Der Begriff der Dichtung in der Frühen Neuzeit 9783110224283, 9783110224276

In the first section the study reconstructs the reception of Aristotle's Treatise on Poetry and the genesis of the

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German Pages 392 [396] Year 2009

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Table of contents :
Frontmatter
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Dichtung als argumentative Disziplin
Nachahmung als Gleichnishaftigkeit
Die Legitimität der Fiktion
Theologischer Exkurs
Göttliche Entrückung oder natürliche Begabung
Geschichte des Enthusiasmus
Genie und Affekt
Ausblick
Backmatter
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Der Begriff der Dichtung in der Frühen Neuzeit
 9783110224283, 9783110224276

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Volkhard Wels Der Begriff der Dichtung in der Frühen Neuzeit

Historia Hermeneutica Series Studia Herausgegeben von

Lutz Danneberg

Wissenschaftlicher Beirat

Christoph Bultmann · Fernando Domı´nguez Reboiras Anthony Grafton · Wilhelm Kühlmann · Ian Maclean Reimund Sdzuj · Jan Schröder · Johann Anselm Steiger Theo Verbeek

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≥ Walter de Gruyter · Berlin · New York

Volkhard Wels

Der Begriff der Dichtung in der Frühen Neuzeit

≥ Walter de Gruyter · Berlin · New York

Ermöglicht von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel

앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISSN 1861-5678 ISBN 978-3-11-022427-6 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

쑔 Copyright 2009 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Laufen

Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis Einleitung .............................................................................................................. 1 Erster Teil: Gleichnishaftigkeit und Fiktionalität Dichtung als argumentative Disziplin Die Poetik des Averroes ............................................................................... 11 Lateinische Rezeption der aristotelischen »Poetik« 11 Arabische Rezeption der »Poetik« 13 Die Paraphrase des Averroes 15

Rezeption der averroischen Poetik ............................................................. 22 Savonarolas »Apologeticus« 22 Lombardi und Maggi 29 Robortello 31 Zabarella 35 Riccoboni 38 Campanella 39

Nachahmung als Gleichnishaftigkeit Poetik des 15. Jahrhunderts.......................................................................... 43 Petschmessingsloer, »Ecloga Theoduli«, Gossenbrot 43 Peuerbach, Gratius, Bebel 46 Agricola, Celtis 49

Poetik des 16. Jahrhunderts.......................................................................... 53 Vives 53 Melanchthon 58 Eoban Hesse, Chytraeus, Copius, Willich, Praetorius, Fabricius 61 Gentili 66 Ramus, Freigius 67

Moraldidaktische Bestimmung des Dramas .............................................. 70 Donat- und Evanthius-Rezeption, Celtis, Straßburger Terenz-Ausgabe 70 Melanchthon 72 Luther und das Schultheater 75 Camerarius, Micyllus, Fabricius 77 Schosser 80

Jesuitische Poetiken um 1600....................................................................... 82 Pontanus 82 Sarbiewski 85 Donati 91 Donatis Tragödientheorie 95

Poetik des 17. Jahrhunderts.......................................................................... 97 ›Gießener Poetik‹ 97 Opitz 100 Alsted 103 Harsdörffer 104 dientheorie Klajs und Harsdörffers 108

Tragö-

Masen und seine Rezeption ........................................................................ 111 Veri similitudo 111 Masens Tragödientheorie 116 Kempe, Birken 120 Gleichnishafte Dramen 124 Rotth 126

Poetik des 18. Jahrhunderts........................................................................ 129 ›Naturnachahmung‹ 129 Wolff 131 Gottsched 134 Breitinger 138 Schlegel, Pyra 142 Baumgarten 143 Curtius 149

VI

Inhaltsverzeichnis

Die Legitimität der Fiktion Scaliger, Heinsius, Vossius.......................................................................... 153 Handlung als Seele der Dichtung 153 Scaliger 154 Heinsius 158 Vossius 161

Rappolt, Brämer, Lessing............................................................................ 166 Rappolt 166 Brämer 170 Lessing 173

Exkurs Theologischer Exkurs ..................................................................................... 179 Neuplatonische Enthusiasmus-Theorie 179 sola scriptura 180 Die Auseinandersetzung mit den Enthusiasten 182 Spiritualistische Frömmigkeit des 17. Jahrhunderts 184 Die Inspiration des Dichters 188 Problemkonstellation in der Zeit des Pietismus 190 Die Naturalisierung des Enthusiasmus 193

Zweiter Teil: Enthusiasmus Göttliche Entrückung oder natürliche Begabung Der neuplatonische Begriff der Dichtung................................................ 197 Ficinos Theorie des furor poeticus 197 Der Aufstieg der Seele 201 Die rationale Form der inspirierten Dichtung 203 Melancholie 205 Die Magie der Dichtung 208 prisca theologia 212 Landinos Vergil-Allegorese 215 Polydor Vergil, Pontano, Muzio, Minturno, Patrizi

Die Naturalisierung des Enthusiasmus..................................................... 221 Pomponazzi 221 Rezeption Pomponazzis 224 Scaliger 229 Vossius 232

Geschichte des Enthusiasmus Die Rezeption Ficinos 1486 bis 1518 ....................................................... 237 Celtis, Augustinus Moravus, Corvinus, Barinus 237 Lupinus 242 Wimpina gegen Polich 244 Locher 248 Wimpfeling und Brant gegen Locher 251 Vadian 254 Badius’ Terenz-Ausgabe 257

Der Enthusiasmus im 16. Jahrhundert ..................................................... 259 Die Melancholie-Theorie Melanchthons 259 Die Begabungslehre Melanchthons 262 Eoban Hesse, Willich, Praetorius, Stigel, Pontanus 264

Der Enthusiasmus im 17. Jahrhundert ..................................................... 266 ›Gießener Poetik‹, Alsted, Sarbiewski 266 Opitz, Buchner 269 Opitz’ Theorie der Andacht 272 Donati 274 Masen, Balde 276 Grimmelshausen, Harsdörffer, Klaj, Zesen 278 Rappolt, Birken, Schottel, Sacer 281

Der Enthusiasmus im 18. Jahrhundert ..................................................... 284 Neukirch, Stolle, Thomasius, Hansch 285 Morhof, Weise, Omeis, Breslauer »Anleitung« 288 Gottsched 291 Bodmer, Breitinger, Curtius 293

Inhaltsverzeichnis

VII

Genie und Affekt Vorgeschichte des Genies........................................................................... 295 Morhof 296 Thomasius gegen Morhof 300 Kortholt 302

Paradoxien der ›Naturnachahmung‹.......................................................... 306 Longin-Rezeption, Heineken, Lange 306 Gottsched, Batteux, Schlegel, Klopstock 309 Hagedorn, Lange, Klopstock 312

Der dunkle Grund der Seele ...................................................................... 315 Bodmer 315 Schlegel, Klopstock 318 Baumgarten 320 Herder 323

Ausblick ............................................................................................................. 331 Literaturverzeichnis ......................................................................................... 335 Quellen 335

Forschungsliteratur 353

Register .............................................................................................................. 377 Personen- und Werkregister 377

Sachregister 384

Einleitung Wahrheit und Fiktionalität Der Begriff der Dichtung in der Frühen Neuzeit, wie er den Titel dieser Arbeit bildet, bezeichnet die Frage nach dem, was in der Frühen Neuzeit als Dichtung begriffen wurde. Es geht nicht um das, was Dichtung war oder was unter diesem Begriff verfaßt wurde, sondern um die poetologische Reflexion über das, was als Dichtung verstanden wurde. Das Paradigma dieses Begriffes ist die Wahrheit. »Alberne Altweibergeschichten weise zurück. Übe dich aber in der Frömmigkeit!« lautet das Gebot 1. Tim. 4.7, das in der Frühen Neuzeit in zahllosen Variationen wiederkehren wird. Die Sätze, in denen dieses Paradigma am nachdrücklichsten formuliert wird, finden sich bei Augustinus. Einleitung Nicht alles, was wir erdichten, ist eine Lüge, sondern wenn wir etwas erfinden, das keine Bedeutung hat, dann ist es eine Lüge. Wenn sich jedoch das von uns Erdichtete auf irgendeine Bedeutung bezieht, dann ist es keine Lüge, sondern eine Figur der Wahrheit. Andernfalls wird man alles, was von Weisen und Heiligen, ja selbst von unserem Herrn figürlich gesagt worden ist, für Lügen halten, weil gemäß dem gewöhnlichen Verständnis solche Worte keine Wahrheit enthalten. […] Eine Erdichtung, die sich auf eine Wahrheit bezieht, ist eine Figur, eine, die dies nicht tut, ist eine Lüge.1

In der Konsequenz dieser Sätze war aus dem Begriff der Dichtung die Fiktion als bedeutungslose Erfindung, als »Fabelei« oder »Ammenmärchen«, als Lüge ausgeschlossen. Es ist dasselbe Paradigma, das Laktanz formuliert, wenn er in den »Divinae institutiones« I.11 das Wesen der Dichtung darin erkennt, das, _____________ 1

Augustinus: Quaestiones II.51.1: »Non enim omne quod fingimus mendacium est; sed quando id fingimus quod nihil significat, tunc est mendacium. Cum autem fictio nostra refertur ad aliquam significationem, non est mendacium sed aliqua figura ueritatis. Alioquin omnia quae a sapientibus et sanctis uiris, uel etiam ab ipso domino figurate dicta sunt mendacia deputabuntur, quia secundum usitatum intellectum non subsistit ueritas talibus dictis. […] Fictio igitur quae ad aliquam ueritatem refertur figura est, quae non refertur mendacium est.« Ich folge mit einer kleinen Abweichung der Übersetzung von Mirbach in Baumgarten: Ästhetik S. 502. Vor Baumgarten hatte bereits Vossius: Institutiones I.2.10, S. 9 die Stelle zitiert. Zur Rezeption bei Masen vgl. unten S. 112. Alle Übersetzungen sind im folgenden, soweit nicht anders vermerkt, von mir. Die aristotelische »Poetik« zitiere ich in der Übersetzung Manfred Fuhrmanns.

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Einleitung

was wahrhaft geschehen sei, in einer verdeckten und ausgeschmückten Form darzustellen (ea quae uere gesta sunt in alias species obliquis figurationibus cum decore aliquo conuersa traducat). Wo der Dichter alles erfinde, werde er zum Narr und Lügner.2 Lukrez brachte diesen Begriff der Dichtung in das einprägsame Bild von der bitteren, aber heilsamen Medizin, die in verzuckerter Form dargereicht werden müsse (Lukrez, »De rerum natura« I.935-950). Dichtung ist eine pädagogische, didaktische Veranstaltung, die der Vermittlung der Wahrheit dient. Die spezifisch poetische, bildliche Form der Dichtung wurde dabei als Form wahrgenommen, die für die »Unterrichtung« des »einfachen Volkes« besonders geeignet war, im Gegensatz zu den abstrakten, streng syllogistisch aufgebauten Schlüssen der Wissenschaften selbst. Die Dichtung bildet damit keinen Bereich außerhalb der Wissenschaften und Künste, sondern ist ein pädagogisches, didaktisches Instrument zu deren Vermittlung. Dichtung ist ein argumentatives Verfahren. Dieses argumentative Verfahren konnte sich entweder als Darstellung des Tatsächlichen (exemplum) realisieren, indem die Dichtung ein historisches Geschehen in poetischer Form (in Versen und ›poetischer‹, bildlicher Sprache) darstellt und als Lehrdichtung wissenschaftliche Inhalte in poetische Form bringt. Oder aber die Dichtung konnte als Gleichnis (»similitudo«, später »Allegorie«) etwa eine moralphilosophische Wahrheit darstellen, wie in der Tierfabel oder der Komödie. Die erzählte Geschichte ist zwar ›erfunden‹, dient aber als Argument der Besserung des moralischen Verhaltens. Unter dem Namen Ciceros wurde die Bestimmung der Komödie als Nachahmung des Lebens, Spiegel der Gewohnheiten und Abbild der Wahrheit überliefert und als Auftrag zur moralischen Besserung verstanden.3 Dieser Begriff der Dichtung als ein argumentatives Verfahren im Dienst der Wahrheit wurde verbunden mit einer Definition der Dichtung über die Versform. Wenn die Inhalte der Dichtung als Argumente im Dienst der jeweiligen Wissenschaften standen, zu der diese Inhalte gehörten, konnten diese Inhalte das Wesen der Dichtung nicht bestimmen. Die Definition der Dichtung wurde deshalb gar nicht in ihren Inhalten, sondern in ihrer Versform und besonders bildreichen Sprache gesucht. In der Konsequenz konnte der Dichtung sogar jede disziplinäre Selbständigkeit bestritten werden. Als argumentatives Verfahren war sie ein Teil der Logik, eine angewandte Argumentationstheorie, als poetische Form ließ sie _____________ 2 3

Lactantius: Divinae institutiones I.11, S. 46. Zur Rezeption vgl. Trappen: Fiktionsvorstellungen. Donatus: de comoedia V.1, S. 22: »Comoediam esse Cicero ait imitationem uitae, speculum consuetudinis, imaginem veritatis.«

Einleitung

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sich auf eine Anwendung der Grammatik (Prosodie, Metrik) und Rhetorik (spezifisch bildliche Sprache) zurückführen. Der resultierende Begriff der Dichtung war hervorragend mit der »Ars poetica« des Horaz zu vermitteln, der sicherlich mit Abstand einflußreichsten Poetik der Antike. Das prodesse und delectare – »nutzen und vergnügen wollen die Dichter« (v. 333) – war auf den unterhaltenden und argumentativen Wert der Dichtung zu beziehen. Wenn es v. 361 hieß, die Dichtung solle sich wie ein Gemälde verhalten – »ut pictura poesis erit« –, wurde dies auf die veranschaulichende, bildliche Kraft der Dichtung bezogen, die eben gerade durch ihre Anschaulichkeit sowohl den argumentativen Wert der Dichtung stärkte wie den bildlichen Charakter ihrer Sprache ausmachte. Womit sich das augustinische Paradigma der Wahrheit nicht vermitteln ließ, war der aristotelische Begriff der Dichtung als Nachahmung (mimesis) und Erfindung einer Handlung.4 »Wie man die Handlungen zusammenfügen muß, wenn die Dichtung gut sein soll«, bezeichnet Aristoteles im ersten Satz der »Poetik« (1447a) als die selbstgestellte Aufgabe, und die Darstellung von Handlung bestimmt er 1450a als »mythos« zum Gegenstand der Tragödie und als deren »Fundament« und »Seele«. Was keine Handlung hat, gehört für Aristoteles nicht zur Dichtung. Die naturphilosophische Lehrdichtung des Empedokles, die allein durch ihre Versform zur Dichtung zu gehören scheine, ist nach 1447b keine Dichtung, genauso wenig wie die in Versform gebrachte, historische Darstellung (1451b). Den Prinzipien, denen eine gute Handlung gehorchen muß, gilt das eigentliche Interesse der »Poetik«: der richtigen Größe der Handlung, ihrer Geschlossenheit, dem Spannungsaufbau durch großes Leid (Pathos), Wiedererkennung (Anagnorisis) und Umschlag des Glücks (Peripetie), der Konstruktion eines Charakters, die allein die Anteilnahme am Schicksal des Helden ermöglicht. Die entsprechend dieser Gesetze erfundene Handlung muß nach Aristoteles nicht wahr und tatsächlich geschehen sein, sondern als wahrscheinliche und glaubhafte nur gut erfunden (1451b). Überspitzt formuliert, könnte man sagen, die Konstruktion einer Fiktion, einer Lüge im augustinischen Sinne, ist nach Aristoteles das Wesen der Dichtung. Nicht als »Figur der Wahrheit«, sondern als erfundene Handlung begreift Aristoteles die Dichtung. Nirgendwo in der aristotelischen »Poetik« wird dieser erfundenen Handlung ein moralischer oder _____________ 4

Richtungsweisend für die Auseinandersetzung mit der aristotelischen »Poetik« sind die Arbeiten von Arbogast Schmitt und die Studie von Michael Lurje, die beide aus unterschiedlichen Perspektiven aufzeigen, wie in der Frühen Neuzeit die Weichen für das Verständnis der aristotelischen »Poetik« gestellt wurden.

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Einleitung

pädagogischer Zweck zugesprochen. Diese Tatsache war für die Frühe Neuzeit nicht zu denken. Eine eigentliche Wirkung hat der aristotelische Begriff der Dichtung (im Unterschied zu den einzelnen Theorieelementen der »Poetik«) deshalb nicht gehabt. Die unscheinbare Abhandlung Donats über die Komödie, die in ihren ersten Sätzen (»de comoedia« V.1) die Komödie als »Nachahmung des Lebens, Spiegel der Gewohnheiten, und Abbild der Wahrheit« definiert, ist mit diesem Nachahmungsbegriff in der Frühen Neuzeit unendlich erfolgreicher als der komplexe Entwurf der aristotelischen »Poetik«. Die Rezeption des aristotelischen Dichtungsbegriffes ist die Geschichte seiner Umdeutung im augustinischen Sinne. Der »mythos« als erfundene Handlung mußte als »Figur der Wahrheit« gedeutet werden. Die »Poetik« bot dafür vor allem zwei Ansatzpunkte. 1448a (ähnlich noch einmal 1449a bei der Definition der Komödie) heißt es, die Komödie stelle die Menschen schlechter, die Tragödie besser dar, als sie in Wirklichkeit wären. Dies konnte man so deuten, daß die Komödie dem Tadel und die Tragödie dem Lob diene, wobei die moralpädagogische Umdeutung dabei insofern vollzogen war, als Lob und Tadel der moralischen Besserung dienen. Während diese Umdeutung vor allem vom 13. bis zum 16. Jahrhundert praktiziert wurde, erlebte die Umdeutung der Katharsis als zweite Möglichkeit ihren Höhepunkt vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. 1449b definiert Aristoteles die Katharsis als Erregung von Furcht und Mitleid zum Zweck der »Reinigung«. Unabhängig von der Frage, wie genau diese »Reinigung« zu verstehen war, drängte sich ihre Deutung als moralische Besserung auf. Voraussetzung für beide Strategien war eine Umdeutung des Begriffes der mimesis. Als Instrument der moralischen Besserung konnte diese nicht als bloße Erfindung einer Handlung gedeutet werden, sondern mußte als »Nachahmung«, »Gleichnishaftigkeit«, »Wahrheitsähnlichkeit« oder »Allegorie« in eine Beziehung zur Wahrheit gesetzt werden. Die Geschichte dieser Umdeutungen des aristotelischen mimesis-Begriffes im Sinne einer »Figur der Wahrheit« bildet den ersten Teil dieser Arbeit. An ihrem Ende steht der Begriff der Fiktion als ein Merkmal, das den Wahrheitsbezug der mimesis zu lockern beginnt. Damit soll nicht gesagt sein, daß der Fiktionsbegriff der Frühen Neuzeit sich von der Forderung nach Wahrheit emanzipiert hätte, sondern nur, daß an die Stelle einer zweiwertigen Beziehung, in der die Dichtung eine »Figur der Wahrheit« ist, eine dreiwertige Beziehung zu treten beginnt, in der die Dichtung als Fiktion mit einer begrenzten Autonomie

Einleitung

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eine Wahrheit zum Ausdruck bringt. Die Legitimität der Fiktion beruht nach wie vor auf der Wahrheit, die die Fiktion zum Ausdruck bringt.

Enthusiasmus, Inspiration, Begabung Der zweite Teil der Arbeit ist dem Enthusiasmus und der göttlichen Inspiration gewidmet. Die Annahme einer göttlichen Inspiration erhob die Dichtung auf den Rang der Offenbarung und war deshalb für den Begriff der Dichtung von unmittelbarer Bedeutung. Der Dichter war ein ›heiliger Sänger‹ (vates), durch dessen Mund göttliche Wahrheiten kundgetan wurden. Wesentliches Element dieser Theorie der Dichtung ist die Lehre vom »Enthusiasmus«, der göttlichen Entrückung des Dichters in einem »poetischen Wahnsinn« (furor poeticus), wie sie Platon im »Ion« und im »Phädrus« am ausführlichsten formuliert und Ficino in seinem Neuplatonismus in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts reformuliert hat. Schon am Ende des 15. Jahrhunderts – und wahrscheinlich auch schon davor – wurde der Begriff der Inspiration jedoch nicht mehr nur wörtlich verstanden, sondern bereits metaphorisch verwendet, um eine bestimmte Eigenschaft des dichterischen Geistes (eine besonders ausgeprägte Vorstellungskraft) oder allgemein die dichterische Begabung zu bezeichnen. Die natürliche Ursache, die dabei für den Enthusiasmus in Anschlag gebracht wurde, war, ausgehend von dem (pseudo-) aristotelischen »Problem 30.1«, das melancholische Temperament. Indem dieses besonders feine und leicht bewegliche »Lebensgeister« (spiritus animales) produziert, galt das Denk- und Vorstellungsvermögen des Melancholikers als besonders ausgeprägt. Der Dichter wäre dem zufolge nicht göttlich entrückt, sondern nur mit einer humoralpathologisch begründeten Begabung versehen, die ihn für die Dichtung prädestinierte. Ausgehend von dieser humoralpathologischen Vorstellung wird der Enthusiasmus im Verlauf der Frühen Neuzeit zunehmend physiologisch interpretiert. Durch die Konzentration der »Lebensgeister« im Vorstellungsvermögen des Dichters ist dieser so sehr in die vorgestellten Bilder ›entrückt‹, daß er seine unmittelbare Umgebung und seinen eigenen Körper nicht mehr wahrnimmt. Die humoralpathologische Möglichkeit dieser ›Entrückung‹, die besondere Begabung des Dichters, wird im Verlauf des 18. Jahrhunderts zur Konstitution des ›Genies‹. In seinen besonderen, ›schöpferischen‹ Momenten gelingt es diesem, aus einem affektiv entrückten Zustand heraus

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Einleitung

dichterische Werke zu schaffen. Der Enthusiasmus wird der Zustand des Genies, in dem dieses schöpferisch tätig ist. Während das ingenium als angeborene Begabung statisch war und sich in einer besonderen »Scharfsinnigkeit« der Vernunft äußerte, aktualisiert sich das Genie immer nur in der affektiven Erregung des enthusiastischen Zustandes. Nicht Gott, sondern die Natur, die als humoralpathologisches Temperament das ingenium des Dichters bestimmt und damit für sein Genie verantwortlich ist, ›entrückt‹ den Dichter. Wenn es die Natur ist, die aus dem Genie spricht, dann kann sich diese Natur nicht über Vernunft und Verstand äußern – die in ihrer Anwendung von Regeln bei allen Menschen ähnliche Ergebnisse erbringen würden –, sondern nur über Affekt und Gefühl. Die Natur spricht durch die unmittelbaren Gefühlsäußerungen des Genies, wobei die Stärke dieser Gefühlsäußerungen subjektiv als Entrückung oder Begeisterung wahrgenommen wird. Neben der Deutung des ingenium als Genie ist die zweite entscheidende Weiche deshalb die Aufgabe des Verstandes als produktives Vermögen des Dichters zugunsten von Einbildungskraft, Affekt und Gefühl. Damit entsteht ein Paradox, das die Dichtungstheorie weit über das 18. Jahrhundert hinaus beschäftigen wird. Einerseits spricht aus dem Dichter Affekt und Gefühl, andererseits ist es offensichtlich, daß die Dichtung schon allein über ihre technischen Anforderungen (Metrum, Reim) eine Tätigkeit der Vernunft voraussetzt. Das 16. und 17. Jahrhundert hat hier kein Problem gesehen. Wenn es um die Darstellung von Affekten geht, muß der Dichter sich entweder durch Identifikation in seine Figuren versetzen, oder er muß den Affekt durch Stimulantien (Wein, Musik, Lektüre) in sich erregen. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts wird diese bewußte, ›künstliche‹ Erzeugung eines Affekts zunehmend als bloße »Nachahmung« verpönt. Der ohne Enthusiasmus dichtende Gelegenheitsdichter, der Affekte künstlich nachahmt und nach Regeln dichtet, tritt in Opposition zum ›Genie‹, das aus seinem eigenen Erleben heraus schafft. Durch das Genie spricht die Natur, und weil diese Natur nicht lügen, sondern immer nur sich selbst zum Ausdruck bringen kann, ist es die Wahrheit, die durch die Natur spricht. Diese ›Ausdrucksästhetik‹ manifestiert sich in der Entstehung der neuen Gattung der »Lyrik«, die sich aus der Theorie der Ode als einem gesungenen Gedicht entwickelt. Anders als der Roman scheint diese Lyrik auf jede bewußt konstruierende Tätigkeit der Vernunft verzichten zu können. Gerade der zutiefst subjektive, affektive Entrückungszustand des Genies wird Garant der Wahrheit als Ausdruck der Natur.

Einleitung

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Die neue Gattung der Lyrik ist damit eine weitere Hypostase des augustinischen Dichtungsbegriffes. In der ›Ausdrucksästhetik‹, wie sie sich um 1750 durchsetzt, wird der Dichter auf die Wahrheit festgelegt, auch wenn dies jetzt nicht mehr die ›äußere‹, abbildbare Wahrheit ist, sondern die ›innere‹ als der wahre, tatsächlich empfundene Gemütszustand. Paradigma dieser Lyrik als einer neuen Gattung ist die Musik, die als unmittelbarer Ausdruck des Herzens (als dem Sitz der Gefühle) galt. Je weiter diese Lyrik sich von dem unmittelbaren Ausdruck der Affekte entfernte, je stärker sie den logisch verfahrenden Operationen der Vernunft unterworfen wurde, als desto schwächer wurde sie wahrgenommen. Dichtung mit einem argumentativen Zweck gilt jetzt als späte Verfallserscheinung der Literaturgeschichte. Obwohl die Kategorie des ›Ausdrucks‹, wie ihre Vorgeschichte zeigt, eine rhetorische ist und sich aus der Rhetorik entwickelte, wird sie in der Mitte des 18. Jahrhunderts zu deren Gegensatz. Als lyrisch gilt, was weder argumentative Zwecke und Ziele verfolgt, noch den künstlichen Verfahrensweisen der Rhetorik unterworfen wurde. Am Ende der Arbeit steht deshalb der doppelte Begriff der Dichtung, wie er das 19. und 20. Jahrhundert beherrscht hat. Auf der einen Seite steht die Lyrik als Ausdruck der Natur, verfaßt von einem ›Dichter‹, der aus einem »Enthusiasmus« heraus, in einem ›begeisterten‹ Zustand, seine Werke schafft. Auf der anderen Seite steht der Roman, der sich durch seine Fiktionalität als Werk der bewußt konstruierenden Vernunft eines ›Schriftstellers‹ zu erkennen gibt. Während die Lyrik durch ihre Teilhabe an der Wahrheit als ›hohe‹ Form gilt, kann der Roman eine solche Würde nur erreichen, wo er sich als ›Kunstdichtung‹ gerade über die Fiktionalität, die bloße Erfindung einer Handlung, erhebt und sich an einer wie auch immer gearteten, übergeordneten Wahrheit orientiert. Die bloße Fiktionalität wird dagegen zum Merkmal einer ›Unterhaltungsliteratur‹, in der sich der rhetorische Zweck des »delectare« verselbständigt hat. Sie wird als Gegensatz der ›echten‹, zweckfreien Dichtung wahrgenommen.

Erster Teil: Gleichnishaftigkeit und Fiktionalität

Dichtung als argumentative Disziplin Die Poetik des Averroes Lateinische Rezeption der aristotelischen »Poetik« Schon 1278 übersetzte Wilhelm von Moerbeke die aristotelische »Poetik« ins Lateinische, aber diese Übersetzung scheint nicht weiter rezipiert worden zu sein.1 Erst über zweihundert Jahre später ist mit der Übersetzung Giorgio Vallas aus dem Jahr 1498 (Nachdrucke 1504 und 1515) ein erneutes Interesse an der »Poetik« nachweisbar.2 Dann allerdings wächst das Interesse zusehends. 1508 gibt Demetrius Dukas bei Aldus Manutius innerhalb der »Rhetores graeci« die editio princeps des griechischen Textes heraus.3 1536 erscheint in Venedig die Übersetzung Alessandro Pazzis (Paccius). Die zweisprachig gedruckte Ausgabe wurde sofort in Basel (1537 und 38) und Paris (1538) nachgedruckt und erlebte, verglichen mit der bisherigen Druckgeschichte, eine relativ schnell anhebende Karriere. Bereits 1542 wurde sie noch einmal in Basel und Paris nachgedruckt, 1548 und 49 in Basel und Lyon, 1550 und 60 in Venedig, 1561 und 63 gleich in fünf verschiedenen Ausgaben in Lyon, 1572 und 76 in Venedig, 1578 und 79 in Lyon, 1580 und 81 in Genf und Lyon, bis sie schließlich 1584 in Venedig zum letzten Mal erschien. Die Erschließung der »Poetik« benötigte nicht nur eine Übersetzung, sondern vor allem eine Kommentierung und Erklärung. Diese inhaltliche Erschließung beginnt mit den Vorlesungen, die Bartholomeo Lombardi 1541 zu halten beginnt, und die nach seinem Tod bis 1546 von Vincenzo _____________ 1

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Vgl. die Ausgabe von Minio-Paluello im Aristoteles latinus. Alle bibliographischen Angaben nach Schrier: Poetics sowie Cranz und Schmitt: Aristotle Editions. Soweit nicht durch diese Werke ersetzt vgl. außerdem Cooper und Gudeman: Bibliography. Valla verfügte nur über eine einzige, relativ späte und schlechte Handschrift, vgl. Lobel: Manuscripts S. 8. Zu Vallas Übersetzung vgl. Weinberg: History S. 361-366. Zu Vallas Begriff der Dichtung vgl. auch das 38. Buch seiner Enzyklopädie »De expetendis ac fugiendis rebus« (1492-94). Vgl. Sicherl: Aldina.

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Dichtung als argumentative Disziplin

Maggi (Madius) fortgesetzt werden.4 Indem Maggi diese Vorlesungen erst 1550 im Druck erscheinen läßt, ist der erste gedruckte Kommentar derjenige Francesco Robortellos (1548, zweite Auflage 1550). Ab der Mitte des Jahrhunderts wird die Rezeption der aristotelischen »Poetik«, wie sie sich in der Druckgeschichte spiegelt, zu einem breiten Strom. Aus dem Jahr 1546 datiert eine weitere lateinische Übersetzung, die allerdings nur als Handschrift überliefert ist.5 Bereits aus dem Jahr 1549 stammt die erste italienische Übersetzung – und damit die erste Übersetzung der »Poetik« in eine Volkssprache – von Bernardo Segni (zweiter Druck 1551). 1560 erscheint die lateinische Übersetzung mit umfangreichem Kommentar von Pietro Vettori (Victorius), die 1564 durch eine Ausgabe des griechischen Textes ergänzt wird (weitere separate Drucke der Übersetzung 1562, 63 und 75, zweite Ausgabe des Kommentars 1572). 1570 (zweiter Druck 1576) erscheint, zusammen mit Edition und Kommentar, die italienische Übersetzung von Ludovico Castelvetro. 1579 kommt die lateinische Übersetzung Antonio Riccobonis heraus, die noch drei Nachdrucke erlebt (1590, 1593 und 1597) und der einige Jahre später ein Kommentar (1584) und eine erklärende Paraphrase (1585 und 1587) folgen. 1613 erscheint der Kommentar Paolo Benis. Das wachsende Interesse, das sich an den lateinischen und italienischen Übersetzungen und Kommentaren beobachten läßt, gilt in ähnlicher Form auch für die Ausgaben des griechischen Textes – soweit es sich dabei nicht sowieso um zweisprachige Ausgaben handelt. Nach der editio princeps bei Aldus Manutius 1508 erscheint die nächste Ausgabe erst über zwanzig Jahre später, in der von Erasmus besorgten Ausgabe der aristotelischen »Opera« Basel 1531. Dann setzt mit der Übersetzung Pazzis eine beschleunigte Rezeption auch des griechischen Textes ein. Zweimal, Basel 1536 und 1537, erscheinen beide in zweisprachigen Ausgaben, zweimal wird nur der griechische Text gedruckt (Venedig 1536 und Paris 1538). 1539 und 1550 wird in Basel die Ausgabe des Erasmus nachgedruckt, 1546 und 1551 erscheint der Text in Venedig, 1541 und 1555 in Paris, 1551 in Leiden. Dazu kommen wiederum die Ausgaben des griechischen Textes in den Kommentaren von Maggi und Robortello. 1564 erscheint die Ausgabe Vettoris in Florenz, 1570 die Ausgabe Castelvetros in Wien, jeweils zweisprachig, wie auch die Ausgabe Lyon 1590 mit der Übersetzung Riccobonis und eine Ausgabe Genf 1597. Bereits 1585 war in Frank_____________ 4 5

Nach Weinberg: History S. 373 f. Auszüge dieser Übersetzung von Petrus Leoninus Ferrariensis hat Minio-Paluello im Aristoteles latinus herausgegeben.

Die Poetik des Averroes

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furt mit der Ausgabe Friedrich Sylburgs die erste Ausgabe der »Poetik« im mitteldeutschen Raum erschienen.

Arabische Rezeption Aber diese Rezeptionsgeschichte ist nur die eine Hälfte der Wahrheit. Viel früher als im lateinischen Westen wird die »Poetik« im arabischen Osten rezipiert. Bereits um das Jahr 900 wurde sie von Isac ibn-Hunain ins Syrische übersetzt. Um 920 wurde diese Übersetzung von Abu Bishr Matta ins Arabische übertragen.6 Um 1120 entstand der Kommentar Avicennas zur aristotelischen »Poetik«, der auf der Übersetzung von Abu Bishr und einer weiteren (verlorenen) Übersetzung aus dem Syrischen beruht. Auf dieser Textgrundlage verfaßte um 1175 Averroes eine kurze Epitome und eine ausführliche Paraphrase der aristotelischen »Poetik«.7 Im Unterschied zu allen früheren arabischen Übersetzungen und Kommentaren fand der Text des Averroes schnell seinen Weg in die lateinische Welt. 1256 übersetzte Hermannus Alemannus ihn ins Lateinische, zweiundzwanzig Jahre vor Wilhelms von Moerbeke Übersetzung des griechischen Textes 1278. Während Wilhelms Übersetzung jedoch nur in zwei Handschriften überliefert ist, ist die lateinische Übersetzung der arabischen Paraphrase in fünfundzwanzig Handschriften überliefert.8 Die un_____________ 6

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Tkatsch: Übersetzung S. 220-283 hat diese arabische Übersetzung von Abu Bishr 1929 ins Lateinische übersetzt und damit die lateinische Übersetzung von Margoliouth aus dem Jahr 1911 ersetzt, vgl. Aristoteles: Liber Aristotelis de poetis S. 231-319. Die Bezeichnung »Kommentar« gibt – genauso wie die Bezeichnung »Paraphrase« – die Textgattung, der die Werke des Averroes angehören, nur ungenau wider. Ich bezeichne im folgenden aus Gründen der Einfachheit den kurzen Kommentar als »Epitome« und den mittleren als »Paraphrase«, ohne damit das spezifische Wesen dieser Texte bezeichnen zu wollen. Butterworth hat beide Texte aus dem Arabischen ins Englische übersetzt, vgl. Averroes/Butterworth: Short Commentary S. 81-84 und Averroes/Butterworth: Middle Commentary. Die ausführliche Studie von Tkatsch: Übersetzung bietet noch immer die beste Darstellung der arabischen Texttradition. Zur arabischen Poetik vgl. Black: Logic, die Einführung von Cantarino zu seiner Textauswahl: Arabic Poetics; die Einführung von Dahiyat zu seiner Übersetzung von Avicenna: Commentary S. 61-121; Harmaneh: Theory; Heinrichs: Dichtung; Kemal: Poetics; Lehner: Paraphrase; Luserke: Bändigung S. 85-124 und Weinberg: History Bd. 1, S. 352-361. Vgl. die Angaben von Minio-Paluello in: Aristoteles latinus S. xxv, der 23 Handschriften zählt, dazu die Handschrift von Boggess: Poetics S. 279 Anm. 5 und das Fragment von Minnis/Scott: Theory S. 277 Anm. 4. Die Übersetzung Hermanns hat Minio-Paluello dort S. 40-74 ediert. Die lateinische Fassung Hermanns wurde wiederum zweimal ins Englische übersetzt. Vgl. die vollständige, aber mit Vorsicht zu gebrauchende Übersetzung von Har-

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terschiedliche Beliebtheit setzt sich bis in die Druckgeschichte hinein fort. Die Übersetzung Hermanns wurde bereits 1481 gedruckt, also wiederum fast zwanzig Jahre vor Giorgio Vallas Übersetzung des griechischen Textes 1498. Worin die Ursache für diese so unterschiedliche Beliebtheit liegt, zeigt Hermann selbst, der sich bewußt gegen eine Übersetzung der aristotelischen »Poetik« und für die averroische Paraphrase entschieden hatte. Wie er in seinem Vorwort schreibt, habe er sich wegen der Unverständlichkeit des Vokabulars und der Schwierigkeit des aristotelischen Textes dessen Übersetzung nicht zugetraut, im Gegensatz zur arabischen Fassung.9 1337 wurde die averroische Paraphrase von Todros Todrosi ins Hebräische übersetzt.10 Diese hebräische Übertragung (die gegenüber Hermann einen gekürzten Text bietet) wurde wiederum zur Vorlage für zwei weitere lateinische Übersetzungen im 16. Jahrhundert. 1523 und 1560 wurde die lateinische Fassung des Abraham de Balmes in der IunctasEdition der aristotelischen Werke gedruckt,11 1550, 1562 und 1575 die Fassung Jakob Mantinos. Wie die Fassung Hermanns wurden diese Übersetzungen zusammen mit lateinischen Übersetzungen des griechischen Textes gedruckt, dienten also vor allem als erläuternde Kommentare und Heranführungen an den nach wie vor als schwer verständlich empfundenen, aristotelischen Text. In allen fünf Fällen wurde aus demselben Grund der lateinischen Übersetzung und der averroischen Paraphrase außerdem noch die averroische Epitome in der Übersetzung des Abraham de Balmes beigegeben.12 In _____________

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dison (Averroes/Hermann/Hardison: Middle Commentary), sowie die Teilübersetzung mit wertvollem Kommentar von Minnis und Scott (Averroes/Hermann/Minnis: Middle Commentary). Zu Hermanns Übersetzung vgl. (neben der oben Anm. 7 genannten Literatur) Hardison: Commentary; Knapp: Wirklichkeit; sowie die Einleitung von Minnis und Scott in ihre Übersetzung, S. 277-288. Averroes/Hermann: Poetria S. 41. Vgl. Averroes/Todrosi: Paraphrasis. Die Fassung Abrahams ist in keinem Neudruck zugänglich, ich habe den Druck Venedig 1560 verwendet, vgl. Averroes/Abraham: Paraphrasis. Die Paraphrase findet sich dort zusammen mit der »Poetik« in der Übersetzung Pazzis, die Epitome dort f. 168v. Abraham hat seine Übersetzung mit kursiv gedruckten Kommentaren versetzt, in denen er sowohl zusätzliche Erklärungen gibt, wie auch die von ihm übersetzte Fassung korrigiert, aus dem Vergleich mit einer griechischen oder zumindest aus dem Griechischen übersetzten Fassung (vgl. z.B. f. 165v oder f. 168) Die Übersetzung Abrahams, die ein früheres Stadium der Texterschließung spiegelt als die Übersetzung Mantinos, wurde in der Ausgabe Venedig 1560 außerdem mit korrigierenden und erklärenden Marginalien von »Antonio Poso a Monteilcino« versehen, die ebenfalls eine Kenntnis des Originals bezeugen. Bibliographische Angaben nach Cranz und Schmitt: Aristotle Editions. Der Text Mantinos wurde herausgegeben von Heidenhain, der sie allerdings noch für eine Übersetzung aus dem Arabischen hielt. Vgl. Averroes/Mantino/Heidenhain: Paraphrasis, zusammen mit der

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allen drei lateinischen Fassung wird die averroische Übertragung im 16. Jahrhundert noch sechsmal gedruckt, das letzte Mal erst 1575.

Die Paraphrase des Averroes Charakteristisch für die Paraphrase des Averroes ist, daß Averroes nur an den Elementen der »Poetik« interessiert war, die nicht allein für die griechische Literatur, sondern allgemein und also auch für die eigene, arabische Dichtung gültig waren. Das Interesse von Averroes war kein historisch-philologisches, sondern ein Versuch, die aristotelische »Poetik« für die eigene Zeit nutzbar zu machen. Aus diesem Grund verzichtete Averroes in seiner Paraphrase nicht nur auf die Passagen, die nur für die griechischen Gattungen Gültigkeit haben, sondern auch auf die historischen, gattungsgeschichtlichen Exkurse, und, was noch weit einschneidender war, er ersetzte die Beispiele aus der griechischen durch Beispiele aus der arabischen Dichtung. Bei dem Verständnis der aristotelischen »Poetik« stand die arabische Kultur vor der Schwierigkeit, daß sie aufgrund der Überlieferungslage nicht nur eine sehr schwache Kenntnis von der griechischen Dichtung, sondern auch von den Gattungen, allen voran dem Drama, keine Vorstellung hatte. Indem die arabische Kultur keine dramatischen, sondern nur rezitative Formen kannte, stand sie insbesondere mit den Begriffen der ›Tragödie‹ und der ›Komödie‹ vor einem Übertragungsproblem. Ausgehend vom zweiten Kapitel der aristotelischen »Poetik« 1448a, in dem es heißt, die Komödie suche schlechtere, die Tragödie bessere Menschen nachzuahmen, als sie in der Wirklichkeit vorkommen, übersetzt Averroes die Begriffe ›Tragödie‹ und ›Komödie‹ mit ›Lob‹ (laudatio) und ›Tadel‹ (vituperatio).13 Die Tragödie also dient dem Lob von Menschen, die besser sind als in der Wirklichkeit, die Komödie dem Tadel von Menschen, die schlechter

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Epitome in der Übersetzung von Abraham de Balmes (leider ohne den letzten Absatz), vgl. Averroes/Abraham/Heidenhain: Epitome. Beide Texte sind auch im Nachdruck der Iunctas-Edition zugänglich, vgl. Aristoteles/Averroes/Iunctas: De poetica S. 197r und S. 217v228v. Auf die hebräische Vorlage hat zuerst Tkatsch: Kommentar hingewiesen. Tkatsch: Übersetzung S. 137 hat auch bereits darauf hingewiesen, daß Mantino bei seiner Übersetzung eine griechische oder zumindest aus dem Griechischen übersetzte Fassung vorgelegen hat, vgl. etwa die Marginalien S. 380 und S. 381. Averroes/Hermann: Poetria S. 41.

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sind als in der Wirklichkeit. Mit dieser Übersetzung übernimmt Averroes ein Modell, das in der arabischen Poetik bereits Tradition ist.14 Die Bestimmung von Lob und Tadel als Zweck der Dichtung ist die erste Neubestimmung. Die zweite, äußerst weitreichende Entscheidung ist die Deutung der Nachahmung, der mimesis, als Gleichnishaftigkeit. Während Aristoteles 1448a das Wesen der Dichtung als Nachahmung menschlicher Handlungen bestimmt, wird bei Averroes, in der Übersetzung Hermanns, diese Nachahmung den Funktionen von Lob und Tadel untergeordnet und das Wesen der Dichtung mit dem Begriff der »assimilatio« (also der ›An-Ähnlichung‹ oder dem ›In-Vergleich-Setzen‹) bestimmt.15 Daß der Begriff der assimilatio am besten als Gleichnishaftigkeit wiederzugeben ist, zeigt sich an seinen Unterarten, wie Averroes sie in der Folge bestimmt, nämlich Vergleich und Metapher.16 Das Wesen der Dichtung besteht für Averroes darin, eine Ähnlichkeit zwischen zwei Sachverhalten, wie sie dem Vergleich oder der Metapher zugrunde liegt, herzustellen. Der Charakter der Dichtung als ganzer ist der eines Gleichnisses, das durch seine Gleichnishaftigkeit ein lobens- oder tadelnswertes Verhalten illustriert. Auch der Begriff der »imaginatio«, wie Hermann ihn analog zu »assimilatio« verwendet, ist in diesem Sinne als ›Verbildlichung‹ zu verstehen.17 ›Imaginativ‹, also ›verbildlichend‹, sind dichterische Äußerungen, weil sie mittels ihrer Gleichnishaftigkeit Bilder vor dem inneren Auge des Vorstellungsvermögens (der imaginatio) evozieren. Averroes identifiziert die aristotelische mimesis mit der Gleichnishaftigkeit, wie sie einer Metapher oder einem Vergleich zugrunde liegt, und erklärt sie unter dem Titel der assimilatio zum Wesen der Dichtung. Die Bildlichkeit des Gleichnisses ist dabei das entscheidende Kriterium, das das Gleichnis für eine solche Rolle prädestiniert.18 Was in der Dichtung gleichnishaft dargestellt wird, sind lobens- oder tadelnswerte Handlungen, das heißt Tugenden und Laster: _____________ 14 15

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Sie findet sich schon bei Alfarabi und Avicenna, vgl. die Forschungsliteratur oben Anm. 7. Abraham dagegen übersetzt den Begriff mit »assimilatio« und »confictio«, vgl. Averroes/ Abraham: Paraphrasis f. 159r, Mantino mit »imitatio« und »similitudo«, vgl. Averroes/Mantino/Heidenhain: Paraphrasis S. 354 Z. 26. Die Unterscheidung von Averroes selbst ist schwer nachzuvollziehen, vgl. Averroes/Butterworth: Middle Commentary S. 60 ff., weshalb diese schon in der hebräischen Fassung von Todros Todrosi durch die Unterscheidung zwischen Vergleich und Metapher ersetzt wurde, vgl. Averroes/Abraham: Paraphrasis f. 159r und Averroes/Mantino/Heidenhain: Paraphrasis S. 354. Zum Begriff der assimilatio bei Averroes vgl. Petersen: Mimesis S. 91-93. Averroes/Hermann: Poetria S. 42. Um diese Begrifflichkeit ernst zu nehmen, übersetze ich im Folgenden ›imitari‹ mit ›gleichnishaft darstellen‹ und dem entsprechend ›imitatio‹ mit ›gleichnishafte Darstellung‹.

