische Schreibweise des Orts­ namens, bei der als dritter Buchstabe ein Tsadeh (17) und kein Zayin (T) steht.9 Und wenn mithin Nazareth auf Hebräisch N-ZR-T oder T11X1 geschrieben wurde, erscheint plötzlich die Form NZR oder Nozri für »Nazoräer« ohne weiteres plausibel, nicht zu­ letzt angesichts des Umstandes, dass in den rabbinischen Schrif­ ten und im jüdischen Sprachgebrauch bis zum heutigen Tag die Christen als Nazoräer, Nozrim, oder, in hebräischer Schrift, als D’IXIl bezeichnet werden.10 Eine andere, kürzere Schreibweise wäre D’*1X1. So oder so aber steht das abschließende Mem (D) für die Pluralendung; wir würden es deshalb in einem Text, in dem es um den Nozri oder Nazoräer Jesus, also um eine einzelne Person geht, nicht erwarten. Erwarten lässt sich hingegen, dass der be­ stimmte Artikel hinzugefügt wird (der Nazoräer), was auf He­ bräisch durch ein Heh (J1) geschieht. Die wahrscheinlichste Les­ art für die hebräischen Buchstaben, die der Stelle in den darunter liegenden griechischen und lateinischen Zeilen entsprechen, wäre demnach ’*1X171 von rechts nach links verlaufend: Heh-Nun-Tsadeh-Resh-Yod, oder, in der längeren Version, ’*1X117, Heh-NunVahv-Holem-Tsadeh-Resh-Yodu - H(a)N(o)zri, der Nozri, der Nazoräer/Nazarener. ka

Diyehudaye«

oder,

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Und tatsächlich, die ersten deutlich sichtbaren Spuren in der hebräischen Zeile über dem Z des griechischen »Nazareno(u)s« sehen aus wie die Unterlängen eines Heh. (Was wie ein waagrech­ ter Balken aussieht, der die beiden Senkrechten miteinander ver­ bindet, ist nichts weiter als eine beschädigte Stelle im Holz.) Nach einer winzigen Lücke, durch die der Schreiber möglicherweise an­ zeigte, dass er vom bestimmten Artikel zum Substantiv über­ ging,12 folgt eine Markierung, in der man den Längsstrich des rechten Teils eines Nun erkennen könnte, wie er für den so genannten »vereinfacht-quadratischen« Stil des damaligen Heb­ räisch typisch war. Dementsprechend ließe sich dann der nächste senkrechte Strich als der Längsstrich des in vereinfachter Qua­ dratschrift ausgeführten Vahv-Holem identifizieren, wobei man die dem Schreiber eigentümliche Tendenz in Rechnung stellen muss, allen seinen Buchstaben einen leichten Linksdrall zu geben. Rechts unten bei dem Strich findet sich eine Einkerbung, die aber nicht mit dem Buchstaben zusammenhängt, sondern zu den vie­ len Kratzern gehört, die das Holz aufweist; das wird durch das Originalfragment eindeutig bestätigt. Nach einer kleinen Lücke folgt etwas, das wie ein weiterer kursiver Längsstrich aussieht, der nach links und dann wieder nach oben verläuft. Bei ihm handelt es sich eindeutig um den Überrest einer der beiden gängigen »ver­ einfacht-quadratischen« Schreibformen des hebräischen Buch­ stabens Tsadeh. Sogar die kleine Lücke zwischen dem Vahv-Holem und dem Tsadeh findet dabei ihre Erklärung: Bei dem kursiven, eckigen Tsadeh zweigt oben ein rechter diagonaler Strich ab, für den Platz sein musste. Mit anderen Worten, da auf dem Fragment nur noch der untere Teil des Buchstabens existiert, scheint es bloß so, als gebe es dort eine Lücke. Wären die Buchsta­ ben vollständig, würde sie verschwinden. Schließlich folgt auf das Tsadeh ein kürzerer, offenbar höher gelegener Längsstrich. Er könnte ohne weiteres zu einem Resh gehören, das in verein­ fachter Quadratschrift genau solch einen Strich mit rechtsseitiger Rundung aufweist. Kurzum: Die fragmentarischen Spuren in der hebräischen Zeile lassen sich tatsächlich als »... HaNozr...«, "ISlin, lesen:

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Buchstaben in ihrem Erhaltungszustand

J / I) Rekonstruierte Buchstaben

7

Ij

Auch hier wieder führt uns die hoch technisierte fachwissen­ schaftliche Analyse zu einem viel allgemeineren Schluss. Kein mittelalterlicher Fälscher hätte sich diese Lücken, fragmentari­ schen Längsstriche und Reste von Rundstrichen ausdenken kön­ nen, die nach dem Stand der modernen Forschung eindeutig als eine hebräische Schrift aus der Zeit Jesu identifizierbar sind. Diese Buchstaben konnte niemand geschrieben haben, der nicht über ei­ ne Textvorlage verfügte, in der zumindest die Wörter HaNozri in vereinfachter Quadratschrift vorkamen. Und die exzentrische Ei­ genart des Schreibers, den Linksdrall seiner Handschrift, hätte je­ der Fälscher, weil er ja bestrebt gewesen wäre, dem damals ver­ bindlichen Stil so nah wie möglich zu kommen, nach Kräften zu vermeiden gesucht.13 Jedenfalls ist es möglich, vernünftige Vorstellungen davon zu entwickeln, wie die hebräische Zeile beschaffen war. Über den ge­ nauen Wortlaut des fehlenden Teils des Titulus wissen wir damit allerdings noch nichts. Eine faszinierende Lösung dieses Problems stammt von einem jüdischen Wissenschaftler, der den Titulus in Rom nicht gesehen hatte, sondern seine Überlegungen auf den griechischen Text in Joh 19,19 stützte. Nach Schalom BenChorins Vermutung lautete der Text in der hebräischen Zeile fol­ gendermaßen (die rekonstruierten Buchstaben auf dem TitulusFragment sind kursiv gedruckt): Yeshu HaNozri VeMelek Ha Yehudim.14 Übersetzt bedeutet das: Jesus, der Nazoräer und König der Juden. Ben-Chorin führt die philologischen Aspekte seines Vorschlages nicht aus; wie auf der Hand liegt, handelt es sich nicht um eine wortwörtliche Übersetzung aus dem Lateinischen, der Sprache, in der die Anordnung des Pilatus ursprünglich abgefasst war. Die von Ben-Chorin vorgeschlagene hebräische Wiedergabe

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wirkt aber durchaus einleuchtend: Zuerst der Name und die Iden­ tität, Jesus der Nazoräer, mit einem normalen bestimmten Arti­ kel, ha = der. Anschließend die juristische causa poenae, »König der Juden«, beides verknüpft durch ein grammatisch korrektes »und« (Vc). Ein weiterer bestimmter Artikel vor Melek (König) war nicht nötig - und zwar um so weniger, als die causa poenae »König der Juden« oder »Rex Iudaeorum« dem Lateinischen ent­ nommen war, einer Sprache, die keine bestimmten Artikel kennt. Warum hält Ben-Chorin dies für den hebräischen Text? Bewusst oder unbewusst, so sein Argument, gab der Schreiber den Text in einer Weise wieder, die jedes neue Wort mit einem bedeutungs­ schweren Buchstaben begann. Wenn, wie er meint, Yeshu, HaNozri, VeMelek und Ha Yehudim als vier Wortgruppen zu be­ trachten sind, dann lauten die Anfangsbuchstaben dieser vier Gruppen Yod, Heh, Vahv, Heh. Sie aber bilden das Tetragramm, die vier Buchstaben des heiligen, unaussprechlichen Namens Gottes: TnTT, YHVH oder »deutsch« JHWH. Möglich, dass der Schreiber nicht wusste, was er tat. Aber eben­ so gut möglich, dass er es sehr wohl wusste - falls er nämlich, wie im letzten Kapitel erwogen, zu den Juden gehörte, die an Jesus glaubten. Jeder Jude, der gehört hatte, wie Jesus jene entscheiden­ den Worte sprach, die zu seiner Verurteilung durch den Sanhedrin und also zu seinem Tode führten, »Ich und der Vater sind eins«15, und der diesen Worten glaubte, konnte sich ohne weiteres einfallen lassen, das Tetragramm in die hebräische Zeile auf dem Titulus einzubauen. Nicht verwunderlich ist jedenfalls, dass die Hohen Priester heftig protestierten. »Schreibe nicht: Der Juden König, sondern dass er gesagt habe: Ich bin der Juden König.« (Joh 19,2i)16 Ben-Chorin hält zweierlei für möglich: Entweder protestierten sie dagegen, dass Jesus auf diese Weise, wenn auch ironisch, von Pilatus die Königswürde verliehen bekam, oder sie protestierten, weil sie erkannten, dass dabei das Tetragramm ent­ weiht wurde - jedenfalls aus ihrer Sicht. Vielleicht protestierten sie aber auch aus beiden Gründen. Interessanterweise ging aus dieser Kontroverse keine eigene Glaubensüberlieferung im Frühchristentum hervor: »König der Juden«, in allen drei Sprachen die causa poenae, blieb eine bloß historische Aussage. Keine Kirche, keine Glaubensgemeinschaft 139

machte daraus einen christologischen Titel17 - ein weiteres Argu­ ment gegen die Annahme, dass es sich bei dem Titulus von Santa Croce um eine spätere Fälschung handele.

Jerusalem als Pilgerstätte Wie viel wissen wir über die früheste christliche Gemeinde in Je­ rusalem, über ihre Sprachen, ihre Kultur und ihre Fähigkeit, ver­ lässliche Informationen weiterzugeben, was die Stätten und Arte­ fakte betraf, die für ihren aufkeimenden Glauben wichtig waren? Wie breitete sich die Kunde vom Kreuz und vom leeren Grab aus, ehe dann die ersten Wegbereiter in Erscheinung traten, jene Gläu­ bigen, die ihr Graffito in der Kapelle unter der Grabeskirche zurückließen, die heute St.-Vartans-Kapelle heißt? Oder müssen wir noch viele Jahre weiter zurückgehen, zu jenen Juden, die im Jahre 30 n. Chr. nach Jerusalem gekommen waren, um Schawuot zu feiern, das Wochenfest, und die Petrus über das Kreuz und das leere Grab predigen hörten und dann wieder nach Rom und in die anderen Städte des Römischen Reiches heimzogen, einige unter ihnen bekehrt, erfüllt von Glaubenskraft und bereit, die frohe Botschaft zu verkündigen? Diese Fragen sind für unsere Nachfor­ schungen zentral; sie betreffen wirkliche, aufgewühlte, politisch denkende Menschen des ersten Jahrhunderts, die unser kollekti­ ves Gedächtnis als milde Heilige kennt, die tatsächlich aber Mit­ wirkende in einem wahrhaft menschlichen Drama waren. Schawuot, das Wochenfest, war und ist bis heute ein wichtiges jüdisches Fest. Es wird fünfzig Tage nach Passah gefeiert und dient dem Gedenken an den Empfang der Zehn Gebote. Die Schriftrolle mit dem Buch Ruth wurde - und wird - zusammen mit den Zehn Geboten verlesen. Hunderttausende von Pilgern strömten aus al­ len Teilen des Römisches Reiches nach Jerusalem, um an den Fest­ lichkeiten im Tempel und in seiner Umgebung teilzunehmen.18 Der Evangelist Lukas, ein Historiker und Erzähler, der es an abge­ wogenem Urteil mit jedem seiner Kollegen aufnimmt, schildert eine Szene, in der solche Pilger in ihrer jeweils eigenen Sprache verstehen, was die angeblich ungebildeten Anhänger Jesu, »voll des Heiligen Geistes«, verkünden: 140

»Es hielten sich aber in Jerusalem Juden auf, die waren got­ tesfürchtige Männer aus allen Völkern unter dem Himmel. Da nun dieses Brausen geschah, kam die Menge zusammen und wurde bestürzt; denn ein jeder hörte sie in seiner eige­ nen Sprache reden. Sie entsetzten sich aber, verwunderten sich und sprachen: Siehe, sind nicht diese alle, die da reden, aus Galiläa ? Wie hören wir denn jeder in seiner Mutterspra­ che? Parther und Meder und Elamiter, und die wir wohnen in Mesopotamien und in Judäa und Kappadozien, in Pontus und der Landschaft Asien, Phrygien und Pamphylien, in Ägypten und der Gegend von Libyen bei Kyrene und Zugereiste aus Rom, Juden und Proselyten, Kreter und Araber, wir hören sie in unseren Sprachen von den großen Taten Gottes reden.« (Apg 2,5-11)

Die Aufzählung der Regionen, aus denen die Pilger stammen, dürfte den Tatsachen entsprochen haben; eher ist sie noch zu lückenhaft, denn es hielten sich sicher auch Juden aus Athen, Thessalonica, Korinth und aus anderen Städten und Landstrichen des Römischen Reiches in Jerusalem auf. Einer der ortsansässigen Juden, ein gewisser Simon Petrus (oder Schimon Kephas) aus Betsaida, sprach zur Menge - vermutlich irgendwo in der Nach­ barschaft des Tempels: »Ihr Männer, liebe Brüder, lasset mich freimütig reden zu euch von dem Erzvater David. Er ist gestorben und begra­ ben, und sein Grab ist bei uns bis auf diesen Tag. Da er nun ein Prophet war und wusste, dass ihm Gott verheißen hatte mit einem Eid, dass sein Nachkomme auf seinem Thron sit­ zen sollte, hat er's vorausgesehen und von der Auferste­ hung des Christus gesagt, dass er nicht dem Tod überlassen ist und sein Fleisch die Verwesung nicht gesehen hat. Die­ sen Jesus hat Gott auferweckt, dessen sind wir alle Zeugen. Da er nun durch die Rechte Gottes erhöht ist und den ver­ heißenen heiligen Geist vom Vater empfangen hat, hat er ihn ausgegossen, wie ihr hier seht und hört. Denn David ist nicht gen Himmel gefahren. Er spricht aber: >Der Herr sprach zu meinem Herrn: Setze dich zu meiner Rechten, bis

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ich deine Feinde zum Schemel deiner Füße mache.< So wisse nun das ganze Haus Israel gewiss, dass Gott diesen Jesus, den ihr gekreuzigt habt, zum Herrn und Christus gemacht hat.« (Apg 2,29-36)

Kaum eine nachdrücklichere Darlegung der zentralen Fakten des neuen Glaubens war denkbar: Jesus war leibhaftig gekreuzigt worden und auferstanden. Petrus forderte die Pilger auf, hinzuge­ hen und mit eigenen Augen zu sehen, wie es sich verhielt. Jesus hatte die Prophezeiung Davids erfüllt: Während das Grab des Ahnvaters unversehrt dalag, war das Grab seines Nachkommen offen und leer. Es liegt auf der Hand, dass eine solche Erklärung, unabhängig von ihrem theologischen Anspruch, nur einen Sinn ergab, wenn die in Frage stehenden Stätten bekannt waren und diejenigen, zu denen Petrus sprach, hingehen und sie selbst in Augenschein neh­ men konnten. Vor einer so engagierten Gruppe von Gläubigen konnte es sich der Apostel nicht leisten, das Blaue vom Himmel herunterzulügen.19 Man fühlt sich an eine Stelle im ersten Brief des Paulus an die Korinther erinnert, wo der Verfasser erwähnt, dass die Mehrzahl derer, die den auferstandenen Christus mit ei­ genen Augen gesehen hätten, noch am Leben waren.20 Was er da­ mit sagen will, ist klar: Wenn ihr mir nicht glaubt, reist nach Jeru­ salem, besucht Golgatha, seht des leere Grab und sprecht mit denen, die dabei waren. Sein Brief ist außerdem gespickt mit juris­ tischem Vokabular, als wolle er unterstreichen, dass er mit seinen Ansprüchen keine gerichtliche Überprüfung zu scheuen brauche. Möglich, dass sich einige unter den Zuhörern, von denen Lukas spricht, zwar in Jerusalem niedergelassen hatten, aber in ihrer Heimatregion noch bekannt waren. Simon von Kyrene zum Bei­ spiel, der Mann der den Querbalken des Kreuzes für Jesus trug (Mk 15,21), kam ursprünglich aus der Kyrenaika, die zwischen Ägypten und Tunesien lag. Juden aus dieser Region hatten in Je­ rusalem eine eigene Synagoge. Einer der Söhne von Simon, Ale­ xander, wurde in der Heiligen Stadt begraben; Archäologen der Hebräischen Universität in Jerusalem haben ein Ossuar mit sei­ nen Gebeinen entdeckt, dessen Inschrift zu entnehmen ist, um wen es sich handelt.21 Auch bei Stephanus, dem Anführer der

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griechischsprachigen Juden, die Anhänger Christi geworden wa­ ren (Apg 6,1-7), handelte es sich um einen Einwanderer; die jüdi­ schen »Hellenisten« besaßen mindestens zwei Synagogen in Je­ rusalem. Aber während die Wortwahl des Lukas auf eine Mischung aus ortsansässigen Juden und Sc/iawuot-Pilgern hin­ deuten könnte, bezeichnet er die Besucher aus der Hauptstadt des Reiches ausdrücklich als »Zugereiste aus Rom«. Sie jedenfalls würden nach dem Wochenfest wieder nach Hause fahren. Lukas zufolge ließen sich »dreitausend Menschen« durch die Worte des Petrus bekehren (Apg 2,41) - nicht viele, angesichts der Hunderttausende von Besuchern. Etwas später aber erfahren wir, dass »viele unter denen, die dem Wort zuhörten, gläubig (wurden); und die Zahl der Männer wuchs auf fünftausend« (Apg 4,4). Diejenigen, die nach Rom zurückkehrten, dürften Gol­ gatha gesehen haben, mit dem wahrscheinlich noch stehenden senkrechten Balken des Kreuzes, sowie das leere Grab und viel­ leicht auch, während heimlicher Treffen in dem berühmten »Obergemach« (Apg 1,13), den Titulus selbst, auf dem der Name »Jesus von Nazareth« festgehalten war. Sie dürften auch gewusst haben, dass die Römer für seinen Tod verantwortlich waren. Schließlich hatte Petrus seine Ansprache mit dieser Information begonnen: »Ihr Männer von Israel, höret diese Worte: Jesus von Naza­ reth, den Mann, von Gott unter euch ausgewiesen durch Ta­ ten und Wunder und Zeichen, die Gott durch ihn tat unter euch, wie ihr selbst wisst: ihn, der durch Ratschluss und Vor­ sehung Gottes dahingegeben war, habt ihr durch die Hand der Heiden ans Kreuz geschlagen und getötet.« (Apg 2,22-23 )22

Was sich daraus ergibt, ist von großer Bedeutung: Die heiligen Stätten des neuen Glaubens scheinen bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt als solche wahrgenommen worden zu sein. Und wichtiger noch, die Kenntnis ihrer Lage scheint schon um 30 n. Chr. in andere Städte des ganzen Reiches und nicht zuletzt in die Reichshauptstadt selbst gelangt zu sein. Von da an standen drei verschiedene Traditionsstränge in Wechselwirkung miteinander: Es gab die fortdauernde lokale Tradition der Judenchristen in Je­

