Die Binarismus-Problematik in der neueren Linguistik 3484102373, 9783484102378

Die Buchreihe Linguistische Arbeiten hat mit über 500 Bänden zur linguistischen Theoriebildung der letzten Jahrzehnte in

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Table of contents :
VERZEICHNIS DER ABKÜRZUNGEN
EINLEITUNG
1. DIE NEUERE LINGUISTIK
1.0 Zusammenfassung
1.1 Eine kurze Charakteristik
1.2 Opposition: ein Begriff aus der Phonologie
2. ROMAN JAKOBSON: DIE THEORIE VON DEN BINÄROPPOSITIONEN ALS GRUNDPRINZIP DER PHONOLOGISCHEN ANALYSE
2.0 Zusammenfassung
2.1 Darstellung
2.2 Grundlagen
2.3 Rechtfertigung Jakobsons
3. AUSGEWÄHLTE THEMEN DER BINARISMUSKISKUSSION IM BEREICH DER PHONOLOGIE
3.0 Zusammenfassung
3.1 Phonetik und Phonologie: die mögliche Aufhebung eines Gegensatzes
3.2 Zum Verhältnis von artikulatorischer, akustischer und auditiver Beschreibung
3.3 Zum Problem der Koartikulation
3.4 Zwei methodologische Probleme
3.5 Binarismus: eine Frage von Inhärenz oder Methode?
3.6 Die universelle Gültigkeit
3.7 Der Ausschließlichkeitsanspruch
4. DER BINARISMUS IN DER INFORMATIONSTHEORIE
5. VORLÄUFIGE ZUSAMMENFASSUNG
6. ISOMORPHIE ODER: DIE ÜBERTRAGBARKEIT EINER METHODE
6.0 Zusammenfassung
6.1 Einige Bemerkungen zum Begriff "Isomorphie"
6.2 Merkmalhaltig/merkmallos
6.3 Neutralisierung
7. DIE LINGUISTISCHEN EBENEN
8. BINARISMUS UND GRAMMATIK
8.0 Zusammenfassung
8.1 Ist das Syntagma binär?
8.2 Die Konstituentenanalyse
8.3 Das dichotome Verfahren der Transformationellen Grammatik
8.4 Merkmalhaltig/merkmallos in der Grammatik
9. BINARISMUS UND SEMANTIK
9.0 Zusammenfassung
9.1 Die Wiederentdeckung der Bedeutung
9.2 Verschiedene Ansätze zur Strukturierung der Bedeutung
9.3 Wort- und Kontextsemantik
9.4 Wortsemantische Strukturierungsversuche: die paradigmatische Dimension
9.5 Der kontextuelle Aspekt: die syntagmatische Dimension
9.6 Die automatische Übersetzung
ANHANG
Zusammenfassung
Exkurs 1 Binarismus: Inhärenz oder Methode? Ein Test mit Schülern
Exkurs 2 Ein Anwendungsbereich der Antonyme: "Testsemantik"
Exkurs 3 "Tertium non datur": Das Binärschema des Fragebogens
Exkurs 4 Binarismus und außerlinguistischer Kommunikationsbereich
1. "Semiotik"
2. Einige Beispiele
3. Zu Levi-Strauss
ZUSAMMENFASSUNG
LITERATUR
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Die Binarismus-Problematik in der neueren Linguistik
 3484102373, 9783484102378

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Linguistische Arbeiten

28

Herausgegeben von Herbert E. Brekle, Hans Jürgen Heringer, Christian Rohrer, Heinz Vater und Otmar Werner

Gert Henrici

Die Binarismus-Problematik in der neueren Linguistik

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1975

ISBN 3-484-10237-3

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1975 Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege zu vervielfältigen. Printed in Germany

VORWORT

Die vorliegende Arbeit wurde von Herrn Prof. Dr. H. Weinrich angeregt und in vielfacher Weise gefördert. Ich möchte ihm an dieser Stelle meinen Dank sagen. Gleichzeitig danke ich für zahlreiche Anregungen: Herrn Dr. R. Drommel, Herrn K. Gottwald, Herrn Prof. Dr. G. Heike, Herrn Prof. Dr. S. J. Schmidt und Herrn Dr. E. Thürmann.

Bielefeld, im Frühjahr 1974

Gert Henrici

INHALT

VERZEICHNIS DER ABKÜRZUNGEN EINLEITUNG 1.

2.

XI XIII

DIE NEUERE LINGUISTIK 0 . O Zusammenfassung

1

1.l Eine kurze Charakteristik

1

1.2 Opposition: ein Begriff aus der Phonologie

3

ROMAN JAKOBSON: DIE THEORIE VON DEN BINÄROPPOSITIONEN ALS GRUNDPRINZIP DER PHONOLOGISCHEN ANALYSE

3.

1

6

0.O Zusammenfassung

6

1.l Darstellung

6

2. 2 Grundlagen

24

2.3 Rechtfertigung Jakobsons

31

AUSGEWÄHLTE THEMEN DER BINARISMUSKISKUSSION IM BEREICH DER PHONOLOGIE

36

3.0 Zusammenfassung

36

3.1 Phonetik und Phonologie: die mögliche Aufhebung eines Gegensatzes

37

3.2 Zum Verhältnis von artikulatorischer, akustischer und auditiver Beschreibung

42

3. 3 Zum Problem der Koartikulation

52

3.4 Zwei methodologische Probleme

56

3 . 4 . 1 Einfachheit und Ökonomie 3 . 4 . 2 Apriorismus: ein Vorwurf von Andre Martinet

56 61

3.5 Binarismus: eine Frage von Inhärenz oder Methode?

67

3.6 Die universelle Gültigkeit

73

3.7 Der Ausschließlichkeitsanspruch

76

4.

DER BINARISMUS IN DER INFORMATIONSTHEORIE

85

5.

VORLÄUFIGE ZUSAMMENFASSUNG

88

6.

ISOMORPHIE ODER: DIE ÜBERTRAGBARKEIT EINER METHODE

90

6.0 Zusammenfassung

9O

VIII 6.1 Einige Bemerkungen zum Begriff "Isomorphie"

90

6.2 Merkmalhaltig/merkmallos

94

6. 3 Neutralisierung

99

7.

DIE LINGUISTISCHEN EBENEN

109

8.

BINARISMUS UND GRAMMATIK

114

8.O Zusammenfassung 8. l Ist das Syntagma binär?

115

8. 2 Die Konstituentenanalyse

124

8.3 Das dichotome Verfahren der Transformationellen Grammatik

131

8.4 Merkmalhaltig/merkmallos in der Grammatik

134

8.4.1 Jakobson: grammatische Bedeutungen 8.4.2 Beispiele binärer Gliederung von verbalen und nominalen grammatischen Kategorien 9.

134 143

BINARISMUS UND SEMANTIK

171

9.0 Zusammenfassung

171

9. l Die Wiederentdeckung der Bedeutung

172

9.2 Verschiedene Ansätze zur Strukturierung der Bedeutung

176

9. 3 Wort- und Kontextsemantik

183

9.4 Wortsemantische Strukturierungsversuche: die paradigmatische Dimension

184

9.4. l 9.4.2 9.4.3 9.4.4

Rückblick auf die Feldforschung Die Strukturierung des Lexikons Antonyme Der mikrostrukturelle Ansatz: semantische Merkmale

185 187 191 203

1.4.4.l "Componential Analysis" 9 . 4 . 4 . 2 Seme und Noeme 9 . 4 . 4 . 3 Der Feldbegriff aus neuer Sicht: Eugenio Coseriu.

205 211 223

9.4.5 Kritische Bemerkungen zum mikrostrukturellen Ansatz 9.5 Der kontextuelle Aspekt: die syntagmatische Dimension 9.5.1 Distribution und Kollokation 9.5.2 Die semantische Komponente der Transformationellen Grammatik 9.6 Die automatische Übersetzung

228 231 231 237 245

ANHANG

250

Zusammenfassung

25O

Exkurs 1 Binarismus: Inhärenz oder Methode? Ein Test mit Schülern

Exkurs 2 Ein Anwendungsbereich der Antonyroe: "Testsemantik"

250

253

IX

Exkurs 3 "Tertium non datur": Das Binärschema des Fragebogens

259

Exkurs 4 Binarismus und außerlinguistischer Kcnitiunikationsbereich ....

267

1. "Semiotik"

267

2. Einige Beispiele

27O

3. Zu Levi-Strauss

277

ZUSAMMENFASSUNG

285

LITERATUR

287

VERZEICHNIS DER ABKÜRZUNGEN

AmA

American Anthropologist

BSL

Bulletin de la Societe de Linguistique de Paris (Paris)

CFS

Cahiers Ferdinand de Saussure (Genf)

CPh

Classical Philology (Chicago)

FAZ

Frankfurter

FL

Foundations of Language, International Journal of Language and Philosophy (Dordrecht)

Fol. Ling.

Folia Linguistica. Acta Societas Linguisticae Europaeae (Den Haag)

FU

Der fremdsprachliche

IJAL

International Journal of American Linguistics (Baltimore)

IRAL

International Review of Applied Linguistics/Internationale Zeitschrift für angewandte Linguistik in der Spracherziehung (Heidelberg)

JASA

Journal of the Acoustical Society of America

JL

Journal of Linguistics (Cambridge)



Linguistische Berichte (Braunschweig)

Lg.

Language. Journal of the Linguistic Society of America (Baltimore)

LiLi

Zeitschrift

LuD

Linguistik und Didaktik (München)

MIT

Massachusetts Institute of Technology

NM

Neusprachliche Mitteilungen aus Wissenschaft

NTS

Norsk Tidsskrift

PBB

Paul und Braunes Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur (Halle und Tübingen)

Praxis

Praxis des neusprachlichen Unterrichts (Dortmund)

RLing

Revue de Linguistique (Bukarest)

RPh

Romance Philology

SaS

Slovo a Slovesnost (Prag)

SL

Studia Linguistica. Revue de linguistigue generale et compares (Lund)

STL-QPSR

Allgemeine Zeitung (Frankfurt)

Unterricht

(Stuttgart)

für Literaturwissenschaft

for Sprogvidenskap

und Linguistik

(Frankfurt)

und Praxis (Berlin)

(Oslo)

(Berkeley, Los Angeles)

Speech Transmission Laboratory-Quaterly Progress and Status Report

STZ

(Menasha, Wise.)

(Stockholm)

Sprache im technischen Zeitalter (Stuttgart)

XII

TCLC

Travaux du Cercle Linguistique de Copenhague (Kopenhagen)

TCLP

Travaux du Cercle Linguistique de Prague (Prag)

TIL

Travaux de l 'Institut de Linguistique de Paris (Paris)

TLP

Travaux Linguistiques de Prague (Prag)

TLL

Travaux de Linguistique et de Litterature (Straßburg)

WSJb

Miener Slavistisches Jahrbuch

WW

Wirkendes (fort. (Düsseldorf)

ZDL

Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik (früher: ZMF Zeitschrift für Mundartforschung) (Wiesbaden)

ZDS

Zeitschrift

für deutsche Sprache

ZfRPh

Zeitschrift

für Romanische Philologie (Tübingen)

ZPSK

Zeitschrift für Phonetik, Sprachwissenschaft Kommunikationsforschung (Berlin)

(Wien)

Deutsches Sprachschaffen

in Lehre und Leben

(Berlin) und

EINLEITUNG

Die Untersuchung verfolgt das Ziel, einen umfassenden Überblick zur Binarismus-Problematik in der neueren Linguistik zu geben. Ausgehend von der Theorie Roman Jakobsons wird der Binarismus und die um diesen Begriff entstehende Diskussion auf den verschiedenen "system"linguistischen Ebenen und andeutungsweise im außersprachlichen Bereich dargestellt und analysiert. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen methodologische Fragen. Es wird z. B. erörtert, ob der Binarismus ein inhärentes Phänomen oder ein methodisches Problem darstellt. Inwieweit ist der Binarismus auf aprioristischen Prinzipien gegründet? Wie steht es mit der universellen Gültigkeit und dem Ausschließlichkeitsanspruch des dichotomen Prinzips? Die Arbeit macht also auf bestimmte thematische Schwerpunkte der Binarismus-Problematik und ihre Dimensionen aufmerksam. Sie versteht sich weniger als eine tentative Theorie, vielmehr als eine ausführliche Problemanalyse zum Binarismus, was bedingt, daß in Detailfragen ein restriktives Verfahren angewandt werden mußte. Daneben will die Untersuchung indirekt auf die Verdienste Roman Jakobsons hinweisen, dessen Überlegungen in hervorragender Weise anregend auf die Disziplinen der Linguistik und anderer Wissenschaften gewirkt haben, auch wenn sie nicht immer allgemeine Anerkennung gefunden haben.

DIE NEUERE LINGUISTIK

1.0

Zusammenfassung

Es werden einige wenige Erläuterungen zum Begriff "neuere" Linguistik gegeben. Dazu gehört die Gegenüberstellung von traditioneller historischer Sprachwissenschaft und moderner strukturaler Linguistik, die sprachliche Erscheinungen nicht isoliert sondern in ihrem Systemzusaimenhang betrachtet. Es wird gezeigt, wie sich der Begriff "Opposition" in der strukturalen Prager Phonologie über Trubetzkoy bis hin zur binären Merkmaltheorie Jakobsons entwickelt. Die Unterschiede zwischen Trubetzkoys und Jakobsons Auffassungen werden verdeutlicht. Die Wichtigkeit der Binärtheorie Jakobsons wird anhand von Aussagen einiger Linguisten dokumentiert. 1.1

Eine kurze Charakteristik

Seit dem im Jahre 1916 erschienenen .Buch Cours de Linguistique generate des Genfer Linguisten Ferdinand de Saussure pflegen wir von der neueren oder modernen Linguistik zu sprechen. Sie stellt sich neben oder ersetzt die bis dahin gültige oder vorherrschende historisch-vergleichende Sprachwissenschaft. Es wäre jedoch falsch, seit dieser Zeit von einer einheitlichen Linguistik zu sprechen. Im Gegenteil, immer mehr linguistische Strömungen und Schulen sind entstanden, die sich ständig weiter auseinanderzuleben drohen. Ännlich wie bei Saussure ist für den sog. Strukturalismus die Frage entscheidend, wie eine Sprache aufgebaut ist, und wie sie sinnvoll beschrieben werden muß. Menschliche Äußerungen werden nicht als beziehungslos nebeneinander stehende Einzelerscheinungen betrachtet vielmehr auf dem Boden eines 2 systematischen Zusammenhangs, der ihre Struktur bestinntt. Wenn auch Martinet von der "etiquette trompeuse de 'structuralisme'" spricht, unter der sich die verschiedenen Schulen und Theorien der einzelnen 1 2

3

A. Martinet, "The unity of linguistics", Word ( 1 9 5 4 ) , 121. E. Fischer-J0rgensen, "What can the new techniques of acoustic phonetics contribute to linguistics?", In: S. Saporta ( H r s g . ) , Psycholinguistics. A book of readings. (New York - Chicago - San Francisco - Toronto - London, 1961), 112. A Martinet, Economic des changements phonetiques. Traite de phonologie diachronique. (Bern, 2 1 9 6 4 ) , 11.

Forscher saimeln, so ist der Bruch mit der Tradition, der rein historischen Sprachforschung allgemein; die Hinwendung zu einer neuen linguistischen Methodologie wird vollzogen. Haimiersträm nennt u. a. als wesentliches Prinzip der synchronischen Linguistik: "Eine sprachliche Größe kann nun aber nur durch ihre Relationen zu anderen Größen, die gleichzeitig der Sprache angehören; bestimmt wer4 den." Die Frage nach dem Zweck der Sprachklänge wird gestellt, die sprachlichen Laute werden unter dem Gesichtspunkt ihres Zeichenwerts und ihrer bedeutungsdifferenzierenden Funktion untersucht. Nun wäre es aber falsch, die sog. diachronische Sprachbetrachtung aus dem Bereich der neueren Linguistik auszuschließen. Noch Saussure sieht in den Begriffen "Synchronie" und "Diachronie" einen unüberbrückbaren Gegensatz. Seit den Arbeiten der Prager Phonologie um das Jahr 193O ist diese Charakterisierung nicht mehr zutreffend. Es gelten auch für die diachronische Sprachbetrachtung synchronische, funktionale Gesichtspunkte. Die vorhergehenden Überlegungen hatten zum Ziel, einige wenige Erläuterungen zu dem Begriff "neuere Linguistik" zu geben und zu zeigen, daß Bezeichnungen wie "moderne", "strukturale" und auch "synchronische Linguistik" inhaltlich gleiches, zumindest ähnliches meinen, was man trotz vielfältiger Richtungen und Strömungen einzelner Schulen wie z. B. der Prager oder Kbpenhagener Schule, amerikanischer Entwicklungen bis zur Generativen Grammatik Chomskys und deren Nachfolgerinnen mit dem Begriff "funktionale Sprachbetrachtung" kennzeichnen könnte. Diese Bewegung, die sich radikal von der Betrachtung einzelner isolierter Erscheinungen in der Sprache abgewandt hat, diese Elemente vielmehr als "mutually interdependent elements" eines umfassenden Systems Sprache untersucht, umreißt Jakobson deutlich mit folgenden Vtorten: "La phonologie (hinzugefügt werden kann: coimne toute la linguistique moderne) oppose ä la methode isolatrice des neogrammairiens une methode integrale."8 4

5 6

7 8

G. Hammerström, Linguistische Einheiten im Rahmen der modernen Sprachwissenschaft. (= Kommunikation und Kybernetik in Einzeldarstellungen, Bd. V) (Berlin - Heidelberg - New York, 1 9 6 6 ) , 6 4 . F. de Saussure, Cours de linguistique generale. (Paris, 1968; 1916), 119. Vgl. R. Jakobson, "Principes de phonologie historique", In: Selected Writings, Bd. I. (Den Haag, 1962), 2O2f. Ders., "Le langage commun des linguistes et des anthropologues", In: Essais de linguistique generale, Übers, und hg. N. Ruwet (Paris, 1963), 3 6 f . B. Malmberg, New trends in linguistics C= Bibliotheca Linguistica, Bd. I) (Stockholm und Lund, 1964), 39. R. Jakobson, Principes de phonologie historique, 2O2.

1 .2

Opposition: ein Begriff aus der Phonologie

Man kann mit van Wijk sagen, "daß die Phonologie der erste im Rohbau verwirkg lichte Abschnitt der strukturalen Linguistik ist". Martinet betont, daß die Phonologie nicht nur ein Kapitel der neuen funktionalen und strukturalen Linguistik ist;

man sollte nicht vergessen, daß sie am Anfang der Neuorientierung

der Wissenschaft von der Sprache gestanden hat.

Lausberg sieht in der konse-

quenten Organisation und Durchführung phonologischer Untersuchungen den dauernden Verdienst des Prager Linguistenzirkels.

Neben Trubetzkoy und

Jakobson gilt u. a. Martinet als einer seiner bedeutendsten Vertreter. Sowohl Trubetzkoy als auch Jakobson teilen die phonologische Analyse in zwei Abschnitte. "Auf die Segmentation des Schallflusses in phonologische Einheiten folgt bei Trubetzkoy das Herausarbeiten des phonologischen Gehalts, bei Jakobson-die analytische Transkription der Phoneme in "distinctive features'".

12

Für Malmberg hat das "Distintive features-Konzept" innerhalb

der strukturalen Linguistik eine ebenso große Bedeutung wie die Begriffe "Phonem" und "Zeichen". Er schreibt: "If the linguistic mechanism is a game with oppositions and identities, we have to face the problem: what is the minimal difference between the terms of an opposition?"

Ähnliche Überlegun-

gen finden wir bei Jakobson: "L'identification et la differenciation ne sont que les deux faces d'un seul et meme problems, qui est le problems principal 14 de toute la linguistique." Damit stehen wir bei einem wesentlichen Merkmal der phonologischen Methode, dem Begriff der Oppositionen, die nach Horälek "einen bedeutenden Teil des europäischen, linguistischen Strukturalismus ausmachen." 9

10 11

12 13

14 15

Die Ver-

N. van W i j k , Phonologie, een hoofdstuk uit de structurele taalwetenshap. (Den Haag, 1939). Zit. nach R. Jakobson, "Zur Struktur des Phonems", In: Selected Writings, Bd. I (Den Haag, 1962), 284. A. Martinet, La linguistique synchronique (Paris, 1969), 37. H. Lausberg, "Über Wesen und Aufgaben der Phonologie - eine Einführung", Zeitschrift für Phonetik und allgemeine Sprachwissenschaft 5/6 ( 1 9 4 9 ) , 250. G. Ungeheuer, "Das logistische Fundament binärer Phonemklassifikationen", SL 13 (1959), 70. B. Malmberg, Structural linguistics and human communication. An introduction into the mechanism of language and the methodology of linguistics (= Kommunikation und Kybernetik in Einzeldarstellungen, Bd. II) (Berlin Heidelberg - New York, 1963), 117. R. Jakobson, "Le langage commun", 39. K. Horälek, "A propos de la theorie des oppositions binaires", Proc. of the 9th Int. Congr. of Ling. London (Den Haag - Paris, 1964), 414.

bindung zu Saussure läßt sich leicht feststellen. Seine berühmte Formel "tout est opposition" beweist das.

Es ist aber gerade die Theorie von den

Oppositionen, die Trubetzkoy und Jakobson deutlich voneinander unterscheidet. Trubetzkoy läßt seine frühere Definition fallen, nach der es nur zwei Arten von linguistischen Oppositionen gibt, die Korrelationen und Disjunktionen. 17 Er betont später, daß die Oppositionen vielfältiger sind, daß die Binäroppositionen nur einen Fall von vielen Möglichkeiten darstellen. Jakobson hingegen besteht darauf, daß die linguistischen Oppositionen in ihrem Wesen nur binär sind: " [ . . . ] , qu'un principe dichotomique est a la base de tout le 1 ft Systeme des traits distinctifs du langage." Wie eng jedoch die Begriffe "correlation" und "opposition binaire" zusammenhängen, zeigen die Worte Martinets: "Une correlation devrait etre le rapport entre des termes tel que 19 l'existence de l'un fasse necessairement supposer l'existence de l'autre." Das ändert jedoch nichts an der unterschiedlichen Auffassung der beiden Vertreter der Prager Schule, die Leroy mit folgenden Worten zusammenfaßt: "Ainsi, au Systeme souple de Troubetzkoy [ . . . ] , Jakobson oppose un binarisme radical."20 Welche Bedeutung den Thesen Jakobsons zukommt, warum eine derart umfangreiche Diskussion um die sog. Binäroppositionen in der neueren Linguistik, vor allem in der Phonologie, entsteht, ja daß sie selbst einen wesentlichen Teil moderner, strukturalistischer Sprachwissenschaft bilden, beweisen die Aussagen einer Anzahl von Linguisten. Whatnough sieht in der Arbeit Jakobsons und seiner Mitarbeiter "eine ent21 scheidende Beeinflussung der Geschichte linguistischer Theorie". De Groot hält die Theorie von den Binäroppositionen für "one of the epoch-making 22 discoveries in structural linguistics of the twentieth century". Ähnlich enthusiastisch äußert sich Bush in ihrem Urteil über die Preliminaries to speech analysis, oder Brosovic: "The binary theory of distinctive features 16 17 18 19 20 21

22

23

F. de Saussure, Cours, 168. N. S. Trubetzkoy, Grundzüge der Phonologie (Göttingen, 4 1967; i l Q S S ) , 7 7 f . R. Jakobson, "Linguistique et theorie de la communication", In: Essais de linguistique generale (Paris, 1963), 88. A Martinet, "Substance phonique et traits distinctifs", BSL 53 (1957/58), 78. M. Leroy, Les grands courants de la linguistique moderne (Brüssel und Paris, 1963), 92. J. Whatmough, Besprechung von R. Jakobson, C. G. M. Fant, und M. Halle, Preliminaries to speech analysis. (Cambridge, M a s s . , 1 9 5 2 ) , CPh 49 ( 1 9 5 4 ) , 137. A. W. de Groot, Besprechung von R. Jakobson, C. G. M. Fant und M. Halle, Preliminaries to speech analysis (Cambridge, Mass., 1 9 5 2 ) , Word 9 (1953), 60. C. Bush, Phonetic variation and acoustic distinctive features. A study of four American fricatives (= Janua Linguarum, Series Practica 12) (London - Den Haag - Paris 1 9 6 4 ) , 17.

is today the most promising linguistic trend; it is, in fact, the main current of linguistic events in the world."24 wie wichtig und notwendig eine Darstellung der Binarismus-Diskussion ist,

die im Anschluß an die Theorie

Jakobsons entstanden ist, zeigen auch folgende Bemerkungen Saumjans: "At present the binary theory of distinctive features [... ] is becoming more and more wide-spread."

In wieweit diesen Worten zu glauben ist, wird die Aus-

einandersetzung um die Thesen Jakobsons zeigen.

24 25

D. Brosovic, "Some remarks on distinctive features especially in standard Serbocrotian", In: To honor Roman Jakobson. Essays on the occasion of his seventieth birthday, 11 October 1966) Vol. I (Den Haag und Paris, 1967), 412 S. K. Saumjan, "Two-level theory of phonology", In: Proc. of the 4th Int. Congr. of Phon. Sciences (Den Haag, 1962), 761.

R. JAKOBSON: DIE THEORIE VON DEN BINÄROPPOSITIONEN ALS GRUNDPRINZIP DER PHONOLOGISCHEN ANALYSE

2.0

Zusammenf assung

Die Vorstellungen Jakobsons und seiner Mitarbeiter zur dichotomen phonologischen Analyse werden ausführlich dargestellt. Dazu gehören u. a. Erläuterungen zum Begriff "binär", zur Phonem- und Merkmaltheorie Jakobsons. Seine "analytische Transskription von Phonemen" wird am Beispiel des Französischen verdeutlicht. In die Darstellung fließen jeweils kritische Stellungnahmen zu folgenden Themenkomplexen ein: linguistisches oder außerlinguistisches Verfahren der Merkmalanalyse, Invarianzproblem, Terminologie und Definition der Merkmale, identische Merkmalbeschreibung von Vokalen und Konsonanten, distinktive (redundante) und expressive Merkmale im Hinblick auf binäre/analoge Klassifizierung, Kompatibilität bzw. Inkompatibilität von phonetischer und phonologischer Beschreibung, Relation von paradigmatischer und syntagmatischer Phonologie. Es wird die problematische Beziehung und Begründung der Binärthese Jakobsons auf Erkenntnisse und Verfahren außerlinguistischer Wissenschaften diskutiert. Dazu gehören Logik, Mathematik und deren Anwendungsbereiche, außerdem Physiologie und Psychologie. In diesen Zusammenhang fällt die Erörterung der Relation von "kontradiktorisch" und "konträr" im Rahmen der Prager Phonologie. Schließlich wird der Rechtfertigungsversuch des Binarismus durch Jakobson anhand von Forschungsergebnissen aus der akustischen Phonetik erläutert, die traditionelle artikulatorische Beschreibungen ergänzen bzw. ersetzen sollen. 2.1

Darstellung

Es war schon die Rede von Oppositionen, von binären Oppositionen, wobei der Begriff "binär" noch nicht näher, umfassend genug erläutert wurde. Jakobson und seine Mitarbeiter gebrauchen ihn immer wieder. Hier einige Belege: "The totality of these features (distinctive features) is the minimum number of binary selections necessary for the specification of the phoneme", "our l

R. Jakobson und M. Halle, Fundamentals of language (= Janua Linguarum 1) (Den Haag, 1956), 45.

assumption is that every language operates with a strictly limited number of underlying ultimate distinctions which form a set of binary oppositions", oder "all distinctive features are binary". Für "binär" steht u. a. auch der Begriff "dichotomisch": "Ihe dichotomous scale is superimposed by language 4 upon the sound matter." Im Zusartmenhang mit der Informationstheorie schreibt Seiffert: "binary kommt von lateinisch bini = je zwei, heißt hier also soviel wie: auf das Zweiersystem bezogen; [...]." Der Begriff "Binarismus" hingegen ist von Jakobson niemals gebraucht worden; er bezieht sich auf die Theorie Jakobsons, was die Definitionen in zwei terminologischen Lexika zeigen. Dagegen geben Marouzeaus Erläuterungen wenig her. Interessanter ist folgende Bemerkung Pilchs: " [ . . . ] , daß jedes Phonem an möglichst vielen und an wenigstens einer binären Cpposition teilhat. Diese Art der Interpretation führt D den Namen Binarismus." Die vorhergehenden Überlegungen bedürfen der genauen Bestätigung durch q die Darstellung der Ihesen Jakobsons, die in kürzeren Abhandlungen, vor allem in den Fundamentals of language und den Preliminaries to speech analysis als seinen Hauptwerken enthalten sind; Begriffe wie "Phonem", "distinktive Merkmale" oder "binäre Oppositionen" müssen in einem Zusammenhang gesehen werden. Die kommunikative Funktion der Sprache ist für Jakobson als Vertreter der neueren Linguistik selbstverständlich. Sie wird gewöhnlich an einem aus der Fernmeldetechnik entlehnten Modell veranschaulicht, 2 3 4

5 6

7 8 9

10

11 12

12

dem folgende Gedanken

R. Jakobson und J. Lotz, "Notes of the French phonemic pattern", In: Selected Writings, Bd. I, (Den Haag, 1 9 6 2 ) , 4 2 7 . M. Halle, The sound pattern of" Russian. A linguistic and acoustical investigation (Den Haag, 1959), 19. R. Jakobson, C. G. M. Fant, M. Halle, Preliminaries to speech analysis (= MIT: Technical Report No. 13) (Cambridge, Mass., ( 2 1 9 5 2 ) , 11. Vgl. auch den Begriff "dyadic" "Fundamentals, S. V I ) . H. S e i f f e r t , Information über die Information (München, 1970), 46. M. Pel, Glossary of linguistic terminology, (New York und London, 1966); F. Vachek, Dictionnaire de linguistique de 1'ecole de Prague (Utrecht und Antwerpen, I960), 56. J. Marouzeau, Lexigue de la terminologie linguistigue (Paris, 1951). H . Pilch, Pnonemtheorie. T. I. (= Bibliotheca Phonetica, Bd. I) (Basel und New York, 1964), 131. Jakobsons Mitarbeiter Fant und besonders Halle werden in der Folge nicht immer ausdrücklich erwähnt, es sei denn, sie treten als selbständige Verfasser a u f . Vgl. die Anmerkungen l und 4, S. 6 und 7. Die erste Skizze der Theorie von den phonologischen Binäroppositionen stammt aus dem Jahr 1938, sie findet sich in: R. Jakobson, "Observations sur le classement phonologique des consonnes", In: Selected Writings, 272-279. R. Jakobson, "Linguistique et theorie de la communication", 87-99. C. E. Shannon und W. Weaver, The mathematical theory of communication (Urbana, ^1959; l j . 9 4 9 ) , 98. Vgl. auch: C. Cherry, On human communication. A review, a survey and a criticism (New York, 1957) (deutsch: Kommunikationsforschung - eine neue Wissenschaft [ F r a n k f u r t , 1963])

8

zugrundeliegen: Zwischen einem Sender (Sprecher) und Empfänger (Hörer) wird Information übertragen, die aus einzelnen Elementen besteht, die der Empfänger aus der übermittelten "Lautmasse" identifiziert. Diese Elemente ermöglichen eine Verständigung, d. h. ein Verstehen des message, vorausgesetzt, der Code ist beiden vertraut. Besonders diese Elemente interessieren Jakobson; von ihnen gehen seine Überlegungen aus: "L'analyse linguistique, cependant, est arrive ä resoudre le discours oral en une serie finie d1informations elementaires." Ebenso ist es für Pilch unbestreitbar, "daß wir gehörte Rede", darum geht es ja vor allem im Kommunikationsprozeß, "in vielen Fällen als Folge von bestimmten diskreten Segmenten interpretieren können". 14 Chao sagt in seiner Besprechung der Preliminaries, daß in der Konzeption der Autoren "the components of language are discrete and not continuous", was Halle bestätigt. Zu den diskreten Segmenten der Sprache gehört nach Jakobson selbstverständlich das Phonem, ein reiner Funktionsbegriff; es nimmt jedoch unter allen sprachlichen Werten einen besonderen Platz ein, denn jeder Satz, jedes Wort, jedes Morphem besitzen eine ihnen eigene, bestimmte Bedeutung. Das Phonem hat jedoch keine solche positive Bedeutung, es hat allein bedeutungsunterscheidende Funktionen. Jakobson betont, daß dem Unterschied z. B. zweier Morpheme ein bestimmter gleichbleibender Bedeutungsunterschied entspricht; dem Unterschied zweier Phoneme entspricht zwar die Tatsache eines Bedeutungsunterschiedes, sein Inhalt ist jedoch weder bestimmt noch gleichbleibend. Jakobson nimmt die Unterscheidung von "signifiant" und "signifie" bei Saussure auf und folgert, daß sich bei Phonemen ein Unterschied nur im Bereich des Bezeichnenden zeigt, während im Bereich des Bezeichneten nur eine Unterscheidungsmöglichkeit erkennbar ist. 18 Im Gegensatz zur traditionellen Sprachwissenschaft, die sich vornehmlich nur für Fragen der zeitlichen Folge, des Nacheinander in der Behandlung von Sprachlauten interessierte, beginnt sich die neuere Linguistik mit der paradigmatischen Ebene zu beschäftigen. Aber auch für Saussure bleibt eine Phonemfolge noch linear und ein Phonem punktartig. Jakobson ist der Auffassung, daß diese Position lange Zeit die Analyse nach "unterscheidenden Merkmalen" entscheidend behindert habe. 19 13 14 15

R. Jakobson, "Linguistique et theorie de la communication", 87. H. Pilch, Phonemtheorie, 85. Y. R. Chao, Besprechung von R. Jakobson, C. G. M. Fant and M. Halle, Preliminaries to speech analysis (Cambridge, Mass. 1 9 5 2 ) , RPh 8 ( 1 9 5 4 ) , 41, 16 M. Halle, "The strategy of phonemics", Word 1O ( 1 9 5 4 ) , 197. 17 R. Jakobson, "Kindersprache, Aphasie und allgemeine Lautgesetze", In: Selected Writings, 347. 18 Ders., "Zur Struktur des Phonems", In: Selected Writings, 299. 19 Ders., "Retrospect", In: Selected Writings, 636.

Es ist seih Verdienst, herausgefunden zu haben, daß das Sprachgebilde im ganzen wie ^^^ Sprachzeichen im besonderen zweidimensional sind. Das heißt, jedes sprachliche Ganze setzt beide Achsen voraus, es ist ein Teil der syntagmatischen und assoziativen, oder nach Hjelmslev paradigmatischen, Ebene. So wie die Phoneme einer bestimmten Sprache ein System von Abfolgen bilden, so besteht das Phonemsystem aus seinen Bestandteilen, aus den sog. "unterscheidenden Merkmalen".

Ähnlich wie die linguistische Analyse schrittweise

große Einheiten der Rede z. B. den Text in Sätze bis hin zu den Morphemen zerlegt, die letztmöglichen Einheiten, die einen Sinn enthalten, so werden die Morpheme in ihre letzten Elemente, die Phoneme, aufgelöst, die wiederum in dinstinktive Qualitäten zerfallen. Jakobson beschreibt sie wie folgt: "Chaque trait distinctif implique un choix entre les deux termes d'une opposition qui presente une propriete differentielle specifique, differente des proprieties de toutes les autres oppositions."

An anderer Stelle sagt er: "Language has

no other way to convey a semantic difference than through the distinctive 23 features." Wir entnehmen diesen Äußerungen, daß Jakobson dem Phonem eine Mittelstellung zwischen Morphemen und distinktiven Merkmalen zuweist und keinesfalls der Ansicht Chomskys zustimmt, die phonologische Zwischenebene, 24 die eigentliche phonematische Ebene, als überflüssig anzusehen. Chcmskys "phonologische Komponente" enthält bekanntlich nur noch zwei Darstellungsebenen, von denen die sog. "systematisch-phonetische Ebene" der Ebene der unterscheidenden Merkmale im Sinne Jakobsons entspricht, welche die Elemente der Information bilden und die Entschlüsselung des "message" erst ermöglichen. Ablehnend äußert sich auch Ebeling in einem etwas anderen Sinn: "We cannot but say that Jakobson's assumption of the same devices for the breaking up of 20 21 22 23 24

Ders., "For the correct presentation of phonemic problems", In: Selected Writings, 435. engl. "distinctive features", franz. "traits distinctifs". F.Jakobson und M. Halle, "Phonologie et Phonetique", In: Essais de linguistique generate, 1O4. P. Jakobson, "Retrospect", 656. N. Chomsky, Besprechung von R. Jakobson und M. Halle, Fundamentals of language (Den Haag, 1956), UAL 23 ( 1 9 5 7 ) , 238; siehe auch: N. Chomsky/M. Halle, The sound pattern of English (New York-Evanston-London, 1968), 11. Vgl. auch: H. Birnbaum, "Syntagmatische und paradigmatische Phonologie", In: Wiener Slavistisches Jahrbuch, Ergänzungsbd. VI: Phonologie der Gegenwart (Graz-Wien-Köln, 1967), 311; F. W. Householder J r . , "On some recent claims in phonological theory", JL 1 ( 1 9 6 5 ) , 32, der der These Halles ("Phonology in generative grammar", Mord 18 ( 1 9 6 2 ) , 54-57) von der größeren Ökonomie der Merkmal- gegenüber der Phonemdarstellung widerspricht. Dazu: P. H. Matthews, "Some remarks on the Householder-Halle controversy", JL 4 (1968), 275-283, wo das Problem Merkmale-Phoneme eingehend erörtert wird, wobei Matthews eine Mittlerrolle einnimmt.

10

the phonemes into distinctive features and the division of the morphemes into phonemes leads us into a deadlock."

25

Im Gegensatz zu Chomsky hält er den

Phonembegriff für eine unentbehrliche Einheit. Auch Pilch wendet sich dagegen, das Phonem durch dessen Komponenten, die unterscheidenden Merkmale, einfach zu ersetzen; er tritt ausdrücklich für das Phonem als Grundeinheit der Analyse 27 ein, sein wichtiges Werk Phonemtheovie zeugt davon. Birnbaum weist in diesem

Zusaimvenhang auf die Überlegungen Malmbergs hin, der betont, daß sich die Merkmale direkt auf die physischen Lautqualitäten beziehen. Das Phonem dagegen iar, 28 was von Jakobson bestätigt, 29 hingegen stelle eine abstraktere Einheit dar, 30 etwa von Kramsky bestritten wird.' Die Bedeutung der distinktiven Merkmale steht bei Jakobson außer Frage. Die mangelnde eigene Kennzeichnung, ihre "Negativität", trennt die distinktiven Qualitäten und ihre Beziehung zum Phonem von allen übrigen linguistischen Einheiten. Erst wenn die linguistische Analyse wie bei Jakobson bis zu den unterscheidenden Merkmalen der Sprachlaute vorstößt, kann sie Saussures Behauptung bestätigen, daß lautliche Einheiten vor allem "entites oppositives" sind. Das Phonem allein ist kein Begriff, der Opposition beinhaltet, es sind die distinktiven Merkmale, die entweder einfache oder komplexe Oppositionen aufweisen. 32 Jakobson widerspricht der oft geäußerten Ansicht, daß das Phonem die einfachste phonologische Einheit sei; er setzt ihr seine eigene, wie er selbst versichert, seit dem Jahr 1932 bestehende Definition entgegen: "So erweist sich das Phonem als eine komplexe Einheit und nämlich als ein Bündel von distinktiven oder, anders ausgedrückt, phonematischen Qualitäten. Die phonematische Qualität ist eine weiter nicht mehr zerlegbare, minimale Einheit des sprachlichen Systems der distinktiven Werte." Bei der Festlegung von Phonemoppositionen zum Zweck der "distinctive feature" Untersuchung wird von Jakobson die traditionelle linguistische Methode der Analyse nach den sog. "minimal 2 25

26 27 28 29 30 31 32 33 34

C.L. Ebeling, Linguistic units (= Janua Linguarum 12) (Den Haag,

1962),

19f. Ibid., 81 Vgl. Anm. 8, S. 7 H. Birnbaum, "Syntagmatische und paradigmatische Phonologie", 331 R. Jakobson, "Kindersprache", 354. J. Kramsky, "Some remarks on the problem of the phoneme", In: To honor Roman Jakobson, Vol. II (Den Haag und Paris, 1967), 1 89. R. Jakobson und M. Halle, "Phonologie et phonetique", 111. R. Jakobson, "On the identification of phonemic entities", In: Selected Writings, 421; Ders., "Retrospect", 637. Ders., "For the correct presentation", 435. Ders., "Zur Struktur des Phonems", 3O3

11

pairs" angewendet, d. h. die Methode, die Gleichheit oder Verschiedenheit durch das Konnutationsverfahren in gleichem oder ähnlichem phonetischen Kontext feststellt (Vgl. Fundamentals of language3 3). Bush weist daraufhin, daß es eine Reihe von Linguisten gibt, die Vorbehalte äußern, was den Gebrauch der distinktiven Merkmalanalyse als Grundlage phonologischer Untersuchungen anbetrifft.

Hjelmslev z. B. wendet sich gegen

diese Form der Analyse, er läßt nur rein linguistische Kriterien gelten. Dazu gehören nicht "physikalische" und "psychologische" Kriterien. Sie haben keine funktionale Relevanz.

Es sind aber gerade diese Kriterien, die

Jakobson bei der Aufstellung seiner Merkmalliste verwendet.

Es muß jedoch

dazu gesagt werden, daß ein funktioneller Gesichtspunkt insofern vorhanden ist, als nur diejenigen Merkmale ausgewählt werden, die in einer Sprache bedeutungsunterscheidende Funktionen besitzen. Die meisten Linguisten gebrauchen gleichzeitig distributionale und phonetische Kriterien, wobei einige, Bush nennt u. a. Swaddesh, Pike, Hockett, Martinet, der Analyse nach distinctive features als grundlegender phonologischer Analyse Vorbehalte ent38 gegenbrächten. Distributionstechniken beurteilt z. B. Haas sehr skep39 tisch. Semantische Kriterien bezeichnet er als "a retrograde step in the 4O development of linguistic studies". Diesen Vorwurf erhebt z. B. auch 4l Garvin gegen Jakobson. Jakobson lehnt zur Identifizierung phonologischer Kategorien die Anwendung von Distributionsregeln allein ab. Sie führen in 42 einen Engpaß. Chomsky pflichtet ihm in dieser Beziehung bei, er hält ihren Status für äußerst fragwürdig, 43 Joos hingegen hält sie für das einzige 44 adäquate linguistische Kriterium. Es ist wiederum Bush, die darauf hinweist, daß eine Anzahl von Phonetikern bezweifelt, daß das Phonem als "Invariante" zu beschreiben sei, 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46

was z. B. neben Fant

auch Jakobson indirekt

C. Bush, Phonetic variation, 16. L. Hjelmslev, zit. nach: R. Jakobson, "On the identification of phonemic entities", 418. Jakobson gebraucht die Begriffe "acoustically" und "genetically", Fundamentals of language, 2 9 f f . C. Bush, Phonetic variation, 16. W. Haas, "Relevance in phonetic analysis". Word 15 ( 1 9 5 9 ) , 17 Ibid., 17. P. L. Garvin, Besprechung von R . Jakobson, C. G. Fant, und M. Halle, Preliminaries to speech analysis (Cambridge, Mass., 1 9 5 2 ) , Lg. 29 ( 1 9 5 3 ) , 475. R. Jakobson, "The phonemic concept of distinctive features", In: Proc. of the 4th Int. Congr. of Phon. Sciences (Den Haag, 1962) , 443. N. Chomsky, Besprechung von R. Jakobson und M. H a l l e , Fundamentals, 237. M. Joos, Besprechung von R . Jakobson, C. G. Fant, und M. H a l l e , Fundamentals of language. Den Haag 1956. Lg. 33 (1957) 414. C. Bush, Phonetic variation, 23. G. Fant, "The nature of distinctive features", In: To honor Roman Jakobson, Vol I (Den Haag und Paris, 1967) , 635.