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Weil aber diejenigen, die etwas gleichnishaft darstellen und abbilden, etwas deswegen darstellen, um die einen dazu zu bringen, irgendeine willentliche Handlung zu vollführen, andere aber dazu, eine andere Handlung zu unterlassen, so ist es notwendig, daß das, was gleichnishaft dargestellt werden soll, Tugenden oder Laster sind. Denn jede Handlung und jede Verhaltensweise neigt zu einem von diesen beiden, das heißt entweder zur Redlichkeit oder zur Unredlichkeit, und folgt aus ihnen.19

Was gelobt wird, ist eine richtige oder tugendhafte Verhaltensweise, was getadelt wird, eine falsche oder lasterhafte. Beides zusammen bildet den Gegenstand der Dichtung. Diese tugend- oder lasterhaften Verhaltensweisen, die die Dichtung abbildet – der dritte Punkt, in dem sich die averroische scharf von der aristotelischen »Poetik« abhebt – müssen tatsächliche sein und dürfen höchstens in ihren Details entsprechend der Gesetze der Wahrscheinlichkeit erfunden sein. Aristoteles unterscheidet 1451b über das Kriterium von Tatsächlichkeit und Möglichkeit die Dichtung von der Geschichtsschreibung. Während die Geschichtsschreibung immer auf das besondere, tatsächliche Geschehen verwiesen sei, stelle die Dichtung ein Geschehen dar, das zwar allgemeine Gültigkeit beanspruchen, in seinem Realitätsgehalt aber bloß möglich, nicht tatsächlich geschehen sein müsse. Bei Averroes dagegen heißt es, Aufgabe der Dichtung sei nicht die »gleichnishafte Darstellung falscher und erfundener Sachverhalte« (imitatio rerum falsarum fictarum).20 Der Unterschied zwischen Dichter und Historiker besteht damit für Averroes nicht im Gegenstand, sondern in der Form der Darstellung. Wo die Dichtung sich der Gleichnishaftigkeit bedient, da ist der Historiker auf die Darstellung der Ereignisse, so wie sie geschehen sind, verwiesen. Wenn Averroes dem Dichter die Darstellung »falscher und erfundener Sachverhalte« verbietet, ist damit jedoch nicht gemeint, daß er grundsätzlich jede Fiktion verbietet. Averroes unterscheidet den echten Dichter vom Fabeldichter, und während der Fabeldichter Unmögliches erfindet – nämlich zum Beispiel sprechende Tiere – erfindet der echte Dichter nur Glaubhaftes, Wahrscheinliches, empirisch Mögliches. Dieses Gebot der Glaubhaftigkeit steht im Dienst der logisch-rhetorischen Überzeugungskraft: _____________ 19

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Averroes/Mantino/Heidenhain: Paraphrasis S. 356 Z. 8 ff.: »Quoniam vero qui imitantur et aemulantur, ideo imitantur, ut inducant aliquos ad aliquam voluntariam actionem agendam, aliquam vero aliam prohibendam: oportet ergo ut ea quae proposuit imitari, sint vel virtutes vel vitia. Nam omnis actio omnisque mos ad alterum horum duorum declinat atque insequitur: nempe vel ad probitatem, vel improbitatem.« Averroes/Mantino/Heidenhain: Paraphrasis S. 364 Z. 11 ff.

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Was von der Tragödie am meisten gefordert wird, ist, daß das, was wir gleichnishaft abbilden, wirklich existiert [...]. Denn das Lob [also die Tragödie] zielt darauf, willentliche Handlungen zu fördern. Mögliche Dinge aber überzeugen eher und werden eher geglaubt, und es ist eben diese dichterische Glaubhaftigkeit oder Wahrhaftigkeit, die jemanden dazu bringt, etwas zu erstreben oder zu vermeiden.21

Wo bei Aristoteles die Wahrscheinlichkeit der Dichtung – im Gegensatz zur Historizität der Geschichtsschreibung – die größere Allgemeingültigkeit der Dichtung garantiert, da ist es bei Averroes die Glaubhaftigkeit der Dichtung, die dieser eine größere argumentative Überzeugungskraft verleiht. Neben der Gleichnishaftigkeit definiert Averroes die Dichtung außerdem über Vers und Metrum,22 und auch dies steht – das wäre der vierte entscheidende Unterschied – in direktem Gegensatz zu Aristoteles, bei dem es 1447b und 1451b heißt, daß die Versform kein definierendes Merkmal der Dichtung sein könne. Fünftens gibt Averroes der Freude an der Nachahmung, auf die Aristoteles den Ursprung der Dichtung zurückführt, aus dem Begriff der Gleichnishaftigkeit heraus eine neue Bedeutung. Wo es bei Aristoteles 1448b heißt, die Menschen würden sich über den Anblick von Nachahmungen freuen, weil sie in der Darstellung den dargestellten Sachverhalt wiedererkennen würden, da heißt es bei Averroes: Und deswegen verwenden wir, wenn wir jemanden über einen Sachverhalt unterrichten,23 Beispiele, damit aufgrund der verbildlichenden Kraft, die diesen eigen ist, leichter verstanden werde, was gesagt wird. Deshalb nimmt jemand durch die Freude, die er an Beispielen empfindet, das [im Beispiel] Vorgelegte vollständiger auf. [...] Man sieht auch, daß das Wissen von Mensch zu Mensch natürlich fortschreitet, entsprechend des Verhältnisses, das der Lehrer zum Schüler hat.24

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Averroes/Mantino/Heidenhain: Paraphrasis S. 364 Z. 34 ff.: »Quod maxime in tragoedia quaeritur, est ut ea quae imitamur sint […]. Quoniam laus vertitur in promovendo ad actiones voluntarias. Res autem possibiles potius persuadentur atque creduntur, ut est ipsa poetica certitudo seu verificatio, quae animam promovet ad inquirendum vel fugiendum.« Averroes/Mantino/Heidenhain: Paraphrasis S. 365 Z. 5 ff. Bei der Aufzählung der sechs Teile der Tragödie, Aristoteles 1450a, ersetzt Averroes den Begriff der Sprache durch den des Metrums, vgl. Averroes/ Mantino/ Heidenhain: Paraphrasis S. 360 Z. 23 ff. Daß »in docendo« in diesem ganz allgemeinen Sinne als ›jemanden über einen Sachverhalt unterrichten‹ zu verstehen ist, zeigt sich unten bei der Einordnung der »Poetik« in das aristotelische »Organon«. ›Docere‹ bezeichnet dabei als logischer Terminus die Angabe eines Arguments für das So-Sein eines bestimmten Sachverhalts. Wer in einem Epos darstellte, wie tugendhaftes Verhalten belohnt wird, nennt mit der Belohnung ein Argument für tugendhaftes Verhalten. Der Begriff ›belehren‹ würde dieser weiten Bedeutung nicht gerecht werden. Averroes/Hermann: Poetria S. 45: »Et propter hanc causam utimur in docendo exemplis, ut facilius intelligatur quod dicitur, propter hoc quod in eis est de motivo ymaginative; recipit

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Weil Bilder gleichnishafte Darstellungen sind, empfinden wir an diesen Bildern Freude und versuchen deshalb, ihre Gleichnishaftigkeit zu entschlüsseln. Diese Freude an Gleichnissen macht man sich bei der Vermittlung von Wissen zunutze und setzt sie bewußt ein, um den Prozeß des Lernens zu erleichtern. Die aristotelische Freude an der Nachahmung wird damit bei Averroes in ein didaktisches Modell umgewandelt. Man verwendet gleichnishafte Darstellungen in dem Sinne, in dem man Beispiele verwendet, um einen komplizierten Sachverhalt verständlich zu machen. Da es sich im Falle der Dichtung hauptsächlich um ethisch-moralische Sachverhalte handelt, wie es aus dem Zweck der Dichtung als dem Lob der Tugend und dem Tadel des Lasters hervorgeht, wird die Dichtung damit zu einem didaktischen Instrument der Moralphilosophie. Dieses didaktische Modell kennzeichnet auch Averroes' Neubestimmung der Katharsis, das heißt der Reinigung der Affekte, und dies wäre damit der sechste Punkt. Um eine solche Katharsis zu erreichen, darf der Held der Tragödie, nach Aristoteles 1453a, weder allzu gut noch allzu schlecht sein und muss aufgrund eines Fehlers ins Unglück stürzen. Dieses Schicksal löse beim Zuschauer Furcht und Mitleid aus und führe dadurch zu einer Reinigung. Diese psychologische Theorie arbeitet Averroes in seine moralische Theorie von Lob und Tadel ein: Denn die schönsten Loblieder, die zur Tugend ermahnen, müssen aus einer gleichnishaften Darstellung der Tugenden und aus einer gleichnishaften Darstellung der Sachverhalte bestehen, die Furcht erregen und Schmerz zufügen, und durch die ein Mensch unglücklich wird, wie etwa mißliche Umstände, in die jemand gerät, weil er völlig ohne jede Tugend ist. Solches nämlich ist ein wirksames Mittel, die Menschen dazu zu bringen, die Tugend zu erstreben.25

In genauem Gegensatz zu Aristoteles heißt es also bei Averroes, daß es Furcht erregt, wenn ein Mensch, der ohne jede Tugend ist, ins Unglück gerät. Die Dichtung zeigt, wie ein lasterhafter Mensch sein verdientes Schicksal erfährt und schreckt den Leser auf diese Art von lasterhaftem Verhalten ab. Aus Angst vor einem solchen Schicksal verhalten sich die Menschen tugendhaft. _____________

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ergo anima perfectius proposita secundum delectationem sui quam habet in exemplis. [...] Reperitur enim doctrina naturaliter procedere ab homine ad hominem secundum comparationem quam habet doctor ad discipulum.« Averroes/Mantino/Heidenhain: Paraphrasis S. 367 Z. 25 ff.: »Quoniam laudes pulcherrimae, quae ad virtutem hortantur, debent constare ex imitatione virtutum atque imitatione rerum timorem incutientium doloremque inferentium, quibus homo tristetur, ut est adversa fortuna, in quam incidit, quia est virtutum expers omnino. His enim vehementer anima commovetur ad virtutes assequendas.«

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Die Erregung von Furcht und Mitleid wird bei Averroes nicht zum Zweck einer psychologisch-medizinischen Reinigung der Affekte eingesetzt, sondern analog der rhetorischen Affektenlehre werden Furcht und Mitleid als affektive Argumente eingesetzt, um die Tugend erstrebenswert und das Laster verabscheuenswert erscheinen zu lassen. Durch diese affektiven Argumente erreicht die Dichtung ihren moralischen Zweck. Damit ist schon der siebte, vielleicht wichtigste Punkt des averroischen Begriffs der Dichtung angesprochen, nämlich die Konzeption der Dichtung als logisch-argumentatives Verfahren. Dichtung ist für Averroes eine spezifisch affektive Art der Argumentation, und daraus erklärt sich seine Forderung, die dargestellten Handlungen müßten Glaubhaftigkeit besitzen, damit der Leser tatsächlich von ihnen überzeugt werde.26 Man muß den Sachverhalt, wie ihn eine Dichtung darstellt – eine Person, die sich lasterhaft verhält, gerät ins Unglück – für wahr halten, um ihn als Argument dafür zu akzeptieren, sich selbst nicht lasterhaft zu verhalten. Aufgabe der dichterischen assimilatio ist es, genau diese Art von Glaubhaftigkeit zu erzeugen. Die Bildlichkeit des Gleichnisses garantiert die Überzeugungskraft des dichterischen Arguments. Im Gegensatz zu den zwingend beweisenden, demonstrativen Verfahren der eigentlichen Logik, der scientia demonstrativa, ist die Dichtung ein nicht-demonstratives Verfahren, das heißt, ihre Argumente haben zwar keine zwingende Beweiskraft, können aber einem Sachverhalt durch die Form ihrer Darstellung Überzeugungskraft verleihen. Wenn sich dennoch viele Leser einer Dichtung nicht von tugendhaftem Verhalten überzeugen ließen, ist das nach Averroes darauf zurückzuführen, daß sie aufgrund ihres intellektuellen Niveaus für logisch-argumentative Verfahren von vornherein nicht zugänglich sind.27 Averroes bringt damit die beiden Argumentationsformen in Verbindung mit dem Bildungsgrad der Zuhörer. Während sich höher gebildete Leser durch demonstrative, logisch abstrakte Begründungen, wie sie etwa die Philosophie liefert, von einem tugendhaften Verhalten überzeugen lassen, sind einfachere Menschen eher durch die anschaulich gestalteten Argumente der Dichtung zu überzeugen. Wer sich jedoch weder durch das demonstrative Verfahren der Philosophie, noch durch das nichtdemonstrative Verfahren der Dichtung überzeugen läßt, läßt sich durch Argumente überhaupt nicht überzeugen und gehört zur niedrigsten Sorte von Menschen. _____________ 26 27

Averroes/Mantino/Heidenhain: Paraphrasis S. 368 Z. 34 ff. Averroes/Mantino/Heidenhain: Paraphrasis S. 368 Z. 37 ff.

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Als eine solche spezifische Argumentationsform ordnet Averroes in der Einleitung zu seinem Kommentar zur »Zweiten Analytik« die Dichtung, zusammen mit der Rhetorik, der Logik (scientia demonstrativa) unter. Die Dichtung ist ein Teil der Logik, weil es ihre Aufgabe ist, durch die Findung eines Arguments von einem bestimmten Sachverhalt zu überzeugen.28 Das dichterische Werk selbst ist deshalb als Argument im logischen Sinne zu verstehen. Wenn die Dichtung solcherart einen Teil der Logik bildet, so steht Averroes damit fest in der arabischen Tradition, die schon lange vor ihm die aristotelische »Poetik« den Schriften des »Organon« zugeordnet hatte, das heißt, der logischen Propädeutik, die den eigentlichen Wissenschaften vorausgeht.29 Das aristotelische »Organon« umfaßt die »Lehre vom Satz« (»Peri hermeneias«), die Kategorienschrift, die »Erste Analytik« mit ihrer Lehre vom Syllogismus, die »Zweite Analytik« mit der Beweislehre, die »Topik« mit ihrer Lehre von wahrscheinlichen Schlüssen, die »Sophistik« mit der Lehre vom Trugschluß und eben die »Rhetorik« und »Poetik«. Die unüberschätzbare Bedeutung, die diesem aristotelischen »Organon« in der europäischen Wissenschaftsgeschichte zukommt, dürfte schon bei Wilhelm von Moerbeke dazu geführt haben, daß eine Schrift wie die »Poetik« überhaupt wahrgenommen worden ist. Ihre überlieferungsgeschichtliche Zugehörigkeit zum »Organon« versah sie mit einer Bedeutung, die sie einer Übersetzung würdig erscheinen lassen mußte. Auf der anderen Seite drängte sich die Frage auf, worin diese Zugehörigkeit zum »Organon« begründet war. Genau darauf gibt die Paraphrase des Averroes eine Antwort. Dichtung ist ein Teil der Logik, weil sich die Dichtung logisch-argumentativer Verfahren bedient. Die Dichtung selbst ist ein Argument, weil sie mit dem Lob der Tugend und dem Tadel des Lasters eine Begründung für tugendhaftes und gegen lasterhaftes Verhalten gibt.

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Averroes: Prooemium in libros posteriorum f. 9r f. Vgl. zu dieser Tradition Black: Logic; Dahiyat: Commentary, S. 12-20 und S. 31-45; Endress: Literatur; Galston: Al-Farabi; Heinrichs: Dichtung; Kemal: Poetics; Schoeler: Syllogismus und Walzer: Traditionsgeschichte.

Rezeption der averroischen Poetik Savonarolas »Apologeticus« Es ist hier nicht der Ort, auf die Rezeption und Transformation einzugehen, die die averroische Poetik vom 13. bis zum 15. Jahrhundert erfahren hat. Es genügt, anhand von Girolamo Savonarolas »Apologeticus de ratione poeticae artis« (1492) zu demonstrieren, welche Präsenz der averroische Begriff der Dichtung zu diesem Zeitpunkt hat.1 Gegenstand des »Apologeticus« ist eine Einteilung der Wissenschaften entsprechend ihrer Bedeutung für das menschliche Leben. An erster Stelle steht dabei die Theologie, die angesichts ihres Gegenstandes und der Art und Weise, in der sie diesen erkennt (nämlich auf einem die natürliche Vernunft übersteigenden Weg) genauso weit von den menschlichen Wissenschaften entfernt, wie Gott die geschöpfliche Welt überragt. Innerhalb der menschlichen Wissenschaften gehen die spekulativen Wissenschaften den praktischen an Würde voraus, weil sie im Gegensatz zu diesen nicht aus einem äußeren Zweck heraus existieren. Innerhalb der praktischen Wissenschaften stehen die ethischen Wissenschaften höher als die mechanischen, innerhalb der spekulativen die Metaphysik höher als die mathematischen und diese höher als die naturphilosophischen, so daß innerhalb der menschlichen Wissenschaften die Metaphysik die ranghöchste ist. Den damit umrissenen scientiae reales sind die scientiae rationales an Würde nachgeordnet, denn diese untersuchen als instrumentelle Disziplinen nur, unter welchen Bedingungen die wissenschaftlichen Inhalte der Realwissenschaften gewonnen und dargestellt werden können. Innerhalb des aristotelischen »Organon« als Teil der scientiae rationales ist die »Erste _____________ 1

Weiterer Ausgaben erschienen unter dem Titel »Eiusdem de divisione, ordine ac utilitate omnium scientiarum, nec non poeseos ratione«. Über die in den »Scritti filosofici« S. 397 f. erfaßten Drucke Venedig 1513, 1534 und 1542 hinaus scheint der Text außerdem Venedig 1506, 1516 und 1517 gedruckt worden zu sein. Noch 1596 wird der »Apologeticus« in Wittenberg nachgedruckt. Zum »Apologeticus« vgl. die Einführung in die italienische Übersetzung von Stagnitta, Savonarola: Apologetico; Baur: Einleitungsliteratur S. 391-394; Hardison: Monument S. 14 f.; Greenfield: Poetics S. 246-256. Die französische Übersetzung unter dem Titel »La Fonction de la poésie« von Bruno Pinchard, Paris: L'Age d'homme 1989 war mir nicht zugänglich. Gasparus Sardus hat in seinem »De triplici philosophia commentariolus« (Florenz 1549) den Ansatz Savonarolas noch einmal reformuliert. Zur Rezeption von Savonarolas »Apologeticus« vgl. auch unten das Kapitel »Wimpina gegen Polich«, S. 244.

Rezeption der averroischen Poetik

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Analytik« die würdevollste Disziplin, weil sie den Syllogismus als solchen behandelt. Innerhalb der einzelnen Arten des Syllogismus gilt dann die Reihenfolge entsprechend der Gewißheit, mit der die Schlüsse gezogen werden. Die »Zweite Analytik« hat den demonstrativen Syllogismus zum Gegenstand, bei dem die conclusio mit Notwendigkeit aus den Prämissen folgt und ein absolut gültiges Wissen erzeugt. Besteht der Syllogismus aus wahrscheinlichen Sätzen, erzeugt er eine begründete Meinung und ist Gegenstand der »Topik«, besteht er aus falschen oder kommt durch ungültige Schlüsse zustande, ist er Gegenstand der »Sophistischen Widerlegungen«. Der Rhetorik spricht Savonarola das Enthymem zu, das aus Indizien zu einer bestimmten Ansicht des Sachverhalts kommt, Gegenstand der Poetik ist das exemplum, das über die Erkenntnis von Ähnlichkeiten (similitudines) voranschreitet.2 Damit kommt die Dichtung nicht nur auf den vorletzten Platz des »Organon«, sondern auch auf den vorletzten Platz (gefolgt nur noch von der Lehre von den Trugschlüssen) des gesamten Wissenschaftssystems zu stehen.3 Dieser vorletzte Platz ist nicht wertneutral, sondern entspricht der Würde, die die Dichtung beanspruchen kann. Werden die Wissenschaften in dem verglichen, was sie zum Zweck des menschlichen Lebens, nämlich der »Betrachtung der ersten Wahrheit«, beitragen, kämen die ganzen ›menschlichen‹ Wissenschaften überhaupt nicht in Betracht, denn zu diesem Zweck habe Gott allein die Sakramente gestiftet. Nicht einmal einem Theologen sei die Kenntnis der Wissenschaften nötig, wie jedem, der die Bibel nicht aus Eitelkeit, sondern mit reinem Gewissen lese, klar sein müsse. Das Verständnis der Heiligen Schrift entspringe nicht der menschlichen Vernunft, sondern dem Wirken des Heiligen Geistes. Grotesk sei es deshalb, wenn gerade die Dichtung neben die Heilige Schrift gestellt werde. Auch wenn Savonarola keine Namen nennt, richtet sich dies offensichtlich gegen Ficino und seinen Neuplatonismus, denn genau diese Gleichwertigkeit von Dichtung und Offenbarung hatte Ficino mit dem Begriff der Dichtung als prisca theologia vollzogen.4 Wer den Nutzen oder Schaden der Dichtung abwägen wolle, müsse an erster Stelle deren Gegenstand, das heißt die Beweisform des exemplum, betrachten. Dessen Funktionsweise analysiert Savonarola im An_____________ 2 3 4

Savonarola: Apologeticus S. 221. Savonarola: Apologeticus S. 231. Vgl. unten das Kapitel zum neuplatonischen Begriff der Dichtung, S. 197 ff., bes. S. 212 ff.

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Dichtung als argumentative Disziplin

schluß an Aristoteles, »Analytica priora« II.24 (68b20-69a15) als einen Syllogismus, in dem die Glaubhaftigkeit einer individuellen, partikulären Aussage (daß Thebaner gegen Phokier Krieg führen, ist von Übel) belegt wird, indem ihre Ähnlichkeit (similitudo) zu einer allgemeinen Aussage, oder, anders formuliert, ihre Exemplarizität für diese allgemeine Regel aufgezeigt wird (daß Nachbarn gegeneinander Krieg führen, ist von Übel): Das exemplum nun, wie Aristoteles in der ›Ersten Analytik‹ bezeugt, ist ein Syllogismus, in dem gezeigt wird, daß der mittlere Terminus in dem äußeren Terminus dadurch, daß er einem Dritten ähnlich ist, enthalten ist. Es ist aber notwendig, daß der mittlere und erste Terminus in dem ähnlichen Dritten in evidenter Form enthalten sind. Wenn wir zum Beispiel zeigen wollen, daß es von Übel ist, wenn die Thebaner gegen die Phokier Krieg führen, müssen wir annehmen, daß es von Übel ist, wenn Nachbarn gegeneinander Krieg führen. Diese Wahrheit muß ihre Glaubwürdigkeit aus ähnlichen Fällen bekommen. Ist dies geschehen, wird der Syllogismus auf folgende Art gebildet: Wenn Nachbarn mit Nachbarn Krieg führen, ist dies von Übel; wenn nun die Thebaner gegen die Phokier Krieg führen, dann führen Nachbarn gegeneinander Krieg; also ist es von Übel, wenn die Thebaner gegen die Phokier Krieg führen. Aufgabe des Dichters ist es deshalb, darüber zu unterrichten, aus welchen und wie gearteten Fällen ein exemplum zustande kommt, und in welcher Art und mit welchen Ähnlichkeitsverhältnissen (similitudines) wir diesen Syllogismus auf die unterschiedlichen Arten und Zustände der Menschen und auf all das, was sie betrifft, anwenden müssen.5

Die logische Struktur des exemplum besteht also darin, zu zeigen, daß Kriege zwischen Nachbarn (der mittlere Terminus) von Übel sind (der äußere Terminus), indem man zeigt, daß beide Termini in einem dritten, ähnlichen Fall (Thebaner gegen Phokier) offensichtlich voneinander ausgesagt werden können: Es war von Übel, daß die Nachbarvölker der Thebaner und Phokier gegeneinander Krieg führten. Von einem konkreten Fall (Thebaner gegen Phokier) wird, durch die Bildung einer allgemeinen Regel (Nachbarn gegen Nachbarn), auf einen anderen konkreten Fall (auch dieser Krieg ist ein Krieg zwischen Nachbarn) geschlossen. _____________ 5

Savonarola: Apologeticus S. 247: »Exemplum autem, ut Philosophus testatur in 'prioribus analyticis', est syllogismus in quo medium extremo inesse ostenditur, per id quod est simile tertio. Oportet enim tertio medium et primum simili evidentius inesse: ut si volumus ostendere quoniam Thebanos contra Phocenses pugnare malum est, sumendum est quoniam confines pugnare contra confines malum est. Cuius veritatis fides ex similibus erit facienda, qua facta, syllogismus hoc modo componetur: confines contra confines pugnare malum est; sed Thebanos contra Phocenses pugnare est confines pugnare contra confines; ergo Thebanos contra Phocenses pugnare malum est. Poetae igitur est docere ex quibus et qualibus exemplum constituatur, et quibus modis et similitudinibus ad diversa genera et ad diversos status hominum conditionesque negotiorum hoc syllogismo uti debeamus.«

Rezeption der averroischen Poetik

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Derart beruht die Gültigkeit des exemplum als logische Form auf dem Erweis der Ähnlichkeit zwischen zwei besonderen Fällen.6 Die Aufgabe des Dichters besteht darin, die Gültigkeit der Behauptung, daß es von Übel ist, wenn Nachbarn gegeneinander Krieg führen, durch die Darstellung des Krieges der Thebaner gegen die Phokier zu erweisen. Durch die Darstellung eines konkreten Krieges zwischen Nachbarn wird die Schädlichkeit eines solchen Krieges bewiesen und dadurch von diesem oder jenem konkreten Krieg zwischen Nachbarn abgeraten: So sieht es aus, wenn Nachbarn miteinander Krieg führen, also ist es besser, keinen solchen Krieg zu führen. Wie bei Averroes ist es damit die similitudo, die Ähnlichkeit oder Gleichnishaftigkeit, auf der die logische Gültigkeit der Dichtung beruht. Im Gegensatz zur averroischen Tradition dient jedoch die logische Analyse bei Savonarola ausschließlich dem Zweck, die Minderwertigkeit und den untergeordneten Charakter der Dichtung im System der Wissenschaften zu beweisen. Während die Analytik echtes Wissen erzeugt, die Topik eine begründete Meinung und die Rhetorik immerhin noch eine Ansicht, stellt die Dichtung nur eine Ähnlichkeit zwischen zwei partikularen Fällen dar, die offensichtlich noch weniger als eine Ansicht erzeugt. Die logische Zuordnung der Dichtung bringt es mit sich, daß jeder Dichter logisch ausgebildet sein muß.7 Das angeborene Maß an logischem Vermögen, über das jeder verfügt, genüge nicht, sondern der Dichter muß eine regelrechte logische Ausbildung erhalten haben. Zwar sei der Logikunterricht an den Schulen nichts anderes als eine Vervollkommnung der angeborenen Fähigkeit, aber gerade diese Vervollkommnung sei für den Dichter notwendig. Eigentlicher Zweck der Dichtung ist es, zur Tugend anzuhalten: »Ziel des Dichters ist es, die Menschen durch irgendeine entsprechende Darstellung zur Tugend anzuleiten, auf die Art, auf die man jemandem irgendeine Speise abscheulich macht, indem man sie mit etwas Abscheulichem in Vergleich setzt (repraesentetur sub similitudine).«8 _____________ 6

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Zum Verständnis der logischen Terminologie Savonarolas sind moderne Aristoteles-Übersetzungen wenig hilfreich. Vgl. statt dessen zum Beispiel Aristoteles: Priorum resolutoriorum f. 161v ff. Savonarola: Apologeticus S. 249. Savonarola: Apologeticus S. 248: »Finis autem poetae est inducere homines ad aliquid virtuosum per aliquam decentem repraesentationem, ad modum quo fit homini abhominatio alicuius cibi si repraesentetur ei sub similitudine alicuis abominabilis.« Es handelt sich um ein fast wörtliches Zitat von Thomas von Aquin: Expositio S. 7, seinerseits auf Averroes zurückzuführen. Das Beispiel der durch einen Vergleich abscheulich gemachten Speise geht

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Dichtung als argumentative Disziplin

Indem das Wesen der Dichtung in der logischen Form des exemplum besteht, sind Silbenlänge, Versform, Metrum und Rhythmus bloß akzidentielle Merkmale. Explizit vermerkt Savonarola, daß der Dichter seine Gleichnisse auch in Prosa vorbringen könne und Vers und Metrum nur erfunden worden seien, um die Menschen anzulocken und sie von der logischen Schwäche des exemplum (ein bloßer Schluß von Partikulärem auf Partikuläres zu sein) abzulenken. Wie bei allen anderen Teilen der philosophia rationalis muß nach Savonarola zwischen einer poetica docens und einer poetica utens unterschieden werden. Gegenstand der poetica docens, also der Theorie, ist das exemplum, und in diesem Sinne hat die Dichtkunst ihren untersten Platz im System der Wissenschaften und Künste. Die poetica utens, also die Dichtung selbst, habe dagegen keinen eigenen Platz in diesem System, sondern sei lediglich eines der Instrumente, dessen die anderen Wissenschaften sich bedienen. Als solches partizipiere sie nicht an der Würde ihres Gegenstandes, sondern verhalte sich zu diesem wie der Diener zum Herren oder wie der Hammer zu dem Metall, das er bearbeitet. Gegenstand der Theologie dagegen sei Gott, und wenn die Propheten das Göttliche in Versen beschrieben hätten, so hätten sie sich dabei der Dichtung gar nicht bedient, denn Metrum und Versform gehörten eben nur akzidentiell zur Dichtung. Haben die Propheten sich aber der Form des exemplum bedient, so betrifft dies nur die poetica utens und also sei auch daraus nicht auf den Rang der Dichtung selbst zurückzuschließen.9 Zwischen heidnischer Dichtung und christlicher Prophetie gibt es keine Gemeinsamkeiten. Wo Vergil und Ovid auf Antrieb des Teufels geschrieben hätten, da wären die Propheten vom Heiligen Geist inspiriert, und wo die weltlichen Dichter aus Eitelkeit ihre Verse rezitierten und nur auf ihr Lob bedacht seien, da sprächen die Propheten erfüllt von Demut und Liebe nur zur Ehre Gottes. Nicht äußerer Schmuck, sondern die Wahrheit selbst verleihe ihnen Überzeugungskraft. Die Ausdrucksgewalt (eloquentia) einiger Kirchenväter, wie Hieronymus, Augustinus oder Ambrosius sei kein Argument für die Dichtung, denn was diesen ihre Ausdrucksgewalt verliehen habe, wäre ihr Glaube gewesen, und dieser ist es auch, der nachgeahmt werden sollte.10

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zurück auf Algazali: Logica Algazelis. Introduction and Critical Text. Hg. v. Ch. H. Lohr. In: Traditio 21 (1965), S. 223-290, hier S. 278. Savonarola: Apologeticus S. 248 ff. Savonarola: Apologeticus S. 253 ff.

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Die heidnisch antike Dichtung habe als menschliche Dichtung ferner keinen spirituellen oder allegorischen Schriftsinn wie die Bibel.11 Auch dies richtet sich gegen den Neuplatonismus, wenn etwa Cristoforo Landino die »Aeneis« in genau diesem Sinne interpretiert hatte. Der literale Schriftsinn sei nicht der bloß grammatische, sondern der eigentlich gemeinte Sinngehalt.12 So sei etwa bei den Gleichnissen Jesu nicht die erzählte Geschichte der Literalsinn, sondern die damit intendierte Lehre, und wenn die Bibel vom ›Arm Gottes‹ spreche, dann sei der Literalsinn die Kraft Gottes, denn Gott hat keine Arme. Deshalb hätten auch die exempla oder Gleichnisse der Dichter nur einen literalen Sinn, so daß zum Beispiel die Behauptung, daß Kriege zwischen Nachbarn von Übel sind, die literale Bedeutung einer Darstellung des Krieges zwischen Thebanern und Phokiern ist, nicht etwa die allegorische. Savonarola benutzt damit den logisch-rhetorischen Begriff des Gleichnisses, um theologische Ansprüche der Dichtung auszuschalten – eine Strategie, die in ganz ähnlicher Form nur wenige Jahrzehnte später die Reformatoren benutzen werden, um die interpretative Willkür, die die katholische Kirche durch den vierfachen Schriftsinn ausübte, in ihre Grenzen zu weisen.13 Nach Savonarola müssen, damit man von einem spirituellen Sinn sprechen kann, drei Dinge gegeben sein. Erstens eine historia, das heißt eine tatsächlich geschehene Geschichte, keine Fabel oder Erfindung (fabula seu fictio). Zweitens müsse diese historia einen anderen, gegenwärtigen oder zukünftigen Sachverhalt bedeuten. Drittens sei es notwendig, daß die historia von vornherein darauf angelegt wurde, dieses andere Geschehen zu bezeichnen. Es ist vor allem dieser dritte Punkt, der es unmöglich macht, die historiae der Römer und anderer Völker zu allegorisieren. Nur Gott sei es möglich, das Leben der Menschen, die Orte, Namen, Kriege, Königreiche und alles andere Geschehen in einem solchen Sinne zu lenken, daß dadurch etwas anderes, Gegenwärtiges oder Zukünftiges, bezeichnet werde. Nur der Bibel komme ein spiritueller Sinn zu. Wenn sich die Bibel der Gleichnishaftigkeit bediene, so allein aus Gründen der Notwendigkeit, weil die göttlichen Dinge das Fassungsver_____________ 11 12 13

Savonarola: Apologeticus S. 259 ff. Ähnlich die Argumentation bei Thomas von Aquin: Quodlibeta VII, q. 6, a.3, resp., S. 478. Zu Landinos Vergil-Deutung vgl. unten das gleichnamige Kapitel S. 215 ff. Zu Luthers Prinzip des sola scriptura vgl. unten den »Theologischen Exkurs«, S. 180 ff., zu Melanchthons Ablehnung des allegorischen Schriftsinns unten S. 60.

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Dichtung als argumentative Disziplin

mögen des menschlichen Geistes überstiegen und in ihrem Glanz nur durch ein Gleichnis deutlich gemacht werden könnten. Der Dichter aber bedient sich der Gleichnisse aufgrund der Schwäche seiner Sachverhalte. Wenn er seine Argumente nämlich nicht in Metaphern verhüllen würde, wäre deren Schwäche so groß, daß es vergeblich wäre, sie überhaupt zu bemühen. Denn weil er von Einzelfällen ausgeht, die sich auf unzählige Arten voneinander unterscheiden können, würde er entweder keine oder nur eine geringe Einschätzung (aestimatio) des Sachverhaltes, den er zu beweisen versucht, erzeugen, wenn er die Argumente in ihrer nackten Form vorbrächte.14

Keiner würde den Dichtern zuhören, wenn sie sich nicht der Gleichnishaftigkeit und des sprachlichen Schmuckes bedienten. Zwar sei es nicht so, daß die Dichtung überhaupt keinen Nutzen hätte – schon weil jede Wissenschaft für irgend etwas gut sei –, aber besonders groß ist der Nutzen der Dichtung nicht. Um die Bibel und die Argumentationsform des Gleichnisses zu verstehen, genügten die exempla und Gleichnisse, die sich in der Heiligen Schrift selbst finden, völlig. Was dagegen gerade die heidnischen Dichtungen und Mythen mit ihren dummen, blasphemischen und schlüpfrigen Götterdarstellungen für einen schädlichen Einfluß auf die Jugend hätten, sei offensichtlich. Wenn schon der Heide Platon deshalb die Dichter aus seinem Staat ausschließen wollte, wieviel mehr stehe es da den christlichen Fürsten an, entsprechende Gesetze zu erlassen und die schändliche Literatur dem Feuer zu übergeben.15 Damit empfiehlt Savonarola genau das, was er wenige Jahre später, auf dem Höhepunkt seines politischen Einflusses, mit den »Scheiterhaufen der Eitelkeiten« in Florenz veranstaltet hat. Selbst wenn christliche Dichter keine Liebschaften beschrieben oder Abgöttern huldigten, sondern statt dessen vorbildliches Verhalten in ihren Dichtungen verherrlichten, sei der Nutzen zweifelhaft. Bestenfalls seien diese Dichtungen ein Schmuck der christlichen Religion. Ziel allen irdischen Strebens müsse sein, sich so weit wie möglich von der Welt zu erheben, Dichtung aber ist ein sinnliches Vergnügen und binde die Menschen deshalb auch an ihre Sinne. Um sein Seelenheil nicht aufs Spiel zu setzen, sei es besser, allen Aberglauben und alle Eitelkeit zu fliehen und sich ganz auf das Kreuz Christi und die Einfachheit und Demut der christlichen Lehre zu verlassen.16 _____________ 14

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Savonarola: Apologeticus S. 262 f.: »Poeta vero similitudinibus utitur propter suarum rerum debilitatem; nisi enim metaphoris sua argumenta velaret, tanta est eorum debilitas, quod ipsorum conatus omnino frustraretur. Nam cum a singularibus procedat, quae infinitis modis variari possunt, vel nullam vel modicam aestimationem de re quam intendit probare generaret si nuda argumenta proponeret.« Savonarola: Apologeticus S. 264 f. Savonarola: Apologeticus S. 266 ff.

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Lombardi und Maggi Der Einfluß der averroischen Paraphrase erreicht mit Savonarolas »Apologeticus« einen Höhepunkt. Was Savonarola, von Ficinos Neuplatonismus herausgefordert, so ausführlich darstellt, dürfte ein weit verbreiteter, wenn auch selten so explizit gemachter Begriff der Dichtung gewesen sein: Dichtung ist schlimmstenfalls geist- und gehaltlose Unterhaltung, bestenfalls eine intellektuell anspruchslose Aufarbeitung der Lehrinhalte anderer Disziplinen. Vor diesem Hintergrund mußte die aristotelische »Poetik« mit ihrem enormen begrifflichen Aufwand als zutiefst fremdes Unternehmen anmuten. Sie konfrontierte ihre Leser mit einem technischen Vokabular, das den Exegeten des 16. Jahrhunderts genauso unverständlich scheinen mußte, wie Hermann im 13. Jahrhundert. Die Abkehr von den Grundlagen der averroischen Poetik vollzieht sich deshalb alles andere als einfach, auch wenn Pazzi schon 1527 meinte, Averroes hätte wenig verstanden und was er schreibe, trage nichts zur Sache bei.17 Dies zu erkennen, war eine Sache, sich von averroischen Kategorien zu lösen, eine andere.18 Lombardi definiert die Poetik als »die Fähigkeit, zu erkennen, was für die Darstellung (imitatio) irgendeiner Handlung, eines Gefühls oder einer Verhaltensweise in angenehmer Ausdrucksform verwendet werden kann, um auf das Leben bessernd einzuwirken, darauf ausgerichtet, ein gutes und glückliches Leben zu ermöglichen.«19 Als eine argumentative Disziplin in diesem Sinne sei die Poetik ein Teil der Logik, wie schon Averroes gezeigt habe.20 Während die anderen Teile der Logik – ars demonstrativa, Dialektik und Sophistik – den Syllogismus beträfen, bedienten sich Rhetorik und Poetik der »gleichsam volkstümlicheren Argumentationsformen« (rationibus quasi popularibus) Enthymem und exemplum. Etwas später heißt es, _____________ 17 18

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Paccius, Widmungsbrief, zit. nach Lombardi/Maggi (ohne Seitenzählung [S. 8]). Zu den »Poetik«-Kommentaren des Cinquecento vgl. Barilli: Letteratura; Barilli: Poetica; Hathaway: Age; Herrick: Criticism; Javitch: Assimilation; Kappl: Poetik; Kostić: Catharsis; Miesen: Kontroverse; Lurje: Suche S. 16-27 und S. 78-85; Petersen: Mimesis S. 97-103; Reiss: Theatre; Ryan: Robortello; Salatowsky: Dichtung; Stillers: Deutung; Weinberg: History. Wolff: Theorie. Die Vorworte Pazzis, Lombardis und Maggis hat Bisanti ins Italienische übersetzt, vgl. Bisanti: Maggi. Arbogast Schmitt hat in seinen Arbeiten gezeigt, wie in den Kommentaren des Cinquecento die Interpretation der »Poetik« für die kommenden Jahrhundert präfiguriert wurde, vgl. vor allem Schmitt: Mimesis; Schmitt: Literatur und Schmitt: Poetik. Lombardi/Maggi: Explanationes S. 9: »Poetica est facultas videndi quodcunque accommodatum est ad imitationem cuiusque actionis, affectionis, moris, suavi sermone, ad vitam corrigendam, et ad bene beateque vivendum comparata.« Lombardi/Maggi: Explanationes S. 8.

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die Poetik verwende in der Regel nicht das Enthymem, sondern das exemplum, wobei das Argument aus der Gleichnishaftigkeit (similitudo) stamme.21 Während die Rhetorik aus der Dialektik abzuleiten sei, vor allem politische Fragen (res civiles) betreffe und sich der Prosa bediene, verwende die Poetik zwar die Instrumente der Dialektik, lasse sich jedoch nicht auf diese zurückführen, sei nicht auf politische Fragen beschränkt und bediene sich der Versform. Indem die Poetik alle anderen Wissenschaften voraussetze und der Dichter deren Wissen beherrsche, beherrsche auch die Poetik alle Wissenschaften.22 Damit verwendet Lombardi zwar dasselbe logische Modell wie Savonarola, kommt aber zu einem gegenteiligen Ergebnis. Vincenzo Maggi, der den Kommentar seines Lehrers Lombardi 1550 zusammen mit seinen eigenen »Annotationes« herausgibt, ist bereit, diesem bei Gelegenheit zu widersprechen, wenn auch nicht explizit. So ist Maggi der Meinung, Aristoteles habe sein Buch »De poetica« betitelt, und nicht »De arte poetica«, weil er nicht die Gesetze der Dichtkunst vermittle, um etwa einen Dichter auszubilden – wie Horaz dies getan hat, dessen Buch zu Recht »De arte poetica« betitelt ist –, sondern weil er versuche, das Wesen der Dichtung methodisch zu erfassen.23 Die Pointe an dieser Argumentation ist, daß die aristotelische »Poetik« damit aus dem »Organon« auszugliedern wäre, denn wenn sie keine Technik mehr vermittelt, gibt es keinen Grund, sie zu den instrumentalen Disziplinen des »Organon« zu stellen. Was für die aristotelische Schrift gilt, gelte jedoch wohlgemerkt nicht für die ars poetica, die Poetik als Technik des Dichtens, die weiterhin, mit einem Verweis auf Averroes und Avicenna, Teil der philosophia rationalis bleibt.24 Mit anderen Worten, die ars poetica gehört zur philosophia rationalis, aber die aristotelische »Poetik« ist keine ars, sondern einer Abhandlung über Wesen und Formen der Dichtung. Die Dichtung selbst dagegen gehört nach Maggi zur Moralphilosophie, weil sie darauf abziele, durch die Nachahmung von Handlung und die Anwendung einer angenehmen Ausdrucksweise bessernd auf die Menschen einzuwirken.25 Soweit bewegt Maggi sich in den traditionellen Bahnen der arabischen Dichtungstheorie. Im Unterschied zu dieser sieht Maggi den moralphilo_____________ 21 22 23 24 25

Lombardi/Maggi: Explanationes S. 9. Lombardi/Maggi: Explanationes S. 10. Lombardi/Maggi: Explicationes S. 14 und S. 28 f. Lombardi/Maggi: Explicationes S. 16. Lombardi/Maggi: Explicationes S. 13: »Finis autem ipsius Poesis est, actiones humanas imitando, suavi sermone animum excultum reddere.«

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sophischen Zweck der Dichtung aber nicht nur durch die argumentative Funktion des exemplum erfüllt, sondern auch durch die tragische Katharsis. Maggi ist damit einer der ersten, der die Katharsis-Lehre mit dem allgemeinen Zweck der Dichtung, ihrer argumentativen Funktion, zu vermitteln versucht. Damit wird eine zukunftsweisende Verbindung zwischen der Affektenlehre, wie sie die Katharsis impliziert, und dem moraldidaktischen Zweck der Dichtung hergestellt. Es ist Maggi unmöglich, sich vorzustellen, daß die Seele von Furcht und Mitleid gereinigt werden soll, wie es die »Poetik« fordert. Merkwürdig wäre es, wenn die Tragödie von Furcht und Mitleid reinigen solle, wo diese Gefühle für das menschliche Geschlecht doch so bedeutsam seien. Viel wichtiger wäre es, die menschliche Seele vom Zorn zu reinigen, der für soviel Morde verantwortlich ist, vom Geiz, der die Ursache von soviel Übel ist, oder von der luxuria, der zuliebe die schrecklichsten Verbrechen begangen werden. Die Tragödie reinige also nicht von Furcht und Mitleid, sondern durch Furcht und Mitleid reinige sie von Leidenschaften wie dem Zorn oder dem Geiz.26

Robortello Francesco Robortello nennt Averroes den einzigen der bisherigen Kommentatoren, der zur Kenntnis der »Poetik« etwas beigetragen habe, jedoch aufgrund der schlechten lateinischen Übersetzung – Robortello zitiert die Übersetzung Hermanns – schwer zu benutzen wäre.27 In leichter Abwandlung der arabischen Tradition stellt Robortello die Poetik auf den fünften Platz hinter demonstratoria, Dialektik, Rhetorik und Sophistik. Aufgabe der demonstratoria ist es, dem Wahren Ausdruck zu geben, während die Dialektik dem Glaubhaften, die Rhetorik dem Überzeugenden, die Sophistik dem »Anschein des Wahrheitsähnlichen« (verisimilis habet speciem) und die Poetik dem Falschen oder Erdichteten (falsum seu fabulosum) gewidmet sei. Auf diese Art bilde die Dichtung den Gegensatz zur demonstratoria. Vergleiche man die Stufen der Erkenntnis mit dem Sehvermögen, ist die demonstratoria scharfsichtig und die Dichtung augenkrank und fast blind.28 _____________ 26 27 28

Lombardi/Maggi: Explicationes S. 97 f. Robortello: Explicationes, unpag. Vorrede »ad lectorem«. Zu Robortello vgl. Diano: Robortello; Donadi: Robortello; Vega Ramos: Formación; Zeuch: Aporien. Robortello: Explicationes S. 1.

