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German Pages 140 Year 1974
Linguistische Arbeiten
20
Herausgegeben von Herbert E. Brekle, Hans Jürgen Heringer, Christian Rohrer, Heinz Vater und Otmar Werner
Bernard Imhasly
Der Begriff der sprachlichen Kreativität in der neueren Linguistik
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1974
ISBN 3-484-10209-8
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1974 Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet/ dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege zu vervielfältigen. Printed in Germany
INHALT
0.
VORBEMERKUNG
l
1.
KREATIVITÄT: HERKUNFT UND BESTIMMUNG DES BEGRIFFS
3
2.
1.1. Was heißt 'kreativ'? 1.1.1. der historische Hintergrund 1.1.2. Chomskys Definition 1.1.3. Unvereinbarkeit beider Begriffsbestimmungen 1.2. Die Berufung auf Humboldt 1.2.1. Analogie und Metapher im Sprachgebrauch der Romantik 1.2.2. Humboldts Auffassung der Sprache 1.2.3. Chomskys Humboldt-Rezeption 1.2.4. "kreativ" und "generativ" 1.2.5. Unzulänglichkeit der Berufung auf Humboldt als hinreichende Begründung des Begriffs 1.3. Die psychologische Motivation der "Kreativität": Chomskys Auseinandersetzung mit dem Behaviorismus 1.3.1. Die positivistische Basis des Behaviorismus 1.3.2. B.F. Skinners "Verbal Behavior" 1.3.3. Chomskys Behaviorismus-Kritik 1.3.3.1. Die empirische Motivation der sprachlichen Kreativität 1.3.3.2. "Kreativität" contra "Black Box" 1.3.3.3. Die theoretische Relevanz von "Kreativität"
3 3 4 7 9 1O 12 17 2O
"KREATIVITÄT" INNERHALB DER LINGUISTISCHEN THEORIE-
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26 31 31 35 36 37 39 41
BILDUNG 2.1. Die theoretische Basis der strukturalistischen Linguistik 2.1.1. Ferdinand de Saussure 2.1.2. Die Strukturalistische Linguistik nach Saussure 2.1.2.1. Grammatik als "discovery procedure" 2 . 1 . 2 . 2 . "Induktion" als strukturalistische Methode 2.1.3. "Kreativität" in der strukturalistischen Linguistik 2.2. Die Kritik am wissenschaftstheoretischen Ansatz empiristischer Theorien 2.2.1. die theoretische Implikation von "Beobachtung" 2 . 2 . 2 . Poppers Kritik am empiristischen Wissenschaftsbegriff 2.3. "Kreativität" in der Sprachtheorie Chomskys 2.3.1. "Kreativität" als Ausdruck eines neuen Sprachmodells 2.3.1.1. Die These von T.S. Kühn 2.3.1.2. Chomskys Sprachmodell als Antwort auf linguistische Anomalien 2.3.1.3. Die neue Ansicht von "Sprache" 2.3.2. Der Aufbau einer allgemeinen Theorie der Linguistik 2.3.2.1. Aporien des strukturalistischen TheorieModells
45 46 49 49 5O 51 54 54 56 59 59 59 61 67 71 71
VI
2.4.
2 . 3 . 2 . 2 . Beschreibung und Erklärung 2 . 3 . 2 . 3 . Das deduktive Schema des Theorie-Aufbaus 2.3.3. "Kreativität" innerhalb des linguistischen TheorieModells Ansätze zur Kritik
ZUSAMMENFASSUNG
73 74
81 92
3.1. Die Bestimmung des Begriffs "Kreativität" 3.2. Thematische Rekapitulation 3.3. Kreativität als poetische und theoretische Kategorie: Überleitung zum "Exkurs"
92 94
EXKURS: FORMALE LINGUISTIK UND POETISCHE SPRACHE
97
4.1. Sprache als Objekt der Wissenschaft und Dichtung 4.1.1. Unterschiede in der Auffassung des Verhältnisses von Sprache zur Wissenschaft und Dichtung 4.1.2. Die Analogie von Wissenschaft und Dichtung in ihrem Verhältnis zur Sprache 4 . 2 . Die Relativität der sprachlichen Erkenntnis. Der Ansatz Nietzsches 4.2.1. Die Sprachlichkeit philosophisch-wissenschaftlicher Erkenntnis 4 . 2 . 2 . Die Sprachlichkeit des philosophisch-wiss. Diskurses 4.2.3. Sprache als metaphorischer Prozeß 4.2.3.1. Wissenschaft als equationale Sprache 4 . 2 . 3 . 2 . Poesie als systematisch metaphorische Sprache 4.3. Der Status einer linguistischen Poetik 4.3.1. "Metapher" als fundamentalsprachliche Bedingung: die Evidenz der Aphasie 4.3.2. "Metapher" als Kategorie der Poetik: das Beispiel des Formalismus 4.3.3. "Metapher" als Infragestellung des linguistischen Erklärungsprinzips
98
95
98 1OO 1O3 1O3 1O5 1O7 1O9 l 1O 113 114 118 122
O.
VORBEMERKUNG
In dieser Arbeit soll der Begriff der "sprachlichen Kreativität" untersucht werden, wie er in den letzten Jahren im Vokabular der Sprachtheorie - vor allem bei Noam Chomsky - in Umlauf kam. Man könnte mit einigem Recht argumentieren, daß dieser Begriff kaum eine zentrale Stellung innerhalb der linguistischen Theorie einnimmt; daß also die Aufmerksamkeit, die dem Begriff durch dessen Thematisierung in einer Arbeit zukäme, in keinem Verhältnis stehe zu seiner Relevanz. Dies ist richtig - jedoch nur dann, wenn man den Terminus "Kreativität" von vorneherein und durchgehend in seiner normalsprachlichen Bedeutung beläßt. Auch hier gehe ich von dieser Bedeutung aus; aber es wird sich bald zeigen, daß eine solche Interpretation nicht sehr weit führt; solange die Bedeutung des Terminus konstant gehalten wird, ist der Sachverhalt tatsächlich relativ trivial. Erst die Infragestellung und Neuinterpretation von "Kreativität" wird den Weg wieder öffnen. Der Begriff, definiert in seiner Funktion innerhalb einer Theorie, wird es ermöglichen, allmählich die theoretische Basis der Chomskyschen Linguistik herauszulösen, insofern sich zeigen läßt, daß es gerade die Hypothese des kreativen Sprachgebrauchs ist, die zum Unterscheidungsmerkmal strukturalistischer und generativer Sprachtheorien wird. "Kreativität" wird in dieser Sicht zu einem Schlüsselbegriff des neuen Verständnisses von "Sprache1 als dem Objekt der Linguistik. Es ist demzufolge weniger eine Charakterisierung einer universalsprachlichen Eigenschaft, als vielmehr eine theoretische Größe, durch die ein bestimmter Aufriss des linguistischen Objekts "Sprache1 in den Blick genommen werden kann. "Kreativität" kann im Rahmen einer theoretischen Sprache deshalb nicht unbedingt mit dem umgangssprachlichen Verständnis des Wortes gleichgesetzt werden - es bezeichnet zugleich mehr und weniger als dieses; mehr, insofern "Kreativität" nicht bei den empirischen Parametern der gewöhnlichen Begriffs-interpretation stehen bleibt - die man, im Bereich der Sprache, weniger unzweideutig mit "Produktivität" fassen sollte - , sondern darüberhinaus diesen Sachverhalten eine Interpretation in Form einer Hypothese über das System
beifügt, das dieser sprachlichen "Produktivität" zugrundeliegt. Der Begriff ist aber zugleich weniger weit als sein umgangssprachliches 'Homonym': dadurch, daß er ein Element in einem theoretischen Erklärungssystem ist, und durch die Tatsache, daß jede naturwissenschaftlich konzipierte Theorie ihr Objekt vollständig erklären will, ist "Kreativität" im Chomskyschen Sinn eine Verkürzung, vielleicht geradezu eine Negation des normalen "Kreativitäts"-Verständnisses. Denn es ist geradezu ein Definitionsmerkmal dieses letzteren, daß das "Kreative" letztlich jenseits jeder wissenschaftlichen Erklärbarkeit lokalisiert sei. Der Exkurs ist eine Reflexion über "Formale Linguistik und Poetische Sprache". Auch hier soll die iföglichkeit einer falschen Erwartung durch eine Vorbemerkung vermieden werden: es wird sich nicht etwa um eine Gegenüberstellung von sprachlicher und poetischer Kreativität handeln. Vielmehr wird vom neuen Verständnis eines formalen Theorie-Modells - das mithälfe des Begriffs der "Kreativität" gewonnen wurde - ausgegangen, und es wird zu zeigen versucht, daß der Totalitätsanspruch dieser Theorie eingeengt und infragegestellt wird gerade in jenem Bereich, wo sie sich zuerst artikuliert hatte - bei der Problematik des (poetisch-) kreativen Sprechens.
1.
KREATIVITÄT. HERKUNFT UND BESTIMMUNG DES BEGRIFFS
1.1.
Was heißt 'kreativ'?