12

zugesteht: "When operating with a phoneme or distinctive feature we are primarily concerned with a constant which is present in the various particulars [...]. Phonemic analysis is a study of properties, invariant under certain transformations." In die gleiche Richtung gehen auch die Überlegungen Fischer-J0rgensens. Auch sie hält die Identifizierung möglichst vieler InVarianten für eine vordringliche Aufgabe der linguistischen Analyse. 48 Je stärker jedoch die Zahl der Invarianten reduziert wird, um so schwieriger wird es, eine für alle gemeinsame phonetische Definition zu finden. Dieser Schwierigkeit, sind sich Jakobson und auch Halle bewußt; sie halten jedoch das Problem der Invarianz für grundlegend in der linguistischen Analyse. 49 Chang lobt, daß es gerade durch das Werk Jakobsons möglich geworden ist, die Invarianz der "distinctive features" objektiv festzustellen. 50 Inwieweit dieser Behauptung mit starken Vorbehalten begegnet werden muß, wird im Kapitel "Zum Problem der Koartikulation" zu erläutern sein. Jakobson unterscheidet zwei Arten von distinktiven Qualitäten: (1) Les traits prosodiques (2) Les traits intrinseques Die ersten binden das Phonem im Gegensatz zu den übrigen distinktiven Merkmalen an die Zeitachse, sie sind zu gliedern nach "ton", "force" und "quantite", wobei diese Unterklassen "intersyllabique" oder "intrasyllabique" sein können. Die "traits intrinseques" bestehen aus 12 Oppositionen, sie sind in "traits de sonorite" und "traits de tonalite" gegliedert, wobei die ersteren mit den prosodischen Eigenschaften der "force" und "quantite", die letzteren mit den prosodischen Qualitäten verwandt sind, welche die Stimmhöhe beinhalten.51 Es ergibt sich also folgendes Schema der "distinctive features": 52 47 48

R. Jakobson und M. H a l l e , Fundamentals of language, 13. E. Fischer-J0rgensen, "The commutation test and its application to phonemic analysis". In: For Roman Jakobson. Essays on the occasion of his sixtieth birthday (Den H a a g , 1956), 141. 49 R. Jakobson, "Le langage commun", 39; M. H a l l e , The sound pattern of Russian, 6. 50 S . H . Chang, Besprechung von R . Jakobson und M. Halle, Fundamentals of language (Den Haag, 1956), JASA ( 1 9 5 7 ) , 1149. 51 R. Jakobson und M. Halle, "Phonologie et phonetique", 121ff. Von den "traits configuratifs, culminatifs, demarcatifs, expressifs, redondants" soll hier nicht die Rede sein, sie spielen in der ELnarismus-Diskussion eine untergeordnete Rolle. 52 Es sind die englischen Jezeichnungen gewählt; die Hauptwerke Jakobsons sind zuerst in Englisch erschienen.

13 distinctive features prosodic tone

force

inherent quantity

sonority

tonality

(a; Sonority features (traits de sonorite; Sonoritätsmerkmale) (1)

Vocalic/non-vocalic (vocalique/non-vocalique; vokalisch/ nicht-vokalisch)

(2)

Consonantal/non-consonantal (consonantique/non-consonantique; konsonantisch/ nicht-konsonatisch)

(3)

Compact/diffuse (compact/diffus;

kompakt/diffus)

(4)

Tense/lax (tendu/lache; gespannt/ungespannt (entspannt))

(5)

Voiced/voiceless (voise/non-voise; stimmhaft/stimmlos)

(6) Nasal/oral (nasal/oral (nasalise/non-nasalise); nasal/oral) (7) Discontinuous/continuant (discontinu/continu; abrupt/dauernd) (8)

Strident/mellow (strident/mat; scharf/mild)

(9)

Checked/unchecked (bloque/non-bloque; gehemmt/ungehemmt)

(b) Tonality features (traits de tonalite; Tönungsmerkmale) (10) Grave/acute (grave/aigu; dunkel/ hell) (11)

Flat/plain (bemolise/non-bemolise; tief/ nicht-tief)

(12)

Sharp/plain (diese/non-diese; spit^ nicht-spitz)

Es wurde schon gesagt, daß jede dieser distinktiven Qualitäten als Glied einer binären Opposition fungiert. Allerdings hält Bar-Hillel die Unterscheidung von distinktiven und redundanten Merkmalen für wenig sinn53 R. Jakobson und M. Halle, Fundamentals of language, 2 9 f f . C. Cherry, Kowmunikationsforschung - eine neue Wissenschaft. Übers, aus dem Englischen P. Müller (Frankfurt a. M . , 1963), 129f.; E Minnigerode und A. Vichapun, "Informationstheoretische Untersuchungen an der thailändischen Sprache" , Phonetica 2O (1969), 4 3 f .

14

voll. 54 Er weist dabei kritisch auf die Äußerung Jakobsons hin, "circumstances may even cause them [redundant features] to substitute for distinctive features". Jakobson nennt diesen Standpunkt Bar-Hillels "amateurish quibble". Er wiederhole im Grunde nur Argumente, die ein halbes Jahrhundert früher gegen die noch am Anfang stehende Phonologie erhoben worden seien. Die Definition des Phonems als eines Bündel von distinktiven Merkmalen ermöglicht, daß jedes Phonem eines linguistischen Systems in Ausdrücken von "ja und nein" Antworten beschrieben werden kann, d. h. die Merkmale können sämtlich zu zwei Werten (±) quantifiziert werden: "Thus one may ask, Is the phoneme consonantal? - yes or no; Is the phoneme vocalic? - yes or no; and so on through the entire list of features." Übertragen auf den Konrnunikationsprozeß heißt das, der Hörer steht in einer sog. "two-choice situation", er hat zu wählen entweder zwischen zwei polaren Merkmalen derselben Kategorie, z. B. grave-acute, compact-diffuse, oder zwischen der An- oder Abwesenheit eines bestirrmten Merkmals, z. B. voiced-voiceless oder nasal-oral. Auf die logischen Grundlagen dieser Unterscheidung kommen wir an anderer Stelle. Jakobson demonstriert diese Methode u. a. am phonologischen System des Französischen. 58 Das Verfahren nennt er "analytische Transkription von Phonemen", 59 die Ungeheuer sehr treffend als "funktioneilen Überbau auf dem Fundament einer binären phonetischen Transkription" beschreibt. Jakobson nimmt für die 36 französischen Phoneme sechs Oppositionen von distinktiven Merkmalen an, die deren interne Struktur bestimmen. 62 Mit Hilfe dieser 54

Y . H. Bar-Hillel, "Three methodological remarks on Fundamentals of language", Word 13 ( 1 9 5 7 ) , 237f. Vgl. dazu auch: V. Belevitch, Langage des machines et langage humain (Brüssel, 1956), bes. Kap. VIII "Traits phonetiques binaires", 1 1-118, das gleichzeitig eine gute Einführung in die Gesamtproblematik der binären distinktiven Merkmale gibt. 55 R. Jakobson und M. H a l l e , Fundamentais, 9. 56 R. Jakobson, "The phonemic concept", 445. 57 E. C. Cherry, M. Halle und R . Jakobson, "Toward the logical description of languages in their phonemic aspect", Lg. 29 (1953) , 37. 58 R. Jakobson und J. Lotz, "Notes on the French phonemic pattern", 426-434, bes. S . 434. 59 R. Jakobson et a l . , Preliminaries, 43. 60 G. Ungeheuer, "Das logistische Fundament", 72. 61 Die Zahl der Phoneme im Französischen ist umstritten; Vgl. die Diskussion bei: K. Togeby, Structure immanente de la langue franyaise (Paris 1965), 5 4 f f . 62 R. Jakobson und J. Lotz, "French phonemic pattern", 434 (+ = vorhanden; - = nicht vorhanden: sie bilden die "pure features"; ± = sowohl als auch sie bilden die "complex (joint) features"; - = nicht analysiert und transkribiert; Lücke = nicht relevant)

15

Oppositionen transkribiert er folgenden Beispielsatz: "Cher inaitre voulez nous permettre de vous presenter nos honrnages et nos meilleurs voeux de sante de parfait bonheur et de tranquillite d'ame." Davon ein kleiner Ausschnitt: / E r m e t r usw. (1)

Vocality vs. consonantness

-

+

(2) (3) (4) (5)

Nasality vs. orality Saturation vs. diluteness Gravity vs. acuteness Tenseness vs. laxness

+

± -

(6)

Continuous vs. interception

+

±

+ -

-

+

-

+ + +

+

-

-

±

Es entsteht eine "Matrix" nach folgendem Schema, in dem die Zeilen die Merkmale und die Spalten die Segmente (Phoneme) eines Ausdrucks darstellen (s. o.) oder das geordnete phonologische Inventar einer Sprache: Anzahl der Phoneme geordnet nach: (1) Vokalen (2) Konsonanten z. B. / m t usw. (1) Vocality vs. consonantness (2) ... - + (3) ... + - (4) usw. (s. o.) + (5) ... + + (6) ... + - 64 In diesem Schema können wir beobachten, daß sich die Terminologie im Vergleich zu der aufgeführten Merkmalliste (S. 13) z. T. verändert hat. Zahlreiche Kritiker melden sich gerade zum Thema "Terminologie" zu Wort. Horälek hält bestimmte Formulierungen für widersprüchlich, Malmberg beurteilt einige Begriffe als "arbitrary, even directly misleading". Für Jcos etwa bleibt es unverständlich, daß z. B. der Ausdruck "saturation" aufgegeben worden ist. Chomsky sagt sogar, daß die von Jakobson angewendete fift Ausdrucksweise für ihn eine "bar to comprehension" ist. Es liegt wohl u. a. an terminologischen Schwierigkeiten, die Horälek von einer "Krise der 63 64 65

R. Jakobson und J. Lotz, "French phonemic pattern", 4 2 6 f f . Vgl. Preliminaries, 43 (Matrix des Englischen, das 9 relevante Oppositionen aufweist); für andere Sprachen vgl. C. Bush, Phonetic variation, 19. K. Horälek, "A propos", 417.

66

B. Malmberg, Structural Linguistics, 123.

67 M. Joos, Besprechung von Jakobson und Halle, Fundamentals, 414. 68 N. Chomsky, Besprechung von Jakobson und Halle, Fundamentals, 234.

16

unterscheidenden Eigenschaften" sprechen lassen. 69 Fischer-J0rgensen ist nicht so hart in ihrem Urteil. Sie macht auf die Schwierigkeiten aufmerksam, z. B. Definitionen zu finden, die auf Vokale und Konsonanten gleichermaßen anwendbar sind; sie nennt als Beispiel die Opposition "kompakt-diffus". Chomsky/Halle sind der Meinung, daß eine vollständig gleiche Beschreibung von vokalischen und konsonantischen Merkmalen zu weit ginge. Stevens fordert weitere Experimente, um eine genauere Definition der distinctive features zu erhalten. 72 Halle und Fant sind dieser Anregung gefolgt. Fant schreibt: "I certainly feel that a substantial revision of our old Preliminaries has long been overdue." Er kritisiert besonders die konventionellen phonetischen Kategorien; er fordert eine Erhöhung der Anzahl der Merkmale, die für Vokale und Konsonanten zutreffend sind. Nach seiner Meinung werden Vokale und Konsonanten durch getrennte "Merkmalkanäle" wahrgenommen. Ähnlich äußert sich Halle: "Certain concepts may have to be re-defined in a manner differing somewhat fron the original theory; special terminology may have to be created." Soll erwähnt z. B. den Gegensatz von stimmhaft: stimmlos bei den französischen Konsonanten, der nicht mehr die ihm traditionell zugebilligte, entscheidende Rolle spiele. Dafür solle man die betreffenden Reihen mit der Opposition gespannt: ungespannt charakterisieren, die immer gelte. Neweklowsky nennt jedoch Bedenken, z. B. gegenüber der Einführung von Merkmalen, die akustisch nicht zu fassen sind, wie etwa die Akzentuiertheit

77

oder die Syllabitat.

78 79

Pilch stößt sich an den Zeichen

+ und -, er hält sie für konventionell und sachlich nicht begründet: "Man 80 arbeitet häufig und ebensogut mit den Zeichen 0 und 1." Ähnlich äußert sich

69

K. Horälek, "Zur Theorie der unterscheidenden Eigenschaften", In: Verh. 5. Int. Kongr. Phon. Wiss. (Münster, 1964), 366. 70 E. Fischer-J0rgensen, "What can the new techniques of acoustic phonetics contribute to linguistics", 141. 71 N. Chomsky und M. ifelle, Sound pattern of English, 3O3. 72 K . M . Stevens, Besprechung von R. Jakobson, C. G. Fant und M. Alle, Preliminaries to speech analysis (Cambridge, Mass. 1 9 5 2 ) , JASA 25 ( 1 9 5 3 ) , 163. 73 C. G. M. Fant, "The nature of distinctive features", 63. 74 Ders., "Theory of speech analysis. £bund, features, and perception", , STL-QPSR 2-3 ( 1 9 6 7 ) , 7. 75 M. B&lle, The sound pattern of Russian, 52. 76 L. Soll, "Grundzüge der französischen Phonologie", Neuere Sprachen 13 ( 1 9 6 4 ) , 226. 77 Vgl. Cherry/Halle/Jakobson, "Toward the logical description", 4O; Chomsky/Halle, The sound pattern of English, 45. 78 Vgl. H. Kucera, The phonology of Czech (Den Haag, 1961), 24. 79 G. Neweklowsky, "Die 'distinktiven Merkmale 1 in neuer Sicht", Die Sprache 16 ( 1 9 7 0 ) , 125.

80

. Pilch, Phonemtheorie, 132.

17

Saumjan.

8l

Er sieht keine objektive Basis, "spitz" und "stimrihaft" als

positive distinktive Merkmale anzusehen und "nicht-spitz" und "stimmlos" als negative. Er will z. B. auch die zwei Oppositionen "vokalisch-nicht vokalisch" und "konsonantisch-nicht konsonantisch" auf die eine Opposition QO

"vokalisch-konsonantisch" reduzieren.

Die objektive Basis, von der Saumjan

spricht, scheint aber hier nicht gegeben zu sein. Die Phoneme /r/, /!/, /h/ paßten nach einer solchen Reduzierung nicht mehr in das Schema Jakobsons, das ja nach ökonomischen Gesichtspunkten entworfen wurde. Dies läßt sich leicht daran beweisen, daß sich aus den redundanten 12 Merkmalen im Höchstfall 2

= 4O96 verschiedene Phoneme bilden lassen. Es liegt also ein

theoretischer Phoneirbestand vor, unter dem die einzelnen Sprachen bei weitem bleiben, und aus dem sie jeweils eine Auswahl treffen. Umgekehrt ließe sich dasselbe sagen: die Zahl der Fragen ist bedeutend geringer als die Zahl der Phoneme. Die minimale Zahl von "ja-nein" Fragen, die notwendig sind, um n Phoneme zu identifizieren, wäre log» n. Um diesen Problemkreis abzuschließen, soll der von Birnbaum genannte, wohl radikalste Versuch wiedergegeben werden, die Liste der distinctive features zu erneuem oder zu ersetzen: "Chomskys Ansicht nach sei eine graduierte, feinere Skala etwa von l bis 15 (oder doch zumindest bis zur "magischen" Ziffer 7) vorzuziehen; also z. B. Stimmhaftigkeit, Grad l oder 3 oder auch 9 usw

83

"

Der Angriff gegen die phonologische Binärklassifi-

kation kann wohl nicht härter ausfallen, auch wenn Kucera recht optimistisch glaubt: "Jakobson's phonological framework has been adopted, to be sure with certain modifications, even in those contemporary linguistic theories, such as 'transformational grammar' which otherwise diverge considerably from the Jakobsonian conceptual and methodological assumption of linguistics." Ein Versuch Halles - seit geraumer Zeit Mitarbeiter Jakobsons und Chomskys - möge zeigen, auf welche Weise Thesen Jakobsons verarbeitet werden. Er hat eine Methode eingeführt, welche die Matrix zur Phonemidentifizierung QC

in ein verzweigtes Diagramm umgewandelt hat. Als Beispiel mag die folgende Umwandlung einer Merkmalliste zu einem Diagramm gelten: 81

82 83 84 85

S. K. SaumJan, Problems of theoretical phonology (=Janua Linguarum Series Minor 41) (Den Haag und Paris, 1968), 171. Vgl. auch: R. D. Wilson, "A criticism of distinctive features", JL 2 (1966), 195-2O6 S. K. Saumjan, Problems of theoretical phonology, 168. H. Birnbaum, "Syntagmatische und paradigmatische Phonologie", 341; vgl. Chomsky/Halle, The sound pattern of English. H. Kucera, "Distinctive features, simplicity, and descriptive adequacy", In: To honor Roman Jakobson, Vol. II, 1114. M. Halle, The sound pattern of Russian, 3 4 f f .

18 A

B

C

D

Feature l

Feature l Feature 2 Feature 3

A

B

C

D

C

D

Feature 2

^B

A

Halle macht jedoch darauf aufmerksam, daß sich nicht jede Matrix in ein Diagramm transformieren läßt, z. B.: Feature l Feature 2 Feature 3

+ O

O + +

o

Die Begründung Halles lautet: Diese Matrix kann nicht umgewandelt werden, da sie kein Merkmal ohne O aufweist. Ähnlich dem "branching diagram", das Halle für das Russische aufstellt (The sound pattern of Russian, 46J, versucht Malmberg zwei solcher Diagramme für die französischen Vokale und Konsonanten zu erstellen.

86

Als Beispiel soll das französische Vokalsystem dienen:

87

Nasal Compact

+

o' -

Grave

+ o. -

Complex

+

o

-

+ o

oe

-

0-

+ 0 -

+ 0-

Flat

c = 1 5 Phoneme

88

Bei einem Vergleich dieses verzweigten Diagramms des französischen Vokalismus mit der von Jakobson/Lotz erstellten Matrix läßt sich sehr gut zeigen, daß es das konsonantische Phoneminventar ist, das bewirkt, daß 6 Oppositionen notwendig sind, um die interne Struktur des französischen Phonemsystems zu bestirnten; das französische Vokalsystem kommt mit 5 Oppositionen zu seiner 86 87 88

89

B. Malmberg, Structural linguistics and human communication, 88. Das sog. "e muet" ist von Malmberg weggelassen; vgl. Begründung dazu: L. Soll, "Grundzüge", Anmerkungen, 225. Vgl. dazu: L. Soll, "Grundzüge", 225. Er macht darauf aufmerksam, indem er sich u. a. auf Malmberg bezieht, daß ein maximales (= konservatives) = 15 Phoneme, daneben ein minimales (= modernes) = 1O Phoneme umfassendes Phoneminventar im Französischen bestehe. Vgl. Schema des französischen Konsonantismus (B. Malmberg, Structural linguistics, 88).

19

Identifizierung aus. Ergibt sich bei der Zahl der Phoneme (36) in beiden Darstellungen Übereinstimmung, so trifft das nicht für einen Vergleich der Terminologie der distinctive features zu, eine Bestätigung der schon darge9O stellten terminologischen Problematik. Ctowohl wir uns auf die "inherent features" beschränken wollen, sollte man jedoch keinesfalls verschweigen, welch schwaches Bild die distinctive-featureTheorie im Hinblick auf die prosodischen Einheiten abgibt, worauf besonders

Horälek hinweist. 9l Interessant ist in diesem Zusammenhang der Hinweis von Helff 92 auf einen Aufsatz von Wang, 93 den sie wie folgt beschreibt: "Der erste veröffentlichte Versuch einer systematischen Behandlung des Tons innerhalb der GP. Es wird ein System von 7 binären Tonmerkmalen vorgeschlagen." Auch bei Malmberg finden wir Ansätze für eine binäre Gliederung im prosodischen Bereich, er trennt zwischen "intonation terminale descendante" und "intonation montante non terminale" und sagt: "Par le fait d'etre des elements discrets ces intonations entrent done dans un Systeme d1oppositions - sinon binaires en tout cas de nombre reduit."94 In der folgenden "binären Merkmalsanordnung" Heikes werden die Beobachtungen Malmbergs partiell bestätigt: Merkmale

1 . fallend/ steigend 2. Höhenänderung rel. groß/nicht groß

Kategorie terminal

interrogativ

progredient

+

-

O

95

Ein weiterer interessanter Versuch zur Beschreibung der "prosodic bzw. expressive features" stammt von Stankiewicz; er gibt die angedeutete Problematik wieder. Stankiewicz bezieht sich auf die Unterscheidung Jakobsons in den Preliminaries (S. 7) von "expressive" und "distinctive features", die letzteren distinktiv und semantisch "empty features", die ersteren "endowed with emotive ' connotations'". Sie dienen nicht dazu, Bedeutungen zu unterscheiden, sie drücken vielmehr Sprecherhaltungen aus, betreffen also nicht die kognitive Bedeutung von Morphemen oder Monemen. Stankiewicz verweist darauf, daß 90 91 92 93 94 95

Vgl. Jakobsons Rechtfertigung seiner Terminologie (R. Jakobson/M. Halle, Fundamentals, 36). K. Horälek, "Phonologische Streitfragen", In: Omagiu lui Alexandru Rosetti (Bukarest, 1965), 379-38O. Generative Phonologie", LB 8 ( 1 9 7 O ) , 114. "Vowel features, paired variable, and the English vowel shift", UAL 33 ( 1 9 6 7 ) , 93-105. B. Malmberg, "Analyse des faits prosodiques - Problömes et methodes", Can. de ling, theor. et appl. 3 (1966), 1O7. G. Heike, Suprasegmentale Analyse (= Marburger Beiträge zur Germanistik, Bd. 30) (Marburg, 1969), 24.

20

die "expressive features" eine "grading gammut" zeigen, die "distinctive features" eine "dichotomous scale". Er zitiert Lotz: '"Hie pragmatic (i. e. 'expressive') features (...) are continuous in the sense that a variation in the emotive expression indicates a difference in the intensity of the emotion; the louder one shouts, the angrier the impression one creates."96 Außerdem nennt er Solinger, der auf die Wichtigkeit des Gegensatzes von "more or less" und "yes or no" Beziehungen aufmerksam macht.97 Auch Sebeok sage, "emotions are codified in graded, analog terms, and the "rational" aspects of language in binary, digital terms". 98 Stankiewiecz fügt als eigene Meinung hinzu, daß der "'emotive sub-code' cannot be totally reduced to graded terms, for it presents both a quantitative, gradual, and a qualitative, binary organization". 99 Bei Ivic finden wir eine Demonstration der Überlegungen Stankiewicz', die Ivic wie folgt farstellt und eine "adaption of Jakobson's diagrams of binary contrasts" nennt: +

accented rising

-

+

long

+

-

+

101

Von Jakobson gibt es zahlreiche Versuche, suprasegmentale Einheiten zu erfassen und binär zu gliedern, z. B. bei der Beschreibung der metrischen Struktur eines chinesischen Gedichts mit regelmäßigem Versmaß. Er schreibt: "To predict the entire metrical pattern of a poem in Regulated Verse it suffices to make three mutually independent two-choice decisions in regard to its initial line." Die drei Fragen lauten: "Is the total sum of evennumbered syllabes in the line even or odd? - Is the beat on the last (or first) of the even syllabes long or short? - Is the beat on the last of the odd syllabes long or short?" Er schreibt dann weiter: "These THREE binary decisions permit us to infer EIGHT distinct measures which actually cover 96 97 98 99

lOO

J. Lotz, "Speech and language", JASA 22 (195O), 7 1 2 f f . D. Bolinger, Generality, gradience, and the all-or-none (Den Haag, 1961). T. A. Sebeok, "Coding in the evolution of signalling behaviour", Behavioral Science 7 (1962), 433ff. E. Stankiewicz, "Problems of emotive language", In: Approaches to Semiotics, Hg. T. A. Sebeok, A. S. Hayes, M. C. Bateson (London-Den Haag-Paris, 1964), 239-264. Ders., "Towards a phonemic typology of the Slavic languages". In: American Contributions to the 4th Int. Congr. of Slavists (Den Haag, 1958), 315. P. Ivic, "The functional yield of prosodic features in the patterns of Serbo-croatian dialects", Word 17 ( 1 9 6 1 ) , 293-3O8

21

the light extant patterns of the Regulated Verse." Wie schon angedeutet ist die "distinctive-feature-lheorie" besonders von Seiten der Phonetiker einer starken kritischen Prüfung unterzogen worden. Das Dilemma der Unverträglichkeit phonetischer und phonologischer Beschreibungen wird in der weiteren Entwicklung des distinctive-feature-Konzepts nicht mehr vertuscht, so z. B. bei Chomsky/Halle (The sound pattern of English), wo die Verfasser einmal die Zahl der unterscheidenden Merkmale rigoros erhöhen, um den Universalitätsanspruch zu unterstreichen, andererseits die distinctive features eindeutig artikulatorisch definieren. Dabei wird eine z. T. ganz neue Terminologie (coronal-non-coronal; anterior-non-anterior; back-non-back; low-non-lcw) verwandt und die Binarität (d. h. die Orthogonalität der Merkmale) nur der phonemischen Beschreibung attribuiert: "In addition, we distinguish sharply between the classificatory and the phonetic function of distinctive features. It is only in their classificatory function that all features are strictly binary, and only in their phonetic function that they receive a physical interpretation." überhaupt wurden erstmals in dem Werk von Chomsky/Halle quantitative Kriterien zur Bestimmung der Laute verwendet, so z. B.: "Diffuse vowels have a first formant below 35O cps (45O cps for the female speaker)." 104 Die Heranziehung nur eines Formanten ist allerdings sehr kritisch zu beurteilen. Eine Neufassung der akustisehen Parameter der unterscheidenden Merkmale schlägt Isacenko vor. 106 Neweklowsky referiert ausführlich diesen Ansatz. Isacenko betone, daß er keine Phonemanalyse mehr durchführe, vielmehr eine Analyse des AllophonInventars. 108 Er verzichte weiterhin darauf, eine distinctive feature Tabelle für den Gesamtbestand einer Sprache aufzustellen, da über die perzeptive Seite der Phonetik noch zu wenig bekannt sei. Isacenko beziehe sich auf die Erkenntnisse Fants und beschränke sich auch nur auf die zwei ersten Formanten. Neweklowsky gibt in seinem Aufsatz die Tabelle der langen 102

103 104 105 106 107 108

R. Jakobson, "The modular design of Chinese regulated verse", In: Melanges offerts ä Claude Levi-Strauss ä 1 Occasion de son 6Oieme anniversaire, Tome I (Den Haag und Paris, 197O), 6O4. Chomsky/Halle, The sound pattern of English, 65. Ibid., 128; cps = cycles per second G. Fant, Acoustic theory of speech production (Den Haag, I960), 5 9 f . , 213. A. V. Isacenko, Spektrogra ficka analyza slovenskych hläsok (Preßburg, 1968). G. Neweklowsky, "Distinktiven Merkmale", 1 2 6 f f . Zur Unfähigkeit der strukturalen Phonemik, überlappende Allophone adäquat zu erklären am Beispiel von "writer-rider" in amerikanischen Dialekten: N. Chomsky, Current issues in linguistic theory (Den Haag, 1964). Vgl. dazu auch die Untersuchungen von C. Bush.

22

slovakischen Vokale und ihrer unterscheidenden Merkmale nach Isacenko wieder: Merkmal

[i:]

[e:]

[a : ]

[o:]

[u:]

Formel

1. hohe Tonalität

+

+

-

-

-

F

2 ~ Fl

3. maximale Tiefe Lage von F^

+

-

-

-

+

Fj - 35O Hz

Für die kurzen slovakischen Vokale könnt noch ein viertes Merkmal "Konzentriertheit" hinzu: Merkmal 4. Konzentriertheit

[i]

[e]

[ä]

[a]

[o]

-

-

+

O

O

[u] Formel O F2 F

l

Dies nur als kurze Veranschaulichung. Neweklowsky ist der Meinung, daß die Methode Isacenkos der bisherigen Bestimmung der distinktiven Merkmale der Vokale überlegen sei und nicht mehr "intuitiv, impressionistisch" wie in den älteren Arbeiten von Jakobson/Fant/Halle vorginge. Besondere Schwierigkeiten beständen nach wie vor bei der Klassifizierung der sprachlichen Laute, da die traditionellen Termini keine akustische Entsprechung besäßen. "Die objektiven Parameter zur Identifizierung der sprachlichen Laute, die nach Isacenko (S. 252) mit Hilfe der Spektralanalyse aufgestellt werden können, seien (1) die An- oder Abwesenheit einer Formantenstruktur , (2) die 1OQ Sy Habitat und (3) die An- oder Abwesenheit eines Geräuschs." Die Bestimmung der Syllabi tat sei aber weiterhin problematisch, da sie weder zu den inhärenten noch zu den prosodischen Merkmalen gerechnet werden könne. Neweklowsky schließt seine Bemerkungen: "Die Methode Isacenkos ist realistischer [als die Methode der Harvard Schule]."110 Auch Heike erweitert die Merkmalliste der unterscheidenden Merkmale, um sie "der Realität anzupassen". Er führt z. B. die Merkmale "gleitend/ nicht-gleitend" ein und stellt u. a. fest, daß in intervokalisch-medialer Position, womit der größte Teil des Phoneminventars umfaßt ist, mehr Binärdistinktionen erforderlich sind als in finaler Position, wo das kleinste 109

Neweklowsky, "Distinktiven Merkmale", 129.

110 Ibid., 131.

23

Phoneminventar betroffen ist.

Interessant ist ferner sein Versuch, aus

der binären Transskription doppelte Phonemdistanzen (2 Dph) zwischen je zwei Phonemen zu berechnen, "indem man eine binäre Distinktion mit Dph = l und die Distinktion O (Nichtbeteiligung) vs. "+" oder "-" mit Dph 1/2 bewertet."

Ziel ist festzustellen, wo in den drei Positionen (Anfang/toit-

te/Ende) der Laute Oppositionen fehlen, und wie die unterschiedliche Merkmalbeteiligung von der jeweiligen Stellung des Lautes abhängt. Auf einen weiteren schwachen Punkt der distinctive-feature-lheorie muß hingewiesen werden, was Heike wie folgt formuliert: "[...], daß die einseitige paradigmatische Fundierung phonologischer Systeme und die Kettung an den Bedeutungsbegriff ersetzt oder ergänzt werden muß durch die Einbeziehung syntagmatischer und typologischer Strukturuntersuchungen." Ähnliches ließe sich ganz allgemein für den Binarismus sagen; er ist kaum auf der syntagmatischen Ebene diskutiert worden. Ist er hier a priori zum Scheitern verurteilt? Die gleichen Beobachtungen wie Heike macht auch Prieto.

114

Prieto meint,

daß z. B. die phonetischen Besonderheiten, die zentrale von nichtzentralen Phonemen unterscheiden, nur dem Syntagma angehören, er nennt sie "traits pertinents contrastifs" im Gegensatz zu den "traits pertinents oppositionnels". Auch der Akzent und die Syllabitat gehören natürlich der syntagmatischen Ebene an. Er stellt mit Recht fest: "On ne peut pas etudier independaitinent la "phonologie de la phrase" d'une part et la "phonologie du not" de l'autre." ATmlich argumentieren auch Muljacic und Weinrich. Zusammenfassend muß gesagt werden, daß die von Jakobson und anderen entwickelte "distinctive-feature-Theorie" zunächst sehr verheißungsvoll schien. 111

112

113 114 115 116

117

G. Heike, Zur Phonologie der Stadtkölner Mundart. Eine experimentelle Untersuchung der akustischen Unterscheidungsmerkmale (= Deutsche Dialektgeographie, Bd. 57) (Marburg, 1964), 13Off. Ders., Das phonologische System des Deutschen als binäres Distinktionssystem (Darmstadt, 197O), 463f. Hingewiesen sei aus phonetischer Sicht auf die Weiterführung des Binarprinzips in der (wenn auch mangelhaften) Systematisierung der "acoustic cues": P. Delattre, "From acoustic cues to dist. features", Phonetica 18 (1968), 198-23O. G. Heike, Zur Phonologie, 49. L. J. Prieto, "Traits oppositionnels et traits contrastifs". Word 1O ( 1 9 5 4 ) , 48. L. J. Prieto, "Traits oppositionnels", 58. Z. Muljacic, "La combinabilite des phonemes sur 1'axe syntagmatique depend-elle de leurs traits distinctifs?", In: WSJb, Ergänzungsbd. VI: Phonologie der Gegenwart (Graz-Wien-Köln, 1967), 275. Er versucht, eine Reihe von Gesetzen zu formulieren, die auch für die syntagmatische Dimension Gültigkeit haben. H. Weinrich, Phonologische Studien zur romanischen Sprachgeschichte (Münster, 1958), 8.

24

Im Laufe der Zeit wurden jedoch besonders von phonetischer Seite ihre Mängel klar aufgewiesen, so daß sie - und gleichzeitig der mit ihr implizierte binaristische Anspruch - in einen Engpaß geriet. Die wenigen in diesem Rahmen möglichen Andeutungen haben das sicherlich schon klargemacht; an anderer Stelle werden wir noch einmal auf diese Problematik zurückkommen. 2.2

Grundlagen

Folgende wesentliche Merkmale liegen der Theorie Jakobsons zugrunde: Jedes Phonem, wenn es als ein Bündel distinktiver Qualitäten verstanden wird, unterscheidet sich von jedem anderen Phonem in bezug auf seine unterscheidenden Merkmale. Deshalb bedeutet die Identifizierung von Phonemen einer gegebenen Sprache die Definition der distinktiven Eigenschaften jedes Phonems, die wiederum von der Frage abhängt, ob das spezielle Phonem die unterscheidende Qualität besitzt oder nicht. Man kann z. B. fragen: Ist das bestimmte Phonem stimmhaft, ja oder nein? usw. Die entsprechenden Antworten, sind sie nun bejahend oder verneinend - das haben wir gesehen - werden zur Identifizierung in die sog. Matrix als + oder - Zeichen eingetragen. Es ist verhältnismäßig leicht zu erkennen, daß diesem Verfahren Erkenntnisse aus dem Bereich der Logik zugrundeliegen, die im folgenden Teil erläutert werden sollen. Es ist allerdings nicht beabsichtigt, aus diesen Erläuterungen ein Kolleg zur Logik zu machen. Es ist allgemein bekannt, daß sich die Logik des dichotomen Prinzips bedient. Frey z. B. spricht von "alternärer" Logik. "Ja" und "nein" entspricht den beiden Wahrheitswerten "wahr" und "falsch", sie schließen sich gegenseitig aus. Die Beziehung, die die beiden ausschließenden Wahrheitsbereiche aufeinander bezieht und sie gleichzeitig voneinander trennt, ist die Negation. Was nicht wahr ist, ist falsch; was nicht falsch ist, ist wahr. In einer solchen alternären Logik gelten dann ( 1 . ) der Satz vom Widerspruch: daß von ein und demselben Sachverhalt nicht gleichzeitig ausgesagt werden kann, daß er wahr und falsch sei; ( 2 . ) der Satz vom ausgeschlossenen Dritten: daß man von einem Sachverhalt nur aussagen kann, daß er entweder wahr oder falsch sei, etwas Drittes gibt es nicht.118

Wundt z. B. sagt, daß sich das logische Denken stets unter der Herrschaft 119 des Gesetzes der Zweigliedrigkeit befinde. Es ist also das Prinzip von der Binarität, das ermöglicht, Phoneme auf der Grundlage ihrer logischen 118 119

G. Frey, Sprache - Ausdruck des Bewußtseins (Stuttgart, 1965), 118. W. Wundt, Logik, Bd. I, Allgemeine Logik und Erkenntnistheorie (Stuttgart, 5 1 9 2 4 ) , 69, 12O; vgl. auch: I. M. Bochenski, Formale Logik (Freiburg und München, 1956), 3 3.

25

Beschreibung zu identifizieren. Herdan schreibt: "The binary code can be interpreted as the formal expression of the discrimination principle of phonology or, in other words, as the mathematical expression of the 'phono1 *5O logical opposition1." Indem man das Frageschema "ja oder nein" anwendet, ist es möglich, aus einer beliebigen Reihe eines Systems jede diskrete Einheit zu identifizieren. Cherry, Halle und Jakobson demonstrieren dieses Verfahren an folgendem Beispiel: 121 Sie wählen eine Reihe von 8 Gliedern (A, B ... H) , die mit Hilfe des genannten Fragemodells identifiziert werden soll; die vollständige Identifizierung jedes Gliedes ergibt eine Kette von + und - Zeichen, wobei suksessive Zweiteilungen der Reihe durchgeführt werden.

oder:

Das Glied G z. B. läßt sich durch die Zeichenkette + + - identifizieren. Mit anderen Worten, es sind drei "ja oder nein" Fragen als minimale Anzahl von Fragen notwendig, um die 8 Glieder der Kette zu erkennen, d. h. mathematisch ausgedrückt: Iog2 8 = 3 . Die gleiche Methode wendet Herdan auf die Bestimmung von Buchstaben (32) an, wo entsprechend die minimale Zahl von 5 "ja oder nein" Fragen zur Identifizierung der 32 Buchstaben notwendig ist; anstelle der Zeichen + und - setzt er l und O.122 Über die unterschiedliche Häufigkeit ist in den beiden graphischen Darstellungen noch nichts ausgesagt. Sie wird erst in einem Kontext relevant. Aber auch sie kann binär dargestellt werden: 120

121

122

G. Herdan, The advanced theory of language as choice and chance (= Kommunikation und Kybernetik in Einzeldarstellungen, Bd. IV) (Berlin-Heidelberg-New York, 1966), 260. E. C. Cherry, M. Halle, R. Jakobson, "Toward the logical description of languages in their phonemic aspect", 37. Vgl. auch: G. Ungeheuer, "Einführung in die Informationstheorie unter Berücksichtigung phonetischer Probleme", Phonetica 4 ( 1 9 5 9 ) , 98. G. Herdan, The advanced theory of language as choice and chance, 26Of.

26

A ist in der vorliegenden Darstellung das am häufigsten verwendete Zeichen, sein Informationsgehalt entsprechend der geringste. Knuth stellt folgende Wbrtfrequenzliste a an and by

32 7 69 13

in of on the

effects for from

6 15 1O

to with

64 142 22 79 18 9

in einer "optimalen" binären Baumstruktur wie folgt dar: of

with

effects

from ^

ligh

123

Ivic macht jedoch auf die Schwierigkeiten aufmerksam, die bei der Einordnung in eine Matrix entstehen können, wenn die Reihe aus einer ungeraden Anzahl von Gliedern besteht.

Wie Jakobson dieses Prinzip auf die Phoneme

der Sprache angewandt hat, wurde schon gezeigt. In einem wichtigen Beitrag über "das logistische Fundament binärer Phonemklassifikationen" erläutert Ungeheuer die starke Tendenz, Erkenntnisse der formalen Logik im Bereich der 125 Linguistik anzuwenden. Den Beweis für diese Behauptung liefert die Theorie Jakobsons. Sie veranschaulicht gleichzeitig die Gefahr (oder nicht?), die einer solchen Übertragung von einem Wissenschaftsgebiet auf das andere 123 124 125

D. E. Knuth, "Optimum binary search trees", Acta Informatica 1 ( 1 9 7 1 ) , 14, 15. P. Ivic, "Roman Jakobson and the growth of phonology". Linguistics 18 (1965), 55. G. Ungeheuer, "Das logistische Fundament binärer Phonemklassifikationen", SL 13 (1959), 69-97.

27

innewohnen kann. Ungeheuer drückt das so aus: "Seine Syrrmetrie und Kohärenz (gemeint ist das logistische Kalkül) darf nicht dazu verleiten, den untersuchten Phänomenen diese Eigenschaften aufzuzwängen, eine Gefahr, die, wie sich gezeigt hat, bei sprachwissenschaftlichen Untersuchungen besonders groß ist." Es war besonders Carnap mit seinen Werken, aber auch andere Philosophen, die mit einer philosophischen Betrachtimgsweise der Sprache eine logische Analyse der Sprache meinten. Man spricht z. B. von der sog. "logischen Syntax". Bar-Hillel zitiert u. a. die Definition der logischen Syntax von Carnap (The logical syntax of language, New York und London 1937, S. 1-2): Par syntaxe logique d ' u n langage, nous entendons la theorie formelle des formes linguistiques de ce langage - 1"expose systematique des regies formelles qui le gouvernent, et le developpement des consequences qui resultent de ces regies. Une theorie, une regie, une definition, etc., doivent §tre appelies formelles, lorsque aucune reference n ' y est faite, soit ä la signification des symboles (par exemple, des mots) ou au sens des expressions (par exemple, des enonces) mais simplement et uniquement aux types et a l'ordre des symboles ä partir desquels sont construites les expressions.128

Bar-Hillel weist im Anschluß an dieses Zitat darauf hin, daß die herrschende Meinung von Grammantikern dahingeht, Syntax und Logik trotz einiger weniger Gemeinsankeiten als zwei fundamental verschiedene Theorien anzusehen. Immer wieder werden Versuche gemacht, linguistische Phänomene mit logischen Kategorien zu beschreiben. Dieser hauptsächlich formalistisch ausgerichtete Ansatz der Syntaxforschung ist natürlich sehr gut geeignet für die "Verarbeitung" von Sprache durch Maschinen und hat dadurch wieder eine gewisse Geltung erlangt. Die praktische Bedeutung der reinen (allgemeinen) Syntax tritt jetzt zumindest mit jenen Forschungen hervor, die die Ubersetzbarkeit konkreter Sprachen in eine abstrakte Sprache betreffen, in die der sogen. Denkmaschinen (eine Sprache, die der Maschine die Durchführung von Rechenoperationen in binärem System erlauben würde) sowohl die Konstruktion von Maschinen, die aus einer Sprache in eine andere übersetzen usw 129 Schaff äußert Bedenken "beim Anblick jener phantastischen logischen Kräne [ . . . ] die so genial konstruiert worden sind, um t . . . ] ein Steinchen anzuheben, das sich viel leichter einfach mit der Hand beseitigen ließe". (S. 49) Wir kennen den Versuch von Gougenheim, ursprünglich aus der Logik

ent-

nommene Einteilungsprinzipien wie sie z. B. von Trubetzkoy im Bereich der Phonologie (vgl. privative, graduelle, äquipollente Oppositionen) mit 128 Y. Bar-Hillel, "Logical syntax and semantics. Lg. 3 (1954), 23O. 129 A. Schaff, Einführung in die Semantik (Frankfurt und Wien 1969), 49.