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Mit genau derselben, für die Legitimität der Dichtung doch anscheinend höchst gefährlichen Konsequenz bestimmt Robortello Erdichtung und Lüge (fabula et mendacium) als Zweck der Dichtung. Wenn dieser die Lügenhaftigkeit nicht zur Verdammung gereicht, liegt dies am Prinzip des Paralogismus, einer Form des Trugschlusses, dessen Prinzip es sei, aus einem Syllogismus mit falschen Prämissen wahre Schlußfolgerungen abzuleiten.29 Wie genau dies zu verstehen ist, erklärt Robortello in seinem Kommentar zu Aristoteles 1451b, wo es heißt, »daß es nicht Aufgabe des Dichters ist mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, das heißt das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche.« Robortello sieht sich vor das Problem gestellt, daß die antike Dichtung zu weiten Teilen dieser Forderung widerspricht und voll ist von empirisch unmöglichen Dingen – Götter, die Nektar trinken und verwundbar sind, Aeneas, der in die Unterwelt hinabsteigt, Sirenen und Zyklopen, sprechende Wolken bei Aristophanes sind einige seiner Beispiele. Seine Lösung dieses Widerspruchs geht von der Unterscheidung zwischen empirisch möglichen Erfindungen (secundam naturam) und empirisch unmöglichen Erfindungen (praeter naturam) aus. Die aristotelische Forderung nach Wahrscheinlichkeit, also Erfindungen secundam naturam, betreffe ausschließlich die Tragödie, im Epos und in der Komödie dagegen seien Erdichtungen praeter naturam möglich. Diese empirisch unmöglichen Erdichtungen unterscheidet Robortello weiter in solche, die es nach der Meinung des Volkes gibt und die für möglich gehalten werden und solche, die neu erfunden werden. Hier setzt das Prinzip des Paralogismus an, wie Robortello es im Anschluß an »Poetik« 1460a entwickelt. Die Dichter bedienten sich der Lügen und Erdichtungen, um aus diesen als material falschen Prämissen wahre Sätze abzuleiten.30 Diese wahren Sätze entstammten der Natur- und Moralphilosophie, so daß es sich bei der Dichtung um eine Form der Philosophie handle. Robortello unterscheidet drei Arten des Philosophierens. Bei der eigentlichen Form bedienten sich die Philosophen einer eigentümlichen, also nicht bildlichen Sprache und bewiesen die Wahrheiten in offener Form, wie dies etwa Aristoteles getan hat. Bei der mathematischen Form, wie sie etwa Platon im »Timäus« praktiziert habe, drückten die Philosophen ihre Wahrheiten durch Zahlenverhältnisse aus. _____________ 29 30

Robortello: Explicationes S. 2. Robortello: Explicationes S. 86 ff.

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Bei der bildlich-mythologischen Form schließlich, eben der dichterischen, erfänden die Philosophen entweder selbst Mythen und Fabeln (Robortello dürfte hier an die platonischen Mythen denken) oder übernähmen diese Mythen vom Volk und gäben ihnen eine neue Bedeutung.31 Mythische Figuren wie Zeus oder Saturn werden also für bestimmte natürliche Elemente oder psychologisch-moralische Verhältnisse eingesetzt und für eine Art philosophische Geheimsprache instrumentalisiert – etwa in dem Sinne, in dem Salutati in »De laboribus Herculis« diese Mythen zu entschlüsseln versucht hatte. Der Paralogismus besteht darin, daß die Mythen als solche, die die Prämissen des Syllogismus bilden, falsch sind, die natur- und moralphilosophischen Behauptungen aber, die aus ihnen abgeleitet werden, wahr sind. Obwohl Athene nicht aus dem Schenkel von Zeus geboren worden sein kann, stimmt es, daß die Weisheit ihren Ursprung in Gott hat. Es ist diese zweite Bedeutungsebene, die es für Robortello so leicht macht, die Falschheit und Lügenhaftigkeit der literalen Bedeutung einzugestehen. Gelegentlich scheint Robortello der Überzeugung zu sein, daß die Dichter die Mythen der Philosophen tradieren, ohne deren eigentliche Bedeutung erkannt zu haben.32 Die Dichter würden sich also auch unwissentlich der logischen Form des Paralogismus bedienen und – nur aus Vergnügen an Mythen und Fabeln – Wahrheiten tradieren, die sie selbst nicht verstanden haben. Dem entspräche, daß Robortello das Vergnügen zum einzigen Zweck der Dichtung erklärt, auch wenn er nicht bestreitet, daß die Dichtung nützen könne. Das Vergnügen der Dichtung entspringe aus der Nachahmung, deswegen sei es ihr mit der Bildhauerei und Malerei gemeinsam. Die Feststellung Donats (Robortello zitiert sie unter dem Namen Ciceros), die Komödie sei eine Nachahmung des Lebens, ein Spiegel der Sitten und ein Abbild der Wahrheit, könne auf alle Gattungen der Dichtung übertragen werden. Die starke emotionale Wirkung der Nachahmung komme durch das Vorstellungsvermögen des Zuschauers oder Zuhörers zustande, das diesen unmittelbar am Geschehen teilhaben lasse. Es sei die Lebendigkeit und Anschaulichkeit der Darstellung, die die Macht habe, Menschen in Zorn zu versetzen und wieder zu besänftigen, sie zum Lachen oder Weinen zu bringen.33 Der Nutzen der dichterischen imitatio ist das Lob der Tugend und der Tadel des Lasters, denn durch Lob würden die Menschen zur Nachah_____________ 31 32 33

Robortello: Explicationes S. 88. Robortello: Explicationes S. 89. Robortello: Explicationes S. 2 f.

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mung angeregt, durch Tadel von den Lastern abgeschreckt. Die Darstellung »schrecklicher Dinge und Gefahren« vermindere Wagemut und Tollkühnheit der Menschen, die Darstellung beklagenswerter Geschehnisse errege dagegen Sanftmut und Mitleid.34 Auch für Robortello ist die aristotelische Katharsis in diesem Sinne als Instrument der moralischen Besserung zu verstehen, nur daß für ihn dieser Besserungseffekt tatsächlich in der Reinigung, das heißt Befreiung von Furcht und Mitleid besteht. Indem die Zuschauer Zeugen von furchtbaren und beklagenswerten Ereignissen werden, gewöhnten sie sich an Schmerzen, Furcht und Mitleid und empfänden dann eigenes Leid nicht mehr so stark. Durch den Vergleich mit dem Leid, das sie auf der Bühne sehen, lernten sie, ihr eigenes Leid gering zu schätzen.35 Den damit implizierten Begriff von Nachahmung als Gleichnishaftigkeit erklärt Robortello unter Rekurs auf den averroischen Begriff der assimilatio, das In-Vergleich-Setzen. In seinem Kommentar zu Aristoteles 1448a – »Demzufolge werden Handelnde nachgeahmt, die entweder besser oder schlechter sind, als wir zu sein pflegen« – schreibt Robortello, ihm gefalle sehr gut, wie Averroes diese Stelle erkläre, wenn er die imitatio darin erkenne, durch eine Übereinstimmung des In-Vergleich-Gesetzten (assimilati) mit dem InVergleich-Setzenden (assimilabili) zu zeigen, was gut und was schlecht ist, das heißt was tugendhaft und was lasterhaft ist. Woraus notwendigerweise folgt, daß entweder gute oder schlechte Menschen nachgeahmt werden. Etwas später heißt es [bei Averroes]: Alle diejenigen, die etwas darstellen oder in Vergleich setzen (repraesentatores et assimilatores), bezwecken, bestimmte willentliche Handlungen hervorzurufen oder von solchen abzuhalten. Also wird notwendigerweise das, was diese durch ihre Darstellungen bezwecken, entweder Tugend oder Laster sein. Denn jede Handlung und jede Handlungsweise beruht auf einem von diesen beiden, auf Tugend oder Laster.36

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Robortello: Explicationes S. 3. Robortello: Explicationes S. 53. Robortello: Explicationes S. 19: »Placet mihi magnopere ea, quae hoc loco ab Averroe dicuntur [...]. Imitatio, seu (ut illius utar verbo) assimilatio est, per quam intenditur convenientia assimilati cum suo assimilabili propter ostensionem decentis, aut turpis, id est virtutis, et vitii. Ex quo consequitur, necesse est, ut imitentur aut bonos, aut malos. Idem paulopost sic ait. Omnes repraesentatores, et assimilatores habent hoc sibi propositum, ut incitent ad quasdam actiones, quae circa voluntaria consistunt, et retrahunt a quibusdam. Erunt igitur necessario ea, quae intendunt per suas repraesentationes aut virtutes, aut vitia. Omnis enim actio, et omnis mos non versatur, nisi circa alterum istorum, videlicet virtutum, et vitium.« Robortello zitiert die Übersetzung Hermanns, vgl. Averroes/ Hermann: Poetria S. 43 f.

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Zabarella Die ausführlichste Begründung des argumentativen Zweckes der Dichtung findet sich in Iacopo Zabarellas Abhandlung »De natura logicae« (1578).37 Entsprechend der aristotelischen Schriften des »Organon« zerfalle die Logik in einen allgemeinen und einen besonderen Teil, wobei zum besonderen Teil neben der »Zweiten Analytik«, der »Topik« und der »Sophistik« auch »Rhetorik« und »Poetik« gehörten. Obwohl diese Zuordnung von »Rhetorik« und »Poetik« sich bereits bei Ammonius und Averroes finde, hätte niemand sie bisher überzeugend begründet.38 Ars demonstrativa, Dialektik und Sophistik unterschieden sich voneinander entsprechend des unterschiedlichen Gebrauches, den sie von der syllogistischen Form machen. Die »Zweite Analytik« zeige, wie der Syllogismus anzuwenden sei, um ein notwendig wahres Wissen zu erzeugen, die Dialektik, wie er durch glaubhafte Behauptungen eine bestimmte Meinung erzeuge, und die »Sophistischen Widerlegungen«, auf welche Art der Syllogismus täuschen könne.39 Im Gegensatz zu diesen drei Wissenschaften könnten Rhetorik und Poetik instrumentelle Wissenschaften nur in einem beschränkteren Sinne heißen, indem sie Instrumente nur des Teiles der Moralphilosophie wären, der lehre, wie man andere zu guten Menschen mache.40 Die Rhetorik sei ein solches Instrument, indem sie Gesetze für eine überzeugende Rede formuliere, die Poetik, indem sie Gesetze formuliere, nach denen Handlungen erdichtet werden, die als gute nachgeahmt und als schlechte vermieden werden müssen. Die aristotelische Katharsis bezieht Zabarella auf die gesamte Dichtung und versteht sie als Besserung der Sitten, indem durch Furcht und Mitleid die Seele von negativen Affekten gereinigt wird. Damit schließt sich Zabarella – wenn auch ohne dies zu vermerken – der Interpretation Maggis an. Wenn das primäre Ziel der Dichtung der gesellschaftliche Nutzen, das heißt die Besserung menschlichen Verhaltens sei, so könne Dichtung dennoch auch Vergnügen erregen, worauf sich das Horazische »prodesse et delectare« bezieht. Dichter, die jedoch das Vergnügen zum einzigen Zweck ihrer Dichtungen machen, mißbrauchten sie. Dieser mögliche Mißbrauch – aufgrund dessen Platon die Dichter aus seinem Staat ver_____________ 37

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Zu Zabarellas Bestimmung von Rhetorik und Poetik vgl. Edwards: Zabarella; Mikkeli: Response S. 59-79 und Tonelli: Zabarella. Im deutschsprachigen Raum erscheint »De natura logicae« bis 1623 in mehreren Ausgaben. Zabarella: De natura logicae Sp. 71. Zabarella: De natura logicae Sp. 74. Zabarella: De natura logicae Sp. 79 ff.

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bannte – ist, genauso wie der Mißbrauch der Rhetorik, gerade aufgrund des instrumentellen Charakters beider Disziplinen nicht auszuschließen, könne aber nicht zum Maßstab ihrer Bewertung gemacht werden.41 Als instrumentelle Disziplinen sind Rhetorik und Poetik Teile der Logik, weil sie sich argumentativer Formen bedienen. Daß die Rhetorik sich argumentativer Formen bedient, wird niemand bezweifeln. Wie bei der Dialektik ist ihr Inhalt das Glaubwürdige und Wahrscheinliche. Indem aber Zabarella die logischen Disziplinen nicht mehr über ihren Inhalt, sondern über ihren Zweck unterscheidet, besteht der Unterschied zwischen Rhetorik und Dialektik darin, daß die Dialektik nur auf die Erkenntnis ausgerichtet ist, die Rhetorik darüber hinaus aber noch auf eine Handlung des Zuhörers. Aus diesen verschiedenen Zwecken leiten sich alle anderen Unterschiede ab, etwa daß die Rhetorik sich sprachlich ausgestalteter Formen bedient und die Dialektik der ›nackten‹ Argumente, daß die Rhetorik exempla und Enthymeme verwendet, die Dialektik syllogistische Formen, daß die Inhalte der Rhetorik eher öffentlicher Natur sind und die der Dialektik eher wissenschaftlicher Natur.42 Die Poetik dagegen könne nicht nur deshalb ein Teil der Logik sein (wie Riccoboni es später behaupten wird), weil sich etwa die dargestellten Personen in einem Drama logischer Formen wie exemplum und Enthymem bedienten, wenn sie argumentieren. Nicht durch die Anwendung logischer Formen (was alle Disziplinen und Wissenschaften tun) werde eine Disziplin zu einem Teil der Logik, sondern durch die Formulierung von Regeln zur Anwendung argumentativer Formen. Daraus folgt auch, daß nicht die Dichtung selbst, die nur eine Anwendung von Regeln ist, ein Teil der Logik (und damit Teil einer wissenschaftlichen Disziplin) sein kann, sondern nur die Poetik. In genau demselben Sinne sei die Dichtung auch nicht ein Teil der Rhetorik, nur weil sie sich zu Zwecken der imitatio rhetorischer Formen bediene.43 Nicht durch die Nachahmung logischer Formen werde die Dichtung zu einem Teil der Logik, sondern indem sie selbst, als ganze, Ausdruck einer argumentativen Absicht sei, und zwar in exemplarischer Form: Die Verhaltensweisen, Gefühle und Handlungen der Menschen, die in Dichtungen eingeführt werden, sind exempla, die den Zuschauern vorgeführt werden, um

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Zabarella: De natura logicae Sp. 82 ff. Zabarella: De natura logicae Sp. 86 ff. Zabarella: De natura logicae Sp. 94.

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nachgeahmt oder vermieden zu werden. Natürlich sind es erfundene exempla, aber sie sind erfunden, um die Verhaltensweisen der Menschen zu bessern.44

Während die Rhetorik Regeln für den Gebrauch von Enthymemen und exempla aufstelle, habe die Poetik nur die argumentative Form des exemplum zu ihrem Gegenstand, und dies sei es, was sie zu einem Teil der Logik mache, wenn auch nur zu einem »geringen und unbedeutenden« (exigua et obscura).45 Der entscheidende Unterschied zur Rhetorik bestehe darin, daß die Rhetorik, wenn sie das exemplum verwende, dies nur in sprachlicher Form tut, die Dichtung dagegen ihre exempla den Zuschauern und Zuhörern als tatsächliches Geschehen vor Augen stellt.46 Die Enthymeme und exempla, die die dargestellten Personen selbst verwenden, dienten dagegen nicht der moralischen Besserung der Zuschauer, sondern sollten die Verhaltensweisen und Gefühle der dargestellten Personen charakterisieren. Mit dem exemplum als Gegenstand der Poetik bediene sich die Dichtung einer Kurzform der Induktion, wobei der Grund für die Verkürzung darin bestehe, daß beim Zuhörer eine Handlung hervorgerufen werden solle.47 Während die vollständige Induktion aus den Einzelfällen auf die allgemeine Regel schließt, geht das exemplum noch einen Schritt weiter und schließt von dieser allgemeinen Regel wieder auf einen Einzelfall zurück. Weil Handlungen aber immer konkrete sind und also Einzelfälle darstellen, sei das exemplum als argumentative Form besser dafür geeignet, von einer bestimmten Handlung zu überzeugen, als die Induktion, die auf die allgemeine Regel zielt.48 Die ganze Dichtung stelle deshalb die Prämissen eines exemplum dar, aus denen der Zuhörer oder Zuschauer eine Schlußfolgerung für sein eigenes Verhalten ziehen müsse.49 Ausgehend von dieser Analyse plädiert Zabarella für eine neue Klassifikation von Rhetorik und Poetik. Das »Organon« sei der gesamten Philosophie vorgeordnet, weil es die Werkzeuge jeder Wissenschaft bereitstelle. Da dies Rhetorik und Poetik jedoch nicht betreffe, die eben nur auf das Verhalten der Menschen ausgerichtet wären, seien beide aus dem »Organon« auszugliedern und derjenigen Wissenschaft, zu der sie als Instrumente gehörten – der Moralphilosophie –, zuzuordnen. Genauer gesagt seien _____________ 44

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Zabarella: De natura logicae Sp. 95: »[...] hominum mores, et affectiones, et actiones, quae in poematibus introducuntur, exempla sunt, quae imitanda, vel evitanda spectatoribus proponuntur; ficta quidem a poetis, tamen apta ad mores hominum corrigendos.« Zabarella: De natura logicae Sp. 95. Zabarella: De natura logicae Sp. 95. Zabarella: De natura logicae Sp. 95. Zabarella: De natura logicae Sp. 95. Zabarella: De natura logicae Sp. 95.

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sie dieser nachzuordnen, weil sie nicht deren Erkenntnis dienten, sondern nur Instrumente ihrer Anwendung seien.50 Rhetorik und Poetik sind also durch ihren instrumentellen Charakter Teile der Logik, durch ihren Zweck aber angewandte Moralphilosophie.

Riccoboni Im selben Jahr wie Zabarella, 1578, verweist auch Antonio Riccoboni auf Averroes. Dieser hätte die Poetik zur Logik gerechnet und damit die gelehrtesten Männer herausgefordert, eine Begründung für diese Zuordnung zu geben. Lombardi, Thomas von Aquin und Zabarella51 kämen seiner Überzeugung nach alle darin überein, daß die Dichtung aus diesem Grund zu den Teilen der Logik zu zählen wäre, weil sie ihre Art der Argumentation, auch repraesentatio oder exemplum genannt – deren assumptio [das heißt die Prämissen des Syllogismus] auf der Bühne zu sehen ist, wogegen die conclusio im Geist des Zuschauers entsteht –, ohne jede sprachliche Form bildet, auch wenn alle anderen Teile der Logik sich eben dieser sprachlichen Form bedienen.52

Nach Riccoboni bestünde also die Gemeinsamkeit aller drei Ansätze darin, im Begriff des argumentum, der repraesentatio oder des exemplum die logisch vermittelte Erkenntnis in das Verhältnis zwischen Bühne und Zuschauer zu legen. Auf der Bühne werden die Prämissen eines Syllogimus dargestellt, der Zuschauer zieht daraus die conclusio. Riccobonis eigene Begründung dagegen verlegt den logischen Prozeß ins Innere der Handlung, in die Lehre von der tragischen Erkenntnis (agnitio, Anagnorisis). Wie die Rhetorik ein Teil der Logik sei, weil sie lehre, wie der Syllogismus in Form des Enthymems oder des exemplum innerhalb des gedanklichen Ausdrucks einer Person (sententia) anzuwenden ist, so sei die Poetik Teil der Logik, weil sie die Anwendung des Syllogismus oder Enthymems in der Handlung lehre, insofern an einer Person demonstriert werde, wie sich bei ihr die Erkenntnis (agnitio) vollzieht.53 _____________ 50 51 52

53

Zabarella: De natura logicae Sp. 97 ff. Riccoboni: Poetica S. 2 und S. 85. Riccoboni gibt Zabarellas Begründung allerdings falsch wieder, vgl. Mikkeli: Response S. 74 f. Riccoboni: Poetica S. 85: »Putant igitur hac de causa poeticam inter partes logicae recenseri, quod argumentationem quandam suam, vel repraesentationem, vel exemplum nuncupatam, sine ulla oratione conformet, cuius assumptio in scenis spectetur, conclusio vero in mente spectatorum formetur; etiam si ceterae omnes partes logicae in ipsa oratione argumentationem pertractent.« Riccoboni: Poetica S. 86.

Rezeption der averroischen Poetik

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Indem die Handlung nach Aristoteles das Wesen der Dichtung ausmache und deren wichtigster Teil wiederum die Erkenntnis sei, hält Riccoboni es für gerechtfertigt, die Poetik der Logik zuzurechnen, auch wenn die Dichtung über die tragische Erkenntnis hinaus vieles erfordere, was nicht zur Logik gehöre. Damit tut Riccoboni genau das, was Zabarella bereits als unmöglich zurückgewiesen hatte, nämlich die Begründung der logischen Zuordnung mit der Tatsache, daß die dargestellten Personen selbst sich argumentativer Formen bedienten. So wenig überzeugend diese Begründung ist, so sehr ist sie bereits ein Indiz für die Tatsache, daß die logische Bestimmung der Dichtung als exemplum oder Analogieschluß – und damit ihre Klassifikation als Teil des »Organon« – mit der aristotelischen Bestimmung der Handlung als »Seele der Dichtung« schlecht zu vereinbaren ist. Wenn die Handlung nur ein exemplum wäre, dann sind die komplizierten Bestimmung von Peripetie, Anagnorisis oder Hamartia, denen doch der größte Teil der »Poetik« gewidmet ist, schwer zu erklären. Die Tatsache, daß Riccoboni die logische Zuordnung zu einem Aspekt der Anagnorisis marginalisiert, ist als Indiz in diesem Sinne zu werten.

Campanella Je mehr die aristotelische »Poetik« erschlossen wird, desto deutlicher wird, daß eine simple moraldidaktische Instrumentalisierung der Dichtung mit ihr nicht zu haben ist. Daraus kann man drei verschiedene Konsequenzen ziehen. Erstens kann man sich bemühen, den aristotelischen Begriff der Dichtung dennoch, so weit es irgend geht, mit der moraldidaktischen Instrumentalisierung zu vermitteln, wie dies etwa schon Maggi oder Robortello versucht hatten. Zweitens kann man die Andersartigkeit des aristotelischen Dichtungsbegriffes anerkennen, die moraldidaktische Instrumentalisierung aufgeben, und sich auf die Exegese der technischen Begrifflichkeit der »Poetik« konzentrieren. Diese Konsequenz wird Heinsius in seiner »Constitutio tragoediae« (1611) ziehen. Drittens kann man die Andersartigkeit des aristotelischen Dichtungsbegriffes anerkennen, sich von der aristotelischen »Poetik« abkehren und eine moraldidaktische Poetik gegen Aristoteles entwickeln. Diesen Weg, den später implizit die meisten Poetiken des 17. Jahrhunderts gehen, hat explizit Tommaso Campanella gewählt.

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Campanella schreibt seine »Poetica« – 1596 in einer italienischen, 1612 in einer lateinischen Fassung entstanden, 1638 in Paris gedruckt – als Teil einer »Philosophia rationalis«, innerhalb derer die Poetik hinter Grammatik, Logik und Rhetorik zu stehen kommt.54 Von Logik und Rhetorik unterscheidet sich die Dichtung durch ihren Anwendungsbereich. Wo logische Argumentationsformen an Schule und Universität angewandt werden und rhetorische in der Kirche und der Politik, verwendet man die dichterischen dort, wo man die Menschen unter dem Vorwand, sie bloß unterhalten zu wollen, belehren kann.55 Im Gegensatz zur logischen und rhetorischen Argumentation wendet sich die dichterische an Zuhörer, die ungebildet und nicht fähig sind, der Belehrung in eigentlicher Form zu folgen. Definierendes Merkmal der Dichtung ist die metrische Form.56 Damit kann Campanella den lyrischen Formen wie Elegie, Hymne und Psalm, genauso wie den Lehrgedichten, denen Aristoteles aufgrund mangelnder Handlung den Namen der Dichtung verweigern hat, Gerechtigkeit wiederfahren lassen. Auf der anderen Seite ist Campanella seinerseits gezwungen, allen literarischen Prosaformen den Namen der Dichtung zu bestreiten.57 Würden Handlung und Fiktionalität, wie Aristoteles es wolle, das Wesen der Dichtung ausmachen, wären Ovid mit seiner »Liebeskunst« und Vergil mit seinen »Georgica« keine Dichter, wohl aber mit den »Metamorphosen« und der »Aeneis«. Orpheus, Musäus, Horaz und Petrarca könnten keine Dichter heißen, statt dessen wären Platon, Boccaccio und Äsop Dichter, obwohl sie, wie Campanella schreibt, nur Dialoge geschrieben und Personen nachgeahmt hätten. Die christlichen Hymnen wären nur das Werk von Versifikatoren, während die »Amadis«-und »Artus«-Romane und ähnlich schädliche Lügengeschichten das Werk von Dichtern wären. Absurd wäre es, zu behaupten, Lukan wäre ein Dichter, wenn er die Taten Cäsars erfunden hätte, aber er sei kein Dichter, weil sie wahr sind.58 »In diametralem Gegensatz zu Aristoteles«, wie es bei Campanella heißt, könne deshalb die Handlung nicht das Wesen der Dichtung ausma_____________ 54

55 56 57 58

Ich zitiere nach der kritischen Ausgabe von Firpo, vgl. Campanella: Poetica. Eine Teilausgabe der lateinischen Poetik mit italienischer Übersetzung findet sich in Campanella: Opere S. 905-1219 und in Campanella: Opere letterarie S. 457-663. Zu Campanellas Poetik vgl. Bolzoni: Poetica und Corsano: Poetica. Campanella: Poetica S. 219. Campanella: Poetica S. 220. Campanella: Poetica S. 244 f. Campanella: Poetica S. 247 ff.

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chen.59 Der Erfindung dürfe sich der Dichter überhaupt nur bedienen, wo kein wahres exemplum zur Verfügung stehe. Grundsätzlich teile die fabula mit dem exemplum den Charakter der Gleichnishaftigkeit (similitudo), das heißt sie dient als Handlung nur dazu, die ihr zugrundeliegende Wahrheit oder Lehre zu vergegenwärtigen. Das exemplum ist deshalb die logische Form der Dichtung: »Die ganze Dichtung ist ein Argument aus dem exemplum« heißt es in Campanellas »Dialectica«, die im übrigen das exemplum nach der aristotelischen Formel als einen Schluß von einem Einzelfall auf einen anderen definiert.60 Die moraldidaktische Belehrung durch Lob der Tugend und Tadel des Lasters ist deshalb auch der Zweck der Dichtung, nicht die Nachahmung.61 Was nicht moraldidaktisch in diesem Sinne ist, ist keine Dichtung, und mit diesem Argument bestreitet Campanella, daß Homer, Catull und Martial Dichter sind. Vergil sei wegen der schamlosen Dido-Geschichte allen Tadels würdig. Nur seine »Georgica« seien es wert, erhalten zu werden.62 Die Notwendigkeit einer exemplarischen Darstellung ergibt sich aus dem entweder schwer zu verstehenden oder unangenehmen Charakter der Lehre. Oft mißfällt es den Zuhörern, auf ihre Fehler hingewiesen zu werden, oder es langweilt sie, sich moralische Belehrungen anzuhören. Deshalb verwende der Dichter figürliche Ausdrucksweisen (transfigurationes sermonis), »in denen er das eine sagt und etwas anderes bezeichnet, und das Schwerverständliche durch das Leichtverständliche erläutert.«63 Metapher, Allegorie, Gleichnis (parabola) und fabula hätten als solche figürlichen Ausdrucksweisen denselben Ursprung, indem sie alle nacheinander aus der Ähnlichkeit der Sachverhalte (a similitudine rerum) entstanden sind.64 Während Metapher und Allegorie sich aber auf rein sprachlicher Ebene bewegten, seien es bei Gleichnis und fabula die Sachverhalte selbst, die etwas anderes bedeuten. Während das Gleichnis, wie es sich etwa im Neuen Testament findet, ausschließlich auf die ihm zugrundeliegende Lehre verweist, können in der fabula für sich bedeutsame Personen und Ereig_____________ 59 60 61 62 63 64

Campanella: Poetica S. 247. Campanella: Dialectica S. 394: »Tota poëtica est argumentum ab exemplo.« Campanella: Poetica S. 244. Campanella: Poetica S. 254 und 259 f. Campanella: Poetica S. 239: »Propterea poëta, non contentus carmine, addidit transfigurationem sermonis, in quo aliud dicit et aliud significat et per clara obscura patefacit.« Campanella: Poetica S. 264 f.

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nisse zum exemplum werden.65 In diesem Sinne zeige die Tragödie mit den Schicksalsschlägen und dem Tod der Fürsten, daß diese nicht auf ihr Glück vertrauen dürften. Die Komödie zeige, wie sich die Menschen als solche verhielten. Abgesehen von der metrischen Form ist es die »ideale« Gestaltung, die den spezifisch dichterischen Gebrauch von exemplum und fabula ausmacht, im Gegensatz zur Geschichtsschreibung. Als Ausdruck einer idea sei das exemplum in seinem Sein etwas Besonderes, in seiner darstellenden und mahnenden Absicht aber etwas Allgemeines. Dichter und Historiker haben also beide das Besondere als Stoff, nur daß es vom Historiker als Sachverhalt beschrieben wird, vom Dichter aber als exemplum.66 Wo der historia der herausragende Charakter fehle, müsse sich der Dichter einer fabula bedienen und der historia dadurch exemplarischen Charakter verleihen. Dieser Charakter fehle dem Geschichtswerk Herodots. Auch in Verse gebracht, sei er einer Dichtung nicht würdig. In ihrer Ablehnung der Fiktionalität, der Forderung nach Gleichnishaftigkeit, moraldidaktischen Inhalten und metrischer Form steht die Poetik Campanellas in der Tradition der averroischen Poetik, nur daß Campanella jetzt, am Ende des 16. Jahrhunderts, nicht mehr behauptet, daß es sich dabei um eine aristotelische Tradition handle. Diese bewußte Abkehr von der aristotelischen »Poetik« ist für das 17. Jahrhundert richtungsweisend.

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Campanella: Poetica S. 241. Campanella: Poetica S. 258.

Nachahmung als Gleichnishaftigkeit Poetik des 15. Jahrhunderts Petschmessingsloer, »Ecloga Theoduli«, Gossenbrot Christoph Petschmessingsloer ist in der Einleitung zu einem JuvenalKommentar (1461), der sich kurz mit dem Wesen der Dichtung beschäftigt, stark von averroischen Kategorien (die er als aristotelische kennt) geprägt.1 Mit einem Zitat von Alanus' »De planctu naturae« versichert er denjenigen, die die Dichter Lügner schelten, daß es Aufgabe des Dichters sei, tatsächliche Geschehnisse unter einem poetischen Schleier darzustellen, um die Erzählung eindringlicher zu gestalten und den wahren Kern in der falschen Schale desto schärfer hervortreten zu lassen. Mit einem Themistius-Zitat heißt es weiter, daß durch die Verwendung der fabula die Tätigkeit des Dichters vielleicht nach außen nicht besonders ernsthaft erscheine, von innen heraus betrachtet sie jedoch in nichts anderem bestehe, als – wie es mit Laktanz, »Institutiones divinae« I.11 heißt – tatsächliche Sachverhalte in indirekter Form darzustellen (ea, que sunt gesta, in obliquas figuraciones comutare). Mit Averroes unterscheidet Petschmessingsloer dann zwischen drei Formen dieser ›representacio‹ oder ›assimilatio‹.2 Der Nutzen solcher dichterischen Form ist Belehrung, Bitte und Trost, wie es mit einigen Horaz-Zitaten heißt. In deren Folge setzt Petschmessingsloer die Fähigkeit der Dichtung mit der rhetorischen Ausdrucks_____________ 1 2

Zum folgenden allgemein vgl. Entner: Dichtungsbegriff, Lefebvre: Poèt, Stejskal: Gestalt, Asmuth: Anfänge, Borinski: Poetik S. 1-55, Markwardt: Geschichte Bd. 1 S. 1-23. Petschmessingsloer: [Einleitung zu Juvenal-Kommentar] S. 276. Einige Lesarten der Edition von Misianik korrigiert Birger Bergh: Palaeography and Textual Criticism. Lund 1978, S. 19-28. Die Verbesserung von ›mutat‹ und ›mutacio‹ zu ›imitatur‹ und ›imitatio‹, dort S. 26, ist (in Anbetracht der Terminologie von Averroes, der den Begriff der imitatio nicht verwendet) zweifelhaft. Zur Unterscheidung der Arten der assimilatio vgl. oben S. 16.

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kraft in eins und zitiert eine lange Reihe von antiken Autoritäten zum Lob ebendieser. Zur Definition der Dichtung führt Petschmessingsloer zwei Möglichkeiten an. Boccaccio definiere die Dichtung »De genealogia deorum« XIV.7.1 als einen von Gott ausgehenden furor (bei Boccaccio eigentlich nur ›fervor‹). Durch diesen, der nur wenigen Menschen zugestanden würde, erfinde der Dichter Hervorragendes.3 Averroes dagegen (nur als »commentator« benannt), nenne die Dichtung eine göttliche Wissenschaft, die nach den verschiedenen Gattungen gegliedert sei.4 Dem entsprechend folgt eine kurze Einführung in die Gattungslehre, gefolgt von ebenso kurzen Einführungen in die rhetorische Stil- und Periodenlehre. Wie Petschmessingsloers Einleitung ist auch der wahrscheinlich von Stephan Patrington stammende Kommentar zur spätantiken »Egloge Theoduli« (Druck Leipzig 1492) ein Text, der für den Unterricht an Schulen und Universitäten verfaßt wurde.5 In der Einleitung findet sich eine Legitimation der Dichtung, die sich zwar auf Averroes beruft, aber nicht auf die Paraphrase der »Poetik«, sondern »ungefähr« (circa) auf den Prolog zur aristotelischen »Physik«, in dem Averroes schreibe, daß es vier Dinge gibt, die die menschliche Natur behindern, nämlich Unwissenheit, Stummheit, Mangel und Laster. Gegen die Unwissenheit ist das Quadrivium erfunden worden, das heißt die vier artes liberales der Musik, Geometrie, Arithmetik und Astronomie. Gegen die Stummheit ist das Trivium erfunden worden, das heißt die drei artes liberales des sprachlichen Ausdrucksvermögens, die Grammatik, Logik und Rhetorik. Gegen den Mangel sind die artes mechanicae erfunden worden, wie die Kunst des Schusters, des Schneiders usw. Gegen das Laster aber ist die Dichtkunst erfunden worden, das heißt die dichterischen Werke, wie das vorliegende eines ist, das von den Tugenden auf bejahende und von den Lastern auf verneinende Art handelt.6

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6

Petschmessingsloer: [Einleitung zu Juvenal-Kommentar] S. 278, dort fälschlich Boethius statt Boccaccio zugeschrieben, wahrscheinlich ein Lesefehler Misianiks. Petschmessingsloer: [Einleitung zu Juvenal-Kommentar] S. 278. Zur Verfasserfrage vgl. Betty Nye Quinn: ps. Theodolus. In: Catalogus translationum et commentariorum. Medieval and Renaissance Latin Translations and Commentaries. Washington 1971, Bd. 2, S. 383-408, hier S. 403-408. Zu dem Druck Leipzig 1492 vgl. Bauch: Geschichte S. 33 f. Patrington: [Kommentar zur Egloge Theoduli] f. A2r: »Auerrois circa prologium phisicorum dicit, quod quattuor sunt, que impediunt humanam naturam, scilicet ignorantia, taciturnitas, defectus et vicium. Contra ignorantiam inventum est quadrivium, videlicet quattuor artes liberales sicut musica, geometria, arithmetica et astronomia. Sed contra taciturnitatem inventum est trivium, id est tres artes liberales de eloquentia sermonis sicut grammatica, logica, rethorica. Sed contra defectum invente sunt artes mechanice sicut ars sutoria et sartoria, et sic de aliis. Sed contra vicium invente est ars poetica sive libri poetici sicut est presens liber qui est de virtutibus positive et de viciis privative [...].« In Averroes' Prolog zur

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Der Augsburger Patrizier Sigismund Gossenbrot antwortet mit seinem in Briefform gehaltenen Traktat (1466) auf die Befürchtungen seines Freundes Ludwig Dringenberg, die Lektüre der heidnisch-antiken Dichtung könne von der Heiligen Schrift und der Beschäftigung mit den wesentlichen, theologischen Fragen ablenken.7 Einst, so versucht Gossenbrot diese Befürchtung zu zerstreuen, hätte gerade in den frömmsten Klöstern das Studium der antiken Dichter geblüht, doch dann sei mit dem Erkalten des religiösen Eifers auch die Lektüre der Dichter erstickt und die Bücher zerrissen worden, um als Einband für andere zu dienen. Die bedeutendsten Bemühungen der alten Augustiner- und Benediktinermönche um die antike Dichtung seien auf dem Misthaufen gelandet. Nur auf einen Teil der antiken Dichtung treffe das Sprichwort zu, daß die Dichter lügen, für den anderen gelte jedoch das Diktum des Horaz, daß die Dichter nutzen und erfreuen. Mit Laktanz wiederum heißt es, die Dichter drückten viel in übertragenem Sinne aus, nicht um Falsches zu sagen, sondern um ihren Gedichten »Schönheit und Anmut« (venustas ac lepor) zu geben. Aufgabe der Dichter sei es, »das, was tatsächlich geschehen ist, durch indirekte Darstellung mit bestimmtem Schmuck versehen in andere Formen zu übertragen« (ea quae vere gesta sunt, in alias species obliquis figurationibus cum decore aliquo conversa traducere).8 Dies sei nichts anderes, als was die Theologen in ihren Predigten und die Politiker in ihren Reden täten. Man dürfe den Terminus »fictio« nicht im Sinne von Lüge verstehen, sondern als »adinventio«, als »Hinzu-Erfindung«. Der Unterschied zwischen rhetorischer und poetischer Rede bestehe nicht in der Materie, sondern nur in der Verwendung des Metrums. Nicht zu Lasterhaftigkeit verleiteten die exempla der Dichter, sondern zu tugendhaftem Leben. Gossenbrot führt die Ehen von Odysseus und Penelope und von Alcestis und Admet als Vorbilder ehelicher Beständigkeit an. Sollten die Dichter einmal Liebschaften beschreiben, so könne niemand so abgestumpft sein, zu glauben, daß die erfundenen Dinge hier nicht eingeführt würden, um etwas anderes zu bezeichnen. In dieser exemplarischen Lehrform komme die Dichtung mit der Bibel überein, die an den Beispielen Samsons, der Töchter Lots und Davids die Folgen unrechtmäßiger Liebe zeigt. Mit dieser Rechtfertigung der Dichtung möchte Gossenbrot allerdings nicht die unzweifelhafte Füh_____________ 7 8

»Physik«, jedenfalls so wie er in der Ausgabe Junctas 1562 abgedruckt ist, findet sich diese Stelle nicht, vgl. Aristoteles: Opera cum Averrois commentariis Bd. 4, S. 1r-5r. Zu diesem Brief vgl. Burger: Orthodoxae fidei. Gossenbrot: Rechtfertigung S. 95.

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rungsrolle der Theologie bestreiten, zu der sich alle anderen Wissenschaften und Künste »wie Läuse« verhielten. Die Theologie sei über die Philosophie, zu der Gossenbrot auch die Dichtung rechnet, unendlich erhaben. Entsprechend der aristotelischen Tradition unterscheidet Gossenbrot zwischen philosophia naturalis, moralis und rationalis, wobei die Dichtung hauptsächlich zur moralischen, zum Teil jedoch auch zur rationalen Philosophie (also der Logik) gehöre. Während die philosophia naturalis nur das Geschöpf, nicht aber den Schöpfer erkennen lehre, die philosophia rationalis Schlußfolgerungen nur über den Menschen, nicht aber über den Teufel zulasse und die philosophia moralis nur die gewöhnlichen Tugenden, nicht aber die Nächstenliebe lehre, sei es allein die Theologie, die all dies bewirkt. Diese Unterscheidung zwischen Dichtung und Theologie hindert Gossenbrot allerdings nicht daran, den Dichtern göttliche Inspiration zuzusprechen und sie als Seher (vates) zu bezeichnen, »weil sie nicht so sehr aus sich heraus, als durch eine Entzückung ihrer Seele und göttlichen Anhauch sprechen«.9 Daß dies wörtlich zu verstehen ist, zeigt das Beispiel von Vergils vierter Ekloge, in der Gossenbrot mit Laktanz eine Ankündigung Christi erkennt.

Peuerbach, Gratius, Bebel Georg von Peuerbach disputiert in seiner »Positio sive determinatio de arte oratoria sive poetica« (1458) über die Frage, ob die Fabeln und Gleichnisse (fabulae et rerum similitudines) als eine dichterische Ausdrucksform zum Bereich der Rhetorik und Poetik gehörten oder, durch ihre Inhalte, zum Bereich entweder der Moral- oder der Naturphilosophie.10 Um die Frage entscheiden zu können, beginnt Peuerbach mit einer Definition der Rhetorik und Poetik, wobei die Dichtung als eine ursprüngliche Form der Erziehung durch Lob und Tadel bestimmt wird. Die Aufgabe des Dichters sei es, durch Worte zur Nachahmung einer Lebensform anzuregen (ad imitandam vivendi rationem excitare). Es folgt eine ähnliche kurze Gattungslehre wie bei Petschmessingsloer, gefolgt von dem Laktanz-Zitat, das die verschleierte Darstellung eines wirklichen Geschehens zur Aufgabe des Dichters erklärt, mit dem Zweck, die Tugend _____________ 9

10

Gossenbrot: Rechtfertigung S. 99: »Scimus mentem divinam ese poetis, sapientissimos verum credidisse, vatesque inde nuncupatos, quod non tam ex se, quam concitatione animi quadam afflatuque divino loquerentur.« Zu Peuerbach vgl. Burger: Orthodoxae fidei S. 148 ff.

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zu loben und das Laster zu verdammen. Deswegen sei Lukan kein Dichter, sondern ein Historiker, auch wenn er sich eines heroischen Versmaßes bediene. Die Fabeln sind erfunden worden, um ein Bild des Lebens zu zeigen, sei es, um dadurch zu unterhalten, wie bei Plautus und Terenz, sei es, um naturphilosophische Wahrheiten auszudrücken (der Gott Vulkan ist lahm, weil die Natur von sich aus kein Feuer erzeugt), sei es, wie bei den aesopischen Fabeln, um moralische Wahrheiten zu vermitteln. In demselben Sinne bedienten sich auch politische Redner wie Demosthenes der Fabel, um durch eine erdichtete Erzählung wahrhafte Sachverhalte zu bezeichnen. Ähnlich wie mit der fabula verhält es sich mit dem Gleichnis (similitudo), das zur Rhetorik und Poetik gehöre, weil es erfunden wurde, um durch seine Ähnlichkeit von einem Sachverhalt zu überzeugen. Es könne, wie es mit Cicero heißt, dem Schmuck, dem Beweis, dem deutlicheren Ausdruck oder der Anschaulichkeit dienen. Nicht zu bezweifeln wäre deshalb, daß fabula, similitudo und exemplum durch ihre Überzeugungskraft zur Rhetorik und Poetik gehörten. Die ganze zweite Hälfte der disputatio verwendet Peuerbach auf den Nachweis, daß die Lektüre der antiken Dichtung nicht nur für den lateinischen Spracherwerb notwendig sei, sondern auch der moralischen Unterweisung der Schüler diene. In dieser Tradition steht auch der Kölner Dominikaner Ortwin Gratius, der später durch die »Dunkelmännerbriefe« in Verruf gekommen ist.11 Quelle seiner »Oratio in commendationem poeticae« (1508) ist vor allem das 14. Buch von Boccaccios »De genealogia deorum«. Ihr entnimmt er die Bestimmung der Dichtung als »fervor exquisite inveniendi«, der von Gott stamme und nur den wenigsten Menschen zugestanden sei. Barbaren seien diejenigen, die die antike Dichtung verachten, denn Dichtung ist eine exemplarische oder dem rhetorischen genus demonstrativum (also dem Lob und Tadel) zugehörende Sprachform, die sich einer Erdichtung bediene, um die eigentliche gemeinte Lehre zu verdecken. Wie dies zu verstehen ist, illustriert ein weiteres Exzerpt aus Boccaccio (XIV.13.16), das die Dido-Episode der »Aeneis« gleichnishaft auf die Verführbarkeit des Mannes hin deutet, der sich der fleischlichen Begierde widersetzt und von Merkur, dem Gewissen, auf die Bahn der Tugend zurückgeführt wird. Es folgt eine ganze Reihe ähnlicher moralischer Auslegungen antiker Mythen, die alle für Gratius belegen, daß die antike Dich_____________ 11

Zu Gratius vgl. Chomarat: Hommes obscur und Ludwig: Gratius.

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tung eine Art der Philosophie ist und es keinen Grund gibt, deren Lektüre an den Schulen zu verbieten. Um 1500 wird die Verteidigung der antiken Dichtung als Schullektüre beinahe zu einer eigenen Textgattung. Zu diesen gegen die »scholastische Barbarei« gerichteten Schriften gehören etwa die »Antibarbari« (entst. um 1480, Druck 1520) des Erasmus, Hermann von dem Busches »Vallum humanitatis« (1518), der »Scoparius in barbariei propugnatores et osores humanitatis« (1517) von Johannes Murmellius oder die ›Studienordnungen‹, wie sie etwa von Erasmus (»De ratione studii ac legendi interpretandique auctores liber«, 1511) oder, in weitaus umfassenderer Form, von Juan Luis Vives (»De tradendis disciplinis«, 1531) überliefert sind. Symptomatisch für diese Schriften ist, daß sie keinen Unterschied zwischen Dichtung und Rhetorik machen, die beide demselben Zweck dienen, nämlich das Ausdrucksvermögen (eloquentia) zu schulen. Nur das Metrum unterscheidet Cicero und Vergil. Hintergrund der Diskussion ist die humanistische Neudefinition des Grammatik-Begriffs und die daraus folgende Reform des Lateinunterrichts. Die Schüler sollen Latein so sprechen lernen, wie es in der Antike gesprochen wurde. Elegantia ist der Begriff, der dieses humanistische Ideal bezeichnet. Sein Zerrbild ist das Latein, wie es in den »Dunkelmännerbriefen« persifliert wird. Elegantes Latein läßt sich am besten aus der Dichtung lernen, auf einem elementaren Niveau vor allem aus den Komödien von Terenz und Plautus, wo sich Gespräche und die idiomatischen Formeln finden, wie sie die Schüler alltäglich benutzen sollten. Auf einem höheren Niveau dienen demselben Zweck die Werke von Horaz, Vergil oder Cicero. Im Vordergrund dieser Diskussion steht die Frage des pädagogischen Nutzens der Lektüre antiker Dichtung. In Heinrich Bebels »Comoedia de optimo studio iuvenum« (1501), sowohl ein Schülergespräch wie eine ›Studienordnung‹, findet sich im vierten Akt eine Verteidigung der Dichterlektüre.12 Zwei Vorwürfe sind es, die der Student Lentulus dort erhebt: daß die antike Dichtung unanständige Liebesgeschichten enthalte und daß die Dichter lügen. Auf den ersten Vorwurf lautet die Antwort, daß auch die Bibel unanständige Geschichten enthalte und trotzdem niemand von ihrer Lektüre abrate, der eigentliche Zweck der Dichtung aber das Lob der Tugend sei. Auf den zweiten Vorwurf antwortet das Laktanz-Zitat, daß die Dichtung nur wahre Geschehnisse in verschleierter Form darstelle. Den Vorwurf, die antike Dichtung vermittle auch heidnisches Gedankengut, wischt Bebel in seiner »Verteidigung der Dichtung« (»Apologia et _____________ 12

Bebel: Comoedia S. 55 ff.