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rusalem, die auch das kurze Exil23 nicht zu zerstören vermochte; es gab die Theologen der anderen Religionen, die Gelegenheit ge­ nug hatten zu beweisen, dass die Christen hinsichtlich ihrer heili­ gen Stätten irrten, die dies aber nicht taten oder jedenfalls nicht erfolgreich taten; und schließlich gab es all jene in anderen Ge­ genden der im Entstehen begriffenen christlichen Welt, denen von heimkehrenden Pilgern die Geschichten aus Jerusalem er­ zählt wurden. Wir können davon ausgehen, dass von der letzteren Gruppe zumindest eine gewisse Anzahl dadurch neugierig genug gemacht wurde, um aus Anlass eines Festes nach Jerusalem zu pil­ gern und mehr über diesen gekreuzigten und auferstandenen Messias herauszufinden.24 Das Laubhüttenfest (Sukkot), das im September oder Oktober gefeiert wurde, bot dazu die nächste Ge­ legenheit. Dann kam im folgenden Jahr das Passahfest (Pesach, das Fest der Ungesäuerten Brote) und schließlich wieder Schawuot, das Wochenfest, dem das Pfingstfest der Christen ent­ spricht. Ortsansässige Juden und Pilger, die zu den Festen kamen, konn­ ten sich, wenn sie an Yeshu HaNozri interessiert waren, mit ihren Fragen an mehrere Personengruppen wenden. Da war die unmit­ telbare Familie des getöteten Messias - Maria, Jakob und andere; da waren die Frauen, die als Erste das leere Grab gesehen hatten; da waren die elf Jünger, und da war Matthias, der Nachfolger des Judas, der nicht zuletzt deshalb gewählt worden war, weil er die ei­ ne entscheidende Bedingung erfüllte: von der ersten Stunde des öffentlichen Wirkens Jesu an dabei gewesen zu sein.25 Natürlich war das Zeugnis dieser Menschen nicht über jeden Verdacht der Parteilichkeit erhaben. Aber es gab einen, der an den Ereignissen während des Passahfestes im Jahre 30 n. Chr. teilgenommen hatte und sich von den Übrigen unterschied: Joseph von Arimathia, der Mann, den wir im vorherigen Kapitel als den wahrscheinlichsten ersten Hüter des Titulus ausgemacht haben. Da er von Geburt kein Jerusalemiter war, wurde er stets mit seiner Heimatstadt Ari­ mathia in Zusammenhang gebracht, die nach Ansicht der meisten heutigen Historiker fünfzehn Kilometer nordöstlich von Lod lag. Die Schreibweise Arimathaia ist wahrscheinlich eine griechische Wiedergabe von HaRamatha, Plural Ramathaim, »Zwillingsgip­ fel«; diese Stadt findet man in 1 Sam 1,1 und in dem zu den Apo­ 144

kryphen zählenden Buch 1 Makk n,34.26 Ramathaim oder Arimathia hatte eine lange Geschichte: Die Stadt war der Geburtsort von Elkanah, dem Vater des Propheten Samuel, und wahrschein­ lich auch von Samuel selbst27; sie geriet in syrische Hand und wurde Mitte des ersten Jahrhunderts v. Chr. durch den Makkabäer Jonathan befreit und dem Judentum zurückgegeben. Wenn das Lukasevangelium den Geburtsort Josephs eigens als »Stadt der Juden« bezeichnet, so werden wir daran erinnert, wie umstritten und hart erkämpft dieser jüdische Besitz war (Lk 23,51). »Von Arimathia« zu sein war deshalb eine Auszeichnung. Und Joseph war außerdem auch in materieller Hinsicht erfolgreich. Er hatte es zu Wohlstand gebracht - Matthäus bezeichnet ihn als »reichen Mann« (Mt 27,57). Er war geachtet (Mk 15,43) und ge­ recht (Lk 23,50), und vor allem hatte er den Gipfelpunkt einer jü­ dischen Karriere erreicht: Er gehörte dem Sanhedrin an, dem obersten Gerichtshof.28 Unseren Quellen zufolge war er Mitglied des Hauptrates in Jerusalem, dem traditionell siebzig Weise an­ gehörten, wenngleich es auch kleinere Gerichtshöfe von jeweils dreiundzwanzig Mitgliedern gab, die in den Städten, Jerusalem eingeschlossen, zusammentraten. Den Vorsitz im Großen Sanhe­ drin führte der Hohepriester.29 Zu Jesu Lebzeiten stellten die Sad­ duzäer die meisten Mitglieder, wenngleich der Einfluss der Pha­ risäer zunahm. Entscheidungen des Hohen Rats mussten nicht einstimmig gefällt werden. Da Joseph von Arimathia das Vorge­ hen des Hohen Rates gegen Jesus missbilligte (Lk 23,51), dürfen wir annehmen, dass er entweder im Sanhedrin ein Minderheits­ votum abgegeben hatte oder dass er einem der Kleinen Sanhedrine angehörte, die nicht direkt mit dem Fall befasst waren. Die Si­ tuation war heikel genug: Sich gegen die eindeutigen Absichten des Hohenpriesters zu stellen war zwar den Regeln nach möglich - wie Gamaliel ein paar Wochen später unter Beweis stellen sollte (Apg 5,33-40) -, aber riskant blieb es trotzdem. Wenn Joseph ein Anhänger Jesu war, dann musste er das geheim halten (Joh 19-38) und mit den Mitteln, über die er verfügte, Beistand leisten, ohne seine Macht selbst zu gefährden. Als ein Mitglied des Sanhedrin hatte Joseph das uneinge­ schränkte Recht, zu Pilatus zu gehen und ihn zu bitten, den Leich­ nam des gekreuzigten Mannes herauszugeben, damit dieser nach

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jüdischem Brauch bestattet werden konnte. Selbst ein hingerich­ teter Verbrecher musste brauchgemäß am Tag seines Todes beige­ setzt werden. Paradoxerweise mag diese Vorschrift des jüdischen Gesetzes verschleiert haben, wie sehr Joseph in diesem Falle per­ sönlich engagiert war; nach dem 5. Buch Mose musste solch eine Beisetzung nicht unbedingt durch einen Freund oder Verwandten des Toten vorgenommen werden, sondern war Aufgabe jedes ge­ setzestreuen Juden:

»Wenn jemand eine Sünde getan hat, die des Todes würdig ist, und wird getötet, und man hängt ihn an ein Holz, so soll sein Leichnam nicht über Nacht an dem Holz bleiben, son­ dern du sollst ihn desselben Tages begraben - denn ein Ge­ henkter ist verflucht bei Gott -, auf dass du dein Land nicht verunreinigst, das dir der Herr, dein Gott, gibt zum Erbe.« (Dtn 21,22-2j)3° Selbst Feinde des Volkes - und als einen solchen betrachtete die Mehrheit des Hohen Rats Jesus - waren von dieser biblischen Vorschrift nicht ausgenommen.31 Es gibt keinen Grund, warum Pilatus Josephs Bitte nicht hätte entsprechen sollen; Joseph dürfte sich gegenüber dem Präfekten auf das vorväterliche Gesetz beru­ fen haben, das dieser wahrscheinlich schon aus Anlass früherer Kreuzigungen von Juden kennen gelernt hatte; Pilatus sah ver­ mutlich keinen Sinn darin, am Vorabend des Sabbats jüdische Empfindlichkeiten zu schüren, zumal im Anschluss an eine Kreu­ zigung, von der er das Gefühl haben musste, dass sie seine Stel­ lung in Jerusalem gestärkt hatte. Einem Talmudtext aus späterer Zeit zufolge konnten die Lei­ chen von Verbrechern in einem Massengrab beigesetzt werden, für welches der Sanhedrin Sorge tragen musste.32 Interessanter­ weise machte man in den einzigen beiden Fällen, die uns aus dem ersten Jahrhundert n. Chr. bekannt sind, von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch. Der Leichnam des gekreuzigten Yehohanan aus Giv'at ha-Mivtar muss allein oder in einem Doppelkammergrab bestattet worden sein; sonst hätten seine Gebeine nicht einige Zeit später eingesammelt werden können, um brauchgemäß ein zwei­ tes Mal bestattet und in einem kleinen Ossuar beigesetzt zu wer-

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den, wo sie dann viele Jahrhunderte später von Archäologen ge­ funden wurden. Und im Falle Jesu stellte, wie wir aus dem Johannesevangelium wissen, Joseph von Arimathia sein eigenes Grab, das gerade erst neu in den Fels gehauen worden war, zur Verfü­ gung.33 Wir sollten allerdings nicht davon ausgehen, dass Joseph bereit war, sein Grab ein für alle Mal abzutreten. Erstens gab es sogar in einem privaten Familiengrab normalerweise mehr als ei­ ne Bank, und zweitens verwesten die Leichname rasch. Ein paar Wochen oder Monate später waren die Gebeine normalerweise so weit, dass man sie in ein kleines Ossuar umbetten konnte, das dann auf den Boden gestellt wurde. So mutig Josephs Handlungen zweifellos waren, so wenig Aufsehen musste doch erregen, dass er in dem Grab Platz zur Verfügung stellte. Der Präzedenzfall des Yehohanan beweist, dass auch ein Gekreuzigter würdevoll und entsprechend den alten Bräuchen bestattet werden konnte. Joseph handelte nicht ohne Unterstützung. Nikodemus kam ebenfalls zum Grab und brachte die vorgeschriebenen wohlrie­ chenden Öle und leinenen Tücher mit (Joh 19,40).34 Anders als die drei übrigen Evangelisten hatte Johannes ein besonderes In­ teresse daran, die Anwesenheit von Nikodemus zu erwähnen: Dieser Mann hatte bereits an zwei Stellen seines Berichts eine wichtige Rolle gespielt, einmal als Pharisäer und Angehöriger des Sanhedrin, der Jesus »bei der Nacht« aufsuchte (Joh 3,1-21), und das zweite Mal als aufgeklärter Vertreter des jüdischen Gesetzes (Joh 7,50-51). Joseph von Arimathia und Nikodemus waren Kol­ legen, die ihr gemeinsames Interesse an der Person und den Lehren Jesu zusammenführte - wahrscheinlich beim Verhör oder aber während der geheimen Vorgänge, die sich vorher ab­ spielten. Das Auftauchen von Nikodemus ist im Übrigen auch für unse­ re Frage nach der Verlässlichkeit der lokalen Überlieferung von Belang. Anders als Joseph wird Nikodemus nicht durch einen Ortsnamen kenntlich gemacht, zum Teil zweifellos deshalb, weil sein Name so ungewöhnlich war.35 Der Name, der »Beherrscher des Volkes« bedeutet, ist griechisch, nicht hebräisch oder aramäisch (in welchem Fall Naqdimon dem griechischen Wort phonetisch am nächsten käme). Griechische Namen waren im Ju­ dentum des ersten Jahrhunderts natürlich nichts Ungewöhnli­

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ches. Andreas und Philippus, zwei der Jünger, hatten griechische Namen; ebenso Stephanus, der Führer der hellenistischen Frakti­ on, Aeneas, ein von Petrus geheilter Jude, und viele andere mehr, die sich auf Grabsteinen und in Inschriften verewigt finden. Die Seltenheit dieses bestimmten Namens allerdings, der sich im griechischen Alten Testament oder in der jüdischen Volksüberlie­ ferung kein zweites Mal findet, deutet darauf hin, dass Nikode­ mus tatsächlich internationaler Herkunft war, dass seine Eltern vielleicht aus der Diaspora kamen und ihre Sprache Griechisch war. Falls sich das so verhielt, war er der ideale Ansprechpartner für Pilger aus den Gebieten der griechischsprachigen Diaspora, denn offenbar bemühten sich solche Besucher um jüdische Volks­ angehörige, die ihre Sprache von Hause aus sprachen. Ein Beispiel hierfür steht im Johannesevangelium: Dort wird berichtet, dass »etliche Griechen«, das heißt, griechischsprachige Juden, die zum Passahfest nach Jerusalem gekommen waren, Jesus sehen wollten und sich deshalb prompt an Philippus wandten, einen der Jünger, der einen griechischen Namen trug und Griechisch sprach. Philip­ pus wiederum ging sogleich zu einem anderen Jünger aus dem griechischsprachigen Betsaida, Andreas, dem Bruder des Simon Petrus, und beide zusammen trugen sie Jesus die Bitte der Pilger vor (Joh 12,20-23). Joseph und Nikodemus stehen für eine Minderheit unter den Mitgliedern der jüdischen Gerichtshöfe, die in ihren Ansichten über Jesus von der Mehrheitsmeinung des Sanhedrin abwich. In späteren Apokryphen findet man die Behauptung, Joseph sei ein Freund des Pilatus gewesen und habe missioniert, sei Hüter des Heiligen Grals geworden und habe die erste Kirche in Glaston­ bury begründet; von Nikomedus wollen Berichte, die ebenfalls viel späteren Datums sind, wissen, er sei ein Jünger der Apostel Petrus und Johannes gewesen; noch viel später wurde er sogar zum Verfasser eines Evangeliums erklärt.36 Diese Phantastereien sind für unsere Nachforschungen ohne Belang. Wichtig hingegen ist für unsere Überlegungen die Tatsache, dass es in Jerusalem sol­ che und ähnliche Männer gab. Mindestens zwei Männer von Rang standen Jesus und seinen Anhängern nahe. Sie mussten als außerordentlich vertrauenswürdige Zeugen gelten. Wenn jüdi­ sche Pilger aus fernen Gegenden nach Jerusalem kamen, dann lag 148

es auf der Hand, dass sie diese zwei jüdischen Weisen aufsuchten, die ihnen ihre Erlebnisse schildern und die heiligen Stätten zeigen konnten. Wie Paulus die Korinther aufforderte, nach Jerusalem zu ziehen und Augenzeugen zu befragen, so konnten die Christen in Jerusalem skeptische jüdische Besucher zu Joseph und Nikode­ mus schicken.

Gedenktafeln und Graffiti Der christliche Glaube ist seit jeher mit heiligen Stätten ver­ knüpft. Die Evangelien heben immer wieder deren Bedeutung hervor, von Bethlehem über Nazareth und Caesarea Philippi bis hin zum Tempel, zu Golgatha und zum Grab. Den bestimmten Ort angeben zu können, an dem ein bestimmtes Ereignis stattge­ funden hatte, galt den Evangelisten offenbar als äußerst wichtig. Jahrhundertelang behielten diese Ortsnamen ihre Aura, auch oh­ ne dass es archäologische Beweise für den Ort selbst gab. Neuere Ausgrabungen haben viele Rätsel gelöst und zum Beispiel nach­ gewiesen, wo sich das galiläische Kana befand; andere Fragen, wie etwa die nach der Lage von Emmaus, sind nach wie vor unbeant­ wortet. Gelegentlich können solche Grabungen atemberaubende Ergebnisse hervorbringen; die Freilegung des Fischerdorfs Betsai­ da und eines Fischerboots in der Nähe der Stadt Migdal/Magdala (Kibbuz Nof Ginnosar) sind nur zwei Beispiele. Ein weiteres sind die noch laufenden Ausgrabungsarbeiten bei Caesarea Philippi im Norden, nicht weit entfernt von Dan am Fuße des Hermon, wo ei­ ne ganze Szenerie aus dem ersten Jahrhundert wiederaufgetaucht ist, zu der ein der Gottheit Pan geweihtes heidnisches Heiligtum, ein Tempel des Kaisers Augustus und eine der Quellen des Jordan zählen. Die letztgenannte Stätte - die heute Banjas heißt, was in arabi­ scher Form den alten griechischen Namen »Paneas«, nach dem Gott Pan, aufgreift - kann die Bedeutung, die konkrete Orte für das entstehende Christentum hatten, beispielhaft deutlich ma­ chen. Banjas stellte seit dem dritten Jahrhundert n. Chr. eine der beliebtesten Pilgerstätten im Ostteil des Römischen Reiches dar.37 Schon der bloße Umfang des Areals wie auch die ausgegrabenen

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Läden und öffentlichen Einrichtungen vor dem Heiligtum deuten auf ein florierendes Unternehmen. Und hier wollte etwa im Jahre 29 n. Chr. Jesus von seinen Jüngern wissen, wen die Leute in ihm sahen und für wen sie, die Jünger selbst, ihn hielten.38 Augen­ scheinlich geschah es mit Bedacht, dass Jesus gerade diesen Ort auswählte, um diese bestimmte Frage zu stellen. Den Evangelien zufolge erklärte Simon Petrus, Sohn des Jona, Jesus zum Messias - dies an einem Ort, wo der universale griechische Gott des »Al­ les«39 unmittelbar neben einem Tempel verehrt wurde, der dem Kaiser Augustus geweiht war: Dem heidnischen Kult und dem Kult des Kaisers, die nebeneinander betrieben wurden, trat Jesus, der Gesalbte des Herrn, entgegen - und zwar an der Quelle des Flusses, in dem er getauft worden war. Pan wie auch Augustus wurden durchaus auch an anderen Stätten im Römischen Reich verehrt, von denen einige nur ein paar Tagereisen entfernt lagen wir wissen, dass es ein Heiligtum des Pan auch in Askalon gab und einen weiteren Augustustempel in Caesarea Maritima. Die Pilger wussten, wo sie hingehen mussten, wo sie die Stätten fanden, an denen sich die heilsgeschichtlichen Ereignisse, an die sie glaubten, nach der Überlieferung zugetragen hatten. Unter den vielen Orten, die mit Jesus in Verbindung gebracht wurden, waren zwei von allergrößter Bedeutung: die Stätte seiner Kreuzigung und die seiner Auferstehung, Golgatha und das leere Grab. Seine Jünger und frühesten Anhänger, allesamt Juden, wenn auch einige mit griechischem Hintergrund, waren sich natürlich im Klaren darüber, dass es den genauen Ort im Gedächt­ nis zu bewahren galt und dass dieses Wissen durch die Generatio­ nen weitergereicht werden musste. Nötig war das historische Pendant zum heutigen blauen Schild für denkmalgeschützte Bau­ werke. In der Antike war es üblich, Namen und Anrufungen in Stein zu ritzen. Die Ossuarien, von denen oben die Rede war, tru­ gen den Namen des Toten und häufig auch den des Vaters. Das Familiengrab von Kaiaphas, das im südlichen Jerusalemer Vorort Talpiot entdeckt wurde, oder die Ossuarien, die man in der Nähe der Kirche »Dominus flevit« auf dem Ölberg gefunden hat, bieten dafür zahlreiche Belege. Es handelt sich um jüdische oder jüdisch­ christliche Inschriften. Zwei weitere Ossuarien, die in Talpiot zu Tage gefördert wurden, hat ihr Entdecker Eliezer L. Sukenik (der

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Vater des berühmten Offiziers und Archäologen Yigael Yadin) auf den Anfang der vierziger Jahre des ersten Jahrhunderts, spätes­ tens auf 50 n. Chr., datiert und als jüdisch-christlich identifi­ ziert.40 Aber hier handelt es sich um bewegliche Objekte. Was ist mit den Schauplätzen der Ereignisse selbst? Martin Biddle, Professor für Archäologie in Oxford, hat mit Hilfe der neuesten Techniken der Archäologie und des computergesteuerten Messbildverfah­ rens das Grab in der Grabeskirche rekonstruiert; er genießt als Gelehrter die Achtung sämtlicher christlicher Konfessionen in Jerusalem, der muslimischen Schlüsselbewahrer der Kirche und der Israelis. Er ist auch zuversichtlich, dass die Restaurationsar­ beiten weitergehen werden, besonders am Boden der Rotunda.41 Er hat mehrfach erklärt, dort werde man vielleicht ein wichtiges fehlendes Glied in der Kette finden: Inschriften von einheimi­ schen Christen oder Pilgern. Jede Inschrift, die hinter die Zeit Hadrians zurückreichte, wäre das entscheidende blaue Schild des »Denkmalsschutzes«, nach dem alle suchen, die im Zusammen­ hang mit dem Kreuz und dem Heiligen Grab Forschungen be­ treiben. Sie würde uns etwas Greifbares liefern, würde es uns er­ leichtern zu akzeptieren, dass dieser bestimmte Teil der Kirche und nicht vielleicht das so genannte Grab des Joseph von Arimathia ein paar Meter hinter der koptischen Kapelle, dort, wo im ersten Jahrhundert der »Garten« mit den Gräbern war, die tatsächliche Grabstätte Jesu bildete, die von den ortsansässigen Christen den Besuchern gezeigt werden konnte, bis dann Hadri­ an seinen Tempel über der Stätte errichtete. Biddles vorsichtiger Optimismus entbehrt nicht jeder Grundlage. Nicht weit davon entfernt gibt es einen Präzedenzfall aus dem ersten Jahrhundert: das so genannte Davidsgrab unter dem »Abendmahlssaal« auf dem Berg Zion. Die Archäologen stimmen darin überein, dass es sich bei die­ sem Gebäude nicht um das wirkliche Grab Davids handelt, das sich in seiner eigenen Stadt auf dem östlich gelegenen Hügel na­ mens Ophel befand.42 Eine Gruppe orthodoxer Juden hat aus dem falschen Grab eine Synagoge gemacht, und an deren Nordwand steht ein riesiger Sarkophag, den ein kostbarer Teppich mit Sym­ bolen und Davidssternen bedeckt. Es gibt indes ebenso wenig

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Grund, diesen Sarkophag zu Davids Grab zu erklären, wie irgend­ eine Berechtigung, den Raum selbst mit ihm in Verbindung zu bringen; tatsächlich handelt es sich bei dem Grabmal um nichts weiter als um ein Zenotaph der Kreuzfahrer aus dem zwölften Jahrhundert. Bemerkenswert ist dagegen die alkovenförmige Ni­ sche oder Apsis für den Aaron Ha Kodesch, die Lade, in der die heiligen Schriftrollen aufbewahrt werden. In Synagogen außer­ halb Jerusalems weist diese Nische normalerweise in Richtung der Heiligen Stadt. In Jerusalem selbst hätte sie auf den Tempel beziehungsweise, nach dessen Zerstörung im Jahre 70 n. Chr., auf seinen ehemaligen Standort ausgerichtet sein müssen.43 Die Kompassnadel allerdings bestätigt eine überraschende Abwei­ chung von dieser Norm: Die Lage der Nische weist in Richtung Golgatha und Grab. Wir haben das selbst überprüft, und es ist ein­ drucksvoll, wie genau die Luftlinie die Gegend um Golgatha schneidet. Ein Blick über die Stadt Jerusalem von der Haas-Pro­ menade aus, wo man die Synagoge des »Davidsgrabes«, den inne­ ren Tempelbezirk (auf dem sich jetzt der Felsendom erhebt) und die Grabeskirche leicht voneinander unterscheidet, bestätigt, was sich jeder guten Karte des alten Jerusalem unschwer entnehmen lässt: dass niemand, der am »Davidsgrab« steht, den Standort des Tempels mit Golgatha verwechseln konnte. Mit anderen Worten, die Ausrichtung der Nische ist kein Versehen. Diese Beobachtung liefert eines von mehreren Argumenten für eine Theorie, die zuerst von Bargil Pixner, einem Jerusalemer Ar­ chäologen, vorgetragen wurde. Pixner erkennt in dem Gebäude eine jüdisch-christliche Synagoge, die von den Anhängern Christi nach der Rückkehr aus ihrem freiwilligen Exil in Pella in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre des ersten Jahrhunderts erbaut worden sei. Von einem der damaligen Anführer der Gemeinde, Si­ meon Bar Cleopas, war im vorhergehenden Kapitel bereits die Re­ de. Pixner baut auf der These auf, dass die jüdisch-christliche Sy­ nagoge an dieser bestimmten Stelle auf dem Berg Zion errichtet wurde, weil sich hier das Haus befunden habe, in dem Jesus mit seinen Jüngern das Abendmahl feierte; das Haus sei dann während des Aufstandes gegen die Römer zerstört worden. Pixner stieß mit seiner Theorie zum Teil auf Skepsis und Ablehnung, aber dank jahrelanger Forschung, bei der ihm Kollegen wesentli-