28

einigem Erfolg angewandt worden sind, auf die anderen Ebenen der Grammatik zu übertragen. Cherry weist in diesem Zusaimenhang darauf hin, daß die Übertragung logischer Prinzipien auf linguistische Analysen im Grunde sehr natürlich sei. Die Gedanken des Menschen seien auch nach binären Prinzipien aufgeteilt. Kontradiktorische Begriffspaare - er nennt z. B. hoch : tief, heiß : kalt - stellten eine wichtigere Wortklasse als etwa Synonyme dar. Kontradiktorische Begriffe erfüllten "eine praktische (sortierende) Funktion". Er gibt allerdings zu, daß die Sprache nicht nur aus solchen oppositiven Formen bestehe. "Wäre das tatsächlich der Fall, so könnte man sagen, daß wir uns logisch, durch binäre Wbrtsymbole mitteilten."^l Herdan nennt das Gesetz der Dualität von Boole, das sich auf das Prinzip des Widerspruchs, ausgedrückt in o der Formel (l - ) = O oder , bezieht, wobei von der Überlegung ausgegangen wird, daß das zu untersuchende Objekt l in zwei Teile aufspaltet, und - l, wobei 0 die Unmöglichkeit symbolisiert. Sehr aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang seine folgende Bemerkung: "Ihe opposition , - , is not how we generally express opposition in language. Instead, we prefer to substitute for the negative quantity, non-x, a name, a word denoting the concept at the other end of a scale at whose beginning stands the concept denoted by x." 132 Das heißt nichts anderes, als daß in der Sprache dem konträren sehr oft der Vorzug vor dem kontradiktorischen Begriff gegeben wird; das positive Term rangiert also in der Frequenz vor dem negativen. Auf die enge Verbindung von binären Beschreibungen in der Linguistik und Algebrartheorie bzw. den Funktionen von Boole weist auch Marcus hin: "Elles (les descriptions binaires) permettent des analogies elegantes avec des codes binaires [.. . ] et avec la theorie des algebres et des fonctions de Boole." Bei ihm finden wir eine Reihe logisch-binärer Gliederungen, z. B. im Bereich der Graitmatik:

l 3O G. Gougenhein, Systeme grammatical de la langue franyaise (Paris, 1938), 9. 131 C. Cherry, Kommunikationsforschung - eine neue Wissenschaft, 126 132 G. Herdan, Advanced theory, 328f. 133 S. Marcus, La linguistique structurale (Paris, 1967), 67. Vgl. auch G. Orman, "Remarques sur la theorie logique des oppositions linguistiques", Cahiers de ling, theorique et appliguee 3 ( 1 9 6 6 ) , 199-200.

29 Categories grammaticales

( non productives (possedant un seul generateur) (avec un seul generateur qui coincide) productives

Categories grammaticales

( normales

| avec la categorie gen. envisagee avec plusieurs generateurs elementaires non ^

non normales

134

Allerdings sind seine Formulierungen im Hinblick auf einen Ausschließlichkeitsanspruch der binären Methode eher vorsichtig: "Contne nous allons le voir, l'etude de la dependence syntaxique conduit aussi ä certaines relations binaires tres generales." (S. 226). Auch Jakobson gebraucht schon im Jahre 1938 den Begriff "kontradiktorisch"; er unterscheidet zwei Typen von grundlegenden Binäroppositionen, die er deutlich als Analogien zu den logischen Oppositionen, den "oppositions contradictoires" und "oppositions contraires" ausweist.

Die ersteren

beschreibt er als die "relation entre la presence et l'absence d'un meine element", als Beispiel nennt er etwa lange Vokale : nicht lange Vokale. Die letzteren beschreibt er als "relation entre deux elements qui font partie d'un meme genre, et qui different le plus entre eux; ou qui, presentant un caractere specifique susceptibles de degres, en possedant respectivement le maximum ou le minimum." Als Beispiel nennt er "voyelles aigües : voyelles graves". Er weist auf Saussure zurück,

den er als An-

reger für die Einführung der kontradiktorischen Oppositionen in der Phonologie ansieht. 134 135

136

137

Aus den Erläuterungen Jakobsons zu seinem Verständnis der

. Marcus, La linguistique structurale, 178. R. Jakobson, "Observations sur le classement phonologique des consonnes", In: Selected Writings, 273; auch Cherry spricht von bestimmten Analogien, "that (a) utterances (b) phonemes (c) distinctive features, represent precise analogies to concepts used in physical science - and very familiar ones too." (C. Cherry, "Roman Jakobson's "distinctive features" as the normal coordinates of a language", In: For Roman Jakobson [Den Haag, 1956], 6 3 ) ; als Beispiel für diese These finden wir die Darstellung eines durch binäre Zellen quantisierten dreidimensionalen Attributenraum. Saussure beschreibt den Unterschied zwischen oral : nasal wie folgt: " [ . . . ] tandis que l"absence de resonance nasale, facteur negatif, servira, aussi bien que sä presence, ä caracteriser des phonemes." (F. de Saussure, Cours, 6 9 ) . R. Jakobson, "Signe zero", In: Melanges de linguistique offerts ä Charles Baily (Genf, 1939), 15O.

30

Begriffe "kontradiktorisch" und "konträr" geht hervor, daß in den frühen Arbeiten Jakobsons die Struktur der binären Opposition noch nicht einheitlich war. Er spricht von "degres", die noch auf graduelle Oppositionen hindeuten, wie Horälek sagt, 138 die Schwierigkeiten bei der Einordnung in das Matrixschema verursachten. Man ging dazu über, die konträren in kontradiktorische Oppositionen zu verwandeln, was z. B. die Überführung des einfachen Gegensatzes kompakt-diffus in die zweifache Opposition kompakt-nicht kompakt, diffus-nicht diffus zeigt. 139 Horälek sieht diese Aufgliederung "als eine Rückkehr zu Trubetzkoys phonologischer Theorie". Interessanter erscheint seine Bemerkung, daß in dieser Neuformulierung ein "logisch-exakterer Aspekt" verwirklicht sei, "der sich in Einklang mit der ganzen Entwicklung der rtodernen Sprachwissenschaft befindet". Einsichtig ist seine Beobachtung, daß die genannte Änderung nur formaler Natur sei und keine endgültige Lösung darstelle, wobei er sich u. a. auch auf die Reduzierung ternärer in binäre Oppositionen beim Konsonantendreieck bezieht. 14O Vor allem weist er auf die notwendige Verifizierung durch phonetisch-akustische Messungen hin, die bisher keine positiven Ergebnisse für die binäre Klassifizierung erbracht haben. "[...], man darf [... ] die logische Systematisierung mit den konkreten phonologischen Systemen nicht verwechseln." Außerdem deutet Horälek mit Recht darauf hin, daß das als kompakt-diffus aufgefaßte Oppositionspaar k - p nach dem Sprachgebrauch Trubetzkoys als äquipollente, nicht aber als privative Opposition angesehen werden müsse, da die beiden Phoneme nicht nach der Anwesenheit oder Abwesenheit eines einzigen unterscheidenden Merkmals zu differenzieren seien. 142 Den Versuch Ramportls, die "D. M. Theorie" umzubauen, hält er allerdings für illusorisch. Auf den Zusammenhang der Thesen Jakobsons mit den Konzeptionen Trubetzkoys weist u. a. auch Ungeheuer hin: "Bei Trubetzkoy findet man die gleiche Unterscheidung. Seine "privativen Oppositionen" sind kontradiktorische und seine "graduellen Oppositionen" konträre Gegensätze; die ersten beruhen auf Eigen138 139

140 141 142

K. Horälek, "Zur Theorie", 365. M. Halle, "In defence of the number two", In: Studies presented to Joshua tfhatmough on his Sixtieth Birthday, hg. E. Pulgram (Den Haag, 1957), 71. K. Horälek, "Zum Begriff der phonologischen Korrelationen", TLP 2 (1966), 111-120 (116). Ders., "Phonologische Streitfragen", In: Omagiu lui Alexandru Rosetti (Bukarest, 1965), 379. Vgl. auch: G. Neweklowsky, "Die "distinktiven Merkmale" in neuer Sicht", Die Sprache 16 ( 1 9 7 O ) , 124, wo er auf die Schwierigkeiten der Klassifizierung der deutschen Vokale nach dem Merkmal "kompakt" hinweist. Für die Vokale e, o, ö sei eine Zwischenstufe anzunehmen.

31

Schaftsaussagen, die letzten auf Beziehungsaussagen."!43 Cantineau nennt vier mögliche Beziehungen von zwei Elementen, mit denen sich die symbolische Logik beschäftigt: "la relation d'identite", "la relation d'empietement", "la relation d'inclusion" und "la relation d'exteriorite". Die privativen Oppositionen von Trubetzkoy, die kontradiktorischen bei Jakobson entsprechen den relations d1inclusion in der Logik. Auch Ungeheuer sieht ähnlich wie Horälek die Schwierigkeit, die sich aus der graduellen Abstufung der konträren Oppositionen für Jakobsons binäre Distinktionen ergibt. 145 Er nennt Halle und Chomsky, die das konträre Gegensatzpaar kompakt-diffus, das bei den Vokalen zu ternären Distinktionen Anlaß gab, aufgelöst haben; bei Ungeheuer bedeutet das die Umformung von Relationen in einfache Eigenschaftsaussagen. Die Abkehr Jakobsons von seinen frühen Standpunkten, die noch stark unter dem Einfluß Trubetzkoys standen, wie wir gesehen haben, zu einer strengeren, radikaleren Form des Binarismus ist deutlich erkennbar. Jakobson selbst bestätigt, indem er Martinet zitiert, daß der heutige Binarismus eine Weiterentwicklung der Lehre von den Korrelationen sei. 147 2.3

Rechtfertigung Jakobsons

Tatsache ist - das hat die vorhergehende Darstellung gezeigt - daß es eine Diskussion, d. h. kritische Stellungnahmen zu der Theorie Jakobsons von den Binäroppositionen gibt. Die Kritiker fordern eine Motivation, eine Begründung und Rechtfertigung dieser Theorie. Diese sind wiederum eng mit den Intentionen, der Zielsetzung des Verfassers verbunden. Aus diesem Bereich sollen die einzelnen Themenkreise für die Darstellung der Diskussion zu den phonologischen Binäroppositionen ausgewählt werden. Wir haben das Glück, eine klare zusammenhängende Auskunft bei Jakobson selbst zu finden: 143

144 145 146 147

G. Ungeheuer, "Das logistische Fundament", 7 5 f . ; die kontradiktorischen Oppositionen hält Horälek "im wesentlichen" vergleichbar mit dem traditionellen Begriff der Korrelationen, während er die konträren Oppositionen mit den Oppositionen des Kontrastes vergleicht (K. Horälek "A propos de la theorie des oppositions binaires", 4 1 5 ) . J. Cantineau, "Le classement logique des oppositions", Mord 11 (1955), 1-9. Vgl. J. Vachek, The linguistic School of Prague (Bloomington und London, 1966), 58. Er spricht von einem "stumbling block", den Jakobson et al. zu umgehen hätten. M. Halle, "In defence of the number two", 72, besonders auch Anm. 14. R. Jakobson, "The phonemic concept", 448.

32 Not only in the linguistic discussion of distinctive features but also in their confrontation with mathematical logic and with communication theory, it was made quite clear that the dichotomous scale points the most profitable and economical way to describe phonemic data. Moreover it provides an appropriate matrix for the typological comparison of languages.

Ganz deutlich fällt auf, darauf verweist auch Ivic,

149

daß Jakobson eine Art

Unterstützung für seine binaristische These aus anderen Wissenschaftsgebieten sucht. Erst anschließend kcmnt er auf wichtige Prinzipien wie "profitable", "economical" und "typological". Diese Tatsache kann einen Linguisten, den es nach linguistischen Kriterien verlangt, nachdenklich und skeptisch stinmen. Auch Chomsky macht auf diese außerlinguistische Begründung aufmerksam, "the question of the relevance to phonemics of extralinguistic data is a meaningful and important one, but there is no issue 15O of truth versus convenience here"; dieses Problem wird uns noch eingehend in der Diskussion unter dem Gesichtspunkt "Inhärenz oder Methode" beschäftigen. Der Vollständigkeit halber muß noch Jakobsons psychologische Rechtfertigung seiner Theorie genannt werden, die er an der Spracherlernung des Kindes erläutert: " [ . . . ] , in a child's mind the pair is anterior to isolated objects". Er beruft sich dabei auf Wallon: "Ce qui est possible de oonstater ä l'origine c'est l'existence d"elements qui la constituent [...]. l ^9 Le couple, ou la paire, sont anterieurs ä l'element isole." Jakobson geht soweit, diese These auch physiologisch zu untermauern: "Incidentally, the discrimination activities exerted by the central nervous system are generally supported to involve a digital process, in particular a binary digit, especially for the identification of purely discriminative stimuli." Ähnliche Bemerkungen finden wir bei Barthes: "II est tres tentant de fonder le binarisme general des codes sur les donnees physiologiques, 148

149 150

151

152 153

Ibid., 451; auf die Rechtfertigung der Verlaufigkeit der Thesen (bes. der Terminologie) durch den Titel Preliminaries soll in diesem Zusammenhang nicht mehr eingegangen werden, der Titel Fundamentals hebt ja im Grunde diese Verlaufigkeit auf. P. Ivic, "Roman Jakobson", 77. N. Chomsky, Besprechung von Jakobson und Halle, Fundamentals of language, 24Of. Vgl. dazu auch: Y. Ikegami, "Structural semantics. A survey and problems", Linguistics 33 ( 1 9 6 7 ) , 5O. R. Jakobson/M. Halle, Fundamentals, 47; vgl. auch: A Sommerfelt, Besprechung von Jakobson und Halle, Fundamentals of language (Den Haag, 1958), NTS 19 ( I 9 6 0 ) , 719. R. Jakobson, "Retrospect", 669. Ders., "The role of phonemic elements in speech perception" ZPSK 21 (1968), 9-20.

33

dans la mesure ou 1'on peut croire que la perception neuro-cerebrale fonctionne, eile aussi par tout ou rien, la vue et 1'ouie notatment operant par 'balayage' d'alternative; [...]." In gleichen Zusammenhang meint Barthes (Anm. 4): "Les sens plus rudimentaires come l'adorat et le gout resteraient 'analogiques'." Er weist auf Belevitch, der u. a. äußert: " [ . . . ] la physiologie nous enseigne que le Systeme nerveux est constitue d'une interconnexion de neurons, organes fonctionnant par tout et rien, done indiques pour transporter une information en code binaire." Der ersten These Jakobsons widerspricht Martinet ganz entschieden: "A supposer, ce qui reste a prouver, que les enfants acquierent l'usage du Systeme phonologique par dichotomies successives, on ne voit pas pourquoi cela affecterait necessairement le fonctionnement du Systeme de l'adulte." Es ist Pauliny, der besonders nachdrücklich auf die psychologischen Erkenntnisse hinweist, die ein binäres Prinzip in der Entwicklung des menschlichen Denkens und seiner Wahrnehmung feststellen. Daraus leitet er hauptsächlich seine überschwengliche Zustimmung für das binäre Prinzip in der Sprache ab. Dagegen spricht die Meinung Parain-Vials: "Les psychologues se sont apercus que les lois reelles etaient plus compliquees que celles proposees par Jakobson, mais coittne dans toute science, ce sont les premieres lois approximatives qui ont permis de faire les decouvertes ulterieures." i Rft Im übrigen, so erklärt Lyons, "it is no part of our task as linguists to speculate on the question whether the tendency to 'think in opposites' [...] is an a priori, universal tendency [ . . . ] or whether it is the preexistence of a large number of antonyinous pairs in our native language which causes us to 'think in' terms of them." 159 Das hätten zur Genüge Metaphysiker und Sprachphilosophen getan, wobei er besonders auf Cassirer verweist. Auch Frey diskutiert die Frage, ob die Behauptung richtig ist, daß das Bewußtsein rußtsein alternär gegliedert sei. Er hält die Alternativ!tat für eine mögliche Form des menschlichen Bewußtseins."161 154 155 156 157 158 159 160 161

R. Barthes, "Elements de semiologie", Communications 4 (1964), 127. V. Belevitch, Langage des machines et langage humain (Brüssel, 1956), 75. A Martinet, Economie des changements phonetigues, 74. E. Pauliny, "The principle of binary structure in phonology", TLP 2 (1966) , 121. J. Parain-Vial, Analyses structurales et ideologies structuralistes (Toulouse, 1969), 57, Anm. 16. J. Lyons, Structural semantics. An analysis of part of the vocabulary of Plato (Oxford, 1963), 65. E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, T. 1: Die Sprache (Darmstadt, 1964). G. Frey, Sprache - Ausdruck des Bewußtseins, 12O.

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Neben den altemären stellt Frey den "intuitionistischen" Aussagenkalkül, in dem das "tertium non datur" keine Gültigkeit hat. Ein Vergleich mit unseren natürlichen Umgangssprachen zeigt, daß der intuitionistische Kalkül ein weit besseres Modell abgibt, als der vollständige (alternäre) Aussagenkalkül. Unsere Umgangssprache bezieht sich vorwiegend auf Handlungen. Bei unseren Äußerungen über Handlungen verwenden wir die Negation meist nicht im ausschließenden, alternären Sinne. Wir gestehen immer einen dritten möglichen Fall zu, manchmal explizit, manchmal auch bloß unausgesprochen.162

Unter den Beispielen, die Frey aufführt, findet sich u. a.: bei Spielen gibt es neben der Möglichkeit von "gewinnen" oder "verlieren" auch die Möglichkeit "unentschieden". "Konkrete Affirmation und konkrete Negation schließen einander nie aus, es gibt iitiner noch das Offenbleiben, das weder ja noch nein." Mit diesen wenigen Überlegungen Freys ist die Problematik um den "Ausschließlichkeitsanspruch des Binarismus" angedeutet, auf die weiter unter zurückzukoimien sein wird. Die Einführung des Binarismus in die Linguistik durch Jakobson wird noch durch eine andere Tatsache begründet: Die traditionellen phonologischen Klassifizierungen hatten zwar den relativen Charakter der unterscheidenden Merkmale erkannt, aber nur in bestiiiinten Fällen. So erlaubte z. B. die Klassifizierung der Konsonanten nach der Artikulationsstelle nur eine positive, absolute Charakterisierung von z. B. /p/, /t/, A/ usw. Von daher ist Jakobsons Hinwendung zur akustischen Phonetik zu verstehen, mit deren Hilfe er seine Binarismustheorie festigen wollte. Saumjan äußert dazu: "The binary model of phonemic oppositions owes its acceptance to the successes of acoustic phonetics." Es sind diese Beziehung zur akustischen Phonetik (d. h. akustische statt artikulatoriseher Formulierungen), die daraus entstehenden Verbindungen mit Bereichen der angewandten Kybernetik (d. h. die technische Anwendbarkeit - Martinet spricht von einem "appareil physico-mathematique") und das Prinzip der Simplizität, die der Grund für Saumjan sind, dem Binärmodell als nicht einzig möglichen gegenüber anderen Modellen den Vorzug zu geben. Die dogmatische Begründung des Binarismus lehnt er ab; er versucht mit Hilfe von zwei Abstraktionsstufen (Stufe der "Wahrnehmung" und Stufe der "Konstrukte") in der sog. "two-level theory" die mit dem BinärIfifi nodell verbundenen theoretischen Schwierigkeiten zu überwinden. 162 Ibid., 123. 163 Ibid., 138. 164 S. K. Saumjan, Problems of theoretical phonology, 144. 165 A. Martinet, Economie des changements phonetagues, 73. 166 Diese Theorie ist allgemein auf Ablehnung gestoßen; vgl. H. Birnbaum, "Syntagmatische und paradigmatische Phonologie", 3 2 2 f f . ; H. Pilch, Besprechung von S. K. Saumjan, Problemy teoretices koj fonologiji (Moskau, 1962), Phonetics (1963), 11O-115.

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Mit seiner gleichzeitig einfachen und ökonomischen Beschreibung der Sprachstruktur, die Halle folgendermaßen begründet, "as in other sciences the choice among alternative solutions was said to be decided by considerations of descriptive economy or simplicity" entspricht Jakobson im Bereich der Linguistik einem wesentlichen Prdjizip der üblichen Methodologie.

167

M. Halle, "In defence of the number two", 71.

AUSGEWÄHLTE THEMEN DER BINARISMUSDISKUSSION IM BEREICH DER PHONOLOGIE

3.0

Zusammenfassung

Es wird gezeigt, wie sich zwischen den autonomen Disziplinen "Phonologie" und "Phonetik" nicht zuletzt durch den Einfluß Jakobsons eine Kooperation in Form der sog. "funktionellen Phonetik" entwickelt. Als Beispiel für diese enge Zusammenarbeit gilt seine Binärtheorie. Diese phonetische Ausrichtung der Phonologie wird nicht einhellig akzeptiert; wo dies der Fall ist, geht es um die Frage, ob die artikulatorische, akustische oder auditive Phonetik eine adäquatere Beschreibung des sprachlichen Materials liefern kann. Jakobson berücksichtigt in seiner Theorie alle drei Ebenen, wobei er dem am wenigsten erforschten auditiven Aspekt die größte Bedeutung zumißt. Die Ergebnisse der akustischen Phonetik stützen und fördern seine Binärthesen am nachdrücklichsten. Mit ihnen erreicht er z. B. eine ökonomische und gemeinsame Merkmalbeschreibung von Vokalen und Konsonanten. In der ausführlich dargestellten Diskussion der Thesen Jakobsons gelten folgende Gesichtspunkte als umstritten: Viele Linguisten sehen es als erstrebenswertes Ziel an, die sprachlichen Laute auf allen drei phonetischen Ebenen zu beschreiben; die von Jakobson angestrebte Feststellung einer "one-to-one correlation" auf binärer Basis wird bestritten und in einer Reihe von Diskussionsbeiträgen als nicht realisierbar beurteilt. Unter dem Stichwort "Koartikulation" wird der Einwand der Phonetiker dargestellt, daß die Existenz individueller und kontextabhängiger Varianten der Absicht Jakobsons entgegensteht, seine Binärthese auf invariante Merkmale sog. "stationärer" Laute zu gründen. Die methodologischen Prinzipien der Einfachheit und Ökonomie, die den Binärthesen Jakobsons zugrundeliegen, werden in der Diskussion einheitlich positiv beurteilt. Andererseits wird kritisch angemerkt, wie schnell aus Einfachheit "Vereinfachung" und damit Verfälschung der sprachlichen Wirklichkeit werden kann. Dazu gehört z. B. die genannte "invariante" binäre Merkmalbeschreibung der Phoneme. Der Vorwurf des Apriorismus gegen die Binärtheorie Jakobsons ist besonders heftig. Er wird von vielen Linguisten, besonders von Martinet

37

erhoben. Jakobson hat Mühe, den Vorwurf zurückzuweisen, seine Theorie sei metaphysisch, sie beruhe auf einem vorgefertigten Schema, sie bedeute eine Manipulation der sprachlichen Realitäten. Einen ebenso bedeutenden Platz in der phonologischen Binarismus-Diskussion nimmt die Erörterung der Frage ein, ob der Binarismus ein inhärentes oder ein methodisches Problem darstelle. Die Diskussion um diese Frage wird von Chao in Gang gesetzt. Sie gipfelt in der Kontroverse von "God's truth" vs. "hocus-pocus" Linguistik. Sie ist im Grunde eine Fortsetzung der Auseinandersetzung um den Begriff "Apriorismus". Während Jakobson immer wieder betont, daß der Binarismus ein inhärentes Problem sei, wird dieser Standpunkt in der Diskussion abgelehnt. Der Binarismus stelle ausschließlich ein Problem der Methode dar. Jakobson glaubt an den universellen bzw. quasi-universeilen Charakter seiner binären Merkmaloppositionen. Auch diese These Jakobsons ist heftig umstritten. Mit dem Universalitätsanspruch ist der von Jakobson geforderte Ausschließlichkeitsanspruch eng verbunden. Es wird gezeigt, wie sich auch gegenüber dieser These in der Diskussion Widerspruch artikuliert. Die meisten Linguisten, die sich mit Jakobsons Theorie auseinandersetzen, plädieren für einen methodenpluralistischen Standpunkt. Neben binären sei ebensogut mit ternären und anderen Oppositionstypen zu rechnen. Es sei angebracht, sich den jeweiligen praktischen Erfordernissen der linguistischen Analyse anzupassen. 3.1

Phonetik und Phonologie: die mögliche Aufhebung eines Gegensatzes

Seit Saussure ist der Gegensatz zwischen traditioneller, historischer und moderner, strukturaler Sprachbetrachtung besonders auf dem Gebiet der Lautlehre hervorgetreten, was deutlich an der Aufrechterhaltung der Unterscheidung zwischen den Begriffen "phonetique" und "phonologie" erkennbar ist. Wie z. B. Pilch und Fischer-J0rgensen darstellen, ist das Begriffspaar Laut : Phonem meistens mit dem Gegensatz Phonetik : Phonologie verbunden worden. Die Prager Schule, in ihr besonders Trubetzkoy, hat diese Oppositionen auf die saussursche Unterscheidung von parole : langue zurückgeführt. Es ist Trubetzkoy, der diesen Gegensatz auf das Begriffspaar Naturwissen2 Schäften : Geisteswissenschaften überträgt. Danach soll die Phonetik, die als "Sprechaktlehre" nach naturwissenschaftlichen Prinzipien arbeitet von 1 2

H. Pilch, Phonemtheorie, X l l f . , · E. Fischer-J0rgensen, "Die Bedeutung der funktionellen Sprachbeschreibung für die Phonetik", Phonetica, Suppl. ad Vol. 4 ( 1 9 5 9 ) , 9. N. S. Trubetzkoy, Anleitung zu phonologischen Beschreibungen (Göttingen, 21958), 5.

38

der Phonologie als "Sprachgebildelehre" getrennt werden, die nach geisteswissenschaftlichen Grundsätzen verfährt. Diese Auffassung setzte sich weiter fort; noch im Jahre 1953 schreibt z. B. von Essen: "Die Phonetik befaßt sich mit dem Sprechakt, die Phonologie mit dem Sprachgebilde [...]. Sie [die Phonetik] ist eine explorative Wissenschaft, deren Fragen sich an Naturvorgänge richten." Auch bei Lausberg klingt noch ein wenig von dieser scharfen Trennung nach, wenn er sagt: "Die Phonetik ist demnach sowohl ein Teil der "Wissenschaft von der Rede" wie auch eine Naturwissenschaft t . . . ] . Die 4 Phonologie ist demgegenüber ein Teil der "Wissenschaft von der Sprache." Alle, Trubetzkoy eingeschlossen, heben jedoch sehr klar die Aufgaben der Phonologie hervor, den funktioneilen Wert der Sprachlaute zu untersuchen. Jakobson wendet sich jedoch energisch gegen die Auffassung, die Begriffe "Phonologie" und "phonologisch" nur auf die "langue" zu beziehen. Er hält die Gegenüberstellung von Phonetik als "Sprachhandlungslehre" und Phonologie als "Sprachgebildelehre" für unscharf. Er setzt dem entgegen: "Die Phonologie verhält sich zur Phonetik wie eine Form- bzw. Funktionslehre zu einer ausgesprochenen Stofflehre." Wenn er weiter sagt, "je rücksichtsvoller sich der Phonologe zu den reichhaltigen phonetischen Gegebenheiten stellt, desto fruchtbarer wird es für seine Arbeit sein", so ist diese Aussage keine bloße g Proklamation, er macht Ernst mit der sog. "phonetique fonctionelle". Wie wir schon gesehen haben, versucht Jakobson, die phonologischen Oppositionen mit Hilfe der distinctive-feature-Theorie durch ihre physikalischen Korrelate zu beschreiben. Ivic bemerkt richtig dazu: "Jakobson zeigt die Bestätigung des Binarismus in den Preliminaries durch die Anwendung und Ergebnisse der Spektrograinne (d. h. durch die Anwendung und Ergebnisse der akustischen Phonetik)." Wenn Leroy an die frühen Worte Malmbergs erinnert, "c'est toutefois ä une date recente que la phonetique et la phonologie ont commence a etre considerees comme les 'deux cotes de la mime chose1," Q

3 O. von Essen, Allgemeine und angewandte Phonetik (Berlin, 1953), ISO. 4 H. Lausberg, "Über Wesen und Aufgaben der Phonologie", 25O. 5 Vgl. den Begriff "Sprachgebilde" bei: K. Bühler, Sprachtheorie (Stuttgart, 21965), 57ff. 6 R. Jakobson, "Zur Struktur des Phonems", 286. 7 Ibid., 281. 8 Vgl. A. Martinet, "Substance phonique et traits distinctifs", BSL 53 (1957/58), 74; R. Jakobson/M. Halle, "Phonologie et phonetique", 1O7. 9 P. Ivic, "Roman Jakobson and the growth of phonology", 6. . Leroy, Les grands courants de la linguistique moderne, 88; B. Malmberg, Le Systeme consonantique du francais moderne (Lund und Kopenhagen, 1943) ,· vgl. auch: Ders., New trends in linguistics, 97.

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so ist damit nicht zuletzt an die verdienstvollen Arbeiten Jakobsons gedacht. Auch Zwirner mit seiner "Phonenttheorie" ist nicht unwesentlich an der Überwindung des Gegensatzes beteiligt. Er führt das Scheitern der Zweiteilung Trubetzkoys in naturwissenschaftliche Phonetik und geisteswissenschaftliche Phonologie auf das Problem der auditiven Phonetik, auf die "phonetischen Aufgaben der Psychomotorik" zurück. Maliriberg sieht in der Zweiteilung eine Paradoxie, wobei er auf die phonetischen artikulatorischen Kriterien hinweist, auf die sich das System Trubetzkoys stützt. Es ist neben FischerJ0rgensen vor allem Malmberg, der es für unbedingt notwendig hält, daß Phonetik und Phonologie zu einer Disziplin verwachsen; die eine scheint ihm unmöglich ohne die andere. Deshalb müßten sich die reinen Phonetiker immer mehr einer funktionalen und systematischen Betrachtungsweise zuwenden, gewissermaßen als Ausgangspunkt ihrer instrumentellen Untersuchungen. Ohne die Abstraktionen der Phonologie scheint die Masse des phonetischen Materials nicht zu bearbeiten. Auf der anderen Seite sollten sich die Phonologen mehr für die physikalische Wirklichkeit interessieren, die ihren funktionalen Unterscheidungen zugrundeliegt. Jakobson ist mit seiner Theorie dieser Aufforderung nachgekommen. Er versucht, die Kluft zwischen beiden Disziplinen zu überwinden, indem er für die Beschreibung der distinctive features die Zusammenarbeit mit den Phonetikern sucht, die sinnvoll erscheint: "Alle Phonetiker und Phonologen", wie Pilch sagt, "bemühen sich nämlich um das gleiche Ziel, die lautlichen Strukturen". 14 Ganz so einhellig scheint aber die Meinung über die Gemeinsamkeiten beider Disziplinen nicht zu sein, wenn Heike etwa darauf aufmerksam macht, "der vermeintlich strenge Strukturalist fühlt sich zu einer Ablehnung phonetischer Ansätze verpflichtet und der substanzorientierte Phonetiker und Physiker glaubt, eine apparative Phonemerkennung oder Phonemanalyse erreichen zu können." Vachek z. B. sieht eine strenge Trennungslinie zwischen den Linguisten, die der Prager Schule nahestehen, die bei ihren phonologischen Untersuchungen den phonetischen Gesichtspunkt mit in ihre Überlegungen einbeziehen, und Linguisten, die diesen Gesichtspunkt und seine Bedeutung negieren; zu den letzteren gehören seiner 11 E. Zwirner, "Phonetik und Phonologie", In: WSJb Ergänzungsbd. VI: Phonologie der Gegenwart (Graz-Wien-Köln, 1967), 15. Ders., "The presentday tasks of the phonetic sciences (round table discussion)", Proc. of the 6th Int. Cong, of Phon. Sciences, 94 12 B. Malmberg, New trends, 84. 13 Vgl. E. Fischer-J0rgensen, "What can the new techniques", 113. 14 H. Pilch, Phonemtheorie, 7. 15 G. Heike, "Die 'distinctive features' - Theorie und Probleme der automatischen Erkennung gesprochener Sprache", In: Verh. 5. Int. Kongr. Phon. Wiss. (Münster, 1964), 345.

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Meinung nach besonders die "Distributionalisten" Bloomfield und Z. S. Harris, der seine Ablehnung deutlich in seiner Besprechung von Trubetzkoys Grundzüge geäußert habe. Auch für Hjelmslev und Togeby bedeutet die Phonologie, besonders die Ausrichtung Jakobsons (der "amerikanische Ableger", wie oft gesagt wird) eine Abkehr von der rein linguistischen Auffassung von der Sprache. Das betrifft vor allem die phonetische Akzentuierung der Phonologie, ein Streitpunkt, der allerdings mehr die europäischen Linguisten bewegt, wie Garvin meint.

18

Die amerikanischen Sprachwissenschaftler beschäftigt mehr die

Frage, ob akustische oder artikulatorische Phonetik, was noch unmittelbarer das Problem "Binarismus" und seine Bedingungen angeht. Auch Martinet bezieht eine eher ablehnende Position, wenn er sagt: "Vfriether the b of back is articulated energetically or slovenly [... ] "back" will remain exactly the same unit; as long as "back" remains distinct from "pack", "tack" etc., the normal conditions for the functioning of the language are secured." 19 Er will eine klare Trennung beider Disziplinen mit deutlicher Abgrenzung ihres Kompetenzbereichs, und dies sicher im Hinblick auf Jakobson. In diesem Zusammenhang nennt er als Beispiel die Eingeborenen, die lautliche Unterschiede nicht etwa wegen ihrer akustischen Verschiedenheit aufnehmen, vielmehr auf der Basis ihrer funktionalen Relevanz im sprachlichen System. Für das Französische nennt er als Beispiel seiner These die Phonemopposition /p/ : /b/ und /p/ : /t/, deren Unterscheidung in beiden Paaren gleich klar ist, weil eben in allen möglichen Stellungen der Unterschied bleibt. Die Worte Austins treffen genau diesen Sachverhalt: "Phonemes are phonemes because of their function, their distribution not because of their phonetic similarity." Martinet erwartet zwar von einem "guten" Linguisten phonetische Kenntnisse, diese sind notwendig, um die unterscheidenden Merkmale zu erkennen; die Fähigkeit jedoch, instrumenteile Untersuchungen zu machen, verlangt er nicht von ihm, die erschöpfende Beschreibung der phonetischen Realität sei die Aufgabe von Spezialisten. Martinet kommt es darauf an, daß "toute phonetique doit etre phonologique dans son principe"; 22 damit 16 17 18 19

J. Vachek, linguistic school of Prague, 48. K. Horälek, "A propos de la theorie", 414. P. L. Garvin, Besprechung von Jakobson/Fant/Halle, Preliminaries, 476. A. Martinet, "Phonetics and linguistic evolution", In: D. Kaiser, Manual of phonetics (Amsterdam, 1 9 5 7 ) , 259. 20 Ders., Phonology as functional phonetics (Oxford, 1955), 21. 21 W. M. Austin, "Criteria for phonetic similarity", Lg. 33 ( 1 9 5 7 ) , 538. 22 A. Martinet, La linguistigue synchronigue, 36.

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allerdings ist er der Auffassung Jakobsons sehr nahe. Ebeling wirft Jakobson und auch Martinet als Inkonsequenz vor, daß sie einerseits für die Identifizierung von Phonemen phonetische Mittel für unbrauchbar erachten, bei der Identifizierung von distinctive features hingegen diesen Mitteln ein entscheidendes Gewicht zumessen. Mit Richtung auf Jakobson/DDtz betont er, daß die Methode der "phonetic resemblance" keine genügende Beweiskraft habe, daß sie ein subjektives Interpretationsmittel bleibe.23 Hanp hingegen vertritt die genau entgegengesetzte Position: "It has never been possible to practise respectable phonemics without taking adequate account of the underlying phonetics." Der von Jakobson eingeschlagene Weg wird bestätigt. Er hat die Grundlagen eines Systems gelegt, das die Klassifizierung menschlicher Sprache ermöglicht und dabei die lautliche Basis berücksichtigt. Diese Grundlegung entspricht akustischen und linguistischen Gesichtspunkten. Hocketts Vorwurf, die akustischen Grundlagen der Theorie Jakobsons seien OC jr "impressionistic" , weist Chomsky zurück. Ähnlich wie Hamp äußert sich Haas: "Vfriat we need for indicating and describing the elements of speech is a number of phonetic dimensions [ . . . ] the frame itself cannot tell what is worth describing." 27 Auch Mol/tihlenbeck sind der Meinung, daß man das Phonem in seiner linguistischen Funktion nicht außerhalb, nicht ohne seine lautliche Gestalt betrachten und untersuchen kann. 28 Zusammenfassend ließe sich also sagen, daß es erhebliche Unterschiede in der Auffassung einer Anzahl von Linguisten gibt, was die Bedeutung phonetischer Mittel und Methoden in der linguistischen Analyse angeht. Jakobson gehört zu denen, die die Meinung vertreten, daß instrumentelle Messungen und Aufzeichnungen der Phonetiker für sich allein wenig Bedeutung haben; sie werden erst interessant, wenn ihre Ergebnisse phonologisch/linguistisch interpretiert werden. Pilch sieht in der Praxis keine Alternative zwischen "phonetischer" und "phonologischer" Betrachtungsweise (Phonemtheorie, 1 4 ) . 23 C. L. Ebeling, Linguistic units, 2O und 2 6 f . 24 P. E. Hamp, "The interconnection of sound production, perception, and phonemic typology", In; Proc. of the 4th Int. Congr. of Phon. Sciences, Helsinki 1961 (Den Haag, 1 9 6 2 ) , 639. 25 Ch. F. Hockett, A manual of phonology (Baltimore, 1 9 5 5 ) , 172f. 26 N. Chomsky, Besprechung von Ch. F. Hockett, A manual of phonology (Baltimore, 1955), UAL 23 ( 1 9 5 7 ) , 231. 27 W. Haas, "Relevance in phonetic analysis", 14. 28 H. Mol/E. M. Uhlenbeck, "The analysis of the phoneme in distinctive features and the process of hearing", Lingua 4 ( 1 9 5 4 ) , 167.

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Er schlägt den gemeinsamen Begriff "phonetics" vor, "which deals with speech 29 as an audible phenomenon in its different aspects". Ähnliches sagt Weinrich: " [ . . . ] kann die Sprachwissenschaft der Lautlichkeit der Sprache nur dann gerecht werden, wenn sie zugleich Lautkörper und Bedeutung sieht, wenn sie 3O phono-logisch ist." Ob dies das binaristische Modell Jakobsons vermag, ist eine weitere Frage der Diskussion, die noch zu klären 3.2

ist.

Zum Verhältnis von artikulatorischer, akustischer und auditiver Beschreibung

Aus der Diskussion zum Verhältnis von Phonetik und Phonologie wird ersichtlich, daß es zwei Richtungen in der neueren Linguistik zu geben scheint, was die Kriterien anbetrifft, die in einer phonologischen Analyse angewandt werden. Die einen bestehen darauf, daß "physikalische" Kriterien benutzt werden, die anderen lehnen diese ab. In der folgenden Erörterung soll es hauptsächlich um die Überlegungen der ersten Gruppe gehen. Sie diskutiert vor allem die von Jakobson entwickelten Thesen zum Verhältnis von artikulatorischer, akustischer und auditiver Phonetik. Wir werden die Behauptung Bushs zu prüfen haben, nach der die meisten Linguisten übereinstimmen, daß nach dem augenblicklichen Stand der Forschung - darin eingeschlossen der momentane Stand der instrumenteilen Entwicklung - entweder der artikulatorische oder akustische Aspekt mehr verspricht als der auditive (perceptual). Was die Wahl zwischen artikulatorischer und akustischer Darstellung anbetrifft, so ziehen einige Linguisten die erstere, einige die letztere vor. ganz allgemein: "We [gemeint ist:

Jones meint

Halle, sicher auch Jakobson] maintain

that if physical criteria, by which we mean either articulatory or acoustic data, are not admitted then even the preliminary segmentation of the speech is impossible." 32 Dieser Standpunkt ist in dieser radikalen Formulierung sicher nicht ganz zutreffend, wenn man ihm z. B. folgende Äußerung Bierwischs entgegenstellt: "Wenn die Sprache nicht aus aktuellen Äußerungen besteht, 29 H. Pilch, "Phonetics, phonemics, and metaphonemics", In: Proc. of the 9th Int. Congr. of Linguistics, Cambridge (Mass.), 1962 (Den Haag, 1 9 6 4 ) , 902. 30 H. Weinrich, Phonologische Studien zur romanischen Sprachgeschichte (Münster, 1958), 2. Vgl. zu der Problematik Phonetik/Phonologie den Aufsatz von A. V. Isaienko, "Hat sich die Phonologie überlebt?", Zeitschr. f. Phonetik u. allg. Sprachwiss. 9 ( 1 9 5 6 ) , 311-330. 31 Vgl. C. Bush, Phonetic variation, 2O. 32 L. G. Jones, "Contextual variants of the Russian vowels", In: M. Halle, The sound pattern of Russian, 157.

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sondern aus den Strukturen, die diesen zugrundeliegen, dann lassen sich ihre Elemente nicht physikalisch beschreiben." Konten wir jedoch unmittelbar zu Jakobson: Er versucht, die funktionale Beschreibung mit einer exakten phonetischen Spezifizierung zu verbinden. Er berücksichtigt sowohl akustische wie artikulatorische Aspekte, ohne die auditive Variante ganz außer Acht zu lassen, d. h. mit anderen Worten: Jakobson ist darauf bedacht, phonetische Korrelate zu den funktionalen Einheiten (Phoneme und unterscheidende Merkmale) der verschiedenen Ebenen zu finden, die den einzelnen aufeinanderfolgenden Phasen des Kommunikationsprozesses entsprechen. 34 Diesem Vorhaben liegt eine wichtige methodische Feststellung zugrunde: Jede der aufeinanderfolgenden Ebenen der Rede von der Artikulationszur Wahrnehmungsstufe kann von der jeweils vorhergehenden Stufe vorausgesagt werden. Jakobson weist dem "perceptual stage" die größte Bedeutung zu und begründet dies mit dem Hinweis, daß wir oft fremde Phoneme mit dem Gehör unterscheiden, ohne ihre Hervorbringung zu beherrschen. Kinder könnten beim Erlernen der Sprache die Phoneme der Erwachsenen hörend unterscheiden, bevor sie diese Sprachlaute selbst gebrauchten. Es ist gerade die Betonung der Bedeutung der auditiven Ebene, die die Kritiker auf den Plan gerufen hat, indem sie Jakobsons Theorie als "de l'acoustique impressionniste, subjective" abqualifizierten, worauf Jakobson sich zu rechtfertigen versucht: "But in verbal communication the subjective impression of the listener plays a decisive role [...]." Nach Fischer-J0rgensen scheint es eine Tatsache zu sein, daß die traditionellen Beschreibungen niemals rein artikulatorisch oder akustisch ausgerichtet waren. Die auditive Beschreibung habe manchmal nur daraus bestanden, auditive Korrelate zu traditionellen artikulatorischen Begriffen zu finden. Die Terminologie, die in der distinctive-feature-Theorie verwendet werde, sei nicht sehr adäquat, wenn sie gleichzeitig auch auf die perzeptive Dimension angewandt werde. Fischer-J0rgensen sieht nur in der Anwendung psychologischer Methoden einen Ausweg aus dem Dilemma. 37 Jakobson fügt aber für seine Untersuchung (Fundamentals) hinzu: "The distinctive features have been protrayed only on the motor and on the acoustical level, because these are the only two aspects for which we so far possess detailed 33 M. Bierwisch, "Strukturalismus. Geschichte, Probleme und Methoden", Kursbuch 5 (1966), 82. 34 M. Halle, The sound pattern of Russian, 6; vgl. auch: R. Jakobson/M. Halle, Fundamentals, 34 und: G. Heike, Zur Phonologie der Stadtkölner Mundart, 16f 35 R. Jakobson/M. Halle, Fundamentals, 34. 36 R. Jakobson, "The phonemic concept", 442. 37 E. Fischer-J0rgensen, "Perceptual dimensions of vowels", In: To honor Roman Jakobson, Vol. I (Den Haag und Paris, 1967), 667.