1.1.1. "Kreativität" als Bezeichnung menschlicher Fähigkeiten leitet seinen metaphorischen Gehrauch aus der Renaissance her: Die Neu-Entdeckung der künstlerischen Ich-Persönlichkeit, das wiedererstandene Ideal des griechischen Künstlers, welches dieser Entdeckung zum Vorbild wurde, sowie die säkularen und paganistischen Strömungen dieser Zeit waren wohl dafür verantwortlich, daß eine Vokabel aus dem rituellen Bereich des theologischen Wortschatzes zu einer ästhetischen Begriffsbestimmung wurde, um das Phänomen des künstlerischen Prozesses in den Griff zu bekamen. Eine Eigenschaft, die bisher nur Gott zugeschrieben werden durfte, wurde auf den Menschen übertragen: in Analogie zum "Deus creator" entstand der Begriff des "homo creator". Auch der Künstler ist ein Schöpfer, mit dem alleinigen Unterschied zu seinem Vorbild, daß seine Schöpfung nur uneigentlich eine Schöpfung aus dem Nichts ist, die "creatio ex nihilo" jedoch einzig Gott zugesprochen werden darf. Der Begriff blieb denn auch bis ins 2O. Jahrhundert beschränkt auf seinen Gebrauch als ästhetische Vokabel. Je nach der geistesgeschichtlichen Konstellation diente er als Zauberwort des Geniekultes, als Modewort, das jede menschliche Leistung bezeichnen sollte, oder als Verlegenheitsbegriff für künstlerische Andersartigkeit; er konnte auch, wie im vitalistischen Lebensbild der deutschen Romantik, zu einer grossen philosophisch-dichterischen Metapher ausgeweitet werden, die sich auf jeden lebenden Organismus anwenden ließ: die Natur, Individuum und Volk, die Sprache. Mit dem Beginn der Systematisierung der Wissenschaften im 19. Jahrhundert fand der Begriff auch seinen Weg in ein theoretisches Vokabular. Vor allem war es die frühe Psychologie, die, ausgehend vom Versuch, das Phänomen der künstlerischen Persönlichkeit wissenschaftlich zu bestimmen, sich mit der "Kreativität" auseinandersetzte. Um Kreativität wissenschaftlich messen zu können, postulierte sie ein Normalverhalten des Menschen, von dem aus versucht l
cf. Encyclopedia of the Social Sciences, B d . 3 , p . 4 3 4 f f . sowie Encyclopedia Britannica, Stw. 'creationism 1 , Bd.6,p.652, Stw. 'creativity 1 , p.711
wurde, mithilfe von Kriterien wie "Divergenz" ("deviant behavior" ) , "Originalität", "Eleganz" usw., kreatives Verhalten zu fassen. Teils durch die konzeptuelle Unscharfe des Terminus der "Kreativität" selber, sowie durch die Schwierigkeit, für die Kriterien geeignete Messmethoden zu finden, blieb dieser Zweig der Persönlichkeits-Psychologie bald hinter seinen Ansätzen zurück, und der Begriff ist noch heute ein recht vages Konstrukt, das keine feste theoretische Lokalisierung gefunden hat. Statt nach einer allgemeinen Definition zu fragen, gibt man sich in der zeitgenössischen Forschung mit der Feststellung zufrieden, daß "creativity is not a theoretical construct at all, but a general rubric, under which fall a variety of evaluative concerns". Dieser Mangel an begrifflicher Übereinkunft zeigt sich z.B. schon im alltäglichen Wortgebrauch, der für 'kreativ' drei verschiedene Interpretationen hat, wobei allerdings das grundsätzliche Kriterium, das der "Originalität" allen gemeinsam ist: (1) es kann einmal eine latente Befi-ndliah'ke'it eines Subjekts bezeichnen, seine Fähigkeit, etwas Neues zu schaffen ("kreative Persönlichkeit", "kreative Atmossphähre" etc); (2) 'kreativ' kann auch der Prozeß genannt werden, durch den etwas Neues geschaffen wird (z.B. in Ausdrücken wie "kreativ tätig sein", "Theaterspielen ist ein schöpferischer Akt" usw.); (3) man kann schließlich eine dritte Bedeutung feststellen, indem man "Kreativität" dem Produkt der Fähigkeit und des Aktes zuweist ("eine kreative Leistung", "ein schöpferisches Werk"). Was allerdings, wie gesagt, allen diesen Interpretationen gemeinsam ist, ist der Bezugspunkt, von dem aus sie sich messen lassen: dieser ist immer ein Normalverhalten, eine Normalsituation, oder das neutrale Produkt Beider. Mit anderen Worten: "Kreativität" definiert sich als der Abstand, den eine Handlung oder eine Person zu einer standardisierten, indistinktiven Normalsituation einnimmt. Wann man von dieser psychologischen - und auch ästhetischen - Betrachtungsweise direkt zum Gebrauch von "Kreativität" durch Noam Chomsky hinüberwechselt, glaubt man zuerst zwei völlig verschiedenen Sachverhalten gegenüberzustehen. 1.1.2. Chomsky deutet Kreativität, in den "Current Issues", folgendermaßen: "Der zentrale Tatbestand, mit dem sich jede signifikante linguistische Theorie auseinandersetzen muß, ist folgender: ein reifer Sprecher kann im geeigneten Augenblick einen Satz in seiner Sprache hervorbringen, und andere Sprecher verstehen ihn augenblicklich, obwohl der Satz für sie ebenso neu ist. Der größte Teil unserer sprachlichen Erfahrung, als Sprecher und als Hörer, 2 3
cf. "Encyclopedia of the Social Sciences", Stw. 'deviant behavior', Bd.4 "Encyclopedia of the Social Sciences", Bd.3,p.435 (Stw. 'Creativity': p. 434-461
betrifft neue Aussagen; sobald wir einmal eine Sprache beherrschen, ist die Klasse von Sätzen, mit welchen wir fließend, ohne Schwierigkeit und ohne Zögern umgehen können, so groß, daß man sie als praktisch unendlich ansehen kann. Die gewöhnliche Beherrschung der Sprache bedeutet aber nicht nur die Fähigkeit, eine unendliche Anzahl vollkommen neuer Sätze sofort zu verstehen, sondern auch die Fähigkeit, abweichende Sätze als solche zu identifizieren und ihnen ... eine Interpretation zuzuweisen ... Dieser "kreative" Aspekt der Spra4 ehe ist ihr wesentliches Charakteristikum.". Die normale Reaktion auf diese Charakterisierung des gewöhnlichen Sprachgebrauchs als "kreativ" wäre wohl die des skeptischen Staunens: ein menschliches Verhalten, das man so sehr zu den vertrautesten und trivialsten Fakten des alltäglichen Lebens rechnet, HaR man sich seiner Benützung selten überhaupt bewußt wird, definiert Chomsky als "kreativ". Ist hier nicht die gewöhnliche "Produktivität" des Sprachgebrauchs, die jeden Menschen auszeichnet, sehr unglücklich mit einem Begriff behaftet worden, der sonst überall jenes Verhalten markieren sollte, das gerade nioht auf jeden Menschen zutraf? Jedenfalls scheint die Definition von "Kreativität", wie sie von der Verhaltenspsychologie und Aesthetik weiter oben gegeben worden war, auf keinen Fall auf Chomskys Charakterisierung zutreffen zu können. Denn dort wird ja eben Has kreative Verhalten in Relation zum Normalverhalten des Menschen gesetzt, und die Distanz zwischen diesen zwei Verhaltensweisen wird als "kreativ" qualifiziert. Ein Verhalten wie das menschliche Sprechen kann in einer solchen Definition per se nicht als kreativ angesehen werden, da es für das Kriterium der Kreativität - die Messung des "deviant behavior" - immer den Wert Null ergeben muß. Es gibt nun, im Versuch, Chomskys Begriff näherzukommen, zwei weitere mögliche Wege: entweder die Definitionsvariablen der Psychologie infragezustellen und durch andere zu ersetzen, oder zu versuchen, dem Begriff in den Schriften Chomskys hermeneutisch näherzukommen. Die erste Möglichkeit ergäbe sich dann, wenn man die Konstante der bisherigen Definition - den Begriff "Normalverhalten" - verändern würde. Dies wurde tatsächlich getan, und zwar in der Psychologie selber. In den Dreißiger Jahren entwickelte sich ein Zweig der Verhaltenspsychologie, der sich von der bisherigen Richtung abspaltete. Es war dies eine Reaktion auf die herrschende Tendenz, die angesichts der geforderten wissenschaftlichen Kriterien von strikter Beobachtbarkeit und Quantifizierbarkeit, Kreativität bald nur noch mit dem Kriterium der Intelligenz zu messen imstande war und damit das eigentliche Forschungsziel mehr und mehr verfehlte. 4
Chomsky, 1964: 5O
Diese Strömung innerhalb der Psychologie entwickelte sich vor edlem in Amerika und wurde bald als "Kreativitäts"-Psychologie bekannt. Sie versuchte, in der Definition von "Kreativität" die Konstante nicht mehr in einem standardisierten Normalverhalten festzulegen und von dorther das relative Ausnahmeverhalten kreativ zu nennen, sondern diese Konstante viel tiefer und fundamentaler im Normalverhalten von Lebewesen allgemein zu fixieren. Kreativität wurde demnach nicht mehr ausschließlich innerhalb der menschlichen Rasse gemessen, und die Folge davon war, daß beliebige menschliche Verhaltensweisen als solche schon kreativ genannt werden konnten: der Begriff wurde so zu einem artspezifischen Kriterium, das genetisch determiniert ist, und das sich im Künstler folgerichtig nicht mehr als qualitativ verschiedene Seinsart ausdrückte, sondern nur als graduell verschiedene Ausprägung einer allgemein menschlichen Befindlichkeit. "Kreativität" wurde also verstanden als dynamisches Element der komplexen Struktur des Menschen, das ihn von Tier abhebt, und das sich in verschiedensten Formen zeigen kann: zum Beispiel in der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes, wo kreative Elemente ein Gegengewicht darstellen können zur Sozialisation und der sozialen Rollenprägung durch die Gesellschaft, die sowohl beim Menschen als beim Tier vorhanden sind und deshalb nicht artspezifisch relevant sind. Kriterien dieser Kreativität werden dabei vor allem im Spiel, in der Fähig-, keit zum Problemlösen, in der Umweltrezeption und im Sprachverhalten gesucht; künstlerische Kreativität ist 'nur1 ein kompliziertes Produkt aus dieser Grundlage und speziellen sozialen und kulturellen Beeinflussungen.6 Da gerade die Sprache ein wesentliches Kriterium der so definierten Kreativität wurde, liegt es nahe, in Chomskys Charakterisierung eine Parallele zu diesem Konzept zu sehen, umsomehr als gerade die Sprache als artspezifisches Merkmal des Menschen par excellence gilt. Trotzdem lassen sich bei näherem Zusehen wesentliche Differenzen zwischen beiden Auffassungen aufdecken, die einer solchen Gleichsetzung widersprechen. Wohl schlössen sich an diese psychologischen Forschungen bedeutende linguistische Untersuchungen an , die im Wesentlichen den Begriff der "Kreativität" aus der Psychologie übernehmen. Es ist jedoch wichtig, darauf hinzuweisen, daß dieser Begriff, wie er in den Arbeiten vor allem von Torrance gebraucht wird, 5 6 7
als Begründer gilt allgemein Guilford; cf. L. Kemmler: "Neue Untersuchungen zum schöpferischen Denken (creativity)", in: Psychol. Forschung,1969,p.1O3115 cf. den Beitrag "Kreativität contra Intelligenz", in der Sammlung "Sprachbarrieren" (1970), P.75-110 so z.B. die Arbeiten von E.P.Torrance, Ä.J.Cropley und L.Hudson in Vernon, 1970
sich von dem Chcrnskys, jedenfalls soweit sich das bis jetzt feststellen läßt, in einem wesentlichen Punkt unterscheidet: Für die Linguisten dieser Forschungsrichtung ist "Kreativität" ein im Wesentlichen psychologisch definierter Begriff, der intrapsychisch lokalisiert ist und ein Grundverhalten des Menschen beschreiben soll. Kreative psychische Prozesse können sich auch in der Sprache ausdrücken, diese ist aber nur eine von vielen Erscheinungsformen, wenn auch eine besonders deutliche und wissenschaftlich fruchtbare. Chomskys Begriff der "Kreativität" scheint aber, wenn man das obige Zitat aus den "Current Issues" genau liest, eine spezifisch linguistische Struktur beschreiben zu wollen. "Sprache" ist dabei nicht so sehr eine Ausdrucksform allgemein psychischer Anlagen, sondern sie besitzt selber spezifische "psycholinguistische" Strukturen; sie ist nicht so sehr ein Medium, durch das menschliche Kreativität kanalisiert wird und sich ausdrückt, sondern ist vielmehr deren genetisch bestürmte Substanz; sie ist nicht nur "gesprochene Sprache", sondern wird gefaßt als ein kompliziertes System internalisierter Regeln, das im Menschen verankert ist und den sichtbaren Sprachgebrauch determiniert sonst wäre es schwer verständlich, "Kreativität" als das zentrale Charakteristikum der linguistischen Theorie zu betrachten. Eine Parallele zwischen der "Kreativitäts-Psychologie" und ihren linguistischen Ausläufern und Chomskys Linguistik ist also unwahrscheinlich, umsomehr, als Chomsky selber nie auf eine solche Beziehung hinweist. 1.1.3. Wie soll man sich also den Begriff bei Chomsky erklären? Ist es erlaubt, ihn einfach auf wissenschaftliche Nonchalance und begriffliche Willkür in der terminologischen Fixierung zurückzuführen? Der ständige Gebrauch der Anführungszeichen bei jeder Erwähnung könnte diesem Eindruck Recht geben. Aber angenotmen, Chomsky hätte diesen Begriff einfach mangels eines Besseren gewählt - hätte er nicht damit geradezu eine Parallelisierung mit dem gängigen "Kreativitäts"-Begriff der Verhaltenspsychologie herausgefordert, eine Parallelisierung, die jedoch nur den Effekt gehabt hätte, den Widerspruch zwischen der geläufigen Definition von "Kreativität" und seinem eigenen Gebrauch nur noch stärker hervortreten zu lassen; und hätte nicht eine solche Perspektive die schiere Lächerlichkeit des Widerspruchs zwischen der - im Sinne der Psychologie - Trivialität des Tatbestandes und seiner hochtrabenden Benennung aufgerissen? Was einer solchen Interpretation widerspricht, ist die einfache Tatsache, daß Chomsky im oben wiedergegebenen Zitat betont, der "kreative" Aspekt sei "der zentrale Tatbestand, mit dem sich jede signifikante linguistische Theorie
8 auseinandersetzen" müsse (p.5O), wobei "linguistische Theorie" definiert wird als "Systeme von Hypothesen, die die allgemeinen Charakteristiken menschlicher Sprache betreffen und aufgestellt werden als Versuch, eine Reihe linguistiQ
scher Phänomene zu beschreiben." Um den Widerspruch einer solchen Argumentation noch zu verstärken, kann man eine Bemerkung Chomsky aus "Cartesian Linguistics" zitieren, in der dieser einigen bekannten Sprachwissenschaftlern und -philosophen - Ryle, Hockett, Bloomfield - den Vorwurf macht, den "kreativen" Prozeß bei der Spracherlernung rein mechanistisch zu erklären: "Den kreativen Aspekt des Sprachgebrauchs auf "Analogie" oder "grammatikalische Muster" zurückführen, heißt diese Begriffe in völlig metaphorischer Weise verwenden, ohne klaren Sinn und ohne klare Beziehung auf die technische Ausdrucksweise der Sprachtheorie. Dies ist nicht weniger inhaltslos als Ityles Beschreibung von intelligentem Verhalten als einem Ausdruck von "Kräften" und "Anlagen" ... oder der Versuch, den normalen kreativen Sprachgebrauch mit "Generalisierung", "Gewohnheit" oder "Einübung" zu erklären. Eine Beschreibung unter Zuhilfenahme dieser Termini ist inkorrekt ... und darüberhinaus im höch9 sten Grade irreführend ...". Dieses Zitat erstaunt nicht, wenn man in Betracht zieht, daß Chomsky als Vertreter einer Linguistik gilt, die mit Methoden der formalen Logik und Begriffen aus der Automatentheorie versuchte, bis auf eine gewisse Stufe formalisierbare Teilgebiete der Linguistik nach streng expliziten Methoden zu untersuchen. Im Bewußtsein dieser begrifflichen Strenge scheint also der Ausfall Chomskys gegen den Gebrauch "metaphysischer Begriffe in der Linguistik" mehr als verständlich zu sein. Trotzdem ist man aber erstaunt zu sehen, daß Chomsky im gleichen Atemzug, in dem er seinen Gegnern den Vorwurf einer unwissenschaftlichen Terminologie macht, selber für die gleichen sprachlichen Prozeße den Begriff "Kreativität" gebraucht. Dieser Begriff ist nämlich nicht nur "ohne klaren Sinn und ohne klare Beziehung auf die technische Ausdrucksweise der Sprachtheorie" (Chomsky, ebda.), "Kreativität" ist auch ein Begriff, der in der modernen Linguistik einen vollkommenen Neologismus darstellt, während ein Ausdruck wie "Analogie" immerhin als Erklärungsprinzip von Prozessen der sprachlichen Veränderung und Erlernung bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgt werden kann. Man könnte nun hier mit der Feststellung abbrechen, der Begriff, wie ihn Chomsky gebrauche, sei nichts weiter als eine willkürliche und lockere Bezeichnungsart für einen Tatbestand, dessen Trivialität gerade dadurch nur verdeckt werden sollte. 8 9
Chomsky, 1964: 5O Chomsky, 1966: 12-13
Damit hätte man aber einen so eklatanten Widerspruch wie Chomskys Forderung nach einer rigorosen linguistischen Ausdrucksweise und dem Gebrauch dieses intuitiv-metaphorischen Begriffs nicht erklärt. Und man hätte darüberhinaus wohl auch schon ein Urteil über die gesamte Theorie, wie sie durch Chomsky repräsentiert wird, präjudiziert. Da dies aber nicht der Zweck dieser Arbeit sein kann, ist es notwendig, nach einer weiteren möglichen Motivation zu suchen, die den Begriff vielleicht erklären oder als falsch nachweisen könnte.