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defensio poetices«, 1501) mit der Bemerkung vom Tisch, daß diese heidnischen Irrtümer schon vor tausend Jahren so aus dem Christentum ausgerissen worden wären, daß niemand, der bei Verstand wäre, an diese Götzen glaube.13 Seine Schlußfolgerung lautet, daß die Lektüre der antiken Dichtung, die der christlichen in stilistischer Hinsicht weit überlegen sei, zum Zweck des Spracherwerbs und der Schulung der Ausdruckskraft unersetzlich ist. Nicht alle Humanisten sind so liberal, Jacob Wimpfeling etwa richtet seine »Verteidigung der scholastischen Theologie« (»Contra turpem libellum Philomusi defensio theologiae scholasticae«, 1510) vor allem gegen die Lektüre heidnischer Dichtung an den Schulen.

Agricola, Celtis Die frühesten Erwähnungen der aristotelischen »Poetik« im deutschsprachigen Raum finden sich bei Corvinus und Locher in den Jahren 1496 und 1506.14 Aus ihnen wird nicht deutlich, ob sie auf eine tatsächliche Kenntnis der aristotelischen »Poetik« zurückgehen oder nicht nur aus Florilegien oder späteren Texten übernommen sind. Sie können sich in ihrer Allgemeinheit genauso auf die aristotelische wie auf die averroische Poetik beziehen, wobei zweiteres um einiges wahrscheinlicher ist. Wie präsent der averroische Dichtungsbegriff im allgemeinen Bewußtsein um 1500 war, demonstriert Domenicus Nani Mirabellis »Polyanthea« (1507), eine vor allem im deutschsprachigen Raum oft nachgedruckte und noch im 17. Jahrhundert mehrfach bearbeitete und erweiterte Enzyklopädie. Unter dem Lemma »poeta« finden sich dort die zentralen averroischen Bestimmung, allerdings Aristoteles zugesprochen: »Jede dichterische Äußerung ist entweder Lob oder Tadel.« »Die Kunst der Dichtung ist eine logische Kunst.«15 Rudolf Agricolas »De inventione dialectica libri tres« (1479, Druck 1515), die wichtigste humanistische Dialektik, reformulieren diesen averroischen Dichtungsbegriff, wenn es bei Agricola heißt, die Handlungen _____________ 13 14 15

Bebel: Apologia f. A5r. Vgl. dazu Herding in seiner Einleitung zu Wimpfeling: Adolescentia S. 71-74. Corvinus: Carminum structura f. A2v f.; Locher: Mule/ ad Musam comparatio f. A4v. Mirabelli: Polyanthea (1507) f. CLXXv: »Ari. lib. 1. Poetriae: Omnis oratio poetica: vel est laudatio: aut vituperatio. Ibid. Ars poetica est ars logicalis.« Weitere Verweise auf die averroische Paraphrase aus der Zeit um 1500 unten S. 245 und S. 247.

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der Dichter (poetarum fabulae) seien nichts anderes als ausführlicher dargestellte Gleichnisse (similitudines).16 Auch was die Ursache für die Anwendung gerade eines dichterischen Argumentes betrifft, übernimmt Agricola die Begründung, wie sie von Averroes an immer wieder vorgebracht worden ist. Der topos der similia zeichne sich vor allem durch seine leichte Verständlichkeit aus und richtet sich damit an ein weniger gebildetes Publikum: Denn ebenso wie ungeschultere Gemüter durch comparata leicht völlig zu besiegen sind (jedermann glaubt nämlich nichts leichter als das, was er schon in einem anderen Zusammenhang sich hat bestätigen sehen), so ist auch die similitudo als Mittel der Erläuterung für ebendiesen Personenkreis hochgradig angemessen. Stumpfe Geister nämlich, die unfähig sind, in das Innere der Dinge selbst einzudringen, um durchschauen zu können, wie die Beschaffenheit eines jeden ist, lassen sich zu dem, was wir zu verstehen geben wollen, durch nichts bequemer als durch ein Bild oder eine bildliche Darstellung aus dem Bereich gut bekannter anderer Dinge hinführen.17

Ein wichtiger Unterschied zur aristotelischen Tradition resultiert allerdings aus Agricolas Neubestimmung der Topik. Anders als in der aristotelischen Tradition reiht Agricola die Topik nicht als eine spezifisch syllogistische Form mit wahrscheinlichen Inhalten – im Gegensatz zum apodiktischen Syllogismus mit notwendig wahren Inhalten – den logischen Schriften ein, sondern ordnet sie als inventio, das heißt als Findungstechnik, der gesamten Syllogistik vor. Aufgabe der inventio ist es, mittels eines umfassenden Systems von topoi Argumente für jede Behauptung finden zu können. In einem zweiten Schritt können diese Argumente dann in eine bestimmte Form, wie den Syllogismus oder das Enthymem, gebracht werden. Wie sich diese Form von den anderen argumentativen Formen unterscheidet, ist für Agricola sekundär. An die Stelle der Abstufung der Syllogismen nach ihrer Zuverlässigkeit tritt bei Agricola das universale Konzept der Glaubhaftigkeit als Zweck jedes Arguments. Die inventio oder Topik wird derart zur Grundlagendisziplin schlechthin, indem jede menschliche Tätigkeit auf Begründungen, das heißt auf dem Finden von Argumenten basiert. Der entscheidende Unterschied zum aristotelischen Modell besteht deshalb darin, daß die Argumente der Dichtung auf demselben Niveau stehen wie alle anderen, und daß damit die Aufgliederung des aristo_____________ 16 17

Agricola: De inventione dialectica S. 160 f. Agricola: De inventione dialectica, S. 162 f.: »Nam ut comparatis facilime pervincuntur rudiores animi (nec enim facilius quisquam credit, quàm quod iam in alio videtur probasse), sic similitudo ad explanandum est iisdem maxime accommodata. Hebetes enim mentes, et quae in ipsas res penetrare nequeunt, ut quale sit quicque, possint perspicere, non alia re aptius quàm imagine et figura notiorum aliarum rerum, in id, quod ostendere volumus, ducuntur.« Übersetzung nach Mundt.

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telischen »Organon«, wie etwa bei Savonarola, nicht mehr dazu dienen kann, der Dichtung aufgrund ihrer Schlußform den letzten Platz und das geringste Maß an Würde zuzuweisen. Nicht die logische Gültigkeit einer Schlußform interessiert Agricola, sondern allein die Frage, wie man ein Argument findet, das einem bestimmten Sachverhalt Glaubhaftigkeit verschafft. Die einzelnen Argumente unterscheiden sich in dieser Hinsicht nur durch die topoi, aus denen sie abgeleitet worden sind. Während Wissenschaften wie Metaphysik, Physik oder Ethik sich eher abstrakter topoi wie Ursache und Wirkung, Folge, Gattung, Akzidens usw. bedienen, ist der für die Dichtung spezifische topos, wie schon für Averroes, der der similitudo. Aus der Perspektive der Dialektik ist damit der gesamte Inhalt einer Dichtung durch die Handlung (fabula) ein aus der Ähnlichkeit abgeleitetes Argument, etwa nach dem Modell der Tierfabel oder der Parabel. Der Rhetorik, traditionellerweise ebenfalls mit der Findung von Argumenten beschäftigt, weist Agricola nur noch die sprachliche Gestaltung (elocutio) zu, das heißt in moderner Terminologie die Stilistik (zu unterscheiden von der Grammatik, die für eine sprachlich korrekte Form zu sorgen hat). Für eine Poetik bleibt damit im Grunde – abgesehen von einer Metrik (soweit diese nicht der Grammatik zugeschlagen wird) und eventuell einer Gattungslehre – keine spezifische Aufgabe mehr: die inhaltlich argumentative Seite wird von der Dialektik abgedeckt, die sprachlich stilistische von Rhetorik, Grammatik und Metrik. Die Dichtung wird nicht als ein geschlossenes Phänomen wahrgenommen, das eine eigene wissenschaftliche Disziplin erfordert, sondern als ein spezifischer sprachlicher Modus, der sich in argumentativer Hinsicht durch Argumente auszeichnet, die aus dem topos der similitudo abgeleitet sind, in stilistischer Hinsicht durch eine besonders figurenreiche Sprache und in grammatischer Hinsicht durch die Verwendung des Metrums. Die dialektischen und rhetorischen Analysen antiker Dichtung, wie sie etwa von Melanchthon und Erasmus überliefert sind, illustrieren diesen Begriff der Dichtung.18 Für eine wissenschaftliche Disziplin einer Poetik als Theorie der Dichtung gibt es aus dieser Perspektive keine Verwendung. Beispielhaft dafür ist schon die erste humanistische Poetik, die »Ars versificandi et carminum« (1486) des Konrad Celtis.19 Die Poetik, in ihrem Kern eine Verslehre, ergänzt durch eine kurze Gattungslehre und stilistische Regeln, wird abgeschlossen von einer kurzen Passage, in der Celtis sich etwas allgemei_____________ 18 19

Vgl. dazu Classen: Bedeutung; Mack: Commentaries und Meerhoff: Imitation. Zu Celtis vgl. vor allem Robert: Celtis S. 19-103; Worstbrock: Ars und Worstbrock: Celtis.

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Nachahmung als Gleichnishaftigkeit

ner zum Wesen der Dichtung äußert, »De compositione materiali carminum« betitelt. Aufgabe des Dichters sei es, »Sitten und Handlungen, Geschichte, Orte und Völkerschaften, die Gestalt der Länder, die Flüsse, die Bahnen der Gestirne« sowie die Gefühle der Menschen »in bilderreicher schöner Gestaltung der Rede« und in Versform darzustellen.20 Das Metrum bilde deshalb das »Werkzeug« (instrumentum) des Dichters, mit dem dieser ein »wahres Bild der Sachverhalte« (vera rerum imago) darstelle. Neben der metrischen Gestaltung sei das wichtigste Merkmal der poetischen Beschreibung ihre Anschaulichkeit und Lebendigkeit. Was beschrieben werde, müsse dem Leser anschaulich vor Augen stehen. Darin ganz in der averroischen Tradition verwurzelt, ist nicht Fiktion, sondern Darstellung des Tatsächlichen für Celtis der Inhalt der Dichtung. Für die sprachliche Gestaltung dieses Tatsächlichen ist die Rhetorik zuständig, von der eigentlichen Stilistik bis zur Forderung nach Anschaulichkeit (evidentia). Ein späterer Abschnitt – »De praeceptis artis in generali« betitelt – wiederholt diese Forderung und verdeutlicht, warum der evidentia eine so bedeutende Rolle zukommt.21 Durch die Lektüre und Nachahmung solle der Schüler sich einen breiten Wortschatz (copia), idiomatische Kenntnisse und allgemein das Ausdrucksvermögen erwerben, das allein ihm die Möglichkeit geben kann, einen Sachverhalt wirklich so zu beschreiben, daß er dem Leser anschaulich werde. Das spätere, einflußreiche Lehrbuch des Erasmus, »De copia rerum ac verborum« (1512), dient genau diesem Zweck. Die Forderung der Anschaulichkeit ist auf ganz rudimentärer Ebene die Forderung nach sprachlichem Ausdrucksvermögen, wobei immer zu bedenken ist, daß es sich bei der neulateinischen Poetik um Anweisungen für die Ausbildung des Dichters unter den Bedingungen des Zweitsprachenerwerbs handelt. Grundsätzlich jedoch gehört die Anschaulichkeit nicht zum Aufgabenbereich der im eigentlichen Sinne poetischen, sondern zur grammatischen und rhetorischen Ausbildung. Was die "Ars versificandi et carminum" deshalb behandelt, ist allein das, was zur Form der Dichtung, dem Vers, gehört, nicht aber das, was den Inhalt (res) betrifft.22 _____________ 20

21 22

Celtis: Ars versificandi f. A6v: »Officium poete est, figurato atque decoro orationis et carminis contextu mores, actus, res gestas, loca, gentes, terrarum situs, flumina, siderum cursus, rerum naturas translatis signis, mentium animorumque affectus effingere electisque verbis rerum simulacra concinna et legitima quadam verborum mensura exprimere.« Übersetzung nach Entner: Dichtungsbegriff S. 352 f. Celtis: Ars versificandi f. C2r. Celtis: Ars versificandi f. C2v.

Poetik des 16. Jahrhunderts Vives Die Überflüssigkeit einer Poetik als Dichtungstheorie illustriert auch das Werk des Erasmus, in dem sich zu spezifischen Fragen der Poetik nichts findet, und das, obwohl er selbst in seiner Ausgabe der aristotelischen Werke (Basel 1531) den ersten nordalpinen Druck der »Poetik« veranstaltet oder zumindest betreut hat.1 In seinem Werk hat ihre Lektüre keine Spuren hinterlassen. Deutlicher ist die Reaktion von Juan Luis Vives, der die »Poetik« wahrscheinlich in der Ausgabe von Erasmus gelesen hat. In »De disciplinis« (1531) heißt es: »Die aristotelische ›Poetik‹ trägt nicht viele gute Früchte, sie ist gänzlich mit der Beschreibung antiker Dichtungen und den Subtilitäten, in denen die Griechen so überaus peinlich und – man verzeihe mir den Ausdruck – zuweilen auch läppisch sind, beschäftigt.«2 Vives selbst behandelt die Poetik am Ende seiner Rhetorik (»De ratione dicendi«, 1532), wobei ein großer Teil des Kapitels der Versform als dem definierenden Merkmal der Dichtung gewidmet ist. Aus diesem Grund hat Vives auch schon zuvor, in zwei gesonderten Kapiteln, die Tierfabel (apologus) und die rein fiktionalen Erzählungen behandelt. Während die Tierfabel mit ihrer offensichtlichen moralpädagogischen Aufgabe keine Legitimationsprobleme bietet, wird den rein fiktionalen Erzählungen, die bloß dem Vergnügen dienen (»fabulae licentiosae«), wie etwa der »Goldene Esel« des Apuleius oder die Geschichten Lukians, keine Existenzberechtigung zugesprochen. Das eigentliche Kapitel über die Dichtung schließlich (»De poeticis«) beginnt mit einem historischen Abriß, in dem Vives die Entstehung der antiken Mythologie aus der Leichtgläubigkeit des Volkes ableitet, das immer sofort bereit ist, besondere Leistungen auf das Wirken von Göttern zurückzuführen. Mit dem Ende dieser frühen Epoche wurden auch die Anforderungen an die Dichtung strenger, die sich nun am Tatsächlichen _____________ 1 2

Vgl. den Widmungsbrief an John More in Erasmus: Opus epistolarum Bd. 9, S. 133-140 (Nr. 2432). Die »Poetik« wird dort S. 135, Z. 97 aufgelistet. Vives: Opera omnia Bd. 6, S. 342: »Ars Aristotelis poetica non multum habet bonae frugis, tota in observatione antiquorum poematum occupata, et in iis subtilitatibus, in quibus molestissimi sunt Graeci, quodque cum bona illorum venia dixerim, inepti quoque.« Zu Vives vgl. Ijsewijn: Vives and Poetry, Ijsewijn: Vives et Virgile und Kohut: Literaturtheorie.

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orientieren mußte. Die antiken Mythen (fabulae), die eine naturphilosophische oder moralische Wahrheit enthalten, können beibehalten werden, alle anderen sind schädlich und nicht erhaltenswert. Solche Dichtung sollte auf öffentlichen Beschluß hin verboten werden.3 Zwar zitiert Vives kurz den platonischen furor mit Verweis auf den »Ion«, aber nur, um daraus zu folgern, daß, wenn nach antiker Überzeugung Dichtung auf göttliche Inspiration zurückgeht, es den christlichen Dichtern um so mehr angemessen ist, Gott in ihren Dichtungen zu besingen. Nutzen der Dichtkunst ist Mahnung zur Tugend und Abschreckung vom Laster, und in diesem Sinne verweist Vives auf den aristotelischen Begriff der Nachahmung.4 Wie es selbstverständlich für ihn ist, daß die antike Komödie moralpädagogischen Zwecken diente, so empfiehlt er auch seiner eigenen Zeit das allegorische Drama, in dem die Personifikationen von Tugenden, Staaten usw. auftreten, um so die Zuschauer mit Vergnügen zum rechten Leben zu ermahnen. Indem der Zuschauer erst seinen Verstand anstrengen müsse, um diese allegorischen Darstellungen zu durchschauen, sei die pädagogische Wirkung um so nachdrücklicher.5 Schon in seiner »Überschminkten Wahrheit« (»Veritas fucata«, 1514/19) hatte Vives seine Ablehnung der Fiktionalität zum ersten Mal formuliert.6 Die Wahrheit wird mit einer Frau verglichen, die in ihrer natürlichen Form verehrt werden wolle, nicht aber unter dem Aussehen der Falschheit, das heißt unter falscher Schminke und Schmuck, als gefallsüchtig, eitel und käuflich. Die Falschheit sei Lüge, Erfindung und eine bloße Erscheinung, der kein wirklicher Körper oder Inhalt entspreche. Wenn die Falschheit es trotzdem zu solchem Ansehen gebracht habe, so deshalb, weil der Teufel und sein Gefolge den Anblick der Wahrheit nicht ertrug und die Falschheit an ihrer Stelle verehrte.7 Im zweiten Teil hält die Wahrheit selbst eine Rede, in der sie die Menschen auffordert, von der Falschheit abzulassen und zur Verehrung der Wahrheit zurückzukehren. Ursache für die Abkehr der Menschen von der Wahrheit seien die Dichter gewesen, durch die, wie mit einem ›trojanischen Schwein‹, alles Übel in das Reich der Wahrheit eingedrungen sei.8 Mit Hieronymus wird die Dichtung als Speise der Dämonen und mit Dion von Prusa Homer als blinder und verrückter alter Mann bezeichnet, des_____________ 3 4 5 6 7 8

Vives: De ratione dicendi S. 218. Vives: De ratione dicendi S. 220. Vives: De ratione dicendi S. 221. Zur Druckgeschichte vgl. die Einführung von Fantazzi in Vives: Veritas fucata S. 61 ff. Vives: Veritas fucata S. 74. Vives: Veritas fucata S. 80.

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sen Freude an der Lüge die Figur des Odysseus bezeuge. Die Philosophen werden aufgefordert, das Reich der Wahrheit, der Gerechtigkeit und des Friedens gegen die Dichter zu verteidigen und mit Platon diese endlich aus dem Staat zu verbannen. 1522 hat Vives diesen Text noch einmal in Form eines Dialogs vollständig umgearbeitet. Die Wahrheit ist jetzt eine Herrscherin geworden, die zusammen mit Philosophen (unter anderen Platon und Heraklit) und Rednern (unter anderen Demosthenes, Aischines und Cicero) an einem Ort lebt, an dem alles offen, einfach und klar ist. Dinge werden bei ihren wirklichen Namen genannt, ohne Stilmittel und Metaphern. Zu dieser Wahrheit senden die Vertreter der Falschheit, die »falsiani«, eine Gesandtschaft, die einen Friedensvertrag mit ihr aushandeln soll. Die Gesandtschaft besteht aus Homer (der sich aus Angst vor Platon anfänglich weigert), Hesiod, Lukian und Apuleius. Die Wahrheit findet sich am Ende auch tatsächlich zu einem solchen Friedensvertrag bereit, allerdings werden den Dichtern zehn Bedingungen auferlegt. Diese zehn Bedingungen legen genau fest, wann und in welchem Maße ein Dichter von der Wahrheit abrücken darf.9 So dürfen die Dichter zwar selbst nichts erfinden, es steht ihnen aber frei, das, was gerüchteweise (wie etwa Sagen) erzählt wird, in ihren Dichtungen zu verwenden. Es ist den Dichtern außerdem erlaubt, Sachverhalte für die ›prähistorischen‹ Zeiten, das heißt die Zeiten vor einer schriftlichen Überlieferung, über die keine zuverlässigen Nachrichten bekannt sind, zu erfinden. Als Grenze in diesem Sinne setzt Vives, von der antiken Zeitrechnung ausgehend, die erste Olympiade fest, dreißig Jahre vor der Gründung Roms. Was später geschehen ist, dürfe von den Dichtern nicht verfälscht werden, sondern muß der Wahrheit entsprechen. Ausgenommen von dieser Regel ist nur das, was der Besserung der Verhaltensweisen dient und eine lebenspraktische, pädagogische Funktion hat, wie die Tierfabeln, die Komödie mit ihrer Abbildung menschlicher Leidenschaften und die Dialoge, womit Vives wahrscheinlich die humanistische Gattung der Schülergespräche meint. Generell erlaubt ist den Dichtern, eine wahre Aussage metaphorisch darzustellen. Dies gelte jedoch nicht für die Fälle, wo es um die Vermittlung von Sachwissen geht, wie etwa in Lehrbüchern. Wenn die Wahrheit fiktional ausgeschmückt werde, müsse dies zumindest den Geboten der Wahrscheinlichkeit und der Angemessenheit (decorum) gehorchen, das heißt es dürfe nicht lächerlich und albern werden. Wer jedoch nur zum Vergnügen falsche, womöglich noch laszive Geschichten erfindet, wie _____________ 9

Vives: Veritas fucata sive de licentia poetica S. 527 ff.

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Nachahmung als Gleichnishaftigkeit

Apuleius und Lukian, verbleibt im Gefolge der Lüge. Wie jeder andere, der gegen diese Gebote verstößt, darf er nicht im Reich der Wahrheit leben. Die rigorose Ablehnung der Fiktion, wie sie Vives in diesem frühen Text formuliert, findet sich, ohne die ironische Abfederung, in seinen späteren Äußerungen noch verstärkt. In »De causis corruptarum artium« (1531 als erster Teil von »De disciplinis« erschienen) behandelt Vives die Dichtung im zweiten, der Grammatik gewidmeten Buch. Die Macht der Dichtung bestünde darin, unter dem Reiz der Verse und des Metrums den Zuhörern alle beliebigen Sachverhalte einprägen zu können. Dieser Form des »in Gift getauchten Honigs« scheinen sich nach Vives' Überzeugung fast alle antiken Dichter bedient zu haben, unter anderem werden Orpheus, Homer und Hesiod mit ihren erfundenen Göttergeschichten der Verdammung preisgegeben. Nur den schärfsten Spott hat Vives für diejenigen übrig, die, wie Landino, die Erfindungen der Dichter auf allegorische Weise so verdrehen, daß etwa Vergil nicht nur als vollkommener, sondern sogar als christlicher Dichter dastehe.10 Kübelweise Spott gießt Vives über Homer aus, dem »Vater der Dummheiten«, der seine Götter mit denselben niedrigen Instinkten wie die Menschen ausstatte und mit Odysseus den größten Lügner und Betrüger, den es je gab, zum Vorbild erkläre. Nicht anders ergeht es Ovid, der in seiner "Liebeskunst" 3.549 f. behauptet, ein Gott spreche durch ihn, und diesen dann über nichts anderes sprechen lassen kann, als wie man am besten eine Frau verführt. »Altweibergewäsch« (anile nugamentum) werde solche Dichtung, in der wie in einer Kloake alle Laster zusammenfließen, zu Recht genannt.11 Was den Dichter als solchen auszeichne, ist nicht die Erdichtung, wie Aristoteles in seiner »Poetik« schreibe (offensichtlich eine Anspielung auf auf »Poetik«1447b und 1451b), sondern die Versform. Wenn die Dichtung über die Fiktion, das heißt die Lüge definiert wäre, und die Dichter, unabhängig von jedem moralischen Gebot, laszive und bedeutungslose Geschichten erfinden dürften, wäre diese Dichtung getrost als ganze dem Vergessen zu übergeben: Gerade als ob sich der Dichter durch den Stoff von anderen Schriftstellern unterschiede und nicht durch die sprachliche Form. Wenn aber überhaupt ein Dichter erst derjenige ist, der Lügen im Vers verherrlicht, dann fort mit der Dichtung.12

_____________ 10 11 12

Vives: De causis S. 95. Vives: De causis S. 97. Vives: De causis S. 98: »Quasi vero materia distinguatur ab aliis poëta, et non oratione: quod si omnino poëta is demum est, qui mendacia versu concelebrat, valeat poësis.« Übersetzung nach Sendner S. 305.

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Im Gegensatz zu den moralisch verderbten Dichtern der Antike ist es Aufgabe der christlichen Dichter, sich an die Wahrheit zu halten und etwa Hymnen zu Ehren Gottes zu verfassen, große Taten durch ihre Verse dem Gedächtnis der Nachwelt zu überliefern oder auf der Bühne zum Lehrer des Volkes zu werden. Trotz dieser harschen Urteile über Homer erweist sich Vives im Fortgang von »De disciplinis« auch als ein großer Bewunderer von dessen sprachlichen Fähigkeiten. Was er schreibe, so urteilt Vives im siebten Kapitel des dritten Buches im Sinne der rhetorischen Anschaulichkeit (evidentia), scheine er nicht zu sagen, sondern vor Augen zu stellen, und allein durch diese Fähigkeit stelle er alles, was nach ihm gekommen sei, in den Schatten. Er bleibe nicht am Äußeren haften, sondern schildere dieses so, daß es die verborgensten Regungen der Seele offenbare. Durch seine Ausdruckskraft sei sein Werk ein Bild des menschlichen Lebens (imago vitae humanae) in einem so starken Sinne, daß man noch heute, nach so vielen Jahrhunderten, in denen sich die Verhaltensweisen und Lebensformen der Menschen vollkommen verändert hätten, bei seiner Lektüre das damalige Leben sofort vor Augen stehen habe. Beide Urteile über Homer widersprechen sich nicht. Vives bewundert Homer für seine stilistischen und rhetorischen Fähigkeiten (und allein um diese geht es in diesem späteren Kapitel), aber dies schließt nicht aus, ihn für seine ›Lügenhaftigkeit‹, seine Fiktionalität zu verurteilen. Weder die sprachlichen Fähigkeiten, noch die Lügen sind spezifisch für die Dichtung als solche, sondern nur für bestimmte Dichter, wie Homer. Dichtung ist für Vives, was in Versen geschrieben ist, und manches davon ist ausschließlich bewundernswert – wie etwa Vergils »Georgica«, die sowohl sprachlich vollkommen sind, als auch frei von Fiktionalität13 –, manches ausschließlich verabscheuenswert, wie die Lügengeschichten von Apuleius. Und in manchen Fällen ist etwas für seine sprachliche Vollkommenheit bewundernswert und für seine Lügenhaftigkeit verabscheuenswert, wie im Fall von Homer. Wenn Vives antike Dichter beurteilt, tut er dies entweder unter rhetorischem und grammatischem, das heißt stilistischem Aspekt (Syntax, Wortwahl, Einhaltung des Metrums, Affekte, Überzeugungskraft, Anschaulichkeit etc.) – und in dieser Hinsicht sind sie für ihn, als Humanisten, ein großes Vorbild – oder unter inhaltlichem, das heißt moralischem und, wenn es um antike Götter geht, theologischem Aspekt. Und unter diesem Aspekt ist Homer der Vater der Lüge und große Teile der antiken _____________ 13

Vgl. dazu Vives: Praelectio in Georgica Vergilii.

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Dichtung und Mythologie ein Sammelsurium des Aberglaubens und der Amoralität. Man wird Vives' Begriff der Dichtung nicht gerecht, zieht man diesen Unterschied nicht in Betracht. Dichtung ist, was in Versen geschrieben ist, und wie jeder in Prosa verfaßte Text sowohl in stilistischer wie in Hinsicht auf seinen Fiktionalitätsgrad beurteilt werden kann, so auch jeder metrisch verfaßte. Vives verurteilt nicht die Dichtung, sondern die Fiktionalität, unabhängig davon, ob sie in Versen oder Prosa auftritt.

Melanchthon Wie Agricola, Erasmus und Vives hat auch Melanchthon der Dichtung keine originäre, spezifische Seinsweise zuerkannt.14 Prosodie und Verslehre behandelt er im Anhang zu seiner lateinischen Grammatik, Fragen etwa der Stilistik, der Lebendigkeit und Anschaulichkeit des Schreibens (evidentia) und der Affekterregung in seiner Rhetorik und Fragen, die den Inhalt einer Dichtung, ihr argumentum betreffen, in seiner Dialektik. Spezifisch poetologische Fragen, wie etwa das Wesen der fabula oder die Aufgabe der Dichtung, kommen nur in den Widmungsvorreden und Einleitungen, die er zu seinen Übersetzungen und Ausgaben antiker Dichter verfaßt hat, zur Sprache. In der Einleitung zu seinem Kommentar zu Ovids »Metamorphosen« (1554) definiert er die Dichtung als »nichts anderes als in Metrum und Handlung gebrachte Philosophie« (philosophia numeris et fabulis concinna), die das Wissen aller anderen Künste enthalte und insbesondere die Moralphilosophie an den exempla von Königen veranschauliche. In diesem Sinne sei das prodesse et delectare des Horaz zu verstehen, denn die Versform errege die Gefühle, und die »wahren Sachverhalte« (res verae) fänden mehr Bewunderung, wenn sie, »wie ein Edelstein in Gold«, von einer »geistreichen Erfindung« (figmentum ingeniosum) eingefaßt wären. Metrum und fabula dienten als »Anreiz zum Lernen«.15 _____________ 14

15

Zum folgenden allgemein vgl. Entner: Dichtungsbegriff; Entner: Weg; Kühlmann: Poeten; Kühlmann: Zeitalter; Ludwig: Musenkult und Roloff: Literatur. Zu Melanchthon insbes. vgl. Classen: Bedeutung; Fuchs: Melanchthon S. 23-50; Hartfelder: Melanchthon S. 355 ff.; Hofmann: Melanchthon. Melanchthon: Enarratio Metamorphoseon Ovidii Sp. 501. Der Kommentar wurde unter dem Namen von Melanchthons Schwiegersohn Georg Sabinus veröffentlicht (was durchaus der Praxis Melanchthons entsprach, vgl. Scheible: Melanchthon) und von den Herausgebern der Opera Melanchthon zugesprochen. Moss: Ovid S. 48-53 behandelt Sabinus als Verfasser. Unabhängig von der tatsächlichen Autorschaft des Kommentars stimmen einige Formulie-

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Melanchthons Einstellung gegenüber der Fiktion ist um einiges liberaler als die von Vives. Auch die antike Mythologie, auf die er sich in der Folge bezieht, wenn er von ›fabula‹ spricht, ist für ihn nicht Ausdruck heidnischer Religion, sondern voll der Bildung und des Sachverstandes (sapientia), nur zum Zweck der pädagogischen Vermittlung in fiktionale Form gebracht. Mit einem Zitat von Plutarchs »Wie man die Dichter lesen soll« (28d-e) heißt es, in der Dichtung würden »die nützlichsten Sachverhalte mit dem Schleier der Fabeln« (utilissimae res fabularum involucris) bedeckt und in fast jeder antiken Dichtung sei eine Lehre der Geschichte, Physik oder Ethik enthalten.16 An den »Metamorphosen« insbesondere lobt Melanchthon, daß sie hervorragende exempla göttlichen Zorns und Wohlwollens enthielten sowie anschauliche Bilder aller menschlichen Lebensumstände. Ovid lehre, daß die menschlichen Angelegenheiten nicht von Zufall oder Glück abhingen, sondern vom göttlichen Willen, daß fromme und ehrliche Handlungen belohnt und Verbrechen bestraft würden. In diesem Sinne dienten seine exempla der Mahnung zur Tugend und der Abschreckung vom Laster. Neben diesen moralischen Verhaltensregeln enthielten die »Metamorphosen« viel astronomisches, physikalisches und geographisches Wissen, das sie zu einem wahren »thesaurus eruditionis« mache. Nicht zuletzt diene ihre Lektüre jedoch der Schulung der Ausdruckskraft (eloquentia), indem die »Metamorphosen« das gesamte Regelwerk der Rhetorik aufs beste illustrierten, angefangen von ihrer mannigfaltigen inventio über ihre kunstvolle dispositio bis hin zu ihrem reichhaltigen Wortschatz (copia), der Vielfalt ihrer rhetorischen Stilmittel und Figuren und dem differenzierten Ausdruck der Affekte und Emotionen. In ähnlichem Sinne hatte Melanchthon schon in seinem »Encomion eloquentiae« (1523) das Werk Homers, in seiner »Praefatio in Hesiodum« (1526) das Werk Hesiods und in dem Widmungsbrief zu seinen Vergil-Scholien (1530) das Werk Vergils gelobt. In seiner »Praefatio in Homerum« (1538) will er nur die Bibel selbst dem Werk Homers vorziehen.17 Wenn Melanchthon, anders als Vives, die heidnische Mythologie nicht verdammt, sondern als allegorische Einkleidung historischer Geschehnisse, moralischer Verhaltensregeln oder der Inhalte anderer Disziplinen _____________

16 17

rungen des Vorworts wörtlich mit anderweitigen Äußerungen Melanchthons überein. Einige Auszüge aus dem Kommentar, darunter das Vorwort, hat Moss: Commentaries S. 143-158 herausgegeben. Zur Wirkung dieses oft gedruckten Kommentars in Frankreich vgl. Moisan und Malenfant: Lecture. Melanchthon: Enarratio Metamorphoseon Ovidii Sp. 501. Es folgt das Zitat aus Erasmus' »Ecclesiastes«, das später auch Chytraeus (vgl unten S. 62) verwendet hat. Melanchthon: Praefatio in Homerum Sp. 401.

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zuläßt, heißt das nicht, daß er eine theologische Deutung der antiken Mythologie billigen würde. Auch hier ist der entscheidende Unterschied nicht die Einstellung zur Allegorese als solcher, sondern die Frage nach dem eventuellen christlichen Gehalt der antiken Mythologie im Sinne einer prisca theologia neuplatonischer Prägung. Weder findet sich eine solche irgendwo von Melanchthon auf die antike Mythologie oder Dichtung angewandt, noch hat er für eine solche Verständnis im theoretischen Sinne. In aller wünschenswerten Deutlichkeit und in Übereinstimmung mit Luthers exegetischen Vorgaben wird in den »Elementa rhetorices« (1531) der vierfache Schriftsinn auf wenige, ganz spezifische Stellen der Bibel eingegrenzt. Auch hier ist es die argumentative, schlußfolgernde Methode der Dialektik, die Melanchthon gegen die exegetische Willkür der Allegorese ins Feld führt: statt bloße Übereinstimmungen allegorischer Art herauszustellen, gelte es, in argumentativ abgesicherter Form wahre Behauptungen aus dem Text der Bibel abzuleiten.18 Von Melanchthons und Luthers Begriff der Bibelexegese führt kein Weg zur Auslegung antiker Dichtung als einer ›theologia poetica‹. Von Gott inspiriert ist nur die Bibel. Die Vergil-Allegorese Landinos oder die Ovid-Exegese von Petrus Lavinius (1510), die etwa Apollons Sieg über den Drachen Phython auf Christus und den Teufel bezieht oder Diana mit der Jungfrau Maria identifiziert, ist vor dem Hintergrund sowohl der protestantischen Schriftauffassung wie ihres Exegese-Prinzips undenkbar.19 Komplementär zu Melanchthons Forderung, die Bibel so auszulegen, daß überprüfbare Argumente und konkrete Anweisungen das Ergebnis sind, wird die dichterische fabula in den »Elementa rhetorices« oder in der »Rede über den Nutzen der fabula« (»De utilitate fabularum oratio«, ca. 1526) von vornherein als Argument betrachtet. Sie wird als Einkleidung moralischer oder naturphilosophischer Wahrheiten oder historischer Ereignisse verstanden. So etwa deutet Melanchthon in den »Elementa rhetorices« die Zyklopen der »Odyssee« als allegorische Darstellung eines historischen Faktums, nämlich eines besonders barbarischen Volkes (darauf verweist die Körpergröße), dessen Einäugigkeit nichts anderes ist als die poetische Darstellung eines Helmes, der nicht zwei, sondern nur einen Sehschlitz für die Augen hat. _____________ 18 19

Melanchthon: Elementa rhetorices S. 192-211. Zu Landino vgl. oben S. 168 ff., zu Lavinius' vgl. Moss: Commentaries S. 103-123.

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Diese fiktionale Einfassung, wie sie die antike Dichtung praktiziert, empfiehlt Melanchthon auch den zeitgenössischen Dichtern am Beispiel der Christophorus-Legende. Die Tatsache, daß dieser Christus trägt, bezeichnet ihn als einen Lehrer des Evangeliums, seine Körpergröße bezeichnet die dafür notwendige geistige Kraft, die gefährliche Flußdurchquerung die Wagnisse, denen ein Lehrer des Evangeliums ausgesetzt ist, der Stock, auf den er sich stützt, sei das Wort Gottes.20

Eoban Hesse, Chytraeus, Copius, Willich, Praetorius, Fabricius Das Vermögen, didaktische Inhalte in gute Verse zu bringen, ist nur die letzte Krönung humanistischer eloquentia, nicht aber etwas qualitativ anderes, als dieselben didaktischen Inhalte in Sachprosa zu vermitteln. In seinem Quintilian-Kommentar nennt Melanchthon vier Gründe für das Verfassen von Gedichten: es verbessere die grammatischen Kenntnisse der lateinischen Sprache, es erweitere den Wortschatz, veranschauliche die rhetorischen Figuren und wirke sittlich bessernd auf die Schüler ein.21 Ausdrücklich fordert er deshalb seine Schüler und Studenten auf: »Mit gelehrter Hand sollst du eifrig Beispiele [exempla] dichten, | Einen prosaischen Text bringen in rhythmisches Maß. | Diese Anstrengung schärft und fördert die geistigen Kräfte | Daraus erwächst für den Stil Fülle, Gestaltung und Glanz.«22 Zu diesem Zweck hat Melanchthon seinen Schülern argumenta vorgegeben und diese dann seine Schüler ausarbeiten lassen. Im Falle seiner begabtesten Schüler, wie etwa Johann Stigel, hat Melanchthon Auftragsarbeiten für Trauergedichte oder zu anderen festlichen Anlässen vergeben. Die Gedichte wurden nach seinen Prosaentwürfen gefertigt, wenn nötig der Billigung Luthers oder des Fürsten vorgelegt, und dann mit den entsprechenden Änderungswünschen an Stigel zurückgeschickt. Das Ergebnis konnte sowohl unter dem Namen Melanchthons wie Stigels überliefert werden.23 _____________ 20 21 22

23

Melanchthon: Elementa rhetorices S. 214 f. Melanchthon: Enarratio Quintiliani Sp. 658. Melanchthon: Opera Bd. 10 Sp. 558: »Ut doctis digitis exempla effingere certes, | Cogere et in numeros verba soluta novos. | Hic labor ingenii vires acuitque fovetque, | Hinc venit eloquii copia, forma, nitor.« Übersetzung Weng: Gedichte S. 194. Vgl. zu diesen Angaben Rhein: Stigel. Zum Verhältnis von Melanchthon und Stigel vgl. außerdem Schäfer: Waffen.

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Es entspricht diesem Selbstbewußtsein, daß Eoban Hesse gerade Vidas »De arte poetica« (Nürnberg 1531) herausgegeben hat, eine im Vergleich etwa zu Vadians fast gleichzeitiger Abhandlung »De poetica« intellektuell wenig interessante, an Horaz' »De arte poetica« orientierte Abhandlung, die weder von der Aristoteles- noch von der PlatonRezeption in nennenswertem Maße beeinflußt ist. Dieses Selbstbewußtsein drückt sich auch in einer Vorlesung aus, die Hesse 1514 in Leipzig gehalten hat. Dort erzählt er, wie er nach Preußen kam und mit dem Dichten begann, indem er die Orte, Sitten, Gebräuche und Altertümer, wie er sie dort vorfand, in seinen Eklogen beschrieb. Er habe dies allerdings nicht nach Art der Geographen getan, mit dem Anspruch auf Vollständigkeit, sondern auf seine Art, in dichterischer Form. Darunter will er nun aber nicht verstanden wissen, daß er Erfundenes und Erlogenes geschrieben habe, sondern nur, daß er den Sachverhalt selbst so darstellt, wie er sich verhält, aber darüber hinaus auch dichterisches Beiwerk hinzufügt, das die Lektüre angenehm macht. Wer dies nicht tue, dem ginge es wie Lukan, er werde von vielen der Bezeichnung des Dichters nicht würdig erachtet und den Historikern zugeordnet.24 Versform und ein wenig fiktionales Beiwerk definieren die Tätigkeit des Dichters, die vor allem in der metrischen Beschreibung des Tatsächlichen besteht. In diesem Sinne heißt es in der ›Studienordnung‹ (»De ratione discendi«, 1562) von David Chytraeus (einem Schüler Melanchthons): »Auch die Dichter enthalten keine ihnen eigentümliche Art von Wissen oder Lehre, sondern biblische oder weltliche Geschichte [historia], Regeln für das Verhalten oder ein Wissen über das Wesen der Sachverhalte, in Verse gebracht und bildlich vor Augen gestellt.«25 Die Dichtung selbst beschreibt Chytraeus mit einem Zitat aus dem »Ecclesiastes« des Erasmus als einen Kuchen, der »aus den Köstlichkeiten und dem Mark aller Wissenschaften« gebacken sei. Die Dichter täten nichts anderes, als die wichtigsten und bedeutendsten Aussagen aller Wissenschaften und die zentralen Grundbegriffe der ganzen Philosophie vor Augen zu stellen. Zu diesem Zweck bedienten sie sich des Metrums einerseits und »hervorstechender bildlicher Darstellungen, historischer oder

_____________ 24 25

Hessus: Epistolae S. 246 ff. Chytraeus: De ratione discendi f. I4v: »Poetae etiam nullum peculiare genus doctrinae, sed vel historias sacras aut prophanas, vel praecepta de moribus, vel doctrinam de natura rerum carminibus et picturis illustratam continent.« Erstausgabe 1562, ich zitiere nach der überarbeiteten und erweiterten Ausgabe 1564. Übersetzung nach Entner: Dichtungsbegriff S. 359.

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erfundener exempla und geeigneter Gleichnisse« (picturis insignibus seu exemplis historicis et fabulosis ac similitudinibus aptissimis) andererseits.26 In der Wissenschaftseinteilung von Bernhard Copius, »Idea sive partitio totius philosophiae« (1588), die Reiner Lang und Rudolf Goclenius herausgegeben haben, bildet die Dichtung (poesis) zusammen mit der Geschichte (historia) einen Zweig der »besonderen Bildung« (paideia specialis), die von der »allgemeinen Bildung« (paideia generalis) unterschieden wird, zu der Physik, Astrologie, Musik, Ethik, Politik und Ökonomie gehören. Der »paideia« insgesamt steht die »propaideia« gegenüber, zu der Grammatik, Logik, Rhetorik und Mathematik gehören. Einen Teil der »besonderen Bildung« stelle die Dichtung dar, weil sie die anderen, ›allgemeinen‹ Wissenschaften mit erfundenen exempla gleichnishaft illustriert, im Unterschied zur historia, die nur der Wahrheit und Wirklichkeit entsprechende exempla berichtet. Die Dichtung, deren eigentümliches Merkmal die Versform ist, will nicht betrügen, sondern unter erfundenen Sachverhalten natur- und moralphilosophisches Wissen darstellen. Deswegen habe es in der Antike geheißen, Homer, Vergil oder Ovid würden die gesamten Wissenschaften enthalten. Dieses dienende Verhältnis zur Philosophie zeige sich deutlich auch darin, daß die Dichter bisweilen selbst ihren fabulae Auslegungen beigeben, die diese damit zur Philosophie erheben.27 Ein Traktat wie die »Ars poetica« des Horaz kommt diesem Begriff von Dichtung weit mehr entgegen als die aristotelische »Poetik«. Im Gegensatz zu dieser beschäftigt Horaz sich nicht mit begrifflichen ›Spitzfindigkeiten‹ (wie Vives es formulierte), sondern gibt praktische Anweisungen und Überlegungen auf einem Niveau, das ihn für die Schullektüre prädestinierte. Im Gegensatz zur aristotelischen »Poetik« findet sich die »Ars poetica« deswegen vom 15. bis zum 17. Jahrhundert in unzähligen Editionen, Kommentaren, Paraphrasierungen und Interpretationen. Die Thematik des Traktats entsprach genau dem, was im allgemeinen Bewußtsein des 16. Jahrhunderts den spezifischen Bereich der Poetik ausmachte. Jodocus Willich und Abdias Praetorius sind mit ihrer Kenntnis der aristotelischen »Poetik« die seltenen Ausnahmen. Willich verweist 1539 in seinem Kommentar zur »Ars poetica« des Horaz den Leser, der an einer wissenschaftlichen Erkenntnis der Dichtung interessiert ist, auf die aristotelische Schrift. Im Vergleich zu ihr sei das Horazische Unterfangen ein bloß schulisches, das sich an die Heranwachsenden richte. Im Laufe seines Kommentars läßt er gelegentlich immer wieder aristotelisches Hinter_____________ 26 27

Chytraeus: De ratione discendi f. A6v f. Copius: Idea f. 29r.

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grundwissen einfließen, so etwa bei der Definition der Tragödie oder bei der Unterscheidung der Dichter in lyrische, epische und dithyrambische. Daß er dabei tatsächlich den Text des Aristoteles verwendet hat, zeigen seine Zitate des griechischen Originals.28 Abdias Praetorius (auch er ein Schüler Melanchthons) verweist in seinen »De poesi graecorum libri octo« (1561) auf die aristotelische Unterscheidung zwischen Epos und Tragödie. Die Poetik setzt er aber kurz darauf mit der Metrik und Verslehre gleich.29 Auch sonst finden sich in seiner Abhandlung keine weiteren Spuren der Aristoteles-Lektüre. Ähnlich wie bei Chytraeus heißt es, die Poetik sei mit der Rhetorik, Grammatik, Musik, Geometrie und Geschichte verwandt.30 Mit der Rhetorik, was inventio, dispositio und elocutio betreffe, mit der Grammatik, was Prosodie und grammatisch korrekte Sprache, mit der Musik, was die Harmonie, mit der Geometrie (also der ›Meßkunst‹), was Silbenlänge und Metrik und mit der Geschichte, was den Stoff betreffe. In diesem Sinne sei die Dichtung auch mit den übrigen Disziplinen, der Theologie, Politik, Ethik, Medizin, Physik und Astronomie verwandt. Im ersten Kapitel des zweiten Buches gliedert Praetorius den Prozess des Dichtens in sieben Schritte. Erstens müsse sich der Dichter für ein argumentum entscheiden, zweitens die entsprechende poetische Gattung bestimmen, dritten die einzelnen Teile des argumentum klären, viertens diese einzelnen Teile finden, fünftens diese Teile ausführen, sechstens sie stilistisch und siebstens sie metrisch gestalten. Eine sehr deutliche Ausprägung hat dieser Begriff von Dichtung auch in Georg Fabricius' »De re poetica« (1556) gefunden, einer umfangreichen poetischen Stilistik und Verslehre.31 Das erste Buch enthält eine Prosodie und Verslehre mit Beispielen aus der antiken Dichtung. Das zweite Buch ist eine Art poetischer Synonymik, in der Art rhetorischer loci-communesSammlungen geordnet, in vielem an Erasmus' »De copia rerum ac verborum« erinnernd. So finden sich dort Exzerpte aus der antiken Dichtung, angeordnet etwa nach den Möglichkeiten des Lobes und Tadels, Beschreibungsmöglichkeiten von Begriffen wie Scham oder Furcht, Formeln, die man am _____________ 28

29 30 31

Willich: Commentaria, Prolegomena S. 9. Der Verweis auf die aristotelische Tragödientheorie S. 14, die Unterscheidung der Dichter S. 22. Griechische Aristoteles-Zitate vgl. etwa S. 115, S. 125 und S. 133. Ich verweise auf die Ausgabe von 1571, vgl. Praetorius: De poesi graecorum S. 2 f. Praetorius: De poesi graecorum S. 9 f. Das Werk – zuerst in vier Büchern erschienen, ab 1565 erweitert in sieben Büchern – war sehr erfolgreich, Leonhardt: Dimensio S. 253 zählt 22 Ausgaben. Ich zitiere nach der Ausgabe Leipzig 1565. Zu Fabricius als Dichter vgl. Ludwig: Dichtung.