44

38

information." Man müßte mit Joos ergänzen, daß die Oppositionen jedoch vorwiegend in akustischen Begriffen definiert werden, die artikulatorischen sind ihnen untergeordnet. Als Beispiel nennt er, daß /p, t, k/ nicht mehr artikulatorisch als Einheit definiert werden; /p, t/ sind als "diffus" (wie /i, u/) gegenüber /k/ (wie /a/) als "kompakt" dargestellt, /p/ als "dunkel" (wie /u/) gegenüber /t/ als "hell" (wie /i/), 39 Obwohl Jakobson und seine Mitarbeiter eine Definition der distinctive features auf allen drei Ebenen beabsichtigen, bestehen für sie bestinmte Gründe, der akustischen Beschreibung den Vorzug gegenüber der artikulatorischen zu geben. Sie erreichen mit dieser Methode die Überwindung der Kluft, die zwischen der Struktur der Vokale und Konsonanten in den traditionellen Beschreibungen der Sprachlaute bestanden hatte, was z. B. an der Charakterisierung des Minimalkonsonantismus und -vokalismus deutlich wird. 40 Sie finden mit der akustischen Methode neue, zusätzliche Symmetrien in der Gliederung nach unterscheidenden Merkmalen (z. B. acute - grave; compact - diffuse), sie reduzieren die Zahl der distinktiven Merkmale, was an folgendem Schema verdeutlicht werden soll: artikulatorische Beschreibung: 4 artikulatorische Konsonantenklassen velar - palatal - dental - labial

l akustische Beschreibung: 2 Binäroppositionen labial - velar

(D

grave : acute

velar - palatal

(2)

dental - palatal

labial - dental

compact : d i f f u s e

41

Der Gebrauch von akustischen statt artikulatorischer Kriterien erlaubt es also Jakobson, zusätzliche Symmetrien in der Beschreibung von Phonemen zu finden. Vachek verweist auf das Jahr 1929, wo in den Thesen zum ersten Slavistenkongreß in Prag schon dem akustischen gegenüber dem artikulatorischen Ansatz der Vorzug gegeben worden ist. Malmberg erwähnt Br0ndal, der als 38 39 40 41

R. M. R. R.

Jakobson/M. Halle, Fundamentals, 34. Joos, Besprechung von Jakobson/Halle, Fundamentals, 4 1 2 . Jakobson/M. Halle, Fundamentals, 39f. Jakobson/M. H a l l e , Fundamentals, 35.

45

erster mit der orthodoxen Theorie brach, nach der die Artikulation als notwendige Basis für phonetische Beschreibungen galt. 42 Noch Trubetzkoy und auch Martinet geben neben anderen Linguisten 43 der artikulatorischen Beschreibung den Vorzug, was Martinet mit ihrer besseren Verfügbarkeit und 44 ihrem größeren Bekanntheitsgrad begründet. Ebeling zitiert Delattre, um zu zeigen, daß die artikulatorischen Fakten ausreichende Ergebnisse liefern, um 45 die relevanten phonetischen Eigenschaften zu entdecken. Martinet äußert weiter, daß die spektrographische Analyse bestätigt, was die artikulatorischen Beschreibungen sofort lieferten. Für ihn ist die artikulatorische Beschreibung wesentlicher, weil sie den Teil des Redeverlaufs umfaßt, über den der Sprecher die unmittelbare Kontrolle hat, was auch von Mol bestätigt wird. An anderer Stelle vertritt er allerdings eine unterschiedliche Meinung zu Martinet: " [ . . . ] it was only natural that the attempt was made to give a more adequate acoustic description beside the traditional artidilatory one." 47 Gegenüber dieser von mehreren Linguisten vertretenen Auffassung, spricht sich z. B. Lisker sehr skeptisch aus: " [ . . . ] but in practice, acoustic description has not been generally adopted as a technique in phonology [...]". 49 Es wurde schon erwähnt, daß die akustische Beschreibung die Klassifizierung nach Binäroppositionen gefördert, ja sogar erst in vollem Umfang ermöglicht hat; Saumjan weist allerdings darauf hin, daß die Klassifizierung von Phonemen nach Artikulationsart und -ort neben mehrgliedrigen auch binäre Oppositionen herausfindet. Er nennt die Klassifizierung von konsonantischen Phonemen nach der Artikulationsart, die in den meisten Fällen Binäroppositionen erbringt, z. B. stimmhaft : stimmlos oder nasal : oral. Die Klassifizierung nach dem Artikulationsort bringt gewöhnlich mehrgliedrige Oppositionen hervor wie z. B. die Ternäropposition der labialen, dentalen und velaren Verschlußlaute. Die Opposition von Vokalen nach dem Artikulationsort kann z. B. binär sein wie in der Opposition von vorderen und hinteren Vokalen; sie kann aber auch mehrgliedrig sein wie in der Ternäropposition von hinteren, mittleren und vorderen Vokalen. Die Opposition von Vokalen nach der Artikulationsweise 42 B. Malmberg, Structural linguistics, 124. 43 Z. B. Twaddel, Liberman; vgl. E. Fischer-J0rgensen, "What can the new techniques", 135. 44 A. Martinet, "Function, structure, and sound change". Word 8 ( 1 9 5 2 ) , 12. 45 C. L. Ebeling, Linguistic units, 27. 46 H. Mol, "Are phonemes really realized?", In: Verb. 5. Int. Kongr. Phon. Miss., Münster 1964, 127. 47 H. Mol/E. M. Uhlenbeck, "The analysis of the phoneme", 172. 48 Z. B. Bush, Fischer-J0rgensen, Malmberg. 49 L. Lisker, "Linguistic segments, acoustic segments, and synthetic speech", Lg. 33 ( 1 9 5 7 ) , 371.

46

ist gewöhnlich auch binär wie z. B. in der Opposition von tiefen und hohen Vokalen oder aber mehrgliedrig wie im Falle der Temäropposition von tiefen, mittleren und hohen Vokalen. 50 Saumjan sieht also besonders in der Analyse von phonologischen Oppositionen, die nach dem Artikulationsort gegliedert sind, die Schwierigkeit, mehrgliedrige Oppositionen auf binäre zu reduzieren. Pilch bemerkt jedoch kritisch, daß es zwar lobenswert sei, daß Jakobson auf die Möglichkeiten der akustischen Phonetik aufmerksam gemacht habe, daß jedoch seine Arbeit inmer nur Diskussionsbeitrag sei und sein werde, in dem einiges unklar bliebe; es sei nicht leicht, besonders wegen der knappen Formulierungen "den Interpretationen des akustischen Materials zu folgen". Er zeigt u. a. auch, daß in der Terminologie eine Mischung artikulatorischer und auditiver Begriffe vorkoirmt: "Man unterscheidet Verschlüsse (artikulatorisch) von Reibelauten (auditiv), Geräuschlaute oder Mutae (auditiv) von Liquiden (auditiv) und Nasalen (artikulatorisch)." 52 Auch er mißt - übrigens wie Jakobson - dem auditiven Aspekt die größte Bedeutung in der Beschreibung zu, der jedoch inrner vernachlässigt worden sei; es seien gerade die gehörten Unterschiede, welche die Bildung von Oppositionen ermöglichen. Ein wesentliches Ziel der binären Klassifikation scheint es zu sein, eine Art "MetaStruktur" zu geben, die eine Übertragung von einer Ebene zur anderen ermöglicht. Es kommt hinzu, daß eine Untersuchung auf mehreren Ebenen eine bessere Garantie für ihre Richtigkeit gewährt als die Analyse auf nur einer Stufe; der Wert bestinrnter Aussagen wird damit erhöht. 54 Die Ergänzung der einen Ebene durch die andere demonstriert Ruwet an folgendem Beispiel: Nach der artikulatorischen Beschreibung wird /p/ als gleichzeitig bilabial und okklusiv, /f/ als labiodental und frikativ gekennzeichnet. Da die Labiodentalen des Französischen inner Frikative sind, während die Frikativen nicht alle Labiodentale sind, ist man versucht, das bilabiale (bzw. labiodentale) Merkmal als einzig unterscheidend in der Opposition /p/ : /f/ anzusehen. Auf der auditiven Ebene werden /p/ und /f/ beide als dunkel (grave) charakterisiert; was sie unterscheidet, ist die Opposition von abrupt, mild (okklusiv) zu dauernd, scharf (frikativ). 50 S. K. Saumjan, Problems of theoretical phonology, 145f. Vgl. H. Lausberg, Romanische Sprachwissenschaft I. Einleitung und Vokalismus (= Göschen Bdch. 128/128a) (Berlin, 3 1 9 6 9 ) , 8Off.

51 H. Pilch, Phoneintheorie, 50, Anm. 69. 52 Ibid., 33. 53 Vgl. auch: G. Lindner, "The present-day tasks of the phonetic sciences (round table discussion)", Proc. of the 6th Int. Congr. of Phon. Sciences, 97. 54 M. Halle, "The strategy of phonemics", Word 1O ( 1 9 5 4 ) , 199. 55 N. Ruwet, "Preface", In: R. Jakobson, Essais de linguistigue generale, Übers, und hg. N. Ruwet (Paris, 1963), 16. Vgl. J.-C. Chevalier et al., Gramnaire Larousse du francais contemporain (Paris, 1964), 17.

47

Die dabei auftretenden Schwierigkeiten werden von Fischer-J0rgensen benannt: "It is generally recognized that there is no one-to-one correlation between the phenomena at the various stages of the speech event [...]. Not all movements of the speech organs have an acoustic effect, not all features of the sound wave are perceived." Diese nicht vorhandene Korrelation ist nicht so schwerwiegend für die Zerlegung der Phoneme in unterscheidende Merkmale. Schwierigkeiten ergeben sich erst dann, wenn man die phonetische Natur der Phoneme und distinktiven Qualitäten auf jeder Ebene gleichzeitig festlegen will, weil die verschiedenen Ebenen unterschiedlich strukturiert sind. Wie kompliziert die Beziehungen zwischen dem Artikulatorischen, Akustischen und Auditiven sind - auch Jakobson bsc hat das natürlich erkannt ström an folgendem Schema: 58

(1)

- zeigt Hammer-

Art 1 J>Ak

^> Aud

Art

Mehrere Artikulationen ergeben ein gleiches akustisches Ergebnis, mehrere akustische Stimuli dasselbe auditive Resultat. (2)

Aud

56 E. Fischer-J0rgensen, "What can", 134. 57 R. Jakobson/M. Halle, Fundamentals, 34.

58 G. Hammerström, Linguistische Einheiten, 4f.

48

Mehrere Artikulationen ergeben eine bestimmte Anzahl von akustischen Ergebnissen, die ihrerseits zu einem einzigen auditiven Eindruck führen. Hamnerström nennt zwei Schlüsse, die man fälschlicherweise aus diesem Sachverhalt gezogen hat: Man schließt von dem Vorhandensein eines akustischen Unterschiedes auf einen auditiven, was das Schema widerlegt. Man schließt von einem auditiven Eindruck auf eine bestimmte Artikulation, doch beweist auch hier das Schema die mögliche Unrichtigkeit dieser Behauptung. 59 Obwohl auch Jakobson vor diesen falschen Schlüssen warnt, ist in seiner Theorie von den Binäroppositionen der "one-to-one correlation" Anspruch enthalten, der von einer Reihe von Linguisten bestritten wird. So fragt sich z. B. Fry im Hinblick auf die Thesen Jakobsons, ob man sich auf der akustischen oder auf der auditiven Ebene befinde. Begriffe wie "aigu" und "grave" seien auditiv, Ausdrücke wie "plain" und "flat" werden von Fry als reine Nötlösungen angesehen.

Für ihn ist jede Theorie, die one-to-one

correlation" zwischen physikalischen und psychologischen (auditiven) Einheiten fordert, äußerst schwer mit experimentellen Untersuchungen in Ein/T ·»

klang zu bringen.

Die Lehre von den unterscheidenden Merkmalen scheint

zunächst diese Möglichkeit zu garantieren, da eine Anzahl von Merkmalen relevant für die Identifizierung eines Phonems ist.

Wenn man von der audi-

tiven zur rein linguistischen Ebene übergeht, ist die enge Beziehung zwischen beiden noch zweifelhafter. Fry versucht das Problem der Übereinstimmung der Übertragbarkeit von einer in die andere (z. B. von der physikalischen in die psychologische) Dimension zu lösen, indem er einen Rahmen von Begriffen schafft, die sich auf beiden Ebenen entsprechen, die miteinander bestimmte Beziehungen eingehen und bei Veränderungen auf einer Ebene Veränderungen auf der anderen erzeugen können: Quality, pitch, loudness, and length are basic dimensions in the perception of acoustic stimuli. Transformation of the physical speech input may therefore be supposed to give rise, in the listener, to patterns which are defined in a four-dimensional space [ . . . ] . Although each of the four psychological dimensions has its principal counterpart in the physical world - pitch: frequency; loudness : intensity; length : duration; and quality : frequency complex - each one may also be influenced by changes in any of the physical dimensions." 59 R. Jakobson/M. Halle, Fundamentals, 34. 60 D. B. Fry, "Perception and recognition in speech;, In: For Roman Jakobson (Den Haag, 1956), 169-173. 61 Ders., "Aspect informationnel de la phonetique", In: Communication et Langages: Information et Cybernetigue (Paris, 1963), 164; vgl. auch: W. Meyer-Eppler, "Problemes informationnels de la communication parlee", In: Communication et Langages, 5 2 f . 62 D. B. Fry, "Perception and recognition of speech", 171.

49

Bush stellt ganz eindeutig fest: "No one-to-one relationship has been established between sound recognition and acoustic specification." Jakobson hat schon 1941 die These aufgestellt, daß eine enge Beziehung zwischen den auditiven Dimensionen der Laute und dem Farbenspektrum bestehe. Er meint etwa, daß die Merkmale "acute-grave" im Normalvokaldreieck als "bright-dark" und die Merkmale "compact-diffuse" als "farbig-farblos (saturated-nonsaturated)" wahrgenommen werden sollten. 64 In seinem Werk von 1952 hat er diese Hypothese modifiziert, indem er "acute-grave" mit "whiteblack", "yellow-blue" und "green-red" korrelieren ließ. Bei diesen Annahmen griff er auf Erkenntnisse von Stumpf/Köhler zurück und auf Testpersonen mit "coloured hearing". Fischer-J0rgensen hat das Verfahren mit Personen mit "normal hearing" durchgeführt und konnte die Ergebnisse von Jakobson nur teilweise bestätigen. Es wurde schon gesagt, und wir wollen darauf zurückkommen: es ist Jakobsons Absicht, eine enge Korrelation besonders zwischen akustischen und perzeptiven Lautstrukturen herzustellen, wobei er auch an die Phonemperzeption nach binärem Verfahren denkt, "that G. v. Bekesy's portrayals of the eardrum responses to the manifold Hungarian and German vowels reaffirm the invariant polarity of the distinct features in a further stage of the speech event". Er weist auf die vielversprechenden Versuche von Hanson hin, diese Merkmale direkt in perzeptiven Begriffen zu fassen, wobei ein enger Zusammenhang zwischen "physical Stimuli" und "perceptual dimensions" bestehe. Hanson bemerkt jedoch, daß die Annahme Jakobsons darauf beruhe, daß es so etwas wie eine perzeptive Invarianz gäbe, d. h. daß die Wahrnehmung einer einzelnen Eigenschaft eines komplexen Stimulus unveränderlich bleibe, während andere sich veränderten. Diese Annahme müsse er in Zweifel ziehen. 68 Truby hat das Segmentierungsproblem auf der artikulatorischen, akustischen und auditiven Ebene durch Isolierung von Phonemen ("Phonett" bei Truby) untersucht, wobei er die Ergebnisse auf allen drei Ebenen miteinander verglich. Es ergab sich, daß weder das artikulatorische dem akustischen Ergebnis, noch eines von beiden der auditiven Wahrnehmung entspricht. 63 64 65 66 67

C. Bush, Phonetic variation, 13. I. Fonagy, Die Metaphern in der Phonetik (Den Haag, 1 9 6 3 ) . Vgl. E. Fischer-J0rgensen, "Perceptual dimensions of vowels". R. Jakobson, "The role of phonic elements in speech perception", 18. G. Hanson, "Distinctive features and response dimensions of vowel perception", 99. 68 Ibid. 69 H. M. Truby, "A note on visible and indivisible speech". In: Proc. of the 8th Int. Congr. of Ling. Oslo 1958, 393-4OO.

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Obwohl Cistovic et al. ein Perzeptionsmodell mit fünf zu durchlaufenden Etappen ("1. Auditory analyses of the input speech wave 2. Phonetic analysis of the auditory patterns 3. Lexical and grarrmatical analysis of the sequences of words 4. Syntactic analysis of the sequences of words 5. Semantic analysis of the sequences of sentences") vorschlagen, ist eine Lösung der Frage nach der one-to-one correlation, besonders aber unter dem Aspekt der Binarität, wie Jakobson sie fordert, nicht abzusehen. Das haben u. a. die Arbeiten von Bondarko/Zinder gezeigt, die die unterscheidenden Merkmale "hard-soft", "voiced-voiceless", "apical-non-apical", "stop-affricate" unter spektrographischen und perzeptiven Gesichtspunkten untersucht haben. Sie kortmen zu dem Schluß: "[...] that there does not exist any direct correspondence between physical characteristics of sounds and their phonological features," wobei sie allerdings die Bedeutung der distinctive-feature-Theorie nicht in Zweifel ziehen. In der Theorie der "aktiven Wahrnehmung", vergleichbar mit der "motor theory of speech perception" bietet sich tentativ von perzeptiver Seite ein Brückenschlag an. Halle gibt z. B. ein Perzeptionsmodell, dessen Kernstück die "generative rules" sind, die gleichzeitig zentral im Produktionsprozeß wirksam werden. 72 Es wird versucht, über die Generationsregeln eine gemeinsame Basis für Produktion und Empfang zu finden. Halle hält es aus ökonomischen Gründen für undenkbar, daß die Sprache für beide Bereiche zwei Arten von Regeln zur Beschreibung beanspruche. Aus diesem Grunde hält er es für nicht sinnvoll, wenn von verschiedener Seite Versuche gemacht werden, spezielle Hörergrammatiken zu erstellen. Ein anderer Versuch in gleicher Richtung geht von Liberman et al. in ihrer "motor theory of speech perception" aus. "The answer seems to us to lie in a theory about speech perception which other aspects of our research had led us previously to adopt, namely, that the perception of speech is tightly linked to the feedback from the speaker's own articulatory movements." Licklider spricht sogar davon, daß "binary distinctions could be extracted, of cause, either from the sensory or the motor patterns. [...], the binary 70 C. Cistovic et a l . , "Psychological methods in speech perception research." ZPSK 21 (1968), 33. 71 L. V. Bondarko/L. R. Zinder, "Distinctive features and their physical characteristics", ZPSK 21 (1968), 74. 72 M. Halle, "Speech sounds and sequences", 433. 73 A. M. Liberman et al·., "A motor theory of speech perception", In: Proc. of the Speech communication Seminar, Bd. 2, Sitzung D (Stockholm, 1963), 4.

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distinctions provide a way of simplifying the pattern on which the identifying mechanism acts." 74 Von Liberman et al. wird behauptet, daß eine enge Beziehung zwischen dem Wahrnehmen und dem Hervorbringen von Lauten besteht. Unter Artikulation verstehen sie allerdings nicht die traditionellen Konzeptionen der artikulatorischen Phonetik, vielmehr die "motorischen Befehle", die die Artikulationsorgane in Bewegung setzen. Unter diesem Gesichtspunkt konstatieren sie erhebliche Unterschiede zwischen Artikulation und akustischem Erscheinungsbild. Sie schreiben: "[...] that phoneme perception was in more nearly one-to-one relation to articulation than to the acoustic signal". Besonders Fant hat gegen diese Hypothese Stellung genommen, obwohl er durchaus zugibt, daß das Hören eine entscheidende Funktion bei der Kontrolle des eigenen Sprechens ausübt.77 Er wirft Liberman vor, daß sein Rückgriff auf die Artikulation ein Problem darstelle, das eine Funktion der Metasprache beträfe, es könne aber doch wohl auf die Beschreibung der natürlichen Sprache an. Seiner Meinung nach erwähne Liberman mehr die Ausnahmen als die Regel, wenn er die Diskrepanzen zwischen Artikulation und akustischem Erscheinungsbild hervorhebe.78 Fant glaubt, daß Liberman zu sehr den augenblicklichen Methoden der akustischen Sprachanalyse mißtraue. Auf lange Sicht müsse man die Untersuchungsergebnisse der Neurologen abwarten; solange diese nicht vorlägen, setze er lieber auf ein verstärktes Studium der akustischen Seite der Sprache. "The motor theory of speech perception has perhaps gained more interest than it deserves." 79 Das Problem der Beziehungen zwischen den verschiedenen Stufen der Rede ist nicht endgültig gelöst. Das Verdienst Jakobsons bleibt es jedoch gezeigt zu haben, wie wichtig dieses Problem für die allgemeine Klassifizierung unserer unterscheidenden Fähigkeiten ist. Die Bedeutung des akustischen Aspekts als Verbindung zwischen Artikulation und Wahrnehmung scheint unzweifelhaft zu sein. Eine angemessene Berücksichtigung und Beschreibung der auditiven Komponenten ist jedoch noch nicht erreicht. Sie ist wesentlich für die Identifizierung linguistischer Einheiten; ohne sie muß eine endgültige Charakterisierung von Oppositionen, eingeschlossen die Binäroppositionen, etwas Unvollkommenes bleiben. 74 J. C. R. Licklider, "On the process of speech perception", JASA 24 ( 1 9 5 2 ) , 594. 75 A. M. Liberman et a l . , "A motor theory", 7. 76 Ibid., 9 Vgl. auch: W. F. Twadell, "Phonemes and allophones in speech analysis", JASA 24 ( 1 9 5 2 ) , 607-611. 77 G. Fant, Comments to Paper D 3 "A motor theory of speech perception", by A. M. Liberman et a l . , In: Proc. of Speech Communication Seminar, Bd. 3, Sitzung D (Stockholm, 1963), 3. 78 Ibid., 4. 79 G. Fant, "Models of speech perception", ZPSK 21 ( 1 9 6 8 ) , 7.

52

3.3

Zum Problem der Koartikulation

Wie schon weiter oben angedeutet, hat vor allem die Phonetik die Unzulänglichkeit des distinctive-feature-Konzepts und der ihm zugrundeliegenden Binarität herausgearbeitet und sie durch Arbeiten an der automatischen Phonemund Merkmaldetektion bewiesen. Dabei hat sich die gegenseitige Beeinflussung der Laute, die sog. "Koartikulation", als größte Schwierigkeit für den Bau von Phonemdedektoren herausgestellt. Die von Jakobson et al. angenonmene Invarianz der Laute bzw. der unterscheidenden Merkmale - in dieser Dimension sind ja Phoneme und distinctive features identisch - auf die er seine binäre Methode stützt, gibt es nicht; allein mit Hilfe der unterscheidenden Merk8O male ist die Synthetisierung von Lauten unmöglich. Es sind besonders individuelle und kontextabhängige Varianten, die erheblich die Aufgabe erschweren, gemeinsame z. B. akustische Merkmale eines Phonems festzustellen. So weist z. B. Heike darauf hin, daß bei den bei ihm zur Diskussion stehenden Analysen und vor allem "bei Quantitätsuntersuchungen nicht nur relative Messungen sinnvoller sind als absolute, sondern daß auch das individuelle Q-l

Bezugssystem des betreffenden Sprechers berücksichtigt werden muß".

An

anderer Stelle betont er, daß es als sicher gelte, "daß Sprachzeichen nicht auf Grund von absoluten Substanzmerkmalen identifizierbar sind. [...], daß auf der Substanzebene mit einer Vielzahl sich überlagernder Systeme zu rechnen 82 ist." Schon im Jahre 1956 haben Wiren/Stubbs auf dieses Phänomen hinge83 wiesen. Unter artikulatorischen und akustischen Gesichtspunkten hält Heike die Erkennbarkeit und Abgrenzbarkeit von Lauten oder Segmenten für unmöglich. Weil eine Segmentierung des kontinuierlichen Sprachflusses in diskrete Einheiten primär nur auf auditiver Grundlage gegeben sei, sollte der Begriff 84 "Laut" nur auditiv definiert werden. Die schon erwähnte Arbeit von Bondarko/Zinder bestätigt dieses Urteil. Sie vermerken u. a., daß die Opposition von "apikalen" zu "nicht-apikalen" und zu "labialen" Konsonanten nach Jakobson/Halle binär beschrieben wird. "However, analysis of the consonants in different phonetic positions shows that the area where energy is concentrated in the spectrum of the consonant is substantially changed depending 80 81 82 83

Das t r i f f t auch für die Methode der "acoustic cues" zu. G. Heike, Zur Phänologie der Stadtkölner, 55 Ibid., 63. J. Wiren/H. L. Stubbs, "Electronic binary selection system für phoneme classification", JASA 28 ( 1 9 5 6 ) , 1O91. Vgl. dazu u. a. auch: C. Schatz, "The role of context in the perception of stops", Lg. 3O ( 1 9 5 4 ) , 47-56. 84 G. Heike, Zur Phonologie der Stadtkölner, 1O.

53

on the quality of the neighbouring vowel" 85 lautet ihr Kommentar zu dieser Konzeption. Nur wenn man die Silbe als Elementareinheit berücksichtige, innerhalb der unterscheidende Merkmale wirksam würden, sei es möglich, von der "Invarianz" phonologischer Merkmale zu sprechen. Diese Erkenntnisse stehen ganz offensichtlich im Gegensatz zu den Feststellungen Jakobsons: "On the plane of psychological reality these features act as percepts which convert the continuum of their physical substratum into discrete polarized attributes. So long as these critical attributes are present, the distinctive features maintain their identity regardless of intensive contextual changes in the physical stimuli." 86 Jakobson verweist R7 als Rechtfertigung seiner These auf Sapir, der die elementaren Einheiten der Sprache mit Noten vergleiche, "which, in the physical world, flow into each other in an indefinite continuum", die aber als Ausdrücke der Notenskala und der Partitur unterscheidbare Einheiten seien "definitely bounded off against each other". 88 Er meint weiter, obwohl Liberman et al. behaupteten, "there is no way to cut the acoustic signal along the time dimension so as to recover segments that will be perceived as separate phonemes, the 89 acoustic representations of the phonemes overlap and intermix [...]", daß "on the level of features sequential segmentation offers no intricacies", 9O wobei er auf die Arbeiten von Cistovic verweist. Die Uberlappungsbeispiele von Bloch beträfen nur den Phonemstatus, fänden jedoch keine Entsprechung bei der 91 Anwendung auf unterscheidende Merkmale. Jedes unterscheidende Merkmal entfalte seine eigene binäre Opposition, es sei denn, es läge "diachronische" oder "stilistische Überlappung" vor. Jakobson verteidigt seinen Standpunkt, indem er zusammenfassend sagt: "Under all these variations any given feature is, however, represented by its relational, polarized, topological invariant, as long as the feature is not obliterated in the utterance, and as long as the phonemic code is common to the encoder and decoder, [...]." 92 Er nennt 85 86 87 88

89 90 91

92

L. V. Bondarko/L. R. Zinder, "Distinctive features", 75. R. Jakobson, "The role of phonic elements", 12. E. Sapir, "Language", In: Enzyclopedia of the Social Sciences IX (1963). R. Jakobson, "The role of phonic elements", 12. Vgl. zum Invarianzproblem in non-verbalem Kontext u. a. H. Seiffert, Information über die Information, München, 2 197O, 33. A. M. Liberman et a l . , "On the efficiency of speech sounds", ZPSK 21 (1968), 2 3 f f . R. Jakobson, "The role of phonic elements", 14, 15. Vgl. Bemerkung S. 52, "in der Dimension sind Phoneme und distinctive features identisch". Dazu auch: E. Benveniste, Problemes de linguistique generals, 120, 121. R. Jakobson, "The role of phonic elements", 15.

54

als Beispiel der Invarianz "the upward shift of pitch", das nach Bondarko/Zinder ein unveränderbares Kennzeichen der russischen konsonantischen Opposition "spitz/nicht-spitz" sei. "The examples repeatedly adduced against the principle of invariance are hardly conclusive." 93 Erstaunlich bleibt irtmerhin, daß sich Fant und Halle, ehemalige Mitarbeiter Jakobsons, mehr und mehr von der Invarianzkonzeption abgewandt haben. 94 Obwohl Fant ähnlich wie Jakobson von "relative invariance" bzw. "relational invariance" spricht - man könnte schließen, die Standpunkte seien gleich fordert er: "In order to make a specification of contextual variants feasible it is advisable to present the data on each phoneme or feature in a few reference contents only and add contextual rules derived from studies of 95 coarticulation, reductions etc. [ . . . ] . " Er spricht vom sog. "contextual bias". Er gesteht zu, daß es durchaus Phoneme wie /s/ gibt, die unabhängig vom Kontext identifiziert werden können. Vokale, Nasale oder Laterale machen sicherlich mehr Schwierigkeiten als Verschlußlaute, Affrikaten oder Frikative. Als Grund nennt er u. a. die größere Affinität zur Koartikulation. Halle hat die Konsequenz aus den Bedenken der Phonetiker gezogen, zumindest gibt er zu, "there will be utterances or parts of utterances that will not be segmentable." Er schlägt, wie schon erwähnt, ein Modell vor, das "overcomes in a natural manner the problems raised by Overlapping allophones1 as well as those resulting from the impossibility to achieve complete seg97 mentation of all utterances." In The Sound Pattern of English ist dieser Weg fortgeführt, wo er u. a. die Trennung zwischen phonologischer und phonetischer Darstellung vollzieht, auch was die Binarität der Merkmale anbetrifft (vgl. S. 20ff). Auch Lüdtke betont, daß in den letzten Jahren entscheidende Argumente gegen das traditionelle Segmentierungsverfahren hervorgebracht worden seien, besonders - wie schon angedeutet - von Seiten der Sprachsynthese, von der Phonetik, aber auch von Seiten der Linguistik, wie z. B. von Chomsky und seiner Schule, die ebenfalls glauben, daß das Phonem kein natürliches Segment sei. Lüdtke führt aus: "Die Bemühungen um eine physikalische Begründung der Phonemtheorie müssen also als gescheitert gelten, wenn auch einzelne Wissenschaftler 93 Ibid., 16. 94 Vgl. z. B. G. Fant, "Models of speech perception", ZPSK 21 ( 1 9 6 8 ) , 6; vgl. ders., "Theory of distinctive features", STL-QPSR 4 ( 1 9 6 6 ) , 5 und G. Neweklowsky, "Die 'distinktiven Merkmale 1 aus neuer Sicht". 13O. 95 G. Fant, "Theory of speech analysis", 8. 96 M. Halle, "Speech sounds and sequences", In: Proc. of the 4th Int. Cong . of Phon. Sciences (Den Haag, 1962), 43 . 97 Ibid., 433.

55

sie noch weiterhin fortführen mögen". 98 Er nennt z. B. Ebeling und Fry. Konsequent weitergeführt bedeuten diese Worte auch, daß Jakobsons Theorie zumindest teilweise gescheitert ist,

da sie sich auch auf physikalische Aussagen

stützt. Aus der Tatsache, daß es nach Lüdtke in der heutigen Linguistik zwei Beschreibungsmodelle gebe, die eine Wahl zwischen "Abfolge" und "Kbntinuum" Interpretation erforderten, die dann zur "Einseitigkeit" und "Unvollständigkeit" führten, "da beide Darstellungsweisen möglich und richtig sind, einander aber gegenseitig ausschließen", kommt er zu einer möglichen dritten Beschreibungsmethode. Er versucht, seine Überlegungen zu der engen Verbindung von Alphabetenschrift und Phonemtheorie weiterzuentwickeln, und meint, "die Phonemtheorie verliert ihre Stütze, wenn es gelingt, die Erfindung des Alphabets anders zu motivieren als durch die Annahme einer vorgegebenen Segmentierung des Redestroms". 99 Eine neue Theorie könne dadurch entstehen, daß man von der Silbe als Element der Abfolge und von den distinktiven 100 Merkmalen ausginge. Es werde versucht, "eine solche Sprachtheorie ohne alphabetbedingte Scheuklappen" zu entwickeln. Zusammenfassend muß gesagt werden, daß Jakobson hauptsächlich aus der Perspektive des Linguisten argumentiert. Für ihn ist deshalb die Hörerperspektive entscheidend, wo die Diskriminierungsmöglichkeit durch die Beibehaltung der Invarianzthese seiner Meinung nach nicht eingeschränkt wird. Die Ablehnung aus Kreisen der Phonetik berühre nicht unmittelbar den "linguistic level". Andererseits muß aber gesagt werden, daß sich Jakobsons distinctivefeature-Theorie, einschließlich ihres binären Fundaments, auf vorwiegend aus der akustischen Phonetik entnoimiene Erkenntnisse stützt. Jakobson muß sich gerade aus diesem Bereich Kritik gefallen lassen, zumal die Ergebnisse der phonetischen Forschung im Anschluß an die Veröffentlichung seiner Theorie einen enormen Aufschwung genommen haben und zu einem erheblichen Teil seine bestechenden Hypothesen falsifizieren. Die Kritik ist ernstzunehmen, gerade von Jakobson, der sich inmer für eine "phonetique fonctionnelle", also eine Verbindung von Phonetik und Phonologie, eingesetzt hat. Die Stinmigkeit zwischen beiden Disziplinen - beide untersuchen das Phänomen Sprache - scheint im System der unterscheidenden Merkmale von Jakobson durch die Falsifizierung von Seiten der Phonetiker nicht mehr gegeben, auch wenn eine Reihe von Linguisten eine Widerlegung aus dem 98 H. Lüdtke, "Die Alphabetschrift und das Problem der Lautsegmentierung", Phonetica. 2O ( 1 9 6 9 ) , ISO. 99 H. Lüdtke, "Die Alphabetschrift", 148. 100 Ibid., 168.

56

phonetischen Bereich als "unerheblich" abtun will. Zumindest auf der Ebene der Phonologic scheint uns eine solche Position sehr anfechtbar zu sein. 3.4

Zwei methodologische Probleme

Wie für viele Sprachwissenschaftler ist fur Trim die Linguistik eine "behavioural science". Ihr Material ist die gesamte Skala des menschlichen Sprachverhaltens, und sie muß "apply to it the principles of scientific method - observation, induction, deduction, validation - [ . . . ] " , was von Cherry bestätigt wird, der die "induction - experiment - deduction - revision technique" für eine gute wissenschaftliche Methode hält. 102 Jakobsons Hauptwerke sind als Versuch anzusehen, mit Hilfe moderner, vervollkonitineter instrumentaler Methoden seine von ihm aufgestellte Hypothese - die bisherige Darstellung hat das schon gezeigt - zu prüfen. Diesem Versuch folgen eine Anzahl von Linguisten, die an der Diskussion beteiligt sind; sie sehen ihn als gerechtfertigt an: "The potential value of any hypothetical construct is realized only to the extent that its structure may be meaningfully related to the physical world." 1O4 Dieser Versuch kann immerhin als eine mögliche Antwort auf die Forderung Malmbergs angesehen werden: "A technique is needed in order to test the validity of Jakobson's binary hypothesis." Das Kriterium der "Einfachheit/Ökonomie", nach dem sich z. B. für Halle neben der Uberprüfbarkeit durch sog. "physical data" der Wert theoretischer Konzepte bestinmen läßt, wird im folgenden am Beispiel von Jakobsons Hypothesen diskutiert. Welche Problematik die daran anschließende Darstellung unter dem Stichwort "Apriorismus" meint, soll mit folgenden Bemerkungen Chomskys zur Theorie Jakobsons kurz umrissen werden: "It is difficult to determine which statements are empirical hypothesis and which are true by definition [...]." 1 ° 7 3.4.1 Einfachheit und Ökonomie Es ist bekannt, nicht zuletzt durch die Arbeiten Martinets, daß das sprachliche Verhalten durch eine ständige Antinomie geregelt wird, die zwischen den koimunikativen Bedürfnissen des Menschen und seiner Neigung besteht, seine 101 J. L. M. Trim, "The identification of phonological units", In: Proc. of the 4th Int. Congr. of Phon. Sciences (Den Haag, 1 9 6 2 ) , 7 7 4 f . 102 E. C. Cherry, "Roman Jakobson's "distinctive features" as the normal co-ordinates of a language", 62. 103 Preliminaries to speech analysis, Fundamentals of language. 104 C. Bush, Phonetic variation, 141. 105 B. Malmberg, Structural linguistics, 127. 106 M. Halle, The sound pattern of Russian, 12. 107 N . Chomsky, Besprechung von Jakobson und Halle, Fundamentals of language, 234.

57

geistigen und physikalischen Anstrengungen auf ein Minimum zu reduzieren.

108

Anders, etwa vereinfachend und überspitzt, mit einer Akzentverschiebung ausgedrückt, ist die Sprache dahin ausgerichtet, mit den sparsamsten Mitteln den größtmöglichen Effekt zu erzielen; sie will Energieersparnis. Die Einschränkung der Zahl von Oppositionen z. B. muß aber eine genügend klare, verständliche Koninunikation ermöglichen, wozu wiederum eine ausreichende Anzahl von Oppositionen notwendig ist,

die in der Sprache beibehalten werden muß. Der dar-

gestellte Sachverhalt wird allgemein mit dem Begriff "Sprachökonomie" ge1O9 riff "Ökonomie" im kennzeichent. Halten wir zunächst fest, daß der Begriff 110 Zusammenhang mit dem System der Sprache gebraucht wird. Die Aufgabe des Linguisten besteht darin, die Struktur und die Entstehung eines oder des sprachlichen Systems zu beschreiben, dessen Merkmale sich aus den verschiedensten menschlichen Äußerungen zusammensetzen. Sein natürliches Ziel wird es sein, nach Vereinfachungen zu suchen, um dieser schwierigen Aufgabe gerecht zu werden, ohne daß die Vereinfachung selbst ein Ziel dieser Untersuchung wird. Die Binärklassifikationen von Jakobson scheinen eine solche Bemühung um Vereinfachung bei der Darstellung des sprachlichen Systems zu sein. Wie wir schon beobachten konnten, liegen die Grundlagen von Jakobsons Theorie in der Logik, der das sog. Prinzip der "Simplizität" zugrundeliegt, das einen allgemeingültigen Grundsatz der Methodologie darstellt. Interessant ist in diesem Zusammenhang, was W. Schmidt über den Begriff "Denkökonomie" bei Klaus referiert: "Denkökonomie selbst ist immer Ökonomie in bezug auf ein bestimmtes Ziel, in bezug auf einen bestimmten Zweck [ . . . ] . Wenn etwas denkökono112 misch ist, ist es auch nützlich. Diese Beziehung ist nicht umkehrbar." Saumjan stellt fest: "We should regard as simpler that one of two linguistic descriptions which, under otherwise equal conditions, utilizes a smaller 113 number of distinctive features." Im Prinzip wäre nichts dagegen zu sagen, die lautlichen Merkmale der Phoneme in absoluten und positiven Begriffen zu beschreiben. Eine solche Beschreibung wäre aber sicher kompliziert und kaum auf die Gesamtheit eines phonologischen Systems anzuwenden; sie käme außerdem in Konflikt mit dem funktionalen Gesichtspunkt der Sprachbetrachtung. Dazu sagt Halle: "In the traditional frameworks considerations of economy play no role 108 A. Martinet, Economie des changements phonetiques (Bern, 1 9 5 5 ) ; vgl. auch: G. Z i p f , Human behaviour and the principle of least effort (Cambridge, Mass., 1949). 109 Vgl. E. Benveniste, Promblemes, 29. HO Vgl. auch: H. Weinrich, Phonologische Studien zur romanischen Sprachgeschichte, 7. 111 Vgl. A. Kraak, Besprechung von Robert M. W. Dixon, Linguistic science and logic (Den Haag, 1963), FL l ( 1 9 6 5 ) , 77. 112 W. Schmidt, "Zur Theorie der funktionalen Grammatik", ZPSK 22 ( 1 9 6 9 ) , 138. 113 S, K. Saumjan, Problems of theoretical phonology, 16O; vgl. auch: G. Fant "The nature", In: To honor Roman Jakobson, 636.

58

in the presentation of data."

Mit anderen Worten heißt das: Erst die Analyse

nach distinctive features ermöglicht eine Beschreibung nach ökonomischen Gesichtspunkten . Die Binäropposition scheint die einfachste Form von Beziehungen zu sein. Sie scheint von daher besonders geeignet, in einem System angewandt zu werden, wo die einzige Funktion der Beziehungen darin besteht zu unterscheiden: "The binary code represents an extreme simplification and, therefore, the highest degree of efficiency."

Malmberg nennt als Beispiel das Morsealphabet, wo die

Nachricht auf eine Reihe von "ja-nein" Antworten reduziert ist, dargestellt durch Längen (Striche) und Kürzen (Punkte). Pilch setzt den Begriff "maximal ökonomisches System", in dem die Wahl zwischen zwei Antworten besteht, mit dem Begriff "System mit binärer Struktur" gleich. In der Diskussion um die phonologische Theorie Jakobsons wird das Prinzip der Simplizität durchweg als erstrebenswertes Ziel jeder sprachlichen Charakterisierung anerkannt, selbst von Linguisten, die in bestinmten Punkten anderer Meinung als Jakobson sind wie z. B. Fry: "The idea of distinctive features 117 is attractive because of its simplicity and its generality." Halle hebt hervor, daß es u. a. auch aus Überlegungen der Vereinfachung geschehen sei, daß manche Merkmale einen neuen Namen erhielten. Er nennt die traditionellen Begriffe "tense-lax, aspirated-unaspirated, fortis-lenis", die 118 unter dem einen Merkmalpaar "tense-lax" zusaninengefaßt würden. So wurden z. B. ebenfalls aus Gründen des Prinzips der Simplizität entgegen der Darstellung in üblichen phonetischen Standardwerken Verschlußlaute von Affrikaten 119 mit Hilfe des Merkmalpaares "strident : mellow" unterschieden. Ein Hauptvorwurf gegenüber den traditionellen Darstellungen ist die 1 OO

Nichtverwendung einer gemeinsamen Beschreibung für Vokale und Konsonanten. Ein weiteres Beispiel für die einfache Darstellung phonologischer Zusammenhänge ist die Reduzierung der Liquiden auf eine Kombination von vokalischen und konsonantischen Merkmalen und /h/ auf eine Verbindung von nicht-vokalischen und nicht-konsonantischen Merkmalen. 114 M. Halle, "In defence of the number two", 72. 115 B. Malmberg, Structural linguistics, 121. 116 H. Pilch, Phonemtheorie, 131. Vgl. dazu: W. H. Veith, "Universalität und Sprachimmanenz bei binären und ternären Merkmalmodellen", ZDL 37 ( 1 9 7 1 ) , 28O-3O4, der zu zeigen versucht, wann binäre oder ternäre Modelle bzw. eine Mischung aus beiden ökonomischer sind. 117 D. B. Fry, "Perception and recognition in speech", 17O. 118 M. Halle, "In defence of the number two", 68. 119 M. Halle, "In defence of the number two", 69 (weitere Beispiele sind genannt); Halle weist allerdings auch darauf h i n , daß eine Reihe von Merkmalcharakterisierungen, mit Ausnahme des Namens, gleichgeblieben sind. 120 Vgl. jedoch auch die Einwände gegen eine gemeinsame Beschreibung z. B. bei G. Fant, "Theory of distinctive features", CSTL-QPSR 4 (1966), 3.