1.2.
Die Berufung auf Wilhelm von Humboldt
Bis jetzt wurde versucht, "Kreativität" als Begriff aus der Terminologie des wissenschaftlichen Vokabulars zu postulieren und Chomskys These von dort her zu erläutern. Dies war deshalb nötig, weil er sich eigentlich nie die Mühe nimmt, den Begriff genau zu explizieren, sondern sich meist mit einer sunmarischen Definition begnügt, der er, paradoxerweise, die Bemerkung beifügt, es handle sich dabei um das zentrale Faktum jeder linguistischen Theorie. Da aber eine Beurteilung des Begriffs auch aus der Perspektive der Psychologie die als einzige Wissenschaft damit arbeitet - sich als unfruchtbar erwies, ist es unumgänglich, wieder zu Chomsky zurückzukehren und der Geschichte des Begriffs von dort aus nachzugehen. Es ist leicht, eine solche festzustellen: Beinahe bei jeder Erwähnung von "Kreativität" fällt der Name Humboldt,11 und Chomsky wird nicht müde, in Wilhelm von Humboldt einen direkten Vorläufer der "Generativen Grammatik" zu sehen, der nach mehr als hundert Jahren Mißverständnissen durch diese Richtung in der Linguistik wieder zu Ehren gebracht worden sei. Die fundamentale Tatsache, worin sich Humboldt vom Rest der Sprachwissenschaftler - Whitney, Paul, und mit Ferdinand de Saussure praktisch der ganzen modernen Linguistik - unterscheide, sei eben die verschiedene Ansicht betreffend die Kreativität der Sprache. Welches ist nun Humboldts Ansicht darüber? Im Folgenden soll zuerst versucht werden, den Begriff in das Vokabular Humboldts und der Romantik einzuordnen und dessen geistesgeschichtliche Hintergründe zu erläutern; es sollte dann leichter fallen, Humboldts Sprachansicht 10 11
vgl. z.B. Chomsky, 1957: 5; siehe auch in dieser Arbeit, p.3l 1964, p.56-60 1966, passim, bes.19-31 1969, 9, 14, 19, 21 usw.
10
zu bestimmen. Darauf folgt ein kurzer Vergleich zwischen den Sprachansichten Humboldts und Chomskys und die Schlußfolgerung, daß trotz einer weitgehenden Übereinstimmung der Sprachansichten wesentliche Unterschiede bestehen, und daß vor allem für den hier relevanten Begriff der "Kreativität" die Ähnlichkeit der Sprachauffassung nicht genügt, um den Begriff innerhalb Chomskys Theorie zu rechtfertigen. 1.2.1. Analogie und Metapher im Sprachgebrauch der Romantik Die Ursachen für den häufigen Gebrauch von Metapher und Analogie in der romantischen Ästhetik, Sprachtheorie und Staatslehre sind nicht leicht zu bestimmen. Gewiß war es nicht nur ein Ausdruck und die Folge von poetischer Freizügigkeit; es war auch die Konsequenz einer Auffassung, die den Begriff des "Kunstwerks" aus seiner Identifizierung mit der Dichtung herausgelöst hatte und jeden Bereich kulturellen Verhaltens und jeden Aspekt von natürlichen Ereignissen damit behaften konnte. Es war aber auch, wie mir scheint, eine geistesgeschichtliche Reaktion auf den Determinismus und den Mechanismus der Aufklärung, der unter dem Eindruck der kopernikanischen Revolution in den Naturwissenschaften und ihrer philosophischen Begründung durch die cartesianische Philosophie erstmals den Graben aufriß zwischen objektiven Naturereignissen und dem menschlichen Handeln, zwischen einer Welt, die ihre eigene Gesetzlichkeit hat und dem Menschen, der diese nicht nur nicht kontrollieren kann, sondern ihr auch unterworfen ist. Die Auswüchse dieser Auffassung zeigten sich bald darin, daß der Mensch nicht mehr als selbständiges Vfesen, sondern - "l'homme machine" - als kompliziertes Produkt mechanischer Gesetze intepretiert werden konnte. Die Reaktion auf dieses Denken kam in 18. Jahrhundert und akzeptierte die physikalistische Scheidung zwischen Natur und Mensch, zwischen den Wirkungen physikalischer Naturgesetze und menschlichem Denken und Handeln nicht, sondern sah vielmehr in allem Lebenden eine Ähnlichkeit und Verwandtschaft und das Wirken "geheimer" Gesetze. Aber erst die Romantik führte diese Kehrtorendung durch die konsequente Anwendung eines metaphorischen Begriffsapparates in der Sprache durch. Im Gebrauch der Metapher sah sie die Möglichkeit, die Analogie, d.h. die Ähnlichkeit und Verwandtschaft auch begrifflich zu formulieren. Analogie und Metapher sind ja gerade jene rhetorischen Mittel, mithilfe deren "Verhältniszum Unterschied zwischen Analogie und Metapher siehe: Ch. Perelman, 1969, p. 3-16
11
ähnlichkeiten"3 zwischen Seinsarten ausgedrückt werden können, welche logisch nichts miteinander zu tun haben. Dies hatte eine zweifache Folge: Einerseits wurde so die Sprache - als Metapher, als Meta-Welt - selber zu einem Analogon für die Welt, indem durch die Verbindung begrifflicher Gegensätze mithilfe metaphorischer Ausdrücke auch das durch die Sprache beschriebene, die Welt, in ein Bezugssystem strukturell ähnlicher Seinsarten gebracht wurde. - Dann hatte dieser Sprachgebrauch wohl auch die Funktion, logische und reale Widersprüche, die sich aus einer philosophischen Weltansicht ergeben mußten, in der alles miteinander verbunden und verwandt ist, zu vermeiden oder solche Widersprüche abzuschwächen: der Gebrauch der Analogie erlaubte es der Ranantik, die Spannung und den konzeptuellen Widerspruch, der durch die Dualisierung der ganzen Welt entstanden war, zu lösen 4 oder zu verdecken. Die Metapher der "Kreativität" - die in der Romantik als "Erzeugung", "Schöpfung", "Schöpfungskraft" und ändern Ausdrücken erscheint - ist ein Beispiel für dieses Denken: sie bezeichnet die künstlerische Produktivität als Analogon der göttlichen Schöpfung und gibt ihr damit eine religiös-mythische Legitimation, und konsequenterweise bleibt diese Kreativität nicht auf das Individuum beschränkt: in einem zweiten Analogiesprung wird der Begriff auch auf unbelebte Objekte und rein begriffliche Kategorien übertragen: die Mythen und Fabeln des Volkes sind ein Analogon zum Kunstwerk des Dichters; die im Dunkel der Geschichte auftauchende Sagenwelt, die sich ohne äußeren Einfluß ausbreitet und ihre Dynamik aus sich selber zu entnehmen scheint, ist ein Beweis für die "Schöpferkraft" des Volksgeistes. Dieser Metapher des "Schöpferischen" lag allerdings noch eine weitere zugrunde: das "Organische". Der Organismus der Natur, der sich im Kreislauf der Pflanze zeigt, die bei der Befruchtung zu wachsen beginnt, in ihrer Blüte kulminiert und in der Rückkehr zur Erde wieder den Samen für ihren Wiederbeginn legt: dieses Bild des pflanzlichen Organismus hatte seine genaue Entsprechung im Künstler, im Volk, im Gedicht - nicht nur, was deren Entwicklung in der Zeit angeht, auch was ihre innere Organisation betrifft: "Der Zellen-Organismus gab nicht nur die Möglichkeit, die Beziehungen zwischen Teil und Ganzem zu verbinden, er war auch ein Modell für jene geheimnisvolle Weise, in welcher " ... il n'y a analogie que quand est affirmee une similitude de rapports et pas simplement une similitude entre termes. Si I On affirme que A est B (cet homme est un renard), il ne s'agira pas pour nous d'une analogie mais d'une metaphore ..." (Perelmann, 1969: 4) vgl. R.L. Brown, 1967: 4O
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alles - von Gedicht bis zur ganzen Gesellschaft - sich selbst gemäß geheimen Naturgesetzen organisierte." Nichts konnte die Wirkung einer geheimen Analogie so genau symbolisieren wie die Sprache. Wie nichts anderes drückte die Sprache die Polarität von Dingen und Zuständen aus, die einander fremd und doch miteinander verschmolzen sind: die dialektische Spannung zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Stoff und Form, zwischen objektivem Zeichensystem und dessen gleichzeitiger Ausdrucksfähigkeit in der Darstellung sublimster Gefühle. Dabei war Sprache nicht nur jenes Produkt menschlichen Denkens, das am natürlichsten die tiefe Verwandtschaft äußerlich vielleicht widersprüchlicher Begriffe aufzeigte, sie war auch - in der geschichtlichen Perspektive ihres Ursprungs wie in der ontogenetischen ihrer Entwicklung im Kind - eine Metapher für den künstlerischen Prozess wie für dessen Produkt. Sprache stellte mit ändern Wort nicht nur die Beziehung her zwischen verschiedenen begrifflichen Kategorien - die strukturelle Analogie des "Organischen" und "Verwandten" -, sie erfüllte auch die Bedingung der Ähnlichkeit im temporalen Ablauf - die funktionale Analogie des "Kreativen". Natürlich ist zuzugeben, daß gerade die Analogisierung des Sprachursprungs mit der künstlerischen Erzeugung schon durch das ganze 18. Jahrhundert hindurch gemacht worden war. Das Neue der Romantik und Humboldts liegt in der Verfeinerung des Konzepts der Analogie, das zur Basis einer Weltanschauung wird und zu einem komplizierten Netz von ATmlichkeits-Relationen und Vergleichen führt. So wird z.B. die Analogie zwischen künstlerischer Schöpfung und sprachlicher Erzeugung nicht mehr ausschließlich in ihrem geschichtlichen Aspekt - dem Ursprung der Sprache betrachtet; in einer weiteren Analogie wird die ontogenetische Komponente des des Spracherwerbs derjenigen der historischen Evolution zur Seite gestellt, und in der Entwicklung der Sprachbeherrschung des Kindes erblickt die Romantik einen ähnlichen Akt der Erzeugung wie in der dichterischen Schöpfung und der sprachlichen Entstehung. 1.2.2. Die Sprachansicht Wilhelm von Humboldts Humboldt ist der einzige Denker aus der Zeit des Idealismus, für den die Sprache zum Mittelpunkt eines philosophischen "Systems" wurde. Von 1798 an, als er sich mit der Sprache und Schrift der Basken auseinandersetzt, bis zu seinem Hauptwerk von 1835, "Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprach5 6 7
R.L. Brown: 1967: 4O-41 vgl. Brown, 1964: 54-68 "Ankündigung einer Schrift über die Baskische Sprache und Nation", Gesammelte Schriften, Bd.3, p.288-299