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Anfang oder am Ende einer Dichtung benutzen kann, Formeln des Wünschens und Fluchens und Formeln für Epitaphe und Anathemata. Das dritte Buch ordnet antike Exzerpte nach Beschreibungsmöglichkeiten etwa der Lebensalter, Jahreszeiten, Tageszeiten, der Witterungsverhältnisse und der Naturerscheinungen (Quellen, Flüsse, Berge usw.). Das vierte Buch stellt eine alphabetisch geordnete Sammlung antiker Epitheta für Eigennamen dar, das fünfte Buch eine Sammlung von Epitheta für jede Art von Begriffen und Bezeichnungen. Das sechste Buch behandelt die speziellen metrischen und stilistischen Anforderungen der Elegie, das siebte Buch enthält eine differenzierte Verslehre. Eingeschlossen im sechsten Buch findet sich außerdem eine Zusammenfassung der »Ars poetica« des Horaz in kurze, leicht zu memorierende Regeln. Fabricius' eigenes dichterisches Werk ist, wie das Werk etwa von Georg Sabinus, Jacob Micyllus oder Johann Stigel, ein Ausdruck des skizzierten Begriffes einer humanistischen Dichtung und orientiert sich am Modell des Psalters. Dichtung in diesem Sinne steht als Lobpreis Gottes und anschauliche Darstellung seines Wesens und seiner Werke im Dienst der Religion und bedient sich zu diesem Zweck des Formen- und Sprachschatzes der antiken Dichtung. Als dichterische Form der Argumentation zum Erweis der Größe Gottes ist sie ein technisches Vermögen, das eine bestimmte sprachliche Begabung erfordert und im Lateinunterricht an den Schulen und Universitäten gelernt und praktiziert wird. Fast alle Dichter der Epoche sind Lehrer oder Professoren. Dadurch unterscheidet sich diese Literatur von der höfischen Literatur Italiens und Frankreichs, wie sie sich in Dichtern wie Torquato Tasso oder Pierre de Ronsard in den Volkssprachen ausprägt. Auch die weltliche Dichtung, unter dem Begriff der Kasualdichtung zusammengefaßt, ist ein akademisches Medium. Diese Dichtung entsteht aus einem konkreten Anlaß und ist an einen konkreten Adressaten gerichtet. Sie ist als Epithalamium, Epicedium oder Epitaph, als Widmung oder Abschied, als Satire oder Panegyrik, als Klage oder Trost ein Medium der gelehrten Kommunikation, eine hochartifizielle Form der Mitteilung eines ganz bestimmten Inhaltes persönlicher oder offizieller Natur. Symptomatisch für diesen akademischen Begriff der Dichtung sind die universitären Festreden aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, die die Dichtkunst zu ihrem Gegenstand haben, wie etwa Zacharias Orths »Oratio de arte poetica« (1558), Johannes Caselius' »Pro arte poetarum oratio« (1569), Gregor Bersmanns »De dignitate atque praestantia poëtices oratio« (1575), Lambert Ludolf Pithopoeus' »De studio poetices oratio«

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(1586) und Hermann Kirchners »Pro disciplina poetica oratio« (1595).32 Der Aufbau und der Inhalt dieser Reden ist relativ einheitlich. Die Dichtung wird aus ihrem Alter heraus gelobt, das im allgemeinen bis auf Moses' Danklied nach der Durchquerung des Roten Meeres zurückgeführt wird. Gelegentlich wird die Geschichte der Dichtung dann über die alttestamentarischen Formen, vor allem die Psalmen, bis in die heidnische Antike weiterverfolgt, bis zu den antiken Sibyllen, Orpheus und schließlich Homer und Vergil. In diesem Kontext findet sich dann oft auch eine Verteidigung der Lektüre antiker Dichtung gegen die Vorwürfe der Gottlosigkeit (impietas), der Lügenhaftigkeit oder der moralischen Anstößigkeit. Dichtung wird über ihre metrische Form definiert. Die Notwendigkeit der Dichterlektüre findet ihre Begründung in der Tatsache, daß diese alle anderen Künste und Wissenschaften umfaßt, daß sie exempla für alle Lebenslagen liefert und vor allem für den Erwerb eines angemessenen lateinischen Wortschatzes (copia) und damit für die Ausdruckskraft (eloquentia) unersetzlich ist. Dichtung ist, weil sie einen Sittenspiegel darstellt, eine Form der Philosophie, die durch Lob und Tadel von falschem Verhalten abmahnt und zu richtigem anleitet. Die metrische Form und die gleichnishafte Darstellung in einer fabula dienen der leichteren Aneignung dieses Lehrgehalts.

Gentili Scipione Gentili, Sohn eines protestantischen italienischen Auswanderers und Jurist an der Universität Altdorf, widmet in seinen »Parerga ad Pandectas« (1588) ein Kapitel der Dichtung.33 Diese könne nicht auf Wahnsinn oder einen göttlichen Geist (furor et spiritus divinus) zurückgeführt werden, »denn wie kann etwas ein Wahnsinn sein, was aus unzähligen Definitionen und Regeln besteht?«34 Ammonios und Averroes seien die ersten gewesen, denen die disziplinäre Heimatlosigkeit der Dichtung aufgefallen sei und die sie auf den Platz zurückgestellt hätten, an den sie ei_____________ 32 33

34

Zu Kirchner vgl. Bauer: Kirchner. Zweite Auflage des Werkes noch Altdorf 1664. Der Bruder von Scipione, Alberico, Professor der Rechte in Oxford, hielt wenige Jahre später eine Festrede (Druck 1593 in Oxford und 1604 in Hanau), in der er von derselben Frage wie sein Bruder ausgeht und passagenweise auch seine Argumente übernimmt. Vgl. Gentili: Commentatio. Gentili: Parerga S. 148: »Furor enim esse qui potest, quod perpetuis definitionibus praeceptisque constat?«

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gentlich gehöre, nämlich zur Logik. Erst Zabarella jedoch habe die Begründung für diese Zuordnung geliefert, indem er die Dichtung auf das exemplum zurückgeführt habe. Wenn dem so sei, stelle sich die Frage, warum Aristoteles das exemplum in seiner »Poetik« gar nicht erwähne, sondern nur in seiner »Rhetorik«. Die Antwort ist, daß das, was in der Rhetorik exemplum heiße, in der Poetik imitatio genannt werde. Der Dichter erfinde menschliche Handlungen, die derjenige, der sie höre oder lese, als exempla für eine richtige Lebensführung benutze. Der Zuhörer oder Leser werde denken, wenn er selbst sich so verhalte wie derjenige, dessen Handlungen und Verhaltensweisen der Dichter darstellt, seine eigenen Handlungen denselben Ausgang nähmen. »Diese stillschweigende Schlußfolgerung des Zuhörers ist ein exemplum, dessen Obersatz vom Dichter abhängt, die anderen von ihm selbst.«35 Die Poetik sei die Disziplin, die die Regeln für diese Form der exemplarischen imitatio formuliere, das heißt welche Personen, welche Verhaltensweisen und auf welche Art der Dichter diese nachahmen müsse. Diese Tätigkeit des Dichters sei für das Gemeinwesen von großer Bedeutung, denn seine Mitglieder würden auf diese Art zu gutem Verhalten ermahnt und von schlechtem abgeschreckt. Diese bessernde Einwirkung auf die Menschen bezeichneten Aristoteles und Platon als Katharsis. Daraus folgt auch für Gentili, wie für Zabarella, daß die Dichtung ein Instrument der Moralphilosophie ist. Damit kommt Gentili zu dem entscheidenden Punkt, denn auch die Jurisprudenz ist ein Teil der Moralphilosophie, womit die enge Verwandtschaft beider begründet wäre.36 Das Verhalten der Mitglieder eines Gemeinwesens, das die Gesetze begrifflich umschreiben und festlegen, beschreibt der Dichter mittels der imitatio als exemplum. Der Zweck beider Wissenschaften ist es, bessernd auf das Verhalten der Menschen als Teile eines Gemeinwesens einzuwirken.

Ramus, Freigius Neben Melanchthon wird in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts insbesondere das Werk von Petrus Ramus einflußreich, das in den reformierten Gebieten schulbildend wirkt. In seiner »Rhetorica« (1545) behandelt _____________ 35 36

Gentili: Parerga S. 149 f.: »Haec igitur auditoris tacita ratiocinatio exemplum est, cuius maior propositio pendet a poeta: caetera ab ipso.« Gentili: Parerga S. 151.

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Ramus die Dichtung in nur wenigen Sätzen im fünfzehnten, »De rhythmo« betitelten Kapitel, nachdem er zuvor die Lehre von den Tropen abgeschlossen und im vierzehnten Kapitel die Lehre von den Satzfiguren eingeleitet hatte.37 Dieser Stellung entsprechend wird Dichtung über den Vers definiert, wofür sich Ramus auf die Beobachtung »Poetik« 1447b beruft, Homer und Empedokles hätten außer dem Vers nichts Gemeinsames. Während Aristoteles daraus allerdings folgert, daß Empedokles deshalb eher als Naturforscher denn als Dichter zu bezeichnen wäre, folgert Ramus daraus, daß gerade der Vers als die einzige Gemeinsamkeit zwischen Homer und Empedokles das Wesen der Dichtung ausmachen müsse.38 Daß Ramus dabei etwas von der aristotelischen »Poetik« gewußt haben muß, zeigt nicht nur der Verweis auf 1447b, sondern auch die – ebenfalls auf einem Mißverständnis beruhende – Verwendung und Erklärung der Begriffe »Peripetie« und »Anagnorisis«. »Peripetie« bezeichnet für Ramus die »Unwägbarkeit der Schicksalsfälle« (varietas casuum), »Anagnorisis« die »letztlich unerwartete Erkenntnis« (agnitio tandem insperata). Den Begriff der mimesis, den Aristoteles gerade als Argument gegen eine Definition über den Vers verwendet, stellt Ramus bezuglos neben seine Definition, wenn es heißt, die metrische Rede würde »für gewöhnlich zur Nachahmung und zum Ausdruck menschlichen Verhaltens in erfundenen argumenta« (fere in fabulosis argumentis ad hominum mores imitandum et exprimendum) verwendet.39 Abweichungen in der Darstellung des Tatsächlichen kommen für Ramus nur im Sinne der Licentia als Ausschmückung der Umstände in den Blick. Antikes Modell der Dichtung sind dem entsprechend Vergils »Georgica«, denen Ramus einen ausführlichen Kommentar gewidmet hat. Die antike mythologische Dichtung, wie Ovids »Metamorphosen«, ist für ihn verschlüsselte Darstellung naturphilosophischer Wahrheiten.40 Zu einer Vermischung der melanchthonschen und ramistischen Tradition kommt es bei den sogenannten »Philippo-Ramisten«. Die »Rhetorica, poetica, logica, ad usum rudiorum in epitomen redactae« (1580) des Jo_____________ 37

38 39 40

Zuerst unter dem Titel »Institutiones oratoriae«, erst ab 1548 umgearbeitet unter dem Titel »Rhetorica, e P. Rami regii professoris praelectionibus observata« unter dem Namen von Omer Talon erschienen, vgl. Ong: Inventory. Dort S. 82-146 zur Druckgeschichte der »Rhetorica«. Ich zitiere nach der Ausgabe Frankfurt 1577. Zu Ramus' Poetik vgl. Meerhoff: Rhétorique und Ong: Ramus S. 281-283. Ramus: Rhetorica S. 35 f. Ramus: Rhetorica S. 35 f. Ramus: Pro philosophica disciplina oratio Sp.1018 f.

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hann Thomas Freigius ist in diesem Sinne ein aus den Lehrbüchern beider Autoren extrahiertes Kompendium. Die Poetik ist nach dem ramistischen Methodenbegriff in einer Abfolge von Distinktionen und Definitionen angeordnet und in Frageform redigiert, wobei den einzelnen Abschnitten die »Ars poetica« des Horaz stückweise eingegliedert ist. Auf diese Art ist die Poetik gleichzeitig der Nachweis, daß Horaz in seiner »Ars poetica« dem ramistischen Methodenbegriff gefolgt ist. Entsprechend dieses Schemas geht die Poetik von den Regeln aus, die die Dichtung mit anderen Künsten gemein hat, das heißt an erster Stelle der Logik, von der sie die Forderung thematischer Geschlossenheit sowie die Regeln der inventio und dispositio übernimmt. Der zweite Abschnitt der »Ars poetica« behandelt Freigius zufolge die Regeln, die die Poetik mit der Rhetorik gemein habe, nämlich elocutio und pronunciatio, der dritte Abschnitt die Regeln, die die Poetik mit der Ethica gemein habe, das heißt die Forderungen, die für die Darstellung des decorum und der Verhaltensweisen der Personen gelten. Die Regeln, die für die Dichtung spezifisch sind, umfassen die Regeln für die verschiedenen Gattungen und die Anforderungen an den Dichter als Person (Übung, Kenntnis der Regeln und Begabung). Auf diese Regeln ist die Poetik beschränkt, und dem entsprechend definiert Freigius die Poetik als Verslehre, die mit der Grammatik, Rhetorik und Logik verwandt sei. Während die Logik den Inhalt einer Äußerung (ratio) betreffe, seien Grammatik, Rhetorik und Poetik für die sprachliche Form (oratio) zuständig. Dabei behandle die Grammatik sprachliche und idiomatische Korrektheit (puritas und elegantia), die Rhetorik die Stilistik und die Poetik die Metrik und Verslehre. Freigius übernimmt die Definition der Dichtung von Ramus in der bereits zitierten Stelle, leicht gekürzt, und ist offenbar auch mit der aristotelischen »Poetik« bekannt, denn er ergänzt das Zitat von Aristoteles 1447b im Original. Auch er deutet die Stelle im Sinne einer Definition der Dichtung über den Vers.41

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Freigius: Rhetorica, poetica, logica f. 27v.

Moraldidaktische Bestimmung des Dramas Donat- und Evanthius-Rezeption, Celtis, Straßburger Terenz-Ausgabe Konrad Celtis erklärt am Anfang seiner »Ars versificandi et carminum« (1486), die öffentlichen Aufführungen von Komödien und Tragödien hätten in der Antike den Zweck gehabt, die Zuschauer zur Tugend anzuspornen und von den Lastern abzuschrecken.1 In der Widmung seiner Ausgabe von Senecas Tragödien (1487) fragt er, was stärker von der Gottlosigkeit abschrecken könnte als das blutrünstige Mahl des Thyestes, der seine eigenen Kinder aß. Vom Vater- und Brudermord schrecke die Tragödie des Ödipus ab, von flüchtigen Liebschaften die Geschichte der Medea, usw. Die zehn Tragödien Senecas könnten geradewegs den Dekalog illustrieren.2 Die Tatsache, daß damit im Vergleich zur aristotelischen und averroischen Poetik eine Umkehrung vollzogen ist – die Tragödie dient dem Tadel, während sie nach Averroes dem Lob dient – ist auf die Bedeutung der Abhandlungen über die Komödie zurückzuführen, die sich unter dem Namen Donats der größten Beliebtheit erfreuten. Den hundert TerenzAusgaben, die zwischen 1474 und 1495 erschienen, wurden sie 38 mal beigedruckt.3 Die wichtigste Formulierung findet sich in der heute dem spätantiken Grammatiker Evanthius zugeschriebenen Abhandlung »de fabula«. Komödie und Tragödie werden dort in fünf Punkten unterschieden. Abgesehen von der Tatsache, daß die Tragödie ihren Stoff aus der historia übernehme und die Komödie ein erfundenes argumentum habe, stelle die Tragödie die Schicksale berühmter Menschen dar, enthalte lebensgefährliche Bedrohungen und große Leidenschaften und habe ein trauriges Ende. Die Komödie entwickle dagegen gewöhnliche Schicksale ohne große Gefahren mit einem fröhlichen Ende. Deswegen »bringt die Tragödie ein zu _____________ 1 2 3

Celtis: Ars versificandi f. C1v. Celtis: Briefwechsel S. 12 f. Zur Druckgeschichte vgl. Cupaiuolo: Bibliografia. Auf die Bedeutung der DonatKommentare für den Begriff der Komödie und Tragödie in der Frühen Neuzeit haben hingewiesen Javitch: Emergence; Bareiß: Comoedia S. 180-184; Dietl: Locher S. 20-29; Lawton: Térence S. 10, Lurje: Suche S. 42-56, Robbins: Characterization S. 15-37 und Vega Ramos: Teoría S. 37-53.

Moraldidaktische Bestimmung des Dramas

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vermeidendes Leben und die Komödie ein erstrebenswertes zum Ausdruck.«4 Noch mehr Freiraum für die moraldidaktische Interpretation ließ die Abhandlung »de comoedia« von Donat selbst, die Lob und Tadel gleichermaßen zum Gegenstand der Komödie erklärte. Aus dem bürgerlichen und privaten Leben, das die Komödie darstelle, lerne man, was nützlich sei und was man vermeiden müsse.5 Eine Nachahmung des Lebens, ein Spiegel der Gewohnheiten, ein Abbild der Wahrheit sei die Komödie.6 Ausdrücklich auf diese »subtilste ler« Donats beruft sich schon 1499 der anonyme Übersetzer in einer Straßburger Terenz-Ausgabe. Terenz zu lesen sei wichtig, um das Böse zu erkennen und es vermeiden zu lernen. Der Übersetzer selbst sei erst durch die »Eunuchus«-Übersetzung von Hans Nythart davon überzeugt worden, denn, so heißt es, da wir aber die lasen und wyder gelesen haben unnd zu dem dritten mal wol gekiernet erst erkanten wir das vil guts und nutzbare ler zu pflantzen tugent und vermydung laster darinn begriffen was/ und wurden ouch erst Therencium recht an dem teil verston und bevor Donatum der darüber mit aller unverstentlicher subtilester ler geschrieben hat.7

Wie eine solche moraldidaktische Lektüre – an eine Aufführung denkt der Übersetzer offensichtlich nicht – genau auszusehen hätte, wird in der Folge erklärt: »Das aber dem allen also sy/ wie ob gemelt ist/ so nement von erst das Register da werdent ihr sehen was gutes darinn begriffen ist zu dem teil.« Das folgende, achtseitige Register enthält sowohl loci communes wie Lebensregeln – »Böser meyster offt einen verfürt« – mit den entsprechenden Verweisen auf den Text des Terenz. Im Anschluß an das Register erklärt der Übersetzer noch einmal die vier Schritte, in denen während der Lektüre der moraldidaktische Gehalt erkannt werden kann. Erstens sei das argumentum und das Personenverzeichnis zu lesen, wobei es sich bei dem argumentum, wie es dann bei der »Andria« heißt, um »ein entdeckung oder ein lutere erclerung [...] in der vorred einer yeden Comedien wye man die verstön soll und mag« handelt, also um das moraldidaktische Argument des gesamten Dramas im dialektischen Sinn. Zweitens solle man dann die Glosse zum Text lesen, die den moraldidaktischen Gehalt formuliert, drittens dann erst den Text, wobei jede Person _____________ 4 5 6 7

Evanthius: de fabula IV.2, zit. nach der Ausgabe in Donatus: Commentum Terenti S. 21: »[…] tum quod in tragoedia fugienda vita, in comoedia capessanda exprimitur […].« Donatus: de comoedia V.1, S. 22: »Comoedia est fabula diuersa instituta continens affectuum ciuilium ac priuatorum, quibus discitur, quid sit in vita utile, quid contra euitandum.« Donatus: de comoedia V.1, S. 22: »Comoediam esse Cicero ait imitationem uitae, speculum consuetudinis, imaginem veritatis.« Terenz: [Werke, deutsch] Straßburg: Grüninger 1499. Zitate nach der unpag. Vorrede.

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entsprechend ihres Charakters gelesen werden müsse, indem man sich, viertens, unter den unbekannten Namen bekannte Personen vorstellen solle: unter Simo etwa »Hansen fürwitzig«, unter Pamphilo »Peter unruh« und unter Davus »iecklin ytelböß«. Neben den zahlreichen Ausgaben der Terenz-Kommentare selbst ist insbesondere Badius Ascensius mit den umfangreichen und oft nachgedruckten »Praenotamenta« zu seiner Terenz-Ausgabe (1496, überarbeitet 1502) für die Verbreitung der moraldidaktischen Definition des Dramas im Sinne von Evanthius und Donat verantwortlich.8

Melanchthon Ab 1516 ist es Melanchthon, der die moraldidaktische Definition mit seiner ebenfalls oft nachgedruckten Terenz-Ausgabe in den protestantischen Raum vermittelt. Am ausführlichsten hat Melanchthon sich in der dritten Fassung seines Vorworts zu Terenz, das den eigenen Titel »Epistola de legendis tragoediis et comoediis« (1545) trägt, über das Wesen von Komödie und Tragödie geäußert.9 Oft erfaßt mich, wenn ich über die Verhaltensweisen und das Benehmen der Menschen nachdenke, große Bewunderung für das Bestreben der Griechen, die als erste dem Volk Tragödien vorstellten, keineswegs allein um des Vergnügens willen, wie allgemein geglaubt wird, sondern vielmehr um die wilden und rohen Menschen durch die Betrachtung gräßlicher Beispiele und Schicksalsschläge zur Mäßigung und Zähmung ihrer Leidenschaften anzuleiten, da sie in jenen Schicksalen von Königen und Städten die Gebrechlichkeit der menschlichen Natur, die Unbeständigkeit des Glücks, den günstigen Ausgang gerechten Tuns und, im Gegensatz dazu, die härtesten Strafen für Verbrechen zur Schau stellten.10

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Badius: Praenotamenta, dort v.a. Kap. 4: »Descriptiones et differentiae tragediae et comediae«. Zur Bedeutung vgl. Lurje: Suche S. 45-48 und Robbins: Characterization S. 16-18. Franz. Übersetzung in Badius: Prefaces S. 49-119. Zu Badius' Neuplatonismus vgl. unten S. 168 ff. Melanchthon: Opera Bd. 5, Sp. 567-572 und ders.: Briefwechsel, Regesten Bd. 4, Nr. 3782. Auszugsweise abgedruckt und übersetzt in George: Tragödientheorien S. 49-54. Erste Fassung der Vorrede Briefwechsel Texte Bd. 1 Nr. 7, S. 45-51; zweite Fassung Briefwechsel Texte Bd. 2 Nr. 365a, S. 224-230. Wetzel: Verdienste zeigt, daß die in den Opera Bd. 19, Sp. 681-692 abgedruckten Texte nicht von Melanchthon stammen. Zu Melanchthons Bestimmung des Dramas vgl. außerdem Seidel: Praeceptor; Herrick: Theory S. 72-77. Melanchthon: De legendis tragoediis Sp. 567: »Saepe de hominum moribus et de disciplina cogitans, Graecorum consilium valde admiror, qui initio tragoedias populo proposuerunt, nequaquam ut vulgo existimatur, tantum oblectationis causa, sed multo magis, ut rudes ac feros animos consideratione atrocium exemplorum et casuum flecterent ad moderationem, et frenandas cupiditates, quod in illis regum et urbium eventibus imbecillitatem naturae

Moraldidaktische Bestimmung des Dramas

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Die Darstellung gewöhnlicher Schicksale hätte dazu nicht ausgereicht, denn das Volk ließe sich nur durch das Außergewöhnliche in Furcht und Mitleid versetzen, wie es – möglicherweise mit einer Anspielung auf die aristotelische »Poetik« – heißt. Durch die unmittelbare Veranschaulichung dieser Schreckensbilder auf der Bühne drängen die Affekte tiefer ein, blieben länger haften und führten dazu, daß man länger über die »Ursachen menschlichen Unglücks« nachdenke.11 In diesem Sinne ist das argumentum der Tragödie, daß die Gerechtigkeit durch die Bestrafung derjenigen, die durch ihre Taten die göttliche Ordnung verletzt haben, wiederhergestellt wird: "Diese Regel wollen sie allen Herzen einhämmern, daß es einen ewigen Geist gebe, der stets gräßliche Verbrechen mit besonders harten Strafen ahndet, den maßvollen und gerechten Menschen aber meist ein ruhigeres Leben gewährt."12 Diese Regel werde nicht dadurch ungültig, daß gelegentlich auch Unschuldige von Unglücksschlägen getroffen würden. Entscheidend ist, daß die Schuldigen immer bestraft werden. Neben dieser verhaltenspädagogischen Maßregelung ist es für Melanchthon auch hier wieder die Schulung der stilistischen und rhetorischen Fähigkeiten, der Ausdruckskraft (eloquentia), die den wesentlichen Nutzen der Lektüre für die studentische Jugend darstellt. Das argumentum der Komödie unterscheidet sich davon nur unwesentlich, auch wenn es, dem komischen Element zuliebe, eine in stärkerem Maß erfundene Handlung ist, die ihnen zugrundeliegt. Melanchthon geht dabei von den Komödien des Aristophanes aus, die sich weniger um Liebesgeschichten drehen als um das richtige Verhalten in einem staatsbürgerlichen Sinne. Hier werden Bürger vorgeführt, die in ihren gegensätzlichen Absichten und dem unterschiedlichen Ausgang ihrer Bestrebungen dem Leser oder Zuschauer vorführen, welchen Charakter die einzelnen Regierenden haben und welches Verhalten zu billigen oder zu tadeln ist. Da aber in einer staatlichen Regierung sowohl die guten wie die schlechten, wie sie die Komödie beschreibt, einander immer ähnlich sind, ist es nützlich, die Bilder von beiden, die Tugenden und die Laster, die Geschehnisse und die Ursachen der Geschehnisse sorgfältig zu betrachten, um, indem wir dies in Erinnerung behalten, gerechte und maßvolle Beschlüsse zu fassen, und nicht, von Ehrgeiz,

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hominum, fortunae inconstantiam, et exitus placidos iuste factorum, e contra vero tristissimas scelerum poenas ostendebant.« Übersetzung nach George: Tragödientheorien S. 50. Melanchthon: De legendis tragoediis Sp. 567. George: Tragödientheorien S. 50 f. Melanchthon: De legendis tragoediis Sp. 567: »Hanc sententiam volunt omnium animis infigere, esse aliquam mentem aeternam, quae semper atrocia scelera insignibus exemplis punit, moderatis vero et iustis plerunque dat tranquilliorem cursum.« Übersetzung nach George: Tragödientheorien S. 50 f.

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Nachahmung als Gleichnishaftigkeit

Zorn, Rachsucht oder Geiz gepackt, zulassen, daß wir uns über die Grenzen unseres Amtes erheben und ungerechte oder nicht notwendige Dinge veranlassen.13

Diese alte Form der Komödie, die der staatsbürgerlichen Erziehung diente, fand ihr Ende, als den Bürgern eine ruhige Sklaverei lieber wurde als die Anstrengungen und Mühen der Demokratie. Die Komödie verlegte sich damit auf das private Leben der Bürger, behielt aber dennoch ihre Funktion bei und erteilte ihre Ratschläge nun, wie bei Menander, unter erfundenen Namen und Handlungen. Daraus entwickelte sich die römische Komödie mit Plautus und Terenz. Auch sie bestehe nicht nur aus oberflächlichen Scherzen, sondern zeichne in Figuren wie einem Gnatho oder Thraso die Charaktermängel eines typischen Höflings, Soldaten oder Pedanten. Die jungen Leute sollten diese Charaktere genau betrachten, denn die Welt sei voll von ihnen.14 Daß Melanchthon die moraldidaktische Wirkung der Komödie ganz konkret verstanden hat, zeigen die kurzen argumentativen Analysen, die er den einzelnen Komödien von Terenz vorangestellt hat. Er führt hier nicht nur kurz auf, was aus dem jeweiligen Stück genau zu lernen sei, sondern benennt in diesem Sinne auch dessen rhetorisch-dialektischen status und das genus orationis, zu dem das Stück gehört. Bereits in der ersten dieser Ausgaben, die schon 1516 erschien, findet sich außerdem in dem dort mit abgedruckten Text von Benedetto Riccardini eine der frühesten Erwähnungen der aristotelischen »Poetik« im deutschsprachigen Raum überhaupt, wenn auch nur mit der wenig signifikanten Bemerkung »Poetik« 1449b, es wäre nicht mehr bekannt, wer als erster Personen auf eine Bühne gestellt und Handlungen erdichtet habe.15 In seiner Praefatio zur »Andria« aus dem Jahr 1524/5 zitiert Melanchthon die aristotelische Etymologie von ›Komödie‹ 1448a, und zwar im griechischen Original.16 Daß Melanchthon schon 1520 die aristotelische »Poetik« kannte oder zumindest von ihrer Existenz wußte, demonstriert _____________ 13

14 15 16

Melanchthon: De legendis tragoediis Sp. 570: »Cum autem semper in gubernatione civitatum similes sint alii bonorum alii malorum, quos comoediae describunt, utile est, imagines utrorumque, virtutes, vicia, eventus, eventuum causas diligenter considerare, ut commonefacti eligamus iusta et moderata consilia, nec accendi nos ambitione, iracundia, cupiditate vindictae, avaritia sinamus, ut extra metas officii provehamur, aut moveamus res iniustas, aut non necessarias.« Melanchthon: De legendis tragoediis Sp. 572. Melanchthon: Enarratio comoediarum Terentii Sp. 685. Melanchthon: Enarratio comoediarum Terentii Sp. 697. Zur Vordatierung des Druckes gegenüber den Angaben in den Opera vgl. Wetzel: Verdienste S. 112 f. Die Terenz-Vorrede aus dem Jahr 1516, die in den Opera Bd. 19 Melanchthon zugesprochen wird und in der sich Sp. 685 ein Verweis auf die aristotelische »Poetik« findet, stammt nicht von Melanchthon, sondern von Benedetto Riccardini, vgl. Wetzel: Verdienste S. 108.

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Luthers Schrift »An den christlichen Adel deutscher Nation«, in der ausgerechnet die »Poetik« der weiteren Lektüre an den Universitäten für würdig erachtet wird.17 Dies kann nur – wie der Kontext, die Rehabilitation der aristotelischen »Rhetorik« und Logik, zeigt – auf den Einfluß Melanchthons zurückzuführen sein,18 denn daß ausgerechnet Luther die aristotelische »Poetik« gelesen haben soll, wird man wohl kaum glauben. Wie genau auch immer Melanchthon die aristotelische »Poetik« gekannt hat, bei seiner Definition von Kommödie und Tragödie hat er sie nicht herangezogen. In einer späteren Fassung der »Prolegomena« heißt es mit einem unmittelbarem Zitat von Evanthius, die Tragödie führe ein zu meidendes und die Komödie ein erstrebenswertes Leben vor: Die Komödie unterscheidet sich darin von der Tragödie, daß in der Tragödie die Taten von Fürsten und Rittern behandelt werden, in der Komödie aber Geschehnisse, die in gewisser Weise zum bürgerlichen und häuslichen Leben gehören; ferner darin, daß in der Tragödie ein zu meidendes, in der Komödie ein erstrebenswertes Leben vorgeführt wird.19

Luther und das Schultheater In Luthers Vorreden zu den biblischen Büchern Judith und Tobias (1534), die mit dem reformatorischen Bibeldrama eine der erfolgreichsten Gattungen der Frühen Neuzeit begründen, übernimmt auch Luther Donats Bestimmung von Komödie und Tragödie. Aber der entscheidende Punkt ist der argumentative Aspekt, die Gleichnis- oder Exempelhaftigkeit des Dramas: Denn Judith gibt eine gute, ernste dapffere Tragedien. So gibt Tobias eine feine liebliche, Gottselige Comedien. Denn gleich wie das Buch Judith anzeigt, wie es land und leuten oft elendiglich gehet, und wie die Tyrannen erstlich hoffertiglich toben und zu letzt schendlich zu boden gehen, Also zeigt das Buch Tobias an, wie es einem fromen Baur odder Bürger auch ubel gehet, und viel leidens im

_____________ 17 18

19

Luther: An den christlichen Adel deutscher Nation. In ders.: Werke Bd. 6, § 25, S. 457 f. Eventuell vermittelt über Johannes Caesarius: Dialectica. Köln 1520, der die »Poetik« neben der aristotelischen »Rhetorik« in der Widmung erwähnt. Die Widmung ist herausgegeben von Rupprich in: Humanismus und Renaissance S. 158-163, vgl. dort S. 161, Z. 9. Melanchthon: Enarratio comoediarum Terentii Sp. 693: »Comoedia differt a tragoedia, quod in tragoedia tractantur negotia principum et equitum, in comoedia vero res quodammodo civiles ac domesticae; tum quod in tragoedia fugienda vita, in comoedia capessenda exprimitur.« Übersetzung George: Tragödientheorien S. 50. Der Text stammt allerdings nicht aus dem Jahr 1516, wie George meint. Nach Brettschneider Opera Sp. 692 handelt es sich um eine Vorlesungsmitschrift, die zum ersten Mal 1566 von Stephan Riccius herausgegeben wurde und nach dem Titel Sp. 674 nicht eindeutig Melanchthon zugesprochen wird.

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Nachahmung als Gleichnishaftigkeit

Ehestand sey, Aber Gott jmer gnediglich helffe, und zuletzt das ende mit freuden beschliesse, Auff das die Eheleute sollen lernen gedult haben und allerley leiden auff künfftige hoffnung, gerne tragen, jnn rechter furcht Gottes und festem glauben.20

In der Vorrede zum Buch Judith legt Luther die Gestalt der Judith als Gleichnis des jüdischen Volkes und weiter der christlichen Kirche aus, die von Holofernes als Gleichnis eines gottlosen weltlichen Herrschers. In seiner Gleichnishaftigkeit sei das Buch Judith dem Hohelied, der Offenbarung Johannes und den Gleichnissen Jesu ähnlich und könne zu Recht ein ›Exempel‹ genannt werden. Nicht zuletzt Luthers Übernahme der moraldidaktischen Dramentheorie Melanchthons hat das Schultheater, das Melanchthon mit seiner Lehrplanreform institutionalisiert hat, mit den höchsten Weihen versehen. Die berühmteste und bis weit ins 17. Jahrhundert hinein zitierte Empfehlung Luthers in den »Tischgesprächen« (um 1530), »Comödien zu spielen soll man um der Knaben in der Schule willen nicht wehren«, ist im Grunde nur eine fast wörtliche Übersetzung aus Melanchthons Vorreden, hat die Institution des Schultheaters jedoch mit einer Würde versehen, die ihm die Nüchternheit Melanchthons nicht hätte verleihen können: Comödien zu spielen soll man um der Knaben in der Schule willen nicht wehren, sondern gestatten und zulassen, erstlich, daß sie sich uben in der lateinischen Sprache, zum andern, daß in Comödien fein künstlich erdichtet, abgemalet und fürgestellet werden solche Personen, dadurch die Leute unterrichtet und ein Jglicher seines Amtes und Standes erinnert und vermahnet werde, was einem Knecht, Herrn, jungen Gesellen und Alten gebühre, wol anstehe und was er thun soll, ja es wird darinnen furgehalten und fur die Augen gestellt aller Dignitäten Grad, Aemter und Gebühre, wie sich ein Jglicher in seinem Stande halten soll im äußerlichen Wandel, wie in einem Spiegel.21

Ausbildung in der lateinischen Sprache und die Vermittlung grundsätzlicher moralischer Verhaltensregeln sind die beiden Säulen des Schultheaters. War die Aufführung von Dramen vor der Reformation noch eine Beschäftigung einzelner, mehr oder weniger elitärer humanistischer Kreise, so wird das Theater mit der Lehrplanreform Melanchthons ab 1540 zu einer festen Institution an den Schulen und Universitäten. Diese Entwicklung ist schon deshalb von überragender Bedeutung, als dieses Schultheater – sei es protestantischer oder später jesuitischer Richtung – den Begriff des Theaters überhaupt bestimmt. Mit dem Schultheater als pädagogischer Institution wird die didaktische Bestimmung des Dramas institutionell verankert. _____________ 20 21

Luther: Werke, Die deutsche Bibel Bd. 12, S. 108. Luther: Tischreden Bd. 4 Nr. 867, S. 431 f.

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Gerade die allgegenwärtige Praxis dieses Schultheaters mußte dabei einer theoretischen Reflexion, wie sie die aristotelischen »Poetik« bildet, eher hinderlich sein. Die komplizierten Anforderungen an eine tragische Handlung mit einer Peripetie und einer Anagnorisis, einem »mittleren Charakters« und einem Fehler, mußten der unmittelbaren Begründung der sprach- und moraldidaktischen Wirkung des Theaters, wie man sie alltäglich an den Schulen erlebte, widersprechen. Die Praxis des Schultheaters, dessen Paradigma Terenz war, bot für diese Art von theoretischer Reflexion weder Anlaß noch Gegenstand. Die zahllosen Terenz-Ausgaben der Zeit vermitteln deshalb den besten Einblick in die Praxis dieses Schultheaters. Die einzige theoretische Begrifflichkeit, die in deren Vorreden begegnet, ist die von Donat übernommene Einteilung der Komödie in Protasis, Epitasis und Katastrophe. Viele der frühen Kommentare müssen sich noch mit so grundsätzlichen Fragen herumschlagen, was ein Akt und was eine Szene ist.22 Der Schwerpunkt dieser Kommentare liegt auf der philologischen Erklärung und der moraldidaktischen Auslegung. Man spielte Theater, um Latein zu lernen und ein paar grundsätzliche Verhaltensregeln zu begreifen. Einen grundsätzlichen Unterschied zwischen dem Vortrag eines Schülerdialogs, etwa aus den »Colloquia familiaria« des Erasmus, und der Aufführung einer Terenz-Komödie hat diese Zeit nicht gesehen.23

Camerarius, Micyllus, Fabricius Donats Bestimmungen zitiert auch Camerarius in den »Prolegomena« zu seiner Sophokles-Ausgabe (1556). Es wäre die Absicht der tragischen Dichter gewesen, in ihrer Gräßlichkeit (atrocitas) einzigartige Schicksale vor Augen zu stellen.24 Camerarius bemerkt allerdings die Schwierigkeit, _____________ 22 23 24

Vgl. etwa den in Melanchthons Opera Bd. 19 abgedruckten Terenzkommentar, hier Sp. 686 ff. Zur Verfasserfrage vgl. Wetzel: Verdienste. Vgl. dazu Barner: Barockrhetorik S. 285-321 und S. 344-352. Teilabdruck (nach der Ausgabe 1568) und Übersetzung in George: Tragödientheorien S. 6064. Nach Lurje: Suche S. 94-96 vertritt Camerarius in seinem argumentum zum »Oedipus rex« eine abweichende Tragödiendefinition, die diese nicht moralisch ausdeutet. Zur Sophokles-Rezeption in der Frühen Neuzeit vgl. vor allem Lurje: Suche sowie Daskarolis: Wiedergeburt. Zu Melanchthon vgl. Rhein: Melanchthon als Gräzist. Bereits in der SophoklesAusgabe von 1534 hatte Camerarius die aristotelische »Poetik« zitiert und die sechs Teile der Tragödie (»Poetik« 1450a) zur Erklärung des Sophokles herangezogen, vgl. Camerarius: Commentarii f. 6r f.; George: Tragödientheorien S. 61. In seiner Plautus-Ausgabe (1545) hatte er in einem allgemeinen Vorwort »De carminibus comicis« die aristotelische »Poetik« zum Ursprung der Komödie zitiert, vgl. Camerarius: De carminibus comicis f. B8r. Nach Bleicher:

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diese Behauptung mit »Poetik« 1448a in Übereinstimmung zu bringen, denn er zitiert die Stelle (im griechischen Original) und kommentiert sie in dem Sinne, daß »besser« hier nur bezeichne, die Stoffe seien in der Antike eben aufgrund ihrer Gräßlichkeit besser bekannt und besonders geschätzt gewesen.25 Zwei Dinge hätten die Tragiker damit vor allem lehren wollen: Erstens, daß Vieles entgegen den menschlichen Hoffnungen und Erwartungen geschehe und es also eine Kraft gibt, die das menschliche Vermögen weit übersteigt und den Lauf der Welt bestimmt. Auf diese Art sei die antike Tragödie als ein Beweis für die Existenz eines göttlichen Wesens zu verstehen. Zweitens seien aus der Tragödie die Bedingungen menschlichen Lebens und die Unvorhersehbarkeit des Schicksals zu erkennen, deren Betrachtung zu Lebensklugheit (prudentia) führe.26 An der Tragödie erkenne man, daß Gottlosigkeit, verbrecherisches Tun, Dreistigkeit, Hochmut und Starrsinn ihre göttliche Strafe finden würden. Obwohl der göttliche Wille der menschlichen Einsicht verschloßen sei, sei dem Menschen doch die Anlage gegeben, zu erkennen, welches Verhalten moralisch angemessen sei und welches nicht. Das eine sei als Tugend nachzuahmen, das andere als Laster zu fliehen. Beides ihren Zuschauern aufzuzeigen, sei das Ziel der antiken Tragiker gewesen. Um diese Lehre desto tiefer einzuprägen, bediene sich die Tragödie nicht abstrakter Begriffe, sondern anschaulicher exempla und trage diese auch nicht bloß vor, sondern stelle sie auf der Bühne unmittelbar vor Augen.27 In Camerarius' Vorwort zum sophokleischen »Ajax« heißt es in diesem Sinne etwa, die Handlung des Stückes formuliere das Gebot der Bescheidenheit und zeige, daß Hoffahrt und Hochmut zusammenbrechen müsse und aus Jähzorn und Eifer die schlimmsten Übel entstünden.28 Die Aufführung als solche steht für Camerarius ganz im Dienst der Anschaulichkeit und Verdeutlichung, insofern die szenische Darstellung auf einer Bühne die moraldidaktischen Lehren nur desto stärker in die Herzen der Zuschauer versenke. Camerarius stellt auch schon die Verbindung von dieser moraldidaktisch notwendigen Affekterregung zum aristotelischen Gebot der Wahrscheinlichkeit her. Denn die Dichter hätten nicht so sehr tatsächliche Geschehnisse zum Stoff ihrer Tragödien ge_____________ 25 26 27 28

Homer S. 88 zitiert Camerarius die »Poetik« auch schon 1538 in seinem Kommentar zum zweiten Buch der »Ilias«. Camerarius: Prolegomena S. 8, Tragödientheorien S. 61. Camerarius: Prolegomena S. 8, Tragödientheorien S. 61 f. Camerarius: Prolegomena S. 8 f. (die Stelle bei George, Tragödientheorien leider ausgelassen). Camerarius: Prolegomena S. 20.

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wählt, als vom Wahren und manchmal sogar vom Wahrscheinlichen abweichende Handlungen. Dies sei es auch, was die Dichter von den Historikern unterscheide, und weshalb die Dichtung »Poetik« 1451b etwas Philosophischeres und Allgemeingültigeres als die Historie genannt werde. Dem vorhersehbaren Einwand, daß die Dichtung sich damit der Lüge schuldig mache, begegnet Camerarius ganz im Sinne von Aristoteles mit dem Argument, daß diese Täuschung der Weisheit zuträglicher sei als die Wahrheit.29 Ganz ähnlich heißt es bei Jacob Micyllus, einem Schüler von Melanchthon und Camerarius, in der Vorrede zu einer Euripides-Ausgabe (1562), die öffentlichen Aufführungen von Tragödien hätten in der Antike dazu gedient, das Andenken an hervorragende Männer wach zu halten, denn die Empfindung wird stärker von dem berührt, was vor die Augen tritt als von dem, was nur mit dem Gehör aufgenommen wird. Daher ist auch dies als Zweck oder Ziel der Theaterstücke anzusehen: daß man sie als Beispiele für eine vorbildliche Gestaltung des Lebens betrachte.30

Und schließlich findet sich eine ähnliche Argumentation noch einmal in der Vorrede, die Georg Fabricius (auch er ein Schüler Melanchthons) seiner Seneca-Ausgabe (1566) beigegeben hat. Die Tragödie belehre »über den Wechsel der Geschicke und das vielfältige Unglück im menschlichen Leben«, denn was man derartig auf der Bühne sehe, könne man in »vernünftiger Besinnung« vorwegnehmen, indem man es entweder vermeide oder durch »Vernunft und Beharrlichkeit abschwäche«. Die Affekte, die die Tragödie auslöst, sind deshalb nicht Furcht und Mitleid (die aristotelische »Poetik« scheint Fabricius nicht bekannt zu sein), sondern – wie es schon die Tatsache nahelegt, daß es sich um eine Seneca-Ausgabe handelt, die Fabricius bevorwortet – »Bewunderung und Schrecken« (admiratio et horror).31

_____________ 29 30

31

Camerarius: Prolegomena S. 10 f., Tragödientheorien S. 62. Micyllus: De tragoedia S. 676. Tragödientheorien S. 68: »Fortius enim feriunt senses, quae in oculos incurrunt, quam quae auribus solum percipiuntur. Quare et hic scopus seu finis fabularum est habendus, ut ad exemplum et vitae institutionem aliquam referantur.« Übersetzung George. Während Micyllus damit offensichtlich nur allgemeine Überzeugungen wiedergibt, hatte er zuvor einen neuen Aspekt ins Spiel gebracht, indem er die kultische Bedeutung der antiken Tragödien mit der Heiligenverehrung der katholischen Kirche verglichen hatte, und dabei soweit ins Detail gegangen war, die Bewegungen des griechischen Chors mit den rituellen Bewegungen der katholischen Prozessionen zu vergleichen. Fabricius: De tragoediarum usu, zitiert nach Tragödientheorien S. 72 f.