59

So einheitlich die positive Beurteilung des Prinzips der Simplizität ist, das Jakobson in seiner Theorie verwendet, es fehlt nicht an Hinweisen auf die Gefahr, dieses allgemein anerkannte methodologische Prinzip zu verzerren und es in seiner Anwendung zu mißbrauchen, so z. B. durch Fant: "It is also said that inherent features in contrast to prosodic features are definable without a reference to the sequence. These rules are oversimplified and need to be re121 formulated and expanded." Obwohl Chomsky sich sogar dafür einsetzt, "an even more economical description" zu suchen, 122 hält er die Binärklassifikation Jakobsons für "grob vereinfachend".

Auch Bar-Hillel bestätigt, "simpli-

city is a virtue of a whole system", er fügt aber einschränkend hinzu: "An increase of simplicity is one part of a system, if accompanied by a decrease in the remainder, is of doubtful value." 124 Er erläutert seine Behauptung an einem Beispiel. Die beiden französischen Phoneme /b/ und /p/ unterscheiden sich durch die distinktiven Merkmale "lenes" : "fortes" und "stimmhaft" : "stimmlos". Die anderen Phoneme, so fährt er weiter fort, unterscheiden sich unter normalen Bedingungen nur durch ein Merkmalpaar. Die Forderung, die Jakobson erhebt, daß nur die lenes : fortes Opposition im Falle der Phoneme /b/ und /p/ distinktiv, die Opposition stimmhaft : stimmlos hingegen redundant sei, was auch Fischer-J0rgensen behauptet,

begründet Bar-

Hillel damit, daß Jakobson diese Forderung nur aus Überlegungen der Simplizität erhoben habe.

Der Gebrauch von unterscheidenden Merkmalen in der

Binärtheorie Jakobsons reduziert die Zahl der elementaren Einheiten in der Phonologie (z. B. im französischen Vokalsystem 5 distinktive Merkmale anstelle von 15 Phonemen). Ivic weist nun darauf hin, daß diese Reduzierung gar nicht so weitreichend ist, wenn man sich klarmacht, daß die unterscheidenden Merkmale eine Mischung von zwei Einheiten sind (ja oder nein). Außerdem sei eine weitere Spezifizierung notwendig, wenn Redundanz für das betreffende Merkmalpaar vorliege, die schwerer auszumachen sei, als zwischen + und - zu unterscheiden. Er gibt zwar zu, daß dies nichts an der Simplizität der distinctive features in der Beschreibung ändere, fügt aber noch aus praktischen Erwägungen ein 121 G. Fant, "The nature of distinctive features", 637. Vgl. auch R. D. Wilson, "A criticism of distinctive features", JL 1 ( 1 9 6 6 ) , 2O3. 122 N. Chomsky, Besprechung von Jakobson und Halle, Fundamentals of language, 236. 123 H. Birnbaum, "Syntagmatische", 341. 124 . . Bar-Hillel, "Three methodological remarks on Fundamentals of language", Word 13 (1957) , 3 2 7 . 125 E. Fischer-J0rgensen, "Die Bedeutung der funktionalen Sprachbetrachtung für die Phonetik", 19. Vgl. auch: C. L. Ebeling, Linguistic units, 29. 126 . H. Bar-Hillel, "Three methodological remarks", 327; vgl. dazu: H. Lausberg, Romanische Sprachwissenschaft I, 84, Anm. 5.

60

Bedenken hinzu: "An attempt to replace phoneme symbol in every day linguistic practice by lists or columns of pluses, minuses and zeroes would make descriptions much clumsier." Dem entgegen zu stellen wäre der Versuch Freis, sog. "matrices syntaxiques" aufzustellen, deren Wert er gerade in der sunplicite sieht. Auch Hockett macht darauf aufmerksam, daß größere Ökonomie, "reduction of inventory" in den phonologischen Grundeinheiten - gemeint ist eine kleinere Liste von distinctive-feature-Oppositionen - von zweifelhaftem Wert sein kann, wenn sie dazu führt, auf anderen linguistischen Ebenen Schwierigkeiten zu bereiten. 129 Das trifft wohl auf die Feststellung Jakobsons zu, daß die Binäroppositionen auf die Phoneme aller Sprachen angewendet werden sollen. Heien Contreras geht sogar so weit zu behaupten, daß die Bejahung des binären Prinzips in der Phonologie mit dem Simplizitätskriterium in Konflikt kommt, das von Halle vorgeschlagen wird, "in the sense that rules which are intuively more general are not consistently simpler than less general rules [...]", was nach ihrer Meinung zu inadäquaten Ergebnissen führen kann. In eine ähnliche Richtung gehen die Überlegungen Saumjans, der betont, daß Ökonomie allein nicht das ausschlaggebende Kriterium für eine kleinere oder größere Adäquatheit eines bestimmten Modells sein kann. 131 Für ihn liegt das entscheidende Kriterium jedes Modells in seiner Fähigkeit, unmittelbar beobachtete Fakten zu erklären, also in seiner erläuternden Funktion. Wenn zwei Modelle vorliegen, die diese Fähigkeit gleich gut besitzen, sollte das ökonomischere vorgezogen werden. Es entscheiden also praktische Überlegungen. Saumjan fügt aber einschränkend hinzu, "however if the more economical model encounters theoretical difficulties and presents a less thorough explanation of the directly observed data, we are compelled to select inhesitatingly the less economical model". 133 Zusammenfassend läßt sich also sagen, daß allgemein in der Diskussion das von Jakobson verfolgte Ziel nach Simplizität oder Ökonomie in der Beschreibung n

i .

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l fco

127 P. Ivic, "Roman Jakobson and the growth of phonology", 54, Anmerkung. 128 H. Frei, "Matrices syntaxiques", In: Linguistic Studies presented to A. Martinet on the Occasion of his Sixtieth Birthday, hg- A. Juilland, Part I: General Linguistics, Mord 23 ( 1 9 6 7 ) , 185. 129 Ch. F. Hockett, A course of modern linguistics (New York, 1958) . 130 H. Contreras, "Simplicity, descriptive adequacy and binary feature", Lg. 45 ( 1 9 6 9 ) , 1. 131 Saumjan will· ein Modell einführen, das aus 14 Paaren von sog. "differentors" und 4 Typen von "culminators" besteht, das sich auf seine "two-level theory" stützt, aber nicht so ökonomisch ist wie das Binärmodell Jakobsons. 132 Saumjan glaubt dies vom Modell Jakobsons, das nicht zwischen der "phänotypen" und "genotypen" Ebene unterscheidet wie das Modell Saumjans. 133 S. K. Saumjan, Problems of theoretical phonology, 191.

61

anerkannt wird. Gleichzeitig wird aber davor gewarnt, dieses Prinzip zum Ziel selbst zu erheben, was dazu führen kann, daß es zu nicht adäquaten Darstellungen und Ergebnissen kennt. Dieser Vorwurf wird nicht zuletzt gegen Jakobson erhoben - trotz des Lobs für die Anwandung des allgemein gültigen methodischen Prinzips in seiner Theorie von den phonologischen Binäroppositionen. 3.4.2 Apriorismus: ein Vorwurf von Andre Martinet Es wurde schon auf die Gefahr hingewiesen - Ungeheuer spricht sie aus - daß eine gewisse Symmetrie und Kohärenz formallogischer Zusamnenhänge dazu verleiten kann, untersuchten Phänomenen der Sprache diese Attribute aufzuzwängen. Bondarko stellt dazu ergänzend fest: "Any logical description of a phonemic system which aims only at obtaining a linguistic model, is not obligatorily based on the results of investigations of real characteristics of speech." 134 Die Bedenken, die aus dieser Äußerung sprechen, werden sehr deutlich von Martinet im Hinblick auf die Theorie Jakobsons genannt: "Cette theorie [gemeint ist der Binarismus] apparait plus ccrtme une vue de l'esprit que centre un effort pour coordonner les resultats d'observations prealables." Er wirft 1 "3ß dem System Jakobsons vor "aprioristisch" zu sein, er nennt es "schema 1 ~\1 1 "3fi preetabli" oder "une manipulation des donnees". Folgende Gedanken in den Fundamentals lassen z. B. den Vorwurf Martinets verständlich, ja gerechtfertigt erscheinen: "A system of distinctive features based on mutually implicating relation between the terms of each binary opposition is the optimal code and it is unwarranted to assume that the speech participants in their encoding and decoding operations use a more complicated and less economic 1->Q set of differential criteria." Martinet gesteht zwar die Notwendigkeit zu, die Oppositionen in der Terminologie der Klangsubstanz, d. h. akustisch, zu definieren - wir haben aber auch gesehen, daß er andererseits der artikulatorischen Beschreibung den Vorzug gibt - die Begriffe als solche sind ja neutral; aber jeden Versuch, sie zu einer bestimmten Beschreibungsgrundlage zu wählen (z. B. grave : diffuse, 134 L. V. Bondarko, "The syllabe structure of speech and distinctive features of phonemes", Phonetica 2O ( 1 9 6 9 ) , 1. 135 A. Martinet, Economie des changements phonetiques, 73. 136 Ders., "Substance phonique et traits distinctifs", 75, 82; vgl. auch ders., "Troubetzkoy et le binarisme", In: La linguistique synchronique, 77-83, wo er die Entwicklung des Binarismus in der Prager Phonologie bei Trubetzkoy u. Jakobson beschreibt und Trubetzkoy vom aprioristischen Binarismus freispricht. In dieser Argumentation beruft er sich besonders auf Cantineau. 137 Ders., "Substance phonique et traits distinctifs", 75. 138 Ders., Economie, 75. 139 R. Jakobson/M. Halle, Fundamentals of language, 47.

62

strident : mellow), sieht er als willkürlich an. Für ihn ist allein die Proportionalität der Relationen zwischen bestimmten sprachlichen Einheiten maßgebend, "üne difficulte plus serieuse provient de l"existence d1oppositions multilaterales, manifestement non binaires: les consonnes du francais (et de nombreuses autres langues) se groupent en trois series (labiales, dentales, palatales), [...]." 14O Martinet sieht in dem Binarismus Jakobsons eine Fortsetzung des "primitiven Binar ismus", wie er sagt, eine systematische Vervollkommnung der Korrelationen (den sog. "oppositions bilaterales"), von der er Trübetzkoy ausnimmt. Ihm gesteht er zu, den Versuch gemacht zu haben, sich von dieser Form der Sprachbetrachtung zu lösen, die er, Martinet, für äußerst subjektiv hält. 141 Für ihn sind es rein theoretische Überlegungen, die zum radikalen Binarismus Jakobsons geführt haben. Für Martinet gibt es keine sinnvolle Bestätigung des Binarismus; die objektive Untersuchung der lautlichen Struktur der unterscheidenden Merkmale ist nach seiner Meinung in der Analyse Jakobsons reine Manipulation: "Ce qu'oublient les binaristes, c'est que dans la realite phonetique il n'y a pas d'absolu, pas de sons qui soient absolument stridents, et d1autres qui soient absolument mats; il y a peut-etre une hierarchie assez constante dans la stridence; [...]." 143 Als Beispiel für seine These nennt er die drei Vokale /i/, /ü/, /u/ aus der gleichen Ordnung; sie bilden eine Dreiheit. Sie als zwei Binäroppositionen darzustellen, erscheint ihm als eine Verfälschung der Wirklichkeit. 144 Auch Pauliny, der ansonsten das System der Binärklassifikation bejaht, gibt zu, daß der Beweis für einige binäre Oppositionen nicht befriedigend ausfällt. Er nennt als Beispiel die Opposition der Vokale o-e : a als diffus : kompakt und die Opposition der Vokale o-e : u-i als kompakt : diffus. Auch die schon genannte Aufspaltung der Opposition kompakt : diffus durch Halle in die zwei Oppositionen kompakt : nicht-kompakt (a : o-e, u-i) und diffus : nicht-diffus (u-i : o-e, a) sieht er als künstliche Abstraktionen an, denen der Bezug zu den konkreten sprachlichen Strukturen fehle. 145 Die in Anlehnung an die Merkmalbezeichnungen von Harms für das Deutsche erstellten Graphiken von Veith bestätigen dieses Unbehagen. 140 V. Belevitch, "Langage des machines", 1O3.

141 Vgl. S. 61, Anm. 136. 142 143 144 145 146

A. Martinet, Economie des changements phonetiques, 73. Ibid., 125; vgl. auch Abschnitt "Zum Problem der Koartikulation". Ders., "Function, structure, and sound change", 15. E. Pauliny, "The principle of binary structure in phonology", 122. R. T. Harms, Introduction to phonological theory, (Englewood C l i f f s , N. J. 1968).

63 2.1.2

2.1.2.1

ternär kompakt

(kom)

; intermediär :

diffus

bei Kernphonemen i

y

i

«

ui u u

ae

0

0

oe

D

B a

+ kom

+ kom

- kom

147

Der Angriff Martinets scheint eindeutig gegen eine rationalistisch orientierte Theorie zu gehen, zu deren Vertretern z. B. Descartes zu rechnen ist. Martinet erhebt Vorwürfe gegen die Thesen Jakobsons, die ihm in vielem den Überlegungen Descartes' zu ähneln scheinen. Im Denkschema Descartes' scheint die Induktion eine ebenso untergeordnete, oder gar keine, Rolle wie bei Jakobson zu spielen, 148 die zentrale Komponente, der Ausgangspunkt wissenschaftlicher Methodik ist für Jakobson (vgl. Descartes) in den Augen Martinets ganz eindeutig die Deduktion. Derjenige, der die Deduktion bevorzugt, scheint sich notgedrungen den Vorwurf des Apriorismus auszusetzen. 149 Dieser These entspricht, was Saumjan zum binären Modell sagt: "Our preference of the binary model to others is not contingent on inductive considerations but on the fact that the binary model of phonological opposition constitutes a convenient abstract hypothesis." 150 Er erläutert dann jedoch weiter, daß die Ergebnisse der strukturalen Linguistik, die bisher vom Standpunkt "wahr oder falsch" gesehen wurden, als einfache begriffliche Definitionen neu beurteilt werden sollten, die dann wiederum bewirkten - Definitionen sind willkürlich - daß mit der definitorischen Änderung andere gleichwertige Beschreibungssysteme entstehen. Pauliny wendet sich gegen eine Kritik, die versucht, mit unangemessenen positivistischen Kriterien die Binäranalyse Jakobsons zu beurteilen. Er schreibt: Some of the linguists raise objections to it [gemeint ist das System Jakobsons], acting - consciously or inconsciously - according to positivist methods and finding out such phenomena as seem to contradict the said thesis. 147 W. H. Veith, "Universalität und Sprachimmanenz", 294. 148 Vgl. z. B. R. Descartes, Regeln zur Leitung des Geistes, Übers, u. hg. A Buchenau (Hamburg, 2 1 9 6 2 ) , 8f. (Regel I I ) . 149 M. Toussaint, "Gustave Guillaume et l'actualite linguistique", Langages 7 ( 1 9 6 7 ) , 94. 150 S. K. Saumjan, Problems of theoretical phonology, 174. 151 Ibid., 169f.

64 These scholars are not willing to realize that the phonological view of the fundamental unit of the phonic structure d i f f e r s , in principle, from the positivist point-of-view: from the phonological point-of-view the fundamental unit is supposed to be an independently existing fact of nature. The methodological viewpoint universally accepted for scientific research does not allow to mix both standpoints.152

Wenn es auch zunächst so aussieht, als wenn der Vorwurf des Apriorismus allein von Martinet käme, so ist das nicht ganz richtig. Seiner Meinung sind eine ganze Reihe von Linguisten; zu ihnen gehört selbst Fant, zeitweiliger Mitarbeiten Jakobsons, der bestiitmte Elemente in dessen Theorie als "arbitrary construction" ansieht. Als Beispiel erwähnt er die Definition der Vokale und Konsonanten. Hält er es für durchaus angebracht, die Liquiden als gleichzeitig vokalisch und konsonantisch zu betrachten, so meint er jedoch: "But the classification of the consonant h (and glides) as being non vocalic and non consonantal is a more arbitrary construction", fügt allerdings einschränkend hinzu, "although arguments can be raised in favor of such a classification". Hockett nennt das Binärsystem "a psychologic reductio ad absurdum", eine Art "game-playing", was er durch "hugging the phonetic ground closely" vermeiden will: "We are forced by the lack of balance and neatness in the average language to recognize a larger number of ultimate phonologic constituents 154 than would be called for in a purely arbitrary binary coding." Obwohl Chomsky den Vorwurf Hocketts als "unfair" bezeichnet,

spricht er von einem

"theoretical apparatus", den Jakobson auf die Analyse jeder Sprache anwende. Ivic nennt die binäre Analyse ein Ergebnis von Abstraktion, die nicht aus dem Material selbst hervorgeht; er hält diesen Abstraktionsprozeß für legitim und nützlich, fügt aber hinzu, "the value of an abstraction depends, among other things, on how many steps are necessary to arrive at it, starting from irrmediately given facts (and vice versa), and also on how arbitrary those steps are". Daraus schließt er: "The manner in which entities are grouped in (extralinguistic and linguistic) reality does not always lend itself equally well to a binary representation."

Schwerer sind jedoch die Vorwürfe von

Ebeling, der von den phonologisehen Oppositionen als etwas spricht, das noch 158 nicht dem "speculative stage" entwachsen ist, und vor allem von Trim, der 152 E. Pauliny, "The principle of binary structure", 121. Vgl. auch: M. Bierwisch. "Strukturalismus", 148. 153 G. Fant, "The nature of distinctive features", 638. 154 Ch. F. Hockett, A manual of phonology, 1 7 4 f . 155 N. Chomsky, Besprechung von Ch. F. Hockett, A manual of phonology. (=Indiana University Publications in Anthropology and Linguistics, Memoir 1 1 ) , IJAL (1955) , 231. 156 Ders., Besprechung von Jakobson und Halle, Fundamentals of language, 234. 157 P. Ivic, "R. Jakobson and the growth of phonology", 55. 158 C. L. Ebeling, Linguistic units, 28.

65

sagt: "Linguistic, including phonological, analysis which concentrates upon the purity of its procedures for inventing a system to give a complete and economic description of a closed corpus of observed utterances is not scientific, but ic:q scholastic." ^ Garvin spricht von "Jakobsonian metaphysics" und mit seinen Fragen, "do we not impose undue limitations on our procedures by making a-priori assumptions? Wy not just limit ourselves to the observable facts of the corpus and precede form there?", stehen wir wieder bei Martinet. Er weist darauf hin, "il faut repeter, une fois de plus, que ce n'est pas a la langue de se conformer aux edits des linguistes, mais aux linguistes d1adapter leurs methodes si elles ne rendent pleine justice a la langue etudiee", ein Zitat, das Leroy anführt, um seine eigene Meinung zu dem Problem des Apriorismus zu bekräftigen. Schon Saussure hat diese Ansicht im Hinblick auf grammatische Einheiten vertreten: "Mais l'essentiel est que les entites abstraites reposent toujours, en derniere analyse, sur des entites concretes. Aucune abstraction granmaticale n'est possible sans une serie d'elements materiels qui lui sert de substrat, et c'est toujours ä ces elements qu'il faut revenir en fin de compte." Halle antwortet auf die Vorwürfe Martinets gegenüber dem Binarismus Jakobsons mit der leicht ironischen Bemerkung: "He [gemeint ist Martinet] would allow us to pose questions only if we knew the answers, which seems somewhat pointless outside of an examination or quiz program [ . . . ] . " Er hält es für unwahrscheinlich, daß irgendeine wissenschaftliche Beschreibung unter solchen strengen Bedingungen durchgeführt werden könnte; eine solche Beschränkung sei in der Wissenschaft niemals akzeptiert worden. Halle gesteht jedoch zu, "the scientist cannot avoid posing questions that are "loaded1 in the sense that they reflect the scientist's picture of the phenomenon prior to the investigation". Auch Pilch sieht in Jakobson und Halle Linguisten, die den Binarismus aprioristisch begründen und fragt: "[...], ist die Annahme gerechtfertigt, daß 159 J. L. M. Trim, "The identification of phonological units", 775. 160 P. L. Garvin, Besprechung von Jakobson, Fant und Halle, Preliminaries to speech analysis, 474; vgl. B. Pettier, Systematigue des elements de relations. (Paris, 1962), 121. Auch Toussaint sieht die Gefahr; er glaubt den Erfolg der Linguistik nur gewährleistet, wenn eine gründliche abstrakte Reflexion mit einer genauen Beobachtung des Konkreten verbunden wird: M. Toussaint, "Gustave Guillaume", 94. 161 Vgl. auch A. Martinet, "About structural sketches", Word 5 ( 1 9 4 9 ) , 35. 162 M. Leroy, Les grands courants de la linguistigue moderne (Brüssel und Paris 1963), 93. 163 F. de Saussure, Cours, 19O. 164 M. Halle, "In defence of the number two", 66. 165 Ibid.

66

tatsächliche Sprachen maximal ökonomisch gebaut sind oder sich doch wenigstens einem maximal-ökonomischen, für alle gültigen Universalmodell einfügen? [...] müssen tatsächliche Sprachen sich immer nach der binären Struktur des optimalen informationstheoretischen Modells richten?"

Pilch glaubt sogar,

daß Jakobson und seine Mitarbeiter selbst nicht immer das binaristische Modell für anwendbar halten. Er bemerkt, daß Halle versucht habe, den Binarismus zeitweise nicht als a priori Theorie zu begründen: "The distinctive features in the formulation which is given in Preliminaries are, with one exception, binary in structure. This is to be understood as an empirical proposition", in seinen letzten Beiträgen habe er den Binarismus jedoch als "Arbeitshypothese und rein theoretisches Postulat" verstanden, was Pilch so begründet: "Gleich zu Beginn seiner Darstellung spricht er es in dürren Worten aus: "All distinctive features are binary"

1

fift

[...]."

1 fiQ

überhaupt muß die Arbeit Halles

spätestens seit 1961 als Lösungsprozeß von ursprünglichen, mit Jakobson gemeinsam entwickelten Gedanken gesehen werden. Ferguson spricht in seiner Rezension von The Sound Pattern of Russian von einem "more empirical approach", der zu früheren, aprioristischen Theorien im Gegensatz stehe. SaumJan reagiert gegenüber Martinets Kritik etwas anders als Halle. Er meint, daß dessen Vorwurf dann besonders ernst zu nehmen und schwerwiegend sei, wenn das Binärmodell Jakobsons eine "generalization of physical data" wäre. Wenn es jedoch als reines "construct" verstanden würde, das nur eine Erklärungsfunktion habe, dann, so sagt Saumjan wörtlich, "these considerations lose their impact".171 Entgegen Martinet und den anderen Kritikern des Binärmodells äußert Ruwet: "[...] l'application systematique du critere relationnel dans la determination des traits distinctifs a permis, empiriquement, de decouvrir le caractere binaire d'un certain nombre de relations qui restaient jusque la dans 1'ombre [...]"; er nennt z. B. das Merkmalpaar "grave/aigu" und "compact/diffus", was darauf schließen läßt, daß Ruwet in Jakobsons Binäroppositionen kein rein abstraktes Modell sieht. Man könnte Jakobson - das mag den Abschluß dieses Teils der Diskussion bilden - gegen Martinet und die anderen Kritiker mit den Argumenten in Schutz nehmen, die S0rensen gebraucht, um die Glossematik Hjelmslevs zu verteidigen, 166 167 168 169 170

H. Pilch, Phonemtheorie, 135. M. Halle, "The strategy of phonemics", 2O6. Ders., The sound pattern of Russian, 19. H. Pilch, Phonemtheorie, 135. C. A. Ferguson, Besprechung von M. Halle, The sound pattern of Russian, Lg. 38 ( 1 9 6 2 ) , 297. 171 S. K. Saumjan, Problems of theoretical phonology, 173. Vgl. 9O, Anm. 3. 172 N. Ruwet, "Preface", 14.

67

Argumente, die wir in ähnlicher Form auch bei Saumj an fanden: Ainsi, on peut considerer les systemes deductifs de deux manieres differentes, soit comme etant arbitraires, dans ce sens q u ' i l s sont constructs sur une base axiomatique choisie independamment d'une Interpretation possible a propos d Ob jets reels, soit comme etant construits intentionnellement, dans ce sens q u ' i l s sont bases sur des elements axiomatiques choisis specialement en vue de l 'utilisation du Systeme pour la description d'objets reels et de leurs relations. 1 7 3

S0rensen ist wichtig, Haß solche Systeme in korrekter Deduktion von einem bestiirmten Axiom abgeleitet werden, sie sollen in sich keine Widersprüche aufweisen, sie sollen einfach sein. Er fährt wörtlich fort: S'il s'agit de systemes qu'il faudra pouvoir utiliser pour la description d'objets reels, ils devront en outre etre corrects en ce sens qu'ils pourront §tre interpretes librement ä propos de ces objets reels et leurs relations. Que des systemes soient corrects par rapport ä cette derniere exigence, seule I 1 experience pourra le prouver. On verifiera par l· 1 observation, et eventuellement par 1 'experimentation s'il existe des objets reels et des relations correspondent a ceux qu'on aura trouves par deduction ä partir du Systeme en question. 174

Diese Überlegungen scheinen in vielem der von Jakobson eingeschlagenen Methode zu entsprechen, sie tragen sicher dazu bei, den Standpunkt Martinets und der anderen Linguisten, sein Urteil über Jakobsons Binärtheorie, zumindest zu überdenken, d. h. die Angemessenheit seines Vorwurfs zu prüfen. 3.5

Binarismus: eine Frage von Inhärenz oder Methode?

Die Diskussion um diese Frage entzündet sich an dem Satz aus den Prel-üninopies: "The dichotomous scale is the pivotal principle of the linguistic structure. The code imposes it upon the sound." Sie wird vor allem von Chao eingeleitet, der zwar die Wirksamkeit des dichotomen Prinzips zugesteht, es jedoch nicht als der Sprachstruktur inhärent anerkennt und in ihm vielmehr eine Analysemethode sehen möchte. Entsprechend seiner Auffassung formuliert er den Satz Jakobsons in folgender Weise um: "The dichotomous scale is the pivotal principle of analysis of linguistic structure. The analyzer can profitably impose it upon the code." Es scheint, als ob sich die Kontroverse um den Begriff "Apriorismus" in der Frage "Inhärenz oder Methode" fortsetzt. Zunächst jedoch seien die "several weighty arguments" genannt, die Jakobson und Halle für ihre, die erste These anführen: 173 H. C. S0rensen, "Fondements epistemologiques de la glossematique", Langages 6 ( 1 9 6 7 ) , 8. 174 Ibid.; vgl. auch dazu den Aufsatz von J. Bechert, "Die Natürlichkeit linguistischer Theorien", LB 13 ( 1 9 7 1 ) , 49. 175 R. Jakobson et a l . , Preliminaries, 9. 176 . R. Chao, Besprechung von Jakobson et al.. Preliminaries to speech analysis, 44.

68

(1) "ökonomischer Gesichtspunkt": Der Binärcode ist der optimale Code, es läßt sich nicht einsehen, warum Gesprächsteilnehmer eine komplizierte Reihe von unterscheidenden Kriterien wählen sollten, (2) "psychologischer Gesichtspunkt": Am Erlernen des Code beim Kind zeigt sich, die Psychologie bestätigt diese Erfahrung, daß das "Paar" vor "isolierten Objekten" vorhanden ist; die Binäropposition ist die erste logische Operation des Kindes, (3) "physikalischer (phonetischer) Gesichtspunkt": Sowohl auf der artikulatorischen als auch (man müßte hinzufügen: vorwiegend) auf der akustischen und auditiven Ebene zeigen fast alle unterscheidenden Merkmale eine dichotome Struktur, 177 (4) "typologischer Gesichtspunkt": Der Binarismus der Oppositionen wird in allen Sprachen sichtbar. 178 Die Ausnahme, die Jakobson in der dritten Begründung macht, ist natürlich bedeutend für die allgemeine Zurückhaltung, die dem Allgemeingültigkeitsanspruch des Binärprinzips entgegengebracht wird. Ivic zieht aus dieser Tatsache seine Schlüsse: "They [Jakobson und Halle] were right: in most cases, dichotomy is inherent in the structure of language, and in the remaining instances, it is a useful procedure." 179 Nach dieser Antwort bedarf es weiterer Erläuterungen zu dem gestellten Problem. Garvin stellt Jakobson und seinen Mitarbeitern u. a. die Frage: "The status of linguistics as a discipline: is it primarily a set of operations serving to organize into a structure a set of otherwise disparate data ('hocuspocus' linguistics), or is it a cognitive science, whose aim it is to gain knowledge of an existing structure which manifests itself in the data ('God's truth" linguistics)?" 18O Garvin kennt natürlich die Antwort der Gruppe um Jakobson: die Linguistik ist eine "cognitive science". Er fragt sich selbst: "How do we know that there is an underlying pattern, since the 1R1 corpus is the only observable reality?" Er sieht in den Thesen Jakobsons, in der Durchführung des binären Prinzips "primarily the implementation of an epistemological insight", also eine erkenntnistheoretische Forderung, welche durch die akustische Phonetik gestützt werden soll. 177 Ausnahme: das vokalische Merkmalpaar "kompakt-diffus"; vgl. jedoch den Verbesserungsvorschlag von Halle. 178 R. Jakobson/M. Halle, Fundamentals, 4 7 f f . Vgl. die Einschränkungen bei W. H. Veith, "Universalität und Sprachimmanenz", 3 1. 179 P. Ivic, "R. Jakobson and the growth of phonology", 73. 180 P. L. Garvin, Besprechung von Jakobson et al., Preliminaries to speech analysis, 4 7 2 f . 181 Ibid., 474; zur Problematik "hocus-pocus" vs. "God's truth" vgl. auch G. Heike, Sprachliche Konmunikation und linguistische Analyse (Heidelberg, 1969), 26/27.

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An dieser Stelle erscheint es angebracht, eine gewisse Akzentuierung innerhalb des Mitarbeiterkreises von Jakobson festzuhalten. Cherry schreibt: "Kontradiktorische Begriffspaare bilden eine wichtigere Wortklasse als Synonyme; sie 182 erfüllen eine praktische (sortierende) Funktion", Fant, "if properly applied, categorization according to binary principles need not come in conflict with the physical reality. It is a matter of coding convenience 183 only", und Halle äußert: "The distinctive feature system is a framework for the description of the phonetic facts of language [... ] the choice of one system over another is determined by the investingator's belief that the particular set of questions and the manner in which they are phrased are the most appropriate to the research he is interested in".

Alle drei

scheinen mehr die Rolle zu betonen, die das Binärmodell im wissenschaftlichen Verfahren selbst spielt; darauf legt ja auch Chao das Gewicht. Jakobson hingegen fordert eindeutig die strukturale Immanenz des dichotomen Prinzips: "Far from being a mere aid to research, a mere model imposed by the analyst on the linguistic matter, the bivariant features are [ . . . ] discriminative IOC

clues indispensable for speech perception."

Es wird hier ersichtlich, rteß

diese Auffassung von Inhärenz vollständig aus logischen Operationen abgeleitet ist,

die denen entsprechen, welche der Wissenschaftler benutzt. Wenn nun

Jakobson in seiner Hypothese anniitmt, daß die Binäroppositionen ihrem Aufbau nach die ökonomischsten und einfachsten für die Beschreibungs-, die Arbeitsmethode des Wissenschaftlers sind, der darauf angewiesen ist, sein Material zu ordnen, dann müssen sie auch den Operationen des Sprechers und Hörers zugrundeliegen, weil diese vom logischen Standpunkt her sich nicht von denen des Wissenschaftlers unterscheiden. Jakobson weist allerdings auf den Unterschied zwischen Natur- und Sprachwissenschaft hin: "II existe une difference intrinseque entre une science physique, qui impose son propre code de symboles sur les indices (dans les termes de Peirce) observes, et la phenomenologie du langage, dont la tache est de degager (to break up) le code interne effectivement sous-jacent ä tous les symboles verbaux."186 interessant ist in diesem Zusammenhang die Überlegung Barthes", der meint, daß die binäre Klassifikation in der strukturalen Betrachtungsweise häufig sei "comme si le meta-langage du linguiste reproduisait 'en abyme1 la structure binaire du -10-7 Systeme qu1il decrit; [ . . . ] . " 182 183 184 185 186 187

C. G. M. R. R. R.

Cherry, Kommunikationsforschung - eine neue Wissenschaft, 126. Fant, "Theory of distinctive features", CSTL-QPSR 4 ( 1 9 6 6 ) , 3. Halle, "In defence of the number two", 65. Jakobson, "The phonemic concept of distinctive features", 451. Jakobson, "Retrospect", 65O. Barthes, "Elements de semiologie", 92.

70

Neben CHao lehnen eine Reihe von Linguisten diese Vermutung Barthes1 und die Auffassung Jakobsons ab, daß die Binäroppositionen der Sprachstruktur iimanent seien. Joos bezeichnet die Binarismustheorie als "ultimate Truth" - Jakobson spricht von "Code-Given truth" 188 - die in einer polaren Metaphorik ausgedrückt sei. Er fügt hinzu: "But the language of our kind of science is not poetic metaphor - it is prosaic metonomy. And therefore all we can do with his metaphor is to use it heuristically - use it to help us devise crucial 189 experiments whose results will be our kind of truth". Jakobson antwortet ihm darauf, daß seine binäre Theorie von den inhärenten unterscheidenden Merkmalen "was meant as a literal intrinsic description of actual phenomena and not at all as a pitturesque and metaphorical way of expression". 190 Er stellt weiter fest, wenn die Sprache etwas anderes sein soll als eine Anhäufung von verstreuten Elementen, dann muß doch etwas vorhanden sein, was ihrer Struktur immanent ist; für ihn ist es der Binäraufbau der distinktiven Merkmale. Auch Malmberg und Pilch sehen im Binarismus eine Methode der Beschreibung. Der erstere spricht von Binarismus als "excellent tool for description", 191 der letztere nennt ihn eine "Art der Interpretation". 192 W. P. Schmid schreibt: "Der Binarismus ist eine Angelegenheit der Methode, nicht der Sprache." 193 Sie halten das binäre Prinzip wie das Phonem an eine einzelne Sprache gebunden und folglich für die Beschreibung einer Sprache geeignet, für die einer anderen nicht; es ist keine "sine qua non", wie Fry sich ausdrückt.194 Es sei noch einmal an Ungeheuer erinnert, der betont, daß den zu untersuchenden sprachlichen Fakten keinerlei Symmetrie aufgezwungen werden darf. Eine dichotome Struktur erscheint auch ihm zweifelhaft. Ebenso lehnt Saumjan die "Inhärenzthese" Jakobsons ab: "We cannot [...] agree with R. Jakobson and M. Halle who [...] come to the conclusion that "there are several weighty arguments in favor of the latter solution (gemeint ist das Inhärenzprinzip)"; 195 er stellt fest, daß noch kein Beweis für die Anwendbarkeit oder Nichtanwendbarkeit auf die "Natur der Sprache" gefunden worden sei. Chomsky versteht nicht recht, was die Diskussion des betreffenden Problems eigent188 189 190 191 192 193

R. Jakobson, "Retrospect", 65O. M. Joos, Besprechung von Jakobson und Halle, fundamentals of language, 415. R. Jakobson, "Retrospect", 649. B. Malmberg, Phonetics (New York, 1963), 55. H. Pilch, Phonemtheorie, 131. W. P. Schmid, "Skizze einer allgemeinen Theorie der Wortarten", In: Abhandlungen der geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse 5 ( 1 9 7 O ) , 9. 194 D. B. Fry, "Perception and recognition in speech", 17O. 195 S. K. Saumjan, Problems of theoretical phonology, 144.

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lieh soll. Er kann sich nicht vorstellen, welcher Beweis für die eine oder •l

/

andere Lösung aufgeführt werden könnte. Chomsky nimnt aber doch die Diskussion auf; er sieht das Problem aus der Sicht Jakobsons und Halles, die sich nach seiner Meinung fragen müssen: "Are there extra-linguistic reasons für choosing the dichotomous scale [e. g. independent psychological reasons] or is the only motivation the resulting convenience in describing the linguistic data?" 197 Chomsky stellt im Grunde nur noch einmal fest, daß sie für den ersten Standpunkt plädieren. Dann gibt er jedoch die Begründung für seine Behauptung, daß er nicht so recht wisse, was die Diskussion um dieses Problem solle, daß es ja doch keinen Beweis für die eine oder andere Lösung gäbe, wobei er auf die für ihn sinnlose "God's truth - hocus pocus" Diskussion (vgl. Garvin und Heike) verweist. Er macht darauf aufmerksam, daß die Frage um die Kennzeichnung der distinctive features als "property" oder als "scale" erschwert werde; solange sie nicht geklärt worden sei, bliebe das Problem des Binarismus unklar. Er zieht folgende Schlußfolgerung: "If we find extra-linguistic evidence for the dichotomous scale we may, if we like, say that we have shown that it is inherent in the structure of language. Or we may, with equal justification, say that the most profitable and economical way to view language as a part of human behaviour is in terms of the dichotomous scale." 198 In The Sound Pattern of English geben Chomsky/Halle unumwunden zu: "In particular, we have not made any use of the fact that the features have intrinsic content." 199 Auf jeden Fall scheint festzustehen, daß Jakobson die Binäroppositionen als der Sprachstruktur inhärent ansieht - das wurde hinreichend durch die Diskussion und die eigenen Aussagen Jakobsons gezeigt. Baumann bezweifelt das, er glaubt vielmehr, daß Jakobson den Binarismus ausschließlich als "discovery procedure" nicht als "Feststellung von Binarität in rebus" versteht; das letztere wirft er z. B. auch Greimas vor, von dem er sagt, "daß sich die Beschäftigung mit dieser willkürlichen sprachwissenschaftlichen Strukturalistik nicht lohnt. An die Stelle des kompensatorischen Ideologems ist jenes von den Binaritäten im Objekt getreten." 2O1 Den gleichen Vorwurf erhebt er gegen 196 N. Chomsky, Besprechung von Jakobson und Halle, Fundamentals of language, 240f. 197 Ibid., 240f. 198 Ibid. 199 N. Chomsky/M. Halle, The sound pattern of English, 4OO. 200 H.-H. Baumann, "Über französischen Strukturalismus. Zur Rezeption moderner Linguistik in Frankreich und Deutschland", STZ 3d ( 1 9 6 9 ) , 171. 201 H.-H. Baumann, "Über französischen Strukturalismus", 173.

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Weinrich, von dem er meint, daß dieser sich mit Wandruszka in seiner Ablehnung gegenüber dem "Oppositionen-Prinzip und gegen operationeile Zweierschritte" in der linguistischen Analyse einig sei, 202 daß "es aber gerade Weinrich sei, der inner wieder binäre Oppositiv-Strukturen in rebus aufsucht". Als Beispiel nennt er folgende Binarismen Weinrichs: Sprecherlinguistik - Hörerlinguistik, Erzählen - Besprechen, Tempusgruppe I - Tempusgruppe II usw. Wenn man jedoch Weinrichs Bemerkung dagegenhält, "wo gibt es nun Zweierparadigmen in der Sprache? Die Frage ist nicht immer in aller Deutlichkeit zu beantworten. Man wird vielleicht sagen, daß Singular und Plural ein Zweierparadigma bilden; aber es ist auch die Auffassung möglich, daß man die Personen vom Singular zum Plural einfach weiterzählt als 4., 5. und 6. Person [...]", 2O4 so scheint Baumann unrecht zu haben. Weinrich sieht wohl im Binarismus eher eine von mehreren methodischen Möglichkeiten der Beschreibung, was er z. B. auch im Hinblick auf die Semantik so verstanden wissen will. Was Greimas angeht, spricht Weinrich ausdrücklich von "binären Methodenschritten", 2O6 nicht etwa wie Baumann von einem "Binarismus in rebus". Das Immanenzprinzip als solches liegt der Theorie Jakobsons wie auch anderen Theorien, die der modernen, strukturalen Linguistik zuzurechnen sind, als wesentlicher, grundsätzlicher Anspruch zugrunde; dieses Prinzip konstituiert die Linguistik, wie Dubois sagt, als "science de la langue" und *?O7 "science des langues". In dem Werk Togebys Structure immanente de la langue francaise wird dieses Prinzip als Ziel der sprachwissenschaftlichen J Untersuchung deutlich genannt.2O8 Ob jedoch der Binarismus als immanentes Prinzip in der Struktur der Sprache feststellbar ist, erscheint nach den vorhergehenden Überlegungen als recht zweifelhaft. Dubois erläutert z. B., daß sich der Binarismus in vereinfachenden Analysen mit dem Strukturalismus identifiziert habe. Gemeint ist sicher der Immanenzanspruch des Binarismus. Heger etwa spricht abwertend vom "Immanenzkomplex" des Strukturalismus, den er als eine Reaktion auf die Psychologisierung in der Sprachwissenschaft Of"\C

202 Vgl. dazu: H. Weinrich, "Zurückweisung einer Bilanz, anläßlich des Aufsatzes "Der Ertrag des Strukturalismus" von M. Wandruszka (= Festschrift Gamillscheg), München, 1968, 619-638)", ZfRPh 84 ( 1 9 6 8 ) , 98-102; K . - H . Körner, "Zu "der Ertrag des Strukturalismus"", ZfRPh 84 (1968), 611-616. 203 H.-H. Baumann, "Über französischen Strukturalismus", 175. 204 H. Weinrich, "Linguistik des Widerspruchs", In: To honor Roman Jakobson, Vol. III, 2213. 205 Ibid., 2213. 206 Ders., "Zurückweisung einer Bilanz", 1OO. 207 J. Dubois, Grammaire structurale du franqais: La phrase et les transformations (Paris, 1969), 6. 208 K. Togeby, Structure immanente de la langue franyaise (Paris, 1965).

73

versteht.

Dubois hält diesen Irrtum, den er "pseudo-realisme" nennt, bei

denjenigen für natürlich, die schon inmer Methodologie und Theorie gleichgesetzt haben. Bei anderen sei der Binarismus das universale Erklärungsprinzip auf der Ebene des signifiant und signifie geworden; diese Auffassung bezeichnet er als "transcendental absolu". Beide Wege der Analyse führten jedoch von einem vollkomnenen Verständnis linguistischer Phänomene weg.