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baus ...", versucht er inner wieder, das komplexe Phänomen der Sprache in all seinen Verästelungen zu erfassen und zu beschreiben - bis heute wohl der einzige Sprachforscher und -philosoph, der das Problem der Sprache so umfassend zu begreifen suchte und so verschiedenartige Aspekte wie konkrete Sprachforschung und spekulative Philosophie, Ansätze zu einer Sprachpsychologie wie auch eine linguistische Anthropologie in ein großes und grundlegendes System zu integrieren versuchte. Es ist selbstverständlich, daß ein so anspruchvolles Ziel nur ansatzweise erreicht werden konnte, und daß es deshalb schwerfällt, von einem "System" oder gar einer "Sprachtheorie" im heutigen Wbrtsinn zu sprechen. Dazu kommt, daß sich Humboldts philosophische Ansicht der Sprache ständig mit ändern Zielen - z.B. dem Versuch der Aufdeckung des systematischen Charakters der Einzelsprache - überkreuzen, wobei sich oft zwei Ebenen auszuschließen scheinen und als Widerspruch empfunden werden: "... kein Messen und Beschreiben der Teile vermag die Eigenthümlichkeit (der Sprache) in einen Begriff zusammenzufassen ... wieviel man vereinzeln und zergliedern mag, so bleibt immer etwas unerkannt in ihr übrig, und gerade dies der Bearbeitung Entschlüpfende ist dasjenige, worin sie Einheit und Odem eines Lebeng digen ist." Humboldts Stil ist vielleicht deshalb so eigentümlich, weil er •seine Ansichten über Denken und Sprechen geradezu auf seine eigene Situation als Denkender und Sprechender reflektiert, so daß manchmal die Situation eintritt, daß seine Theorie unmittelbar in der Darstellung dieser, als Praxis sozusagen, dargelegt wird. Für Humboldt läßt sich die "Einheit" des Phänomens "Sprache" nicht in der begrifflichen Abstraktion, sondern nur in der "Mannigfaltigkeit der Erscheinungen" fassen, wobei diese Ansicht, unmittelbar seinen Stil bestimmt und die Richtung seines Diskurses lenkt: Gerade für ihn ist wahr, was er als allgemeine Tatsache behauptet, daß nämlich Sprechen die "sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes ist, den articulierten Laut zum Ausdruck des Gedankens fähig zu machen":10 er behauptet etwas, begründet es, schweift ab, kurze Zeit später behauptet er das scheinbare Gegenteil und vielleicht erst viel später läßt sich so etwas wie eine dialektische Synthese feststellen. "Er denkt wirklich in Worten, die Sprache ist ihm ein Organ des Denkens", sagt Steinthal von ihm. 11 8
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"Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts." Gesammelte Schriften, Bd.7, p.1-344. abgedruckt auch in: W . v . H . , Werke in fünf Bänden. Hrsg. A. Flitner und Klaus Giel, Bd.3, p.368-756 Soweit Humboldts Aufsätze in die Ausgabe von Flitner & Giel aufgenommen sind, werde ich nach dieser zitieren, sonst nach der Ausgabe von Leitzmann. Humboldt, "Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus — " (="Verschiedenheit"), p.421 Humboldt, "Verschiedenheit", p.418 Heyman Steinthal, "Die sprachphilosophischen Werke W.v.Humboldt."(1884)p.24
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Was es noch unwahrscheinlicher erscheinen IMßt, bei Humboldt von einer "Sprachtheorie" zu reden, ist das komplizierte Netz von Einflüssen, fk»g dieses Denken bestürmt: es ist sowohl Kants Philosophie, wie auch Goethes Klassik, Schillers Idealismus (und darin verwoben dessen Kant-Rezeption) wie auch die romantische Philosophie - wobei sich alle Forschungen über Humboldt bisher mit einem dieser Einflüsse begnügt haben. 12 Die Notwendigkeit, auf die Vielschichtigkeit von Humboldts Ansichten hinzuweisen, schien mir durch die Gefahr gegeben, daß er leicht für eine bestimmte Theorie oder Sprachansicht zu verpflichten ist, da sich eine Abhängigkeit und Beeinflussung immer durch beliebige Zitate stützen läßt. Humboldt führt das romantische Verständnis der Sprache weiter, indem er in ihr nicht mehr nur ein Mittel sieht, das die Verwandtschaft aller Dinge in der Welt symbolisieren soll oder diese Verwandtschaft in einem analogischen Begriffsystem ausdrücken kann, sondern indem er die Sprache bewußt in den Mittelpunkt seiner Untersuchungen stellt. Sprache ist für Humboldt nicht einfach ein Medium, das vermittelt, sondern in dieser Vermittlung liegt für ihn das Wesen der Sprache, und dort konstituiert sie sich, dialektisch, als selbständige Substanz: "Von dem ersten Elemente an ist die Erzeugung der Sprache ein synthetisches Verfahren, und zwar ein solches im echtesten Verstand des Wortes, wo die Synthesis etwas schafft, das in keinem der verbundenen Teile für sich liegt." 14 Die Vermittlungsfunktion der Sprache wirkt zwischen Subjektivem und Objektivem, zwischen Spontaneität und Rezeption, Selbsttätigkeit und Empfänglichkeit; sie ist Verwirklichung und Veräußerlichung des Geistigen, Verinnerlichung des Materiellen: "Die Sprache ist überall Vermittlerin, erst zwischen der endlichen und unendlichen Natur, dann zwischen dem einen und ändern Individuum; zugleich und durch denselben Akt macht sie die Vereinigung möglich, und entsteht aus derselben; nie liegt ihr ganzes Wesen in einem Einzelnen, sondern muß immer zu12
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Es ist ein Charakteristikum der Humboldt-Forschung, daß sie m.W. nie versucht hat, eine Gesamtdarstellung des Werks, oder auch nur des sprachphilosophischen Werks von Humboldt zu geben und zu untersuchen, inwiefern sich in ihm kantische Einflüsse und romantische Ideen überschneiden, und ob sich so etwas wie eine Synthese all dieser Einflüsse erkennen läßt. Arbeiten über Humboldt sehen in ihm entweder nur einen Kantianer (z.B. Cassirer, Spranger) oder einen Romantiker (so etwa Haym, Steinthal, vql. dazu auch R.L.Brown, "Wilhelm von Humboldt ...", p.24.) - Eine Gesamtdarstellung der Sprachphilosophie scheint erstmals B. Liebrucks, in "Sprache und Bewußtsein" (Bd.2) zu versuchen. vgl. Rudolf Haym, 1856: 429ff Humboldt, "Verschiedenheit", p.473
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gleich aus dem ändern erraten, oder erahndet werden; sie läßt sich aber auch nicht aus beiden erklären, sondern ist (wie überall, dasjenige, bei dem wahre Vermittlung stattfindet) etwas Eigenes, Unbegreifliches, eben nur durch die Idee der Vereinigung, des für uns durchaus Geschiedenen, Gegebenes, und nur innerhalb dieser Idee Befangenes." Die Sprache "läßt sich überhaupt nur als ein Produkt gleichzeitiger Wechselwirkungen denken", bei welcher "Jeder seine und Aller übrigen Arbeit zugleich in sich tragen muß." Sie ist nie das Werk eines Einzelnen, sondern gehört inner der ganzen Gesellschaft an - dennoch ist sie eigentlich nur real bei ihrem Gebrauch durch einen Einzelnen: "Sie umfasst zugleich die beiden Eigenschaften, sich als eine Sprache in unendlich 17 viele Mundarten zu teilen und diese wieder als Eine zu vereinen." Und: "Es ist kein leeres Wortspiel, wenn man die Sprache als in Selbstthätigkeit nur aus sich entspringend und göttlich frei, die Sprachen aber als gebunden und von den Nationen abhängig darstellt." Für Humboldt, wie für die Romantik, liegt der Grund dieser Dialektik der Sprache in der Dialektik des menschlichen Wesens, das zwar ein Produkt objektiver und äußerer Naturnotwendigkeit ist, aber zugleich, als geschichtliches Wesen, auf ein geistiges Ideal hinzustrebt: Welt und Mensch, die Individuen unter sich sind einander nicht fremd, sondern ähnlich; und die Analogie, welche die Sprache schafft - zwischen Individuum und Nation, Vergangenheit und Gegenwart - und die sie auch selber, als objektive Grosse und subjektive Erscheinungsform, ist, diese Analogie beruht "auf dem Geheimnis einer getrennten, und doch in höherem Sinn wieder unläugbar verbundenen Individualität".19 In der (sehr frühen: 1798) "Ankündigung einer Schrift über die Vasken" sagt er: " . . . daß der Mensch nicht eine abgesonderte Individualität besitzt, daß Ich und Du nicht bloß sich wechselseitig fordernde, sondern, wenn man zu dem Puncte der Trennung zurückgehen könnte, wahrhaft identische Begriffe sind, und daß es in diesem Sinne Kreise der Individualität gibt, von dem schwachen 15 16 17 18
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"Ankündigung einer Schrift über die vaskische Sprache und Nation", Ges. Schriften, Bd.3, p.296 Humboldt, "Vaskische Sprache ...", p.297 Haym, 1856: 498 Humboldt, "Verschiedenheit", p.386 vgl. auch, p.436: "Die einmal fest geformten Elemente bilden zwar eine gewißermassen todte Masse, diese Masse trägt aber den lebendigen Keim nie endender Bestimmbarkeit in sich ... Denn die Sprache muss notwendig zweien angehören, sie hat ein eigentümliches Dasein, das zwar immer nur im jedesmaligen Denken Geltung erhalten kann, aber in seiner Totalität von diesem unabhängig ist ..." Humboldt, "Über den Einfluß der verschiedenen Charakters der Sprachen auf Literatur und Geistesbildung", p.28
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Einzelnen hin zu dem alten Stamme der Menschheit, weil sonst alles Verstehen PO bis in alle Ewigkeit unmöglich sein würde." Gerade der erkenntnistheoretische Aspekt des Verstehens - im wörtlichen Sinn des sprachlichen Verstehens wie dem übertragenen des Erkennens und Begreifens -, auf den er hier anspielt, ist ohne das Wirken der Analogie nicht möglich: "Alles Begreifen setzt in dem Begreifenden schon ein Analogen des nachher wirklich Begriffenen voraus, eine vorhergängige, ursprüngliche Übereinstimnung zwischen dem Subject und dem Object."21 Diese thematisch gerichtete Zitation einiger Stellen aus Humboldts Werk soll zeigen, was für ein differenziertes und dialektisches Bild Humboldt von der Sprache hat: Sie ist für ihn nicht nur ein Phänomen, das sich psychologisch - in der "Sprachfähigkeit" und der Spracherlernung des Kindes - fassen läßt, sondern auch eine objektive Größe, die geschichtlich determiniert ist: sie ist sowohl das philosophische Mittel der Erkenntnis und der Erreichung eines idealen Zustandes wie auch das wissenschaftliche Kriterium, kulturelle Größen wie "Volk" und "Nation" zu bestürmen. Nur von dieser dialektischen Ansicht der Sprache her lassen sich Begriffe wie "Erzeugung", "Schöpferkraft" u.a. als Spracheigenschaften richtig einordnen. Und wenn Chomsky, zur Stützung seiner These der sprachlichen Kreativität Humboldt zitiert, so läßt sich dieser Anspruch einer grundlegenden Ähnlichkeit der Sprachansichten nur von dieser Perspektive aus richtig beurteilen. Chomsky sagt z.B. in "Cartesian Linguistics": "Humboldt, für den die Sprache energeia ('Tätigkeit'), nicht ergon ('Werk'), eine 'Erzeugung' und nicht ein 'todtes Erzeugtes1 ist ...". 22 Das volle Zitat lautet aber folgendermaßen: "Die Sprache ist in jedem Augenblick etwas Vorübergehendes; sie selbst ist kein Werk (Ergon), sondern eine Thätigkeit (Energeia) ... unmittelbar und streng genommen, ist dies die Definition des jedesmaligen Sprechens; aber im wahren und wesentlichen Sinn kann man auch nur gleichsam die Totalität des Spveohene ale 23 die Sprache ansehen." Das heißt doch: "gleichsam" drückt die Analogie aus zwischen dem Sprechen und der Sprache; ihr Entwicklungsprozeß ist ein ähnlicher: der Ursprung der 20 21