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ehe Hilfe leisteten, gelang es ihm, seinen Argumenten Anerken­ nung zu verschaffen.44 Am meisten allerdings interessiert uns ein zweites Argument, das dafür spricht, dass der Ort von jüdischen Christen bewohnt war. Im Jahre 1948 schlug eine jordanische Mörsergranate in das Gebäude ein. J. Pinkerfeld, ein israelischer Archäologe, erhielt den Auftrag, den Schaden zu untersuchen und zu beheben. 1951 fand er die Nische für die Thorarollen und zwei verschiedene Fußbo­ denschichten unter der heutigen Oberfläche: einen byzantinisch­ spätrömischen Fußboden und noch weiter darunter, siebzig Zenti­ meter unter dem heutigen Niveau, die ursprüngliche Bodenfläche mit Resten von Steinplatten.45 Pinkerfeids wichtigste Entdeckung waren Fragmente von Stückwerk aus dem ersten Gebäude, die er in der ältesten Ausgrabungsschicht fand und auf denen griechi­ sche Graffiti zu sehen waren. Pinkerfeld kam bei einem arabi­ schen Attentat ums Leben, ehe er seine Funde publik machen konnte. Ein italienischer Archäologe, Emanuele Testa, veröffent­ lichte und interpretierte die Graffiti als Erster.46 Keines von ihnen ist formgerecht, das heißt, im Stil der offiziellen Inschriften nie­ dergeschrieben. Abgekürzt und hastig hingekritzelt, erinnern sie an jene Inschriften auf Ossuarien, die man einritzte, unmittelbar bevor der Kasten in der Grabkammer deponiert wurde.47 Bei ei­ nem der Graffiti handelt es sich eindeutig um eine an Jesus ge­ richtete Bitte. Nach Testas Entzifferung, die Pixner, Riesner und andere bestätigt haben, lautet sie: »IOY IHSOYS ZHZO K1PIE AYTOKPATOPOS: O Jesus, Herr des Herrschers, mach, dass ich le­ be.« Andere haben übersetzt: »O Jesus, mach, dass ich lebe, Herr des Alleinherrschers.«48 Diese Anrufung Jesu scheint auf den An­ fang von Psalm 109/110 anzuspielen, der von den Christen als messianische Prophezeiung verstanden wurde, wie bereits die Pfingstpredigt des Apostels Petrus in Jerusalem zeigt: »Der Herr sprach zu meinem Herrn: >Setze dich zu meiner Rechten Das merkwürdige autokrator, (Selbst)Herrscher oder Alleinherrscher, in unserem Graffito war den Griechisch sprechenden Juden zu­ mindest aus einem apokryphen Buch der Bibel, 4. Makkabäer, be­ kannt, wo es fünfmal vorkommt. In allen Fällen bedeutet es Herr oder Herrscher.49 Autokrator zählte aber auch zu den vielen Ti­ teln, die zur Zeit Jesu und seiner ersten Anhänger der römische

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Kaiser beanspruchte. Jesus als autokrator zu bezeichnen war, poli­ tisch gesehen, mindestens ebenso provokant wie die Rede vom »Sohn Gottes«, was ja ebenfalls, wie gesehen, einer der offiziellen Titel des Kaisers war.50 Die genaue Zuordnung der Graffiti aus der untersten Schicht der Synagoge auf dem Berg Zion ist unter den Gelehrten nach wie vor umstritten; vor dem Hintergrund der Archäologie des Ortes und der Ausrichtung der Thora-Nische spricht aber vieles dafür, dass sie jüdisch-christlicher Herkunft sind. Zumindest lässt sich feststellen, dass sie aus dem ersten Jahrhundert stammen und et­ was oder jemanden anrufen, und zwar an einem kultischen Ort zu dem dieses Gebäude rasch wurde, sofern es nicht überhaupt als Kultort entstanden war. Gleichgültig aber, ob wir uns für die kühnste oder die vorsichtigste Deutung entscheiden, die Graffiti sind erst ein Anfang dessen, was künftige Ausgrabungen noch zu­ tage fördern werden - ähnliche Inschriften, Zeichnungen oder Kritzeleien, die vielleicht schon bei den ungeduldig erwarteten Restaurationsarbeiten auf dem Fußboden des Grabes Christi in der Grabeskirche auftauchen könnten. So schwer es vielen fallen mag, geduldig abzuwarten - wir müs­ sen ausharren, bis Martin Biddle, seine Frau Birthe und ihre multikonfessionelle Mannschaft mit ihrer Arbeit beginnen. Eine bemerkenswerte christliche Inschrift gibt es immerhin in Jerusa­ lem, die hinter die Zeit der Entdeckungen Helenas und der Bauar­ beiten Konstantins zurückreicht; wir haben sie im vorhergehen­ den Kapitel kurz erwähnt: Unter der Grabeskirche gelangt der Besucher, wenn er die Stufen zur Helena-Kapelle hinabsteigt, auf ein Plateau, das zur Kapelle der Armenier gehört. Zur Linken gibt es eine geschlossene Tür, die von den Armeniern bei seltenen Ge­ legenheiten geöffnet wird. Dahinter führen Stufen zu einem tiefer gelegenen höhlenartigen Raum; wir sind auf dem Niveau des Fel­ sens von Golgatha, der einst frei lag, aber dann durch den Hadrianstempel dem Blick entzogen wurde. Die Armenier fanden bei Re­ staurationsarbeiten den Ort fast zufällig, als sie auf einen Hohlraum hinter einer Wand stießen. Sie weihten die Kapelle dem heiligen Vartan und den armenischen Märtyrern und machten ei­ ne überraschende Entdeckung. Auf einen Stein war ein Boot ge­ zeichnet, und darunter stand eine lateinische Inschrift. Ehe das

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ganze Areal ordnungsgemäß restauriert wurde, schaute sich ein Mitglied der britischen School of Archaeology die in Großbuch­ staben geschriebene Zeile der Inschrift an und gelangte zu der An­ sicht, sie laute ISISMYRIONIMOS, »Isis der tausendfachen Na­ men« - einer der Titel, den die ägyptische Göttin führte. Das war eine wilde Vermutung, da die Buchstaben des zweiten Wortes nicht im Entferntesten an das Wort MYRIONIMOS erinnern, ab­ gesehen davon, dass es ein M und ein S gibt, und da außerdem ver­ gleichbare Inschriften die Göttin nicht als Isis, sondern in der grammatikalisch richtigen Form als Isidi anrufen. Und das Boot über der Zeile wäre im Zusammenhang mit Isis ohne Bedeutung. Emanuele Testa schlug eine Lesart vor, die mit den Buchstaben in ihrer jetzigen Verfassung vereinbar ist und die der darüber befind­ lichen Bootszeichnung Rechnung trägt. Er liest DOMINEIVIMVS, d. h. Domine ivimus: Herr, wir sind angekommen. Diejenigen, die sich durch die Isis-Deutung hatten überzeugen lassen, unterstell­ ten Testa, er habe die Buchstaben während der Restauration ver­ ändert oder verfälscht, und zeigten ihn wegen Betruges an. Spezia­ listen der Kriminalpolizei wurden hinzugezogen, die am 12. Januar 1977 endlich die Untadeligkeit von Testas Arbeit und die Echtheit der Zeichnung und der lateinischen Zeile bestätigten (oh­ ne sich zur inhaltlichen Bedeutung des Textes zu äußern - das war auch nicht Sache der israelischen Polizei).51 Domine ivimus zu übersetzen barg keine großen Probleme. Und es war auch nicht schwer zu erkennen, dass damit auf den Pilgerpsalm 121/122, Vers 1, angespielt wurde: »Laetatus sum eo quod dixerint mihi in domum domini ibimus, stantes erant pedes nostri in portis tuis Hierusalem, was so viel bedeutet wie: »Ich freue mich über jene, die mir sagten: Lasset uns ins Haus des Herrn gehen! Unsre Füße stehen in deinen Toren, Jerusalem.« Diese Pilger waren der Aufforderung des Psalms gefolgt; sie zo­ gen nach Jerusalem und kamen dort an. Die Auswechslung eines einzigen Buchstabens, die Ersetzung von b durch v (bei der Aus­ sprache wurde damals zwischen den beiden Buchstaben ohnehin häufig nicht unterschieden), verwandelte das Futur ibimus in die Perfektform ivimus. Selbst die jüdischen Wissenschaftler, die den Text untersuchten, kamen interessanterweise nie auf die Idee, dass es sich um eine jüdische, statt um eine christliche Inschrift

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handeln könne. Der Ort der Entdeckung, am Fuße Golgathas gele­ gen, schloss das aus. Und es ist unwahrscheinlich, dass jüdische Pilger lateinisch statt griechisch schrieben, da Griechisch für die Juden sogar in Rom und andernorts in der Diaspora die Verkehrs­ sprache war und blieb. Die Christen im Westen hingegen fingen bald schon an, das Lateinische zu verwenden, zuerst als Alternati­ ve zum Griechischen und schließlich als Hauptsprache. Spätes­ tens Mitte des zweiten Jahrhunderts n. Chr. war Latein für die christliche Literatur zu einer akzeptablen Sprache geworden. In Pompeji wurden christlich-lateinische Graffiti gefunden, die älter sein müssen als 79 n. Chr., das Jahr der Zerstörung Pompejis durch den Ausbruch des Vesuv. Die zeitgenössische Schilderung eines Märtyrertodes, der sich um 180 n. Chr. in Scilli (heute Tune­ sien) ereignete, setzt die Existenz von lateinisch geschriebenen Schriftrollen mit den Paulusbriefen voraus; gegen Ende des glei­ chen Jahrhunderts schrieb der große Theologe Tertullian bereits ausschließlich auf Lateinisch.52 Mit anderen Worten, es lässt sich erwarten, dass eine westliche Pilgerinschrift aus diesem Zeitraum in Latein abgefasst ist. Wie lässt sich das Bild datieren? Es handelt sich um ein kleines römisches Handelsschiff; der Bug hat die Form eines Gänsekop­ fes, das Segel ist hinter dem Mast aufgerollt und mit roten Stricken zusammengebunden. Der Mast selbst ist umgelegt - das Boot, so gibt man uns zu verstehen, ist im sicheren Hafen, an der Stätte des Todes und der Auferstehung des Herrn, eingetroffen. Eine machtvolle Bildersprache, die sich einfachster Mittel bedient. Wie Magen Broshi nachgewiesen hat (siehe Anm. 51), war die­ se Art von Handelsschiff zwischen dem zweiten und dem vierten Jahrhundert in Gebrauch. Zeichnung und Text können also schon aus der Mitte des zweiten Jahrhunderts oder auch erst aus dem vierten Jahrhundert stammen. Der Stil der Inschrift spricht eher für ein frühes Datum, aber wegen der groben und wenig fach­ männischen Ausführung ist eine genaue Datierung unmöglich. Andere historische Umstände können eine gewisse Orientie­ rungshilfe bieten; jedenfalls ist ein Datum nach 326, dem Jahr, in dem Helena Jerusalem besuchte, auszuschließen. Sobald Hadrians Tempel abgerissen war, konnte jeder Pilger die Hügelkuppe von Golgatha und die Steine des leeren Grabes ungehindert erreichen.

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Umgekehrt kommt aus dem gleichen Grunde auch kein Datum vor dem Bau des Hadrian'schen Tempels, also vor etwa 135 n. Chr., in Frage. Wer auch immer von nah oder fern kam, um die beiden Stätten zu sehen, hatte Zugang zu ihnen. Und wie bereits bemerkt, ist es unwahrscheinlich, dass judenchristliche oder auch heidenchristliche Pilger vor Hadrians Regierungszeit eine lateini­ sche Anrufung geschrieben hätten. Wir können mit Sicherheit sagen, dass Boot und Inschrift zwi­ schen 135 und 324 n. Chr. in den Stein geritzt wurden. Lässt sich das Datum noch weiter präzisieren? Die Logik legt die Annahme nahe, dass die Einritzungen aus einer Zeit stammen, in der es Christen erlaubt war, zu reisen und sich in der Öffentlichkeit zu zeigen, in der es also keine lokalen oder das Reich umspannenden Verfolgungen gab. Aus dieser Perspektive bietet sich als wahr­ scheinlichster Zeitraum das ausgehende zweite und das begin­ nende dritte Jahrhundert an. Auch wenn es immer wieder kürzere Perioden gab, in denen relative Ruhe herrschte und in denen Christen, nach den Worten der italienischen Historikerin Marta Sordi, die »De-facto-Duldung von Septimius Severus bis Heliogabal« genossen,53 drängt sich ein bestimmter Zeitraum ganz be­ sonders auf: die Regierungszeit von Philipp dem Araber, Marcus Iulius Philippus, der zwischen 244 und 249 n. Chr. römischer Kai­ ser war. Als Araber, der aus dem südöstlich von Damaskus gelege­ nen Ort Schahba stammte, kam er aus einer Gegend, in der reli­ giöse Toleranz Tradition hatte. Seine Verwaltung ließ die Christen aufatmen; man hat die Vermutung geäußert, er selbst sei Christ gewesen, wenn auch nur insgeheim.54 Mit seinem Nachfolger Decius begannen sechzig Jahre der Unsicherheit und der konzen­ trierten Verfolgungen, bis Konstantin und Licinius im Jahre 313 am kaiserlichen Hof in Mailand das Christentum zur tolerierten Religion erklärten. Der Datierungszeitraum ließe sich also ver­ suchsweise auf äußerstenfalls die Regierungszeit von Philipp dem Araber oder aber die vorangehende Periode der Severerdynastie eingrenzen. Jedenfalls sorgten die Pilger geschickt dafür, dass ihr Graffito nicht der Zerstörungswut feindlicher Juden oder römischer Ver­ folger anheim fiel. Inden) sie »DOMINE« schrieben, benutzten sie einen Begriff, den ein Jude mit Psalm 122 assoziieren und in dem

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ein einfacher Römer eine Anrufung des Kaisers sehen konnte: Dominus (auf Griechisch Kyrios) gehörte zu den Titeln und Anre­ deformen, die der römische Kaiser für sich in Anspruch nahm.55 Warum sollten die Christen nicht auch einem Wort ihres Herrn Jesus Folge leisten: »Siehe, ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe. Darum seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben.« (Mt 10,16) Aber wann auch immer jene Christen in Jerusalem angekom­ men sein mögen, sie müssen dort jedenfalls andere Christen an­ getroffen haben, die ihnen den Ort zeigen konnten. Um einen zentralen Punkt unserer Überlegungen noch einmal zu wiederho­ len: Wir haben keinen Grund, daran zu zweifeln, dass es eine un­ unterbrochene lokale Überlieferung gab, die vom Augenblick der Kreuzigung und Bestattung bis zu dem Tage reichte, an dem Kai­ serin Helena auf der Bildfläche erschien. Angefangen von den Au­ genzeugen bei der Kreuzigung über Joseph von Arimathia und Nikodemus bis hin zu Simeon Bar Cleopas, von den jüdischen Christen in der Synagoge auf dem Berg Zion bis zu den übers Meer gekommenen Pilgern mit ihrem Graffito auf Golgatha, stoßen wir auf Menschen, die in mehr als einer Sprache lesen und schreiben konnten und die für eine zuverlässige lokale Überliefe­ rung sorgten. Als das Grab um 326 n. Chr. gefunden wurde, waren die Anwesenden natürlich überrascht. Ihre Überraschung aber bezog sich nicht auf den Ort; überrascht waren sie, weil sie nicht gehofft hatten, das Grab in seinem ursprünglichen Zustand wie­ der zu finden, genau an der Stelle, die eine zweihundertjährige Überlieferung bezeichnete.56 Vieles von dem, was einmal existiert hatte, ging in späteren Jahrhunderten verloren oder wurde zerstört. Die Eroberung der Stadt durch die muslimischen Heere im 7. Jahrhundert und die mutwilligen Zerstörungsakte an Christi Grab und in der ganzen »Auferstehungskirche« mit ihren christlichen Symbolen, die Ka­ lif Al Hakim im Jahre 1009 anordnete und die Yaruk, der Statthal­ ter von Ramla, gehorsam ausführte,57 sorgten für den schlechten baulichen Zustand der Stätten. Die Grabeskirche der Kreuzfahrer überdeckte ihn nur. Es muss noch mehr Inschriften und Erinne­ rungszeichen gegeben haben, die vor Hadrians Bautätigkeit und dann wieder nach den von Helena befohlenen Ausgrabungen zu

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sehen waren. Was heute sichtbar ist - einschließlich dessen, was sich vielleicht noch mit der modernsten Ausgrabungstechnik zu­ tage fördern lässt ist nur ein Bruchteil dessen, was einmal da war. Auch so bleibt die Qualität des Erhaltenen noch erstaunlich erstaunlicher, als viele, die sich mit der Geschichte der Grabeskirche und anderer Stätten im Heiligen Land beschäftigen, zugeben möchten. Hier sprechen über die Jahrhunderte hinweg Männer und Frauen zu uns, die zu wissen glaubten, was sich ereignet hatte und, wichtiger noch, wo es geschehen war. Der Titulus ist nur ein Stück dieser reichhaltigen Überlieferung.

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6. Das früheste christliche Symbol Eine merkwürdige Fügung hat es gewollt, daß Constantin auch in dem, was er für Palästina tat, weltgeschichtlich auf viele Jahrhunderte hinaus wirken sollte. Ohne den Glanz, welchen er über Jerusalem und die Umgegend verbreitete, hätte sich die Andacht der römischen Welt und folgerichtig die des Mittelalters nicht mit solcher Glut an diese Stätten geheftet und sie nicht nach einem halben Jahrtausend der Knechtschaft dem Islam wieder entrissen. Jacob Burckhardt, Die Zeit Constantins des Großen Die zentrale Bedeutung des Kreuzes ...

Hugh Montefiore, On Being a Jewish Christian

Ein stenographisches Symbol vom Himmel? Schon lange besagt die herrschende Lehre, dass in und nach der Regierungszeit Konstantins das Kreuz zu einem zentralen Ele­ ment der Symbolik in der westlichen Welt aufgestiegen sei. Tatsächlich ist die plötzliche Zunahme von Kreuzen und ChiRho-Monogrammen auf Inschrifttafeln, Lampen, Amuletten und Salben- oder Wassergefäßen bemerkenswert. Etwas muss diese Ausbreitung begünstigt haben, irgendein politischer Willensakt. Es wäre allerdings grundfalsch, daraus den Schluss zu ziehen, es habe vorher noch gar keinen Markt für dergleichen gegeben darauf wurde schon in Kapitel i hingewiesen.1 Aber diese Fehl­ einschätzung hat sich als enorm einflussreich erwiesen. Wann immer ein Kreuz mit dem Chi-Rho-Monogramm auf einem Ossuar, einer Inschrifttafel oder einem Papyrus entdeckt und ins dritte oder zweite Jahrhundert datiert wird, folgt fast automatisch die Feststellung, entweder handele es sich nicht um ein christli­ ches Symbol oder es müsse aus einer Zeit nach dem Beginn der Regierung Konstantins im vierten Jahrhundert stammen. Dieses Zirkelargument hat sich auch in anderen Bereichen der

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archäologischen Erforschung des Christentums als folgenreich erwiesen. So gilt es aus genau den gleichen Gründen nach wie vor als wissenschaftliche Ketzerei, wenn von der Möglichkeit ausge­ gangen wird, dass es auch vor Konstantin bereits eigene christli­ che Kirchenbauten gegeben habe - und das trotz der Tatsache, dass es mindestens einen unbezweifelbaren archäologischen Be­ leg dafür gibt: die aus der Mitte des dritten Jahrhunderts stam­ mende Kirche von Dura Europos (dem heutigen Qalat es Salihiya) im heutigen Syrien. Einen literarischen Beleg dafür, dass solche Gebäude existierten, liefert uns außerdem eine unbeachtet geblie­ bene Feststellung des Laktanz, des Erziehers von Konstantins Sohn Crispus, aus dem ausgehenden dritten Jahrhundert.2 Durchweg aber wird bei antiken römischen Gebäuden, die wie Kirchen aussehen, automatisch angenommen, dass sie aus der Zeit nach 314 n. Chr. stammen; oder wenn sie offensichtlich älter sind, vermutet man, dass sie gar keine Kirchen waren. Da es ge­ wisse architektonische Ähnlichkeiten zwischen diesen frühchrist­ lichen Bauten und Mithrastempeln oder römischen Basiliken gibt (das Wort Basilika bedeutet ursprünglich nichts weiter als »Kö­ nigshalle«), lässt sich diese Haltung ohne Mühe, wenn auch zu Unrecht, einnehmen. Nur kleine Bauten - solche, die zu klein wa­ ren, um als Königshallen gelten zu können, oder zu unscheinbar, um mit dem etablierten Mithraskult in Verbindung gebracht zu werden - wurden als mögliche Kirchen eingestuft: ein ganz und gar irreführendes Kriterium. Eine sehr frühe Kirche stellt fast mit Sicherheit das Gebäude in Silchester in der Nähe der englischen Stadt Reading dar; es stammt aus dem ausgehenden dritten Jahr­ hundert und entspricht weitgehend der Art von Kirche, die Lak­ tanz beschreibt.3 Sie besitzt sogar ein Mosaik in der Form eines schwarz-weißen Kreuzes in der Apsis. Hier in Silchester wollen wir mit unserer Suche nach Spuren des frühesten christlichen Symbols beginnen. Lässt sich erwarten, dass frühe Christen in den unsicheren Zei­ ten vor dem Toleranzedikt von 313 n. Chr. das Kreuz als Motiv verwendeten? Und wenn ja, wie taten sie es? Das Kreuz in Silchester stellt ein hervorragendes Beispiel eines verkappten Be­ kenntnisses dar. Der Uneingeweihte sieht nichts als schwarze und weiße Steine in wechselnder Folge. Kein »Triumphkreuz« - so et-