Zum Abschluß

dieses Kapitels mag trotz des Eindrucks, bei der diskutierten Problematik handle es sich um ein Scheinproblem, die Überlegung gestattet sein, ob nicht die Entwicklung von Testmethoden zeigen könnte, ob sich die binäre bzw. mehr•

gliedrige Methode wirklich nach dem zu untersuchenden Gegenstand richtet, oder ob das binäre Prinzip der Sprache bzw. dem Denken inhärent 3.6

ist.

Die universelle Gültigkeit

Erinnern wir uns: "Each of the distinctive features involves a choice between two terms of an opposition [ . . . ] " .

Die dichotomen Merkmale, die Jakobson

aufzählt, beanspruchen grundsätzlich Allgemeingültigkeit. Aus ihnen trifft 213 jede Sprache ihre spezifische Auswahl. Nach Jakobson genügen für die Bestimmung der 15 französischen Konsonanten 5 binäre Entscheidungen; jeder 214 dieser Konsonanten enthält 2 bis 5 unterscheidende Merkmale. Die Frage nach einer Typologie ist für Jakobson dringend und auch lösbar. 215 Sein praktisches Ziel ist vor allem die Reduzierung der unterscheidenden Merkmale. Bei diesem Ziel wird das methodologische Prinzip der "Simplizität" betont, das - wie wir gesehen haben - ein Hauptcharakteristikum von Jakobsons Theorie ist.

Es ist berechtigt, wenn Haas zu bedenken gibt, daß Jakobsons

Interesse an einer Typologie der Analyse selbst vorausgegangen ist. Von daher ist das Urteil zu verstehen, daß seine Thesen inadäquat und willkürlich seien; Haas schließt daraus: "Nothing is general or universal except the method, 216 i. e. the questions we ask." Als Beispiel für eine universelle konsonantische Opposition erwähnt Jakobson den Gegensatz von Nasalen und Oralen, den er dadurch zu begründen versucht, 209 K. Heger, Besprechung von A. Martinet, Elements de lincfuistique generale (Paris, 1960), ZfRPh 79 ( 1 9 6 3 ) , 2 1 2 . 210 J. Dubois, Grammaire, 10. 211 Vgl. dazu: Exkurs 1. 212 R. Jakobson/M. Halle, Fundamentals, 4. 213 Ibid., 28f. 214 Jakobson unterscheidet zwischen "traits simples et complexes"; vgl. auch den Begriff "bündle". 215 R. Jakobson/M. Halle, "Phonologie et phonetique", 126. 216 W. Haas, "Relevance in phonetic analysis", 1O.

74

daß dieser Gegensatz schon beim Kind entwickelt sei.

217

Er sieht z . B . als

allgemeines und wesentliches phonologisches von der Typologie entdecktes Gesetz an: "La presence de A implique la presence de B (ou au contraire son absence)."218 Martinet scheint den universellen Charakter der binären Oppositionen in Zweifel zu ziehen, oder besser die Rechtfertigung für diese Annahme, was durch folgenden Satz Halles noch eine zusätzliche Nuancierung erfährt: "No examples have been adduced by various critics that would seriously impair the validity 21Q of the binary scheme." 3 Martinet schreibt: "Mais qui pourrait se vanter d"avoir fait un examen exhaustif de toutes les langues existantes ou attestees? Et que dire des langues disparues sans laisser de traces et de celles qui apparaitront demain sur la terre?" Dieser Vorwurf kann aber Jakobson nicht entscheidend treffen: "Si un conflit surgit entre un etat de langue reconstruit et les lois generales que la typologie decouvre, c'est que 221 la reconstruction est discutable." Und er ergänzt in anderem Zusammenhang: "The tentative list of distinctive features so far encountered in the languages of the world is intended just as a primarily draft, open to additions and 222 rectifications." Der Titel Preliminaries to Speeoh Analysis ist übrigens eine formale Bestätigung dieser Feststellung. Auf die Kritik Martinets antwortet Jakobson direkt: "C'est tres joli, mais en fait nous connaissons assez de langues pour etre assures que si, dans l'avenir, une exception etait decouverte ä une de ces lois supposees, cette exception ne representerait qu'un pourcentage infini, et la loi garderait la valeur d'une constatation statistique 223 de poids." Mit anderen Worten, solange man keine Sprache findet, deren 224 Struktur der Charakterisierung von Jakobson widerspricht, gibt es keinen 217 R. Jakobson, "Les lois phoniques du langage enfantin et leur place dans la phonologie generale". In: Selected Writings, 323. 218 R. Jakobson, "Les etudes typologiques et leur contribution ä la linguistique comparee", In: Essais de linguistique generale, 72. 219 M. Halle, The sound pattern of Russian, 2 . 220 A. Martinet, Economie des changements, 74. 221 R. Jakobson, "Les etudes typologiques", 75. 222 Ders., "The phonemic concept", 453. 223 R. Jakobson, "Le langage commun", 38. Vgl. ders., "Typological studies and their contribution to historical comparative linguistics", In: Proc. of the 8th Int. Congr. of Ling. Oslo 1958, 2O. 224 Vgl. C. Bush, Phonetic variation, 19: Sie zählt eine Reihe von Sprachen a u f , auf die die Analyse mit Hilfe der unterscheidenden Merkmale angewendet worden ist: z. B. Deutsch, Französisch, Spanisch, Russisch, Schwedisch, Arabisch, Polnisch usw. Veith meint, daß auf "Kultursprachen" ein binäres Merkmalraodell angewandt werden muß, für "weniger differenzierte Natursprachen" "empfiehlt die Theorie der Sprachökonomie ein ternäres Merkmalmodell". (W. H. Veith, "Universalität und Sprachimmanenz", 287) Vgl. auch Greimas' Darstellung des Binarismus Br0ndals: Greimas, Strukturale Semantik, 91.

75

Grund, bedeutende Änderungen vorzunehmen. Interessant ist der Hinweis Mounins auf die von ihm selbst zitierten Überlegungen Aginskys: "Nous insistons seulement sur ce fait qu'en regard de toutes ces differences, il reste nearmoins une nasse importante et impossible a eviter de traits universels camuns (ä toutes les langues) [...]", 225 was auf eine Art Mittelstellung hindeutet. Birnbaum nimmt an, daß es gerade der Universalitätsanspruch der unterscheidenden

Merkmale von Jakobson ist, der z. B. die Anhänger der Generativen Phonologie anzieht,

226

obwohl Chomsky ähnlich wie Martinet sagt: "The claim that the

given twelve distinctive features suffice for all languages retains its 227 operational testability." Jcos äußert sich ironisch zum Problem der von Jakobson und Halle geforderten Gültigkeit der distinktiven Merkmale: Once it has been decided that all the world's languages select their distinctive features from a single list, pretty uniform success is to be expected [ . . . ] . My pattern of hypocrisy would require me, if I undertook such manoeuvres, at least to pretend surprise each time another language confines itself to the distinctive features already known.^ 2 8

Der Angriff gegen den nach aprioristischen Prinzipien entwickelten Binarismus Jakobsons ist deutlich spürbar. Auch Fischer-J0rgensen hält den Universalitätsanspruch Jakobsons für problematisch. 229 Mit Vorsicht sagt Malmberg zu diesem Problem: "The idea of universality of the basic features may seem fascinating but needs further evidence." 23O Trotz eines anderen Kontextes zeigt Heinrich eine ähnliche Vorsicht gegenüber dieser Problematik: "Die Sprache (darf man sagen: alle Sprachen?) hat die Dialektik von Spruch und Widerspruch vorgesehen und stellt dafür in ihrem Morpheminventar das strenge Zweierparadigma 231 der Assertionsmorpheme zur Verfügung." In einem anderen Zusammenhang empfiehlt er dem Linguisten Umsicht, nicht dem Vorurteil zu erliegen (was eine direkte Anspielung auf "a priori" Feststellungen ist), "die Tempora und Verbformen aller Sprachen müßten nach einer Dichotomie der besprechenden und 232 erzählenden Sprechhaltung organisiert sein", im Grunde eine zusätzliche Widerlegung der Thesen Baumanns. Greenberg kennt sehr gut die Schwierigkeiten 225 G. Mounin, Les problemes theoriques de la traduction (Paris, 1963), 223. 226 H. Birnbaum, "Syntagmatische und paradigmatische Phonologie", 342. 227 N. Chomsky, Besprechung von Jakobson und Halle, Fundamentals of language, 235. 228 M. Joos, Besprechung von Jakobson und Halle, Fundamentals of language, 414. 229 E. Fischer-J0rgensen, "What can the new techniques", 13. 230 B. Malmberg, Structural linguistics, 123. 231 H. Weinrich, "Linguistik des Widerspruchs", 2 2 1 4 . 232 Ders., Tempus. Besprochene und erzählte Melt (Stuttgart, 1964), 3O9.

76

um die Lösung typologischer Probleme. Darum stellt er nur lakonisch im Hinblick auf die Theorie Jakobsons fest: "The area of phonology, along with morphology has been the most frequently treated from a typological point of view"; er bezeichnet die Theorie selbst als "comprehensive", dagegen fehlen Adjektive wie "acceptable" und "convincing". Sehr skeptisch äußert sich auch Belevitch: " [ . . . ] des principes universels de classification linguistique, n'ont guere O "3 ete couronnees de succes"; der Binärcharakter der unterscheidenden Merkmale ist "loin d'etre universellement admis par des linguistes". 235 Auf die Problematik um das binäre Begriffspaar "merkmalhaltig/merkmallos", das von Greenberg unter dem Aspekt des Universalitätsanspruchs auch auf anderen linguistischen und außerlinguistischen Ebenen diskutiert wird, 236 werden wir an entsprechender Stelle zurückkönnen. 3.7

Der AusschließliChkeitsanspruch

Nach Bush sind es vor allem Fischer-J0rgensen237 und Haas238 , die betonen, daß eine Theorie, die in ihrer Beschreibung universelle Gültigkeit für alle Phoneme der menschlichen Sprache beansprucht, nicht unbedingt das optimale 239 System für die Analyse einzelner Sprachen darstellen muß, obwohl natürlich eine einheitliche Beschreibung für alle Sprachen erstrebenswert ist und dem Prinzip der Ökonomie entspricht. Haas ist es auch, der darauf aufmerksam macht, daß typologische Gesichtspunkte der Grund dafür sein können, eine nicht adäquate Analyse durchzuführen. 24O Daß Jakobson und seine Mitarbeiter die Ausschließlichkeitsforderung für ihre Theorie erheben, scheint unbestritten: "La typologie decouvre des lois d1implication qui gouvernent la structure phonologique [...] la presence de A implique la presence de B [...]", oder: "All 249 distinctive features are binary." Pauliny bestätigt diese Ansicht, indem er von Jakobsons Theorie spricht als einer "thesis asserting the binary character of all phonological oppositions". 243 Auch Parain-Vial sieht den 233 J. H. Greenberg, "The nature and uses of linguistic typologies", UAL 23 ( 1 9 5 7 ) , 71; vgl. z. B. auch: E. Sapir, Language (New York, 1 9 2 1 ) , Kap. VI 234 V. Belevitch, Langrage des machines, 79. 235 Ibid., 74. 236 J. H. Greenberg, Language universale (Den Haag und Paris, 1966), . 237 E. Fischer-J0rgensen, "What can the new techniques", 137. 238 W. Haas, "The identification and description of phonetic elements". In: Trans, of the Philol. Soc. ( 1 9 5 7 ) , 118-159. 239 C. Bush, Phonetic variation, 141. 240 W. Haas, "Relevance in phonetic analysis", 15, Anm. 52. 241 R. Jakobson, "Les etudes typologiques", 7 2 f . 242 M. Halle, The sound pattern of Russian, 19, 243 E. Pauliny, "The principle of binary structure", 121.

77

einseitigen Ansatz Jakobsons: "[...] qui voudrait rendre compte de tout le 244 langage par des structures uniquement constitues d 1 oppositions binaires." Auf der anderen Seite ist aber auch nicht zu leugnen, daß Jakobson gewisse Einschränkungen macht: A deeper probing into the typology of languages gradually reveals not only universal and near-universal laws of implication which underlie the phonemic structure of languages, but also several features common to all or almost all the languages of the world like the oppositions vocalic/nonvocalic [ . . . ] . 2 4 5

Die konkrete Einschränkung Jakobsons, sie wurde schon genannt, ist die vokalische Unterscheidung conpact/dif f use : "[It] often presents a higher number of terms, mostly three". Auch der Versuch Halles, diese "Ausnahme" zu eli247 minieren, wurde schon erwähnt. Interessanter ist, wie Jakobson bestimmte Ausnahmen erläutert: "L 'existence d 1 exceptions partielles reclame simplement une formulation plus souple de la loi generale en question", eine nicht gerade bestechende Art, einen umstrittenen Anspruch zu rechtfertigen. Paulinys Rechtfertigung dieser Thesen Jakobsons klingt auch nicht gerade sehr überzeugend. Er versucht zu erklären, daß die fehlende Interpretation phonologischer Oppositionen nach binären Gesichtspunkten nicht etwa heiße, daß eine bestimmte Binäropposition nicht vorhanden sei; man habe sich vielmehr bis dahin unfähig gezeigt, eine solche Opposition in der entsprechenden überzeugenden Weise herauszufinden und darzustellen. Vom methodischen Gesichtspunkt aus betrachtet, hält Pauliny deshalb die Kritik an der These Jakobsons für nicht gerechtfertigt, solange nicht nachgewiesen sei, rteft der 249 Binärcharakter einiger Oppositionen für immer unbeweisbar ist. Die Übertreibung der Theorie Jakobsons, die sich im Ausschließlichkeitsanspruch der Binäroppositionen manifestiere, führt Carnochan in einem Diskussionsbeitrag zu einem Vortrag Jakobsons auf die Anwendung von Maschinen in der Linguistik zurück. 25O Jakobson erwidert auf diesen Vorwurf, daß bestimmte 244 J. Parain-Vial, Analyses structurales et ideologies structuralistes (Toulouse, 1969), 5 . 245 R. Jakobson, "Retrospect", 654. 246 R. Jakobson/M. Halle, Fundamentals, 48; vgl. auch: R. Jakobson/G. Fant/ M. Halle, Preliminaries, 2 8 f . 247 Vgl. M. Halle, "In defence of the number two", 71. 248 R. Jakobson, "Les etudes typologiques", 73. 249 E. Pauliny, "The principle of binary structure", 121. 250 J. Carnochan, Diskussionsbeitrag zu R. Jakobson, "The phonemic concept of distinctive features", 455; vgl. auch: S. M. Lamb, "The digital computer as an aid in linguistics", Lg. 37 ( 1 9 6 1 ) , 4O9, der den Begriff "Mechanolinguistics" gebraucht, wenn er von dem interdisziplinären Feld spricht, das Linguistik und Computerwissenschaft verbindet.

78

Analogien nicht auf den "hypothetischen Einfluß" von Maschinen zurückzuführen seien, sondern "that Binary Digits offer by far the most advantegeous way of coding not only for machines but likewise for any verbal behaviour and thereby for the phonemic and grammatical structure of language." 251 Wir sehen, daß diese Worte gleichzeitig eine nachhaltige Bestätigung der Auffassung Jakobsons von der Übertragbarkeit des Binarismus auf andere linguistische Ebenen darstellen. Die Frage von Ivic erscheint nach den bisherigen Bemerkungen völlig berechtigt: "Is it justified to absolutize the approach, submitting all possible

cases to a binary analysis?" 252 Diese Frage trifft genau den Kern dessen, was Joos mit folgenden Worten ausdrückt: "For me a scientific statement is a vulnerable statement."

Die Überlegungen Freys hatten uns schon gezeigt,

daß das dichotoms Prinzip auch in der Logik keine Rechtfertigung für einen Anspruch auf Ausschließlichkeit findet. Der "intuitionistische" Aussagenkalkül gewährt das "tertium datur". Wäre es nicht sinnvoller, der These Chaos zu folgen, der von der "non-uniqueness" der linguistischen Analyse spricht?

054

Ihr steht im Grunde auch Halle recht nahe, wenn er sagt: "Almost since the very beginning of modern phonology, linguistics have realized that the criteria at their disposal admitted of several descriptions for the same set 255 of facts." Er betont jedoch, daß die Entscheidung für die eine oder andere Lösung vom Gesichtspunkt der "Simplizität" aus zu treffen sei. Pottier erkennt zwar das natürliche Bestreben an, wenn möglich zu systematisieren, er fragt *y ^ sich aber gleichzeitig: "Peut-on aller jusqu'a un etiquetage rigoureux?" Wie sehr Jakobson gewillt ist,

den Ausschließlichkeitsanspruch seiner

Binäroppositionen zu verteidigen, wird z. B. deutlich an der Zurückweisung des Vorwurfs Reformatskijs, der behauptet, daß das dichotome Prinzip wohl kaum auf ein dreigliedriges Schema angewendet werden kann. Reformatskij wendet sich gegen folgende Analyse des minimalen Vokalsystema von Jakobson:

251 R. Jakobson, "Erwiderung auf Carnochan", In: R. Jakobson, The phonemic concept of distinctive features, 455. 252 P. Ivic, "Roman Jakobson and the growth of phonology", 54. 253 M. Joos, Besprechung von Jakobson und Halle, Fundamentals of language, 413. 254 Y. R. Chao, "The non-uniqueness of phonemic solutions of phonetic systems", In: Readings in Linguistics, hg. M. Joos (Washington, 1 9 5 7 ) , 38-54. 255 M. Halle, "In defence of the number two", 71. 256 B. Pottier, Systematique, 24O.

79 acute - grave diffuse

compact

257

oder:

Acutness

258

Er sieht die Beziehungen zwischen den drei Elementen a, i, u als gegen259 seitig proportional a n : a : i = i:u =u:a, eine These, der Jakobson (s. o.) natürlich widerspricht. Ebeling weist nachdrücklich darauf hin, daß es theoretisch durchaus möglich ist, daß auch sog. "intermediate terms" angenommen werden müssen, solange die Theorie Jakobsons nicht dem "speculative stage" entwachsen sei. Er fragt: "If there is no zone of transmission in the strict sense of the word, what then is the position of the so-called "semi vowels" in languages where the oppositions i : j and u : w are relevant [...]?" Auch Fischer-J0rgensen weist auf die Schwierigkeiten der Binäranalyse bei der Beschreibung der verschiedenen Öffnungsgrade der Vokale.

Pauliny - er

ist überhaupt derjenige, der die Thesen Jakobsons am eifrigsten verteidigt lehnt eine Charakterisierung der Oppositionen nach verschiedenen Öffnungsgraden ab. Er plädiert eindeutig für die Binärinterpretation. Besonders künstlich scheint Chao die identische Behandlung von Konsonanten und Vokalen nach unterscheidenden Merkmalen, was z. B. auch deutlich wird an 257 R. Jakobson/M. Halle, Fundamentais, 3 9 f . ; vgl. u. a. B. Malmberg, New trends in linguistics, 112. 258 Vgl. B. Malmberg, Structural linguistics, 88. 259 Vgl. R. Jakobson, "The phonemic concept", 447f. 260 C. L. Ebeling, Linguistic units, 28 261 Ibid., 34. 262 E. Fischer-Jergensen, "What can the new techniques", 137; vgl. zum gleichen Problem: P. Ivic, Besprechung, 5 4 f . : er wendet sich auch entschieden gegen den Absolutheitsanspruch der Theorie Jakobsons. 263 E. Pauliny, "The principle of binary structure", 125.

80

der identischen Darstellung und Interpretation von minimalem Vokalisntus und Konsonantismus: acute - grave

acute - grave

u

diffuse

t

l compact

Chao schreibt: "There are many stages, in some of which a gradual or graded scale is the most significant feature, while in other stages it will be most 264 appropriate to apply a dichotomous scale." In demselben Zusammenhang weist Horälek auf eine weitere Schwierigkeit hin, daß z. B. in manchen Sprachen O£ R

bestimmte Phoneme den Wert von Vokalen und gleichzeitig Konsonanten haben. Auch Horälek gibt zu, daß neben den Binäroppositionen, die durchaus die Grundlage eines linguistischen Systems bilden können, auch andere Relationen gefunden werden können. Dabei denkt er besonders an ternäre Beziehungen, die überhaupt am meisten als Alternative zur Binärlösung in der Diskussion genannt werden. So z. B. auch Sommerfelt: "But though the binary opposition is of fundamental importance, I think we must reckon with ternary oppositions as 2fi7 well", oder Burling: "There is no necessary reason why analysis must be confined to binary distinctions, [ . . . ] . "

268

Im übrigen meint Vachek, daß von der

heutigen Prager Gruppe die meisten die Ansicht verträten, "that alongside with the binary oppositions also some multimember (especially triadic) ones 269 should be allowed for in concrete languages". Martinet nennt als Beispiel für eine Ternärlösung folgende drei Vokale der gleichen Ordnung /i/, /ü/, /u/. Sie nach Binäroppositionen zu klassifizieren, heißt für ihn: "deformer la realite".

An anderer Stelle nennt er

1

die labiale Ordnung /p /» /p// / '

für die er eine ternäre Klassifikation 271 als natürlicher ansieht als eine Kombination von Binäroppositionen. Dies 264 Y. R. Chao, Besprechung von Jakobson et al.. Preliminaries to speech analysis, 44. 265 K. Horälek, "A propos des oppositions binaires", 415. 266 Ibid., 417. Vgl. auch: W. H. Veith, "Universalität". 267 A. Sommerfelt, Besprechung von Jakobson und Halle, Fundamentals of Language, NTS 19 ( I 9 6 0 ) , 719. 268 R. Burling, "Cognition and componential analysis: God's truth or hocus-pocus?' AmR 66 ( 1 9 6 4 ) , 23. 269 J. Vachek, "Prague phonological studies today", TLP 1 ( 1 9 6 4 ) , 1O. 270 A. Martinet, Economie des changements phonetiques, 73. 271 Ders., "Function, structure, and sound change", 15.

81

scheint bei Martinet umso verständlicher, als er der akustischen die artikulatorische phonetische Beschreibung vorzieht. Wenn auch Martinet dafür plädiert, daß der auf de Saussure zurückgehende Begriff der Oppositionen sinnvoll ist und aufrecht erhalten werden muß, so heißt das nicht, daß die Oppositionen ausschließlich binär sein müssen. 272 Auch Kohler vermeidet eine Festlegung auf eine ausschließlich gültige Methode: "Die Merkmale sind entweder relevant und binär (wie + nasal, + labial, + fortis im Deutschen), oder sie sind graduelle Abstufungen (wie der Grad der Stimmhaftigkeit und der Aspiration innerhalb der + fortis Opposition [ . . . ] ) . " Die Diskussion bestätigt im Grunde also immer wieder, was Fry im Hinblick auf Jakobson feststellt: "Jakobson's theory of "distinctive features" is one attempt to describe the process by which the continuous physical input is 274 transformed by the listener into discrete linguistic units", oder BarHillel: "The claim of exclusiveness and uniqueness of the presented analysis 275 seems to me totally unjustified." Maliriberg meint, daß keine Notwendigkeit bestehe, die Binäranalyse durchzuführen - Jakobson sei dem Systemzwang erlegen. Auch Malmberg spricht von mehreren Möglichkeiten zur Identifizierung der Phoneme; er zitiert Meyer-Eppler, "sehr wohl denkbar, daß auch ternäre oder höherstufige Distinktionen eine Rolle spielen". Malmberg hält die psychologische Begründung Jakobsons für nicht angemessen, der Mensch sei sehr wohl zu ternären Entscheidungen fähig. Er schlägt deshalb für das minimale Vokalschema eine direkte Identifizierung von z. B. /i/ als nicht /u/, als nicht /a/ vor, auch wenn er wie Jakobson, im Gegensatz zu Martinet, die akustische phonetische Beschreibung vorzieht. 276 Unter der Überschrift "How important is the binary principle" stellt der einstige Mitarbeiter Jakobsons, Fant, fest: "It [Einordnung nach Binärprinzipien] is a matter of convenience." 277 Ganz abgesehen davon, daß für die binäre Theorie zusätzliche Schwierigkeiten aus den prosodischen Eigenschaften entstehen - Sprache hat ja neben der paradigmatischen auch eine syntagmatische Dimension - auf die besonders Garvin hinweist, 278 hat die Diskussion gezeigt, daß ein sog. "Ausschließlichkeitsanspruch" des Binarismus nicht zu rechtfertigen ist. Eine dogmatische Begründung 272 A. Martinet, La linguistique synchronique, 187. 273 K. Kohler, "Die Stellung der Phonologie innerhalb der deskriptiven Linguistik", Phonetics 17 (1967), 121. 274 D. B. Fry, "Perception and recognition in speech", 17O. 275 . . Bar-Hillel, "Three methodological remarks", 326. 276 B. Malmberg, Structural linguistics, 126. 277 G. Fant, "The nature of distinctive features", 635. 278 p. L. Garvin, Besprechung von Jakobson et a l . , Preliminaries to speech analysis, 479.

82

des binären Modells müßte als unwissenschaftlich angesehen werden, wobei noch einmal auf Heike verwiesen werden soll: "Der Anspruch auf ausschließliche Geltung einer Analyse erscheint uns im Hinblick auf die Realität verdächtiger zu sein, als das Akzeptieren mehrerer möglicher Lösungen, die die Realität 279 von verschiedenen Seiten her beleuchten." Pilch weist jedoch auch darauf hin, daß durch die Arbeiten Jakobsons und seiner Mitarbeiter immerhin gezeigt worden sei, daß wesentlich mehr Oppositionen binär aufgefaßt werden können, so daß sich "die binäre Klassifikation häufig als ein Gewinn erweist", was sich besonders bei der Bewältigung technischer Probleme bemerkbar macht (vgl. Informationstheorie). Pilch schreibt: Da einerseits die Binaristen in der Praxis auch Oppositionen zwischen mehr als zwei Termen zulassen und andererseits ihre Kritiker unter anderem auch mit binären Oppositionen rechnen, dürfen wir den Unterschied zwischen der hergebrachten und der extrem binaristischen Einteilung der Schalleigenschaften in der Praxis (nicht in den theoretischen Vorüberlegungen) für gradmäßig halten.28°

Es scheint also angebracht, sich dem jeweiligen praktischen Erfordernis der linguistischen Analyse anzupassen. An einigen Beispielen, die z. T. schon die phonologische Ebene überschreiten, kann diese Feststellung nachgewiesen werden. Nehmen wir als Beispiel die Personalpronomen ich, du, er (sie, es) als konstituierende Elemente des sog. Kbirmunikationsdreiecks. Zwei Formen der Analyse wären denkbar: (1)

ternäre

(2)

. . . er (sie, es)

___^

Interpretation

u. a.

ich .· du

binäre

er (sie, es)

Interpretation

Nehmen wir als weiteres Beispiel die Reihe a, e, e, i als Elemente des Vokaldreiecks. Folgende Möglichkeiten der Analyse wären vorstellbar: "s

'

graduelle Interpretation

279 G. Heike, Sprachliche Kommunikation, 27; vgl. auch: E. Stankiewicz, "Problems of emotive language", In: Approaches to Semiotics, hg. T. A. Sebeok, A. S. Hayes, M. C. Bateson (London-Den Haag-Paris). 247. 280 H. Pilch, Phonemtheorie, 136f.

83 (2)

u. a.

i,

binäre Interpretation

e, a

Pettier z. B. hat u. a. gezeigt, daß es denkbar wäre, bestirnnte Verben nach einem binären Schema zu gliedern, das verdeutlichen könnte, ob diese Verben den Indikativ oder Konjunktiv verlangten.. Bei bestürmten Verben erweist sich ein solches Schema als nicht angebracht: z. B.

Konjunktiv

Indikativ

je doute

je pense

etc.

etc.

aber: supposer

281

Ähnliches ließe sich für bestürmte Konjunktionen und unpersönliche Ausdrücke sagen. z. B.

Konjunktiv

Indikativ

avant que

des que

etc.

etc.

aber: apres que z. B.

Konjunktiv

Indikativ

c'est dommage

il est sür

etc.

etc.

aber: il n ' e s t pas certain

282

281 B. Pottier, "L'enonce et l'enonciation", Vortrag vom 28. 1. 1969 in Köln; vgl. auch: M. Grevisse, Precis de grammaire francaise (Gembloux 261957), 265. W. Rothe, Strukturen des Konjunktivs im Französischen (=Beihefte ZfRPh,

H. 112) (Tübingen, 1967) . 282 M. Grevisse, Precis de grannnaire francaise,

256f.

84

Ein einfaches Beispiel aus der traditionellen Notenskala mag die vorhergehenden Überlegungen abrunden: (D

(2) 1 2

.mehrgliedrige Interpretation

ausrei chend

3 4 5 6

nicht ausrei chend

binäre Interpretation

Wir sehen an diesen Beispielen, daß mehrere Formen der Analyse jeweils möglich sind. Die Entscheidung für die eine oder andere Form hängt davon ab, welche Möglichkeit einfacher, d. h. auch adäquater ist, vorausgesetzt natürlich Einfachheit wird nicht zur groben Vereinfachung. Was Baumann insgesamt als ein Kennzeichen der strukturalen Linguistik darstellt, "und schließlich [...] hat sie keinen Ausschließlichkeitsanspruch, no o sondern bleibt [ . . . ] ein Ansatz/Verfahren unter vielen", mag auch für den Binarismus als methodisches Prinzip gelten.

283 H.-H. Baumann, "Über französischen Strukturalismus", 158.

DER BINARISMUS IN DER INFORMATIONSTHEORIE

Die Überlegung Jakobsons, die besagt, daß der phonologische Code ein Binärcode ist, entspricht den Prinzipien der Informationstheorie, die die Kommunikationswissenschaftler entwickelt haben. Die Anregung kam aus dem Bereich der Fernmeldetechnik, deren Aufgabe darin besteht, Möglichkeiten optimaler Informationsübermittlung zu schaffen. Von daher ist die binäre Hypothese als notwendig und als ökonomischste Lösung anzusehen, um den Übertragungsprozeß zwischen Sprecher und Hörer zu beschreiben. Der Binarismus in der Informationstheorie ist als methodologisches Prinzip entwickelt und angewendet worden.

Jakobson selbst gibt die Bestätigung dafür: "Information Theory uses a

sequence of binary selections as the most reasonable basis for the analysis of the various comnunication processes. It is an operational device, imposed by the investigator upon the subject matter for pragmatic reasons."

Ben-

veniste scheint die Hinwendung der Linguistik zu kybernetischen und informationstheoretischen Methoden zu beklagen. Er empfiehlt: "Une tache plus fructueuse serait de reflechir aux moyens d'appliquer en linguistique cer2 taines des operations de la logigue symbolique." Der Binärcode ist einer der einfachsten Codes; die Zahl der unterscheidenden Merkmale ist auf zwei begrenzt. Eine Nachricht kann nicht übermittelt werden, wenn nicht zwischen wenigstens zwei Möglichkeiten zu unterscheiden ist,

ein Tatbestand, der auch auf die Sprache anwendbar ist.

Man bezeichnet

die Zahl der Binärziffern in "bit", die zur Darstellung einer Nachricht erforderlich sind (1 oder O; vgl. "ja oder nein" Antworten in der Analyse nach unterscheidenden Merkmalen bei Jakobson); ein Code, der zwischen vier Möglichkeiten die Wahl läßt, hat eine Kapazität von 2 bit; ein Code, der acht Möglichkeiten anbietet, hat eine Kapazität von 3 bit usw., was man mathematisch mit der Formel Iog2

(x = die Anzahl der Möglichkeiten) ausdrücken kann.

Elektronische Rechner arbeiten ausschließlich auf der Basis von Binärentscheidungen. Die Maschinen sind so konstruiert, daß nur eine Wahl zwischen 1

R. Jakobson et a l . , Preliminaries to speech analysis, 9.

2

E. Benveniste, Problemes, 13/14.

86

zwei möglichen Zuständen besteht, z. B. Strom ein oder Strom aus. Die Analogie zwischen dieser Binärkodierung und der Methode Jakobsons, Phoneme mit Hilfe der Analyse nach unterscheidenden Merkmalen auf der Grundlage von binären Oppositionen zu bestirnten, ist offensichtlich. Auf Fragen von Gleason, in welchem Maße Erkenntnisse aus der Informationstheorie die Linguistik interessieren, und ob diese Methoden dazu beitragen können, praktische Aufgaben der linguistischen Analyse zu lösen,

gibt Jakob-

son durch seine Theorie eine klare Antwort. Beide, der Linguist und der Kommunikationswissenschaftler,

interessieren sich dafür, was in der menschlichen

Rede Bedeutung hat. Beide begegnen sich auf gemeinsamen Grund; beide sind am funktioneilen Aspekt der sprachlichen Laute interessiert. Linguistik genauso wie Informationstheorie betonen die Unterscheidbarkeit der Information. Erst an zweiter Stelle folgt die Untersuchung der Struktur der Bedeutung: "Sie behält nur die Bestimmung bei, daß die Zeichen Unterschiedliches bedeuten, und geht dann dazu über, das System der unterscheidenden Merkmale und deren 4 Verkettung im Kontext zu untersuchen." Rosenblith schreibt zur Theorie der unterscheidenden Merkmale: "Elle est nee de l'union de la linguistique et de la Theorie de l'information." Es sind vor allem die Informationswissenschaftler, die die invarianten Elemente in der Rede gesucht hatten. Sie mußten lange warten, bis es zu dieser "union" gekommen ist. Nach den meisten der vorhandenen linguistischen Untersuchungsmethoden schien es ihnen kaum wahrscheinlich, daß solche invarianten Elemente in der phonologischen Beschreibung gefunden werden könnten; dagegen hat die Theorie Jakobsons neue Hoffnungen erweckt und bestätigt.

Jakobson hält diese

Gegenseitigkeiten zwischen den beiden wissenschaftlichen Bereichen für notwendig und nützlich: "La Theorie de la communication me parait une bonne ecole pour la linguistique actuelle, tout comma la linguistique structurale est une ecole utile pour les Ingenieurs de communication." Man sollte nicht den interdisziplinären Anspruch dieser Worte verkennen, gegenüber denen Chao allerQ

dings Bedenken äußert, schon was eine gemeinsame Terminologie anbetrifft. 3 4 5 6 7 8

H. A. Gleason, Introduction ä la linguistique, Übers. F. Dubois-Charlier (Paris, 1969) , 3 2. G. Ungeheuer, "Einführung in die Informationstheorie unter Berücksichtigung phonetischer Probleme", Phonetica 4 ( 1 9 5 9 ) , 97. W. A. Rosenblith, "La perception categorielle des phenomenes sonores", In: Communication et Langages, 75. Vgl. S. H. Chang, Besprechung von Jakobson und Halle, Fundamentals of language, 1149. R. Jakobson, "Le langage coinmun", 32. V g l . Y . R. Chao, Besprechung von Jakobson et al. Preliminaries to speech analysis, 4 2 .

87

Man kann z. B. gegenüber Vorwürfen, die Jakobson gemacht warden sind, er habe nur das kopiert, was die Informationtheorie bereits vorher entwickelt habe, antworten, daß Jakobson schon im Jahr 1928 die Grundlagen für seine Theorie der binären Oppositionen gelegt hat. Jakobson empfindet es im Gegenteil als Genugtuung und Bestätigung seiner These, daß die Informationstheorie unabhängig zu gleichartigen Ergebnissen gekonmen sei, "in [ . . . ] quite autonomous g

development [ . . . ] arrived at fundamentally amen complementary conclusions", was 10 auch durch Lepschy bestätigt wird. Wir können festhalten, daß sich die binären Methoden in der Konmunikationswissenschaft, die zum Bereich der angewandten Kybernetik zu rechnen ist,

als

vernünftig und brauchbar erwiesen haben. Im Bereich der Linguistik, wir haben bisher nur die phonologische Ebene betrachtet, können wir kein so eindeutiges Urteil abgeben. Die letzten beiden Kapitel bezogen sich inhaltlich nicht mehr ausschließlich auf die Ebene der Phonologie. In den phasenweisen Ausweitungen auf andere Ebenen der Sprache bzw. auf außerlinguistische Gebiete wie das der Informationstheorie sollten die Dimensionen der Binarismus-Problematik angedeutet werden, die im weiteren Verlauf der Arbeit näher untersucht werden sollen. Zunächst soll jedoch eine vorläufige Zusammenfassung der bisherigen Ergebnisse versucht werden, die dann in den folgenden Teilen der Untersuchung einer permanenten Überprüfung unterzogen werden sollen.

9 R. Jakobson/M. Halle, Fundamentals of language, 44. G. Lepschy, Die stru.fctura.Ze Sprachwissenschaft. Eine (München, 1969), 85-94.

Einführung

VORLÄUFIGE ZUSAMMENFASSUNG

(1) Der Binarismus in der Linguistik geht auf die These Jakobsons zurück, daß jede Sprache mit einer beschränkten Zahl von letzten Unterscheidungsmerkmalen, die eine Reihe von binären Oppositionen bilden, kommunikativ funktionsfähig

ist.

(2) Der phonologischen Binäranalyse Jakobsons liegen Erkenntnisse aus dem Bereich der Logik zugrunde, die sich weitgehend des dichotomen Prinzips bedient. (3) Ökonomische und typologische Gesichtspunkte, parallele Erkenntnisse in der Informationstheorie und Psychologie gelten Jakobson als Rechtfertigung seiner Binärtheorie. Ergebnisse der physiologischen und mathematischen Forschung stützen teilweise diese Annahme. (4) Jakobson versucht, durch die "funktioneile Phonetik" den Gegensatz zwischen Phonetik und Phonologie zu überwinden. Er baut vorwiegend mit Hilfe von Erkenntnissen aus der akustischen Phonetik sein binäres Modell auf, wobei das Phonem als abstrakte Einheit durch die Spezifizierungen der unterscheidenden Merkmale mit dem aktuellen Lautstrom der Sprache verbunden

ist.

(5) Das Bemühen Jakobsons, mit Hilfe der binären Klassifikation zu gleichen Ergebnissen auf verschiedenen (artikulatorischer, akustischer, auditiver) Ebenen zu können, eine Art MetaStruktur zu geben, wird als nicht realisierbar angesehen. (6) Der Versuch Jakobsons, den Binarismus auf invariante unterscheidende Merkmale zu gründen, wird von Seiten der Phonetik mit Hinweisen auf die Koartikulationsproblematik abgelehnt und als nicht haltbar dargestellt; desgleichen erscheint die Übertragung der Binärthese auf die prosodische Ebene zumindest umstritten. (7) Das von Jakobson verfolgte Ziel der Simplizität und Ökonomie wird in der Diskussion anerkannt, die Gefahr der Verzerrung dieses methodologischen Prinzips wird an seiner Theorie aufgezeigt. (8) Die Hypothese Jakobsons, die zwar als Anregung für die Forschung angesehen

89

wird - bekanntlich lebt die Wissenschaft von umstrittenen Thesen - wird als aprioristisch, abstrakt, willkürlich bezeichnet, die den diversen sprachlichen Gegebenheiten nicht gerecht wird; sein binaristisches Axiom wird als dogmatisch, der Realität der Sprache aufgezwungenes Scheite angesehen. (9)

Für Jakobson ist das binäre Prinzip der Struktur der Sprache inhärent. Dieses Immanenzverständnis wird angezweifelt, an seine Stelle tritt die Auffassung vom Binarismus als einem methodischen, operationellen Verfahren.

(10) Für Jakobson, der den Binarismus als immanentes Prinzip der Sprachstruktur ansieht, ist eine Typologie durchführbar; wird der Binarismus jedoch als methodisches Prinzip angesehen - das zeigt die Diskussion - erscheint die Forderung nach universeller Gültigkeit problematisch. (11) Der Ausschließlichkeitsanspruch, den Jakobson für seine Theorie fordert, wird allgemein abgelehnt; es wird ein Methodenpluralismus gefordert, wobei die Wahl der jeweiligen Methode von dem zu untersuchenden Gegenstand abhängig

ist.

(12) Binaristische Prinzipien werden in der Informationstheorie als methodisches Verfahren realisiert, eine direkte Abhängigkeit der Thesen Jakobsons von den Erkenntnissen der Informationstheorie wird angedeutet, von ihm selbst jedoch zurückgewiesen.

ISOMORPHIE ODER: DIE ÜBERTRAGBARKEIT EINER METHODE

6.0

Zusanmenfassung

Die Notwendigkeit zur Diskussion des Begriffs der Isomorphie (Analogie) ergibt sich aus der Beobachtung, daß die Anwendung binaristischer Prinzipien nicht allein auf die phonologische Ebene beschränkt ist.

Am Beispiel der In-

formationstheorie wurde die Anwendung des Binarismus im außerlinguistischen Bereich schon kurz angedeutet. Obwohl bedeutende strukturelle Unterschiede zwischen den einzelnen linguistischen Ebenen bestehen, werden immer wieder Versuche unternommen, analoge Verfahren in Phonologie, Grammatik und Semantik zu verwenden. Dazu gehört z. B. die Anwendung der Merkmaltheorie. Versuchen dieser Art wird z. T. mit großer Skepsis begegnet. Am Beispiel des Oppositionspaares "merkmalhaltig-merkmallos" und am Begriff der "Neutralisation" werden die Ubertragbarkeit linguistischer Prinzipien auf verschiedene sprachliche Ebenen und die damit verbundenen Schwierigkeiten ausführlich dargestellt. Besonders am Phänomen "Neutralisierung", das vor allem in der Phonologie eingehend erläutert wird, werden die Grenzen des Binarismus bzw. die Unmöglichkeit der Aufrechterhaltung seines in erster Linie von Jakobson vertretenen Ausschließlichkeitsanspruchs aufgezeigt. Mit anderen Worten ergibt sich aus der Darstellung der Neutralisierung: Der Binarismus wird durch die Möglichkeit der Neutralisierung (d. h. Aufhebung von Oppositionen unter bestimmten Bedingungen) zwar eingeschränkt, nicht aber aufgehoben. 6.1

Einige Anmerkungen zum Begriff "Isomorphie"

Das Kapitel "Binarismus: Eine Frage von Inhärenz oder Methode" hat schon gezeigt, daß die Anwendung des Binarismus nicht nur auf die phonologische Ebene beschränkt ist.