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Humboldt, "Vaskische Sprache . . . " / p. 297 Humboldt, "Vaskische Sprache ...", p.297 Vgl. auch, "Verschiedenheit ...", p.438: "Alles was mich in (der Sprache) beschränkt und bestimmt, ist in sie aus menschlicher, mit mir innerlich zusammenhängender Natur gekommen, und das Fremde in ihr ist daher dies nur für meine augenblicklich individuelle, nicht meine ursprünglich wahre Natur." Chomsky, 1966: 19 Humboldt, "Verschiedenheit", p.416
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Sprache ist eine Erzeugung, wie es der Beginn des Sprechens auch ist; sie wirkt auf den Geist eines Volkes, wie das Sprechen auf den Sprechenden wirkt; und genauso wie die Sprache das Denken eines Volkes beeinflußt und differenziert, so tut es das Sprechen im Denken des Einzelnen. Aber Humboldt geht noch weiter: ein metaphorischer Vergleich wäre nur möglich, wenn zwei verschiedene Dinge durch gleiche Begriffe einander parallel gesetzt würden; aber "Sprechen" und "Sprache" sind ja nur Spielarten einer gleichen Größe. Und obwohl sie verschieden sind - Sprache als objektive geschichtliche Größe, Sprechen als individuelles Verhalten und soziale Kommunikation - sind sie doch gleich: die "Sprache" (hier als begrifflich übergeordnete Größe verstanden) ist gerade die dialektische Einheit zwischen Sprechen und Sprache, zwischen "Ergon" und "Energeia" - ihre Definition besteht geradezu aus diesem Paradox: Sprache realisiert sich als solche erst im jeweiligen Akt des Sprechens und doch ist anderseits diese jedesmalige Erzeugung nur möglich, wenn sie auch etwas Festes ist: ein durch Schrift, Gedächtnis, die Gesellschaft kodifizierter Vorrat von Wörtern und Regeln; als solche determiniert sie, als "erzeugt", den jeweiligen Erzeugungsprozeß, und als solche wirkt sie aus der Vergangenheit in die Gegenwart, von der Sprachgemeinschaft auf das Individuum. Die Sprache "ist durchaus in eine geschichtliche Mitte versetzt ..., da jede (Nation) schon einen Stoff von früheren Geschlechtern aus uns unbekannter Vorzeit empfangen hat, so ist die ... den Gedankenausdruck hervorbringende geistige Tätigkeit immer zugleich auf etwas Gegebenes gerichtet, nicht rein erzeugend, sondern umgestaltend." 24 "Die Sprache ist fest und fließend, den Menschen etwas Ureigenes und doch Fremdes." 25 Und wenn er einmal sagt: "Die Sprache läßt sich nicht eigentlich lehren, sondern nur im Gemüthe wecken, man kann ihr nur den Faden geben, an dem sie sich von selbst entwickelt" - so folgt darauf, durchaus bezeichnend, sogar mit der gleichen tierischen Metapher des Seidenwebers: "Durch denselben Act, vermöge dessen er die Sprache aus sich heraus26 spinnt, spinnt er sich in dieselbe ein ...". Und, die dialektische Synthese noch einmal betonend, sagt er: "Sie ist gerade insofern objektiv einwirkend und selbständig, als sie subjektiv gewirkt und abhängig ist, und die wahre *?*7 lösung jenes Gegensatzes liegt in der Einheit der menschlichen Natur." 1.2.3. Chomskys Humboldt-Rezeption Für den Zweck dieser Arbeit kann man versuchen, Humboldts komplexe Sprachan24 25 26 27
Humboldt, Humboldt, Humboldt, Humboldt,
"Verschiedenheit", "Verschiedenheit", "Verschiedenheit", "Verschiedenheit",
p.419 p.437 p.412 und 434 p.438
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sieht in diese zwei Aspekte der Sprache zu trennen: die Sprache als kulturell und geschichtlich determinierte Substanz, die als solche wohl fiktiv, da nicht konkret faßbar ist, aber in ihren Wirkungen auf die Gesellschaft und das Individuum sehr wohl sichtbar ist; dann die Sprache als psycho-physische Tätigkeit, als Sprechen, wie sie sich in jeder konkreten sprachlichen Situation zeigt. Beide Aspekte sind miteinander verbunden und bedingen sich gegenseitig, indem 'Sprache1 in ihren Wirkungen immer nur sichtbar wird in der konkreten Ausübung des 'Sprechens', das 'Sprechen1 aber ohne 'Sprache1, d.h. ohne das sprachliche Material, welches die Gesellschaft - und nicht nur die gegenwärtige - liefert, eine amorphe Sprachfähigkeit bliebe, ohne die Möglichkeit ihrer eigenen Realisierung. Jeder dieser Teile ist aber in sich selber wieder dialektisch organisiert: die 'Sprache1 als objektiv gegebene Größe ist ein "Ergon" - das Resultat einer Wirkung und Entwicklung, geprägt und verändert durch jede Generation. Sie ist aber auch 'energeia1, indem sie, als 'Ergon1, jede Generation wiederum determiniert, sie von der Vergangenheit her bestimnt und die Richtung ihrer Kultur beeinflußt. Das Gleiche gilt vom 'Sprechen': Es bedingt das Vorhandensein eines Pegelapparates, eines Gedächtnisses, des Inputs von Sprachmaterialien, der Sprachwerkzeuge; es setzt rias Vorhandensein sozialer Strukturen voraus, welche Kommunikation erst möglich machen: Als solches ist 'Sprechen1 durchaus das "Werk", das Resultat objektiver Größen. - Es wirkt aber, im Akt des Sprechens, zurück auf die Strukturen, die ihm zur Erzeugung verhelfen haben: es bestinntt das Denken, das ohne Sprache amorph bliebe, es organisiert die Sprachbeherrschung in einem Regelsystem; es wirkt aber auch nach außen, indem es Vorstellungen, Ansichten in bestimmte Bahnen lenkt und damit die Perzeption mitbestimmt. Chomskys Rezeption von Humboldts Sprachansicht ist im wesentlichen eine Simplifizierung und Reduktion auf diesen Aspekt des Sprechens. Er tut so, als hätte sich Humboldt nur mit dem ontogenetischen und psychologischen Aspekt der Sprache auseinandergesetzt, und, vor allem, als sei dies der Ausgangspunkt von Humboldts Sprachtheorie. 28 Wohl ist es richtig, daß Humboldt einer der Ersten war, der sich mit dem Phänomen des Spracherwerbs - noch rein spekulativ allerdings - im Hinblick auf seine Sprachtheorie auseinandersetzte. Anderseits reflektiert er aber noch die Auffassungen seiner Zeit, indem er Fragen nach dem Ursprung der Sprache, ihrer Evolution, ihrem "Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts", auf "Literatur und Geistesbildung", "auf die 28
vgl. dazu: Karl E. Zimmer: Review of Chomsky, Cartesian Linguistics, in: Int. Jl. of Amer. Linguistics, Vol. 34 (1968), 4,. p.29Off
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Ideenentwicklung"
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ohne Zweifel mehr Aufmerksamkeit schenkt als seinem in-
dividual-psychologischen Korrelat, dem 'Sprechen'. Diese Reduktion kommt aber beinahe einer 'reductio ad nihilum1 gleich, wenn man Chomskys Interpretation vom philosophischen Zielpunkt der Auseinandersetzungen Humboldts mit der Sprache beurteilt; von hier aus besteht nämlich für ihn keine Dichotomie zwischen 'Sprache1 und 'Sprechen1, sondern, wie schon oft betont, eine dialektische Körrelation, und gerade auf dieses Grenzgebiet, wo sich 'Sprechen' und 'Sprache1, philosophische und psychologische, geschichtliche und individuelle Phänomene kreuzen, sich bedingen und beeinflussen: gerade daraufhin zielt Humboldts Interesse an der Sprache. Aus dieser Perspektive müßte auch die Berechtigung einer Herleitung des Begriffs der "Kreativität" beurteilt werden: sie ist keineswegs ein Phänomen, das nur als individualpsychologische Komponente des Sprechens interpretiert werden darf; für Humboldt besteht die Dialektik erzeugt/erzeugend: Sprechen ist eine Erzeugung aus der Sprachfähigkeit und Sprachbeherrschung des Individuums heraus, es ist aber auch das Erzeugnis des Einflusses, den die Sprache als soziale, kulturelle und geschichtliche Instanz in jeden Sprachbenutzer hineinbringt, und das Sprechen scheint, in Humboldts Ansicht, vielmehr das Produkt einer komplizierten Analogiewirkung als eines echten kreativen Verhal3O tens zu sein. Wenn man bereit ist,
den philosophischen Gesamtrahmen von Humboldts Sprach-
ansichten zu übersehen, und sich auf Einzelaspekte beschränkt, wird allerdings sofort klar, daß eine grundlegende Ähnlichkeit mit Chomskys Auffassung der Sprache und der sprachlichen Kreativität durchaus vorhanden ist.
Ich habe wei-
ter oben zu zeigen versucht, daß jeder der beiden sprachlichen Formen - 'Spra29
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In den Titeln dreier Aufsätze Humboldts: "Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus und ihren Einfluß auf die geistige Entwiklung des Menschengeschlechts", "Ueber den Einfluß des verschiedenen Charakters der Sprachen auf Literatur und Geistesbildung", "Ueber das Entstehen der grammatischen Formen und ihren Einfluß auf die Ideenentwicklung. vgl. auch "Verschiedenheit", p.419: "Da jede (Sprache) schon einen Stoff von früheren Geschlechtern ... empfangen hat, so ist die ... den Gedankenausdruck hervorbringende Tätigkeit immer zugleich auf etwas schon Gegebenes gerichtet, nicht rein erzeugend, sondern umgestaltend" p.458: "Die Sprache ist ... der Seele in ihrer Totalität gegenwärtig, d.h. jedes Einzelne in ihr verhält sich so, daß es Anderem, noch nicht deutlich Gewordenem und einem durch die Summe der Erscheinungen und die Gesetze des Geistes gegebenen oder vielmehr zu schaffen möglichen Ganzen entspricht. Allein die wirkliche Entwicklung geschieht allmählich, und das neu Hinzutretende bildet sich analogisch nach dem schon Vorhandenen."
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ehe' und 'Sprechen1 - in sich wiederum dialektisch gegliedert ist, die Beziehung erzeugt/erzeugend auch innerhalb beider Größen spielt: 'Sprechen1 ist nicht nur das Resultat sprachlicher Menorierung, indem gehörte Daten aufgespeichert werden, sondern noch viel stärker läßt sich in ihr die Wirkung einer angeborenen Sprachfähigkeit erkennen. Die Sprachbeherrschung ist demnach eine psychologische Organisation beider Einflüsse, und er nennt dessen interne Repräsentation "innere Form". In der Charakterisierung dessen, war er "innere Form" nennt, spricht Humboldt anschließend von einem dynamischen Regelmeohanismus, der jede aktuelle sprachliche Äußerung bestimmt und den unendlichen Sprachgebrauch (was Chomsky "Kreativität" nennt) determiniert. Es scheint notwendig, diesen Gedanken Humboldts etwas näher zu charakterisieren, da er jene Funktionen zu haben scheint, welche Chomsky auch einer adäquaten Grammatik zuschreiben möchte. Es geht, mit ändern Worten, um die Zuweisung der Begriffe "kreativ" (als dem sichtbaren Verhalten) und "generativ" (als dem System, das dieses Verhalten organisiert) zueinander und deren Begründung bei Humboldt. 1.2.4.