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was wäre zu diesem Zeitpunkt völlig undenkbar gewesen. Aber ein Kreuz ist es dennoch, mit vier gleich langen Seiten - ein so ge­ nanntes griechisches Kreuz, in der Form, die man heute noch beim Internationalen Roten Kreuz und in der Schweizer Landes­ fahne antrifft. In den vier Ecken, über und unter den beiden gleich langen Armen des die Mitte des Längsbalkens schneidenden Querbalkens, wiederholt sich das Muster. Viel später, nach den Kreuzzügen, wurde diese fünf Kreuze umfassende Form (vier Kreuze in den Achseln des fünften) unter dem Namen »Jerusa­ lemkreuz« bekannt. In Silchester stellt sich dieses Kreuz als ein raffiniertes Bilderrätsel dar - so klug konzipiert wie auch andere Elemente dieser Kirche, etwa das abgetrennte Areal für ein be­ wegliches und deshalb leicht zu versteckendes Taufbecken4 östlich des Eingangs. Während die Apsis in westlicher Richtung lag (erst später wurde es mehr oder minder verbindlich, sie nach Jerusalem auszurichten), wies das Taufbecken nach Osten, zu dem geogra­ phischen Ort, an dem Jesus selbst seine Taufe empfangen hatte. Nicht weit entfernt von der Basilika (nicht der Kirche) von Sil­ chester, das zu römischer Zeit Calleva Atrebatum hieß, wurde ein Bleisiegel gefunden. Darauf ist das Monogramm Christi, das ChiRho, deutlich zu erkennen: ein X und darin ein P, wobei der runde Teil des P über die oberen Balken des X hinausragt. Wie wir bereits sahen, verdankt dieses Zeichen seinen Namen den griechischen Buchstaben Chi und Rho, geschrieben X und P, mit denen das griechische Wort Christos (XPI2TOZ) beginnt. Links und rechts des X sieht man die griechischen Buchstaben Alpha und Omega (A und o)). Das Alpha ist beschädigt und fast unleserlich, aber dank anderer Funde aus allen Teilen des ehemaligen Römischen Reiches sind wir imstande, es zu rekonstruieren. Solch ein Siegel deutet auf Amtsgewalt. Der Schluss liegt deshalb nahe, dass es spätestens aus der Zeit Konstantins stammen muss, als Christen Staatsbeamte werden konnten und damit in die Lage kamen, sol­ che Siegel zu führen. Auch hier allerdings wäre es wieder ein Irr­ tum anzunehmen, dass dies erst unter Konstantins Herrschaft denkbar war. Unter Constantius Chlorus, dem Vater Konstantins, der von 293 bis zu seinem Tode am 25. Juli 306 als westlicher Cä­ sar über Gallien und Britannien herrschte, mit York als einem der Amtssitze, wurde das Christentum in der Praxis bereits toleriert.

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Constantius könnte persönliche Gründe für diese Haltung gehabt haben: Die Frau, die er nach seiner Trennung von Helena heirate­ te, Theodora, gebar ihm eine Tochter, die den Namen Anastasia, »Auferstehung«, erhielt. Ein Christ im kaiserlichen Dienst könn­ te also damals ohne weiteres und ganz legitim ein solches Siegel geführt haben; als dann die Christenverfolgungen unter Diokleti­ an einsetzten, mochte er es in der Nähe der Basilika weggeworfen haben, wo es dann so viele Jahrhunderte später Archäologen ent­ deckten. Schauen wir uns den Hintergrund an: Die zwei Buchstaben A und O, Alpha und Omega, hatten eine symbolische Bedeutung, die allen Christen wohl bekannt war, und zwar lange bevor Kon­ stantin der Große seine Visionen hatte und seine Mutter auf ihre heilige Mission schickte. Sie kommen in der Offenbarung des Jo­ hannes vor, am Ende des Neuen Testaments. »Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende, spricht Gott der Herr, der da ist und der da war und der da kommt, der Allmächtige«. (Offb 1,8) Und: »Siehe, ich komme bald und mein Lohn mit mir, einem jeden zu geben, wie seine Werke sind. Ich bin das A und das O, der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende.« (Offb 22,12-13) Der erste und letzte Buchstabe des griechischen Alphabets versinn­ bildlichten Christus, den fleischgewordenen Sohn Gottes, als An­ fang und Ende von allem, mithin die Allgegenwart Gottes selbst. Es war im wahrsten Sinne des Wortes ein Ehrfurcht gebietendes Symbol, galt aber jenen, die es auf Siegeln und in Inschriften ver­ wendeten, als Zeichen der Hoffnung. Manchmal, wie auf dem Taufbecken von Icklingham oder bei manchen Grabinschriften andernorts im Römischen Reich, war die Reihenfolge der Buch­ staben umgekehrt: il und A. Was mit dieser Umkehrung ausge­ drückt werden sollte, liegt auf der Hand. Wie bei der Taufe ist auch beim Tode das Ende ein Anfang. Bei der Taufe hat ein Leben außerhalb der Gemeinschaft der Gläubigen aufgehört und das neue Leben in Christus begonnen. Beim Tod endet das Leben auf Erden, aber ein neuer Anfang wird gemacht, das ewige Leben be­ ginnt. Die Offenbarung des Johannes wird gewöhnlich auf das Ende des ersten Jahrhunderts datiert; sie kann aber auch dreißig Jahre älter sein.5 Jedenfalls hatte sie bereits mindestens zweihundert-

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dreizehn Jahre existiert, als Konstantin und Licinius das Toleranz­ edikt verkündeten. Ist es wirklich glaubhaft, dass kein Christ vor 313 n. Chr. auf den Gedanken verfallen sein sollte, Alpha und Omega als Symbol zu verwenden? Der Symbolismus lag ja seit dem Ende des ersten Jahrhunderts, wahrscheinlich schon seit 68 n. Chr., zum Gebrauch bereit, war in den stürmischen Visionen der Offenbarung mit Händen zu greifen. Und das Chi-Rho? Unsere frühesten Papyri mit Texten des Neuen Testaments kürzen zwar die griechische Form von Chris­ tus wie auch alle anderen heiligen Namen oder nomina sacra ab, aber dazu verwenden sie den ersten und den letzten Buchstaben, nicht hingegen die ersten zwei.6 So finden wir XC für XPICTOC, nicht aber XP, die Buchstaben des Chi-Rho. Allerdings gibt es zwei bemerkenswerte Ausnahmen: den als P45 katalogisierten Papy­ rus aus dem ausgehenden zweiten oder beginnenden dritten Jahr­ hundert, der die Abkürzung XP verwendet (in Apg 16,18) und was im Zusammenhang mit unseren Beobachtungen zu Alpha und Omega in der Offenbarung des Johannes besonders fasziniert - den Papyrus P18 aus dem dritten Jahrhundert, ein kleines Frag­ ment mit Offb 1,4-7, das in Kap. 1,5 Christos/XPLETOE als XP ab­ kürzt.7 Dieses Beispiel ist umso wichtiger, als der Name Christi in diesem winzigen Fragment nur einmal vorkommt, nämlich gleich am Anfang des Buches, in Kapitel 1, Vers 5, wo es, wie gesagt, mit XP abgekürzt wird. Die Annahme liegt nahe, dass dies die Schreib­ weise im gesamten Codex war, der, abgesehen von diesem kleinen Textstück, verloren gegangen ist. Mit anderen Worten, wir haben Manuskripte aus der Zeit vor Konstantin, die Belege für die ChiRho-Abkürzung liefern, wobei im einen Fall diese Schreibweise in genau dem Buch des Neuen Testamentes vorkommt, das die Al­ pha/Omega-Symbolik einführt. Von der XP-Abkürzung mit dem waagrechten Balken über den Buchstaben war kein weiter Weg zu einer Form, die beide mitein­ ander verschränkte. Eigentlich lässt sich nicht erwarten, derglei­ chen auf Papyri anzutreffen, wo Buchstaben getrennt geschrie­ ben, zu Ligaturen verbunden oder, wie beim y des Titulus, durch neu geschaffene Abkürzungen wiedergegeben, normalerweise aber nicht zu Symbolen verschränkt wurden. Aber es ist eindeu­ tig, dass die großen Symbole auf frühen Papyri Verwendung fan-

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den: Alpha und Omega, XP für Christos. Der Text eines biblischen Buches gab das Stichwort, frühe Manuskripte gingen mit gutem Beispiel voran, und das regte die schöpferische Freiheit an, auf Grabsteinen oder in anderen Inschriften wie auch auf Siegeln Buchstaben und Zeichen auf vielerlei Weise miteinander zu kom­ binieren und zu vereinigen. Eines ist gewiss: Der Gebrauch des XP-Christogramms kann nicht erst die Folge der Konstantin'schen Vision zu Anfang des Jahres 312 n. Chr. gewesen sein. Laktanz, der uns eine ausführli­ che Beschreibung dieser Vision hinterlassen hat, stellt eindeutig fest, dass es sich bei dem Zeichen um ein aufrecht stehendes Kreuz und nicht um ein X mit einem oben zum P gerundeten senkrechten Balken handelte.8 Die Art seiner Schilderung trägt der vielschichtigen Symbolik voll und ganz Rechnung: »Konstan­ tin wurde in einem Traum befohlen, die Schilde der Soldaten mit dem himmlischen Zeichen Gottes zu markieren und dann die Schlacht zu schlagen. Er tat, wie geheißen, und mittels eines schräg gestellten X (transversa X littera), bei dem die Spitze des Kopfes kreisförmig gebogen war, brachte er das Zeichen Christi auf ihren Schilden an. Bewehrt mit diesem Zeichen, griff das Heer zu den Waffen.«9 Der Historiker Andrew Alföldi kommentiert diese Beschrei­ bung folgendermaßen: »Nach Laktanz bestand das Zeichen in ei­ nem senkrechten Strich, der an der Spitze rundgebogen war und mitten durch das Chi lief. Wir müssen das so verstehen, dass das hastig auf die Schilde der Soldaten gemalte Rho die Form eines rundköpfigen Stiftes annahm.«10 Laktanz sagt es klar und deut­ lich: »Das himmlische Zeichen Gottes«, das ist das Kreuz Jesu, das »schräge X«. Das »X« mit der rundgebogenen Spitze ist der An­ fang des Namens Christi. Am 28. Oktober 312 besiegte Konstan­ tin die Truppen seines Gegenspielers Maxentius an der Milvischen Brücke nördlich Roms; Maxentius kam um, und der Weg zur Anerkennung des Christentums, nach Rom und zur Herr­ schaft über das ganze Römische Reich war frei. Wir haben allen Grund, Laktanz Glauben zu schenken. Sein Bericht ist kurz und bündig, frei von der überschwänglichen Diktion einiger seiner glaubenstrunkenen Zeitgenossen, und er beschreibt eine Form von Monogramm, die nicht derjenigen entspricht, die schon bald

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auf den frühesten Münzen und Inschriften gang und gäbe war. Mit anderen Worten, er übernahm nicht einfach die gängige christliche Version, sondern lieferte eine eigenständige Darstel­ lung, die Konstantins Beifall gefunden haben muss. Seine Schrift De mortibus persecutorum erschien 314/5 n. Chr., rund zwei Jahre, ehe er Erzieher von Konstantins Sohn Crispus wurde. Un­ vorstellbar, dass Konstantin Laktanz mit einer so verantwor­ tungsvollen Aufgabe betraut hätte, wenn dessen Darstellung der Geschichte des himmlischen Zeichens in wesentlichen Punkten mangelhaft gewesen wäre. Vielleicht lässt sich sogar zeigen, wie es Konstantin gelingen konnte, die Schilde seiner Soldaten mit dem Zeichen zu versehen, ohne ihr Traditionsbewusstsein zu verletzen: Es gibt nämlich eine klassische römische Standartenspitze, die wie ein von Kreisen umgebener senkrechter Balken oder Stamm aussieht. Ein gut er­ haltenes Exemplar, das die Nummer PRB 1927.12-12.6 trägt, kann man im Weston-Saal des Britischen Museums bewundern, in dem die Funde aus dem Britannien der Römerzeit versammelt sind. Wahrscheinlich krönte dieses Exemplar einst den hölzernen Schaft einer Militärstandarte. Es ist geformt wie ein Kreuz und unmittelbar unter der Spitze von einem weiteren und einem en­ geren Kreis umgeben, so dass es fast den Eindruck eines Faden­ kreuzes macht (Abb. 1). Verdeckt oder entfernt man einen Teil der Kreise und das meiste von der linken Seite, dann sieht der Rest ge­ nau so aus, wie von Laktanz beschrieben. Mit anderen Worten, das Symbol, um das es hier geht, ist kein völlig neues Zeichen, son­ dern die abgekürzte Form eines wohl bekannten Typs (Abb. 2). Als altgedienter Soldat musste Konstantin es ohne weiteres erken­ nen, und seine Soldaten fanden das neue Symbol vermutlich an­ genehm vertraut - es knüpfte auf beruhigende Weise an die Tradi­ tion an, und war doch etwas völlig Neues. Für diejenigen, die

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Augen hatten zu sehen, lag die christliche Botschaft offen zutage, während es sich für die anderen, die nichts sahen (oder nichts se­ hen wollten), nur um die Variation eines vertrauten Themas han­ delte. Demgegenüber war dann die ausführliche Darstellung des Ge­ schehnisses, die Euseb nach dem Tod des Kaisers im Jahre 337 n. Chr. in seiner Vita Constantini lieferte, ein unverhohlener Ver­ such, die Erinnerung an seinen Herrn zu verklären. Daher zielt seine Beschreibung auf die stilisierte Form des Chi-Rho, wie sie sich in den späten zwanziger Jahren des vierten Jahrhunderts he­ rausbildete. Euseb schildert, wie der Kaiser seine Künstler über seine Vision detailliert informiert und wie sie den Schaft mit dem Zeichen anfertigen: »Das Zeichen war folgendermaßen geformt: Ein langer, ver­ goldeter Lanzenschaft hatte einen Querbalken und besaß al­ so die Form eines Kreuzes. Am oberen Ende war ein Kranz befestigt, der aus Juwelen und Gold bestand und in dem sich das Namenszeichen des Heilands befand - zwei Buchstaben, die Anfangsbuchstaben, die den Namen Christi bezeichnen, wobei das Chi das Rho in der Mitte durchschneidet. Von die­ sem Tage an trug der Kaiser diese Buchstaben auch auf sei­ nem Helm. Auf dem Querbalken hing ein leinenes Tuch aus kostbarem Gewebe, das von Goldfäden durchzogen und mit verschiedenfarbigen Juwelen besetzt war, die in der Sonne glitzerten - für jeden Betrachter ein großartiger Anblick. Dieses Leinentuch, das vom Querbalken des Schaftes hing, hatte quadratische Form.«11

Euseb führt dann weiter aus, dass sich zwischen dem Tuch und dem Kreuz das goldene Bildnis des Kaisers und seiner Söhne be­ fand. Dass dies nicht stimmen kann, liegt auf der Hand: Im Jahre 312 hatte Konstantin nur einen Sohn, und der war noch kein Mit­ regent und hatte deshalb auch noch keinen Anspruch darauf, auf diese Weise abgebildet zu werden. Die vielen Beispiele für diese als labarum bezeichnete Art von Schaft, die wir aus der Zeit nach 327/8 kennen, weisen hingegen genau die von Euseb beschriebe­ ne Form auf und tragen in vielen Fällen auch die kaiserlichen Por168

träts. Seit dem Jahr 327 entsprach dies der politischen Ordnung: Nachdem Konstantin im Jahre 326 seinen Sohn Crispus und seine zweite Frau Fausta hatte hinrichten lassen, blieben ihm drei Söh­ ne, Constantinus (geb. 316), Constantius (geb. 317) und Constans (geb. 320). Constantinus wurde 317, ein Jahr nach seiner Geburt, als Cäsar eingesetzt, 324 folgte Constantius, während sich Const­ ans bis 333 gedulden mußte. Crispus, der erste Sohn, war im glei­ chen Jahr wie Constantinus, 317 n. Chr., zu dieser Würde erhoben worden. Frühestens von diesem Zeitpunkt an ließ sich Eusebs Plural rechtfertigen. Es ist klar, dass Euseb - wie er es auch sonst gern tat - seine Quellen seinen eigenen Vorstellungen anpasste. Er nahm eine Rückverlegung der Münz- und Inschriftenpraxis vor, die sich seit 327 n. Chr. eingebürgert hatte und äußerstenfalls ab 317 n. Chr., fünf Jahre nach Konstantins Vision und der Schlacht an der Milvischen Brücke, vorstellbar war. Aber wie kam es dazu, dass sich die Form des Chi-Rho änderte und aus dem ein­ fachen »rundköpfigen Stift« die Kombination aus griechischem X und griechischem P, die Verschränkung der ersten beiden Buch­ staben von Christos, eingebettet in einen Kreis oder einen Kranz, wurde? Das Chi-Rho des Laktanz war ein Kreuz, deutlich erkennbar und unmissverständlich. Wir haben keinen Grund, daran zu zwei­ feln, dass es dieses Kreuz war, das Konstantin in seinem Traum oder seiner Vision sah oder zu sehen glaubte - nicht zum ersten Mal natürlich, da er schon seit Jahrzehnten über den christlichen Glauben und den christlichen Kult Bescheid wusste und eine Halbschwester hatte, die den Namen »Auferstehung« trug. Und wie wir bereits sahen, hatte der Kaiser allen Anlass, seine geistli­ chen Interessen weit zu spannen: Auf der Suche nach göttlicher Leitung und Unterstützung tat ein militärischer Befehlshaber, der in einer Welt vielfältiger, miteinander konkurrierender Religio­ nen lebte und selbst Anhänger der »Unbesiegbaren Sonne«, des Sol Invictus, war, gut daran, die Bedeutung himmlischer Zeichen nicht in Zweifel zu ziehen; er konnte es sich nicht leisten, die Möglichkeit auszuschließen, dass ein anderer Gott, der Gott der Christen, Kontakt zu ihm aufnahm. Das hieß allerdings nicht, dass Konstantin absolute Bewe­ gungsfreiheit hatte. Die Mehrheit des Senats blieb den alten Reli­ 169

gionen fest verhaftet. Auf dem Triumphbogen, der zu Ehren des siegreichen Konstantin errichtet wurde, befand sich kein einziges christliches Symbol, kein einziger Hinweis auf das Christentum. Tatsächlich scheint Konstantin, wie gesehen, einen vorsichtigen Mittelkurs gesteuert zu sein, unabhängig von der Frage seiner ei­ genen Gläubigkeit: Er förderte die Christen, verhalf ihnen zu ein­ flussreichen Stellungen und Machtpositionen, aber ohne die alten Familien und die etablierten Strukturen zu rasch und zu heftig anzugreifen. Dass er erst einmal Behutsamkeit walten ließ, war nicht zu übersehen. Auf den Münzen des Kaisers prangten wei­ terhin die Symbole des Sonnengottes, neben anderen, die das ChiRho und das Labarum zeigten. Die neue Form des Monogramms Christi schien ein politisch kluger Kompromiss: Zu sehen war nicht mehr ein einfaches Kreuz, sondern ein X und ein P, was außerhalb christlicher Kreise keine auf der Hand liegende und et­ wa anstößige religiöse Bedeutung hatte. Oder steckte am Ende doch eine Bedeutung in dem Mono­ gramm? Konstantin selbst war kein besonders gebildeter Mann, aber er umgab sich mit hochgelehrten Beratern. Jeder mit griechi­ scher Literatur vertraute Mensch kannte das Chi-Rho in der ver­ schränkten X/P-Form: es war ein gängiges Symbol, Chresis, Chresimon oder Chreston genannt, und es fand sich am Rand von Zeilen, die von besonderem Wert waren und sich als Zitat eigne­ ten. Beispiele gibt es bereits aus dem ersten Jahrhundert v. Chr.12 Die drei griechischen Begriffe für dieses Zeichen, die alle drei mit einem langen E (Eta) geschrieben werden, bedeuten »nützlich«, »hilfreich«, »gut« oder (chresis) »Entleihen« (nämlich einer Text­ stelle). Auf Münzen oder Standarten wurde es zu einer Art von Empfehlung oder Glosse, die der Gebildete verstand und die kei­ nerlei Anstoß erregte. Für alle Christen indes war die unter­ schwellige Botschaft klar: Nicht nur waren dies die ersten beiden Buchstaben des Namens Christi, der Fachbegriff Chreston war natürlich auch die Neutrumform von Chrestos. Und in der grie­ chischen Aussprache war das lange E, das Eta von Chrestos, prak­ tisch austauschbar mit dem I oder Iota - in diesem Fall hatte man Christos — Christus.13 Das heißt, das Chi-Rho, das man von grie­ chischen Papyri kannte, ließ sich entweder als Monogramm Christi verstehen, weil es die ersten beiden Buchstaben seines Na­ 170