Der Binarismus ist - wohl meistens als methodisches

Prinzip - auf andere linguistische Ebenen und Wissenschaftsbereiche (vgl. z. B. Informationstheorie) übertragen worden. Zumindest wurde die Möglichkeit seiner übertragbarkeit geprüft, eine Vermutung, die z. B. Brosovic äußert: "The binary principle as a procedural operative principle of knowledge has a

91

wider scope; its functioning has been tried in various disciplines of modern science, linguistics included." Wir wollen dieser Behauptung nachgehen, wobei der Begriff der Isomorphie zunächst vor allem am Beispiel der Linguistik kurz zu diskutieren ist. In jüngster Zeit ist es in vielen Wissenschaftsbereichen geradezu üblich geworden, Gemeinsamkeiten ausfindig zu machen bzw. gemeinsame Methoden anzuwenden, die dann besonders Wissenschaftsgebieten zur Verwendung angeboten werden, die noch nicht so weit entwickelt sind wie andere. Neubert spricht von einem "Orientierungsspiegel", der diesen Disziplinen vorgehalten werde, und fügt hinzu, "diese Analogien haben wohlgemerkt einen ausgesprochen hypothetischen Charakter. Es haftet ihnen sehr viel Abstraktheit an". Diese Charakterisierung trifft wohl insbesondere den von Neubert angesprochenen Bereich der Modelltheorie, in dem zu einem erheblichen Teil mit Analogien gearbeitet wird. Interessieren kann in diesem Zusammenhang z. B. der Hinweis von Herdan im Hinblick auf die Anwendbarkeit der beiden Begriffe "type" und "token" in der Geometrie wie auch in der Linguistik; in diesen beiden Begriffen "geometry is transformed into linguistic theory". Herdan kommt zu folgender Definition des Isomorphismus: "By isomorphism we understand the logical equivalence of two theories, in the sense that one theory can be obtained from the other by a translation - or reinterpretation - of basic notions and symbols." Heringer beschreibt "Isomorphie" wie folgt: "Die Isomorphie ist symmetrisch, reflexiv und transitiv. Wenn zwei Systeme isomorph sind, sagt man, sie haben dieselbe 4 Struktur. Strukturen sind also Mengen von isomorphen Systemen." Diese Definitionen von Herdan und Heringer meinen das, was Neubert mit seiner Verwendung des Begriffs "Analogie" ausdrücken will. Übertragen auf den Bereich der Linguistik, so fährt Neubert in seinen Überlegungen fort, sei "dieses fruchtbare methodologische Prinzip" auf das verhältnismäßig unerschlossene Gebiete der Semantik anzuwenden, in dem man mit von der Phonologie erfolgreich entwickelten Methoden weiterarbeiten sollte. Gemeint ist sicher auch die Analyse nach unterscheidenden Merkmalen: "L1idee des traits differentiels est applicable, semble-t-il, a la semantique." In der Arbeit von Coseriu sieht Geckeier die Realisation der übertragbarkeit 1 2 3 4 5

D. Brosovic, "Some remarks on distinctive features especially in standard Serbocroatian", In: To honor Roman Jakobson, Vol. I, 413. A. Neubert, "Analogien zwischen Phonologie und Semantik", In: Zeichen und System der Sprache, Bd. 3 (Berlin, 1966), lo6. G. Herdan, The advanced theory, 333. H.-J. Heringer, Formale Logik und Grammatik (=Germanistische Arbeithefte 6) (Tübingen, 1 9 7 2 ) , 32. I. I. Revzin, Les modeles linguistigues (Paris, 1968), 76.

92

phonologischer Methoden auf den Bereich der Semantik bzw. Lexikologie. Nach Dubois hält z. B. auch Ivanov diese Ubertragungsmöglichkeit für gegeben: "L'interpretation des unites de la langue comme des ensembles constitues par des elements determines peut-etre propose non seulement pour le plan de l'expression mais aussi pour celui du contenu." So sehr jedoch der Isomorphiecharakter anwendbarer Methoden auf der phonologischen und semantischen Ebene betont wird, in gleichem Maße werden auch Bedenken geäußert, besonders im Hinblick auf die in beiden Bereichen erarbeiteten Ergebnisse: D'etudier le sens en appliquant le meme principe que la phonologie applique ä l'etude des sons et de la phonie ne suppose pas bien entendu que les resultats obtenus dans chaque plan doivent necessairernent etre paralleles aux resultats obtenus dans l ' a u t r e . C'est-ä-dire, qu'aucun "isomorphisme" ne peut etre postule a priori - ni, naturellement, ne peut non plus etre ecarte a priori.^

Ein Optimismus in Richtung einer totalen Isomorphie zwischen den verschiedenen 9 sprachlichen Ebenen scheint sehr zweifelhaft zu sein. Bedenken melden auch Ullmann und Duchacek an: "II [le Systeme en lexique] est beaucoup plus complexe, beaucoup moins stable et, par consequent, infiniment plus difficile 11 ä etablir que le Systeme phonologique [...]." Wie wir noch genauer sehen werden, hat Jakobson das Prinzip der Analogie bzw. Isomorphie in seiner Binärtheorie fruchtbar gemacht. Horälek behauptet sogar - und diese Behauptung entspricht der Bemerkung von Brosovic: "Heute kann nicht mehr darüber gezweifelt werden, daß das Prinzip der Dichotomie in allen Sprachplänen zur Geltung kommt und daß es an der Bildung der Sprachisomorphie in bedeutender Weise teilnirttnt." 12 In diesem Sinne ist zweifellos auch folgende Äußerung von Herdan zu verstehen, "that duality is inherent in language at all levels". 13 Wenn Neubert von Analogien zwischen Phonologie und Semantik ausgeht, so heißt das nicht, daß nicht auch Isomorphie zwischen phonologischer und grammatischer Ebene anzunehmen sei, worauf z. B. 6 H. Geckeier, Strukturelle Semantik und Hortfeldtheorie (Teildruck aus: ders., Zur ffortfelddiskussion. Untersuchungen zur Gliederung des Wortfeldes "alt-jung-neu" im heutigen Französisch) (München, 1 9 7 1 ) , 194. 7 J. Dubois, "Les notions d'unite semantique complexe et de neutralisation dans lexique", Cahiers de Lexicologie 2 ( I 9 6 0 ) , 63. 8 L. J. Prieto, Principes de noologie (Den Haag, 1964), 24, Anm. 15. 9 Vgl. Abschnitt "Das Verhältnis von artikulatorischer, akustischer und auditiver Phonetik", wo das Problem der one-to-one correlation" erörtert wird. 10 S. Ullmann, "Descriptive semantics and linguistic typology", Word 9 ( 1 9 5 3 ) , 225, zit. nach: G. Mounin, Les problemes theoriques de la traduction (Paris, 1963), 81. 11 0. Duchacek, "La structure du lexique et quelques problemes semantico-lexicaux", RLing 10 ( 1 9 6 5 ) , 5 5 9 . 12 K. Horälek, "Zum Begriff der Isomorphie", TLP 3 ( 1 9 6 8 ) , 89. 13 G. Herdan, The advanced theory, 331.

93

Kurylowicz und Jakobson besonders eingehen. Kennzeichnend für die Position Jakobsons ist z. B. folgender Satz: "Phänologie und Granmatik mündlicher Dichtung erzeugen ein System komplexer und ausgeprägter Entsprechungen, die erscheinen, wirken und durch die Generationen weitergegeben werden, ohne daß jemandem die Regeln bewußt würden, die dieses verwickelte Gefüge beherrschen." Ähnlich äußert sich auch Trubetzkoy: "La langue etant un Systeme, il doit y avoir un lien etroit entre la structure grammaticale et la structure phonologique de la langue." Es könnte nach dem bisher Gesagten so aussehen, als sei die Phonologie ausschließlich richtungsweisend in der Methodologie der Sprachwissenschaft gewesen. Wir haben schon erwähnt, daß sie sicher mit Recht als "Experimentierfeld der strukturalen Methode" angesehen wurde. Sicherlich hat aber Trubetzkoy recht, wenn er sagt, daß umgekehrt aber auch von anderen sprachlichen Ebenen wie z. B. der Semantik Wirkungen auf Grammatik oder Phonologie ausgehen können, womit der Begriff "Isomorphie" einen bisher nicht erwähnten Aspekt erhält. 18 Allerdings betont auch Trubetzkoy, daß jede Sprachebene eine ihr eigene Struktur hat, Gesetze, die sehr unterschiedlich sein können; eine Bestätigung dieser Auffassung finden wir z. B. bei Vogt. 19 Denken wir die Überlegungen von Trubetzkoy und Vogt konsequent weiter, müssen wir zu der Schlußfolgerung komten, daß ein Universalitäts- bzw. Ausschließlichkeitsanspruch für eine bestinmte Methode oder ein sprachliches Phänomen nur in einigen Fällen gestellt werden kann. Dazu gehört, so bescheiden diese Feststellung auch sein mag, daß wir auf allen Ebenen der Sprache immerhin eine Struktur finden, was gleichzeitig eine Bestätigung für die Existenzberechtigung des Begriffs "Isomorphie" ist. Zu diesen "einigen Fällen" gehört nach Meinung von Greenberg auch das Oppositionspaar "marked-unmarked", das er auf seine Brauchbarkeit auf verschiedenen Ebenen der Sprache und auch im außerlinguisti14 J. Kurylowicz, "La notion de l'isomorphisme", In: Esquisses linguistiques (Warschau und Krakau, I960; * 1 9 4 9 ) , 16-26, wo besonders auf Analogien zwischen Silbenbau und Satzbau hingewiesen wird. 15 z. B. R. Jakobson, "Zur Struktur des russischen Verbums", In: Charisteria Guilelma Mathesio quinquagenario (Prag, 1932), 74-84; ders., "Beitrag zur allgemeinen Kasuslehre", TCLP 6 ( 1 9 3 6 ) , 24O-287. Vgl. dazu die Kritik von Dokulil, "K otäzce morfologickych protikladu", SaS 19 ( 1 9 5 8 ) , 81-1O2, der die Inadäquatheit eines radikalen Binarismus bei der Behandlung von grammatischen Problemen hervorhebt. 16 R. Jakobson, "Unterbewußte sprachliche Gestaltung in der Dichtung", LiLi 1/2 ( 1 9 7 1 ) , 112. 17 N. Trubetzkoy, Principes de phonologie, 26; vgl. z. B. auch: V. Belevitch, "Remarques sur l'isomorphisme entre structures phonologiques et morphologiques", TIL 2 ( 1 9 5 7 ) , 25-3O. 18 Ibid., 3. 19 H. Vogt, Contacts of languages, 366, zit. nach: G. Mounin, Les problemes, SO.

94 *?o sehen Bereich wie z. B. bei den Verwandtschaftsbeziehungen untersucht. Von Martinet wird dieser Versuch Greenbergs bestätigt: "La notion de marque a ete tres tot transposee sur le plan des unites signif icatives et notaittnent sur celui des unites graitmaticales." 21 Die Definition der Isomorphie durch Herdan findet hier ihre Bestätigung.

6.2

Merkmalhaltig / merkmallos

Es erscheint uns angebracht, noch einmal kurz auf die Phonologie zurückzukom22 men. Wir haben dort festgestellt, daß eine "privative" Opposition jede Opposition bezeichnet, in der von zwei sprachlichen Elementen das eine Element mit einem Merkmal (mark) ausgestattet ist, das in dem anderen fehlt. Man spricht deshalb von der Opposition "merkmalhaltig bzw. merkmaltragend/merkmallos", die oft mit den Symbolen +/- bzw. 1/0 gekennzeichnet wird. Von der in dieser Weise verstandenen "privativen Opposition" ist besonders die "äquipollente Opposition"24 nach der Definition von Trübetzkoy und Martinet zu unterscheiden: On distinguera [ . . . ] d ' u n e part entre des oppositions marquees oü l ' u n des membres, dit non marque, est caracterise par la base sans addition, et 1'autre dit marque, par la base plus un element additionnel, dit "marque", et d'autre part des oppositions equipollentes ou chacun des membres ajpute ä la base un element additionnel.25

Da wir uns vor allem für binäre Oppositionen interessieren, gehen wir hier nicht auf die Begriffe "bilateral/multilateral" bzw. "proportional/isoliert" ein. Die Begriffe "graduell" und "konträr" sind schon erörtert worden. Es sei hier nur ergänzend vermerkt, was Geckeier zu den graduellen Oppositionen sagt: "Die graduellen Oppositionen werden als Sonderfall der privativen Oppositionen angesehen und damit auf die "realtions d1inclusion" zurückgeführt."

26

Diese

Bemerkung bezieht sich auf die Überlegungen Cantineaus in seinem Aufsatz "Le classement logique des oppositions". Geckeier verweist auch auf Adrados, 27 nach dem die graduellen Oppositionen sowohl mit den privativen wie mit den äquipollenten Oppositionen kombinierbar sind. 20 J. H. Greenberg, Language Universals (Den Haag und Paris, 1966), 1O. 21 A. Martinet, La linguistique synchronique, 182; vgl. auch: M. Halle, "Markedness", In: Proc. of the 6th Int. Cong, of Phon. Sciences. Prag 1967, Prag 197O, S. 61-72. 22 Vgl. die Ausdrücke: kontradiktorisch, relation d'inclusion, Eigenschaftsaussage. 23 engl. marked/unmarked, f r a n z . marque/non-marque oder deutsch auch: markiert/ nicht markiert (unmarkiert). 24 Vgl. die Ausdrücke: relation d'exteriorite, d'empietement. 25 A. Martinet, La linguistique synchronique, 188. 26 H. Geckeier, Strukturelle Semantik, 249. 27 F. R. Adrados, Estrura del vocabulario y estructura de la lengua (Madrid, 1967), 226.

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Kommen wir wieder zu Martinet: er nennt rape und rcorrpe als Beispiel für eine "privative Opposition", wo die Phoneme /a/ und /ä/ durch das "element additionnel" "Nasalität" unterschieden sind. Als Beispiel für die "äquipollente Opposition" führt Martinet bette und hatte an. / / und /a/ haben die vordervokalische Artikulation gemeinsam; sie unterscheiden sich dadurch, daß das eine Phonem geschlossener, das andere geöffneter ist. Die äquipollente Opposition / / : /a/ ist nicht neutralisierbar; man kann nicht sagen, welches das markierte bzw. nicht-markierte Glied der Opposition ist. Nehmen wir zur Verdeutlichung von "marked/unmarked" ein weiteres Beispiel: im Englischen ist die Opposition der Phoneme /b/ : /p/ als "stirrmhaft" bzw. "stimmlos" charakterisiert. Beide Glieder dieser Opposition haben ansonsten die gleichen phonetischen Merkmale, das merkmalhaltige /b/ hat jedoch das Merkmal "stimmhaft", das der merkmallose Konsonant /p/ nicht hat. Martinet rechnet die "notion de marque" zu den Begriffen, "qui sont indispensables pour bien comprendre la structure du langage", 28 fügt aber auch hinzu, daß dieser Begriff zunächst mehr Verwirrung als positive Wirkung gebracht habe. Wenn man ihn jedoch mit "discernement" anwende, erweise er sich als nützlich. Ivic unterstreicht diese Ansicht und verweist besonders auf seine methodologische Bedeutung, die vor allem im Werk von Trubetzkoy und Jakobson zum Ausdruck komme; Jakobson insbesondere habe versucht, das Paar "merkmalhaltig/merkmallos" als sprachliches Kriterium auf weitere linguistische Ebenen anzuwenden. 29 Als Ergänzung zu dem bisher Gesagten sei jedoch noch eine Auswahl von Charakteristika genannt, die dem Oppositionspaar "marked/unmarked" zugeschrieben werden, die allerdings nicht unumstritten geblieben sind. Martinet z. B. bezeichnet das merkmalhaltige Phonem als das linguistisch komplexere, das merkmallose entsprechend als das einfachere Glied, eine Terminologie, die etwa auch Hockett in den Ausdrücken "simple" (= unmarked) und "complexe" (= marked) verwendet. 3O Barthes sagt u. a. zu diesem Problem: "Certains linguistes ont assimile la marque ä l' exceptionnel et ont fait intervenir un sentiment de norroalite pour juger du terme non-marque; le non-marque serait ce qui est frequent ou banal, ou encore derive du marque par retranchement subsequent ; [ . . . ] . Der letzte Teil der Äußerung führt uns zu einer weiteren Kennzeichnung der Opposition, die schon von Trubetzkoy vermerkt wird und besonders von Zipf 32 in anderem Zusammenhang untersucht worden ist: der 28 29 30 31 32

A. Martinet, La linguistique synchronigue, 18O. M. Ivic, Trends in linguistics (London-Den Haag-Paris, 1965), 139. C. Hockett, Manual of phonology (Baltimore, 1955), 166/167. R. Barthes, "Elements", 124. G. K. Zipf, Human behavior and the principle of least effort (Cambridge, Mass., 1949).

96

Frequenz im Text. Danach hat im allgemeinen die merkmallose Kategorie eine höhere Frequenz als die merkmalhaltige. Greenberg hat versucht, diese These anhand von Untersuchungen (Zählungen) in exotischen Sprachen nachzuweisen. 33 Er verweist u. a. auf Ferguson, der die Hypothese verträte, daß relativ größere Textfrequenz bei Nicht-Nasalen gegenüber Nasalen bestehe, was nach Greenberg der These von der größeren Häufigkeit der "Merkmallosen" entspräche. 34 Martinet schließt aus diesen Bemerkungen auf das Ökonomieprinzip der Sprache: "Une articulation plus complexe a des chances d'etre moins frequente qu'une articulation moins complexe; [ . . . ] . " In ähnlichem Sinn sind die Überlegungen zu verstehen, die Weinrich über "Extension" und "Intension" im Zusammenhang mit dem Morphem- bzw. Lexemcharakter der Adjektive macht. Diesen kurzen Anmerkungen zur Frequenz scheint die semantische Klassifizierung Cantineaus von rond als merkmalhaltig und entsprechend ronde als merkmallos nicht zu entsprechen, denn rond ist die wohl häufigere in der Sprache auftretende Form. Nach Barthes ist die Erklärung "verhältnismäßig einfach": Cantineau hält die maskuline Form für "markiert", die feminine für "unmarkiert". Diesem Standpunkt widerspricht die Theorie Martinets, der ja meint - wie wir gesehen haben - daß ein "element additionnel" die markierte Form auszeichne. Da die maskuline Form oft einer Nichtdifferenzierung der Geschlechter entspräche, z. B. on est vertu, sei die foninine Form die markierte Form; insofern "marque semantique et marque formelle vont en effet de pair". Neben dem Kriterium der Frequenz, das die merkmallose Form charakterisiert, neben der Kennzeichnung der merkmalhaltigen Form durch das "element additionnel", erscheint u. a. bei Jakobson der Begriff "zero degree" oder "degre zero" als Kriterium für die Charakterisierung der nicht-markierten Form. 38 Als Beispiel nennt Greenberg u. a. man = merkmallos/ woman - merkmalhaltig und author = merkmallos/ authoress = merkmalhaltig. "In this latter instance the unmarked term author has a zero where the marked term authoress has an overt affix -ess." 39 Der "degre zero" bedeutet jedoch keine völlige Abwesenheit eines Merkmals. "[...], c'est une absence qui signifie: on touche 33 J. H. Greenberg, Language universals, 1 6 f f . 34 C. A. Ferguson, "Assumptions about nasals, a sample study in phonological universals", In: Universals of language, hg. J. H. Greenberg (Cambridge, Mass., 1963), 46. 35 A. Martinet, La linguistique synchronigue, 181. 36 H. Weinrich, "Die Stellung des Adjektivs im Französischen", In: Satz und Wort im heutigen Deutsch, hg. H. Moser (Düsseldorf, 1967), 115-125. 37 R. Barthes, "Elements", 124. 38 R. Jakobson, "Signe zero", In: Melanges de linguistique offerts a Charles Bally (Genf, 1939), 143-152; vgl. auch: J. H. Greenberg, Language universals. 26/27; R. Barthes, "Elements", 124. 39 J. H. Greenberg, Language universals, 27.

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ici un etat differentiel pur; le degre zero temoigne du pouvoir de tout 4O Systeme de signes qui fait ainsi du sens 'avec rien1." Wir hatten sdion angedeutet, daß äquipollente Oppositionen nicht neutralisierbar sind; mit anderen Worten heißt das: die privativen Oppositionen, die durch das Paar merkmalhaltig/merkmallos beschrieben werden, können durch das Kriterium "Neutralisierbarkeit" gekennzeichnet werden. Ohne an dieser Stelle näher auf dieses Kriterium einzugehen - wir wollen das im nächsten Abschnitt tun - soll jedoch schon gesagt werden, daß sich in der neutralisierten Stellung die nicht markierte Form in der Regel durchsetzt. In dem Beispiel reisen — reißen

. .„ -, reist, reißt rL s J

setzt sich das stimmlose Element als Archiphonem bzw. Stellvertreter der Opposition "stinrrhaft/stimmlos" durch. Innerhalb der vier möglichen Fälle, die Trubetzkoy darstellt, um die Beschaffenheit der Archiphonemvertreter zu charakterisieren, heißt es unter dem Stichwort "Dritter Fall: Die Wahl eines Cppositionsgliedes zum Stellvertreter des Archiphonems ist innerlich bedingt" u. a.: "Die meisten aufhebbaren phonologischen Gegensätze gehören aber zu dieser Klasse, d. h. werden als Gegensätze zwischen merkmallosen und merkmaltragenden Gliedern gewertet, wobei jenes Oppositionsglied, welches in den 4l Aufhebungsstellungen auftritt, als das merkmallose gilt." Wir verzichten auf die Nennung weiterer Kriterien zur Charakterisierung der Opposition "marked/unmarked".

Nach Auffassung einer Reihe von Lin-

guisten ist das Oppositionspaar "marked/unmarked" auf andere linguistische Ebenen übertragbar, was zugleich heißt: die binäre Methode, die sich in diesem Oppositionspaar manifestiert, ist ebenso auf anderen Sprachebenen anwendbar. Im Hinblick auf seine Klassifizierung von privativen, graduellen und äquipollenten Oppositionen bemerkte schon Trubetzkoy: "Alle diese Betrachtungsweisen und Einteilungsgrundsätze sind nicht bloß für phonologische, sondern auch für beliebige andere Oppositionssysteme gültig. Sie enthalten nichts spezifisch Phonologisches." Es erübrigt sich, noch einmal auf die schon im Abschnitt "Zum Begriff der Isomorphie" genannten Zitate von Martinet und Greenberg einzugehen, die diese Übertragungsrröglichkeiten dokumentieren, wobei uns noch erwähnenswert scheint, daß Greenberg nachhaltig auf die enge Be40 41 42 43

R. Barthes, "Elements", 124. N. S. Trubetzkoy, Grundzüge, ( 5 1 9 7 1 ) , 73. Vgl. dazu u. a. J. H. Greenberq, Language universals, 21-24. N. S. Trubetzkoy, Grundzüge, ( 5 1 9 7 1 ) , 81.

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Ziehung der Opposition "merkmalhaltig/merkmallos" zu mathematisch-logisdien Kategorien weist. 44 Am deutlichsten ist die Übertragung dieser binären Opposition von Jakobson demonstriert worden. Er schreibt: "Le Systeme des categories gratrrnaticales, des categories norphologiques en particulier, est ostensiblement base sur une echelle d'oppositions binaires." 45 Diesem Optimismus sollen hier noch einmal Bedenken, in diesem Fall von Horälek, entgegengehalten werden, die zunächst stellvertretend für eine beträchtliche Zahl von Linguisten stehen sollen. Er meint, daß die Anwendung der binären Methode in der Morphologie auf noch größere Schwierigkeiten stößt als in der Phonologie. Reformackij äußert die gleichen Bedenken: "Je crois que le caractere binaire, dichotomique de la phonologie passe assez facilement [...]. Mais les tentatives de creer une dichotomie en morphologie ont peu de chance de reussir." In der Syntax und in der Wortbildungslehre hält Horälek die Lage für günstiger, weil in diesen Bereichen der Binarismus eine gewisse Tradition habe; aber auch der syntaktische Binarismus habe seine ungelösten Probleme, wobei er auf die beiden fundamentalen Relationen der Syntax, Prädikation und Determination, hinweist, die zwar "couples de phrase" bilden, jedoch zwei verschiedene Formen von Binäroppositionen darstellten. Vielleicht sind diese Überlegungen Horäleks im Grunde auch als ein Hinweis dafür anzusehen, daß es nur mit großer Mühe, möglicherweise gar nicht gelingt, bestimmte in der Phonologie entwickelte Methoden, u. a. eben die Binärmethode Jakobsons, auf andere linguistische Ebenen zu übertragen. Das soll im weiteren Verlauf unserer Untersuchung geklärt werden, wobei der Ausgangspunkt die genannten Aussagen Horäleks sind, der auf einen bestimmten Traditionalismus der Binärtheorie, z. B. im Bereich der Syntax, hinweist. Im übrigen sei schon an dieser Stelle darauf aufmerksam gemacht, daß die nachfolgende Gliederung den jeweiligen Untersuchungsbereich betrifft und streng von dem metasprachlichen Inventar geschieden wird, z. B. in Form des Oppositionspaares "merkmalhaltig/merkmallos", das auf diesen Bereich angewendet wird.

44 Vgl. weitere Übertragungsmöglichkeiten auf Bereiche wie "Code routier" und "Systeme de la Mode" bei R. Barthes, "Elements", 125. 45 R. Jakobson, "Linguistique et theorie de la communication", 96. 46 A. A. Reformackij, "De la neutralisation des oppositions", TIL 2 ( 1 9 5 7 ) , 105. 47 K. Horälek, "A propos de la theorie des oppositions binaires", 9.

99

6.3

Neutralisierung

Die phonologische Binärtheorie Jakobsons stand fast ausschließlich im Zentrum unserer bisherigen Erörterungen; in den folgenden Kapiteln wird das nicht mehr in gleichem Maße der Fall sein. Es wird sich zeigen, ob sich dabei wesentliche Veränderungen in der Beurteilung des binären Prinzips ergeben, oder ob sich die bisher gemachten Beobachtungen bestätigen. Im vorigen Abschnitt haben wir gesagt, daß die Neutralisierung (bei Hjelmslev z. B. "fusion") als eines unter mehreren Kriterien zur Charakterisierung des Merkmalpaares "markiert/unmarkiert" angesehen wird. Es erscheint deshalb angebracht, bevor wir die Anwendung binärer Prinzipien in der Grammatik untersuchen, einige Bemerkungen zum Begriff "Neutralisation" zu machen, der in enger Beziehung zu dem von uns diskutierten Problem der binären Oppositionen auf den verschiedenen linguistischen Ebenen steht. Es geht uns vor allem um die Frage, ob die Begriffe "Binarität" und "Neutralisation" im Widerspruch stehen, ob sie sich ausschließen. Trifft diese Vermutung zu, wäre eine weitere bedeutende Schwäche des Binarismus nachgewiesen. Dieser Problematik soll anhand von einigen wenigen Beiträgen zur "Neutralisierung" nachgegangen werden. Wir wollen bei dem Zusammenhang beginnen, der zwischen "Neutralisierung" und der von der Prager Schule, besonders von Trubetzkoy, entwickelten Unterscheidung von sog. bilateralen (eindimensionalen) und multilateralen (mehrdimensionalen) Oppositionen in der Phonologie besteht. In den bilateralen Oppositionen ist die Anzahl von Merkmalen, die beide Glieder der Opposition gemeinsam haben, d. h. ihre Vergleichsbasis, nur auf diese beiden Glieder der Opposition beschränkt und auf kein anderes Glied desselben Systems anwendbar. Hingegen ist die "Vergleichsbasis" einer multilateralen Opposition nicht ausschließlich auf die zwei Glieder der betreffenden Opposition beschränkt, sondern bezieht sich gleichermaßen auch auf die anderen Glieder des gleichen Systems. Trubetzkoy veranschaulicht diese Unterscheidung am 49 lateinischen Alphabet. Barthes nennt die bilaterale Opposition auch eine privative Opposition, 5O im Sinne von Jakobson also eine binäre Opposition. Trubetzkoy meint, daß die Neutralisierung nur bei bilateralen phonologischen 48 Genauere, differenziertere Informationen zum Neutralisierungsproblem auf verschiedenen linguistischen Ebenen: Sammelband mit den Antworten einer Reihe von Linguisten auf ein "Questionnaire" von A. Martinet zum Thema: "La notion de neutralisation dans la morphologie et le lexique", TIL 2 (1957) 49 N. S. Trubetzkoy, Grundzüge, ( 5 i 9 7 1 ) , 61. 50 R. Barthes, "Elements", 124, Anm. 1.

1C»

Oppositionen auftrete, was aber nicht bedeutet, daß alle bilateralen Oppositionen neutralisierbar seien; entscheidend ist dabei u. a. der Kontext. "Wenn aber eine Sprache einen aufhebbaren Gegensatz besitzt, so ist dieser iimer eindimensional." In einer neutralisierten Stellung repräsentiert nach Trubetzkoy eines der Glieder der Opposition das sog. "Archiphonem". Im Deutschen, wo im Auslaut z. B. die Opposition /d/ : /t/ neutralisiert wird, repräsentiert das stirtrnlose t das Archiphonem, das aber als Archiphonem weder stimmlos noch stimmhaft sei, "sondern es ist "der nichtnasale dentale Verschlußlaut überhaupt" und als solcher kann er einerseits dem nasalen dentalen n, andererseits den nichtnasalen labialen und gutturalen Verschlußlauten gegenübergestellt werden." 52 Jakobson und seine Mitarbeiter als Vertreter der binären phonologischen Oppositionen gebrauchen auch die Begriffe "Neutralisierung" und "Archiphonem". Wenn sie jedoch alle binären phonologischen Oppositionen als gleichartig ansehen, müssen sie in Schwierigkeiten mit dem Prinzip der Neutralisierung kommen. Nach Trubetzkoy besteht beispielsweise ein Unterschied zwischen der Opposition /d/ : /t/ und der Opposition /d/ : /b/, die erste ist neutralisierbar, die zweite nicht, da diese multilateral ist. Das Modell Jakobsons löst die Unterscheidung dieser beiden Oppositionstypen im Prinzip der Binarität auf. Alle Oppositionen sind gleich, d. h. sie sind binär beschreibbar. Alle Oppositionen müßten demnach neutralisierbar sein, was nach Meinung von Trubetzkoy - wie oben schon erwähnt - nicht notwendig der Erkenntnis folgen muß, daß nur bilaterale Oppositionen neutralisierbar sind; Trubetzkoy erhebt also keinen Ausschließlichkeitsanspruch im Hinblick auf die Neutralisierbarkeit der bilateralen Oppositionen. Für Jakobson spielt das Kriterium der Neutralisation eine sekundäre Rolle, es widerspricht nicht seinem Prinzip der Binarität, sonst könnte er nicht alle Oppositionen als gleichartig ansehen und müßte eine Hierarchisierung bei seinen binären phonologischen Oppositionen vornehmen. Nur wenn man der Konzeption Trubetzkoys folgt, wenn man bilaterale und multilaterale Oppositionen trennt, was Jakobson unterläßt, könnte man sagen, daß das Prinzip der Neutralisierung gewissermaßen dem Konzept der Binarität widerspricht, denn die multilateralen Oppositionen sind nicht neutralisierbar. Der Begriff der "Neutralisierung" oder "Aufhebbarkeit" ist ähnlich wie das Oppositionspaar "merkmalhaltig/merkmallos" auf andere linguistische Ebenen übertragen worden, z. B. auf die Morphologie und - wenn auch seltener - auf den Bereich der Semantik (Lexikologie). 53 51 N. S. Trubetzkoy, Grundzüge, 71. 52 Ibid. 53 Z. B. von J. Dubois, "Les notions d'unite semantique".

101

Wir karrten jedoch zunächst auf einen Aufsatz von Trnka zu sprechen, in dem dieser das Problem der Neutralisation auf der phonologischen und norphologischen Ebene behandelt und zur Konzeption Trubetzkoys Stellung niitmt. 54 "Neutralization is one of the most debatable concepts of structural linguistics. Provisionally, it may be defined as a suppression, under given conditions, of a phonological or a morphological opposition." Die Definition Martinets und seiner Mitarbeiter weicht im Kern von derjenigen Trnkas nicht ab: "Au niveau de la deuxieme articulation, la neutralisation se definit come l'impossibilite de realiser, dans un contexte phonique determine, une opposition attestee dans d'autres contextes entre des phonemes presentant un trait ou un ensemble de traits corrrnuns qu'ils sont seuls a posseder dans le Systeme." Tmka nennt als Beispiel für Neutralisierung u. a. die Vokalopposition /e/ / / / im Französischen (z. B. les : laid; mes : mais) , die in allen nicht-finalen Stellungen neutralisiert ist. Als morphologische Neutralisation bezeichnet er u. a. im Französischen die erste und dritte Person Singular Präsens bzw. Imperfekt: tu ahevches/il aherche; tu as/il a; tu es/il est; tu cherohais/il oherohzit usw. Tmka gibt weitere Beispiele, u. a. die Neutralisierung des Genus im Plural z. B. im Deutschen: der, die, das > die, im Französischen: le} la > les. Aus diesen wenigen Bemerkungen wird schon ersichtlich, welche Bedeutung die Neutralisation für einen "universell gültigen" strengen Binarismus hat. Der Ausschließlichkeitsanspruch kann wohl wegen der Neutralisierung nicht aufrechterhalten werden. Mit anderen Worten, der Binarismus wird durch die Möglichkeit der Neutralisierung eingeschränkt, nicht aber aufgehoben. Das entspricht der Äußerung Weinrichs im Zusammenhang mit seiner sog. "Textpartitur": "Problematisch bleibt bei einem solchen Verfahren (das streng binär verfährt) die Behandlung der Neutralisierung. Wenn man neben der Entscheidung für + oder - (O od. 1) auch eine Neutralisierung vermerken will, und dafür etwa das Zeichen 0 setzt, ist man, streng genommen, aus dem BiC p narismus schon wieder ausgebrochen." 54 B. Trnka, "On some problems of neutralization". In: Omagiu lui Jorgiu Jordan (Bukarest, 1958), 861-866. 55 Ibid., 861. 56 La linguistigue. Guide alphabetigue, Hg. A. Martinet (Paris, 1969), 2 5 7 . 57 Vgl. auch: 1. Pers. Sing. Fut. I / I , Pers. Sing. Kond. : . . j'aimerai [ ] / j'aimerais [ ], die sich aus der Opposition [e] / [e] entwickelt haben. 58 H. Weinrich, "Die Textpartitur als heuristisch-didaktische Methode", In: Einführung in die Textlinguistik, T. II (Bielefeld/Köln, 1971), 2 3 3 ; vgl. S. 153 Anm. 178.

102

Trnka fragt besonders nach der Lösung von drei Problemen, "(1) which class of phonological opposition is liable to neutralization, (2) what is the phonemic character of the sound which occurs in the neutralization position and (3) 59 what is the cause of neutralization." Er glaubt - das scheint unter den Phonologen allgemein anerkannt - daß nur ein relevantes unterscheidendes Merkmal eines der Glieder einer Opposition neutralisierbar ist.

Trnka gibt

Trubetzkoy recht, der behauptet, daß "two given phonems constituting a neutralizable opposition must have a canton basis of relevant features".

Er

meint jedoch, daß es kaum haltbar sei, wenn Trubetzkoy die sog. "localization oppositions" von der Liste neutralisierbarer Merkmale ausschließe. Trnka nennt Beispiele, um die Position Trubetzkoys zu widerlegen: im Englischen verlören die Oppositionen /m/ : /n/, /m/ : / /, /n/ : /n/ vor Labialen und Velaren ihre oppositive Relevanz. Trnka kommt zu der Überzeugung - und beruft sich dabei auf Jakobson, der dies mit seiner akustischen Analyse der Konsonanten nachgewiesen habe - "that "any1 relevant feature keeping two phonemes apart 62 in a given linguistic system is neutralizable", was eine Bestätigung der These wäre, daß die Neutralisierung für Jakobson kein Widerspruch zu seiner Binärtheorie darstellt: die Neutralisierung ist ein Teil der Konzeption von den binären Oppositionen, sie beschränkt oder hebt unter bestimmten Bedingungen das Oppositionsprinzip auf. Die relevanten Merkmale eines Phonems sind diejenigen, die nicht von ihrer Stellung und Umgebung in einem Wort abhängen; sie dienen nur der Unterscheidung eines Phonems von anderen Phonemen des gleichen sprachlichen Systems. Diese Meinung Trnkas ist allerdings, wie wir schon im Abschnitt "Zum Problem der Koartikulation" gesehen haben, bei einer Reihe von Phonetikern umstritten. Die Neutralisierung ist als Sonderfall der Koartikulation anzusehen. Zur Beantwortung seiner zweiten Frage schreibt Trnka z. B.: "Is t in the cluster tk, and d in dg, realizations of the phoneme t and d, respectively, or is t in tk a realization of a phoneme T, and d in dg a realization of the phoneme D, both T and D being different from t and d?"63 Martinet ("Neutralisation et Archiphoneme", TCLP 6, S. 9) und Trubetzkoy hätten auf diese Frage keine zufriedenstellende Antwort gegeben. Nach Trubetzkoy z. B. werde das relevante Merkmal, das unterscheidende Funktion in einer Opposition habe, in der Neutralisierung aufgehoben.

Das unterschei-

59 B. Trnka, "On some problems", 862. 60 Vgl. das Beispiel reisen/reißen, wo in der 3. Pers. Sing. Präs. Neutralisation auftritt. 61 B. Trnka, "On some problems", 862. 62 Ibid. 63 B. Trnka, "On some problems", 862. 64 Vgl. oben: Darstellung der Neutralisation bei Trubetzkoy.

103

dende Merkmal der Opposition /d/ : /t/ im Deutschen werde in der Endstellung aufgehoben, "and the sound occurring in it is, from the phonological point of view, neither voiced nor voiceless." Dieser Laut sei das sog. "Archiphonem" . Die Lösung "the choice of the sound representing an archiphonene ["Stellvertreter"] is either independent or in sane cases, dependent on its neighbourhood [. . . ]",66 für die Trubetzkoy plädiere, ist für Trnka nicht "realistic". Das gleiche Urteil muß Martinet und seine Mitarbeiter treffen, die ähnlich wie Trubetzkoy eine Reihe von Bedingungen nennen, unter denen die Neutralisierung auftritt, die den vier von Trubetzkoy genannten Bedingungen ähneln. Martinet et al. nennen u. a. : l sous une forme constants, qui est physiquement analogue ä celle d'un des phonemes en position de dif ferenciation (par exemple, toujours [p], et jamais [ b ] ) , ou physiquement intermediaire entre les realisations normales des deux phonemes (par exemple, comme une labiale sourde faible intermediaire entre [p] et [b] ; [ . . . ] 3° sous l 'une des formes considerees dans 1°, selon le contexte (par exemple [p] devant consonne phonologiquement sourde [b] devant consonne phonologiquement sonore); [...]"° 8

Gleichzeitig machen sie aber auf Schwierigkeiten aufmerksam, "notainttent lorsqu'on apere avec des voyelles, dont les oppositions presentent generalement, du point de vue articulatoire , un caractere graduel: [...]", z. B. [u] [o] [a] in der offenen auslautenden Silbe. "Rien ne permet de decider si, ä la finale non couverte, c'est l Opposition /o/Vo/ qui est neutralisee ou l Opposition /o/Va/· Das heißt gleichzeitig, daß die Neutralisation sich auch auf mehr als zwei Phoneme beziehen kann, daß sie nicht nur bei binären Oppositionen stattfinden kann. Trnka schlägt im Gegensatz zu Trubetzkoy vor, zumindest zu prüfen, ob nicht generell akzeptiert werden müsse, daß das Archiphonem eine der beiden Realisationen der vor der Neutralisierung existierenden Oppositionen repräsentiere. Seine Meinung versucht Tmka an tschechischen Beispielen zu belegen. Er wendet sich gegen einen Weg, das Archiphonem als eine Mischung von zwei vor der Neutralisierung bestehenden Oppositionen aufzufassen, was seiner Meinung nach nur in den seltensten Fällen aufträte. Er akzeptiert also nicht die sog. "Unabhängigkeits-" bzw. "Einflußtheorie" durch Nachbar laute.72 Trnkas Kritik an Trubetzkoys Neutralisationskonzeption, etwa auch an der 65 B. Trnka, "On some problems" 862. 66 Ibid., 863. 67 Vgl. zu den vier Bedingungen Trubetzkoys, Grundzüge ( - M 9 7 1 ) , 71-75. 68 69 70 71

La Linguistique, 257. Ibid., 258. Ibid. Vgl. das auch von Trubetzkoy genannte Beispiel /d/ : /t/, wo im Deutschen das stimmlose /t/ das Archiphonem repräsentiert. 72 B. Trnka, "On some problems", 863.

104

Unterscheidung zwischen "innerlichen" und "äußerlichen" Bedingungen für das Archiphonem, gipfelt in der Feststellung, daß das Problem der Neutralisierung nicht nur wie bei Trubetzkoy eine Frage der Unterscheidbarkeit sei, vielmehr auch eine der Identifikation im Sinne eines ökonomischen und schnellen Verstehens von phonologischen Gegebenheiten. Zu dem, was wir oben als "Unabhängigkeitstheorie" nach Trubetzkoy bezeichnet haben, sagt Trnka: Es gibt Fälle, wo die neutralisierten Laute einer phonologischen Opposition durch Laute vertreten werden, die sonst nicht in einem linguistischen System existieren. Die Erklärung lautet für ihn: Der Laut, der in der Neutralisationsstellung erscheint, wird als Variante eines der Laute verwendet, die vorher die Opposition gebildet haben; Trnka spricht von "neutralization variants". Grundsätzlich gilt also für ihn, daß dasselbe Phonem (bzw. eine Variante dieses Phonems), das vorher eines der beiden Glieder einer Opposition war, als Archiphonem in neutralisierter Stellung auftreten kann. Den Unterschied zwischen paradigmatischer und syntagmatischer Neutralisation sieht Trnka darin, daß die erstere sich auf relevante Merkmale bezieht, die Phoneme realisieren, die letztere hingegen Phoneme behandelt, die als Komponenten innerhalb von Wörtern angesehen werden; beide haben gemeinsam, daß sie ein relevantes Merkmal ausschließen. Die dritte Frage nach der Ursache für die phonologische Neutralisierung wird von Trnka im doppelten Sinne beantwortet: Bei der paradigmatischen Neutralisierung besteht die Notwendigkeit, eine theoretisch mögliche, große Zahl von Kombinationen relevanter Merkmale auf eine verhältnismäßig kleine Zahl von Phonemen zu reduzieren. Die syntagmatische Neutralisierung variiere von Sprache zu Sprache und sei als eine Erscheinungsform von Sprachökonomie anzusehen. 74 Zur Neutralisierung von morphologischen Oppositionen bemerkt Trnka zunächst, daß dieses Problem streng von der "Homonymie" getrennt werden müsse. Neutralisierung von morphologischen Oppositionen heiße Ausschaltung einer Opposition unter nicht-phonologischen Bedingungen, während "homonymy is the identity of the phonemic realisation of a morphological opposition." Martinet et al. sprechen von "homonymie accidentelle" oder "syncretisme". Als Beispiele nennen sie im Lateinischen die Substantive Neutrum im Singular, die in der Deklination im Nominativ und Akkusativ nicht formal unterschieden sind, z. B.: 73 74 75 76

Vgl. Jakobson/Halle über "Varianten derselben Opposition", Fundamentals, 27/28. B. Trnka, "On some problems", 864. B. Trnka, "On some problems", 865. La linguistique, 26O.

105

N. templum A. templum

im Gegensatz zu:

amicus

amica

amicum

amicam.

Ein ähnliches Beispiel nennt Trnka für die Homonymie: im Lateinischen Genetiv und Dativ Singular von fem-ina: G. feminae D. feminae

im Geqensatz zu:

populi . populo

Als Beispiel für Neutralisierung im Lateinischen nennt er den Dativ und Ablativ Plural servis, feminis usw.