"kreativ" und "generativ"
Nicht nur den Begriff der "Kreativität", auch jenen des "Generativen" führt Chomsky auf den Humboldtschen Ausdruck des "Erzeugens" zurück; es ist wichtig, schon hier darauf hinzuweisen, daß Chomsky zwei Begriffe, von denen der Eine den Sprachbenutzer bezeichnet, und der andere die Grammatik charakterisieren soll, unter dem gleichen Begriff Humboldts subsumiert. Damit suggeriert er nicht nur eine begriffliche Ähnlichkeit, er stellt sogar eine wörtliche Verwandtschaft her. In den "Aspekten" schreibt Chomsky: "Der Ausdruck 'generieren' ist in dem hier beabsichtigten Sinn in der Logik üblich ... Weiterhin scheint 'generieren1 die angemessenste Übersetzung für Humboldts Terminus 'erzeugen' zu sein, den er häufig und, wie es scheint, im wesentlichen in dem von uns hier intendierten Sinn gebraucht. Da dieser Gebrauch des Terminus 'generieren1 sowohl in der Logik als auch in der Tradition der Sprachtheorie wohl etabliert ist, sehe ich keinen Grund für eine Revidierung der Terminoligie." 31 Chomsky behauptet also hier mit anderen Worten, daß Humboldt den Begriff "erzeugen" im Sinne des "Generierens" in einer "Generativen Granmatik", und weiterhin im Sinne seines Gebrauchs in der formalen Logik benützt. Der Begriff "generieren" wird heute vor allem in der Automatentheorie angewandt. Er bezeichnet dort eine Operation der Maschine, mit welcher algorith31
Chomsky, "Aspekte der Syntax-Theorie" (= "Aspekte ...") p.21
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misch ein bestimmter Zustand mithilfe von Impulsen in einen neuen Zustand übergeführt wird, d.h. ein neuer Zustand generiert wird. Werden diese Zustände als Zeichenmengen dargestellt, und die Impulse als Regeln, die an diesen Zeichenketten eine logische Operation durchführen, kann man von einer "sprachlichen Generierung" sprechen, insofern syntaktische Regeln an einem Lexikon Operationen durchführen, die zur Generierung sprachlicher Sätze führen. In den Fünfziger Jahren versuchte vor allem Z.S. Harris Begriffe und Verfahren der Theorie formaler Sprachen auf die Linguistik anzuwenden. "Sprache" wurde allgemien definiert als eine unendliche Menge von Sätzen, jeder Satz mit endlicher Länge und konstruiert durch Verkettung aus einer endlichen Menge von Input-Elementen (dem Lexikon) mithilfe von Regeln. Syntax wird ebenso allgemein als ein rekursiver Mechanismus definiert, der diese unendliche Menge von Sätzen korrekt "erzeugen", resp. "generieren" kann. Eine "Generative Grammatik" hat also zwei minimale Bedingungen zu erfüllen: 1. sie muss einen Mechanismus enthalten, der die Menge aller korrekten Sätze einer Sprache aufzählen kann. 2. sie muss - da ihr die Definition "korrekter Satz" innewohnen muss den Elementen dieser Menge Strukturbeschreibungen zuweisen können.
Die Motivation für die Entwicklung "formaler" Granmatiken lag in den Aporien der traditionellen Sprachbeschreibungen. Der Mangel dieser Granmatiken bestand darin, die regulären und produktiven syntaktischen Prozesse immer nur mithilfe repräsentativer Beispiele und Umschreibungen angeben zu können, und sich deshalb wesentlich auf die Intuition des Benutzers solcher Graratatiken zu stützen. Da sie Vollständigkeit nur in bezug auf die Ausnahmen erreichen konnten, gaben sie nicht nur "ein unvollständiges, sondern auch ein falsches Bild der Sprache"; 34 aufgrund ihrer Beschreibungsweise erschien der Anteil an Irregularitäten iitmer größer als ihr systematischer Aufbau. Nur eine vollständig explizite Grammatik könnte eine unverzerrte Darstellung der Sprache liefern, d.h. eine Grammatik, welche alle in einer Sprache vorkommenden Sätze aufzuzählen vermöchte und überdies jedem dieser Sätze die notwendige strukturelle Information zuweisen könnte. Dies könnte aber nur eine Grammatik, die ein Verfahren beschreiben würde, welches alle Sätze aus der unbeschränkten Menge aufzählen und beschreiben würde, d.h. diese Sätze "generieren" würde. Die fundamentale Bedingung der "Generierung" einer unendlichen Anzahl von Sätzen mithilf e eines endlichen Systems von Regeln ist deren Rekureivität. En Granmatik-^todell, das Chomsky in den 'Aspekten1 darlegt, ist die Rekursivität 32 33 34
vgl. Meetham ( E d . ) , 1969: 54-57 - auch Wang, 1969: 83ff Chomsky, 1963 (b): 326 Chomsky, 1965: 529 - zit. n. Wang, 1969: Einleitung
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ein Merkmal der Basis-Komponente und besagt, daß in einer "Phrasen-Struktur Grattmatik" das Anfangssymbol S (Satz) an bestimmten Stellen in Ketten von Kategorisierungs-Symbolen wieder eingeführt wird". Dies bedeutet, daß die einzige Methode, die Tiefenstruktur von Sätzen zu erweitern, in der Einführung - Einbettung - von vollen Subjekt/Prädikat-Sätzen liegt, die dann in der Oberflächen-Struktur als Itonjunktion resp. Disjunktion oder als Infinitiv- oder Relativsätze erscheinen. Damit ist die Möglichkeit gegeben, die unendliche Anzahl möglicher Sätze einer Sprache durch ein Verfahren (device) generieren zu lassen, welches die Einbettung fundamental ähnlicher und einfacher Basis-Strukturen beliebig oft iterieren kann. Diese Möglichkeit der infiniten Iteration ist, sagt Chomsky, der Grund, warum die syntaktische Basis-Komponente "den einzigen 'kreativen1 Teil der Grammatik" ausmacht. Damit kann zum mindesten ein Aspekt des "Kreativitäts"-Begriffs festgelegt werden. Aber was führt Chomsky dazu, bei der Rekursivität von Reoreln der BasisKomponente von "Kreativität" zu reden? Als algorithmische Operation ist Rekursivität auch auf Maschinen übertragbar und scheint damit zu implizieren, Haft der Begriff "kreativ" zur Bezeichnung des gleichen Tatbestandes eine "contradiction in terms" ist: "Rekursiv" als formale Operation hebt den Anspruch, der durch "kreativ" behauptet wird, gerade auf: daß die Sprache nämlich "unausschöpfbar", das heißt letztlich nicht erklärbar sei. Abgesehen davon, daß die beiden Begriffe sozusagen aus zwei verschiedenen "Sprachen" stammen - der eine aus dem szientistischen Vokabular des Zwanzigsten Jahrhunderts, der andere, in diesem Fall, aus dem poetischen Idealismus Humboldts - scheint hier die Hypothese fundamentalmenschlicher Fähigkeiten sehr oberflächlich mit der relativ trivialen Kapazität von Automaten identifiziert zu werden. Es soll versucht werden, in einem zweiten Rückgriff auf Humboldt die Verwirrung dieser Begriffskoppelung zu klären, indem von der neuen Auffassung der "Grammatik" als einem Verfahren ausgegangen wird, die sie von den traditionellen Grammatiken am meisten unterscheidet. Das Neue an dieser Grammatik lag also nicht in der Vorstellung, Sprache mithilfe von Regeln beschreiben zu wollen - dies war immer das Ziel der Linguistik gewesen -; neu war vielmehr der Gedanke, daß dieses Regelsystem ein Verfahren darstellt und nicht eine zergliedernde Beschreibung der einzelnen Teile der Sprache liefert. Diese Auffassung der Grammatik als einem "Verfahren" bringt nun Chomsky in 35 36
Chomsky, 1969: 174 Chomsky, 1969: 173
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die Nähe von Humboldts Sprachauffassung. Humboldt geht tatsächlich davon aus, daß Sprache nicht eine endliche Menge von Sätzen ist, welche durch Zergliederung und Aufzählung einfach zu bestimmen seien: "Denn die Sprache kann ja nicht als ein daliegender, in seinem Ganzen übersehbarer oder nach und nach mitteilbarer Stoff, sondern muß als ein sich ewig erzeugender angesehen werden, wo die Gesetze der Erzeugung bestinittt sind, aber der tlnfang und gewissermaßen auch die Art des Erzeugnisses gänzlich unbestimmt bleiben." 37 Dies führt bei Humboldt zur Auffassung, daß die Sprachstruktur, wie sie als "innere Form" dem Sprache beherrschenden Menschen gegeben ist, ein Verfahren darstellt: "da sie ... ein vollständig durchgeführter Organismus ist, so lassen sich in ihr nicht bloß Teile unterscheiden, sondern auch Gesetze des Verfahrens, oder ... vielmehr Richtungen derselben. Man kann diese, wenn man den Organismus der Körper dagegen halten will, mit den physiologischen Gesetzen vergleichen, deren wissenschaftliche Betrachtung sich auch wesentlich von der zergliedernden Beschreibung der einzelnen Teile unterscheidet ... Das Verfahren der Sprache ist aber nicht bloß ein solches, wodurch eine einzelne Erscheinung zustande kommt; es muß derselben zugleich die Möglichkeit eröffnen, eine unbestimmbare Menge solcher Erscheinungen ... hervorzubringen. Denn sie steht ganz eigentlich einem unendlichen und wahrhaft grenzenlosen Gebiet, dem Inbegriff alles Denkbaren gebenüber. Sie muß daher von endlichen Mitteln einen unendlichen Gebrauch machen und vermag dies durch die Identität der Gedanken- und Spracheerzeugenden Kraft." 38 Die Ähnlichkeit, die Chomsky für seine Theorie mit diesen Sätzen Humboldts in Anspruch nehmen darf, liegt in der darin ausgedrückten Auffassung, daß die Sprache ein Organismus sei, und dem darauffolgenden Vergleich der Sprachbeschreibung mit den "physiologischen Gesetzen", mit denen der menschliche Körper analysiert wird; "Man hat wohl die Anatomie der Sprache bearbeitet, allein die Physiologie derselben gänzlich liegen gelassen." 39 Humboldt ist überzeugt, daß ein lebendiger Organismus wie die Sprache nicht durch Zerlegung und "Sezieren" erforscht werden kann, eine "Zergliederungskunst" bei der man schließlieh nur "das tote Gerippe von grammatischen Formen" 4O in den Händen habe: "Es hieße das feine und zarte, tief mit dem Geist und dem Gefühl verwebte Wesen der Sprache verkennen, wenn man sich einbildete, daß sich das an ihr Charakteristische ... mathematisch bestimmen ließe."41 37 38 39 40 41
Humboldt, Humboldt, Humboldt, Humboldt, Humboldt,
"Verschiedenheit", p.419 "Verschiedenheit", p.477 "Ueber Sprachverwandtschaft", Ges. Schriften, Bd.7, p.633 "Ueber Sprachverwandtschaft", p.634 "Ueber Sprachverwandtschaft", p.634
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Es ist also richtig, daß Humboldt nach einer Methodik sucht, welche es ihm erlauben würde, das 'Verfahren" der Sprache, nämlich das in diesem Organismus Lebendige zu erfassen und damit jene Gesetze freizulegen, welche den Sprachgebrauch zu einem kreativen machen. Aber es geht Humboldt eigentlich nicht um die Herausarbeitung einer wissenschaftlichen Methode - einer Theorie, Grammatik -, sondern un eine möglichst adäquate Beschreibung der internen Organisation der Sprachbeherrschung. Dabei ist für ihn das so Charakterisierte, die Sprache selber, ein Verfahren, nicht das die Sprache Charakterisierende, die Grammatik.^ Die Sprache ist generativ, erzeugend. Für Chomsky dagegen liegt das Verfahren auf einer ändern Ebene: die Granmatik ist generativ, nicht ihr Objekt, die Sprache. Das Verfahren ist eine Eigenschaft des theoretischen Systems, welche notwendig ist, um die Sprache beschreiben zu können. Der Ausgangspunkt ist wohl für Beide derselbe: für Chomsky ist es der "kreative Sprachgebrauch", für Humboldt "der unendliche Gebrauch mit endlichen Mitteln." Aber für den Linguisten Chomsky ist dies der Anlaß, aufgrund dieser sprachlichen Eigenschaften eine adäquate Sprachtheorie zu fordern; für den Sprachphilosophen Humboldt ist es dagegen der Anlaß, direkt nach den Ursachen des kreativen Sprachgebrauchs zu fragen und diese im Vorhandensein eines inneren Regelsystems zu sehen. Chomsky geht scheinbar nicht so weit: ihm genügt es, die Kriterien festzustellen, welche notwendig sind, den Sprachgebrauch des Menschen vollständig zu erfassen, aber er sagt nichts aus über die Beschaffenheit des sprachlichen "Organismus", der möglicherweise ein solches Verfahren benützt; Humboldt dagegen spricht ausschließlich über die Eigenschaften dieses Organismus, und er sagt nichts über die Notwendigkeit eines theoretischen Systems zur Beschreibung des "Organismus". Mit anderen Worten: Bei Chomsky ist der Begriff des "generativen" ein opepationeller, bei Humboldt dagegen ein aubatantieller; der Erste versucht, mithilfe eines generativen Verfahrens Sprache zu beschreiben; Humboldt dagegen geht es nicht um die Darstellung der Sprache mit einem theoretischen Verfahren, sondern um die Darstellung der Sprache als einem Verfahren; es geht ihm nicht um die Erzeugung von Sätzen mithälfe eines Regelsystems, sondern um die Erzeugung der Sprache selber. Humboldts Begriff der "Erzeugung" liegt auf der psychologischen Ebene, Chomskys Begriff auf einer theoretisch-linguistischen. Das 'Verfahren" Humboldts charakterisiert den Sprecher, resp. seine Sprachbeherrschung; das 'Verfahren" Chomskys charakterisiert eine Iheorie. 42 42