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Schosser Um 1560 läßt sich damit erstmals ein Interesse an der aristotelischen »Poetik« im deutschsprachigen Raum feststellen. Micyllus kennt in der Einleitung zu seiner Euripides-Ausgabe (1562) bereits die quantitativen Teile der Tragödie (Prolog, Episode, Exodus und Chorpartie), wie Aristoteles sie im zwölften Kapitel seiner »Poetik« behandelt.32 Nur wenige Jahre später, 1569, trägt Johannes Schosser in Frankfurt an der Oder seine »Disputatio de tragoedia« vor und ist damit der erste, der der aristotelischen »Poetik« im deutschsprachigen Raum eine selbständige Abhandlung widmet. 1577 wird sie zusammen mit seinen »Prolegomena in interpretationem Aeneidos Virgilianae« (nach Ausweis des Titelblatts 1568 vorgetragen) und einer Sammlung von stilistischen Regeln des Georg Sabinus (»De carminibus ad veterum imitationem artificiose componendis«, zuerst 1551) gedruckt. Schossers Kenntnis der »Poetik« dürfte auf Pietro Vettori zurückgehen, den er während eines Italienaufenthalts persönlich kennengelernt hatte.33 Die »Prolegomena zum Verständnis der ›Aeneis‹ Vergils« beginnen mit der Definition der Dichtung als »Nachahmung menschlicher Handlungen, die sich durch Metrum, Harmonie und Rhythmus vollzieht, um die Menschen zu erfreuen und mit den besten Verhaltensweisen zu zieren.«34 Hier wird zum ersten Mal der Kern des aristotelischen Begriffs der Dichtung als Nachahmung menschlicher Handlungen formuliert, auch wenn Schosser die Konsequenzen mißachtet und seine Definition mit einem Verweis auf das Horazische »prodesse et delectare« schließt. So unaristotelisch die Definition der Dichtung damit auch endet, Schosser ist sich doch bewußt, daß der Begriff der Nachahmung erklärungsbedürftig ist und widmet die ganze nächste Seite einer Unterscheidung des aristotelischen mimesis-Begriffes vom rhetorischen imitatioBegriff. Die Mühe, die Schosser auf diese Unterscheidung verwendet, illustriert die Probleme, vor denen ein Verständnis der aristotelischen »Poetik« im 16. Jahrhundert stand. Am Anfang des zweiten Kapitels, das dem Ziel oder dem Zweck der »Aeneis« gewidmet ist, hat Schosser den aristotelischen Nachahmungsbegriff bereits wieder vergessen: Die Verwandtschaft von Dichtung und Moralphilosophie ist so groß, daß beide kaum von einander unterschieden werden können. Denn der Dichter hat sich ge-

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Micyllus: De tragoedia S. 671 ff., Tragödientheorien S. 67 ff. Vgl. den Artikel zu Schosser in Zedler: Universallexikon. Schosser: Prolegomena f. E8v: »Poesis est imitatio actionum humanarum, quae fit metro, harmonia et rhythmo: ad animum hominum delectandum, et optimis moribus expoliendum.«

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nau wie der Moralphilosoph dies zum Ziel gesetzt, den Menschen in allen Tugenden zu unterrichten, sowohl deshalb, daß dieser sie zu seiner eigenen Glückseligkeit vervollkommne, als auch, daß er sie in der Gemeinschaft zum Nutzen der anderen Menschen anwende. Dies ist jedoch der Unterschied zwischen Philosoph und Dichter, daß jener sich ein einfaches Ziel vorgegeben hat, nämlich die Unterrichtung des Menschen, dieser aber ein doppeltes, und zwar die Unterrichtung und die Unterhaltung.35

Dieser doppelte Zweck sei auf die unterschiedliche Zuhörerschaft zurückzuführen, denn der Philosoph setze einen gereiften und urteilsfähigen Zuhörer voraus, der einer ›nackten‹, also logisch strukturierten Argumentation folgen könne, der Dichter dagegen wende sich an jugendliche Zuhörer in der Schule oder an die ungebildete Menge im Theater, die in ihrer geistigen Unbedarftheit (imperitia mentis) den Kindern vergleichbar sei. Wie der Arzt, der seine bittere Medizin in einer süßen Pille darreiche, so verpacke der Dichter seine moralphilosophischen Lehren in der Süße der Sprache und in der Freude der Nachahmung. In diesem Sinne habe Vergil in Aeneas das Vorbild aller Tugenden abgebildet. Die »Disputatio de tragoedia« selbst löst die aristotelische Tragödientheorie in 96 einzelne, durchnumerierte Thesen auf. Die zweite These zitiert die Definition der Tragödie 1449b im griechischen Original und in der lateinischen Übersetzung, wobei Schosser allerdings unentschieden bleibt, wie genau die Katharsis zu verstehen ist.36 Ein eigentliches Interesse bringt Schosser ihr nicht entgegen, und so lautet denn die These 79 auch wieder lapidar: »Die Wirkung der Tragödie sind Unterrichtung und Vergnügen.«37 Die 96 Thesen selbst versuchen sich an einer systematischen Aufschlüsselung der aristotelischen Tragödientheorie, ohne dabei aber die einzelnen technischen Begriffe irgendwie zu explizieren. Sukzessive werden die qualitativen und quantitativen Teile der Tragödie, die Arten und Gesetze der Handlung, die antike Geschichte der Tragödie und die Unterschiede zu Komödie und Epos behandelt. Wenn Micyllus bereits die quantitativen Teile der Tragödie kennt, Camerarius als erster die Bedeutung der poetischen Wahrscheinlichkeit _____________ 35

36 37

Schosser: Prolegomena f. F2v f.: »Tanta est poesi cum philosohia morali cognatio, ut haud facile discerni a se invicem possint. Non minus enim poeta quam philosophus moralis, propositum habet hunc finem, ut instituat hominem doctrina omnium virtutum, cum, ut ipse iis ad suam beatitudinem perficiatur, tum ut eas in civitate ad usum aliorum hominum accommodet. Hoc tamen inter philosophum et poetam interest, quod ille simplicem habet finem propositum, videlicet institutionem animi humani: hic vero duplicem: institutionem scilicet, et delectationem.« Schosser: Disputatio f. F7r. Auch die These 78, die sich noch einmal der Frage widmet, bleibt undeutlich, vgl. f. G5r. Schosser: Disputatio G5r f.: »Effectus tragoediae, sunt institutio et voluptas animi.«

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erahnt und Schosser sich mit dem Nachahmungsbegriff auseinandersetzt, ist dies ein erstaunlicher theoretischer Fortschritt. Er ist ein Hinweis darauf, aus welcher Richtung die Rekonstruktion des antiken Dramas zu erwarten war: nicht von den Dramatikern, sondern von den Philologen. Die Praktiker des Theaters, das zeigt das 17. Jahrhundert, haben sich von der aristotelischen »Poetik« eher abgewandt, je bekannter sie wurde.

Jesuitische Poetiken um 1600 Pontanus Jacob Pontanus begründet in seinen »Poeticarum institutionum libri tres«1 (1594) die Dichtung auf dem Begriff der Nachahmung: Die Bezeichung ›Dichter‹ ist von ›poiein‹ abgeleitet. Wenn dieses Wort als ›machen‹ oder ›erfinden‹ verstanden wird, versteht sich unser Dichter als Macher, Erfinder oder Nachahmer und die Dichtkunst damit als Kunst des Machens, Erfindens oder Nachahmens. Erfinden oder erdichten heißt nämlich nachahmen, und zwar den Sachverhalt, dessen Abbildung und Gleichnis (similitudo) erfunden wird. Und wer nachahmt, erfindet etwas.2

Damit wäre jeder, der etwas nachahmt, ein Dichter. Um den Begriff deshalb genauer zu fassen, möchte Pontanus nur die Wissenschaft als Dichtkunst bezeichnet wissen, die in metrisch geregelter Sprache das Leben und die Verhaltensweisen der Menschen darstellt.3 Pontanus' Definition lautet: »Die Dichtkunst ist also die Kunst, Handlungen von Menschen zu erfin_____________ 1

2

3

Nach der Erstausgabe Ingolstadt 1594 weitere Ausgaben Ingolstadt 1597 und 1600 sowie Avignon 1600. Äußerst weit verbreitet in den von Johann Buchler herausgegeben Auszügen, im Anhang zu dessen »Thesaurus phrasium poeticarum« (1605), der bis 1671 mindestens 22 Mal gedruckt wurde. Zur Person vgl. Bauer: Pontanus; zu seiner Rhetorik vgl. Bauer: Ars rhetorica S. 241-318. Zur Poetik vgl. Bielmann: Dramentheorie; Entner: Dichtungsbegriff S. 379-383; Fischer-Neumann: Dramentheorie; Happ: Dramentheorie; Nessler: Dramaturgie. Zur Poetik und zum Schultheater der Jesuiten allg. vgl. Valentin: Théatre S. 327-384 und Valentin: Jesuitendrama. Spezifisch zur Rezeption der aristotelischen »Poetik« vgl. Schings: Consolatio; Fuhrmann: Rezeption; Zeller: Diskurs. Pontanus: Institutiones S. 3: »Poetae nomen παρὰ τὸ ποιεῖν deflexum est. Quam vocem facere et fingere cum interpretentur, poeta nobis factor et fictor sive imitator, et poetica proinde ars faciendi et fingendi sive imitandi exponetur. Fingere enim seu effingere est imitari: nempe rem illam, cuius imago et similitudo finigitur: et qui imitatur, effingit quippiam.« Pontanus: Institutiones S. 4.

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den und diese zum Unterricht des Lebens in metrisch geregelter Sprache darzustellen.«4 Die guten Handlungen sollen als Vorbild dienen, die schlechten als abschreckende Beispiele. Damit bedient sich Pontanus des Begriffs der Nachahmung im averroischen Sinne der similitudo. Nachahmung wird als moraldidaktische Gleichnishaftigkeit verstanden und auf metrisch geregelte Sprache beschränkt. Das ganze dritte Kapitel ist der Nachahmung als definierendem Merkmal gewidmet, wobei Pontanus die beiden zentralen Stellen der »Poetik« zitiert (1447b und 1451b), Aristoteles jedoch so versteht, daß die Nachahmung zwar eine notwendige Bedingung sei, aber nicht die alleinige. Neben die Nachahmung tritt gleichberechtigt das Metrum, dem das vierte Kapitel gewidmet ist. Pontanus bestreitet dem »Goldenen Esel« des Apuleius und den Dialogen Lukians den Namen der Dichtung, weil sie in Prosa abgefaßt seien. Das aristotelische Argument, daß auch dann, wenn man das Werk Herodots in Verse kleide, es nichtsdestotrotz ein historisches Werk bleibe, wird umgedreht, wenn es bei Pontanus heißt, daß umgekehrt jedoch nicht gelte, daß die »Aeneis«, in Prosa gebracht, immer noch Dichtung sei. Die Werke Homers und Sophokles seien, ohne Verse, keine Dichtung.5 Das Kriterium, mit dem Aristoteles 1451b dagegen Dichter und Historiker unterscheidet – die größere philosophische Allgemeingültigkeit der Dichtung – nimmt Pontanus nicht zur Kenntnis. Als Argument ex negativo für das Metrum als definierendes Merkmal der Dichtung führt Pontanus an, daß, wenn nur die Nachahmung das definierende Merkmal der Dichtung wäre, auch die Dialoge Ciceros oder Platons, in Verse gebracht, Dichtung heißen müßten.6 Gerade dieses Problem stellt sich aber nicht, wenn man, wie Aristoteles, Nachahmung als die Nachahmung von Handlung bestimmt. Wo für Aristoteles die Dichtung Ausdruck eines natürlichen Nachahmungsbedürfnisses ist, da ist für Pontanus die Nachahmung Ausdruck des didaktischen Zweckes. Insofern alle menschlichen Handlungen gut oder böse, tugend- oder lasterhaft seien, müsse der Dichter seine Stoffe der Moralphilosophie entnehmen. Diese führt er dann freilich, die divisiones, definitiones und ratiocinationes der Schulbücher hinter sich lassend, in einer gestalteten Sprache an von ihm erfundenen oder mit Erfindungen amplifizierten exempla vor Augen, die die Gefühle des Lesers oder Zu_____________ 4 5 6

Pontanus: Institutiones S. 5: »Sit ergo poetica, Ars, hominum actiones effingens, easque ad vitam instituendam carminibus explicans.« Pontanus: Institutiones S. 11. Pontanus: Institutiones S. 10 f.

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schauers so ansprechen, daß er mitgerissen wird.7 Deswegen werde die Dichtung von Alters her eine Philosophie genannt, die vom Schleier der Fabeln bedeckt ist (philosophiam, fabularum involucris tectam).8 Ein weiterer, klassisch antiaristotelischer Topos folgt, wenn es im Anschluß daran heißt, in diesem Sinne umfasse die Dichtung alle Wissenschaften und Künste. Letzter Zweck einer solchen Dichtung ist deshalb das Horazische prodesse et delectare, während die Nachahmung und das Metrum nur vermittelnder Zweck seien.9 Die Tragödie definiert Pontanus als »eine Dichtung, die die Unglücksfälle berühmter Menschen durch handelnde Personen darstellt, um durch Mitleid und Furcht die Menschen von diesen Leidenschaften zu befreien, von denen dieserart tragische Handlungen ausgehen.«10 Durch das Personal – die »berühmten Menschen« – unterscheide sich die Tragödie von der Komödie, durch die Aufführung vom Epos. Die Frage, wie ein trauriges Schicksal Vergnügen erwecken könne, beantwortet Pontanus zuerst nach Aristoteles 1448b mit der Freude an der Nachahmung überhaupt, unabhängig vom dargestellten Gegenstand.11 Eine zweite, gänzlich unaristotelische Begründung erklärt das Vergnügen an tragischen Gegenständen mit der Freude, die wir darüber empfinden, von solchen Schicksalsschlägen verschont worden zu sein. Durch die Tragödie würden wir dazu ermahnt, die Ursachen von solchen Schicksalsschlägen zu meiden, diese Belehrung wiederum erzeuge Freude.12 Auch hier bilden also die Donat-Kommentare die eigentliche Quelle der Definition. Die technischen Anforderungen der Tragödie beschränken sich bei Pontanus auf die ›Ständeklausel‹, die Forderung schrecklicher Gegenstände, den unglücklichen Ausgang, das Verbot, Grausamkeiten auf offener Bühne zu zeigen, die Zahl der Schauspieler, den Deus ex machina und die Form des Prologs. Die aristotelischen Forderungen, die den Aufbau der Handlung betreffen – Peripetie, Anagnorisis, der Fehler, der mittlere Charakter des _____________ 7 8 9 10

11 12

Pontanus: Institutiones S. 14 f. Pontanus: Institutiones S. 15. Pontanus: Institutiones S. 16 f. Pontanus: Institutiones S. 110: »Tragoedia est poesis virorum illustrium per agentes personas exprimens calamitates, ut misericordia et terrore animos ab iis perturbationes liberet, a quibus huiusmodi facinora tragica proficiscuntur.« Das achtzehnte und neunzehnte Kapitel der »Institutiones« mit der Tragödientheorie findet sich in Teilübersetzung bei George, Tragödientheorien S. 75-84. Zu Pontanus' Tragödientheorie vgl. v.a. Bielmann: Dramentheorie, der die Abhängigkeit von Viperano aufzeigt. Pontanus: Institutiones S. 110. Pontanus: Institutiones S. 110 f.

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Helden, die nahen Verwandtschaftsverhältnisse usw. – werden übergangen. Daß Pontanus diese Begrifflichkeit bewußt übergeht, zeigt nicht nur seine offensichtliche Kenntnis der aristotelischen »Poetik«, die er im griechischen Original zitiert, sondern auch die Bemerkung, mit der Pontanus seine Behandlung der Tragödie abschließt: »Dies zur Tragödie. Das Übrige übergehen wir klugerweise, weil es eher hinderlich ist und mehr auch als das bisher erklärte von der Gewohnheit dieser Epoche abweicht.«13 Das ist letztlich die Überzeugung, die Vives schon 1531 vertreten hatte, wenn er die »Poetik« als voll von »überflüssigen Subtilitäten« verspottet hatte.

Sarbiewski Die in ihrer Zeit nur handschriftlich überlieferte Poetik des polnischen Jesuiten Maciej Kazimierz Sarbiewski »De perfecta poesi sive Vergilius et Homerus« (1626/27) ist im Kern zwar eine Theorie des Epos, behandelt aber auch die Dichtung im allgemeinen und die anderen Gattungen.14 Sarbiewski verbindet die Metapher vom Dichter als Schöpfer mit der aristotelischen Definition der Dichtung 1451b als Nachahmung von Möglichem im Gegensatz zur Historie als Nachahmung von Tatsächlichem. Im Gegensatz zu den anderen Künsten und Wissenschaften, die einen vorgegebenen Stoff hätten, erschaffe der Dichter sich seinen Stoff, indem er die Sachverhalte nicht so nachahme, wie sie sind, sondern wie sie sein könnten oder sollten, so daß der Dichter auf diese Art möglichen Sachverhalten die Existenz zuspricht und diese so erschafft.15 Indem Vergil die Taten des Aeneas erfunden habe, so, wie sie einem vollkommenen Helden zustehen, habe er Aeneas erschaffen.16 So sei auch zu erklären, daß Aristoteles der Dichtung einen allgemeineren Gegenstand als der Geschichtsschreibung zusprechen könne, denn der Dichter erschaffe seine Erfindungen, indem er das Allgemeine, das Gegenstand der Philosophie ist, in seinem Schöpfungsakt individualisiert

_____________ 13

14 15 16

Pontanus: Institutiones S. 114: »Atque haec de tragoedia. Caetera quoniam impeditiora, et magis etiam quam hactenus explicata ab aetatis huius usu abhorrentia sunt, prudentes omittimus.« Zu Sarbiewski vgl. Li Vigni: Poeta. Sarbiewski: De poesi S. 2. Sarbiewski: De poesi S. 3.

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und konkretisiert und auf diese Art aus dem möglichen Zustand der Allgemeinheit in den tatsächlichen Zustand der Wirklichkeit überführt.17 Sarbiewskis Definition der Dichtung lautet: »Die Dichtung ist also die Kunst, die das Seiende im Sprechen nachahmt, nicht gemäß dem, was es ist, sondern gemäß dem, gemäß dem es sein könnte oder sein sollte, oder gemäß dem es wahrscheinlich existiert, oder existierte oder existiert haben wird.«18 Aus dieser Definition ergeben sich einige entscheidende Korrekturen an der aristotelischen Definition. Zu Unrecht habe Aristoteles die Dichtung auf die Nachahmung menschlicher Handlungen beschränkt, denn auch Horaz ahme etwas nach und erschaffe es dadurch, wenn er in einer Ode etwa eine Quelle beschreibt, oder Homer, wenn er den Kampf der Frösche und Mäuse beschreibt, und also tierische, nicht menschliche Handlungen nachahmt.19 Außerdem umfaßt das »Seiende« nicht nur menschliche Handlungen, sondern auch Abstrakta (entia rationis), wie die Tugenden, die Liebe, den Ruhm usw., die nach der aristotelischen Definition nicht Gegenstand der Dichtung sein könnten.20 Die Frage nach der Versform als möglichem Kriterium der Dichtung beantwortet Sarbiewski im aristotelischen Sinne.21 Nicht das Metrum, sondern allein die Nachahmung definiere die Dichtung, deshalb handle es sich bei der Elegie und ähnlichen lyrischen Formen um »unvollständige Arten« (species imperfectae) von Dichtung und beim Epigramm überhaupt nicht um Dichtung. Elegische und lyrische Formen enthielten zu wenig Nachahmung, um sich damit genug von der Anwendung bloß rhetorischer Fähigkeiten zu unterscheiden. Der dichterische Schöpfungsakt ist entscheidend, und dieser äußert sich in der Nachahmung, nicht in der Versform. Sarbiewski folgert daraus auch, mit Scaliger, daß Lukan, Lukrez und Vergil in seinen »Georgica« keine Dichter, sondern nur Versifikatoren sind.22 Die höhere Allgemeingültigkeit der Dichtung gegenüber der Geschichtsdarstellung nach Aristoteles 1451b verwendet Sarbiewski, um daraus auf weit über hundert Seiten höchst spezifische und detaillerte Forderungen an die Handlung eines Epos abzuleiten, von der Konstrukti_____________ 17 18

19 20 21 22

Sarbiewski: De poesi S. 4 Z. 11-19. Sarbiewski: De poesi S. 4 Z. 26-29: »Sit ergo poetica ars, quae entia dicendo imitatur non iuxta ea, iuxta quae sunt, sed iuxta ea, iuxta quae esse vel debent, vel possunt, vel verisimiliter exsistunt, vel exsistebant, vel exstiturae sunt.« Sarbiewski: De poesi S. 4 Z. 30-35. Sarbiewski: De poesi S. 5 Z. 4 f. Sarbiewski: De poesi S. 11, das »Corollarium II« zum vierten Kapitel. Sarbiewski: De poesi S. 21 Z. 8-12.

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on des Helden über seine Handlungen bis hin zu den Schauplätzen. Die »Aeneis« dient nahezu als einziges Demonstrationsobjekt. Dabei verbindet Sarbiewski in der Bestimmung dieser Allgemeinheit die aristotelische Unterscheidung von Geschichtsdarstellung (also historia) und Dichtung (also fabula) mit der Unterscheidung von historia, argumentum und fabula nach der »Rhetorica ad Herennium« I.13. Dieser Stelle zufolge ist die fabula, wie sie der Tragödie zugrundeliegt, weder wahr noch wahrscheinlich, während die historia einen tatsächlich geschehenen Sachverhalt darstellt und das argumentum einen erfundenen, aber wahrscheinlichen Sachverhalt darstellt, wie er der Komödie zugrundeliegt. Diese Unterscheidung vermischt Sarbiewski mit der aristotelischen. Während die historia einen Sachverhalt so erzähle, wie er geschehen sei, mit allen Umständen und den Eigennamen der Personen, ist das argumentum des Epos die historia oder der Sachverhalt, wie er geschehen hätte können oder sollen. Aus diesem argumentum stammt deshalb die Allgemeingültigkeit des Epos. Die fabula des Epos, also seine eigentliche Handlung, ist aus historia und argumentum zusammengeschmolzen, das heißt sie [die fabula] wird aus jenem allgemeingültigen argumentum nach dem Belieben und dem Urteil des Dichters wie die hypothesis aus der thesis genommen. Mit einem Wort, die historia ist: Odysseus segelt über das Meer. Das argumentum ist: Der Mann oder der Held segelt über das Meer. Die fabula ist: Odysseus segelt als Held über das Meer.23

»Hypothesis« bezeichnet in der Rhetorik die spezifische, untergeordnete These (Darf Milo Clodius in Notwehr töten?), die auf eine allgemeine zurückgeführt werden kann (Darf man in Notwehr töten?). Wie konkret Sarbiewski diese Übertragung von Hypothese auf These meint, zeigt das umfangreiche achte Kapitel, in dem er vorführt, wie Vergil in Aeneas einen vollkommenen Helden geschaffenen hat, indem er diesen in jeweils konkreten Episoden als einen vollkommenen Theologen, Philosophen, Astrologen, König, Feldherren, Gesetzgeber usw. bis hin zum Soldaten auftreten läßt. Aeneas demonstriert in seiner individuellen Person als Hypothese die Qualitäten eines Theologen, Philosophen, Astrologen usw. als These. _____________ 23

Sarbiewski: De poesi S. 30 Z. 18-27: »Historia enim est res, prout gesta fuit, cum certis circumstantiis et nominibus, prout apud aliquem historicorum reperitur. Argumentum epicum, seu proprium obiectum epicae, est historia vel res, prout geri potuit vel prout verisimiliter gesta est. Prout ergo historia est particularis per se, ita argumentum est universale per se. Fabula vero est tertia quaedam historia ex utroque conflata, hoc est ex illo universali argumento iuxta libitum et iudicium poetae tamquam hypothesis ex thesi subsumpta. Uno verbo, historia est: Ulixes navigat. Argumentum est: Vir vel heros navigat. Fabula est: Ulixes tamquam heros navigat.«

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Sarbiewski erläutert das Verhältnis von historia, argumentum und fabula schließlich noch an einer weiteren Analogie. Wie der Schuhmacher nach dem Vorbild eines vollkommenen Fußes einen Schuh macht, der einem verstümmelten oder unvollkommenen Fuß so übergezogen werden kann, daß der Fuß vollkommen erscheint, so bildet der Dichter nach dem Vorbild eines allgemeingültigen argumentum eine konkrete fabula, die der historia »übergezogen« werden kann.24 Sinn und Zweck einer solchen Übertragung von idealen Eigenschaften auf eine konkrete Person, wie sie Sarbiewski in der Figur des Aeneas demonstriert, ist die belehrende oder unterrichtende Funktion (docere) der Dichtung. Nach Sarbiewski vollzieht sich diese Funktion auf zweierlei Art, nämlich als direkte und indirekte. Um direkte Unterrichtung handelt es sich, wenn der Dichter etwa naturphilosophisches Wissen vermittelt, indem er Wolken oder ein Ungewitter beschreibt, theologisches, wenn er von Gott handelt, oder moralphilosophisches, wenn er die Charaktere, die Verhaltensweisen und die Äußerungen der Menschen beschreibt.25 Diese direkte Vermittlung aller Wissenschaften und Künste nennt Sarbiewski eine »direkte Enzyklopädie« (encyclopaedia directa). Ihren Nachweis führt Sarbiewski in systematischer Form, indem er zeigt, daß die »Aeneis« alle Wissenschaften enthält, angefangen von der Poetik selbst, über die Rhetorik, Geschichtswissenschaft, Medizin, Musik, Dialektik und Grammatik, über die mechanischen Wissenschaften, die spekulativen (Metaphysik), die praktischen (Ethik, Ökonomie, Politik, Militärwissenschaft), die Mathematik mit ihren Unterdisziplinen und die Theologie bis hin zur Rechtswissenschaft. Während diese »direkte Enzyklopädie« die »äußere Rinde« und die »gewöhnliche Decke« ist, mit der man das Altarbild verhüllt, damit es nicht mit Dreck bespritzt wird,26 ist die »indirekte oder allegorische Enzyklopädie« (obliquum vel allegoricum) dagegen unter dem Schleier der Handlung verborgen.27 Es handelt sich aber deswegen nicht um ein anderes Wissen oder eine andere Form von Wissen, sondern nur um ein Wissen von höherer Allgemeinheit. _____________ 24 25 26 27

Sarbiewski: De poesi S. 30 Z. 29 - S. 31 Z. 10. Sarbiewski: De poesi S. 174 Z. 16-20. Sarbiewski: De poesi S. 188 Z. 28-30. Sarbiewski: De poesi S. 188 Z. 26-28. Die Dichter verhüllen ihre Wahrheit, um sie vor Profanation zu schützen und um gerade durch die Verschlüsselung den Leser zur Entschlüsselung anzureizen. Dieser Topos wird mit einem Plutarch-Zitat S. 188 Z. 31-S. 189 Z. 4 vorgebracht und mit Zitaten von Landino S. 189 Z. 5-21 und von Caelius Rhodiginius, einem weiteren neuplatonisch inspirierten Autor, S. 190 Z. 7-15 bestätigt.

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Am Beispiel der »Aeneis«: Auf direkte Art werden durch die Handlungen des Helden per se nur fürstliche Personen, durch die Handlung der anderen auftretenden Personen per accidens aber alle Menschen in der richtigen Lebensführung unterrichtet. Auf indirekte, allegorische Art wird dagegen durch die Fabel per se und in erster Linie jeder Mensch ganz allgemein in einer guten und glücklichen Lebensführung unterrichtet, indem ihm entweder alle Mittel zur Glückseligkeit gezeigt werden, oder indem ihm sichere Wege zu einem bestimmten Teil derselben gezeigt werden.28 Während das docere, über die Nachahmung vermittelt,29 die eigentliche Zweckursache (causa finalis) der Dichtung ist, sind delectare und movere, also Unterhaltung und Affekterregung, Mittel, die vom Dichter eingesetzt werden, um die in der Dichtung enthaltenen Sachinformationen, die »Enzyklopädie«, so zu darzustellen, »daß sie von den Menschen leichter angenommen werden«.30 Die Dichtung muß unterhalten und Gefühle erregen, um dadurch die Vermittlung des Lehrgehalts zu unterstützen. Insofern sind varietas, admirabilitas und probabilitas die – relativ traditionellen – Strategien der Unterhaltung, die Sarbiewski im siebten Buch ausführt. Äußerst individuell sind auch Sarbiewskis Ausführungen zur Tragödientheorie. Sarbiewski identifiziert schon im Untertitel des siebten Buches die Affekterregung (»movere«) mit dem aristotelischen Begriff des ›Pathos‹. Peripetie, Agnitio und Perturbatio (pathos) nämlich seien die drei Strategien, durch die der Dichter Furcht und Mitleid auslöse.31 Anders als bei Aristoteles handelt es sich also für Sarbiewski bei diesen drei Begriffen nicht um die zentralen Elemente, die eine tragische Handlung generieren und strukturieren, sondern um Effekte, die in die Dichtung eingebaut werden, um Furcht und Mitleid zu erregen.32 Sarbiewskis Beispiel für eine Peripetie sind die Trojaner, die im zweiten Buch der »Aeneis« die Schilde und Rüstungen der getöteten Griechen anlegen, um aus dem brennenden Troja zu entkommen, dabei aber von den eigenen Geschoßen getroffen werden.33 Diese »Peripetie« ist für Sarbiewski desto gelungener, da er sowohl mit einer »agnitio«, einer Erkenntnis – also dem, was bei Aristoteles eine »Wiedererkennung« (Anagnorisis) _____________ 28 29 30 31 32 33

Sarbiewski: De poesi S. 190 Z. 35-S. 191 Z. 8. Auch diese Bestimmung der Nachahmung als mittelbarer und des docere als eigentlicher Zweck übernimmt Sarbiewski von Pontanus, vgl. Pontanus: Institutiones S. 16 f. Sarbiewski: De poesi S. 12, Z. 3-6. Sarbiewski: De poesi S. 220 f. Sarbiewski: De poesi S. 220 Z. 17. Sarbiewski: De poesi S. 221 Z. 20-22.

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heißt – als auch mit einer »non agnitio« verbunden ist, also einer unterbliebenen Erkenntnis. Die griechischen Waffen werden erkannt, nicht aber die Trojaner darunter.34 Diese »non agnitio« stellt Sarbiewski neben die von Aristoteles beschriebenen Formen der Anagnorisis, deren Unterscheidung er als »schwer verständlich« bezeichnet.35 Die Bestimmung des Pathos gibt Sarbiewski im sechsten Kapitel zwar im aristotelischen Sinne wieder (schweres Unheil zwischen einander Nahestehenden), deutet sie aber ebenfalls nicht als handlungsgenerierendes Element, wenn er in der Folge des Kapitels darauf hinweist, daß man auch die gefühlserregende Beschreibung von Akzidentien der Handlung, wie zum Beispiel eines locus amoenus oder terribilis, nicht zu gering veranschlagen dürfte, was ihre gefühlsauslösende Wirkung betrifft.36 Die Tragödie selbst, der nur einige knappe Bemerkungen im letzten Buch von »De perfecta poesi« gewidmet sind, definiert Sarbiewski in Anlehnung an Aristoteles und Pontanus als die Nachahmung einer herausragenden Handlung, von einer bestimmten Größe, nicht durch Erzählung, sondern durch Handlung und Gespräch, um durch Mitleid und Furcht die Menschen von diesen Leidenschaften, von denen solche tragischen Verbrechen ausgehen, zu befreien und zu reinigen.37

Während Sarbiewski die Definition von Pontanus darin kritisiert, daß sie fälschlich die herausragenden Menschen und nicht ihre Handlungen zum Gegenstand der Tragödie erkläre,38 übernimmt er Pontanus' Deutung der Katharsis als Beseitigung von Furcht und Mitleid bei den Zuschauern, ohne zu fragen, wie vom Mitleid tragische Verbrechen ausgehen könnten. Statt dessen begründet Sarbiewski die Tatsache, daß wir Furcht und Mitleid bei den Unglücksfällen von berühmten Menschen empfinden und Freude bei den Glücksfällen von Menschen aus dem Volk, damit, daß die Menschen glaubten, daß Glückseligkeit nur bei den großen und berühmten Menschen, Elend und Unglück aber bei den gewöhnlichen Menschen zu finden sei. Der Ausgang der Tragödie erwecke deshalb durch sein

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38

Sarbiewski: De poesi S. 221 Z. 18-25. Sarbiewski: De poesi S. 222 Z. 7. Sarbiewski: De poesi S. 226 f. Sarbiewski: De poesi S. 228 Z. 13-17: »Rectius ergo ipse describit Aristoteles tragoediam esse imitationem actionis illustris, magnitudinem habentis, non enarrando, sed agendo et colloquendo, ut misericordia et terrore animos ab iis pertubationibus liberet et purget, a quibus huiusmodi facinora tragica proficiscuntur.« Sarbiewski: De poesi S. 228 Z. 10-12. Vgl. die Definition von Pontanus oben S. 84.

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unerwartetes Ende – das Unglück herausragender Menschen – Furcht und Mitleid.39 Ähnlich motiviert Sarbiewski auch die aristotelische Unterscheidung von Komödie und Tragödie über den Grad der Fiktionalität. Während der Stoff der Komödie frei erfunden werden könne, weil die privaten Handlungen, die ihren Stoff bilden, sowieso niemand kenne, müsse der Stoff der Tragödie meistens der Geschichte entstammen, um die Glaubhaftigkeit zu gewährleisten, denn die Handlungen berühmter Menschen seien eben meistens allgemein bekannt.40 Gerade vor dem Hintergrund dieser unaristotelischen Ausführungen zur Tragödie überrascht eine Bemerkung, die sich beziehungslos ganz am Ende des Kapitels findet. Sarbiewski zitiert dort »Poetik« 1453a, wo es heißt, daß es nicht mitleid- oder furchterregend sei, wenn ein tadelloser, rechtschaffener Mensch vom Glück ins Unglück stürze, sondern abscheulich. Sarbiewski folgert daraus, daß man also keinen Heiligen zum Helden einer Tragödie machen könne, wie es eben gerade in dem bei den Jesuiten so beliebten Märtyrerdrama geschieht. Auf Seiten der Mörder sei die Handlung einfach verbrecherisch und auf Seiten des Märtyrers könne kein Mitleid und keine Furcht aufkommen, denn viele tadellose Männer wünschten sich eben genau ein solches Schicksal und würden sich über ihr Martyrium freuen.41 Dieser Widerspruch zwischen der Märtyrertragödie und der aristotelischen »Poetik« wird bei Donati, dem dritten der frühen jesuitischen Poetiker, ausführlich problematisiert.

Donati Alessandro Donatis »Ars poetica sive institutionum artis poeticae libri tres« (Rom 1631, Köln 1633) beginnt mit der Ableitung des Begriffes »poesis« von facere und fingere und der Bestimmung der Dichtung als Nachahmung.42 Zweck der Dichtung ist das Horazische »prodesse et delectare«, wobei die Unterhaltung das Mittel ist, um den Zweck der Unter_____________ 39 40 41 42

Sarbiewski: De poesi S. 28 Z. 18-26. Sarbiewski: De poesi S. 229 Z. 6-14. Sarbiewski: De poesi S. 230 Z. 16-23. Donati: Ars poetica S. 1. Neben den Ausgaben Rom 1631 und Köln 1633 (nach der ich im folgenden zitiere) ist eine dritte Ausgabe Bologna 1659 nachweisbar. Zur Forschungsliteratur vgl. die Angaben oben S. 82, Anm. 1.

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richtung zu erreichen.43 Durch Lob und Tadel sei die Dichtung nützlich für das Leben.44 Die Nachahmung wird als »Darstellung eines anderen Sachverhalts« definiert, und dem entsprechend synonym mit den Begriffen »Bild« und »Abbildung« (imago, simulacrum) gebraucht.45 Die Nachahmung muß die Sachverhalte nicht so abbilden, wie sie sind, sondern kann sie auch so nachahmen, wie sie sein könnten oder sollten. So könne der Maler in dem Porträt eines Fürsten die »Fehler der Natur« korrigieren und dadurch die Schönheit des Fürsten erhöhen.46 Die Nachahmung könne nicht auf die Nachahmung von Handlungen beschränkt werden, wie Aristoteles es wolle. Dann wäre nämlich alles, was sich in der Natur, in der Tierwelt (der »Froschmäusekrieg« Homers etwa) und in der übernatürlichen Welt (Gott und die Engel) findet, als Gegenstand der Dichtung ausgeschlossen. Die aristotelische Bestimmung ist deshalb nach Donati so zu verstehen, daß menschliche Handlungen zwar den bevorzugten Gegenstand der Dichtung bilden, denn über deren Nachahmung vollzieht sich das docere als Zweck der Dichtung am sichersten, keineswegs aber den einzigen.47 Gegenstand der Dichtung sind schlechthin alle Sachverhalte, weil der Mensch eben auch über alle Sachverhalte unterrichtet werden könne.48 Im Gegensatz zur Rhetorik und Geschichte orientiere sich die Dichtung nicht am Wahren, sondern am Wahrheitsähnlichen (veri simile).49 Mit Aristoteles leitet Donati aus dieser Tatsache die höhere philosophische Gültigkeit der Dichtung im Vergleich zur Geschichte ab.50 Nachdem aber für Donati, anders als für Aristoteles, Gegenstand der Dichtung alle Sachverhalte sein können, stellt sich das Problem, wieso ein Dichter, der nichts erfindet, sondern, wie etwa Vergil in seinen »Georgica«, Tatsächliches darstellt, dennoch das Wahrheitsähnliche zum Gegenstand haben kann. Donati unterscheidet deshalb zwei Formen der Wahrheitsähnlichkeit. Die eine Form beziehe sich auf die Sachverhalte, bei denen der Dichter um der Angemessenheit und der Stimmigkeit willen das eine oder andere Detail hinzuerfindet oder wegläßt.51 Die andere Form beziehe sich auf die _____________ 43 44 45 46 47 48 49 50 51

Donati: Ars poetica S. 10 Donati: Ars poetica S. 12 Donati: Ars poetica S. 3: »Imitatio est rei alterius repraesentatio.« Donati: Ars poetica S. 7. Donati: Ars poetica S. 15 f. Donati: Ars poetica S. 17. Donati: Ars poetica S. 18. Donati: Ars poetica S. 20. Donati: Ars poetica S. 21.

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sprachliche Gestaltung, bei der der Dichter kraft der Figur der Licentia den Sachverhalt durch eine spezifisch poetische Darstellung rhetorisch ausgestalte.52 Der Lehrer, der über den Ackerbau unterrichten will, sage: Im Frühling muß man den Acker bestellen. Vergil dagegen beschreibe denselben Sachverhalt auf dichterische Art so: »Früh im Lenz, wenn dem grauen Gebirg' die erfrorene Nässe | Niederschmilzt, und dem Weste die lockere Scholle sich auflöst; | Dann arbeite mir schon vor dem tief eindringenden Pfluge | Keuchend der Stier, und es blinke die Schar in die Furche gescheuert.« (»Georgica« 1.43-46) Die Regel ist dieselbe, sie enthält aber nun Vieles, das nach Donati nicht immer zutrifft und also nur wahrheitsähnlich ist, wie die Regenfälle, die eben nicht immer im Frühling von den Bergen strömen, usw. In ähnlicher Form demonstriert Donati den Unterschied zwischen Dichtung und Geschichtsschreibung an einer historischen Darstellung von Livius und einer dichterischen Darstellung Vergils. Auch hier sei es die Eigentümlichkeit der dichterischen Darstellungsweise, kleine Details zu verändern oder hinzuzuerdichten und wesentlich freier rhetorische Figuren zu verwenden, die den Unterschied ausmacht. Zweck dieser Veränderungen ist in letzter Instanz das docere, denn durch die inhaltliche und sprachliche Veränderung der Umstände werde der Unterhaltungswert, wie das Beispiel aus Vergils »Georgica« zeigt, erhöht und der Zweck der Unterrichtung desto besser erreicht. Daraus folgert Donati, daß die Handlung nicht das Wesen der Dichtung ausmachen könne, und daß auch die dithyrambischen und lyrischen Dichter, die etwa nur in einer Ode einen Sachverhalt darstellen, als vollgültige Dichter gelten könnten.53 Aristoteles habe mit seiner Definition der Dichtung als Nachahmung menschlicher Handlungen nur gemeint, daß die Dichter, die Handlungen darstellen, wie die Epiker und Tragiker, vollkommener als die Lyriker dem Begriff der Dichtung gerecht werden. Der aristotelischen Überzeugung 1447b, Homer und Empedokles hätten außer dem Vers nichts gemein, daher wäre es besser, Empedokles einen Naturforscher und nicht einen Dichter zu nennen, begegnet Donati mit demselben Argument. Aristoteles habe hier nur gemeint, daß Homer in einem größeren Maße Dichter sei als Empedokles.54 Während Homer sowohl in den Sachverhalten wie in deren sprachlicher Gestaltung dem Gesetz der dichterischen Wahrheitsähnlichkeit gehorche, gehorche Empe_____________ 52 53 54

Donati: Ars poetica S. 21. Donati: Ars poetica S. 26 ff. Donati: Ars poetica S. 33.

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dokles diesem Gesetz nur in der sprachlichen Gestaltung. Beide kämen also in ihrer Behandlung der Sachverhalte nicht überein, wohl aber in ihrem sprachlichen Ausdruck. Dieser schließe das Metrum genauso wie die der Dichtung spezifisch eigene, sprachliche Form der Wahrheitsähnlichkeit ein.55 Unter der Hand wird damit die Dichtung über die metrische Form definiert. Donati zitiert Aristoteles 1447b mit der Beobachtung, eine verbreitete Auffassung verknüpfe die Dichtung mit dem Vers, nicht mit der Nachahmung. Während Aristoteles allerdings in den folgenden, von Donati nicht mehr zitierten Sätzen diese Auffassung zurückweist, übernimmt Donati sie mit den Worten, die weite Verbreitung dieser Auffassung zeige ihre Gültigkeit.56 Auf der anderen Seite ist Donati, wiederum gegen Aristoteles, denn auch der Meinung, die Erfindung von Handlung genüge nicht für die Qualifikation als Dichtung. Erhebe man allein die Handlung zum Kriterium der Dichtung, müsse man auch diejenigen, die »erfundene Handlungen auf historische Art beschreiben«, wie Heliodor, Apuleius oder die »Amadis«-Romane, als Dichtung bezeichnen.57 Das Argument von Aristoteles 1451b – auch wenn man das Werk Herodots in Verse brächte, bliebe es nichts desto weniger ein historisches Werk – fertigt Donati wiederum mit dem Einwand ab, Aristoteles spreche hier nicht von der Dichtung an sich, sondern nur von Epos und Tragödie. Wenn man das Werk Herodots in eine dichterische Form brächte – und dazu gehört für Donati eben nicht nur die Versform, sondern auch die Freiheit in der Erfindung, das heißt die Wahrheitsähnlichkeit in der inhaltlichen und sprachlichen Ausformung – hätte man kein historisches Werk mehr, sondern ein dichterisches.58 Damit ist die Dichtung in ihrem Wesen keine Nachahmung von Handlung, sondern eine Form, die man bestimmten Sachverhalten geben kann. Im siebzehnten Kapitel zieht Donati genau diese Folgerung, indem er die Dichtkunst mit Zabarella für eine Fähigkeit (facultas) erklärt, dieselben Sachverhalte, wie sie Rhetorik und Dialektik behandeln, auf poetische Art darzustellen, nämlich durch Erfindungen (figmenta) ausgestaltet. Wenn die Dichtung eine argumentative Funktion übernehme – was für Donati nicht mehr jede poetische Form tut – so sei ihre argumentative Form die des exemplum.59 _____________ 55 56 57 58 59

Donati: Ars poetica S. 32. Donati: Ars poetica S. 9. Donati: Ars poetica S. 32 f. Donati: Ars poetica S. 34 f. Donati: Ars poetica S. 37 f.

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Donatis Tragödientheorie Im zweiten Buch seiner »Ars poetica« formuliert Donati eine antiaristotelische Tragödientheorie, für die er sich ununterbrochen auf Aristoteles beruft. Zu den aristotelischen Bedingungen, denen der tragische Held gehorchen muß, gehört der ›mittlere Charakter‹, der nach »Poetik« 1453a den Helden zwischen moralischer Makellosigkeit auf der einen und verbrecherischer Schurkenhaftigkeit auf der anderen Seite ansiedelt. Damit wäre ein moralisch integrer Protagonist von der Tragödie ausgeschlossen. Donati vermerkt dies, hält auch dies jedoch nur für eine relative Äußerung.60 Aristoteles meine damit nur, daß in einem solchen Fall das Verbrecherische überwiege. Niemand könne jedoch bestreiten, daß die Ermordung eines moralisch integren Menschen zutiefst furcht- und mitleiderregend sei.61 Deswegen füge Aristoteles auch 1453a die Einschränkung hinzu »entweder eines Mannes, wie er genannt wurde [also mit einem ›mittleren Charakter‹], oder eines bessern oder schlechteren«. Diese nachträgliche Einschränkung reformuliert Donati mit den Worten, wenn ein ›mittlerer Charakter‹ nicht zur Verfügung stehe, müße ein moralisch integrer Charakter gewählt werden.62 Ähnlich ergeht es der aristotelischen Lehre vom Fehler oder Irrtum, durch den der tragische Held nach »Poetik« 1453a zugrundegehen muß. Nachdem Donati die Regel erläutert hat, weist er darauf hin, daß angesichts der zahlreichen Abweichungen von dieser Regel bereits in der Antike nicht jede Regel immer zur Anwendung kommen müsse, sondern Aristoteles nur ein Modell formuliere, das aus zahlreichen antiken Tragödien abgeleitet sei, die nicht alle voll und ganz diesem Modell entsprächen.63 Gegen Aristoteles ist Donati der Überzeugung, der tragische Fehler müße nicht immer vom Helden begangen werden.64 Eigentlicher Hintergrund dieser Aristoteles-Umdeutungen ist die für die Jesuiten enorm wichtige Frage der Märtyrertragödie. Die Märtyrer fürchteten weder Folter noch Tod und ihr Schicksal sei auch nicht elend und bitter, sondern froh und angenehm. Sie wünschten sich sogar das schrecklichste Ende.65 Der Zuschauer scheine also Furcht für jemanden zu empfinden, der selbst nichts fürchtet, und Mitleid mit jemandem, der sich wegen seines festen Glaubens an die zukünftige Glückseligkeit für _____________ 60 61 62 63 64 65

Donati: Ars poetica S. 116. Donati: Ars poetica S. 216 f. Donati: Ars poetica S. 117. Donati: Ars poetica S. 126. Donati: Ars poetica S. 129 f. Donati: Ars poetica S. 117.