mens wiedergab, oder aber als ein harmloses literarisches Ver­ ständigungsmittel. Die christliche Bedeutung des Chi-Rho war aber, wie wir in Ka­ pitel i sahen, keine Erfindung der Berater Konstantins. Es gibt an­ dere, offensichtlich ältere Beispiele. Eines von ihnen, das in einem christlichen Zusammenhang Gebrauch von dem Chi-Rho macht, lässt sich mit archäologischer Sicherheit auf eine Periode datieren, die um etliches vor Konstantins Zeit liegt.14 Es wurde im Hypogaeum der Acilier gefunden, des aus dem späten zweiten und frühen dritten Jahrhundert stammenden Teils der Priscilla-Kata­ komben in Rom. Der in unbeholfenem Griechisch abgefasste Text lautet: »O Vater von allen, der du geschaffen und (zu dir) genom­ men hast Eirene, Zoe und Markeilos, dein ist die Herrlichkeit in Christus.« Den letzten Worten, »in Christus«, folgt das Chi-RhoMonogramm aus X und P. Was ist mit dem Zeichen, das Laktanz beschreibt? Das Kreuz­ monogramm - oder »Staurogramm«, wie es häufig nach dem griechischen Wort für Kreuz, stauros, genannt wird - war unter Christen mindestens vierzig Jahre vor Konstantins Vision be­ kannt. Eine unzweifelhaft christliche Inschrift an einer Beerdi­ gungsstätte in Rom zwischen der Via Appia und der Via Latina, die sich mit Sicherheit auf die Zeit vor 270 n. Chr. datieren läs­ st15, weist dieses Monogramm zweimal unter dem Namen der bestatteten Person auf. Es muss sich um eine christliche Inschrift handeln, da sie von den Bildern und Symbolen begleitet ist, die für Grabinschriften dieses Glaubens typisch sind: Wir finden Jo­ na (dessen Errettung aus dem Bauch des Fischs von Jesus selbst als Sinnbild der Auferstehung angeführt wird, Mt 12,40), den Guten Hirten und den Anker als Zeichen der Hoffnung (Hebr 6,19). In anderen Fällen sind die Daten weniger sicher: Zum Bei­ spiel wurden auf der so genannten Roten Mauer in der Vatikani­ schen Nekropole, nicht weit entfernt vom »Tropaion«, der Ge­ denkstätte für den Apostel Petrus, die es an dieser Stelle definitiv schon vor 200 n. Chr. gab, zahlreiche Inschriften mit dem ver­ schränkten Chi-Rho und eine mit dem Christus-Monogramm gefunden. Wie in Kapitel 1 gesehen, hat man die Graffiti auf 295-315 n. Chr. datiert16, womit sie auf jeden Fall älter sind als die erste Petruskirche, die Konstantin ab dem Jahr 322 n. Chr. er-

bauen ließ; wir dürfen annehmen, dass mindestens einige von ihnen vor der Schlacht an der Milvischen Brücke im Jahre 312 n. Chr. entstanden. Das Staurogramm aber ist ohne Frage ein noch älteres christliches Symbol, das ungefähr anderthalb Jahrhun­ derte hinter Laktanz' Bericht von Konstantins Traum zurückreicht: Es findet sich auf Papyri des Neuen Testaments, von denen der älteste ein Codex mit dem Johannesevangelium, der Papyrus P66 in der Bibliotheca Bodmeriana in Cologny in der Nähe von Genf ist. Das Datum, das ihm herkömmlicherweise zugeschrieben wird, ca. 200, ist viel zu spät; tatsächlich könnte der Papyrus bereits im Zeitraum zwischen 125 und 150 entstan­ den sein.17 In fast allen Fällen, in denen die griechischen Wörter stauros (Kreuz) und stauröo (kreuzigen) vorkommen, erschei­ nen sie abgekürzt. Ein oder zwei Anfangsbuchstaben und ein oder zwei Buchstaben am Ende werden ausgeschrieben, aber der Rest des Wortes in der Mitte ist durch das symbolische Stauro­ gramm ersetzt.18 Ein weiterer Codex mit den Evangelien des Jo­ hannes und des Lukas, der P75, der ebenfalls in der Bibliotheca Bodmeriana aufbewahrt wird, weist die gleiche StaurogrammAbkürzung auf. Auf den erhalten gebliebenen Seiten des Johannesevangeliums finden sich keine Staurogramme, die Teile aus dem Lukasevangelium hingegen sind voll davon. Wir haben demnach zwei Evangelien, zwei verschiedene Schreiber, die in ei­ nem Abstand von vielleicht einem halben Jahrhundert diese Ab­ kürzung routinemäßig verwenden. Ohne uns in die Einzelheiten der Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte anderer Papyri zu verlieren, können wir mit Sicherheit sagen, dass nicht erst Konstantin (beziehungsweise Laktanz) kommen musste, um die­ ses Monogramm für das Christentum zu erfinden und in Um­ lauf zu bringen. Insbesondere Laktanz, der Gelehrte, muss sich vollständig über die Bedeutung des Monogramms im Klaren ge­ wesen sein; es ist äußerst unwahrscheinlich, dass er nicht wusste, was er tat, als er Konstantins Traum in der oben referierten Form schilderte. Diese Baumeister des neuen Christentums kannten die bewährte Kraft der Steine, mit denen sie bauten. Wir haben angenommen, dass es einen Grund dafür gab, ir­ gendwann nach 317 n. Chr. vom Staurogramm zum Chi-RhoMonogramm überzuwechseln, und dass dieser Grund politischer V2

Natur war. Wir haben auch festgestellt, dass sich die Verwendung des Chi-Rho in damaligen griechischsprachigen Papyri als eine nützliche säkulare Camouflage für ein Symbol erwies, das natür­ lich zutiefst religiösen Charakter hatte. Gab es irgendetwas Ver­ gleichbares für das Staurogramm? Einige Forscher haben das ver­ mutet. Erstens können wir uns auch hier wieder auf Papyri stützen. Das Kreuz, das einem T ähnelt, und das Rho, das aus dem in einer Schleife auslaufenden senkrechten Balken besteht, lassen sich als Abkürzung für das Wort tropos (Charakter, Sitte) lesen, dessen erste beide Buchstaben T und P sind. Schriftrollen des Phi­ lodemus (ca. 110-35 v- Chr.), eines volkstümlichen Philosophen aus Gadara, einer Stadt zehn Kilometer südöstlich vom See Genezareth19, wurden in Herculaneum entdeckt und müssen also vor der Zerstörung der Stadt im Jahre 79 n. Chr. geschrieben worden sein. In ihnen findet man das Zeichen, zusammen mit dem ChiRho, das hier als Abkürzung für chronos (Zeit) dient.20 Das ande­ re, verwandte Symbol war ebenfalls religiös und kam aus Ägyp­ ten: ankh, das so genannte Henkelkreuz, ein Symbol, das Leben bedeutet und auch noch in römischer Zeit beliebt war. Beide Symbole unterscheiden sich aber vom Konstantinischen Staurogramm: der obere Teil des senkrechten Balkens ist hier auf solche Weise gerundet, dass der untere Teil der Schleife den Quer­ balken bildet. Wir haben hier also nicht zwei getrennte Buchsta­ ben oder Zeichen, sondern ein einziges, durch Kreuzung zustande gekommenes Symbol. Auch die zwei Papyri in Cologny tendieren zu diesem visuellen Schema, nur ziehen sie den Querbalken leicht nach rechts aus, um die horizontale Linie gerader erscheinen zu lassen. Die T/P-Abkürzung dagegen unterscheidet zwischen den zwei Buchstaben. Der runde Kopf des P ist eindeutig getrennt von dem T, das seinen eigenen Querbalken hat. Eine solche Form wur­ de für das Kreuzmonogramm benutzt, das sich in einer Inschrift aus Gabbari, einem Vorort von Alexandria, findet; sie ist etwa siebzig Jahre vor Laktanz und Konstantin entstanden, und folg­ lich kann das Monogramm nicht von Letzteren inspiriert sein. Die Inschrift erinnert an zwei Christen namens Theodora und Nilam­ mon und wurde auf die Regierungszeit Kaiser Gordians (238-244 n. Chr.) datiert; sie schließt mit dem Staurogramm, das von Alpha und Omega flankiert wird.21

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Das Interessante ist hier, dass Laktanz auf einer christlichen Vi­ sion besteht, die sich in einem gewissen Maße von der herrschen­ den Praxis abhebt, während sie gleichzeitig auf ihr aufbaut. Wie viel leichter wäre es gewesen, die Erscheinung seines Herrn ein klein wenig anzupassen und sie mit vorgegebenen Modellen in Einklang zu bringen. Aber das tat er nicht. Es galt, gewissenhaft und in all seiner von Gott gewollten Einzigartigkeit wiederzuge­ ben, was der Kaiser gesehen hatte. Offenbar erkannte Konstantin die Darstellung des Laktanz als authentisch an; andernfalls hätte er ihn - wie oben bereits bemerkt - schwerlich ein paar Jahre spä­ ter zum Erzieher seines Sohnes gemacht. Uns hilft Laktanz' Dar­ stellung beim Verständnis der politischen Gründe, die es nur we­ nig später angebracht erscheinen ließen, einer weniger auffälligen Version des Monogramms den Vorzug zu geben.

Ein heimliches Delta Ein faszinierendes Exemplar des Chi-Rho-Monogramms stellt die Forscher seit seiner Entdeckung vor Rätsel. Es wurde auf ei­ nem in griechischer Kurzschrift (»Tachygraphie«) beschriebenen Stück Leder gefunden. Und der Fund wurde an einem ganz ausge­ fallenen Ort gemacht: im Wadi Murabba'at in der Nähe des Toten Meeres, zwischen Qumran und En Gedi. Zu datieren ist er wohl auf spätestens 135 n. Chr., das heißt, er stammt aus der Zeit vor dem Ende des von Bar Kochba angeführten zweiten jüdischen Aufstandes gegen die Römer (132-135 n. Chr.). Dieses Datum gilt für alle nichttachygraphischen Manuskripte, die in der Umge­ bung gefunden wurden. Der Fund wurde 1961 veröffentlicht und als P.Mur. 164 katalogisiert.22 Es gibt zwei Fragmente in gedun­ kelter bräunlicher Farbe, zerknittert und extrem schwer zu entzif­ fern. Fragment a indes, das 30 mal 23,5 Zentimeter misst, wartet in Zeile elf mit einer Überraschung auf: Dort findet man ein klar erkennbares, unmissverständliches Chi-Rho. Wir haben das Ori­ ginal im John Rockefeiler Museum in Jerusalem begutachtet, nicht nur mit bloßen Augen, sondern auch unter dem Mikroskop. Beim verwendeten Material handelt es sich in der Tat um Leder, nicht um Pergament oder Papyrus. Man hat vermutet, die Qum-

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ran-Essener - die Verfasser der Schriftrollen vom Toten Meer hätten Leder bevorzugt, weil es im Vergleich mit den Alternativen als reiner, »heiliger« und haltbarer gegolten habe, aber die schlichtere Wahrheit ist, dass die Herstellung von Pergament kompliziert und zeitaufwendig war und Papyrus aus Nordägyp­ ten eingeführt werden musste. Warum für teure Importe Geld ausgeben oder Zeit für Pergament aufwenden, wo es doch in der unmittelbaren Umgebung Ziegen und Antilopen gab, koschere Tiere, die man in Herden halten konnte, so dass sie einem die benötigten Häute für Schriftrollen aus Leder jederzeit lieferten? Diejenigen, die das Dokument 1961 veröffentlichten, erkann­ ten, dass es sich um einen Kurzschrifttext handelte, der in Grie­ chisch geschrieben war. Es gab, wie sie sahen, einige vollständige Buchstaben wie Delta, Theta und Phi - wir könnten noch Alpha und Epsilon hinzufügen - sowie gewisse Kurzschriftzeichen, die man aus anderen griechischen Manuskripten kennt. Sie bemerk­ ten auch das Chi-Rho in Zeile elf von Fragment a und bezeichne­ ten es mit dem französischen Wort sigle, enthielten sich aber je­ den Kommentars. Tatsächlich verzichteten sie auf jeden Versuch, den Text zu analysieren, mit der merkwürdig anmutenden Be­ gründung, sie hätten einfach nicht die Zeit dazu gehabt (»homs n'avons pas eu le loisir de tenter«).23 Zugegeben, wegen des schlechten Zustandes, in dem sich das Leder befindet, ist es sehr schwer, den Buchstaben einen Sinn abzugewinnen. Und es bleibt auch festzustellen, dass der Schreiber eine etwas exzentrische, un­ regelmäßige Kurzschrift benutzte.24 Wir entwickeln derzeit ein Computerprogramm, das uns bei der Lektüre solcher Texte be­ hilflich sein wird - die Probleme, die hierbei bewältigt werden müssen, sind vergleichbar mit den Problemen bei der Entziffe­ rung von Keilschrifttafeln oder ägyptischen Hieroglyphen. Der höchst individuelle Stil dieses besonderen Manuskripts fügt sich jedoch in keinerlei erkennbares System. Deshalb geht es in die­ sem Fall nur langsam voran.25 Die Tachygraphie war eine alte Kunst. Schon in der griechi­ schen Übersetzung von Psalm 45,2 (drittes Jahrhundert v. Chr.) wird darauf Bezug genommen, und Ciceros Sekretär Tiro war Virtuose auf diesem Gebiet, weshalb man ein bestimmtes System die »Tironischen Noten« nannte. Titus - der im Jahre 70. n. Chr. 176

Jerusalem zerstörte und später römischer Kaiser wurde - war ebenfalls ein anerkannter Meister in dieser Kunst.26 Man hat die Ansicht geäußert, einige Autoren und Schreiber des Neuen Testa­ ments seien mit Kurzschrift vertraut gewesen, und in wenigstens zwei Fällen wäre das ganz und gar nicht überraschend.27 Aber bei allen Fertigkeiten, über die christliche Schreiber verfügen moch­ ten - dass ein christliches Lederfragment mit dem Chi-Rho plötz­ lich mitten unter den jüdischen Texten des Wadi Murabba'at auf­ taucht, erscheint nur schwer vorstellbar. Es sei denn, die Fragmente a und b haben mit den übrigen Funden gar nichts zu tun. Wie schon die Herausgeber feststellten, könnte der ei­ gentümliche Erhaltungszustand der Fragmente Indiz dafür sein, dass sie zusammengeklebt oder zusammengenäht waren, um als Mappe für andere Dinge, wahrscheinlich Briefe, zu dienen. Falls sich das so verhält, wären diese Fragmente zumindest geringfügig älter als die übrigen Funde aus dem Wadi und könnten von überall her stammen, da ja ihr Inhalt für ihre neue Verwendung ohne Be­ lang war. Immerhin aber musste sie jemand irgendwann beschrie­ ben haben. Normalerweise verwendete man die Tachygraphie nicht für Briefe. Wie, wenn diese in Briefmappen umfunktionier­ ten ledernen Schriftrollen Beutestücke waren, die aus einem Überfall der Aufständischen um Bar Kochba auf eine jüdisch­ christliche Gemeinschaft stammten? Solche Überfälle kamen tatsächlich häufig genug vor, da die Christen sich weigerten, an dem Aufstand gegen die Römer teilzunehmen. Aber das sind bloße Vermutungen. So, wie die Dinge stehen, sind wir weder imstande, den gesamten Text zu entziffern, noch wissen wir, wo er herstammt. Es gibt allerdings einen weiteren auffälligen Buchstaben, der etliche Male vorkommt; einmal steht er nur drei Buchstaben links vom Chi-Rho. Es handelt sich um das griechische Delta, das Benoit u.a. in ihrer ersten Veröffentlichung des Textes auch als solches ausgemacht haben. Nachdem sie Milne - das Standardwerk auf diesem Gebiet - zu Rate gezogen und sich die Art der Handschrift genauer angeschaut hatten, gewannen sie die Überzeugung, es in diesem Fall nicht mit einem Kurzschrift­ symbol zu tun zu haben. Und doch könnte in diesem geheimnis­ vollen Code auch ein einfaches Delta mehr bedeuten, als es den Anschein hat: Schauen wir uns das winzige Papyrusfragment P29

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mit Versen aus der Apostelgeschichte (26,7-8; 26,20) an, das gegen Ende des dritten Jahrhunderts - um 275 n. Chr. - geschrieben wurde,28 so finden wir den Buchstaben an zwei Stellen, auf jeder Seite einmal. Der Schreiber dieses Papyrus, bei dem es sich um das älteste erhaltene Manuskript dieses Teils der Apostelgeschichte handelt, brachte das Kunststück fertig, eine doppelte Symbolik unterzubringen. Erstens kürzte er das griechische Wort Theos (Gott) als christlichen nomen sacrum oder heiligen Namen ab, indem er ihn durch den ersten und letzten Buchstaben wiedergab: Theta und Sigma in Zeile fünf der Vorderseite oder recto und The­ ta und Ny auf der Rückseite oder verso (Ny deshalb, weil hier das Wort im 4. Fall steht, also Theon lautet). Um die Abkürzung als nomen sacrum kenntlich zu machen, zog er oberhalb der beiden Buchstaben die übliche waagrechte Linie. Dann aber fügte er in sein Theta, das gewöhnlich als ein O geschrieben wird, einen waagrechten Balken ein - 0 - und gab ihm die Dreiecksform eines Delta, A. Der waagrechte Balken verhinderte, dass es mit einem einfachen Delta verwechselt werden konnte. Da der Schreiber das zweimal, nämlich auf der Vorderseite und auf der Rückseite des Papyrus machte, kann man davon ausgehen, dass er diese Schreib­ weise den ganzen Codex hindurch verwendete. Es kann sich also nicht um einen Fehler oder um ein versehentlich deformiertes 0 handeln. Bernard Grenfell und Arthur Hunt, die den Papyrus pu­ blik machten, erklärten den Text für »faszinierend, denn er gehört zu einer aus dem Rahmen fallenden, revidierten Version der Apostelgeschichte«,29 sie registrierten auch, dass Theos »wie üb­ lich abgekürzt ist«. Aber obwohl sie eine Bildtafel von der Vorder­ seite des Papyrus veröffentlichten, auf der man das Delta am An­ fang des verkürzten Theos mit einmaliger Deutlichkeit erkennen kann, fiel ihnen diese Abweichung von der üblichen Schreibweise nicht auf. Um uns Gewissheit zu verschaffen, sahen wir uns den Originalpapyrus in der Bodleian Library in Oxford genau an und verglichen ihn mit einer neuen Fotografie beider Papyrusseiten, die eigens für uns angefertigt worden war. Weder die alte Bildtafel in der Ausgabe von Grenfell und Hunt noch die neue Fotografie noch vor allem das Original selbst lassen den mindesten Zweifel daran, dass es sich um ein absichtliches Delta handelt, das sich von den üblichen griechischen Buchstaben durch den waagrechten

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Balken in der Mitte unterscheidet. Mit anderen Worten, der Schreiber wollte in der Tat ein typisches nomen sacrum schrei­ ben, aber er wollte auch eine Botschaft übermitteln. Im frühen Christentum symbolisierte das Dreieck die Dreifal­ tigkeit. Das »am weitesten verbreitete Zeichen« war aber dem Verdikt des Augustinus ausgesetzt, weil es von den ketzerischen Manichäern benutzt worden war.«30 Der Manichäismus war eine populäre gnostische Bewegung, begründet von dem persischen Religionsstifter Mani (216-276 n. Chr.), der in seiner Person den vom Johannesevangelium (14,16; 14,26) angekündigten Parakleten oder »Tröster«, den Maitrya (den nächsten Buddha) des Bud­ dhismus sowie den Usetar Bamik des Zoroastrismus (den Erretter, der das Jüngste Gericht und die Heraufkunft einer neuen Welt bringt) vereinigt sah. In Schriften, die an die Christen gerichtet sind, wird Mani als »Apostel Jesu Christi« bezeichnet. Bei den manichäischen Lehren handelte es sich indes bestenfalls um Syn­ kretismus, und Augustinus sah die Gefahr, die von ihnen ausging, klarer als viele heutige Theologen. Besonders irritierte ihn die Tri­ nitätslehre der Manichäer.31 Sie lehrten, das Sonnenlicht gelange zu den Menschen durch ein dreieckiges Fenster im Himmel; Gott Vater sei im Licht verkörpert, die Macht des Sohnes Gottes in der Sonne (eine Vorstellung, die Kaiser Konstantin zusagte, der sei­ nen alten Glauben an den unüberwindlichen Sonnengott mit sei­ nem neuen Glauben an Christus verbinden wollte) und der Heili­ ge Geist in der Luft. Augustinus verwarf diese Vorstellungen als mystische Spekulation; sein Einfluss verhinderte bis ins Mittelal­ ter, dass sich das trinitarische Dreieck in Gestalt des A ausbreitete. Nur einzelne Belege sind erhalten geblieben. Wir dürfen aller­ dings nicht annehmen, dass Augustinus' Kritik von jedermann übernommen wurde. Es gab auch diejenigen, die sich von der manichäischen Symbolik angezogen fühlten, auch wenn sie viel­ leicht den Synkretismus dieser Sekte, wie er sich in ihrer all­ gemeinen Theologie bekundete, ablehnten. Der Papyrus P29 stammt aus der Zeit, als Mani starb und sein Nachruhm noch im Wachsen begriffen war; es könnte sich um das älteste christliche Manuskript handeln, in dem man diese trinitarische Vorstellung antrifft, und er wäre damit an die hundert Jahre älter als Augusti­ nus'Abhandlung Contra Faustum Manichaeum. 179