vgl. dazu auch E. Coseriu, "Sprache, Strukturen und Funktionen",p.214/215
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Es ist klar, worauf Chomsky hinaus will: mit seiner Charakterisierung von "generativ" als einem formalen Begriff der Grammatik und der gleichzeitigen Identifizierung des Begriffs mit "erzeugen" (als einem psychologischen Begriff der Sprachbeherrschung und des Sprachgebrauchs) versucht er seine eigene Hypothese auf Humboldt zu übertragen: der Organismus der Sprache als ein rekursives Verfahren der Sprachbeherrschung soll eine strukturelle Ähnlichkeit mit der Methode der Sprachbeschreibung aufweisen: die Grammatik einer Sprache ist zugleich eine Grammatik des Sprachbenutzers, und diese Identität sieht Chomsky bei Humboldt aufgrund der Gleichheit der Begriffe "generativ" und "erzeugend". Eine solche Parallelisierung von psychologischen Strukturen und theoretischen Begriffssystemen ist aber bei Humboldt nicht vorhanden. Was er fordert, ist lediglich eine Beschreibung, welche nicht anatomisch-sezierend
ist,
sondern eine Darstellung, welche analog den physiologischen Gesetzen das "Lebende" des Organismus der Sprache zu erfassen vermag: "wie man sich lange ängstlich beschäftigte, Teilen des Gehirns Namen zu geben, ohne zu ahnen, daß die große ungeschiedene Masse die wichtigsten Auf schlüße über die geistige Organisation enthielte, so ist man in den Sprachen fast ausschließens bei den grammatischen Formen und der Bildung der abgeleiteten Wörter stehen geblieben, hat aber die der Stamrwörter, ihren inneren Zusammenhang und den Gang der 43 Einbildungskraft in der Bezeichnung gar nicht oder sehr spät beachtet." Es
ist seine philosophische Überzeugung, daß "Alles Werden in der Natur, vorzüglieh aber das organische und lebendige ... sich unserer Beobachtung" entzieht. 44 Auf die Beschäftigung mit der Sprache angewandt heißt dies: "Rein Messen und Beschreiben der Teile, im Einzelnen und im Zusanmenhang, vermag die Eigentümlichkeit in einen Begriff zusammenzufassen ... wieviel man vereinzeln und zergliedern möge, so bleibt immer etwas unerkannt in ihr übrig, und gerade dies der Bearbeitung Entschlüpfende ist dasjenige, worin sie Einheit und Odem des 45 Lebendigen ist." Diese Auffassung führt Humboldt zur Forderung einer geschichtliche-vergleichenden und philosophisch-begrifflichen Grammatik: "Keiner darf vergessen, daß die Sprache, aus der Tiefe des Geistes, den Gesetzen des Denkens und dem Ganzen der menschlichen Organisation hervorgehend, aber in die Wirklichkeit in vereinzelter Individualität übertretend, und in einzelne Erscheinungen vertheilt auf sich zurückwirkend, die durch richtige Methodik geleitete, vereinte Anwendung des reinen Denkens und der streng geschichtlichen Untersuchung fordert." 43 44 45 46
Humboldt, Humboldt, Humboldt, Humboldt,
"Ueber Sprachverwandtschaft", p.633 "Verschiedenheit", p.422 "Verschiedenheit", p.421 "Ueber den Dualis", p.114
26
Wie weit eine solche Sprachwissenschaft von einer "generativen Grammatik" und einer strukturellen Ähnlichkeit mit ihrem Objekt entfernt ist, zeigt ein Beispiel, wo Humboldt sich konkret mit der Sprache beschäftigt: In der Einleitung zum Kawi-Werk vergleicht er das Verb im Sanskrit mit dem griechischen Verb, und folgert, daß im Sanskrit-Verb "der Begriff des Modus ... offenbar unentwickelt geblieben ... und nicht rein von dem des Tempus unterschieden worden ist ... Dasselbe findet beim Infinitivus statt, der noch außerdem, mit gänzlicher Verkennung seiner Verbalnatur, zu dem Ncmen herübergezogen worden ist."47 Wie sehr Humboldt hier von einer normativen Sprachansicht ausgeht, und wie sehr er jede Sprachuntersuchung von einem idealistisch-teleologischen Standpunkt her ansetzt, zeigt seine Begründung dieser Verschiedenheit: "Der ideelle Bau des Verbum, sein innerer ... Organismus entfaltete sich nicht in hinreichender Klarheit vor dem bildenden Geist der Nation. Dieser Mangel ist jedoch umso wunderbarer, als übrigens keine Sprache die wahrhafte Natur des Verbum, die reine Synthesis des Seyns mit dem Begriff, so wahrhaft und so ganz eigentlich geflügelt darstellt, als das Sanskrit ... Die Ursache einer solchen mangelhaften Entwicklung oder unrichtigen Auffassung eines Sprachbegriffs möge aber, gleichsam äußerlich, in der Lautform oder innerlich in der ideellen Auffassung gesucht werden müssen, so liegt der Fehler immer in mangelnder Kraft des erzeugenden Sprachvermögens." 49 1.2.5. Unzulänglichkeit der Berufung auf Humboldt Diese Zitate scheinen zu zeigen, daß der Ausgangspunkt Humboldts ein ähnlicher ist wie der Chomskys - der kreative Sprachgebrauch -, daß aber für Humboldt daraus nicht die Notwendigkeit einer "generativen Grammatik", sondern viel eher einer philosophisch-spekulativen Sprachuntersuchung folgt. Der Vergleich zwischen einer generativen Theorie und einem spracherzeugenden System, auf der psychologischen Ebene kann also bei Humboldt nicht gezogen werden. Die Motivation Chomskys für eine solche Interpretation ist verständlich: Korrelierung zwischen grammatischem System und (psychologischer) Sprachbeherrschung ist eine fundamentale Hypothese der Sprachtheorie Chomskys. In "Aspekte der Syntax-Theorie" nennt er deshalb seine Sprachtheorie "mentali47 48
49
Humboldt, "Verschiedenheit", p.465-466 siehe z.B. "Ueber das vergleichende Sprachstudium in Beziehung auf die verschiedenen Epochen der Sprachentwicklung", p.7: "Denn die Sprache, die durch sie erreichbaren Zwecke des Menschen überhaupt, das Menschengeschlecht in seiner fortschreitenden Entwicklung, und die einzelnen Nationen, sind die vier Gegenstände, welche die vergleichende Sprachforschung ... zu betrachten hat." Humboldt, "Verschiedenheit", p.467
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stisch", "weil sie um die Aufdeckung einer mentalen Realität, die dem aktuellen Verhalten zugrunde liegt, bemüht ist ... die Grammatik einer Sprache versteht sich als Beschreibung der immanenten Sprachkcropetenz des idealen Sprecher-Hörers." 5O Und p.4O sagt er noch deutlicher: "Indem wir den Terminus "Grammatik" systematisch mehrdeutig verwenden (einmal meint er die im Sprecher intern repräsentierte "Theorie seiner Sprache", zum ändern bezeichnet er den linguistischen Zugang zu diesem Phänonen), können wir sagen, daß das Kind eine - im beschriebenen Sinne - generative Grammatik entwickelt und intern repräsentiert hat." Damit formuliert Chomsky eine fundamentale Hypothese seiner Sprachtheorie, die weit über Humboldt hinausgeht: ausgehend von der empirischen Tatsache der Kreativität verbindet Chomsky den Humboldtschen Begriff der sprachlichen Erzeugung mit dem theoretischen der "Generation" und koppelt damit die formale Operation der Grammatik mit den Strukturen, welche dem sprachlichen Verhalten des Sprachbenutzers zugrundeliegen; er identifiziert mit anderen Worten die Kompetenz des Sprechers mit der Grammatik des Linguisten: die Tatsache, daß ein Sprecher unendlich viele Sätze richtig zu erzeugen vermag - der kreative Sprachgebrauch - kann nur erklärt werden, wenn man annimmt, daß sich im Gehirn des Sprechers formal ähnliche Operationen abspielen, wie sie eine generative Grammatik beschreibt. Was den Begriff der "Kreativität" betrifft, folgt aus dieser Hypothese, daß er für Chomsky nicht nur ein Anlaß ist, die Notwendigkeit einer expliziten Grammatik zu fordern, welche diesem Phänomen gerecht werden soll; Kreativität ist für ihn auch nicht nur ein Anlaß, im Sprecher grundlegende rekursive Mechanismen anzunehmen - wie dies Humboldt sieht -, sondern darüberhinaus zugleich der Ausgangspunkt für eine Hypothese, welche in einer solchen Grammatik das formale Äquivalent der Humboldtschen Kategorie der "Sprachbeherrschung" sieht. "Kreativität" stellt also nicht nur bisherige theoretische Ansätze der Linguistik infrage, sie ist auch eine Infragestellung weitverbreiteter Auffassungen, wonach die Sprache aus einer Anhäufung und Speicherung von Sprecher gehörter primärer sprachlicher Daten und deren Generalisierung in sprachlichen Mustern ist. Die Zitierung von Humboldts Werken an vielen Stellen bei Chomsky mag dadurch motiviert sein, eine solche Auffassung der Sprache nicht nur durch die eigene Theorie, sondern auch durch einen früheren und prominenten Vertreter der Sprachphilosophie und Sprachforschung zu entkräften - in diesem Sinn ist die Rezeption Humboldt durch Chomsky sicher richtig, wenn auch, was die gesamte Sprach-"Philosophie" Humboldts angeht, von einer starken Simplifizierung 50 Chomsky, "Aspekte", p.14 1l Chomsky, "Aspekte", p.4O
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gesprochen werden darf. Vfc> der Begriff der "Kreativität" nicht mehr bloß ein Hinweis auf die Komplexität der sprachlichen Prozesse und Strukturen beim Sprachbenutzer sein soll, sondern darüberhinaus die Hypothese einer formalabstrakten Identität zwischen der Sprachbeherrschung des Individuums und der Grammatik begründen oder jedenfalls stützen soll, kann der Rückgriff auf Humboldt nicht mehr als hinreichender Erklärungsgrund genügen, da dieser, wie ich zu zeigen versuchte, wohl von einan sprachlichen "Verfahren" spricht - das dem Begriff des "Generierens" bei Chomsky ähnlich ist -, dieses Verfahren aber ausschließlich in der Sprachbeherrschung des Individuums ansetzt; in seinen konkreten Sprachstudien, die doch wohl am ehesten seine Auffassung von Sprachtheorie reflektieren, geht Humboldt jedoch von einem spekulativ-idealistischen, am Griechischen orientierten Grammatik-Bild aus, und wohl kaum von einer - noch so rudimentären - "Generativen Grammatik". Insofern der Begriff der "Kreativität" demnach nicht nur die Einsicht in die Notwendigkeit einer adäquaten Sprachtheorie oder einer besseren Definition von "Sprachbeherrschung" reflektiert, sondern dazu noch die Verbindung beider bezwecken soll, muss nach der theoretischen Eechtfertigung eines solchen Vorgehens gefragt werden, und es muß auch versucht werden, aus der sprach-psychologischen Perspektive heraus den Begriff "Kreativität" zu motivieren und seine empirische Relevanz herauszuarbeiten. Ich werde diese Problematik in 1.3. beschreiben, indem ich von der These ausgehe, daß die psychologische Motivation des Begriffs aus der Auseinandersetzung Chomskys mit dem Behaviorismus zu erklären ist. Es gibt einen weiteren, methodologischen Grund, warum Chomskys Rückgriff auf Humboldt nicht genügt, den Begriff zu erklären und zu begründen. Chomskys Methode ist, bei seinen Philosophie- und geistesgeschichtlichen Arbeiten, 52 die bisher in den Geisteswissenschaften übliche: Mit den Mitteln der geistesgeschichtlichen Interpretation versucht er, Humboldts Ansichten über die Sprache, den Gebrauch eines bestimmten Vokabulars usw., introspektiv und geschichtlich-vergleichend zu verstehen, in ein System einzuordnen und aus diesem heraus zu erklären. Der Gebrauch einer solchen geschichtlich-komparativen und philologischen Methode ist grundsätzlich sicher berechtigt bei Humboldt wahrscheinlich unumgänglich und der einzige Weg, den Strukturen seiner Sprachphilosophie und Sprachtheorie auf die Spur zu kommen, einer "Philosophie" und "Theorie" übrigens, denen gerade das zu fehlen scheint, was sie zu solchen erst macht: nämlich der einheitliche und eindeutige Gebrauch 52
so vorallem in "Cartesian Linguistics" und "Language and Mind".