Im Gegensatz zu Martinet nennt Tmka in

einem früheren Aufsatz lateinisch iugwn und vinum '"sous la dominance1 of neuter" noch Neutralisationen von morphologischen Oppositionen. "The opposition of nominative-accusative is incompatible with neuter in Latin." An gleicher Stelle bezeichnet er die zweite Person Singular Präsens und dritte Pers. Sing. Präs, im Französischen, z. B. tu manges/il mange, tu finis/il

finit

etc., als Neutralisation von zweiter und dritter Person "'sous la dominance1 of singular" im Gegensatz zu it mange—Lls mangent, die Homonym!tat der dritten Pers. Sing, und der dritten Pers. Plur. bedeuteten, nicht jedoch Neutralisierung, da es ja Fönten wie il finit-ils finissent gäbe, wo die Opposition 7R weiterbestünde. Die genannten Beispiele stellen den paradigmatischen Typ der morphologischen Neutralisation dar. Zur Aufhebung der Genusopposition schreibt Tmka: "On the morphological level, the opposition of genders is excluded from combination 79 with plurality in Dutch, Scandinavian languages and German." Die Neutralisierung scheint also wie in der Phonologie auch in der Morphologie der Reduktion bestimmter funktionaler oppositiver Formen, in der Phonologie der Reduktion von Phonemen, in der Morphologie der Reduktion von "granmatischen Formen", was die Oppositionen - auch die binären - nicht aufhebt, sondern nur in bestinmten Fällen sinnvoll beschränkt. Trnka weist aber auch darauf hin, daß morphologische Oppositionen auch unter syntagmatischen Bedingungen in vielen Sprachen durch Neutralisierung 8O aufgehoben würden. Er nennt als Beispiel im Englischen: "my brothers are merchants". Das Monem "merchants" ist in diesem Beispiel numerisch nicht als Singular oder Plural qualifizierbar. Wie in der Phonologie gäbe es auch in der Morphologie in der neutralisier77 Vgl. auch: J. H. Greenberg, Language universale, 27. 78 B. Trnka, "Some remarks concerning neutralization", TIL 2, 154. 79 Ders., "On some problems", 865; vgl. der/die/das -> die/ vgl. auch: J. H. Greenberg, Language universals, 27. 80 B. Trnka, "On some problems", 865.

106

ten Position keine "neue, unabhängige Form" als Archi-Einheit. Im Fall der Opposition von Singular/Plural sei es entweder der Singular oder der Plural, 8l der als "Stellvertreter" in der neutralisierten Form erscheine. Können wir zum Abschluß dieses Abschnitts zum Problem der Neutralisierung im Bereich der Bedeutung, oder nach der Terminologie von Martinet zur "premiere articulation". Martinet et al. schreiben analog zur Definition auf der zweiten Artikulationsstufe: "Nous pouvons a priori definir la neutralisation au niveau de la premiere articulation ccmne la suspension de la fonction significative d'une opposition, dans un contexte defini en termes d1unites de sens."82 Dubois demonstriert die Neutralisierung am politischen und sozialen Vokabular Frankreichs von 1869 bis 1872. Er geht von dem Beispiel "l'emancipation des travailleurs" aus, wie es im Jahr 1870 aufgefaßt wurde, und läßt den zweiten Teil des Syntagmas als Variable mit anderen Begriffen kommutieren, ohne daß der Inhalt der Gesamtheit verändert würde: emancipation

des travailleurs des masses des ouvriers du proletariat de la classe ouvriere

Er folgert dann wörtlich: "Or si IOn peut considerer avec Ivanov "la signification de chaque unite lexicale comme un ensemble consistant en un certain norbre de semes", on voit que oss elements formateurs (travailleurs, nasses, proletariat, etc.) perdent une partie de leurs traits distinctifs dans des expressions comme "emancipation des travailleurs" (du proletariat, des masses, etc.). Les elements jouant le role de variable sont connutables et oc sont done neutralises, [...]." Damit unterscheidet sich Dubois in seiner Analyse der semantischen Neutralisation von Martinet et al./ die eine Aufflfi gliederung nach "traits pertinents semantiques" nicht für möglich halten. Überhaupt äußern sich Martinet et al. skeptisch, was die Übernahme der Neutralisation im Sinne der Isomorphie auf die "premiere articulation" anbetrifft^87 81 Auf das Problem eines Oberflächensatzes als syntaktische Neutralisation zweier Tiefenstruktursätze kann hier nicht eingegangen werden. Es wird auf die einschlägige Literatur zur Transformationsgrammatik verwiesen. 82 La linguistique, 259/26O. 83 J. Dubois, "Les notions d'unite semantique", 63. 84 "semes" = "semantische unterscheidende Merkmale". 85 J. Dubois, "Les notions", 63/64; vgl. V. Ivanov, o. T . , TIL 2, 45-48. 86 La linguistique, 263. 87 Ibid., 264.

107

Ähnliche Bedenken nennt z. B. auch Bolinger: "On the side of meaningful units I think it is particularly important not to lift terms and criteria fron 88 phonology and apply them without careful criticism to the higher layer." Die Schwierigkeit liegt darin, daß in der Grammatik wie in der Semantik im Gegensatz zur Phonologie neben der Ausdrucksseite eine Inhaltsseite besteht. Von daher sind weitere Schwierigkeiten zu verstehen, wie z. B. die Übertragung des Begriffs "Archiphonem" als "Archimorphem" bzw. "Archisemem" oder 89 "Archisemantem" auf die anderen linguistischen Ebenen. Makaev z. B. schreibt: "Une conclusion s'impose: la neutralisation des correlations dans la gramtnaire et le lexique ne peut avoir lieu que 1) dans le plan de 1"expression, ou 2) dans celui du contenu. La neutralisation simultanee de I1expression et du contenu est exclue par suite de caractere bilateral des morphemes et des semantatcs." 9O Bolinger diskutiert vor allem den lateinischen Infinitivsatz, in dem der Akkusativ als Subjekt auftritt; er fragt sich, ob dieser Fall als Neutralisierung des Gegensatzes Nominativ (Subjekt)/ Akkusativ (Objekt) angesehen werden könne, wie es z. B. Godel macht (Systores de cas", CFS 13 (1965), 36). Buyssens spricht in diesem Fall von "neutralisation partielle". 91 Die Opposition der Variablen wird nach Dubois in der semantischen Gesamtheit des Syntagmas aufgehoben, dadurch wird ähnlich wie im Bereich der Phonologie und Morphologie durch die Neutralisierung in bestininten Kontexten der Umfang von Oppositionen beschränkt. 92 Nicht selten bedeutet Neutralisierung von signifi93 kativen Oppositionen die Bildung von Synonymen. Im lexikalischen Paradigma sind z. B. die Oppositionen Vater/Mutter, Mann/Frau in Eltevn, die Oppositionen Sohn/Tochter, Knabe/Mädchen in Kinder aufgehoben.

Für die Semiotik nimmt Barthes einige Bereiche an, wo die Neutralisierung vollkommen ausgeschlossen bleibt, z. B. bei den Verkehrszeichen. Der Grund liegt in der schnellen und unmißverständlichen Orientierungsnotwendigkeit. 94 Andere Bereiche wie z. B. "la Mode", "avec ses tendances polysemiques (et meme pansemiques) connait de nombreuses neutralisations". Auch für Barthes stellt die Neutralisierung ein Problem des Einflusses des Syntagmas auf das Paradigma 88 89 90 91

D. L. Bolinger, "La notion de neutralisation", TIL 2, 31. Dazu: G. Correard, "Rapport", TIL 2, 163-182. E. Makaev, o. T . , TIL 2, 69; vgl. auch: H. Marchand, o. T . , TIL 2, 74. E. Buyssens, "Neutralisation - Syncretisme - liberte", TIL 2, 34.

92 J. Dubois, "Les notions", 64. 93 La linguistique, 261. 94 R. Barthes, "Elements", 128. 95 Ibid.

1O8

dar; wo der entsprechende Kontext fehlt bzw. gering ist, ist die Neutralisierung ausgeschlossen bzw. selten. Fassen wir kurz zusannen, so stellen wir anhand der vorgestellten Beiträge fest, daß die Opposition, eingeschlossen die binäre Opposition, durch die Neutralisierung unter bestinmten Bedingungen aufgehoben wird, grundsätzlich aber in seiner Bedeutung und Funktionsfähigkeit weiterbesteht. Den Begriff der Neutralisation braucht man nur, wenn man mit dem Begriff der Opposition in die syntagmatische (textuelle) Ebene geht. Wer Opposition sagt, muß Neutralisierung sagen, d. h. wer Oppositionen untersucht, muß mit der Möglichkeit ihrer Neutralisierung rechnen.

Qfi

Insofern gilt: Opposition und Neu-

tralisation schließen sich nicht aus, sie bedingen sich gegenseitig. Die Opposition ist die Regel, die Neutralisation bleibt die Ausnahme. Levi-Strauss betont immer wieder den Gegensatz von Natur und Kultur an der Opposition "primitive/hochentwickelte" Gesellschaften. Im Kontext des Inzestverbots ist diese Opposition neutralisiert, was nicht heißt, daß der Gegensatz in anderen Kontexten keine Gültigkeit hat. Ein Ausschließlichkeitsanspruch - so gefordert im Binarismus Jakobsons erscheint durch die Möglichkeit der Neutralisierbarkeit von Oppositionen illusionär; das trifft für alle sprachlichen Ebenen zu. So fragt sich Todorov im Hinblick auf die Semantiktheorie von Katz/Fodor: "Nous ignorons aussi s'il n'existe pas deux types differents d1exclusion - disons, l'antinomie et la neutralite; ou, en d'autres termes, si les oppositions sont toujours 97 binaires", was heißt: wenn es Neutralisierung gibt, dann sind die Oppositionen nicht immer binär.

96 G. Waldo, "The comparative futility of neutralisation", TIL 2, 161. 97 T. Todorov, "Recherches semantiques", Langages 1 (1966), 35/36.

DIE LINGUISTISCHEN EBENEN

Wir haben im Zusammenhang mit den Begriffen "Isonorphie", "merkmalhaltig/merkmallos", "Neutralisation" usw. immer wieder von linguistischen Ebenen gesprochen. Es erscheint uns angebracht, besonders im Hinblick auf die Fortgang unserer Untersuchung, einige Anmerkungen zu den Beziehungen zu machen, die zwischen den verschiedenen linguistischen Ebenen bestehen, mit denen wir bisher schon - gewissermaßen inplizit - argumentiert haben. Im allgemeinen unterscheiden wir drei große Bereiche der Linguistik: Phonologie, Grammatik und Semantik, wobei die Grammatik oft in Morphologie und Syntax unterteilt wird, die Semantik das bisher am wenigsten entwickelte 2 Gebiet zu sein scheint. Die Trennung von Grammatik und Semantik dokumentiert folgender Satz von Todorov: "Une description conplete doit done contenir une partie grammaticale et une partie semantique." über diese Grobeinteilung hinaus ist immer wieder von Linguisten versucht worden, "Unterebenen" herauszuarbeiten, mit anderen Worten, differenzierter zu gliedern. So schlägt Sgall z. B. folgende Gliederung der linguistischen Ebenen vor: semantische, syntaktische, morphologische, morphophonologische, phonetische, wobei er jeder Ebene entsprechend eine Einheit zuordnet: Semantem, 4 va Tagmen, Morphem, Morphonem, Laut (Merkmal). Eine andere Gliederung nimmt etwa Filipec vor: Text, Syntax, Lexikologie, Wortbildung, Morphologie, Phonologie."5 Wir sehen, wie verschieden schon zwei Klassifizierungsversuche sein können. Sie sind abhängig von der wissenschaftstheoretischen Position, auf die sich der Linguist festgelegt hat. Von daher wäre es sinnlos, von richtig und falsch zu sprechen. Wir wollen deshalb im weiteren darstellen, was bei der Einteilung in Ebenen üblich geworden ist, welche Prinzipien sich als weniger angemessen erwiesen haben. 1 2

3 4 5

E. Pulgram, "Sciences, humanities, and the place of linguistics", Linguistics 53 ( 1 9 6 9 ) , 84. Vgl. z. B. E. Benveniste, Problemes, Kap. Id: "Les nivaux de l'analyse linguistique"; G. Müller, "Sprachunterricht und Sprachwissenschaft", FU 3 ( 1 9 6 7 ) , 8. T. Todorov, "Recherches semantiques", 27. P. Sgall, "Zur Frage der Ebenen im Sprachsystem", TLP l ( 1 9 6 4 ) , 1O2. J. Filipec, "Zur Theorie und Methode", 159.

110

Wir können davon ausgehen, daß die Phonologie als wenig umstrittene, abgeschlossene Einheit akzeptiert ist/ wohingegen der Bereich der Morphophonologie nur schwer abgrenzbar ist und im allgemeinen als selbständige Ebene nur in beschränktem Umfang anerkannt wird. Anders sieht es bei der Einteilung der Grammatik in Morphologie und Syntax aus. Noch Gleason behauptet, daß es bequem sei, Morphologie und Syntax zu trennen. Er gibt aber auch zu: "La distinction entre la morphologie et la syntaxe n'est pas toujours tres D nette." Auch Gougenheim hält die Trennung noch aufrecht, obwohl das "wie" o der Trennung nicht klar zum Ausdruck konmt. So wie sie Gougenheim beschreibt, ist sie nicht einleuchtend: die Rolle der grammatischen Elemente wird in einem umständlichen Verfahren erst auf der morphologischen und dann auf der syntaktischen Ebene beschrieben. Arrive unterstreicht diese Bedenken, indem er das Verfahren Gougenheims als "equivoque" bezeichnet. W. Schmidt meint, daß die meisten Strukturalistischen Schulen die Unterscheidung zwischen Morphologie und Syntax aufgegeben haben, was er auf die führende Position der amerikanischen Linguistik zurückführt, die bei der Betrachtung des amerikanischen Englisch kaum auf morphologische Erscheinungen stieße. Ein Germanist und Slavist jedoch müsse bei der Analyse "seiner" Sprache die Trennung beibehalten. Schmidt gibt aber zu, "daß diese beiden Bereiche der Grammatik auf das engste miteinander verknüpft sind". Er sieht in dem Problem eine Frage der Hierarchisierung, die Morphologie beziehe sich auf die Wortebene, die Syntax auf die Satzebene, 12 eine Teilung, die aus der Perspektive des Textes äußerst fragwürdig erscheint. Wenn Parain-Vial schreibt, "eile (la linguistique) comprend plusieurs disciplines: la phonetique, la phonologie, la semantique (etude du vocabulaire), l'etude du Systeme grammatical (morphologie et syntaxe)", kommt auch äußerlich die Integrationstendenz der beiden Ebenen zum Ausdruck, wobei ihre sonstige Klassifizierung hier sekundär ist. In gleicher Richtung 6 Vgl. dazu: A. Martinet, "La morphonologie", La Linguistique l (1965), 15-3O oder ders., La linguistique synchronique, 95; N. S. Trubetzkoy, Principes de phonologie, 339; A. Neubert, "Analogien", 114, wo die Ebene der "Morphophonemik" erhalten bleibt. Er gliedert wie folgt: Phonologie - Morphophonemik - Morphologie - Syntax - Semantik. 7 H.-A. Gleason, Introduction a la linguistique, 1O5. 8 Ibid. 9 G. Gougenheim, Systeme grammatical de la langue francaise (Paris, 1938/39), 9. Zit. nach M. Arrive, "De Brunot", 45. 10 M. Arrive, "De Brunot", 45. 11 W. Schmidt, "Zur Theorie der funktionalen Grammatik", ZPSK 22 (1969), 144/145 12 Vgl. Bloch/Träger, Outline of linguistic analysis, 53. 13 J. Parain-Vial, Analyses, 52.

Ill

gehen auch die Bestrebungen von Bühler et al. - sie gliedern zwar in Phonologie, Morphemik, Syntax, Semantik - meinen aber gleichzeitig: "Die Grenze zwischen Morphemik und Syntax ist fließend." 14 Da morphologische Formen nur selten isoliert auftreten, sei es nun im Syntagma, Satz oder Text, ist eine Trennung nach Morphologie bzw. Morphemik und Syntax wie in der traditionellen Grammatik nicht sehr sinnvoll. Der Begriff "Morphosyntax" kennzeichnet deutlich die angestrebte Verbindung zwischen beiden Bereichen. Eine weit kompliziertere Frage scheint mir zu sein, wie die Bereiche Grammatik und Semantik in Beziehung gesetzt werden sollen. "Die Verbindung von grammatischer und semantischer Beschreibung ist eine bisher ungelöste Frage, deren Lösung natürlich in verschiedenen Richtungen gesucht werden kann." Neubert sieht in der Syntax den "missing link" zwischen Morphologie und Semantik, die Syntax bilde die strukturelle Grundlage für die sog. "Kollokation". Sgall hält den Versuch von Katz/Fodor, der Semantik einen unabhängigen Platz einzuräumen, für fragwürdig. Er meint, daß die scharfe Trennung von Syntax und Semantik u. a. auf die Einteilungsprinzipien der formalen Logik zurückzuführen sei. .Ähnlich äußert sich Nyiri, wenn er von der Theorie Chomskys spricht, 18 er führt diese Teilung auf Vorstellungen zurück "inherited from philosophical and linguistic ancestors". Er geht sogar soweit und behauptet - wohl etwas zu pauschal - daß die heutigen Linguisten nicht mehr dieser Konzeption folgen. "What we now hear on every side is that the boundary between syntax and semantics is not a sharp one; that the interplay of syntactic and semantic features is a general phenomenon in language", 19 eine Entwicklung, die heute allerdings auch in der Generativen Theorie verfolgt wird (vgl. z. B. den Begriff "integrated theory"). "Entscheidend für die gegenwärtige Situation in der Sprachwissenschaft scheint zu sein, daß die Semantik wieder als integrierter Bestandteil der Beschreibung einer Sprache angesehen wird, nachdem sie lange Zeit und besonders vom taxoncnaschen Struktura2O lismus weitgehend oder ganz ausgeklammert worden war." Carstensen fäTirt dann 14 15 16 17 18

F. Bühler et a l . , Linguistik I, 94. P. Sgall·, "Zur Frage der Ebenen", 95. A. Neubert, "Analogien", 114, Anm. 11. P. Sgall·, "Zur Frage der Ebenen, 95. J. J. Katz/P. M. Postal, An integrated theory of linguistic descriptions (Cambridge, Mass., 1964), 1: " [ . . . ] , a iinguistic description of a natural· language consists of three components: syntactic, semantic, and phonological·.' 19 J. C. Nyiri, "No pl·ace for semantics", FL 7 ( 1 9 7 1 ) , 56. 20 B. Carstensen, "Grammatik und Wörterbuch: Kriterien zur Abgrenzung syntaktischer und semantischer Informationen", NM l (1969), 9.

112

weiter fort: "Darüber hinaus bemüht man sich heute immer intensiver um eine Klärung des Problems, ob es eine Interdependenz zwischen Syntax und Semantik gibt [ . . . ] . " Allerdings muß man Bedenken anmelden, wenn Carstensen meint, daß nur die TG davon überzeugt sei, "daß die semantische Komponente in der Syntax von Bedeutung ist". 2? So weist z. B. S. J. Schmidt 23 auf die These Hartmanns hin, daß eine gegenseitige Bedingung von Syntax und Semantik bestehe. Wir können zusammenfassend mit Soll sagen, daß "die Grenzen zwischen Morphologie und Syntax, Syntax und Semantik immer mehr als relativ erkannt ^c jfyj werden". Ähnlich äußern sich z. B. Buyssens und Seiffert. Wir wollen die Vorstellung einiger traditioneller Einteilungsprinzipien bzw. Ihrer Verbesserungsvorschlage an dieser Stelle nicht weiter fortführen; es ließen sich sicherlich für jede Klassifizierungsmethode ganze Reihen von Vor- und Nachteilen aufzählen. Togeby meint, daß es wohl praktische Gründe sind, die zu den verschiedenen Einteilungen innerhalb der Linguistik geführt haben; in Wirklichkeit seien 28 alle Bereiche eng miteinander verbunden. Dieser Ansicht kann nicht vorbehaltlos zugestimmt werden. Am Beispiel der Textlinguistik (Analyseeinheit: Text) zeigt sich deutlich, daß der Einteilung in Einheiten eine theoretische Fundierung vorausgeht. Wir werden hypothetisch bei einer Großeinteilung in Phonologie, Grammatik und Semantik bleiben. Bezogen auf das Binarismusproblem, das in dieser Arbeit dargestellt werden soll, halte ich diese Ebeneneinteilung für ausreichend. Ergänzend zu diesem Gliederungsprinzip soll der Binarismus aus der Perspektive des Paradigmas und Syntagmas beobachtet werden. Wenn man das Paradigma als etwas Statisches, das Syntagma dynamisch auffaßt, läßt sich z. B. sehr schnell eine Verbindung zur statischen Syntax (= Morphologie) und dynamischen Syntax (= Syntax) herstellen, die gleiche Relation wäre für die 29 Wort- bzw. SatzAextsemantik gültig. Auf eine Diskussion der bisher wenig 21 Ibid. 22 Ibid., 15. 23 S. J. Schmidt, Bedeutung und Begriff. Zur Fundierung einer sprachphilosophischen Semantik. (Braunschweig 1969). 24 P. Hartmann, Syntax und Bedeutung, T. I: Die syntaktische Bedeutungsmatrix (Assen, 1964), 12. 25 L. Soll, "Sprachstruktur und Unübersetzbarkeit", NM 3 ( 1 9 6 8 ) , 165. 26 E. Buyssens, Linguistique historigue, 125. 27 H. Seiffert, Information über die Information, 91. 28 K. Togeby, "Grammaire, lexicologie et semantique", Cahiers de Lexicologie 6 ( 1 9 6 5 ) , 3. 29 Vgl. auch die Einteilungsversuche von P. Imbs, "Au seuil de la lexicographie", Cahiers de Lexicologie 2 ( I 9 6 0 ) , bes. 2, 11, 12, wo er auf einen gewissen Parallelismus von bestimmten Kategorien zwischen den einzelnen Ebenen hinweist, jedoch hinzufügt, daß Überschneidungen nicht auszuschließen sind.

113

entwickelten pragmatischen Dimension, ihre deutliche Scheidung von der syntaktischen und semantischen, wollen wir in diesem Zusammenhang verzichten, ebenso gehen wir nicht auf die "Hierarchisierungsrichtung" der einzelnen Ebenen . 30 ein.

Für den weiteren Ablauf der Untersuchung sei nur noch folgender Hinweis gegeben: Eine exhaustive Analyse auf den verschiedenen Ebenen erscheint unmöglich; Hauptaufgabe bleibt, entsprechend dem phonetisch/phonologischen Teil aus dem Bereich der Grammatik bzw. Morphologie/Syntax und Semantik Bereiche auszuwählen, wo mit binaristischen Methoden gearbeitet wird. Überschneidungen im Hinblick auf eine "exakte" Einteilung in sprachliche Ebenen lassen sich aus den genannten Gründen nicht verhindern, da sich z. B. eine asemantische Syntax bzw. eine asyntaktische Semantik auf Dauer kaum aufrechterhalten lassen.

3O Vgl. dazu u. a.: P. Hartmann, "Texte als linguistisches Objekt", In: Beiträge zur Textlinguistik, hg. W . - D . Stempel (München, 1971), 18.

BINARISMUS UND GRAMMATIK

8.0

Zusammenfassung

Als Einführung in das Kapitel "Binarisitius und Grantnatik" geben wir die wesentlichen Gedanken des Aufsatzes von Mikus "Le syntagme est-il binaire?" wieder, der von Frei einer ausführlichen kritischen Betrachtung unterzogen wird. Es wird an verschiedenen Beispielen, besonders am Problem der "coordination" gezeigt, daß eine binäre Analyse des Satzes (z. B. Subjekt-Prädikat, Substantiv-Verb, Bestirrmtes-Bestimmendes usw.) und anderer Formen von Syntagmen nicht inmer eine optimale Lösung darstellt. Die Abhängigkeit des Binarismus von bestimmten Erkenntnissen aus der Logik und anderen außerlinguistischen Wissenschaftsbereichen wird auch auf der grammatischen Ebene deutlich. Unter den bekannten Syntaxtheorien bevorzugt besonders die sog. "IC-Analyse" ein vorwiegend binäres Verfahren, das wir kritisch vorführen. Demgegenüber wählt die Dependenz-Gramnatik eine vom Verb ausgehende einpolige Analysemethode. Daraus wird ersichtlich, daß das binäre Verfahren trotz allgemeiner Verbreitung und Beliebtheit nicht als universell gültiges, ausschließliches morpho-syntaktisches Analyseprinzip akzeptiert wird. Im weiteren wird erläutert, daß die Strukturbeschreibungen der Generativen Transformationsgrammatik trotz zahlreicher Unterschiede dem IC-Modell gerade in der binären Subkategorisierungsmethode sehr verwandt bleibt. Die binäre Merkmaltheorie wird in Form des Oppositionspaares "merkmalhaltig/merkmallos" auch auf die Grammatik übertragen. Das zeigen u. a. die Arbeiten Jakobsons zum Verbal- und Kasussystem, die wir unter dem Stichwort "grammatische Bedeutungen" darstellen, und die zahlreichen Untersuchungen zu verbalen und nominalen grammatischen Kategorien. Aus diesen Bereichen werden u. a. exemplarisch vorgestellt: Konjugation, Aspekt, Zeit, Tempus, Modus, Deklination (Kasus), Nomen, Pronomen, Person, Numerus, Genus, Assertion usw. Darin eingeschlossen sind detailliertere Darstellungen der Textpartitur Weinrichs und der Wortartentheorie W. P. Schmids. Es zeigt sich, daß die vorgestellten binären Verfahren durchgehend aus den bekannten Gründen der Einfachheit, Ökonomie, Eleganz usw. gewählt werden. Immer wieder wird

115

die kritische Frage gestellt, ob in der Gramnatikanalyse nach dem Prinzip "entweder/oder" verfahren, oder ob nicht besser nach dem Kriterium des "mehr/ oder weniger" vorgegangen werden sollte. Wir hatten im Bereich der Phonologie beobachten können, daß es so scheint, als ob der Binarismus vor allem auf der paradigmatischen Ebene, weniger oder kaum auf der syntagmatischen Ebene Anwendung gefunden hat. Im Bereich der Grammatik haben wir es aber hauptsächlich mit Syntagmen im weitesten Sinne des Wortes zu tun, mit der "Relation der Sprachzeichen zueinander", was nach W. Schmid Gegenstand der Syntax ist. Vfenn Horälek von der Tradition des Binarismus spricht, denkt er u. a. an die Satzanalyse nach Satzgliedern: "Die dichotomische Struktur des Satzbaues wurde durch die Theorie der sog. 2 Satzgliedpaare enthüllt." Ob die lange als oberste Grenze angesehene Einheit des Satzes etwa aus der Perspektive der Textlinguistik als Untersuchungseinheit, ob die Analyse nach Satzgliedern sinnvoll ist, interessiert uns an dieser Stelle nicht so sehr. Wir wollen Versuche darstellen, in denen angestrebt wird, die Einheit Satz bzw. Syntagma binär zu gliedern. 8.1

Ist das Syntagma binär?

Ausgangspunkt der Darstellung soll folgender Aufsatz von Mikus sein: "Le syntagme est-il binaire?" Mikus kritisiert die Definition des Syntagmas bei Marouzeau," la reunion ou fusion de deux ou plusieurs signes combines en un complexe". Er meint, daß diese Definition einen schweren Fehler enthalte, allgemein werde akzeptiert: "[...] le syntagme est binaire, [...]." Es spiele keine Rolle, ob das Syntagma ein oder mehrere Glieder habe, wichtig sei, daß es immer binär bleibe. Mit anderen Worten, ein geschicktes methodisches Verfahren bringt es fertig, das Syntagma jederzeit zweigliedrig zu analysieren. Im weiteren Verlauf seiner Argumentation stützt sich Mikus auf Bally. Ballys Grundthese zur Struktur des Syntagmas ist in folgendem Satz zusammengefaßt: "Tout syntagme est done le produit d'une relation d'inter1 W. P. Schmid, "Skizze einer allgemeinen Theorie der Wortarten", 7. 2 K. Horalek, "Zum Begriff der Isomorphie", 89. 3

Vgl. H. Weinrich, "Die Textpartitur", 217; Weinrich verweist auf die Schriften von H. Glinz, Geschichte und Kritik der Lehre von den Satzgliedern in der deutschen Grammatik (Bern, 1947) und V. BrszSndal, Les parties du discours. Partes orationis. Etudes sur les categories linguistigues (Kopenhagen, 1948).

4

F. Mikus, "Le syntagme est-il binaire", Word 3 (1947), 32-38.

5 6 7

J. Marouzeau, Lexique de la terminologie linguistique (Paris, 1942). F. Mikus, "Le syntagme", 32. Ch. Bally, Linguistique generale (Bern, 3 195O), 1O2.

116

dependence granmaticale etablie entre deux signes lexicaux appartenant a deux categories complementaires l'une de l'autre. C'est dans ce sens qu'on peut dire en abrege: tout syntagme est binaire." Bally ist also ein Anhänger des Binarismus, was die Beziehungen der Elemente innerhalb eines Syntagmas anbetrifft, wobei er den Satz zum Syntagma rechnet, was Ivic so kommentiert: "[...]; it is the inclusion of the sentence among syntagms that has given rise 9 to much discussion among scholars." Neben Bally nennt Mikus Karcevski, einen Schüler von Saussure, der in gleicher Weise wie Bally, d. h. binär, das Verhältnis von "determinant" (T 1 ) und "determine" (T) analysiere. Er führt u. a. folgende Beispiele an: "le vent (T) souffle (T 1 )" und "maison (T) blanche (T1)"10 In seiner Antwort auf den Artikel von Mikus versucht Frei dessen Thesen zu widerlegen. Gegenüber der Kritik Mikus1 an Marouzeaus Definition, die sich im übrigen auf Saussure bezieht, meint Frei im Hinblick auf das, was Mikus über Bally sagt: "D'autre part, il est permis de se demander jusqu'ä quel point la theorie que pretend que "tout syntagme est binaire1 est couramment admise et dans quelle mesure eile est 'incontestable"." 12 Frei weist auf einen posthumen Artikel Trubetzkoys hin, in dem dieser betone, daß er weit davon entfernt sei, die Beziehung von "determine" und "determinant" als den einzig möglichen syntagmatischen Bezug anzusehen. Im Unterschied zu Bally, für den ein Parallelismus zwischen "sujet-determine" und "predicat-determinant" bestehe, trenne er zwischen "syntagmes determinatifs" (gebildet aus "determine und determinant" z. B. l'homme bestial) und "syntagmes predicatifs" (gebildet aus einem Subjekt und einem Prädikat z. B. l'homme est une bete) , wobei er noch eine dritte Kategorie hinzufüge, "les syntagmes sociatifs", die Fälle bezeichnen, wo z. B. zwei Subjekte einem Prädikat oder z. B. zwei Prädikate einem Subjekt zugeordnet sind. Frei schreibt: Q

Trubetzkoy ne s'explique pas sur la binarite ou la non-binarite, mais on remarquera que si, pour les syntagmes sociatifs comme pour les autres, il ne parle que de deux termes, son dernier exemple, [gemeint ist: 'l'homme, la bete ... l'oiseau], considere sous la forme complete (trois termes), ne peut etre interprete d ' u n e maniere binaire. 14

Dieser Bemerkung kann nicht ohne Vorbehalte zugestimmt werden, kann doch das 8 9 10 11 12 13 14

Ibid., 102/103 M. Ivic, Trends in linguistics, 131; vgl. F. de Saussure, Cours, 172. S. Karcevski, Systeme du verie russe (Genf, 1927), 14 Anm. F. de Saussure, Cours, 17O. H. Frei, "Note sur l'analyse des syntagmes", Word 4 ( 1 9 4 8 ) , 65. N. S. Trubetzkoy, Melanges Bally (Genf, 1939), 75-82. H. Frei, "Note", 66.

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Syntagma 1

' + " +

1

" sowohl als

" + " :

1

' ' als auch in der Form

1

: '' : ' ' analysiert werden. Frei weist neben Trübetzkoy auf Funke, Schüler von Marty, der auch der Theorie vom binären Syntagma bei Bally widersprochen habe. Es sei also nicht Marouzeau, der mit seiner Definition isoliert dastehe, eher Bally mit seiner Binärinterpretation, wenn das auch Mikus nicht wahrhaben wolle. Frei fährt mit eigenen Überlegungen fort. Er sagt, daß alle Zeichenkombinationen, die man als Beispiele für eine nichtbinäre Analyse anführen könne, dem Bereich der 'coordination' zuzurechnen sind. Er nennt u. a. als Beispiel frz. hommes, fernmes, enfants, tout le monde y a passe, 1e dvapeau vouge-blano-bleu, la declaration fvanao-anglo-ameifiaaine. Wenn man also für einen strengen Binarismus im Syntagma sei, müsse man die Kategorie "coordination" bei seiner Analyse ausschalten. Frei glaubt behaupten zu können, daß Saussure nach seiner Definition des Syntagmas (vgl. Definition von Marouzeau) für die Zeichenfolge rouge-blano-bleu nicht auf ein binäres Syntagma geschlossen hätte. Er weist Bally in diesem Zusammenhang einen Widerspruch nach, der nach der Behauptung, daß "le compose est un syntagme", daß zu der Klasse der "composes" die Koordination zu zählen sei (wie z. B. rouge-blancbleu)iein paar Zeilen später sage, daß das Syntagma binär sei (s. o.) und anschließend hinzufügt, "le rapport syntagmatique exclut done la coordination" (Bally, S. 103). Frei hält die Definition des Syntagmas durch Saussure für angemessen, er will zwischen "syntagmes de subordination" unterscheiden, die die "syntagmes determinatifs" und "syntagmes predicatifs" von Trubetzkoy meinen, die nur binär sein können, und den "syntagmes de coordination", die den "syntagmes sociatifs" von Trubetzkoy entsprechen, die sowohl binär als auch nicht-binär sein können. Er will das Axiom Ballys in folgender Weise ersetzt wissen: "Tout syntagme de subordination est binaire, avec, coitite corrolaire: tout syntagme non-binaire appartient au rapport de coordination", wobei er hinzufügt, daß dieses Axiom auf den Bereich der Semiotik ausgedehnt werden könne, indem er auf Zeichensysteme wie Münzen und Flaggen weist. 15 O. Funke, Wege und Ziele (Bern, 1 9 4 5 ) , 138 Anm. 16 Pottier bezieht die Zuordnung von Frei auf seinen Begriff der "incidence": "L"incidence entrainerait la subordination, la non-incidence la coordination." (Systematique, 1 1 6 ) . Er verweist auf ähnliche Überlegungen, die Nida zu den "coordinate constructions" angestellt hat (The analysis of grammatical constituents, § 5 , 2 ) . Pottier meint jedoch, daß formale Kriterien fehlen, um zwischen den Begriffen "subordination" und "coordination" eine scharfe Trennungslinie zu ziehen. 17 H. Frei, "Note", 67.

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Pottier z. B. teilt die "coordination" in (a) coordination ä deux tentes und (b) coordination ä tin terme: les norbrants, wobei er unter (a) ausführt, daß die Koordination durch die Dimension definiert ist und: "Les relations dimensionelles entre deux termes A et B ne peuvent etre que: l'egalite (=), la non-egalite (?0." Diese Einteilung bestätigt zunächst das Axion Freis, die coordination könne binär und nicht-binär interpretiert werden; bei der Aufstellung von Merkmalen zur Beschreibung von (a) erscheint Pottier eine binäre Skala angebracht, zumal er die "non-egalite" in zwei Varianten, in "mehr" und "weniger" aufgliedert. Wichtig scheint uns an dieser Stelle der Hinweis zu sein - wir haben allerdings schon gesagt, daß der Begriff des Syntagmas auch auf die syntaktische Einheit "Satz" angewandt wird - daß die grundlegende Dichotomie im Bereich des mehrgliedrigen Satzes auf die Begriffe "Koordination" und "Subordination" gegründet ist. 18 Koordination und Subordination stellen also grammatische/ syntaktische Beziehungen dar. Kannen wir zur Argumentation Mikus1 zurück. Auf Wundt führt er die "architecture binaire du raisonnement et du langage" (S. 32) zurück. Wundt unterscheidet zwischen assoziativem und apperzeptivem Gedankenverlauf, wobei letzterer in Formen wie z. B.

usw.

abgewickelt wird. "Dieses Prinzip der binären Verbindung hat in den Kategorien der grammatischen Syntax seinen unverkennbaren Ausdruck gefunden, denn alle diese Kategorien führen zurück auf je 'zwei1 Vorstellungen, die zueinander in Bezeihung gesetzt sind. So werden zunächst die beiden Hauptvorstellungen, die der ersten Gliederung des Gedankens entsprechen, als Subjekt und Prädikat unterschieden."1^ Wundt fährt dann mit weiteren Aufteilungen nach Satzgliedern in binärer Form fort: 18 J. Bauer, "Types de propositions subordonnees et leur classification dans les langues slaves", In: TLP 3 (1968), 17; auf die einzelnen Haupt- und Nebensatzunterscheidungen - die Einteilung in Haupt- und Nebensatz ist ja auch schon ein Binarismus - wollen wir nicht eingehen, vgl. z. B. auch die Unterteilung in restriktiven und nicht-restriktiven Relativsatz bei W. Raible, Satz und Text. Untersuchungen zu vier romanischen Sprachen (=Beihefte 2ur ZfRPh, Bd. 132) (Tübingen, 1 9 7 2 ) , 121. 19 W. Wundt, Logik, Bd. I, Allgemeine Logik und Erkenntnistheorie (Stuttgart, 5 1924), 58.

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Nomen

Attribut

Kopula

eigentliches Prädikat

Nomen oder:

verbales Prädikat Verbum

oder:

Attribut

Objekt

verbales Prädikat eigentliches Prädikat

ergänzendes Prädikat

Die Zweiteilung bleibt nach Wundt im apperzeptiven Bereich überall bestehen, selbst da, wo einzelne Elemente des Syntagmas voneinander entfernt stehen. Sehen wir einmal davon ab, daß hier die Analyse nach Satzgliedern und Wortarten vermischt wird - übrigens ein Kennzeichen der traditionellen grammatischen Analyse - die Zweiteilung des "Satzsyntagmas" in Subjekt und Prädikat wird hier als etwas universell Gegebenes akzeptiert, ein Vorwurf, den z. B. auch Martinet gegenüber Sapir äußert." Der gleiche Vorwurf müßte an Wickler gerichtet werden, der im Hinblick auf die Komnunikation unter Tieren z. B. sagt: "Freilich, eine Sprache mit Sätzen aus Subjekt und Prädikat hat man bei Tieren nicht gefunden." 2l Er setzt also das System Subjekt-Prädikat in der menschlichen Sprache als gegeben voraus, wo es doch wohl nur um eine rein methodische Entscheidung geht. 22 Wenn Wundt von "apperzeptiven oder logischen Verbindungen" spricht, wenn er sagt, "jede analytische Beziehung im Satz ist also ein Akt, der zwei Glieder, niemals mehr umschließt, und dieser Grundeigenschaft der beziehenden Funktion entspricht jene oben bemerkte duale Gegenüberstellung der Satzglieder, Subjekt oder Objekt und Attribut, Verbum und Adverbiale", so wird einmal die Vermischung von Analyse nach Satz20 A. Martinet, La linguistique synchronigue, 206/2O7 21 W. Wickler, "Verständigungssysteme bei Tieren", In: Kommunikation (Forschung und Information), Bd. III (Berlin, 1969), 19. 22 Vgl. zum "kognitiven Elementarvorgang des Prädizierens" E. Lang, "Über einige Schwierigkeiten beim Postulieren einer 'Textgrammatik'" (preliminary draft) (Berlin, Okt. 1971), 3. 23 W. Wundt, Völkerpsychologie, Bd. II, Die Sprache, T. II (Leipzig, 3 1912), 325.

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gliedern und Wortarten erneut bestätigt, andererseits gewinnt die Behauptung von Weinrich an Beweiskraft: "Die Analyse nach Wortarten gilt gelegentlich als die eigentlich grammatische und die Analyse nach Satzgliedern als die eigentlich logische Satzanalyse." 24 Blicken wir einen Augenblick zurück auf die Phonologie, so fanden wir auch dort, daß der Binarismus seine Begründung u. a. auf Erkenntnisse der Logik stützt. Wenn Mikus einige französische Beispiele anführt, um die Feststellungen Wundts zu erläutern, wie: Pierre bat Paul Pierre

bat-Paul

oder Cette femme gagne 9OOO francs par mois l . Cette-femme gagne 9OOO-francs

par'-mois

usw. ,

so mag diese Beispielmenge hier als nochmalige Verdeutlichung einer binären Syntagmenanalyse angesehen werden. Frei wirft nun mit Recht Mikus vor, daß er bei seiner Argumentation übersehen habe, daß Wundt neben den Gesetzen des apperzeptiven Gedankenverlaufs noch die des assoziativen Gedankenverlaufs untersucht, die in enger Beziehung mit der "Koordination" ständen: Trotzdem bleibt die apperzeptive eine von der assoziativen Verbindung wesentlich verschiedene Funktion. Vor allem trennt beide 'ein 1 fundamentales Merkmal. Die sukzessive Assoziation verläuft ohne bestimmte Begrenzung: kein festes Gesetz regelt die Zahl der Glieder einer Assoziationsreihe. Die sukzessive Apperzeption dagegen geschieht in der Form einer 'Zweiteilung 1 ; sie folgt dem Gesetz der binären Gliederung der Gedanken.^

Daneben bestreitet Frei den Prioritätsanspruch Wundts auf binäre Analyse, den Mikus hervorzuheben versucht. Frei erwähnt eine Arbeit von J. Schmidt aus n/· 0*7 Oö dem Jahre 1872, die Dittrich zitiert. Außerdem nennt er Breal, der " [ . . . ] a affirme la binarite de tout compose de coordination". 29 Nach der langen Darstellung des Syntagmas als einer Einheit, die binär zu analysieren sei, könnt eine überraschende Wende in der Interpretationskette von Mikus. 24 25 26 27 28 29

H. W. J. 0. M. H.

Weinrich, "Die Textpartitur", 216/217. Wundt, Logik I, 38. Schmidt, Über die französische Nominalzusannnensetzung (Berlin, 1872). Dittrich, ZfRPh 22 ( 1 8 9 8 ) . Breal, Essai de semantigue (Paris, 1871), Kap. 16 Ende. Frei, "Note", 68.

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Das Syntagma sei nicht nur im Hinblick auf die Beziehungen seiner Elemente untereinander zu interpretieren, man müsse unbedingt auch die Beziehungen des Ganzen zu seinen Einzelteilen betrachten. Dann ergäbe sich folgende Schlußfolgerung: "[. .. ] que le syntagme ne suit pas les formales de Wundt, mais 3O plutot la disposition dispos triangulaire". Bezogen auf das (Satz)syntagma heißt das nach Mikus: sujet «

\

>· predicat

/

phrase

Die beiden Elemente "sujet" und "predicat", die in der Tat binär angeordnet seien, würden durch ein drittes Element "phrase" in einer Synthese zusammengeführt. Der Versuch, den Begriff des Syntagmas nach Saussure mit der Hegelschen Dialektik in Verbindung zu bringen, ist deutlich erkennbar: "Mnsi concu, le syntagme n'est pas, dans son ensemble, binaire, mais 'trinitaire' et 'dialectique1, et suit la formule de Hegel these ·