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glücklich halte.66 Statt Furcht und Mitleid entstünden im Zuschauer Zorn und Empörung über die Hinrichtung der Märtyrer. Damit scheine das Schicksal eines Märtyrers nicht tragisch genannt werden zu können. Nach Donati reinigt jedoch gerade das Schicksal des Märtyrers die Seele von Furcht und Mitleid, indem es zeige, daß mit Mt 10.28 die Tyrannen zwar den Körper töten können, die Seele aber unsterblich ist. Das Märtyrerdrama reinige also von der Furcht, indem es zeige, daß der Gläubige nichts zu fürchten habe. Auf dieselbe Art reinige es vom Mitleid, denn es zeige, daß das Schicksal des Märtyrers eben nicht elend und bitter, sondern erstrebenswert und angenehm sei.67 Das Märtyrerdrama erfülle deshalb den Zweck der Tragödie auf geradezu vorbildliche Weise. Furcht und Mitleid würden dabei nicht von den leidenden Personen ausgelöst, sondern durch die furchterregende Ansicht der Folterung selbst. Gerade die Tatsache, daß viele, wenn sie solche Folterungen sähen, ihren Glauben verleugnen würden, bezeuge die affektauslösende Wirkung, denn diese verleugneten aus Furcht vor einer solchen Folter ihren Glauben. Genau von dieser Furcht reinige die Märtyrertragödie, indem sie lehre, solche Folter nicht zu fürchten.68 Die eigentliche Wirkung, die Donati von der Tragödie erwartet, ist eine vorbildliche, die den Zuschauer zur Nachahmung anregt und dadurch belehrt. Dies ist viel besser mit der Mäßigung als mit der Reinigung von Furcht und Mitleid zu erklären. Donati definiert die Tragödie deshalb gegen Aristoteles als »die dramatische Nachahmung einer vollkommenen und großen Handlung von berühmten Personen, die jeweils separat Metrum, Harmonie und Gestik anwendet, und durch einen mitleid- und furchterregenden Ausgang die Affekte des Mitleids und der Furcht mäßigt.«69 Indem die Tragödie Furcht und Mitleid erregt, mäßigt sie die als »Krankheit des Körpers« begriffenen Affekte. Der Zuschauer lernt in der Tragödie, seine Affekte besser zu kontrollieren und sein Schicksal zu ertragen.70 Im Sinne seiner didaktischen Funktion billigt Donati ausdrücklich das allegorische Drama und Epos. Eine solche Allegorie zeichne sich dadurch aus, daß das Eine gesagt und das Andere gemeint werde und philosophische Lehren und Lebensregeln, Geheimnisse der Natur oder Tugenden _____________ 66 67 68 69

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Donati: Ars poetica S. 118. Donati: Ars poetica S. 118. Donati: Ars poetica S. 119. Donati: Ars poetica S. 106: »Tragoedia est imitatio dramatica actionis illustrium personarum perfectae, ac magnae, separatim adhibens metrum, harmoniam, saltationem: et per miserabiles, ac terribiles exitus temperans affectus misericordiae ac timoris.« Donati: Ars poetica S. 107.

Poetik des 17. Jahrhunderts

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und Laster unter dem Schleier von Handlungen ausgedrückt würden. Das aristotelische Verschweigen dieser Form dürfe nicht als Einwand gegen sie gewertet werden.71

Poetik des 17. Jahrhunderts ›Gießener Poetik‹ Unter dem Namen ›Gießener Poetik‹ ist die von Christoph Helwig, Kaspar Finck und Konrad Bachmann, drei Professoren des Gießener »Gymnasium illustre«, verfaßte »Poetica latina nova« bekannt, die zuerst 1607 erschien und bis 1671 immerhin acht Auflagen erlebte.72 Dies macht sie neben Martin Opitz' »Buch von der deutschen Poeterey« zur erfolgreichsten Poetik des 17. Jahrhunderts. Sowohl mit dieser Auflagenstärke als auch mit ihrer ganzen Anlage als Schulbuch tritt die ›Gießener Poetik‹ in die Nachfolge von Fabricius' »De re poetica«. Pontanus' »Institutiones poeticae« werden mehrfach zitiert, allerdings stehen diese Verweise in keinem Verhältnis zur Präsenz von Scaligers »Poetices libri septem«. Diese nimmt oft ein solches Ausmaß an, daß die ›Gießener Poetik‹ über weite Strecken als Scaliger-Exegese und Paraphrase gelten muß. Die Abhängigkeit von Scaliger versperrt den Professoren auch den Zugang zur aristotelischen »Poetik«, deren Existenz ihnen zwar bekannt ist, wie vereinzelte Referenzen immer wieder zeigen, deren Dichtungsbegriff jedoch keine Spuren hinterlassen hat. Die Nähe oder Ferne zur aristotelischen »Poetik« zeigt sich an erster Stelle im Begriff der Nachahmung und an zweiter Stelle in der Bedeutung der Handlung und ihrer Terminologie. Beides ist in der ›Gießener Poetik‹ nicht präsent. Dichtkunst ist »die Fähigkeit, Dichtungen [carmina] gut zu _____________ 71 72

Donati: Ars poetica S. 265-267 zum allegorischen Epos, S. 250 zum allegorischen Drama. Die Poetik erschien 1607 unter dem Titel: »Poetica latina nova, methodo perspicua tradita, commentariis luculentis declarata, exemplis tum veterum, tum recentiorum poetarum illustrata, duobus libris ita conscripta, ut non tam classibus quam academiis et scholis publicis utilis esse possit; per Scholae Giessenae nonnullos professores philosophos.« Ich zitiere nach der von Hieronymus Thomas herausgegebenen Ausgabe Gießen 1671, die unter dem Titel Poetica maior erschien.

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erdichten«.73 In der gelehrten Anmerkung zu dieser Definition grenzen sich die Verfasser von Zabarella ab, der wie Averroes die Poetik zu einem Teil der Logik erklärt habe, obwohl sie sich doch dessen eigener Bestimmung des Zweckes der Logik als »Erkenntnis des Wahren« nicht füge.74 Diese klare Ablehnung der logischen Zuordnung bedeutet auf der anderen Seite nicht, daß die Dichtung nicht didaktisch wäre. Gegenstand der Dichtung können alle Wissenschaften sein. Die Einheit der Dichtung besteht in der metrischen Form und die Dichtung fungiert auch weiterhin neben der Rhetorik als Instrument der Moralphilosophie, das durch erfundene Sachverhalte und Handlungen gute bürgerliche Verhaltensweisen herausbilde.75 Die aristotelische Bestimmung der Handlung als Seele der Tragödie (»Poetik« 1450a) wird so stark verändert, daß sie nur durch die explizite Berufung auf Aristoteles wiederzuerkennen ist. Die Seele der Dichtung sei das wissenschaftliche Wissen, das die Dichtung vermittle und durch das sie nützen wolle, der Körper die dichterische Darstellung (representatio). In diametralem Gegensatz zu Aristoteles heißt es deshalb auch weiter, deswegen seien manche Dichter Moralphilosophen (wie Theognis, Phokylides, Pythagoras und Juvenal), manche Naturphilosophen (wie Vergil in den »Georgica«, Lukrez und Macer), manche Astronomen, manche Geographen und manche Historiker.76 Mit Berufung auf Scaliger (und nicht auf Aristoteles) heißt es dann weiter, dennoch unterschieden sich Dichtung und Geschichte, denn die Dichtung stelle die Dinge so dar, wie sie sein könnten oder sollten, die Geschichte, wie sie tatsächlich geschehen sind. Die Dichtung sei auch keine schön geschmückte Lüge, sondern nur Verhüllung der Wahrheit. Bestünde sie tatsächlich nur aus leeren Liebesgeschichten und albernen Fabeln, in schöner Form dargebracht, aber moralisch schädlich, wäre sie zu verdammen. Dichtung müsse nutzen und unterhalten, und während die übrigen Disziplinen nur unterrichteten, flöße die Dichtung ihren Unterricht unmerklich ein, überzeuge durch ihren Unterhaltungswert und sei auf diese Art für den Staat von größtem Nutzen.77 Der kurzen Einführung folgt die Untergliederung der Poetik in zwei Teile: der eine behandle die »principia carminis«, der andere den »modus conficiendi«. Die »principia« sind Silbenquantität und Versfuß, deren Erörterung etwa drei Viertel der gesamten Poetik ausmacht. Der »modus _____________ 73 74 75 76 77

Helwig, Finck, Bachmann: Poetica S. 1: »Poetica est facultas bene conficiendi carmina.« Helwig, Finck, Bachmann: Poetica S. 1. Helwig, Finck, Bachmann: Poetica S. 1. Helwig, Finck, Bachmann: Poetica S. 2. Helwig, Finck, Bachmann: Poetica S. 2 f.

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conficiendi« umfaßt die allgemeinen Grundlagen, die Metrik und die Gattungslehre, wobei den lyrischen Kleinformen wesentlich mehr Platz eingeräumt wird als dem Drama und Epos. Mit der Definition der Dichtung (carmen) als »gefälliger Ansammlung von Versen in einer einzigen Anordnung«78 werden die »allgemeinen Beobachtungen« in der zweiten Hälfte des zweiten Buches eröffnet. Die damit vorausgesetzte Bestimmung der Dichtung über die Versform ist dabei den Gießener Professoren so selbstverständlich, daß sie nicht weiter begründet wird. Die Dramentheorie der ›Gießener Poetik‹ stammt vor allem aus den Donat-Kommentaren. Die Komödie definiert sich durch niederes Personal, private Angelegenheiten und glücklichen Ausgang, die Tragödie durch hohes Personal, Unglücksfälle und traurigen Ausgang.79 Spezifischer Zweck der Komödie ist, die Menschen durch erfundene oder wahre exempla in einer richtigen und klugen, alltäglichen Lebensführung zu unterrichten.80 Von Pontanus übernommen wird dagegen der spezifische Zweck der Tragödie, die Zuschauer durch Mitleid und Furcht von diesen Leidenschaften, von denen so schlimme Verbrechen ausgingen, zu reinigen.81 Auf die Frage, wie die Tragödie trotz ihres Inhaltes noch unterhalten könne, werden vier mögliche Antworten vorgeschlagen: Erstens, nicht die traurigen Inhalte, sondern die Darstellung als solche unterhalte (die aristotelische Antwort, hier allerdings von Plutarch zitiert), zweitens, die Unterhaltung entstehe aus der Freude, selbst nicht in der dargestellten Gefahr zu sein, drittens, die Empfindung des Mitleids sei der menschlichen Natur eigentümlich, viertens, das movere und docere der Tragödie als solches unterhalte.82 Wiederum mit Donat und gegen Aristoteles unterscheiden die Gießener Professoren vier Teile des Dramas: Protasis, Epitasis, Katastasis und Katastrophe. Diese werden als quantitative Teile bestimmt, das heißt in Analogie zu den rhetorischen Teilen einer Rede. Die Verfasser vermerken zwar, daß Aristoteles Peripetie und Anagnorisis unterschieden habe, bestimmen diese auch richtig als Umschlag der Handlung und Wiedererkennung, behaupten dann aber die Identität dieser Unterscheidung mit ihrer eigenen. _____________ 78 79 80 81 82

Helwig, Finck, Bachmann: Poetica S. 178: »Carmen ist concinna versuum in unum systema congeries.« Vgl. zur Komödie Helwig, Finck, Bachmann: Poetica S. 319 und zur Tragödie S. 323. Helwig, Finck, Bachmann: Poetica S. 320. Helwig, Finck, Bachmann: Poetica S. 323. Helwig, Finck, Bachmann: Poetica S. 324.

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Ebenso ergeht es der aristotelischen Unterscheidung der qualitativen Teile einer Tragödie, die den Gießener Professoren zufolge auf »sekundäre Bestandteile« und auf stilistische Merkmale zurückgeführt werden könnten.83

Opitz Daß Martin Opitz die aristotelische »Poetik« gelesen hat, ist – obwohl er gleich in den ersten Sätzen der »Poeterey« (1624) auf sie verweist – äußerst unwahrscheinlich.84 Wenn er sie gelesen hätte, wäre sehr schwer zu erklären, warum er ihr in den entscheidenden Punkten widerspricht, ohne diesen Widerspruch überhaupt zu bemerken. Die Mimesis, die nach Aristoteles das Wesen der Dichtung ausmacht, spielt bei Opitz keine Rolle. Der Begriff taucht nur an einer einzigen Stelle kurz auf und dort in der unaristotelischen Wendung als »nachäffen der Natur«.85 Nicht aber die Natur, sondern menschliche Handlungen sind nach Aristoteles der Gegenstand der Nachahmung, und diese Handlungen sollen nach »Poetik« 1451b als Handlungen »wahrscheinlich« im Sinne von »glaubhaft« sein. Opitz dagegen denkt offensichtlich an »wahrheitsähnliche«, das heißt empirisch mögliche oder idealisierende Darstellungen eines Sachverhalts. Nach Aristoteles 1450a ist die Handlung die Seele der Dichtung, weshalb ein historisches Werk, in Verse gebracht, für Aristoteles keine Dichtung ist. Gegenstand der Dichtung ist nach 1451b das Allgemeine und nicht das immer nur Besondere der historischen Darstellung oder etwa des Lehrgedichts. Opitz dagegen nennt in seinem dritten Kapitel eine _____________ 83

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Helwig, Finck, Bachmann: Poetica S. 327. Ich konnte nicht nachprüfen, ob sich diese Verweise auf Aristoteles auch schon in den ersten Auflagen der »Gießener Poetik« finden oder erst von dem Bearbeiter der Ausgabe 1671 stammen. Auf jeden Fall von späterer Hand eingefügt sein dürfte der Verweis S. 325 auf Heinsius' »Constitutio tragoediae«. Als einziger moderner Autor wird mehrfach Frischlin als Vorbild genannt. Opitz: Poeterey S. 343. Zur Poetik von Opitz sowie zur deutschsprachigen Poetik allgemein vgl. Alt: Begriffsbilder; Borinski: Poetik; Brates: Barockpoetik; Brates: Hauptprobleme; Drux: Opitz; Dyck: Ticht-Kunst; Entner: Weg; Fischer: Rede; Fritsch: Buch; Grimm: Literatur; Herrmann: Naturnachahmung; Juker: Theorie; Markwardt: Geschichte; Popp: Begriff; Robert: Opitz; Schmidt: Ars Poetica; Sinemus: Poetik; Stahl: Wunderbares; Stöckmann: Literatur; Wenderoth: Theorien. Opitz: Poeterey S. 350. Es folgt dort S. 350 f. ein weiterer kurzer Verweis auf Aristoteles, »Poetik« 1448b (die dichterische Darstellung erfreut als solche, auch wenn sie Unschönes zeigt), wenn Opitz schreibt, die Menschen hörten »auch die dinge mit lust erzehlen/ welche sie doch zue sehen nicht begehren«.

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lange Reihe von vorbildlichen Dichtungen, die beweisen sollen, daß die Dichtung eine Kenntnis aller anderen Wissenschaften voraussetzt und die alle dies gemeinsam haben, daß sie nach Aristoteles keine Dichtungen wären.86 Der von Opitz dort ebenfalls genannte Empedokles wird namentlich gleich in den ersten Sätzen der »Poetik« (1447b) aus der Reihe der Dichter gestrichen. Opitzens offensichtliche Unkenntnis der »Poetik« ist gerade in diesem Punkt von größtem Interesse, als es ja gerade dieser Punkt war – die Handlung als »Seele der Dichtung« –, den Heinsius in seiner »Constitutio tragoediae« (1611) herausgegriffen und zum Gegenstand eines ganzen Buches gemacht hatte. Opitzens Mißachtung der Handlung zeigt nicht nur, daß er die aristotelische »Poetik« nicht gelesen hat, sondern daß er auch kaum einen Blick in Heinsius' »Constitutio tragoediae« geworfen haben kann, die er doch im gleichen Atemzug mit der aristotelischen »Poetik« empfiehlt.87 Die Handlung hat im übrigen schon deswegen für Opitz keine Bedeutung, weil die Gattungen, die eine Handlung haben, wie Epos und Tragödie, in der »Poeterey« keine große Rolle spielen. Der Nachdruck der »Poeterey« liegt ganz klar auf den Regeln, die nur für die deutschsprachige Dichtung gelten, und das sind, wie Opitz zu Beginn vermerkt, die stilistischen und metrischen Regeln des sechsten und siebten Kapitels.88 Die Definition der Tragödie – gleichzeitig der einzige Satz, der ihr gewidmet ist – übernimmt Opitz von Scaliger. Nicht als Nachahmung einer Handlung, die komplizierten Gesetzen unterworfen ist, behandelt Opitz die Tragödie, sondern als Darstellung schaudervoller Ereignisse zum moraldidaktischen Zweck der Abschreckung und Gewöhnung.89 In der Vorrede zu seiner Übersetzung von Senecas »Trojanerinnen« (1625) wird die Einübung der »Beständigkeit« »durch beschawung der Mißligkeit des Menschlichen Lebens« zur Aufgabe der Tragödie erklärt,90 und auch damit schließt sich Opitz nahtlos an Melanchthon, Camerarius (dessen Kommentar zur »Antigone« er teilweise wörtlich in seinen Kommentar übernimmt),91 Micyllus und Fabricius an. Den Zweck der Dichtung kann Opitz mit lakonischer Kürze zusammenfassen. Es ist die klassische rhetorische Trias des movere, docere und delectare: »Dinet also dieses alles zue vberredung vnd vnterricht auch _____________ 86 87 88 89 90 91

Opitz: Poeterey S. 348. Opitz: Poeterey S. 346 f. Opitz: Poeterey S. 343. Opitz: Poeterey S. 354 f. Opitz: Trojanerinnen S. 430. Alewyn: Klassizismus S. 15

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ergetzung der Leute; welches der Poeterey vornemster zweck ist.«92 Die lange Reihe von Vorbildern, die Opitz zuvor schon genannt hatte, belegt in aller wünschenswerten Deutlichkeit, wie wörtlich Opitz diese »vnterrichtung« aufgefaßt hat, denn es handelt sich ausschließlich um sogenannte Lehrgedichte. Es ist die schon erwähnte Liste, die mit der Weltbeschreibung des Eratosthenes beginnt und mit der Darstellung des Jagdhandwerks von Oppian endet. Während diese Lehrgedichte durch ihren Inhalt »überreden« und »unterrichten«, »ergetzen« sie durch ihre poetische Form, das heißt durch den spezifisch poetischen, bildreichen Stil und die Versifizierung. Vor diesem Hintergrund ist der Anfang des zweiten Kapitels der »Poeterey« zu verstehen, in dem es heißt, die Dichtung sei »anfanges nichts anders gewesen als eine verborgene Theologie/ vnd vnterricht von Göttlichen sachen.« Weil die Menschheit in ihren Anfängen gröber vnd vngeschlachter war/ als das sie hette die lehren von weißheit vnd himmlischen dingen recht fassen vnd verstehen können/ so haben weise Männer/ was sie zue erbawung der Gottesfurcht/ gutter sitten vnd wandels erfunden/ in reime vnd fabeln/ welche sonderlich der gemeine pöfel zue hören geneiget ist/ verstecken vnd verbergen mussen.93

Die ersten Formen der Dichtung waren theologische und ethische Lehrgedichte, die sich der Dichtung als einer Form bedienen mußten, weil der »gemeine pöfel« die »lehren von weißheit vnd himmlischen dingen« in ihrer philosophischen, begrifflich-abstrakten Form nicht hätte verstehen konnte. Die Dichter verbargen deshalb diese Lehren in »reimen vnd fabeln«, damit sie als solche – in der »sinnreichen«, das heißt anschaulichen »faßung«, die der Dichter seinem Stoff in der inventio verleiht94 – desto leichter aufgenommen werden konnten. Daß es sich bei den Anfängen der Dichtung um theologische Lehren gehandelt hat, besagt deshalb nichts weiter, als daß der Anfang der Wissenschaft überhaupt die Theologie war, indem diese ursprünglich Moralund Naturphilosophie einschloß. In dem Maße, in dem sich die Wissenschaften aus der Theologie heraus entwickelten, differenzierte sich auch die Dichtung in eine natur- und moralphilosophische und so weiter, bis es schließlich zu den zahlreichen Lehrdichtungen kam, wie sie Opitz im dritten Kapitel aufzählt. Die poetische Form war nur deshalb notwendig, weil die »erste vnd rawe Welt gröber vnd vngeschlachter war« und den Unterricht also nicht verstanden hätte, wenn er nicht in poetischer, anschaulicher Form stattge_____________ 92 93 94

Opitz: Poeterey S. 351. Opitz: Poeterey S. 344. Opitz: Poeterey S. 360.

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funden hätte. Deswegen richtet sich die Dichtung als ›Philosophie für Anfänger‹ auch ganz besonders an junge Menschen, die sie als eine »erzieherinn des lebens von jugend auff« »alles thun vnd lassen« lehrt.95

Alsted Dasselbe Dichtungsverständnis wie Opitz und die Gießener Professoren hat Johann Heinrich Alsted, der innerhalb seiner »Encyclopaedia« (1630) die Poetik zusammen mit Lexik, Grammatik, Rhetorik, Logik und Oratorik der Philologie zuordnet. Dichterisches Vermögen bestehe darin, sich in gebundener Rede ausdrücken zu können.96 Inhaltlich ist die Dichtung »die Kunst, wahre und bisweilen auch bedacht erfundene Abbilder und Darstellungen der Sachverhalte vor Augen zu stellen.«97 Nachahmung ist also auch hier als wahrheitsähnliche Darstellung aufzufassen, unterschieden von der bedeutungslosen Fiktion. Mit Platon (»Sophistes« 266d) sei zwischen einer »abbildenden« (εἰκαστική) und einer »phantastischen« (φανταστική) Dichtung zu unterscheiden. Die »abbildende« Dichtung bestehe darin, wahre oder bedacht erfundene (erudite fictas), auf jeden Fall aber mit der Wirklichkeit übereinstimmende Darstellungen zu bilden. Sie untergliedert sich in die einfach darstellende Dichtung, die ihrerseits entweder theologisch oder philosophisch ist. Theologische Dichtung behandelt göttliche Dinge, wie die Hymnen Davids, philosophische Dichtung behandelt die Naturphilosophie, wie Lukrez, die Moralphilosophie, wie Phokylides, das Haushaltswesen, wie Vergils »Georgica«, oder die Politik, wie Solon. Von diesen einfach darstellenden Formen unterscheidet sich die Verschiedenes darstellende Dichtung, wie sie in den Formen des Epos, des Dramas oder des Epigramms ausgebildet ist. Als Spezialist des von ihm dargestellten Wissensgebietes ist der Dichter ein Philosoph, sei es als Theologe, Naturforscher, Arzt, Anatom oder Historiker. Diese »abbildende« Dichtung bedient sich der Logik als Instrument, wie es auch alle ande_____________ 95

96 97

Opitz: Poeterey S. 345. Diese Geschichtskonstruktion hat August Buchner im zweiten Kapitel seines »Poeten« (1632-34 entstanden, Druck erst 1663) ausführlich entwickelt, von dem wiederum Kempe in seinen Anmerkungen zu Neumark: Tafeln S. 57 ff. und noch 1725 die anonyme »Anleitung« S. 10 f. abschreibt. Alsted: Encyclopaedia Bd. 1 S. 509: »Poetica est ars bene effingendi orationem ligatam: seu, est ars de eloquentia poetica, hoc est, certis numeris adstricta.« Alsted: Encyclopaedia Bd. 1 S. 509: »Poetica est ars veras, et nonnunguam erudite fictas, rerum imagines atque picturas oculis subjiciens.«

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ren Wissenschaften tun.98 Ihr Ziel ist das prodesse et delectare, das heißt dem Gemeinwesen und der Kirche durch Unterricht und das Lob Gottes zu nutzen sowie Vergnügen zu bereiten.99 Zu den »bedacht erfundenen Darstellungen« zählt Alsted die Tierfabeln und die antiken Mythen (etwa in den »Metamorphosen« Ovids), die eine natur- oder moralphilosophische Bedeutung hätten.100 Im Gegensatz zu dieser »abbildenden« Dichtung beschränkt sich die »phantastische« auf das Spiel mit Abbildern von Sachverhalten, die nicht der Wirklichkeit entsprechen, oder die Verhaltensweisen darstellen, die keinen vorbildlichen Charakter haben.101 Die figmenta dieser Dichtung haben keinen Grund in der Wirklichkeit und sind deshalb leere Fabelgespinste. Als didaktische hat die »abbildende« Dichtung ein argumentum, das nach Alsted unterrichtend, vergnügend oder emotional erregend (docens, delectans, movens) ist. Durch dieses argumentum gehört jede Dichtung zu einer der rhetorischen Redegattungen.102 Zum genus demonstrativum gehören etwa belehrende (didascalica), historische und epideiktische argumenta. Diese zerfallen ihrerseits wiederum in eine Reihe von Untergattungen, die mit den poetischen Gattungen identisch sind. So gehören zu den epideiktischen argumenta etwa Panegyriken, Hymnen, Epithaphe und Epicedien.103 Dichtung ist also auch für Alsted eine besondere Form der logischrhetorischen Argumentation, wobei das eigentlich definierende Merkmal Rhythmus, Metrum und Vers ist, denen der größte Teil von Alsteds Poetik gewidmet ist.

Harsdörffer Georg Philipp Harsdörffer erklärt in seinem »Poetischen Trichter« (1648) die Ähnlichkeit oder Gleichnishaftigkeit zum Wesen der Dichtung.104 Der »lehrbegierige Verstand« hätte zwei Möglichkeiten der Erkenntnis, näm_____________ 98 99 100 101 102 103 104

Alsted: Encyclopaedia Bd. 1, S. 509. Alsted: Encyclopaedia Bd. 1, S. 510. Alsted: Encyclopaedia Bd. 1, S. 510. Alsted: Encyclopaedia Bd. 1, S. 509. Alsted: Encyclopaedia Bd. 1, S. 511. Alsted: Encyclopaedia Bd. 1, S. 511. Zu Harsdörffers Poetik vgl. Ferschmann: Poetik; Hess: Imitatio; Hess: Poetik; Heßelmann: Poetologie; Krebs: Harsdörffer; Tarot: Fiktion; Willems: Anschaulichkeit S. 242-271. Die Passagen zur Tragödientheorie sind herausgegeben und kommentiert von George in: Tragödientheorien S. 106-119. Zur Dramentheorie vgl. bes. Paul: Spiel.

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lich entweder durch die »Betrachtung« der Sache selbst, oder durch ihren Vergleich mit ähnlichen. Im zweiten Fall ist das »Gleichniß« der »Hebel«, durch den sich die Erkenntnis vollzieht.105 Mit »Poetik« 1459a macht Harsdörffer deshalb das Vermögen, Ähnlichkeiten zu erkennen, zum Indiz dichterischer Begabung. Der Dichter stellt im Gleichnis eine Verbindung zwischen zwei partikulären Fällen her. Die Dichtung selbst ist das Argument, die »Geretschaft«, die diese Erkenntnis vermittelt. Das Gleichnis als Instrument eines Beweises, als Argument, muß deshalb vom Gleichnis als bloßer Schmuckform, als Stilmittel oder Ornament, unterschieden werden, was Harsdörffer mit einem Verweis auf Quintilian V.11.5 tut. Der dichterische Schöpfungsakt und die Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Ausbildung des Dichters steht nicht im Gegensatz zum Anspruch auf Originalität, wobei diese durch die Tatsache begrenzt ist, daß die Zahl möglicher Gleichnisse endlich ist. Neuheit kann deshalb nur in den »Umständen« sein, mit denen der Dichter die gleichnishafte Wahrheit ausschmückt.106 Wie ein solcher dichterischer Schöpfungsakt vorzustellen ist, erläutert Harsdörffer in der Vorrede zu »Nathan und Jotham das ist Geistliche und Weltliche Lehrgedichte« (1650). Eine Mutter hatte drei Töchter, die ihr bei der Suche nach Silber in deren Silberbergwerk helfen wollten. Die älteste findet dabei Gold, das sie im Feuer reinigt und zu Münzen schlägt. Die zweite Tochter findet Silber, das sie ebenfalls zu Münzen schlägt, die dritte aber nur Zinn, das sich beim Einschmelzen als unbrauchbar herausstellt. Die Mutter in diesem Gleichnis ist die dichterische inventio, das Einschmelzen des Metalls die dispositio, das Schlagen der Münze die elocutio. Die drei Töchter bedienen sich als Nachahmerinnen der Mutter der imitatio, wobei die Älteste es besser macht als diese selbst. Sie kommt durch die Nachahmung zu einem besseren Fund als die Mutter. Die älteste Tochter entspricht damit Vergil, der Homer nachgeahmt, in der Nachahmung aber übertroffen hat. Der zweiten Tochter, die wie die Mutter Silber findet und es zu Münze schlagen kann, entsprechen Claudian, Silius Italicus und Sannazaro. Die jüngste dagegen bringt durch ihr Versagen in der imitatio gar nichts zustande.107 Der dichterische Schöpfungsakt ist solcherart »künstlich« (indem er die methodischen Verfahren der inventio, dispositio und elocutio anwendet), basiert aber auf der natürlichen Begabung der drei Töchter. Originali_____________ 105 Harsdörffer: Trichter III.6.53, S. 57. 106 Harsdörffer: Trichter II.7.13, S. 8. 107 Harsdörffer: Nathan S. 20 (Seitenangaben nach der Zählung des Nachdrucks).

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tät oder Neuheit ist in diesem Modell durchaus möglich, allerdings immer nur als relative, nicht als absolute, denn das Prinzip der inventio ist die imitatio. Gegenstand der inventio ist nicht der Inhalt der »Odyssee« oder der »Aeneis«, sondern, wie ja auch schon theoretisch behauptet, die konkreten Umstände, mit denen die Irrfahrt im Sinne der evidentia ausgestaltet wird. Der Gegenstand selbst ist als historischer nicht Gegenstand der inventio. Wohl aber ist er ein Gleichnis. Auch die Vorrede zu »Nathan und Jotham« erklärt in ihrem ersten, der Fabel vom Silberbergwerk vorhergehenden Teil das Gleichnis zum Wesen der Dichtung. Die ganze Dichtung wird dort als »Lehrart« durch die Gleichnishaftigkeit und ihre Anschaulichkeit definiert. Im Unterschied zum abstrakt-begrifflichen Vorgehen der Philosophie vereinigt das Gleichnis als »deß Blinden Stab«, der »das Unbekande durch das Bekande fühlet/ forschet/ und erfreulich zu Werke bringet«, die Vorteile der leichteren Verständlichkeit, der besseren Memorierbarkeit und der »nützlichen Belustigung« in sich.108 Als Form der Gleichnishaftigkeit steht die Dichtung als »Lehrgedicht« neben der »Lehrgeschichte« und den »Lehrgesichten«. Die »Lehrgeschichten« bestimmt Harsdörffer als die typologischen »Vorbilder« des Alten Testaments, die im Neuen Testament ihre Erfüllung gefunden haben, bei den »Lehrgesichten« handelt es sich um die prophetische Träume und Visionen des Alten Testaments.109 Das »Lehrgedicht« selbst unterscheidet sich durch seine Gleichnishaftigkeit von den »Fabeln und gemeinen Mährlein«, das heißt der Dichtung, die mangels Gleichnishaftigkeit auch über keine Lehre verfügt. Sie bleibt »den Kindern und alten Mütterlein« überlassen.110 Die »Lehrgedichte« unterscheidet Harsdörffer in fünf Arten.111 Erstens, die »wahrheitsähnlich«, nur in ihren Umständen erfundenen, tatsächlich möglichen »Lehrgedichte«.112 Zweitens, die erdichteten Geschichten, die tatsächlich unmöglich sind, aber gleichnishaft eine Lehre vermitteln, wie die antike Mythologie, das Schäferspiel oder Dichtungen, die »durch die Personbildung (per Prosopoeias)«, das heißt durch Personifikationen eine Lehre vermitteln. Harsdörffer nennt die Tugenden und Laster und die Sprachen als Beispiele.113 _____________ 108 109 110 111

Harsdörffer: Nathan S. 8. Harsdörffer: Nathan S. 8 f. Harsdörffer: Nathan S. 18. Die Untergliederung entspricht mit einigen kleineren Abweichungen derjenigen im siebten Teil der »Gesprächspiele«, Nr. 258, S. 238-259. 112 Harsdörffer: Nathan S. 10. 113 Harsdörffer: Nathan S. 12 f.

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Die dritte Art entspricht der Tierfabel, die vierte der Fabel, die leblose Dinge (Bäume, Sterne usw.) sprechend einführt und die fünfte der Fabel, die »Buchstaben oder gantze Wörter« sprechend einführt.114 Handelt es sich nicht um eine gänzlich oder in ihren Umständen erdichtete, sondern um eine tatsächliche, historische Begebenheit, ist diese »kein Gedicht/ sondern eine Geschicht oder Exempel«, die als solche ebenfalls gleichnishaft ist.115 Modell dieser Unterscheidung dürfte Aristoteles »Rhetorik« II.20 und »Rhetorica ad Herennium« I.13 sein. Das exemplum behandelt Harsdörffer kurz in der »Zuschrifft« zu seinem »Grossen Schauplatz Lust- und Lehrreicher Geschichte« (1651), der als solcher (genauso wie seine anderen »Schauplätze«) eine Sammlung von Gleichnissen darstellt. Was die Theologie, die Rechtswissenschaft und die Medizin abstrakt in »Lehren und Gesetzen« formulierten, das formuliere die Geschichtschreibung in »Exemplen und Beyspielen«, weshalb sie ein »Spiegel guter und böser Sitten«, »das Liecht der Warheit« und die »Richtschnur« des menschlichen Lebens genannt werden könnte.116 Die Gebote eines tugendhaften Lebens allein sind mnemotechnisch bei weitem nicht so eindrücklich wie ihre Veranschaulichung (im Sinne der evidentia) an »vorgegangenen Thaten«, »welche wann sie gut sind/ uns zur Nachfolge; wann sie aber böß sind/ vns zum Abscheu fürgestellet werden«.117 Analog definiert Harsdörffer in den »Frauenzimmer Gesprächspielen« (1645) die Dichtkunst über die Anschaulichkeit als »eine Fertigkeit aller Sachen schikkliche Gestalt zu erfinden/ beweglich vorzutragen und wolständig auszubilden«.118 Vom Historiker unterscheide sich der Dichter durch das Gebot der Wahrheitsähnlichkeit. Der Dichter beschreibe, »was würklich ist/ und was seyn könnte und der Wahrheit ähnlich ist«, und dürfe deshalb auch »allerhand künstliche Umstände« hinzuerfinden, »welche die Sachen als gegenwärtig vor Augen stellen« und »solcher Gestalt den Wahrheits-Schein der Wahrheit selbsten vorziehen/ wann sie sonderlich schwer zu glauben ist.«119

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Harsdörffer: Nathan S. 13 ff. Harsdörffer: Nathan S. 10. Harsdörffer: Schauplatz Lust- und Lehrreicher Geschichte f. a5r. So Dilherr in seinem »Send-Schreiben« zu Harsdörffers Schauplatz Lust- und Lehrreicher Geschichte f. ar. 118 Harsdörffer: Gesprächspiele V, Nr. 204, S. 128 (Seitenzählung des Nachdrucks). 119 Harsdörffer: Gesprächspiele V, Nr. 204, S. 140 f., mit Bezug auf »Poetik« 1451a.

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Tragödientheorie Klajs und Harsdörffers Nicht Handlungen, die notwendigerweise wegen des Charakters und der Erkenntnisfähigkeit der handelnden Menschen eine bestimmte Beschaffenheit haben, wie es »Poetik« 1449b heißt, und deshalb eine allgemeingültige, philosophische Erkenntnis über das Wesen menschlichen Glücksstrebens zulassen, sind der Gegenstand der Tragödie, sondern schaudervolle Ereignisse, die abschrecken oder trösten. An dieser grundsätzlichen Überzeugung ändert sich in den deutschsprachigen Poetiken das ganze 17. Jahrhundert hindurch nichts. Johann Klaj schreibt 1645 im Vorwort zu seinem »Herodes«: Wie aber sonst die Poeterey ins gemein eine Lehrerin der Frömmigkeit/ eine Erforscherin der Natur/ eine Mutter der Tugenden/ eine Gleitsmännin der Weißheit/ eine Qwell der guten Künste und Sitten: Also sind Trauerspiele ein Spiegel menschlicher Zufälle/ durch deren Besichtigung wir mehrmaln in Wehmut gerahten/ ja offt die Threnen aus den Augen lokken/ darneben aus den schönen eingemengten Sprüchen lernen/ daß uns beiderley Glük/ wie es andern aufgestossen/ auch begegnen könne/ dahero selbiges mänlich erwarten und sanfftmütiger ertragen.120

Im weiteren Verlauf der Vorrede präzisiert Klaj die dieserart zu erwartenden Lehren an den einzelnen Personen des Dramas. An der Figur des Herodes könne man lernen, »daß alle die jenigen/ die wider Christus Raht halten/ sich selbst aufs Maul schlagen« und schließlich in der Hölle enden. An Mariamne könne man lernen, sein Schicksal mit größerer Geduld zu tragen, und an dem Schicksal Aristobuls, »daß man bey gutem Zustande auf schlüpfrigem Eise wandele/ und mit dem glükke umgehen müsse/ wie mit einem scheinbaren Glase/ für dem sich augenbliklich zu befahren/ daß es zerbreche/ oder seinen Glantz verliere.«121 Des weiteren könnten kinderlose Eltern angesichts des Bethlehemitischen Kindermordes lernen, sich glückselig zu schätzen, »daß ihr Leib verschlossen blieben/ und ihre Brüste niemaln geseuget«, wogegen diejenigen, deren Kinder früh gestorben sind, Gott auch dafür zu danken lernen, denn »bald gestorben/ bald im Himmel: je länger wir hier nach dem gestekten Ziel lauffen/ je mehr wir strauchlen und fallen.«122 Harsdörffer, der Klajs »Herodes« mit einem Widmungsbrief versieht, erkennt den Zweck des Trauerspiels im »Nutzen und Belusten«. Der Nutzen bestehe in der Erregung der Affekte, die »einen Abscheu vor den Lastern/ hingegen aber eine Begierde zu der Tugend« erweckten, worauf _____________ 120 Klaj: Redeoratorien S. 131 (Seitenzählung des Nachdrucks). 121 Klaj: Redeoratorien S. 132. 122 Klaj: Redeoratorien S. 132.

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sich auch die aristotelische Katharsis mit ihrer Lehre von »Erstaunen und Hermen« beziehe, »wann man nemlich einen Abscheu vor der Grausamkeit/ und einen Mitbetrübniß über der Unschuldigen Elend empfindet.«123 Von der aristotelischen Wahrscheinlichkeit weiß Harsdörffer dagegen nichts. Gegenstand der Tragödie sind »wahre Geschichten«.124 Außergewöhnlich allerdings sind die Autoren, auf die Harsdörffer den Leser zur weiteren Lektüre verweist. Neben Aristoteles selbst ist dies Vida (der kaum etwas zur Tragödie zu sagen hat), Scaliger, Heinsius, Castelvetro und die erst 1640 erschienene »Poëtique« La Mesnardières.125 Letztere beiden Autoren führt Harsdörffer als Beleg für den einzigen Punkt an, den er an Klajs »Herodes« zu kritisieren findet, nämlich die Tatsache, daß Herodes trotz seines tyrannischen Gebarens im Drama selbst nicht bestraft und damit der göttlichen Ordnung nicht Genüge geleistet werde.126 Diesen grundsätzlichen Punkten hat Harsdörffer in seinem »Poetischen Trichter« (1648-50) nicht viel hinzuzufügen. Scaliger ist hier noch prominenter vertreten, angefangen von der Einteilung der Dramen entsprechend des Standes ihrer Protagonisten (Könige in der Tragödie, Bürger in der Komödie, Bauern im Satyrspiel),127 über die Ersetzung der Katharsis durch das prodesse et delectare128 bis hin zur Auflistung der tragischen Gegenstände und der wörtlichen Übernahme der TragödienDefinition Scaligers.129 Der eigentliche Zweck der Aufführung ist deren Anschaulichkeit als »lebendiges Gemähl«, das den »spielenden Knaben« (auch für Harsdörffer ist das Schultheater das selbstverständliche Paradigma) genauso wie den Zuschauern die »Tugendlehre« als »Arzney« vermittelt.130 Mit Berufung auf Heinsius zitiert er die aristotelische Unterscheidung in einfache und komplexe Fabeln, Peripetie, Anagnorisis und die Beteiligung des Chors,131 mit Berufung auf La Mesnardière die Gebote der Wahrscheinlichkeit.132 Die Katharsis wird auch hier als spezifische Form der Belehrung gedeutet, indem das Trauerspiel ein »gerechter Richter« sei _____________ 123 124 125 126 127 128 129 130 131 132

Harsdörffer: Vorrede Klaj S. 193. Harsdörffer: Vorrede Klaj S. 194. Harsdörffer: Vorrede Klaj S. 196. Harsdörffer: Vorrede Klaj S. 196. Harsdörffer: Trichter II.11.2, S. 71. Harsdörffer: Trichter II.11.4, S. 72. Harsdörffer: Trichter II.11.9, S. 79 f. Harsdörffer: Trichter II.11.4, S. 73. Harsdörffer: Trichter II.11.6, S. 75 f. Harsdörffer: Trichter II.11.11, S. 81.

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und »die Tugend belohnet/ und die Laster bestraffet«. Von der Forderung des »mittleren Charakters« weiß Harsdörffer deshalb noch nichts, der Held »sol ein Exempel seyn aller vollkommenen Tugenden«.133 Die Arten des Dramas unterscheiden sich vor allem durch die Adressaten ihrer moraldidaktischen Botschaft. Das Trauerspiel richte sich an die »grossen Herren«, das Freudenspiel an die Bürger, die »Hirten- oder Feldspiele« an die Hirten und Bauern.134 Das Drama unterscheidet sich nicht in seiner Gleichnishaftigkeit, sondern nur durch die Tatsache seiner Aufführung von den anderen Formen des Gleichnisses. Das Trauerspiel ist insofern nur eine Weiterentwicklung der Tierfabel.135 Die Personen eines Dramas kann sich Harsdörffer deshalb von vornherein nur als Personifikationen abstrakter Entitäten denken.136 Dies entspricht den Dramen, die Harsdörffer selbst übersetzt und bearbeitet hat. Bei der »Japeta« (1643), einer Bearbeitung der »Europe« Desmarets, handelt es sich um ein politisches Gleichnis, in dem die Königin Japeta (christliches Gewissen, Europa) von Iberich (das Laster, Spanien) und Adelmann (Glückseligkeit, Frankreich) bedrängt, aber von Liliwert (die Tugend, deutsches Reich) gerettet wird. In »Melissa/ Oder Der Gleichniß Freudenspiel« (1643) bewerben sich Personifikationen der europäischen Sprachen um Melissa, die »Wohlredenheit«; in der »Redkunst« und der Vernunftkunst (1645) treten Personifikationen der rhetorischen und dialektischen Lehre (inventio, elocutio, die genera etc.) auf, und die »Seelewig« (1644), eine Bearbeitung von Negris »Favola Boscareccia« (1609), ist ein moralisches Gleichnis für die Seele, die von Personifikationen der Laster und des Teufels bedrängt wird.

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Harsdörffer: Trichter II.11.13, S. 83 f. Harsdörffer: Trichter II.11.2, S. 70. Harsdörffer: Schau-Platz jämmerlicher Mord-Geschichte, unpag. Vorrede. Harsdörffer: Gesprächspiele V, Nr. 204, S. 137 f. Als Personifikationen sind auch die heidnischen Götter zu verstehen, vgl. Harsdörffer: Gesprächspiele V, Nr. 204, S. 149 f.

Masen und seine Rezeption veri similitudo Der Jesuit Jacob Masen eröffnet die Vorrede seiner »Palaestra eloquentiae ligatae« (1654) mit dem irreführenden Bekenntnis, den Werken von Scaliger, Donati und Vossius nichts Neues hinzufügen zu können, diese aber auch nicht nur wie »aufgewärmten Kohl« dem Leser noch einmal vorsetzen zu wollen.1 Nicht mit dem Anspruch auf neue theoretische Erkenntnisse, sondern mit der Berufung auf seine langjährigen praktischen Erfahrungen als Lehrer der Rhetorik (denen an den Jesuitengymnasien die Abfassung und Inszenierung der Schultheater-Aufführungen oblag) legitimiert Masen sein eigenes Unternehmen. Dem entspricht die ungewöhnliche Tatsache, daß Masen seine eigenen Dichtungen als Beispiele anführt und an ihnen seine Regeln illustriert. Die Frage, ob der Dichter seinen Namen vom »Machen eines Gedichtes« (a carmine faciendo) oder von der »Erdichtung von Handlungen« (fabulis confingendis) habe, mithin ob das Metrum oder die Handlung das Definiens der Dichtung bildet, entscheidet Masen im Sinne von Vossius,2 ohne seine Abhängigkeit (bis in die Formulierungen hinein) eigens zu vermerken. Handlung und Metrum machten die Dichtung gleichermaßen aus. Wie der Mensch aus Körper und Seele bestünde und die Seele das edlere sei, so bestünde die Dichtung aus einem materiellen, metrischen Körper und der Handlung als Seele. Das vollständige Gedicht müsse deshalb sowohl metrische Form als auch Handlung besitzen, wie Epos und Drama. Daneben gebe es aber auch unvollkommene Formen wie Epigramm, Elegie, Hymne usw., denen die Handlung fehle. Außerdem müsse neben Handlung und Metrum ein »nicht gewöhnliches Sprachniveau« (oratio minime vulgaris, auch diese Formulierung stammt von Vossius) gefordert werden.3 Über die Erfindung sei der Dichter mit Gott zu vergleichen, wer jedoch nur »Geschich_____________ 1

2 3

Zwei weitere Ausgaben folgen 1661-64 und 1682-83. Allgemein vgl. Scheid: Masen, zur Rhetorik Bauer: Ars rhetorica S. 319-460, zum Allegoriebegriff Alt: Begriffsbilder S. 237-240; zur Problematik des Wunderbaren Stahl: Wunderbares S. 45-48; zur Epostheorie Rohmer: Projekt S. 237-256. Vgl. auch die Forschungsliteratur oben S. 82, Anm. 1. Vossius: De artis poeticae natura 6, S. 30-36. Masen: Palaestra I.1.3, S. 3.