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eines Begriffapparates. Die Problematik liegt also nicht in der HumboldtInterpretation an sich, sondern in der Art und Weise, wie sich diese Rezeption auf die eigene Theorie auswirkt. Solange der Begriff der "Kreativität" die Theorie der "Generativen Grammatik" nur am Rande berührt, insofern er nämlich den philosophischen Rahmen und den geistesgeschichtlichen Hintergrund der eigenen Theorie absteckt, ist eine begriffsgeschichtliche Interpretation - wie dies Chomsky tut, und auch in dieser Arbeit bisher praktiziert wurde - sicher die beste Methode der Begriff serklärung. Aber sobald der Gebrauch des Begriffs der "Kreativität" nicht mehr bloß eine historische Reminiszenz für zwei grundlegend gleiche Sprachauffassungen zweier Forscher ist, sondern in der Theorie selber eine zentrale Rolle spielt - "der zentrale Tatbestand, mit dem sich jede signifikante linguistische Theorie auseinandersetzen muß" - kann eine geistes- und begriffsgeschichtliche Interpretation nicht mehr genügen. Der Begriff "Kreativität", als theoretischer Begriff, muß und kann dann folgerichtig nur innerhalb der Theorie selber erklärt werden. Eine philologische Interpretation kann wohl das Wort "Kreativität" erklären und Hinweise auf seinen semantischen Stellenwert geben; der Begriff als theoretische Größe ist jedoch eine 'syntaktische' Einheit und muß in seiner syntaktischen Relation innerhalb des Begriffsystems der Theorie erklärt werden. Eine begriffsgeschichtliche Interpretation kann für eine solche Einordnung wohl nützlich sein, sie kann aber nie als hinreichende Begründung für den theoretischen Begriff genommen werden. Hier stellt sich wiederum die Frage, warum Chomsky einen wissenschaftsgeschichtlich stark belasteten und nur vage definierten Begriff wie "kreativ" in seine Theorie hineinniitmt, von der er größtmögliche Explizität und Eindeutigkeit verlangt. Schon 1957, in den "Syntactic Structures", hatte er die wissenschaftstheoretischen Bedingungen der Formalwissenschaften auch als Bedingungen einer adäquaten Sprachtheorie definiert; und eine dieser Bedingungen ist die Notwendigkeit einer strikten Begriffssprache, in welcher jeglicher Intuitionismus, jeglicher metaphorische Sprachgebrauch abgelehnt wird. Der Versuch einer genauen Formulierung in der Linguistik hat eine viel ernsthaftere Motivation als die Sorge um logische Feinheiten oder den Wunsch, etablierte Methoden linguistischer Analyse zu verbessern: "Präzis konstruierte Modelle linguistischer Strukturen können im Prozeß der Entdeckung selber eine wichtige Rolle spielen. Indem man eine genaue aber inadäquate Formulierung 53
Chomsky, 1964, p.5O
30
bis zu ihrer nicht akzeptablen Schlußfolgerung bringt, kann man oft die genaue Ursache dieser Inadäquatheit freilegen und daraus konsequenterweise ein tieferes Verständnis der linguistischen Daten erreichen . . . obskure und intuitionsbehaftete Begriffe können weder zu absurden Schlußfolgerungen führen noch neue und korrekte beibringen." 54 Die Forderung eines formalen, d.h. widerspruchsfreien Begriffssystems ist ein Charakter istikum der Linguistik seit Chansky, und es ist daher nicht nur wichtig, sondern geradezu entscheidend für die Validität einer Theorie, ob sie dem Begriff der "Kreativität" innerhalb ihres Begriffssystems einen genau fixierbaren, eindeutigen Stellenwert zuzuweisen imstande ist, ob er ein Restbestand einer älteren Linguistik ist, der im Interesse der Theoriebildung ersetzt werden muß, oder ob er schließlich - wie manche Kritiker behaupten Teil eines Versuchs durch Chomsky ist, eine Sprachtheorie, die sich in methodologischen und empirischen Aporien verrannt hat, durch einen Rückgriff auf berühmte Vorbilder der Geistesgeschichte zu retten: die Theorie wird in ein Koordinatensystem von Begriffen gestellt, die sowohl die Forderungen der eigenen Theorie erfüllen, ("generativ") wie auch die ungebrochene Kontinuität dieser Theorie innerhalb der Geschichte der Linguistik beweisen sollen. Es ist deshalb notwendig, den Begriff der Kreativität trotz seiner offensichtlich geistesgeschichtlichen Konnotation - oder gerade deswegen -, die für die Sprachtheorie inadäquat ist, innerhalb der Theorie und der Theoriebildung zu untersuchen. Erst von diesem 'syntaktischen1 Stellenwert aus wird der Begriff innerhalb der Theorie gerechtfertigt werden können: Dies wird ffa* Thema von Kap. 2 sein. 56
54 55
56
Chomsky, l957,p.5 vgl. z.B. P.H. Matthews, Review of Chomsky, "Aspekts ...", Journal of Linguistics, 1967 ( 3 ) , p.119-152, bes. 12O-123 cf. auch: H. Aarslev, History of Linguistics and Professor Chomsky, in: Language 46 (1970), p.57O-585. vgl. auch H.E. Brekle, Rez. von Chomskys "Cartesian Linguistics" in: Linguistics 49 (1969) 74-91 Die geistesgeschichtliche Konnotation, die Chomsky dem Begriff "Kreativität" bewußt gibt, scheint zu zeigen, daß es nicht genügen kann, 'kreativ 1 als mentalistisches Synonym des formalistischen Rekursivitäts-Begriffs zu interpretieren. Obwohl beide Begriffe tatsächlich äquivalent sein können, zwingt gerade die Tatsache, daß Chomsky sie verbindet, nach der epistemologischen Motivation dieser Korrelierung zu suchen, und sich nicht mit dem Hinweis auf laxe Handhabung wissenschaftlicher Terminologie zufrieden zu geben.
31
1.3.
Die psychologische Motivation des "Kreativitäts"-Begriffs: die behavioristische Sprachpsychologie
1.3.1. Die positivistische Basis des Behaviorismus Die wissenschaftstheoretische Implikation des Konzepts der "Kreativität" macht es nötig, zunächst auf die philosophischen Grundlagen des Behaviorisraus einzugehen. Er war das Resultat der entscheidenden Reorientierung und Systematisierung der empiristischen Auffassung über wissenschaftliche Theorien, die durch den Neopositivismus geleistet worden war. Zugrunde lag ihr die Einsicht, daß eine Philosophie, die den Anspruch erhob, auf apriorischem Weg zu Wirklichkeitsbehauptungen oder zu normativen Aussagen zu gelangen, "Scheinproblemen" zum Opfer falle und deshalb als Wissenschaft irrelevant sei: Einsichten in die Beschaffenheit und die Gesetzesartigkeit der realen Welt seien nur durch empirische Kontrolle, nicht aber durch reines Nachdenken möglich. Die Objekte der philosophischen Forschung dürfen deshalb nicht Dinge und Ereignisse der realen Welt sein, sondern die wissenschaftlichen Aussagen und Begriffe, die über der Betrachtung der Dinge entstehen. Aufgabe der Philosophie ist es vorallem, "die Grundbegriffe und Denkverfahren der ein2 zelnen Wissenschaften zu klären." Diese Forderung findet ihren Niederschlag in einer Analyse der wissenschaftlichen Sprache: denn wissenschaftliche Aussagen sind dies nur dann, wenn sie verständlich, d.h. fest definiert sind. Die Begriffe einer Wissenschaft müssen entweder formale oder empirische Begriffe sein, d.h. solche, deren Berechtigung sich immer sofort aus Beobachtungen erfahren läßt. Alle wissenschaftlichen Aussagen müssen aber logische Aussagen sein. Da die Begriffe einer beobachtungssprachlichen Theorie sprachliche Begriffe sind, und da die Bedingung besteht, daß diese Sprache sowohl der empirischen Basis wie auch den logisch-theoretischen Anforderungen entspricht, muß der Positivismus zwei grundlegende Postulate formulieren: l.
1
2 3
Um zu vollständiger Wissenschaftlichkeit und Prüfbarkeit der Aussagen zu gelangen, benötigt die Wissenschaft eine formale Sprache, die jede Semantik ausschließt und nur syntaktische Relationen ausdrückt: die "inhaltliche" Redeweise bisheriger Sprachen muss durch eine "formale" Redeweise ersetzt werden.3
Die relativ ausführliche Behandlung dieses Themas wird sich vom Schluß her rechtfertigen lassen müssen: von dort her wird sie sich als Basis erweisen, von der aus sich die grundlegenden Differenzen zwischen behavioristisch-strukturalistischen und generativen Methoden der Sprachbeschreibung erklären lassen. Stegmüller, 1969, b:346-47 bes. Carnap in "Der Logische Aufbau der Welt" (1928); "Die Logische Syntax der Sprache" (1934); cf. auch Katz 1969: 24-65; Apel 1967: 23
32 2.
Aussagen über Wirklichkeit können in eine logisch strenge Form übersetzt werden; es besteht die Abbildbarkeit der Welt in einer wissenschaftlichen Sprache, d.h., die Struktur der Wirklichkeit ist eine logische - nur dann nämlich können empirische Aussagen für eine Theorie relevant werden.
Damit ist aber ein erkenntnistheoretisches Problem angeschnitten, das von Positivismus übersehen wird: die Frage der Relation zwischen Zeichen und Ding; gibt es eine Logik der Wirklichkeit, die in der Struktur der Sprache direkt abbildbar ist? Ist der Sprachbenutzer reduziert auf die Funktion der Manipulation von Zeichen? Ein Blick zurück in die Philosophiegeschichte zeigt, daß der Positivismus hier entscheidende Einsichten der Sprachphilosophie vernachlässigt.4 Während Plato mehrheitlich eine "innere" naturgegebene Relation zwischen Zeichen und Bezeichnetem zu postulieren scheint, nimmt Aristoteles eine entgegengesetzte Position ein: Wirklichkeit und ihr sprachlicher Ausdruck sind zwei trennbare Größen; der Mensch kann die Welt, das "so-Sein der Dinge unabhängig von der Sprache erfassen ... die Verbindung zwischen Sprachlichem und Außersprachlichem besteht nicht aus sachlicher Notwendigkeit, sondern durch Setzung des Menschen." Beiden Ansichten ist gemeinsam,