Zwei Jahrzehnte später, wahrscheinlich noch vor Ende des drit­ ten Jahrhunderts, zeigt ein anderer erhaltener Papyrus, der eben­ falls in Ägypten gefunden wurde, das gleiche dreieckige Delta: der Papyrus Chester Beatty I oder P45, mit teilweise beschädigten Teilen aus den vier Evangelien und der Apostelgeschichte. Es ist interessant, die gegenwärtige Diskussion um die Neudatierung der frühesten Papyri mit Texten des Neuen Testaments zu verfol­ gen. Wenn die jüngste Tendenz sich durchsetzte, P29 und P45 auf das ausgehende zweite oder frühe dritte Jahrhundert zu datieren (siehe Anm. 28), dann fällt die Einführung des trinitarischen Del­ ta in die Zeit rechtgläubiger Theologen wie Klemens von Alex­ andria und liegt damit weit vor dem Umsichgreifen des Manichäismus. Die Kritik des Augustinus hätte sich dann eher gegen den Missbrauch des Symbols als gegen seinen Gebrauch schlecht­ hin gerichtet. Und das ergibt einen guten Sinn: Schließlich hat der Mann aus Hippo in anderen Zusammenhängen dem trinitari­ schen Dogma durchaus etwas abgewonnen. In seinem Traktat über den Apostel Johannes erläutert er, dass 153, die Zahl der laut Joh 21,10-11 von den Jüngern gefangenen Fische, die Summe al­ ler Zahlen von 1 bis 17 sei; wenn man für jede Zahl einen Punkt setze, das heißt, mit einem Punkt in der ersten Zeile anfange und mit siebzehn Punkten in der letzten Zeile ende, erhalte man ein perfektes Dreieck. Außerdem kann man an Mar Saba (437-532) denken, einen ein­ flussreichen Mönch, der das nach ihm benannte Kloster in der Nähe von Bethlehem gründete - bis heute bietet es einen der überraschendsten und erhebendsten Anblicke in der Wüste und verfügt im Übrigen über eine großartige Bibliothek. Mar Saba schrieb eine Abhandlung über das trinitarische Dreieck, und er tat das, weil das Symbol trotz Augustinus theologische Bedeutung und optische Präsenz behalten hatte.32 Dieser hochgebildete Mönch aus der Wüste erklärte und verteidigte das trinitarische ADreieck in jener alten christlichen Tradition, zu deren Ideengebern der griechische Mathematiker Pythagoras und seine Schule zähl­ ten. Die platonische Philosophie genoss hohe Wertschätzung bei christlichen Denkern wie Klemens von Alexandria (ca. 160-215 nChr.), der in Ägypten lehrte und sich über die Bedeutung des Dreieck-Symbols in Platons Timaios Gedanken machte (53,d-e); 180

Plutarch (ca. 50-125 n. Chr.), ein nichtchristlicher Philosoph, glaubte, in Ägypten die Triade Osiris, Isis und Horus durch ein Dreieck symbolisiert zu finden.33 Aber wenngleich nicht der ge­ ringste archäologische oder literarische Beweis für solch ein Osiris/Isis/Horus-Symbol aufgetaucht ist, lässt sich doch leicht den­ ken, dass christlicher Scharfsinn auf solche »heidnischen« Dreiecke ähnlich reagierte wie auf so viele andere populäre nicht­ christliche Bilder und Metaphern. Die frühen Christen besaßen ein geradezu verblüffendes Geschick, existierende Vorstellungen in ihrem Sinne zu wenden - Kulturhistoriker sprechen im Zusam­ menhang mit dieser Technik von »Umwertung«. Das Dreieck stellte keine abstrakt-mathematische kosmologische Idee dar, es war auch nicht durch die direkte Beziehung zu heidnischen Gott­ heiten verunreinigt. Das Christentum verkündete einen Gott, der in der Geschichte wirkte, einen Sohn, der eine historische Gestalt war, und einen Geist, der in irdischen Männern und Frauen wei­ terwirkte, wie Jesus es verheißen hatte. Welche stärkere und tref­ fendere Versinnbildlichung dieser Lehre konnte es geben als das trinitarische Dreieck, wie wir es im Zusammenhang mit unzwei­ deutig christlichen Quellen wie dem Fragment P29 antreffen? Welch geeigneteren Ort konnte es außerdem dafür geben als die Heimat der ägyptischen Mythen, wo P29 gelesen und wieder­ entdeckt wurde? Um nun auf das Kurzschriftfragment aus demWadi Murabba'at zurückzukommen, so fällt es nicht schwer, sich einen Schrei­ ber vorzustellen, der ebenso wie die Schreiber von P29 und P45 das Delta-Dreieck zur Darstellung Gottes als des Hauptes der Dreifaltigkeit verwendet. Um 135 n. Chr., dem ungefähren Zeit­ punkt, zu dem das mit Kurzschrift beschriebene Lederfragment entstand, waren bereits mehr als hundert Jahre seit Jesu Tod und Auferstehung vergangen und zumindest einige christliche Zirkel mit den pythagoräischen Lehren, mit Platon oder Plutarch ver­ traut. Tatsächlich hatte der Apostel Paulus schon um 50 n. Chr. in seiner Rede vor der Philosophenversammlung auf dem Areopag den griechischen Naturphilosophen Arat zitiert.34 Ohne eine voll­ ständige Entschlüsselung des Kurzschrifttextes lässt sich nicht zweifelsfrei entscheiden, ob es sich hier um das christliche Sym­ bol handelt. Unsere Hypothese ist aber immerhin plausibel - und

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dies umso mehr, als das Chi-Rho Monogramm, das uns zu unse­ ren Nachforschungen angeregt hat, offenkundig keine Randbe­ merkung des Schreibers, kein Chrésimon, Chréston oder Chresis ist, im Sinne eines Hinweises auf eine wichtige, zitierbare Text­ stelle in der entsprechenden Zeile. Vielmehr steht es ungefähr in der Mitte von Zeile elf, umgeben von Kurzschriftsymbolen. Und es ist auch in keiner Weise hervorgehoben, größer, höher oder breiter als die anderen im Manuskript verwendeten Zeichen. Nach dem Chi-Rho sieht man ein Zeichen, das wie ein Punkt aus­ sieht. Das Chi-Rho als Kurzform für XPI2TO2, Christos, könnte also das letzte Wort eines Satzes sein, in dem auch von Gott oder der Dreifaltigkeit die Rede ist. Für diese Kombination gibt es viele Beispiele, nicht zuletzt auf den Seiten des Neuen Testaments. Rö­ mer 15,6 ist nur eines von ihnen.35 Ein anderes ist 2. Korinther 4,5 - in diesem Brief des Apostel Paulus findet sich auch die älteste ausdrückliche Formulierung der Dreifaltigkeitslehre im Neuen Testament.36 Es wurde oben erwähnt, dass die meisten Gelehrten mit aller Entschiedenheit die Ansicht vertreten, beim Kreuz handele es sich um ein Symbol aus der Zeit nach Konstantin. Hier aber haben wir ein Chi-Rho, das sich auf ca. 135 n. Chr. oder gar noch früher zurückdatieren lässt, was im krassen Widerspruch zur Schulmei­ nung steht. Wie in Kapitel 1 geltend gemacht, ist das eigentlich Merkwürdige, dass überhaupt eine solche Schulmeinung hat ent­ stehen können. Es versteht sich von selbst, dass Konstantin die Verwendung des Kreuzes als christliches Symbol mit allergröß­ tem Nachdruck betrieb, um es der Krone seiner kaiserlichen und dynastischen Verdienste als Juwel einzufügen. Aber wie wir sa­ hen, baute er dabei bereits auf soliden Fundamenten auf. Das er­ gibt sich eindeutig aus dem berühmten Spottkruzifix, das auf dem Palatin in Rom in der Nähe eines römischen Garnisonsgebäudes gefunden wurde.37 Das auf das späte zweite oder frühe dritte Jahr­ hundert zu datierende Graffito wurde 1857 an der Mauer des kai­ serlichen paedagogium, der Schule für römische Pagen, entdeckt. Offenbar war einer der Zöglinge ein Christ, der über seinen Glau­ ben an den gekreuzigten Christus etwas hatte verlauten lassen. Links befindet sich die Gestalt eines jungen Mannes, dessen Na­ me, Alexamenos, im Text auftaucht. Einer der anderen Pagen ver-

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spottete ihn durch eine Zeichnung, die den Kommilitonen zeigt, wie er auf ein Kreuz deutet, an dem ein Gekreuzigter mit Esels­ kopf hängt. Der griechische Text lautet: Alexamenos sebete theon (Alexamenos betet [seinen] Gott an). Offensichtlich gab es in Rom lange vor Konstantin Zeiten, in denen ein Christ die kaiserli­ che Pagenschule besuchen und sich zu seinem Glauben bekennen konnte und sich deswegen verspotten lassen musste. Rund vierzig Jahre bevor dieses Bild gemalt wurde, berichtet der römische An­ walt Minucius Felix, ein Christ, in seinem Dialog Octavius, die Christen würden beschuldigt, einen eselsköpfigen Gott anzube­ ten; etwa um die Zeit des Graffito erwähnt und kritisiert auch Tertullian, der erste lateinisch schreibende christliche Apologet, diese Verleumdung.38 Es war nicht einmal besonders originell, die Ju­ den hatte man früher bereits ähnlicher Dinge beschuldigt.39 Neu war einzig und allein das Kreuz. Dass es keine Wandbilder mit dem Kreuz oder dem gekreuzig­ ten Christus in den Katakomben aus der Zeit vor Konstantin gibt, ist einer der Gründe, warum viele Forscher angenommen haben, die christlichen Gläubigen und Künstler seien ursprünglich vor dem Kreuz als vor etwas Schändlichem zurückgeschreckt. Das ist ein Trugschluss. In einer Situation jedoch, in der die Hoffnung auf Auferstehung offensichtlich im Zentrum stand, war eine künstle­ rische Beschäftigung mit dem Kreuzestod eher unwahrscheinlich. Das visuelle Repertoire der Katakomben zeichnet sich durch bibli­ sche und nichtbiblische Szenen aus, die sich um die Wirklichkeit des Lebens nach dem Tode drehen - man findet Jona und den Fisch, die Männer im Feuerofen, Jesus als Orpheus, die Er­ weckung des Lazarus und so weiter. Und man findet Schilderun­ gen der Kommunion mit Christus: Abendmahlsszenen und Aga­ pen, Liebesmahle mit Fisch, Brot und Wein. Andere Szenen zeigen Adam und Eva, Abraham und die drei Männer im Hain Mamre (ein Dreifaltigkeitssymbol), das fast vollzogene Opfer Isaaks durch Abraham, Moses und den Felsen, die Anbetung der drei Weisen aus dem Morgenland, Maria und das Kind mit dem Propheten Balaam, die Taufe Jesu (einschließlich Taube), Jesus und die Samariterin, die Heilung des Lahmen, Jesus und die blut­ flüssige Frau, die wunderbare Vermehrung der Brote und Fische, Jesus mit den zwölf Aposteln, Christus als Helios (Sonnengott), 183

den Guten Hirten und den Hirten als Lehrer, predigende Männer und Frauen (so genannte Orantes). Gegen Ende des dritten Jahr­ hunderts fing man an, Christus als Weltenherrscher mit den Apo­ steln Petrus und Paulus abzubilden. Das Bild von der Kreuzigung oder dem Kreuz dagegen wäre in den Katakomben nicht am Platze gewesen; entgegen der weitverbreiteten Ansicht waren die Kata­ komben ein Bestattungsort, niemals aber Versteck für verfolgte Christen.40 Der gleiche Bildercode hatte selbstverständlich auch Verbindlichkeit für die Ausschmückung der Sarkophage - wenn­ gleich später, als die christliche Symbolik zur Staatssymbolik wurde, einige Sarkophage mit dem Triumphkreuz geschmückt wurden. Sowenig sich die frühen Christen jemals vom Kreuz distanzier­ ten, so sehr musste doch ihren Gegnern dessen zentrale Bedeu­ tung als schändlich und sogar irrsinnig erscheinen. Wie konnte man jemanden für den Erlöser halten, der von den Römern wie ein gewöhnlicher Verbrecher gekreuzigt worden war? Im Dialog des Octavius von Minucius Felix bestätigt Octavius zwar die Be­ deutung, die das Kreuz für die Christen habe, stellt aber fest, dass es von ihnen weder angebetet noch kultisch verehrt werde.41 Das Kreuz müsse geehrt werden, aber physische Objekte seien als sol­ che nicht anbetungswürdig. Jesus, nicht seinem Kreuz, schulde man Verehrung. Octavius dreht den Spieß um: Ihr »heidnischen« Römer, sagt er, betet hölzerne Kreuze an, die zu euren Standbil­ dern gehören, und ihr verehrt Siegesstandarten, die wie vergolde­ te Kreuze aussehen. »Das Zeichen des Kreuzes«, fügt er treffend hinzu, »wird gemacht, wenn ein Mensch mit reinem Gemüt und erhobenen Armen Gott verehrt«42 - dieses Bild ist uns aus den Katakomben vertraut; man sieht es auch auf einer Wandmalerei, die in Lullingstone in Kent entdeckt wurde und im Weston-Flügel des Britischen Museums zu besichtigen ist. In Herculaneum, das 79 n. Chr. zerstört wurde, ist in einem oberen Raum - dem tradi­ tionellen Versammlungsraum der Christen, wie ihn Lk 22,12 und Apg 1,13 beschreiben - der Abdruck eines Kreuzes an der Wand erhalten; das war der schlichte, bescheidene Platz, den das Kreuz einnahm.43 Wie unspektakulär und zugleich furchtlos mit dem Kreuz umgegangen wurde, lässt sich auch dem so genannten SATOR-Palindrom entnehmen. Eines wurde in Pompeji entdeckt, in

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der Nachbarschaft christlicher Graffiti; es muss vor 79 n. Chr. ent­ standen sein, dem Jahr, in dem die Stadt durch einen gewaltigen Vesuvausbruch verschüttet wurde. In vielen Teilen des Römi­ schen Reiches hat man weitere gefunden, zwei davon, die beide aus dem zweiten Jahrhundert stammen, in Großbritannien - auf einem Abfallhaufen im römischen Manchester (Mamucium) und auf dem Wandputz eines Hauses in Cirencester (Corinium Dobunnorum).44 Sie lauten:

ROTAS OPERA TENET A R E P O SATOR - übersetzt : die Räder/mit Fleiß /hält/Arepo/der Sämann. Wie man die Wörter auch liest, sie ergeben immer die gleiche Bedeu­ tung. Als christliche Botschaft, die mit dem Motiv des Kreuzes arbeitet, ist dieses Palindrom aus einem einfachen Grund inter­ pretiert worden: Das zentrale Wort, das man von oben nach un­ ten, von unten nach oben, von rechts nach links und von links nach rechts lesen kann, bildet ein so genanntes griechisches Kreuz (mit gleichlangen Armen). Der erste und letzte Buchstabe ist ein T - in der lateinischen Schrift kommt er einem Kreuz am nächsten. Man kann die Mittelzeile lesen, wie man will, sie er­ gibt stets ein lateinisches Wort »tenet«, er hält. Wer ist »er«? Das Wort in den senkrechten Zeilen links und rechts lautet SATOR, was einfach »Sämann« bedeuten kann, aber auch Urheber, Schöpfer: der Schöpfer, der seine Schöpfung »hält«. Der unschul­ dig wirkende persönliche Name AREPO, der, rückwärts gelesen, OPERA, »mit Fleiß« und »Werke« (der Schöpfung), ergibt, be­ ginnt und endet mit A und O: das ist das Alpha und das Omega, der Anfang und das Ende der Schöpfung Gottes. A und O flan­ kieren jeweils die vier T des TENET-Kreuzes. War es solch ein Kreuzpalindrom, an das Caecilius Natalis, der nichtchristliche Gesprächspartner im Ocfauius-Dialog des Minucius, dachte, als er die Christen beschuldigte, sich mit Hilfe »geheimer Symbole und Zeichen« zu erkennen?45

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Wie nach dem Erscheinen des Christentums kommt auch be­ reits vorher das einfache, schmucklose Kreuz in den vielfältigsten Zusammenhängen vor. Auch das hebräische Taw ließe sich als Symbol der Erlösung und sogar als Darstellung des Namens Got­ tes verstehen. Wird es mit seitlicher Neigung geschrieben, sieht es aus wie das christliche Chi. In der als iQIsa katalogisierten großen Jesaia-Schriftrolle aus der Qumranhöhle 1 kommt es elfmal vor und ist als Randzeichen interpretiert worden, das direkte oder in­ direkte Verweise auf den Gesalbten Gottes, den Messias, anzeigt. Die jüdischen Christen wiederum konnten dieses Taw für ihre ei­ genen Zwecke nutzbar machen. Wenn es als Chi gesehen und ge­ schrieben wurde (wie in der Jesaia-Rolle und auf zahlreichen Os­ suarien), bildete es natürlich den Anfangsbuchstaben von XPI2TOX, Christus, dem Wort, das in der vorchristlichen griechi­ schen Übersetzung des hebräischen Alten Testaments, der Sep­ tuaginta, den Messias bezeichnet.46 Egal, ob das Taw wie + oder X geschrieben wurde, die jüdischen Christen konnten seine Sym­ bolbedeutung von Gott auf Christus übertragen, und sie konnten es, mehr noch dazu benutzen, um ihren Glauben an die Göttlich­ keit Jesu Christi zu bekunden. Das praktische Problem, mit dem sich Archäologen und Epigraphiker konfrontiert sehen, liegt dabei auf der Hand: Es ist fast unmöglich, mit Sicherheit zu sagen, ob ein Ossuar oder eine Inschrift aus der frühchristlichen Zeit, die man in Jerusalem oder anderweitig im Heiligen Land entdeckt, jü­ dischen oder jüdisch-christlichen Ursprungs ist.47 Mit ziemlicher Sicherheit sagen lässt sich nur, dass jüdische Christen das Zeichen verwendeten. Eine andernorts gemachte archäologische Entdeckung aus jüngster Zeit kann vielleicht weiteres Licht auf die Art und Weise werfen, wie von den frühen Christen das schlichte, schmucklose Kreuz verwendet wurde. Während der laufenden Ausgrabungen in Betsaida, der Heimatstadt der Apostel Petrus und Andreas, fand man ein unterkellertes Haus und in dem Keller einige Weinkrüge zusammen mit den kleinen Sicheln, die bei der Ernte benutzt wurden. Benachbart war ein Hof mit einer Fläche von 12 mal 12,9 Metern. Und nördlich davon, in einem weiteren Raum, machte man den überraschendsten aller Funde: Im Jahre 1994 entdeckte Gloria Strickert, die Frau von Fred Strickert, einem der leitenden 186

Archäologen bei den Ausgrabungen in Betsaida, eine Tonscherbe mit einem Kreuz darauf. Fred Strickert beschreibt das Kreuz fol­ gendermaßen: »Das ziemlich roh und unvollkommen eingeritzte Kreuz misst 11,43 mal I3'97 cm; das obere Stück ist abgebrochen. Es besteht aus einem Kreis in der Mitte mit vier ausgestreck­ ten Armen, die jeweils aus zwei verbundenen parallelen Li­ nien bestehen. Der >Kreis< in der Mitte ist unvollkommen und hat einen horizontalen Durchmesser von 4,19 cm ge­ genüber einem vertikalen von 3,61 cm. Alle drei vollständig erhaltenen Arme erstrecken sich vom Mittelpunkt aus 5,38 cm weit. Vom unteren Arm aus erstrecken sich schwächere Linien noch weitere 3,30 cm, wodurch sich das griechische Kreuz« - alle Arme gleich lang - in ein >römisches< verwan­ delt, bei dem die waagrechten Arme den senkrechten Balken auf der Höhe des oberen Drittels schneiden. Seines groben Aussehens ungeachtet, liegt also dem Kreuz ein gewisses Maß an Überlegung und Planung zugrunde.«48

Die Scherbe dürfte von einem Vorratskrug stammen, dessen Ty­ pus zwischen 100 v. Chr. und 70 n. Chr. häufig war. Da sie an ihrem ursprünglichen Ort, in unmittelbarer Nachbarschaft der zum Teil noch unversehrten Tongefäße des Weinkellers, gefunden wurde, geht Strickert im Zusammenhang mit der Geschichte Betsaidas von einem »im Blick auf die Zerstörung des Hauses versiegelten Ort« aus und plädiert für das erste Jahrhundert als Zeitraum. Tatsächlich spricht das Vorkommen vergleichbarer Tongefäße zwischen 100 v. Chr. und 70 n. Chr. dafür, dass in diesem Fall »ers­ tes Jahrhundert« so viel bedeutet wie »nicht später als 70 n. Chr.«. Ein solch frühes Datum würde aus dem Fund das früheste, je­ mals irgendwo entdeckte christliche Kreuz machen, das sogar äl­ ter wäre als das in Herculaneum gefundene, wenn auch nur etwa neun Jahre.49 Strickert zögert deshalb verständlicherweise, sich festzulegen. Er stellt fest, dass keine Inschrift vorhanden ist, durch die es sich zweifelsfrei identifizieren ließe, und verweist darauf, wie spärlich Kreuze in der bildenden Kunst vor der Zeit

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Konstantins auftauchen. Dennoch schließt er mit einem vorsich­ tig formulierten positiven Urteil:

»Die Möglichkeit, dass Kreuze so früh auftauchen, muss uns nicht völlig überraschen. Die Form des Fragments von Bet­ saida kennen wir von keiner anderen Abbildung aus der Zeit vor Konstantin ... Der Schlüssel zur Deutung dieses Kreuzes sind die vier Arme und der zentrale Kreis, von dem aus sie sich nach vier Seiten erstrecken. Der Kreis steht für Ganzheit und Einheit, während die Arme Vielfalt symbolisieren. Von Vielfalt lässt sich mit Fug und Recht reden angesichts eines multikulturellen Zentrums, in dem der Kaiserkult und die jüdische Religion ebenso wie das Christentum praktiziert wurden, wo die Jünger Jesu griechische Namen trugen und wo Griechen Jesus sehen wollten. Die Ganzheit und Einheit könnte sogar ein Hinweis auf den Laib Brot sein, den die Teil­ nehmer eines Gedenkmahles gemeinsam verzehrten. Wenn Jesus in Joh 12,24 von dem Weizenkorn spricht, dessen Tod >viel Früchte< hervorbringe, so wird auch hier Einheit und Vielfalt mit der Kreuzigung in Verbindung gebracht.«50 Wir haben Strickert ausführlich zu Wort kommen lassen, nicht zuletzt, um zu zeigen, wie sehr sich ein renommierter Archäologe, der mit jüdischen und christlichen Kollegen an derselben Ausgra­ bungsstätte arbeitet, um eine ausgewogene Beurteilung bemüht. Einer seiner Archäologenkollegen in Betsaida, Bargil Pixner, hatte bereits im Jahr 1982 am Südhang von Betsaida-et-Tell einen Ba­ saltstein mit einem kleinen Kreuz entdeckt. Er widerstand der Versuchung, den Fund zu datieren, und äußerte die Vermutung, er könne theoretisch mit späteren byzantinisch-christlichen Akti­ vitäten in Zusammenhang stehen.51 Als dann die im Zentrum des alten Fischerdorfs entdeckte Tonscherbe auf vor 70 n. Chr. datiert wurde, veranlasste ihn das, seine Position zu überdenken. Er äußerte die Ansicht, das Kreuz auf der Scherbe habe ursprünglich die Sonne als kreuzförmiges Christussymbol darstellen sollen, wobei es sich um eine Übernahme des heidnischen Sol Invictus handele. Der Künstler, der mit dem Ergebnis nicht ganz zufrieden gewesen sei, habe den senkrechten Balken verlängert - dass ir-

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gendwann eine solche Verlängerung vorgenommen wurde, sieht man um daraus ein echtes »lateinisches« Kreuz zu machen. Wozu all der Aufwand? Vielleicht handelte es sich um einen ganz besonderen Krug, der für den Wein verwendet wurde, mit dem man die Eucharistie oder heilige Kommunion feierte, zum Geden­ ken an das letzte Mahl, das Jesus mit seinen Jüngern gefeiert hatte.52 Die Sonne als Symbol Gottes und Christi zu verstehen dürfte von Anfang an ein Leichtes gewesen sein: Psalm 84,11 tat das (»Denn Gott der Herr ist Sonne und Schild«), und für jüdische Christen war das Grund genug. Des Weiteren gab es Mt 17,2: »Und er (Jesus) ward verklärt vor ihnen, und sein Angesicht leuchtete wie die Sonne, und seine Kleider wurden weiß wie das Licht.« Lukas beschrieb den mit Gott gleichgesetzten Jesus als den »Aufgang aus der Höhe, auf dass er erscheine denen, die da sitzen in Finsternis« (Lobgesang des Zacharias, Lk 1,78-79, in Anspie­ lung auf eine Weissagung in Mal 3,20). In Offb 1,16 lesen wir: »Und er hatte sieben Sterne in seiner rechten Hand, und aus sei­ nem Munde ging ein scharfes, zweischneidiges Schwert, und sein Angesicht leuchtete, wie die Sonne scheint in ihrer Macht.« All dies vielleicht schon vor 70 n. Chr. Aber das sollte uns nicht überraschen. Denn auch ohne die archäologischen und papyrolo­ gischen Belege für Kreuze und kreuzförmige Zeichen, ja selbst ohne ein einziges empirisches Fundstück wäre es nur logisch, da­ von auszugehen, dass das Symbol des Kreuzes schon in frühester Zeit existierte. Wie hätten Christen wohl vom Kreuz keinen Ge­ brauch machen können, angesichts etwa der folgenden Passage aus dem ersten Brief des Paulus an die Korinther, die ihnen ja be­ kannt war: »Denn das Wort vom Kreuz ist eine Torheit denen, die verloren werden; uns aber, die wir selig werden, ist's eine Gottes­ kraft ... wir aber predigen den gekreuzigten Christus, den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit; denen aber, die beru­ fen sind, Juden und Griechen, predigen wir Christus als göttliche Kraft und göttliche Weisheit.« (1 Kori,i8 und 1,23-24) Die Evan­ gelien wiederum schrieben die Berufung aufs Kreuz Jesus selbst zu: »Wer mir will nachfolgen, der verleugne sich selbst und neh­ me sein Kreuz auf sich und folge mir nach.« (Mk 8,34) Der Schluss ist unausweichlich, wenn er auch nach wie vor be­

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stritten wird: Das Kreuz Christi wurde von Anbeginn des neuen Glaubens an verehrt, als Erscheinung wahrgenommen und bild­ lich dargestellt. Die ersten Christen brauchten nicht auf Helena zu warten, um das Wahre Kreuz zu entdecken, und es bedurfte da­ zu auch nicht der Erlasse Konstantins. Die Wiederentdeckung des Kreuzes durch die Kaiserin und das Erlebnis ihres Sohnes mit all seinen theologischen und politischen Konsequenzen stellten nicht den Anfang einer Tradition, sondern deren Kulminations­ punkt dar. Sie bildeten in der Tat einen Wendepunkt in der Ent­ wicklung der westlichen Zivilisation, man könnte sogar sagen, die Geburtsstunde des Christentums selbst. Aber das Kreuz der Evangelien, der Apostelbriefe, des täglichen Gottesdienstes in Je­ rusalem, Betsaida, Herculaneum, Rom und an vielen anderen Orten - dieses Kreuz war es, das für die Leistung der beiden den Boden bereitete und die Legitimation lieferte. Ohne die Kreuzes­ überlieferung, ohne die Inspiration und Glaubenskraft der frü­ hesten Anhänger Jesu hätten Helena und Konstantin niemals vollbringen können, was sie vollbrachten.

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7. Die immerwährende Suche Ein Schlüssel dient dazu, den Weg zum Verständnis eines Mysteriums zu erschließen. Aber wie sieht so ein Schlüssel aus ? Wie erkennt man ihn, wenn man ihn vor sich hat? Alister McGrath, Bridge-Building Der christliche Glaube steht nicht im Widerspruch zum Verstand. Er ist von seinem Ursprung her ein denkender Glaube, der Fragen nicht nur zuläßt, sondern sie auch nicht zu fürchten braucht. Hartmut Rosenau, Fragen ist die Frömmigkeit des Denkens

Vanbrucghe: Habe ich Ihnen diese Geschichte schon erzählt? Eine Witwe erfuhr in einer Predigt von der Kreuzigung, kam hernach zum Priester, knickste vor ihm und wollte von ihm wissen, wie lange der traurige Vorfall zurückliege. Als er antwortete, das sei ungefähr fünfzehn- oder sechzehnhundert Jahre her, beruhigte sie sich und sagte, Dann ist es, so Gott will, vielleicht gar nicht wahr. Peter Ackroyd, Hawksmoor

Nicht jede Suche endet damit, dass man ein klares Ziel erreicht oder zu einer eindeutigen Lösung gelangt. Geheimnisse und Rät­ sel können manchen intellektuellen Ansturm überdauern. Der Zweck dieses Buches ist es nicht, endgültige Antworten auf die unentschiedenen Fragen im Zusammenhang mit dem Wahren Kreuz zu finden - woher sollten solche Antworten auch kom­ men? -, sondern die fest etablierten Ansichten zum Thema zu er­ schüttern. Wenn wir Schritt für Schritt Helenas Spuren folgten und die Geschichte des Kreuzes als eines Symbols und Artefakts detailliert nachvollzogen, so ging es uns darum, ein Korrektiv zu den herrschenden wissenschaftlichen Überzeugungen zu bieten und die Diskussion neu zu entfachen. Wer eine Reise beschreibt, die vor siebzehnhundert Jahren stattfand, oder dem Schicksal ei­ nes 2000 Jahre alten Holzstückchens nachforscht, kann ebenso wenig Anspruch auf absolute Wahrheit erheben wie ein heutiger Biograf Alexanders des Großen oder jemand, der eine kritische Analyse Vergils unternimmt. Dennoch hat jede Generation ein

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Recht darauf, den intellektuellen Konsens in Frage und auf die Probe zu stellen. Und das war unsere Absicht. Einige der in diesem Buch angewandten Methoden sind zwangsläufig hochgradig fachwissenschaftlich. Die Entzifferung antiker Texte und Symbole war nie einfach, und sie wird in dem Maße komplizierter - und auch aufregender -, wie die Möglich­ keiten moderner detektivischer Spurensicherung in diesem Be­ reich genutzt werden und ihn von Grund auf verändern. Wer heute nach den Ursprüngen des Christentums forscht, hält sich im Zweifelsfall genausooft im Labor wie in Bibliotheken auf. Die Technik ist für den Historiker der frühen Kirche von nicht geringerer Bedeutung als die Philologie. Diese Methoden sind al­ lerdings ein Mittel zum Zweck, kein Selbstzweck. Sie sind nur Werkzeuge bei dem Bemühen, den Anfängen der christlichen Zi­ vilisation auf die Spur zu kommen. Die Verwickeltheit mancher Überlegungen, die wir anstellen, darf nicht über die Gradlinigkeit unserer Ergebnisse hinwegtäuschen. Wir haben versucht zu zeigen, dass die erhaltenen historischen Quellen eine Beweislage schaffen, die Helenas legendäre Ent­ deckung durchaus plausibel erscheinen lassen. Es stimmt, dass die Begräbnisrede für Kaiser Theodosius, die Ambrosius von Mailand in den neunziger Jahren des vierten Jahrhunderts n. Chr. hielt, den frühesten existierenden Beleg für den Anteil der Kaiserin an der Inventio Crucis darstellt. Aber dieser Text liest sich keines­ wegs wie eine abenteuerliche Fiktion; in einem politisch derart heiklen Moment wie der Beisetzung von Theodosius wäre Am­ brosius schlecht beraten, um nicht zu sagen tollkühn gewesen, seinen Zuhörern eine völlig freie Erfindung aufzutischen. Wie viel überzeugender wirkt demgegenüber die Annahme, dass der kluge Bischof von Mailand, der Sohn eines nüchternen Beamten und selbst einst Beamter, sein hochmögendes Publikum mit den vertrauten Fakten einer gesicherten Überlieferung erfreuen woll­ te. Er sprach von Helenas Entdeckung, weil seine Zuhörer das von ihm erwarteten. In diesem Zusammenhang kann man das Zeugnis des Cyrill von Jerusalem gar nicht hoch genug einschätzen. Wie bereits be­ merkt, finden wir bei dem großen Kirchenmann, der Bischof von Jerusalem war, reichlich Belege dafür, dass im Zuge der Ausgra192

bungen am Heiligen Grab etwas entdeckt worden war, das dem Wahren Kreuz glich. Das Zeugnis des Cyrill nicht in Verbindung mit der Helena-Geschichte zu bringen wäre absurd. Euseb zog es natürlich vor, sich aus der Diskussion um die Entdeckung des lignum crucis völlig herauszuhalten, jedenfalls in seiner Konstan­ tin-Biografie. Wie wir indes sahen, hatte der für seinen freien Umgang mit den Quellen berüchtigte Autor außerordentlich gute Gründe für seine berühmte Auslassung. In anderen Zusammen­ hängen scheint Euseb außerdem zu bestätigen, dass in den zwan­ ziger Jahren des vierten Jahrhunderts das Kreuz tatsächlich beim Heiligen Grab entdeckt wurde. Die Begeisterung, die Cyrill förderte und die eine Pilgerin wie Egeria so lebhaft spürte, war der Gipfelpunkt einer jahrhunderte­ langen Tradition. Die ersten Christen hielten, wie sich das von ih­ nen erwarten ließ, die Stätte der Kreuzigung Jesu in Ehren. Sie reichten das Wissen darüber von einer Generation zur nächsten weiter, so dass, auch noch nachdem die Bauten Hadrians Golgatha bedeckten, die Pilger dem heiligen Ort so nah wie möglich kom­ men wollten: »DOM1NE IVIMUS«, Herr, wir sind angekommen, schrieben sie an die Felswand der heutigen Kapelle des heiligen Vartan und der Armenischen Märtyrer. Andernorts hatte sich das Kreuz in seinen vielen Formen schon lange fest etabliert, ehe Konstantin es zum Symbol seines Gott­ kaisertums machte. Das kreuzförmige Mosaik in Silchester und das Bleisiegel, das in der Nähe der Basilika dort gefunden wurde, beweisen, dass Ende des dritten Jahrhunderts das Kreuzsymbol bereits in Gebrauch war. Papyri - besonders das Manuskript P45 belegen, dass man schon ein Jahrhundert zuvor das Chi-Rho als christliches Symbol verwendete. Aus etwa dem gleichen Zeit­ raum stammt die Verspottung der Kreuzigung, die auf dem Pala­ tin in Rom gefunden wurde. Das geheimnisvolle Ledermanu­ skript, das man im Wadi Murabba'at entdeckte und auf dem sich das Chi-Rho-Zeichen findet, ist fast mit Sicherheit älter als 135 n. Chr. Wir können mit Gewissheit davon ausgehen, dass die Entste­ hungszeit des Kreuzpalindroms in Pompeji vor 79 n. Chr. liegt. Die Tonscherbe von Betsaida mit eingeritztem römischem Kreuz ist sogar noch älter: Die Christen, von denen dieses Zeichen stammt, zeichneten es nur ein paar Jahrzehnte nach Jesu Wirken.

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Erstmals auf diese Weise versammelt, untergraben die archäo­ logischen und papyrologischen Belege eindeutig die orthodoxe Ansicht, dass erst während der Regierungszeit Konstantins das Kreuz zu einem wichtigen Symbol geworden sei. Einem der be­ kanntesten Erforscher der frühchristlichen Ära zufolge wurde »... im christlichen Kontext... kein einziges >Chi-Rhoeines der unglaublichsten Erzeugnisse menschli­ chen Einfallsreichtums und handwerklichen Geschicks, das wir kennem, oder für >die ergreifendste und lehrreichste Re­ liquie Jesu Christi, die es gibt< -, ein Tuch, bedruckt mit einer 2000 Jahre alten Fotografie von ihm als Leichnam. So lautet die krasse Alternative, vor die uns das Grabtuch stellt; auch wenn es ungefähr fünfunddreißig Jahre her ist, seit Walsh sie in Worte fasste, hat sie bis heute unverändert ihre Gültigkeit bewahrt.«6

Genau diese Art von Offenheit hatten wir im Auge, als wir zum ersten Mal ein »neues Paradigma« auf einem Gebiet anregten, das von engstirnigem Theoretisieren und von postmodernem Skepti­ zismus tyrannisiert wird. Und es gibt tatsächlich ermutigende Anzeichen für einen allmählichen Gesinnungswandel in der frühkirchlichen und neutestamentarischen Forschung. Als der Je­ sus-Papyrus erschien, rief das Buch weltweit heftige Reaktionen hervor, die von begeistertem Beifall bis zu Drohbriefen reichten. Manche Gelehrten weigerten sich schlichtweg, an der Auseinan­ dersetzung teilzunehmen - in einem Falle mit der Begründung, man werde mindestens ein Jahrzehnt brauchen, um sich erneut hinsichtlich der Datierung der Evangelien und der Gemeinden, in denen sie entstanden, zu einigen. Manche klammern sich nach wie vor an die alten Überzeugungen, dass die Evangelien späte Schöpfungen sind, dass sie durch zwei oder drei Generationen von den Ereignissen, die sie schildern, getrennt sind, dass die Texte nicht von einzelnen Autoren verfasst wurden und dass sie keiner­ lei Anspruch auf Wirklichkeitstreue erheben können. Diese Über­ zeugungen stehen indes unter zunehmendem Druck, der von klassischen Philologen, Historikern, Papyrologen und einer stän­ dig wachsenden Zahl von Theologen ausgeht. Es sollte aber doch wohl möglich sein, sich über den Autor Lu­ kas genauso ein Urteil zu bilden wie etwa über den Autor Tacitus, ohne deshalb gleich den Vorwurf des »Fundamentalismus« zu ris­ kieren. Das Evangelium des Johannes verdient es, als das Meister­ werk eines einzelnen Autors, nicht als die Gemeinschaftsproduk­ tion einer palästinensischen oder kleinasiatischen Gemeinde gelesen zu werden. Zunehmend setzt sich bei Philologen die

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Überzeugung durch, dass die Evangelien mehr oder weniger in Gestalt ihrer ursprünglichen Abfassung auf uns gekommen sind, statt in einer hoffnungslos verballhornten Form. Eine kürzlich er­ schienene Untersuchung von Ulrich Victor, einem anerkannten Experten auf dem Gebiet der griechischen Philologie und Textkri­ tik, hat für die Schulen der so genannten »Formkritik« und »Re­ daktionskritik« (die beide in Frage stellen, dass es sich bei den Evangelien um historische Erzählungen handelt) effektiv den Grabgesang angestimmt.7 Die Konsequenz dieser fachlich sorg­ fältigen Analyse könnte gar nicht eindeutiger und weitreichender sein: Wir dürfen die Evangelien wieder als ernst zu nehmende historische Quellen behandeln, statt als literarische Konstrukte auf der Grundlage einer fälschlich für unzuverlässig gehaltenen mündlichen Überlieferung. Zum Teil liegt das Problem in dem fehlenden Verständnis des modernen Geistes für die Tatsache, dass in der Antike die Trennli­ nie zwischen dem Natürlichen und dem Übernatürlichen weniger klar war, als sie es heute ist. Es versteht sich von selbst, dass die Geschichten über Christus - wie auch drei Jahrhunderte später über Helena - keine historischen Biografien in unserem heutigen Sinne waren. Die anderweitige Überzeugung, dass alle Legenden wortwörtlich wahr sind, hat man als euhemeristischen Irrtum be­ zeichnet - nach Euhemeros von Messene, der im vierten Jahrhun­ dert v. Chr. entdeckt zu haben behauptete, dass Zeus ein wirkli­ cher, aus Kreta stammender Mensch gewesen sei. Dass man antike Texte nicht so leichtgläubig lesen und in solch buchstäblichem Sinn verstehen darf, liegt auf der Hand.8 Die Erzählungen vom Leben Helenas stecken wie auch die Evangelien selbst sehr be­ wusst voller metaphorischer Figuren, sind durchsetzt mit Sinn­ bildern und Anspielungen. Aber das bedeutet nicht, dass es sich bei ihnen um schiere Erdichtungen handelt. Die Erzählungen je­ der Kultur stellen einen vor die Aufgabe, den historischen Kern herauszufinden, den sie enthalten. Im Falle der Evangelien haben sich Historiker mittlerweile dem Neubewertungsprozess angeschlossen, der von Papyrologen und Philologen in Gang gebracht wurde. In Italien haben Marta Sordi und Ilaria Ramelli für das Markusevangelium nachgewiesen, dass es bereits vor Mitte der sechziger Jahre des ersten Jahrhunderts 199

Aufnahme in griechisch-römischen Leserkreisen gefunden hatte und von Autoren wie Petronius gelesen (und gelegentlich pa­ rodiert) wurde.9 Jüdische Gelehrte wie Shemaryahu Talmon ha­ ben mit wachsendem Nachdruck die These vertreten, dass Evan­ gelien wie etwa das des Markus ohne weiteres in den Archiven der Essener in Qumran studiert worden und katalogisiert gewesen sein mögen, bevor die Heimat der Schriftrollen vom Toten Meer im Jahre 68 n. Chr. zerstört wurde.10 Der große finnische Wegbe­ reiter der Papyrusforschung, Heikki Koskenniemi, gelangte sogar zu der Ansicht, die Entdeckung, dass es sich beim Schriftrollen­ fragment 7Q5 vom Toten Meer um Markus 6,52-53 handelt woraus folgt, dass dieses Evangelium niedergeschrieben gewesen sein muss, ehe die Römer Qumran im Jahre 68 n. Chr. erstürmten -, sei der Identifizierung der berühmten Linear-B-Schrift an die Seite zu stellen.11 Ein spanischer Wissenschaftler, der in Israel lehrt, Joan M. Vernet, hat kürzlich alle Forschungen über Qumran und die Ursprünge des Markusevangeliums analysiert und verg­ lichen, darunter auch unsere eigenen Untersuchungen und dieje­ nigen unserer erklärten Gegner wie Emile Puech und Vittoria Spottorno. Vernet kommt zu dem eindeutigen Schluss, dass die Evangelien in der Zeit entstanden sein müssen, in der noch Au­ genzeugen der Ereignisse lebten, und dass dies durch Papyri zwei­ felsfrei belegt wird.12 Im Mittelpunkt dieser neuen Debatte steht das Matthäusevangelium, von dem die ältesten erhaltenen Fragmente - der so ge­ nannte Jesus-Papyrus - im Oxforder Magdalen College und in der Fundación S. Luca Evangelista in Barcelona aufbewahrt wer­ den. Die weit überwiegende Mehrzahl der zeitgenössischen Fach­ leute datieren das Matthäusevangelium auf die achtziger Jahre des ersten Jahrhunderts. In unserem ersten Buch haben wir es um rund zwanzig Jahre vordatiert, ein gutes Stück vor die Zerstörung Jerusalems und des Tempels im Jahre 70 n. Chr. und also auch vor das Jahr 66 n. Chr., in dem die erste christliche Gemeinschaft aus der Heiligen Stadt floh. Und in den letzten Jahren haben Heikki Koskenniemi und andere in zahlreichen Untersuchungen unsere These bekräftigt.13 Ein Jahr nach Erscheinen unseres ersten Buches wurde unter den Oxyrhynchus-Funden im Ashmolean Museum in Oxford ein

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neuer Papyrus mit Text aus dem Matthäusevangelium entdeckt: das als P.Oxy44O4 oder P104 katalogisierte Fragment. Es ist ein kleines Stück Papyrus mit den Versen 21,34-37 und 21,43-45. Ei­ ne vergleichende Analyse des Schreibstils - die übliche Datie­ rungsmethode, die von Papyrologen angewandt wird - hat ge­ zeigt, dass es in die Anfänge des zweiten Jahrhunderts fällt. Tatsächlich weist es eine auffällige Ähnlichkeit mit dem nichtbib­ lischen Papyrus P.Oxy.225 aus dem ersten Jahrhundert auf, was für ein sogar noch früheres Entstehungsdatum spräche. Nach den Manuskripten im Magdalen College und in Barcelona ist also das Fragment im Ashmolean Museum der zweitälteste erhaltene Text aus dem Matthäusevangelium; es ist gut möglich, dass es sich bei ihm um den zweiten zum Vorschein gekommenen Papyrus mit Stellen aus diesem Evangelium handelt, der sogar noch ins erste Jahrhundert zu datieren ist. Wie der Jesus-Papyrus zeigt auch die­ ses Schriftstück, dass die ersten Kopien des Evangeliums frei von stilistischen Verbrämungen waren; sie wirken karg, nüchtern und schmucklos. In unserer Analyse der Fragmente des Magdalen College haben wir nachgewiesen, dass uns dieser Papyrus zusammen mit zwei weiteren alten und gemeinhin unbeachtet gebliebenen Manu­ skripten (P37, P45) einen besseren, originaleren Text von Mt 26,22 bietet. Als Jesus den Verrat des Judas voraussagt, befragen ihn die zwölf Jünger nicht »einer nach dem anderen«, sondern aufgeregt alle durcheinander.14 Und ebenso fehlt auch auf der Rückseite, dem verso, des neu entdeckten Fragments P104 Vers 44 aus Mt 21,43-45. Zahlreiche Forscher haben Vers 44 die Echtheit abgesprochen und ihn für eine späte Einfügung erklärt. P104 legt nahe, dass sie Recht haben. Mit Sicherheit wird man noch weitere Papyri entdecken - nicht an Ausgrabungsstätten, sondern in Archiven und Bibliotheken werden sie ans Licht kommen, sie werden aus den unveröffent­ lichten Fragmentkisten und -fächern der großen Sammlungen in Wien, München, Berlin und Oxford stammen. Im Zuge dieser Ar­ beit wird sich der Bezugsrahmen, auf den sich die Papyrologen stützen können, weiter zurück in die Vergangenheit schieben. Die erstaunlichen Fortschritte in den Techniken der Spurensicherung werden den ganzen Forschungsbereich revolutionieren. Dieser

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Trend - der sich, wie gesagt, bereits beobachten lässt - ist höchst folgenreich. Das technisch hochgerüstete Gebiet der Papyrologie wird auch weiterhin Funde liefern, durch die sich unser Verständ­ nis der Evangelien, ihrer Ursprünge und ihres Werts als histori­ sche Quellen wandeln. Aber warum muss sich eine Untersuchung, deren Thema das Kreuz ist, überhaupt mit den Papyri beschäftigen? Tatsache ist, dass sich die Geschichte der frühen Kirche, ihrer Errungenschaf­ ten und ihrer Kultur ohne Bezug auf ihre ältesten Manuskripte nicht nachvollziehen lässt. Aus unserem Verständnis der Evange­ lien ergibt sich alles Übrige. Nimmt man diese Bücher nicht als Quelle ernst, verlieren für den Historiker alle weiteren Fragen nach dem Leben Jesu, nach seinem Wirken und nach den Artefak­ ten, die er vielleicht hinterlassen hat, ihre Bedeutung. Wenn das Kreuz nie existierte, dann waren die im vorliegenden Buch ge­ schilderten Suchaktionen - Helenas Aktivitäten, die der Kreuz­ fahrer, unsere eigenen Bemühungen - völlig sinnlos. Aber das anzunehmen hieße, ohne Not die Waffen zu strecken. Im Bereich der antiken Geschichte gibt es wenig Beweisbares, aber vieles, das sich plausibel machen lässt. Und wie wir zu zeigen versucht haben, ist es keineswegs völlig unplausibel, dass Jesu Kreuz - erst als Ganzes, dann in Fragmenten - die stürmische Nacht auf Golgatha überdauert hat, vielleicht um viele Jahrhun­ derte. Sicher können wir zumindest sein, dass sich die ersten Christen darum bemühten, das Kreuz zu erhalten. Wir wissen, dass sie und ihre Nachfolger die Kenntnis der Kreuzigungsstätte wie einen Schatz hüteten - und zwar so sehr, dass Kaiser Hadrian diesen heiligsten Ort der Christenheit überbaute und ihn damit bis zu den Konstantinischen Ausgrabungen den Blicken entzog. Wir haben gezeigt, dass viel stärker, als vormals von der Wissen­ schaft erfasst, das Kreuz von den frühesten Zeiten an ein zentrales christliches Symbol darstellte. Im Mittelpunkt dieses historischen und kulturellen Bezie­ hungsnetzes steht der Titulus von Santa Croce, behütet von sei­ nen zisterziensischen Bewahrern und seinerseits seine uralten Geheimnisse hütend. Haben wir mit letzter Sicherheit bewiesen, dass es sich bei diesem Holzfragment um die Kopftafel Christi handelt? Natürlich nicht. Aber wir haben ihm wieder den Platz im 202

Spektrum historischer Plausibilitäten verschafft, auf den es An­ spruch hat. Von Bertrand Russell stammt die Äußerung, es sei »nicht wünschenswert, einen Satz zu glauben, wenn es keinerlei Grund zu der Annahme gibt, dass er wahr ist«.15 Daraus folgt aber auch, dass Sätze ernst genommen werden sollten, wenn es we­ nigstens einen gewissen Grund gibt, von ihrer Wahrheit über­ zeugt zu sein. Gibt es gute Gründe, eine Theorie neu zu überden­ ken, dann sollte das ohne Voreingenommenheiten geschehen. Spätere Forscher werden zweifellos noch mehr über die genaue Beschaffenheit dieses außergewöhnlichen Objekts in Erfahrung bringen, wenn ihnen die Kirche Zugang zu dem Reliquiar von Santa Croce gewährt. Für uns ging es hauptsächlich darum, den Titulus der jahrhundertelangen herablassenden Behandlung und Vernachlässigung zu entreißen, die ihm von akademischer Seite widerfahren ist. Ein Objekt wie dieses ernst zu nehmen ist keine Idolatrie; noch weniger ist es haltloser Antiquitätenkult. Gerade so, wie die Evan­ gelien die Grundbausteine des Christentums sind, gehören auch die heiligen Stätten und die Reliquien zum Kernbereich der histo­ rischen Unverwechselbarkeit des christlichen Glaubens. Von An­ fang an stützte sich der neue Glaube auf Empirisches: auf Erinne­ rungen, Augenzeugenberichte, Stätten, die sich aufsuchen ließen, Objekte, die man berühren konnte. Immer wieder heben die Au­ toren des Neuen Testaments die Bedeutung des Zeugnisses erster Hand, des »Dabeigewesenseins«, hervor - etwa, als anstelle von Judas ein neuer zwölfter Apostel ausgewählt wird (Apg 1,21-23), als Lukas den wissenschaftlichen Geist schildert, in dem er sein Evangelium verfasst (Lk 1,1-4), als Johannes und die Herausgeber seines Evangeliums die Wahrheit seines Zeugnisses bekräftigen (Joh 19,35 und 21/24)> als der Apostel Petrus zwischen den »My­ then« anderer und der Wahrhaftigkeit seines eigenen Berichts unterscheidet (2 Petr 1,16). Geht hin und befragt die Zeugen, for­ dert Paulus die Leser seines 1. Korintherbriefes auf; die meisten der Fünfhundert, die den auferstandenen Christus sahen, sind noch am Leben. Nehmt das Schiff nach Joppe oder Caesarea und redet mit ihnen, wenn ihr mir, dem schlichten Apostel, nicht glaubt. Dies war das überzeugendste und zugleich das umstrittenste

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Argument des Christentums: Ein Glaube lässt sich nicht verifizie­ ren, Fakten hingegen sehr wohl. Kaiser Konstantin war sich der Risiken bewusst, die seine Bekehrung in sich barg. Schließlich er­ baute er Kirchen auf heilig gehaltenen Friedhöfen und riss antike Tempel nieder, um Platz für seine neuen christlichen Gebäude zu schaffen. Wären die christlichen Ansprüche auf diese Stätten haltlos gewesen, der Kaiser hätte niemals auf solche Weise seine Glaubwürdigkeit aufs Spiel gesetzt. Tatsächlich steht fest, dass er sorgfältigste Nachforschungen anstellen ließ: Er konnte es sich nicht leisten, ohne Grund jene Gruppen in der römischen Führungsschicht vor den Kopf zu stoßen, die noch den alten Reli­ gionen anhingen. Der Begründer einer kirchlich etablierten Christenheit in Europa musste sicher sein, dass seine Gründung auf einer historisch soliden Grundlage ruhte. Auch wenn seine Neigungen eher dem Kriegführen als der Theologie galten, war er in Nizäa zugegen, als dort das Glaubensbekenntnis formuliert wurde; es ist kein Zufall, dass dieses Gründungsdokument der reichsweiten christlichen Kirche so starkes Gewicht auf den histo­ rischen Zusammenhang legt, dem er entsprang, und zum Beispiel den Namen des römischen Präfekten Pontius Pilatus enthält. Konstantin und Helena aber wussten, wie wir zu zeigen ver­ sucht haben, dass sich das Risiko lohnte. Die historische Grundle­ gung des Christentums war seine stärkste Waffe, das auszeich­ nende Charakteristikum, durch das es Einzigartigkeit gewann. Indem er sich zum christlichen Kaiser erklärte, wurde Konstantin zur Hauptstütze einer Religion, die in den historischen Schriften identifizierbarer Autoren, in Orten, Ereignissen und Gegenstän­ den verwurzelt war. Das Christentum war nicht einfach nur ein Glaubenssystem - es war eine Landkarte, eine Reliquienkammer und eine Bibliothek. Es bot seinen Anhängern eine zeitlich und räumlich bestimmte Vorstellung, durch die sie sich zum irdischen Dasein ihres Erlösers in Beziehung setzen konnten. Jeder, der christliche Pilger im Heiligen Land gesehen hat, kann bezeugen, dass bis heute, siebzehn Jahrhunderte nach Konstantin, dies das zentrale Drama, den emotionalen Kraftquell des Glaubens bildet. Denn nicht weniger als Helena, Egeria oder die Tausende, die sich nach ihnen im Heiligen Land drängten, glauben die Pilger auch heute noch, dass der Fleisch gewordene Gott auf diesen Steinen

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gesessen hat, auf jener Straße gewandelt ist, auf dem Hügel dort gekreuzigt wurde, mit einem Titulus über seinem Haupt. Und in Rom, in der kalten Seitenkapelle einer barocken Kirche, die einst der Palast einer alternden Kaiserin war, können die Pilger ein mit Einkerbungen versehenes Holzfragment betrachten, das als Überrest eben jener Kopftafel gilt. Seine Geschichte ist so ge­ heimnisvoll wie die Worte, die in drei antiken Sprachen in das be­ schädigte Holz gekerbt sind. Gerardo Caccianemici, der im zwölf­ ten Jahrhundert Kardinal von Santa Croce und Hüter der Reliquie war, verwahrte das kostbare Stück in einem Bleikasten. Wieder entdeckt wurde es zufällig bei Renovierungsarbeiten im Jahre 1492. Seitdem war es jahrhundertelang stummer Zeuge der Ver­ änderungen, die sich in der Hauptstadt des Christentums abspiel­ ten; in der Moderne sah man kaum mehr in ihm als eine Kurio­ sität. Aber wie wir gezeigt haben, ist es offenbar weit mehr als dies, ist es ein höchst bemerkenswertes Objekt, das sich nicht länger als Fälschung aus der Zeit Konstantins oder des Mittelalters abtun lässt. In der Reliquienkammer von Santa Croce zieht dieser schmucklose Schatz mit seinen drei schlichten, rätselhaften Zei­ len nach wie vor den Blick auf sich und fordert den Geist heraus. In der Stille der Kapelle fragt man sich unwillkürlich, was der Ti­ tulus in Wahrheit ist und welch leidenschaftliche Empfindungen dafür gesorgt haben, dass er an diesen abgeschiedenen Ort ge­ langte. Nur in Ausnahmefällen hervorgeholt, ist er hinter seinem Schutzglas ebenso greifbar nah wie außer Reichweite. Jedem be­ deutet er etwas anderes. Für den Gläubigen stellt er das handgreif­ liche Zeugnis des dunkelsten Augenblicks der christlichen Heils­ geschichte dar. Dem Historiker gilt er vielleicht am ehesten als Beweis für das Genie der Kaiserin Helena und als Symbol der uralten Verbindung, die sie zwischen den zwei heiligsten Stätten ihres Glaubens, zwischen Rom und dem Heiligen Land, neu knüpfte. General Charles Gordon, der im Jahre 1885 eine berühmt ge­ wordene Schilderung der heiligen Stätten Jerusalems verfasste, hat sich dem Gedächtnis am meisten durch seine Irrtümer hin­ sichtlich der Vergangenheit der Stadt eingeprägt. Aber nicht in je­ dem Punkt irrte er. »Diese Stätten trägt jeder von uns in sich«,

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schrieb er.16 Christen wie Nichtchristen sind geprägt von dem Glauben, der diesen Stätten entsprang, von der Zivilisation, die Helena und ihr Sohn auf den nackten Felsen von Golgatha grün­ deten, von dem Geheimnis des Holzes, das sie dort ans Licht för­ derten. Das Wahre Kreuz war das schlichteste, aber zugleich auch das erhebendste Emblem der historischen Verwurzelung des Christentums. Es war schreckliches Zeugnis einer niederträchti­ gen Hinrichtungsform, zugleich aber auch hinreißendes Symbol des christlichen Glaubens, dass der Tod überwunden sei. Es war gleichzeitig real und symbolisch, ein Objekt, das man mit Ehr­ furcht berühren und voll Andacht bildlich darstellen konnte. Es verknüpfte die Vergangenheit mit der Gegenwart, das Körperli­ che mit dem Seelischen, den Glauben, der in einem kolonialisierten Volk entstanden war, mit dem Glauben, der ein mächtiges Reich daraus machte. Vor allem aber kündete es von dem menschlichen Verlangen nach Erkenntnis. »Ich will wissen«, sagt der Ritter Antonius Block in Ingmar Bergmans Film Das Siebte Siegel. »Nicht glauben, nicht annehmen. Wissen.« Das ist eine alte menschliche Schwä­ che, und sie ist mehr als verzeihlich. Denn was trieb die Kreuzfah­ rer vor so vielen Jahrhunderten und treibt bis heute die Pilger da­ zu, auf mühselige Weise beim Heiligen Grab die Stufen hinunter zur Helena-Kapelle zu steigen? Nichts anderes als das Verlangen, Glauben und Erfahrung miteinander in Einklang zu bringen. Sie sind sich bewusst, dass die Kluft groß und manchmal unüber­ brückbar ist. Die Hoffnung aber, dass der Sprung dennoch gelin­ gen kann - sie ist es, die der Suche ihren Sinn verleiht.

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Anmerkungen

Anmerkungen zur Einleitung 1 Carsten Peter Thiede und Matthew d'Ancona, The Jesus Papy­ rus, London 1995; überarb. Auflage mit Nachwort, 1996; dt.: Der Jesus-Papyrus. Die Entdeckung einer Evangelien-Handschrift aus der Zeit der Augenzeugen, München 1996. Zur De­ batte über das Qumran-Fragment 7Q5 und den Matthäus-Pa­ pyrus P64 des Magdalen College, den der viktorianische Missionar Charles Huleatt in Luxor entdeckt hat, siehe zusam­ menfassend: Karl Jaros, Jesus von Nazareth. Geschichte und Deutung, Mainz 2000,102-122. 2 Edward Gibbon, The Decline and Fall of the Roman Empire, London 1979, Bd. II, S. 382. 3 Zwei solcher Bemerkungen finden sich in folgenden, durch mehr als ein Jahrhundert voneinander getrennten Büchern: W. C. Prime, Holy Cross: A History of the Invention, Preservation, and Disappearance of the Wood Known as the True Cross, Lon­ don 1877, S. 68: »Ich wüsste nicht, dass dieses alte Holzstück in neuerer Zeit irgendwann einmal sorgfältig untersucht worden wäre; und seit dem siebzehnten Jahrhundert wird in keinem der Werke, die ich auftreiben konnte, von ihm berichtet«; Paul L. Maier, »The Inscription on the Cross of Jesus of Nazareth«, Hermes 124,1996, S. 73, Anm. 60: »... allem Anschein nach ist der TITVLVS CRVCIS nie Gegenstand ernsthafter Forschung ge­ wesen, das könnte also ein Desiderat sein«.

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Eine exzellente Darstellung der Theologie des Kreuzes findet sich bei Alister McGrath, The Enigma of the Cross, London 1987. Aus der kaum überschaubaren Literatur zur Symbolik des Kreuzes nennen wir hier nur ein gutes, altes Handbuch: H. Sachs/ E. Badstübner/ H. Neumann, Erklärendes Wörterbuch zur christlichen Kunst, Leipzig/Berlin/Hanau 1975. Vgl. dazu die Edition von H. Junghans in: H.-U. Delius (Hrsg.), Martin Luther Studienausgabe, Berlin 1979, Bd. 1, S. 186-218. Siehe Lavinia Byrne, The Life and Wisdom of Helena Mother of Constantine, London 1998, S. 63-70; ferner Anglo-Saxon Poetry, hrsg. von S. A. J. Bradley, London 1997, S. 159-63. Siehe unten Kapitel 3. Zoe Oldenbourg, The Crusades, London 1998, S. 418. Zit. ebd., S. 420. Zur Darstellung der Schlacht siehe Steven Runciman, A His­ tory of the Crusades, Bd. 2: The Kingdom of Jerusalem and the Frankish East 1100-1287, Cambridge 1951, S. 436-73; dt.: Geschichte der Kreuzzüge, Frankfurt/M. 1989, 10. Buch, 2. Kap., S. "lyj-jz (die Schlachtbeschreibung findet sich auf S. 756-60). Am besten dargestellt ist all dies bei Martin Hengel, Crucification in the Ancient World and the Folly of the Message of the Cross, London 1977. Siehe ferner: Joseph A. Fitzmyer, »Calci­ fication in Ancient Palestine, Qumran Literature and the New Testament«, Catholic Biblical Quarterly 40,1978, S. 493-513; J. F. Strange, »Crucification, Method of«, in; Interpreter's Dic­ tionary to the Bible, Ergänzungsband, S. 199-200. Hengel, a.a.O., S. 10,18. Zum historischen Wert des Neuen Testaments siehe Thiede und Ancona, Der Jesus-Papyrus, passim. Josephus, Bellum ludaicum, 5,449-51. Tempelrolle 11 QT, 64,7-11. Ad Marciam de consolatione 20,3. Siehe N. Haas, »Anthropological Observations on the Skeletal Remains from Giv'at ha-Mivtar«, Israel Exploration Journal 20,1970, S. 38-59.

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Siehe dazu den unverzichtbaren Artikel von Paul L. Maier, »The Inscription on the Cross of Jesus of Nazareth«, Hermes 124,1996, S. 58-75. Rudolf Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition, Göttingen 1931, S. 293. Zit. nach Maier, a.a.O., S. 59. Siehe ebd., S. 63. Caligula 32,2. 1 Kor 1, 22-24. Bibelzitate folgen in der Regel der revidierten Luther-Übersetzung von 1984. Gal 6,14. Siehe Cyril E. Pocknee, Cross and Crucifix In Christian Wor­ ship and Devotion, London 1962, S. 33. Scorpiace; vgl. De Corona, 3. Jan Willem Drijvers, Helena Augusta: The Mother of Constan­ tine the Great and the Legend of her Finding of the True Cross, Leiden 1992, S. 81. In anderen Punkten ist Drijvers' Buch ein Meisterwerk an Detailkenntnis. Michael Grant, The Emperor Constantine, London 1993, S. 142. Pocknee, a.a.O., S. 33; siehe auch Robin Lane Fox, Pagans and Christians, London 1986, S. 616: »... im christlichen Kontext wurde kein einziges >Chi-RhoZeichen