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ten in Prosa« (soluta oratione fabulae) erfinde, wie Heliodor, Apuleius oder Achilles Tatius, sei aus der Reihe der Dichter auszuschließen. Dichtung ist »die Fähigkeit, die in metrischer Sprache jeden beliebigen Sachverhalt gleichnishaft zum Wahren (verisimiliter) zur Unterhaltung und zum Nutzen der Zuhörer geeignet darstellt.«4 Durch »metrische Sprache« werde die Prosa von der Dichtung ausgeschlossen, unter »jedem beliebigem Sachverhalt« sei jeder Sachverhalt zu verstehen, der den Zweck der Dichtung erfülle, das heißt, der nicht schändlich ist, wie reine Liebesgeschichten. »Verisimiliter« bezeichne, daß eine historische Wahrhaftigkeit von der Dichtung nicht gefordert werden könne und es dem Dichter frei stehe, die Umstände der Sachverhalte in Ähnlichkeit oder Gleichnishaftigkeit zum Wahren (veri similitudine) zu erfinden, um den Sachverhalt anschaulich hervortreten zu lassen. Aus dieser Wahrheitsähnlichkeit oder Gleichnishaftigkeit erwachse die Unterhaltung und Unterrichtung des Zuhörers, indem ihm ein lebendiges Bild der zu erklärenden Sachverhalte vor Augen gestellt werde.5 Wiederum von Vossius übernimmt Masen den Begriff der Fiktion (fictio), die Masen zwar im Sinne von Aristoteles 1450a als »Seele der Dichtung« bezeichnet, im Gegensatz zu Aristoteles und Vossius allerdings auf »alle menschlichen und göttlichen Sachverhalte« bezieht. Fiktion ist »Nachahmung von Sachverhalten« (imitatio rerum), wobei Masen diesen Begriff gleichbedeutend mit »similitudo veri« und »figmentum significativum« verwendet. Was nicht gleichnishaft ist, sei keine Dichtung, sondern »altweiberhafte und ersponnene Fabelei« (aniles ductasque a colo fabulas).6 Masen verzichtet für seine Identifikation von imitatio, fictio und similitudo auf jeden gelehrten Verweis. Als einzige Bestätigung wird ausgerechnet Albertus Magnus angeführt: In erster Linie müssen Handlungen erdichtet werden, die gleichsam hervorstechende Abbildungen der darzustellenden Sachverhalte sind, und die durch ihre Neuheit und Bewunderungswürdigkeit erst den Leser in Bann schlagen und ihn dann zur Suche einer verborgenen Wahrheit anregen. Diese prägt er sich desto tiefer ein, je aufmerksamer er durch das Gesuchte gemacht worden ist. ›Handlungen‹, sagt Albertus Magnus, ›erfindet der Dichter, um Bewunderung zu erregen.

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5 6

Masen: Palaestra I.1.2, S. 3: »Naturam poeticae ita recte descripseris. Est facultas qua oratione metrica, rem quamlibet verisimiliter et accommode ad delectationem atque utilitatem audientium exponit.« Masen: Palaestra I.1.2, S. 4. Masen: Palaestra I.1.4, S. 7. Masen bezieht sich auf die oben S. 1 Anm. 1 zitierte Bestimmung von Augustinus: Quaestiones II.51.1, wie seine Übernahme (Palaestra III.2.13, S. 100 f.) von Augustinus’ Beispiel (Mt 25.14-30) zeigt.

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Die Bewunderung regt zur Nachforschung an, damit man die Ursachen dessen erkennt, was man bewundert.‹7

Die gleichnishafte Fiktion kann nach verschiedenen Kriterien untergliedert werden. Erstens könnten Fiktionen nach dem Grad der Fiktionalität unterschieden werden, das heißt sie könnten entweder »per se«, als ganze, oder nur »per accidens«, in ihren konkreten Umständen, erfunden sein. »Per se« erfunden sei das, dem die verisimilitudo fehlt, wie etwa Aeneas' Gang in die Unterwelt und die Gattung der Totengespräche. Per accidens erfunden sei dagegen, was der Wahrheit ähnlich ist, auch wenn der Sachverhalt selbst sich niemals so verhalten habe. Masens Beispiel ist der Sturm im ersten Buch der »Aeneis«, der die Trojaner nach Karthago führt.8 Zweitens könne die Fiktion sowohl aufgrund ihres Stoffes wie ihrer Form in eine natürliche, physische (naturalis) und in eine moralische (moralis) unterschieden werden. Natürlich aufgrund des Stoffes werde die Fiktion genannt, in der der Dichter, nach dem Vorbild Gottes, »neue und bewundernswerte Wesenheiten« erfindet, wie Pegasus oder die Gorgonen. Moralisch aufgrund des Stoffes werde dagegen die Fiktion genannt, die Handlungen von Menschen erfindet, wie Aeneas, der in die Unterwelt hinabsteigt. Aufgrund der Form natürlich oder moralisch werde die Fiktion genannt, die einen natürlichen oder moralischen Sachverhalt bezeichne. So etwa bezeichne die Ehe von Jupiter und Juno die Verbindung von Feuer und Luft und der Zorn Junos in der »Aeneis« den Sturmwind. Moralisch aufgrund seiner Form dagegen werde die Fiktion genannt, die eine moralphilosophische Erkenntnis vermittelt und damit auf die Verhaltensweisen des Leser didaktisch einwirke. So etwa lehre die Fiktion von Aeneas, der seinen Vater aus dem brennenden Troja herausträgt, wie sich Kinder gegenüber ihren Eltern verhalten müßten.9 Allen diesen Erfindungen müsse verisimilitudo, also »Gleichnishaftigkeit zum Wahren« eignen, indem der Dichter »durch die entsprechende Erfindung eines Bildes (fictio imaginis)« einen Sachverhalt nachahme.10 »Verisimilitudo« ist also nicht die Wahrscheinlichkeit als Möglichkeit einer _____________ 7

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Masen: Palaestra I.1.4, S. 7: »Fingendae omnino fabulae erunt tanquam illustres quaedam rerum exponendarum imagines, quae novitate atque admiratione primum lectoris animum rapiant, deinde ad latentem veritatem investigandam excitent, quae tanto altius insideat, quanto attentius quaesita innotuit. ›Fabulas‹, inquit Albertus Magnus, ›poeta fingit, ut excitet homines ad admirandum. Admiratio excitat ad inquirendum, ut sciatur causa eius, de quo mirantur.‹« [Marginalie zu Albertus Magnus: »In Metaphys. tract. 2«] Masen: Palaestra I.1.5, S. 7 f. Masen: Palaestra I.1.5, S. 8. Masen: Palaestra I.1.6, S. 9.

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Handlung, wie bei Aristoteles, sondern die »Wahrheitsähnlichkeit« des erfundenen Sachverhaltes, mit der dieser gleichnishaft auf eine Wahrheit verweist. Mit einem irreführenden Verweis auf »Poetik« 1460a (das Unmögliche, das wahrscheinlich ist, verdiene den Vorzug vor dem Möglichen, das unglaubwürdig ist) begründet Masen, daß das Erfundene auch gegen die Glaubwürdigkeit verstoßen dürfe, solange es nur gleichnishaft eine Wahrheit ausdrücke. Grundsätzlich sind nach Masen zwei Formen dieser »Wahrheitsähnlichkeit« zu unterscheiden, eine historische (verisimilitudo historica) und eine verweisende oder bezeichnende (verisimilitudo figurata). Die historische verisimilitudo eigne der Darstellung, die einen tatsächlichen, historischen Sachverhalt so darstellt, wie er sich ereignet haben könnte. Der Dichter gestaltet den Sachverhalt dabei in seinen konkreten Umständen (»fictio per accidens«) entsprechend der rhetorischen evidentia so aus, wie er sich möglicherweise tatsächlich verhalten hat.11 Seine Gleichnishaftigkeit kommt dieser »historischen Wahrheitsähnlichkeit« aus der Geschichte selbst zu, indem etwa die Tragödie gleichnishaft demonstriert, daß die Guten belohnt und die Bösen bestraft werden. Die verweisende verisimilitudo bildet dagegen (entsprechend der »fictio per se«) einen erfundenen Sachverhalt ab, der jedoch durch seine Ähnlichkeit oder Gleichnishaftigkeit einen wahren Sachverhalt bezeichnet.12 Diese zeichenhafte, verweisende verisimilitudo zerfällt wiederum in zwei Unterarten, eine eigentliche (verisimilitudo figurata propria) und eine metaphorische oder allegorische (verisimilitudo metaphorica sive allegorica). Die eigentliche verisimilitudo eigne der Erfindung eines Sachverhaltes, der sich so tatsächlich hätte zutragen können, wie etwa die Sage vom trojanischen Pferd oder etwa die Handlung einer Komödie, die sich so zwar nicht zugetragen hat, aber haben könnte. Die metaphorische verisimilitudo ist dagegen in der Natur der Dinge nicht möglich und verweist über sich hinaus auf eine andere Wahrheit. So verweise der Mythos von der Geburt der Athene aus dem Kopf Jupiters auf die wahre Tatsache, daß die Weisheit aus dem Kopf geboren wird.13 In genau diesem Sinne referiert Masen in der zweiten Hälfte des ersten Buches zahlreiche antike Mythen, die also für Masen keine religiöse Bedeutung haben, sondern von vornherein als eine Art poetische Zeichensprache gedacht waren. _____________ 11 12 13

Masen: Palaestra I.1.5, S. 9. Masen: Palaestra I.1.5, S. 9. Masen: Palaestra I.1.5, S. 9.

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Alle drei Arten der verisimilitudo verweisen damit als »Gleichnis zum Wahren« auf etwas Wahres, aber auf verschiedene Arten: die historische verisimilitudo über einen historischen Sachverhalt, die eigentliche verisimilitudo über einen erfundenen, aber möglichen Sachverhalt, die metaphorische oder allegorische verisimilitudo über einen per se unmöglichen Sachverhalt. Modell dieser Unterscheidung ist, wie bei Harsdörffer, Aristoteles' Klassifikation der Beispielargumente »Rhetorik« II.20 (1393a-1393b), wo zwischen dem historischen Beispiel, dem Gleichnis (parabola) und der Tierfabel unterschieden wird. Ähnlich differenziert die »Rhetorica ad Herennium« I.13 zwischen historia (tatsächliches Geschehen), argumentum (erfunden, aber ›wahrheitsähnlich‹) und fabula (weder wahr noch ›wahrheitsähnlich‹). Die Unterscheidung zwischen »historischer« und »verweisender verisimilitudo« verrechnet Masen mit der aristotelischen Unterscheidung 1451b zwischen dem Historiker, der darstellt, was geschehen ist, und dem Dichter, der »das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche« darstellt. Wenn ein christlicher Dichter nämlich die Geschichte von Jonas darstelle, könne er die drei Tage im Bauch des Walfisches nicht übergehen, auch wenn einem nicht-christlichen Leser dies weder historisch noch gleichnishaft (verisimiliter) scheine. Die drei Tage sind in der Geschichte des Jonas notwendig, weil sie gleichnishaft, nämlich typologisch, die drei Tage bedeuten, die Christus vor seiner Auferstehung begraben war. Wenn man dagegen erdichten würde, daß Karl V. bei seiner Überfahrt nach Nordafrika bei einem Sturm über Bord geworfen und von einem Walfisch verschlungen und nach drei Tagen wieder ausgespuckt worden wäre, sei dies weder gemäß der Notwendigkeit noch gemäß der verisimilitudo nachgeahmt.14 Wo Aristoteles von Wahrscheinlichkeit als Möglichkeit spricht, spricht Masen von Wahrheitsähnlichkeit als Gleichnishaftigkeit. Nicht die mangelnde Wahrscheinlichkeit ist ein Argument gegen einen Aufenthalt Karls V. im Bauch eines Walfisches, sondern die mangelnde Gleichnishaftigkeit. Nicht Tatsächlichkeit und Wahrscheinlichkeit unterscheiden Historiker und Dichter, sondern die Darstellung des Historisch-Notwendigen, das als solches gleichnishaft ist, mit oder ohne fiktive Ausgestaltung. Diese Interpretation des Masenschen Begriffes der veri similitudo bestätigt sich im zweiten Teil der »Palaestra«, wenn Masen die spezifisch für das Drama geltenden Regeln behandelt. Masen verzichtet hier auf jeden _____________ 14

Masen: Palaestra I.1.5, S. 10.

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Versuch, seine Begriffsbestimmungen aristotelisch zu legitimieren, was erheblich zur Klarheit beiträgt. Wiederum werden an erster Stelle die »altweiberhaften Fabeln« ausgeschlossen, die keine gleichnishafte Bedeutung besitzen. Die Unterscheidung zwischen einer historischen und einer verweisenden »Gleichnishaftigkeit zum Wahren« (verisimilitudo historica und figurata) im eigentlichen Sinne (propria) wird jetzt als die zwischen gleichnishaft wahr und historisch wahrhaftig wiederaufgenommen.15 Die metaphorische oder allegorische verisimilitudo kommt dagegen hier nicht mehr in Betracht, denn als ein gleichnishafter Sachverhalt, der sich so nicht zutragen kann, ist sie im Drama nicht darstellbar. Statt dessen unterscheidet Masen noch eine dritte Form der verisimilitudo, in der die beiden ersten Arten zusammenfallen, das heißt die sowohl wahrheitsähnlich ist als auch über eine »geheime Wahrheit« (mystica veritas) verfügt. Masen illustriert diese dritte Form unter anderem mit den Gleichnissen vom verlorenen Sohn (Lk 15.11-32) und von den Arbeitern im Weinberg des Herren (Mt 20.1-16).16 Die drei Formen der Gleichnishaftigkeit nennt Masen jetzt »dem Wahren ähnlich« (veri simile), »das Wahre bezeichnend« (veri significativum) und sowohl dem Wahren ähnlich wie das Wahre bezeichnend, wobei diese Reihenfolge auch im Sinne einer Wertung zu verstehen ist.17

Masens Tragödientheorie Im dritten Teil der »Palaestra eloquentiae ligatae« (1657) entwickelt Masen seine Tragödientheorie. Die wichtigste Regel für diese Art von Dichtung sei von Aristoteles, Horaz und einigen neueren Autoren formuliert worden, daß nämlich ein solches Drama »gleichzeitig der Unterhaltung und der Reinigung von schlechten Leidenschaften« (ad delectationem simul ac pravorum affectuum purgationem) dienen müsse.18 Ein großer Teil vor allem der antiken Komiker trage deshalb zu Unrecht den Namen der Dichtung. Wer würde nicht vor Scham erröten, wenn er die Huren und Kupplerinnen, die Unzucht und den Ehebruch der antiken Komiker auf der Bühne sähe? – Und doch gäbe es moderne Theoretiker, die diese Eitelkeit und Leere der Antike zum Vorbild erklären _____________ 15 16 17 18

Masen: Palaestra III.2.13, S. 100. Masen: Palaestra III.2.13, S. 101. Masen: Palaestra III.2.13, S. 101. Masen: Palaestra III, S. 2. Gleich darauf (S. 3) ist jedoch nicht mehr von der »Reinigung« (purgatio), sondern von der »Mäßigung« (moderatio) der Affekte die Rede.

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wollten und jede Abweichung von ihr als Sakrileg.19 Das dürfte sich gegen Heinsius und Vossius richten. Wie man aus Bimsstein kein Öl herauspressen könne, so aus diesen Dramen keinen Sinn für Tugend. Die Tragödie definiert Masen in scheinbar aristotelischem Sinne als »Nachahmung einer hervorstechenden und abgeschlossenen Handlung, aus Metrum, Melodie und Tanz bestehend, die nicht auf erzählende, sondern auf dramatische Weise durch Mitleid und Furcht eine Reinigung von derartigen Leidenschaften bewirkt.«20 Die »hervorstechende« Handlung bezeichne die Tatsache, daß es sich um berühmte und in Wertschätzung stehende Personen wie Kaiser, Bischöfe und Fürsten handelt, denn das Unglück von unbekannten Menschen würde keine Erschütterung auslösen. Deswegen würden sich auch, wie es schon bei Aristoteles heißt, erfundene Namen und Inhalte weniger für die Tragödie eignen, es sei denn – und diese Einschränkung findet sich bei Aristoteles natürlich nicht – diese Inhalte würden gleichnishaft (parabolice) verwendet, wie bei einigen neutestamentlichen Gleichnissen oder bei dem Gleichnis des Hl. Bernhard von dem Königssohn, der für einen Knecht stirbt, das er selbst für seinen »Androphilus« verwendet habe.21 Wie Donati vor ihm erkennt Masen, daß die aristotelische Forderung eines »mittleren Charakters« 1453a den Märtyrer als Helden einer Tragödie ausschließen würde und verwirft deshalb diese Forderung. Gerade ein tapferer Mann, der die ihm auferlegten Foltern nicht verdient hat, sie aber standhaft ertrage, werde die Zuschauer wegen der Schrecklichkeit der Strafe am stärksten in Schrecken versetzen. Mitleid erwecke man, indem man jemand durch seine Tugenden als einer Bestrafung möglichst unwürdig darstelle.22 Die aristotelische Katharsis – auf die Masen im übrigen auf den folgenden, weit über hundert Seiten seiner Tragödientheorie nicht mehr zurückkommt, genauso wenig wie auf die Forderung eines »mittleren Charakters« – besteht für Masen also in einer »Abstumpfung« beider Affekte durch ihre möglichst starke Erregung. Masen selbst bedient sich des Begriffes der »Mäßigung«, also der Reduktion der Affekte auf ein mittleres Maß. Der Zuschauer, der den Folterungen des Märtyrers auf der Bühne _____________ 19 20

21 22

Masen: Palaestra III, S. 2 f. Masen: Palaestra III, S. 5: »Definitur ab Aristotele hoc sensu. Est imitatio actionis illustris ac absoluta: metro, harmonia ac saltu constans; non enarrando, sed dramatice per misericordiam et metum inducens similium perturbationum purgationem.« Masens Theorie der Tragödie wurde herausgegeben, übersetzt und erläutert von George, vgl. Tragödientheorien S. 119132. Ich orientiere mich teilweise an dieser Übersetzung. Masen: Palaestra III, S. 5. Masen: Palaestra III, S. 5 f.

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beiwohnt, wird, wenn er selbst in eine ähnliche Lage gerät, weniger Furcht und Mitleid für sich selbst empfinden, weil er sich durch das Theater an diese Affekte gewöhnt hat und sie auf ein geordnetes, kontrollierbares Maß reduziert hat.23 In dieselbe Richtung weist eine abschließende Bemerkung Masens, die der aristotelischen Tragödientheorie konträr gegenübersteht. Es sei nämlich auch möglich, die Strafe für die dargestellten Verbrechen selbst mit darzustellen. Freilich werde dann zwar das Mitleid verringert, dafür die Furcht vor solchen Verbrechen und die Bemühung um ein tugendhaftes Verhalten aber umso stärker gefördert.24 Damit ist die Möglichkeit eines zumindest partiell glücklichen Ausgangs der Tragödie bereits angedeutet. Nach Ansicht Masens widerspricht ein solches Ende der reinen Form der Tragödie, wäre aber einer Mischform zwischen Tragödie und Komödie durchaus angemessen. Solche Mischformen sind die »Tragicocomoedia«, die bei denselben Personen vom Unglück ins Glück mündet, und die »Comicotragoedia«, bei der entweder dieselben Personen vom Glück ins Unglück stürzen oder bei der einige Personen am Ende glücklich und einige unglücklich sind. In diesem letzteren Fall werde der rein tragische Effekt von Furcht und Mitleid teilweise durch Hoffnung und Freude als die der Komödie eigenen Gefühle aufgelöst.25 Ein eigenes Kapitel widmet Masen den drei Eigenschaften der Handlung eines Dramas, die ihm die wichtigsten scheinen. Die erste ist wiederum die Wahrheit oder Wahrheitsähnlichkeit der Handlung. Mit einem Verweis auf 1451b heißt es, der Dichter stelle eine Handlung nicht so dar, wie sie sich zugetragen hat, sondern wie sie sich hätte zutragen können. Dabei dürfe jedoch nicht gegen die Glaubhaftigkeit verstoßen werden, das heißt die Handlung müsse sich immer so nah wie möglich an die Wahrheit halten. Wenn jemand eingestehen würde, daß es Lüge ist, was dargestellt wird, würde mit der Glaubhaftigkeit auch die gefühlsauslösende Wirkung des Dramas verlorengehen. Wer würde Schmerz oder Freude für etwas empfinden, von dem er weiß, daß es eine Lüge ist? Deswegen müsse man denjenigen, die glaubten, daß eine Komödie eher erfunden sein dürfe als eine Tragödie, widersprechen. Wenn die Geschichte von dem Bauern, der für einen Tag zum König gemacht wurde, erfunden wäre, würde sie sehr viel von ihrer unterhaltenden Wirkung einbüßen. In seinem »Rusticus _____________ 23 24 25

Masen: Palaestra III, S. 7. Masen: Palaestra III, S. 6. Masen: Palaestra III, S. 9 und S. 11 ff. S. 12 nennt Masen seinen »Androphilus« als Beispiel einer »Tragicocomoedia« und seinen »Telesbius« als Beispiel einer »Comicotragoedia«.

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imperans« habe er diese Geschichte deshalb nur mit solchen erfundenen Umständen ausgestaltet, die ihrer historischen Wahrheit nichts genommen hätten.26 Damit sollten nun aber auf keinen Fall die erfundenen Handlungen ausgeschlossen werden, die gleichnishaft (parabolica) sind. Die Gleichnishaftigkeit dieser Handlung muß jedoch erklärt werden, entweder durch stumme Szenen, wie er es in seinem »Androphilus« gemacht habe, oder am Ende, wie in seinem »Telesbius«. Diese gleichnishafte Art von Handlung, die der Antike freilich unbekannt gewesen wäre, erfordere nicht nur mehr Geist und Kunstverstand, sondern sei auch wegen ihrer Überzeugungskraft allen anderen Arten vorzuziehen.27 Mit demselbem Argument könnten auch Personifikationen unter dem Namen heidnischer Götter in eine Handlung eingeführt werden, wie er selbst es in seiner »Bacchi schola« getan habe, denn diese würden nicht als Gegenstand des Glaubens, sondern spielerisch eingeführt. Diese Art von Handlung sei jedoch selten und nur bei Gebildeten leicht zu verwenden.28 Die zweite Eigenschaft der Handlung, die Masen noch einmal eigens hervorhebt, ist ihre Abgeschlossenheit, die dritte ist die dramatische Verwicklung und die Erkenntnis des Irrtums oder Fehlers, der die Verwicklung hervorgerufen hat. Unter diesem Titel behandelt Masen eine ganze Reihe von aristotelischen Vorgaben, angefangen von der Unterscheidung zwischen einer einfachen und komplexen Handlung. Die komplexe Handlung zeichne sich durch eine Peripetie aus, die Leiden (perturbatio seu perpessio) zur Folge hat und durch einen Irrtum (error) verursacht ist, der seinerseits vom Protagonisten erkannt werde.29 Explizit widerspricht Masen dabei der Horazischen Forderung, Mord nicht auf der Bühne selbst zu zeigen, sondern nur durch Boten berichten zu lassen. Ein solcher Bericht hätte weit weniger Kraft, die Leidenschaften der Zuschauer zu erregen und wäre im übrigen gerade keine dem Drama, sondern eine dem Epos angemessene Darstellungsform.30 Dem Fehler und der durch ihn bewirkten Verwicklung ist das gesamte zweite Buch gewidmet, das fast hundert Seiten umfaßt und damit den bei weitem größten Teil des gesamten Regelwerks zum Drama ausmacht. Auch hier handelt es sich nur um eine scheinbare Aristoteles-Referenz, insofern Masen den Irrtum im Zeichen der dramatischen Verwicklung behandelt. Ihr eigentlicher Zweck ist die Affekterregung durch Steigerung _____________ 26 27 28 29 30

Masen: Palaestra III, S. 14. Masen: Palaestra III, S. 14. Masen: Palaestra III, S. 14 f. Masen: Palaestra III, S. 16. Masen: Palaestra III, S. 18.

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der Spannung. Durch Irrtümer – Masen spricht in der Mehrzahl von ihnen – werde die Handlung so verwirrt, daß ihr Ausgang offen und der Zuschauer damit gespannt und aufmerksam bleibe.31 Unterschieden werden können Irrtümer in Worten (wie bei Mißverständnissen und Doppeldeutigkeiten) und Taten, wobei der Irrtum in den Taten entweder bei den Zuschauern liegt – etwa, wenn eine Person für eine andere gehalten wird – oder bei Personen selbst, wenn etwas anders ausgeht, als es geplant war. Der Irrtum bei den Personen kann wiederum auf Unwissenheit, Dummheit oder Boshaftigkeit zurückzuführen sein, er kann einen Sachverhalt oder eine Person betreffen, er kann nur bei einer Person liegen oder wechselseitig sein, er kann als einfacher Irrtum auftreten oder in der Verknüpfung mit anderen.32

Kempe, Birken Masen dürfte nicht nur der meistgespielte Dramatiker des 17. Jahrhunderts sein, sondern auch der einflußreichste Poetiker. Dies belegen etwa die »Anmerkungen«, mit denen Martin Kempe 1667 die »Poetischen Tafeln« Georg Neumarks versehen und herausgegeben hat. Wesen der Dichtung sei Nachahmung und Erdichtung, wobei sich beides nur perspektivisch unterscheide, »denn die Nachahmung betrachtet dasselbe/ wornach wier etwas machen/ die Ertichtung aber siehet auf das jenige welches gemacht wird.« Mit dem von Masen übernommenen Posidonius-Zitat könne die Dichtung deshalb »eine auf etwas deutende Ertichtung/ welche die Nachahmung Göttlicher und Menschlicher Sachen in sich begreifft« heißen.33 Aufgabe der Dichtung sei es, »die Dinge/ so wahrhafftig geschehen/ unter artige und verblümte Bilder zuverstecken«,34 wobei dies »alles was die Natur auf ihren grossen Schauplatz der Welt/ unsern Augen vorstellet«, sein kann.35 Was den Dichter gegenüber dem Historiker auszeichne, sei »eine höhere Rede/ und Sinnreich-erfundene Fabeln/ welche gleichsam der Anfang und die Seele der Poeterey seyn.«36 _____________ 31 32 33 34 35 36

Masen: Palaestra III, S. 54. Masen: Palaestra III, S. 55 f. Kempe: Anmerkungen zu Neumark: Tafeln S. 32. Kempe: Anmerkungen zu Neumark: Tafeln S. 33. Kempe: Anmerkungen zu Neumark: Tafeln S. 31. Kempe: Anmerkungen zu Neumark: Tafeln S. 33.

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Obwohl Kempe für diese Bestimmungen auf Aristoteles verweist, reduziert er gleich darauf die Erfindung des Dichters auf die gleichnishafte Darstellung von Wahrheiten. Die »Fabeln der Poeten« seien keine »Lügen«, sondern eine »Figur der Wahrheit«. Sie seien »Bilder der Rede/ die zu der Wahrheit mit Nutzen und Belustigung leiten. Nicht alles/ was erdacht wird/ ist eine Lügen/ sondern wenn das erdachte nichts bedeutet/ alsdenn ist es vor eine Lügen zu halten.«37 Eigentliches Vorbild für diesen Fabelbegriff ist Masen, den Kempe in der Folge auch mit seiner Unterscheidung zwischen zwei verschiedenen Arten der Fabel zitiert, von denen die eine »per se ficta« sei, die andere »per accidens«.38 Von Masen übernimmt Kempe auch seine Beispiele aus der antiken Dichtung und Mythologie, die in diesem Sinne als gleichnishaft für moralphilosophische oder historische Wahrheiten verstanden wird. Der einflußreichste Propagator Masens ist Sigmund von Birken. In der Vorrede zum »Androfilo« (Druck 1656)39 reformuliert er Masens Theorie der verisimilitudo als Dramentheorie, in der Vorrede zur »Aramena« (1669) Anton Ulrichs als Romantheorie.40 In beiden Fällen grundlegend ist die argumentative Funktion der Dichtung, die Birken mit dem Beispiel der Spartaner illustriert, die ihre Kinder vor Trunkenheit warnten, indem sie ihnen einen Betrunkenen vorführten. Denselben Zweck hätten die Schauspiele, und deshalb wären sie alles andere als bloße Unterhaltung.41 Historisch unterscheidet Birken dabei drei Formen. Die älteste Form ist die Dramatisierung historischer Ereignisse im »Geschichtspiel«. Indem die Geschichte zeige, daß Laster bestraft und Tugenden belohnt werden, könne man »nicht besser von den Lastern ab_____________ 37 38 39

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Kempe: Anmerkungen zu Neumark: Tafeln S. 38. Kempe: Anmerkungen zu Neumark: Tafeln S. 40 f. Es handelt sich dabei um eine Übersetzung und Bearbeitung des Masenschen »Androphilus«. Indem die Übersetzung Birkens schon 1655 entstanden und aufgeführt wurde, muß Birken das Drama in einer handschriftlichen Fassung vorgelegen haben, denn der »Androphilus« Masens wurde nach seiner Uraufführung 1647 zuerst im dritten Teil der »Palaestra eloquentiae ligatae« 1657 gedruckt. Stellvertretend für die ältere Forschung vgl. Silber: Birken S. 258-290. Ich zitiere den Nachdruck des Originals. In einer orthographisch modernisierten Form findet sich der Text in: Theorie und Technik des Romans S. 10-14. Vgl. auch Birken: DichtKunst, XI. Capitel, § 210, S. 305 f. Zu Birkens Romanpoetik vgl. Frick: Providenz S. 86 ff.; Laufhütte: animae; van Ingen: Roman; Rohmer: Projekt S. 220-237; Voßkamp: Romantheorie S. 11-15 u. 69-71; Wimmer: Gedichtgeschicht; Wimmer: Historia und Zeller: Fabula. Birken: Androfilo unpag. Vorrede f. )( iiv. Das Beispiel selbst, das ursprünglich von Plutarch stammt, dürfte Birken von Masen kennen, der es im Epilog zu seiner Komödie »Bacchi schola eversa« zitiert, vgl. Palaestra III, S. 259. Helwig, Finck, Bachmann: Poetica S. 322 f. zitieren das Beispiel allerdings auch schon.

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Nachahmung als Gleichnishaftigkeit

und zur Tugend anmahnen/ als wann man vor Augen stellet/ wie jene an andern abgestraffet/ und diese belohnet worden. Solche Beyspiele sind die besten LehrSätze und SittenLehren.« Die Geschichte selbst ist eine Sammlung von exempla, und wer diese exempla auf der Bühne darstellt, vergegenwärtigt seinen Zuschauern die Weltordnung. Als eine solche Veranschaulichung stehen die Schauspiele ganz im Zeichen der rhetorischen evidentia, denn sie sind »gleichsam lebendige Geschichtbücher/ durch welche dem Zuschauer sothanes Beyspiel persöhnlich und redend vorgestellet und jhm also durch das Gehör und Gesicht ins Herz gebildet wird.«42 Auf der Ebene der Romantheorie entsprechen dieser ersten Stufe die »Historien oder Geschichtsschriften«, die die »Geschichten« in ihrer historischen Tatsächlichkeit darstellen. Aus ihnen lerne man Gott erkennen, denn man sehe, wie die »Tyrannen und Boshaftigen« bestraft und die »Gottliebenden und Tugendhaften« belohnt würden.43 In einer historisch zweiten Stufe wurden die geschichtlichen Ereignisse dann im »Geschichtgedicht« gleichnishaft gefaßt, um sie szenisch besser darstellen zu können. So hätte »der fromme SchulLehrer Apollinaris« unter Julian Apostata die Verfolgung der Christen »verblümter weis« in der Geschichte vom Hl. Georg auf die Bühne gebracht, indem der Drache für Julian, die Jungfrau für die »bedrängte Christenheit« und der Hl. Georg für Christus stünde.44 Beim »Geschichtgedicht« wird also ein historische Geschichte (die von Ritter Georg erlöste Jungfrau) so dargestellt, daß sie gleichnishaft auf etwas verweist. Unter demselben Begriff des »Geschichtgedichts« figuriert diese zweite Stufe auch in der Romantheorie. Eine »warhaftige Geschicht« werde »unter dem fürhang erdichteter Namen« vorgetragen, wobei diese Geschichte »in ihren umständen anderst geordnet/ als sie sich begeben« und »mit anderen umständen vermehret/ die sich war-scheinlich begeben können« ausgestattet sei.45 Eine dritte Stufe ist schließlich erreicht, wenn der Dichter in einem »Spielgedicht« die Geschichte, die er als Gleichnis verwendet, vollständig erfindet. Birkens Beispiel ist die alttestamentarische Geschichte von Tobias, die als ein »Freudenspiel« »von einem Jüdischen gottsfürchtigen Hausvater erfunden worden« sey.46 Damit zitiert Birken Luthers Vorrede zum Buch Tobias, in der dieses mit demselben Argument zu einem _____________ 42 43 44 45 46

Birken: Androfilo f. )( iiiv Birken: Aramena f. )( iijr. Birken: Androfilo f. )( iiijr. Birken: Aramena f. )( iiijv. Birken: Androfilo f. )( iiijr.

Masen und seine Rezeption

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Gleichnis für die »Mühen des Ehestands« erklärt wird.47 In der Romantheorie entsprechen dieser dritten Stufe die »Geschichtgedichte«, bei denen es sich um »ganz-erdichtete Historien/ welche der Verfasser erfunden« handelt, freilich nur um »durch lehr-hafte beispiele/ von Lastern abund zur Tugend anzumahnen.«48 Birkens dreigliedrige Unterscheidung hat Masens Unterscheidung einer dreifachen verisimilitudo zum Vorbild. »Geschichtspiel« und »Geschichtschrift« entsprechen der rein historischen Darstellung ohne fiktive Ausgestaltungen. Sie beziehen ihre Gleichnishaftigkeit aus der Tatsache, daß die Geschichte als solche eine Sammlung von exempla für tugendund lasterhaftes Verhalten ist. Das dramatische oder romaneske »Geschichtgedicht« entspricht dagegen in seiner »War-scheinlichkeit« der verisimilitudo historica Masens, das heißt der fiktiven Ausgestaltung eines historischen Sachverhaltes mit dem Zweck, ihn gleichnishaft auf eine Wahrheit verweisen zu lassen. Das »Spielgedicht« und das »Geschichtgedicht« entsprechen schließlich der verisimilitudo figurata propria Masens, das heißt der per se erfundenen Geschichte. In der Begrifflichkeit des dritten Teiles der »Palaestra«: Das »Geschichtspiel« ist als solches »wahr«, das »Geschichtgedicht« ist »dem Wahren ähnlich«, nämlich »war-scheinlich« (veri simile), das »Spielgedicht« ist »das Wahre bezeichnend« (veri significativum). Ein nicht-gleichnishaftes Drama zieht Birken, wie Masen und vor ihm die gesamte averroische Tradition, nicht in Betracht. Ein solches Drama würde keine Lehre vermitteln und wäre damit als »Ammenmärchen« oder sinnlose Fabelei nicht zu legitimieren. Dichtung und Geschichte stehen damit – gegen die aristotelische Differenzierung, im Gefolge der DonatKommentare – eng nebeneinander: Die Schauspiele sind Spiegel des Menschlichen Lebens/ und ist allen Menschen nützlich/ sowol als das Historien-Lesen/ sich darinn zuweilen ersehen: damit man an den Ausgängen die Vorsicht/ an den Unglücksfällen die Gedult und Hoffnung/ an den Lastern dieselben hassen/ und an den Tugenden dieselben lieben und üben lerne.49

Die Folgen für die Tragödientheorie sind bereits bekannt. Wenn die ganze Handlung einer Tragödie ein Gleichnis ist, dann sind die aristotelischen Bestimmungen des »mittleren Charakters« und der Katharsis überflüssig. Ohne jede Diskussion heißt es bei Birken, der Held solle »ein Fürbild aller Tugenden« sein, sei er aber »ein Tyrann oder Böswicht/ so soll ihm seine Straffe auf dem Fus nachfolgen«. – »Dann wann/ in Schauspielen/ die _____________ 47 48 49

Vgl. oben S. 76. Birken: Aramena f. )( iiijv. Birken: Dicht-Kunst, XII. Capitel, § 232, S. 339.

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Nachahmung als Gleichnishaftigkeit

Tugend nicht belohnt/ und die Laster nicht gestrafft erscheinen/ so ist solches ärgerlich und eine Gottslästerung/ weil es der Göttlichen Regirung zuwider lauffet.«50 In diesem Sinne versteht Birken die aristotelischen Forderungen. »Wolgemeint« sei es gewesen, »durch anschauung gäher Straf-Fälle« »Erstaunen und Mitleiden« erregen zu wollen. Zum selben Zweck könne man deshalb darstellen, »wie die Verbrecher/ von andern oder durch ihre eigne Fäuste/ erhenkt/ erschossen und erstochen werden/ oder mit dem Kopf wider die Wand laufen.«51 Als ein solches Schultheater ist das Drama durchaus legitim und könne sogar einen größeren Nutzen haben als eine »übereilte Predigt«.52 Es hat nichts zu schaffen mit dem professionellen Theater der Wanderbühne, das »den Leuten die Laster durch die Augen ins Herze« spielt und dessen Akteure »den Taschenspielern/ Gaucklern und Seildänzern gleich geachtet und verachtet« zu werden verdienen.53

Gleichnishafte Dramen Wie ein solches gleichnishaftes Drama aussieht, haben Masen und Birken in ihren eigenen Stücken demonstriert. Bei Masens »Androphilus« handelt es sich um eine »verisimilitudo propria« (»Spielgedicht«). Die Geschichte ist frei erfunden, verweist jedoch gleichnishaft auf die christliche Heilsgeschichte. König Andropater (Gott) hat Andromiso (der Teufel) für seinen Umsturzversuch verstoßen und nimmt nun statt dessen den Bettler Anthropo (der Mensch) an Sohnes stat an. Er gibt ihm Cosmo (die Welt) und Creon (das Fleisch) als Diener und Eufronimo (die Vernunft) als Hofmeister. Um sich an Andropater zu rächen, verführt Andromiso Anthropo (Sündenfall). Andropater macht Anthropo zur Strafe zum Rudersklaven auf der Galeere des Thanatos (der Tod). Androphilus, der Sohn Andropaters (Jesus), der in freundschaftlicher Liebe zu Anthropo entbrannt und ihm gefolgt ist, wird von Thanatos und seinen Schergen gefoltert und verspottet (Kreuzigung). Anthropo will ihm nachsterben, als sich herausstellt, daß Androphilus noch nicht ganz tot ist. Beide werden an den Hof des Vaters zurückgeholt. _____________ 50 51 52 53

Birken: Dicht-kunst § 226, S. 330 f. Vgl. auch dort § 211, S. 306. Birken: Dicht-kunst § 230, S. 335. Birken: Dicht-kunst § 232, S. 339. Birken: Dicht-kunst § 232, S. 338.

Masen und seine Rezeption

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Birken hat dieses Drama Masens nicht nur übersetzt, sondern dem Stoff in seiner »Psyche« eine eigene Form gegeben und »die Historie weiter und bis zur lezten JEsus-Zukunft«54 hinausgeführt, das heißt das Gleichnis bis zum Jüngsten Tag verlängert. Das Prinzip dieser Gleichnishaftigkeit ließ sich beliebig oft wiederholen. Masens »Telesbius«, die »Amelinde« (1657) und »Selimena« (1663) Anton Ulrichs und Christian Knorrs von Rosenroth »Vermählung Christi mit der Seelen« (1684) übernehmen dieselbe gleichnishaft dargestellte Wahrheit, erfinden aber jeweils neue Handlungen als Gleichnisse. Jacob Balde hat dagegen in seinem »Jephtias« (1654) einen alttestamentarischen und damit historischen Stoff verwendet, um dieselbe »Wahrheit«, wieder die Heilsgeschichte, darzustellen, nämlich die immer schon typologisch auf Christus hin gedeutete Geschichte von Jephtias, der seine Tochter opfert. Indem Balde Elemente aus dem Hohelied verwendet, um die Gleichnishaftigkeit desto besser herauszuarbeiten, folgt er genau den Prinzipien, die Masen für eine verisimilitudo historica beschrieben hat. Zu demselben Zweck gibt er der Tochter des Jephtias auch den Namen Menulema, ein Anagramm für Emanuel, also Christus. An Masens »Androphilus« schließt auch Gottfried Hoffmann mit seiner »Eviana« (1696) an. In seiner Vorrede übernimmt Hoffmann Masens Unterscheidung zwischen einer verisimilitudo historica und einer verisimilitudo figurata, wenn er die »Historie« oder das »Lehr-reiche Gedicht« zum Gegenstand des Dramas erklärt.55 Während die »Historien« ihren Lehrgehalt aus den »vestigia der Göttlichen Providenz« bezögen, die sich in ihnen abbildete, seien die »Gedichte« Gleichnisse der Wahrheit.56 Lob der Tugend und Tadel des Lasters ließen sich in ihnen in einer besonders anschaulichen und leicht verständlichen Form vermitteln, im Gegensatz zu den »schweren und subtilen Vernunfft-Schlüssen« der Moralphilosophie.57 Wieder ist es das Beispiel der Spartaner, die ihren Kindern einen Betrunkenen vorführten, um sie von der Trunkenheit abzuhalten, das dazu dienen muß, die pädagogische Wirkung des Dramas zu illustrieren.58 Seinen »Rusticus imperans« (1647, Druck 1657) dürfte Masen, wie die historische Verortung der Geschichte am Hof Philipps des Guten zeigt, _____________ 54

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Birken: Dicht-Kunst, XII. Capitel, § 219, S. 324. Die »Psyche« selbst findet sich, explizit als Modell bezeichnet, im Anhang der Dicht-Kunst. Zu Birkens Übersetzung von Masens »Androphilus« vgl. oben S. 121, Anm. 39. Hoffmann: Eviana S. 13. Hoffmann: Eviana S. 14. Hoffmann: Eviana S. 15 ff. Hoffmann: Eviana S. 19.

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Nachahmung als Gleichnishaftigkeit

ebenfalls als verisimilitudo historica begriffen haben. So wie er dieses Motiv vom König für einen Tag entwickelt, wird es zum Gleichnis für menschliches Verhalten sub specie aeternitatis. Wie der Bauer für einen Tag König ist und nach seinem Verhalten an diesem Tag gerichtet wird, so wird der Mensch für sein Verhalten auf der Welt gerichtet werden. Während der »Androphilus« und »Telesbius« schon im Titel als »comoedia parabolica« angekündigt werden, wird der »Rusticus imperans« deshalb, genauso wie der »Iosaphat« als »comoedia historica« angekündigt. Birkens »Margenis« (1651, Druck 1679) und »Silvia« (1655) sind »Spielgedichte«. Bei der »Margenis« handelt es sich um ein Gleichnis für den Dreißigjährigen Krieg, dessen erfundene Handlung von der Liebe zwischen der Prinzessin Margenis (Anagramm für Germanien) und dem Schäfer Irenian (der Frieden) erzählt, die durch die Intrigen des Fürsten Polemian (der Krieg) gestört wird. Die Komödie »Silvia« stellt dagegen gleichnishaft Tugend und Laster in der Liebe dar. Cymon und Eusebius bekommen, weil sie sich tugendhaft verhalten, anständige Ehefrauen und führen ein glückliches Leben, während Geilwig, Stolzart und Epikurus, die sich, wie ihre gleichnishaften Namen zeigen, lasterhaft verhalten, unter brutalen Umständen sterben und in die Hölle kommen. Noch Magnus Daniel Omeis zitiert 1712 Masens Theorie der veri similitudo als grundlegende Einteilung des Dramas, jetzt aber an Gryphius und Lohenstein illustriert. Masens »Mauritius Orientis Imperator«, Gryphius »Carolus Stuardus« und Lohensteins »Cleopatra« und »Agrippina« gelten ihm als »warhafte Geschicht[en]«, Masens »Rusticus imperans«, seine »Bacchi schola eversa« sowie Birkens »Psyche« und »Margenis« dagegen als »erdichtete Geschicht[en]«.59

Rotth Auch Albrecht Christian Rotths »Vollständige Deutsche Poesie« (1688) steht in der Tradition Masens, obwohl sich Rotth mehrfach auf Rappolts »Poetica aristotelica« (1678) beruft.60 Der vierte Teil der »Vollständigen Deutschen Poesie« behandelt die »eigentlich so benahmten Poetischen Gedichte«, das heißt Drama, Epos und Roman. Für diesen zweiten Teil _____________ 59 60

Omeis: Anleitung S. 237. Vgl. etwa Rotth: Poesie S. 1036. Zu Rotth vgl. das Nachwort von Zeller in Rotth: Poesie, Zeller: Diskurs S. 27-32 sowie Herrmann: Naturnachahmung S. 13-91. Ich zitiere nach der Seitenzählung des Nachdrucks.

Masen und seine Rezeption

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übernimmt Rotth die aristotelische Definition der Dichtung »als eine Nachahmung Menschlicher Verrichtung«.61 Das Problem, wie die lyrischen Gattungen mit dem Nachahmungsbegriff zu erfassen sind, löst Rotth wie Masen nach dem Modell von Vossius, indem er seiner Poetik einen zweifachen Dichtungsbegriff zugrundelegt, nämlich einen weiteren, der die Dichtung über den Vers bestimmt, und einen engeren, der die Dichtung durch die Nachahmung bestimmt. Auf Vossius zurück geht auch Rotths Unterscheidung eines »äußeren Zweckes«, der Katharsis, die sich durch einen »inneren Zweck«, das docere et delectare, vollziehe. Dichtung verhalte sich damit analog der Moralphilosophie (philosophia practica), indem sie die »bösen Affecte« reinigt, nur daß sie dies »auff eine lustigere und manierliche Arth« tut.62 Der aristotelische Ansatz der Vorrede wird bereits durch das erste Kapitel unterlaufen. Von Nachahmung ist keine Rede mehr, statt dessen liefert Rotth, wie er auch deutlich sagt, eine Übersetzung, Paraphrasierung und vereinfachende Zusammenfassung von Masens »Palaestra«.63 Das Wesen der Dichtung ist nicht die Nachahmung von Handlung, sondern die fictio als »Erfindung einer Materie«, die den Masenschen Forderungen der verisimilitudo entspricht, also gleichnishaft in einem didaktischen Sinne ist. Aus der Definition der Dichtung über die Erfindung folgt für Rotth allerdings, daß Dichtung auch in ungebundener Rede möglich ist, mithin der Roman – dem dann der letzte Teil von Rotths Poetik gewidmet ist – einen Teil der Dichtung darstellt.64. Wie Masen fordert Rotth von der Erfindung vor allem, daß sie »glaublich« ist, das heißt daß sie entweder der historischen Wahrheit ähnlich oder als solche »allegorisch« ist. Beispiel für eine allegorische Erfindung ist auch hier die Geburt der Athene aus dem Kopf Jupiters, die anzeigt, »daß Gott ein Uhrsprung aller Weißheit sey«.65 Neben dieser Form der Wahrheitsähnlichkeit müsse die Erfindung »ergetzlich« und »lehrreich« sein, lehrreich aber ist eine Erfindung, wenn sie moralische oder intellektuelle Wahrheiten in leicht verständlicher Form abbildet.66 So könne etwa der Engel Gabriel, der Abel in die schon erhobene Keule fällt, anzeigen, »wie gott moraliter et physice uns offt vom bösen abhält«. Gerade hier seien die antiken Dichter zu tadeln. In Ovids _____________ 61 62 63 64 65 66

Rotth: Poesie S. 757. Rotth: Poesie S. 759 f. Vgl. auch Vossius: De artis poeticae natura 7.4, S. 37. Rotth: Poesie S. 765. Rotth: Poesie S. 767 f. Rotth: Poesie S. 770 f. Das Beispiel nach Masen, vgl. oben S. 114. Rotth: Poesie S. 774.

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Nachahmung als Gleichnishaftigkeit

»Metamorphosen« wisse man oft nicht genau, was die einzelnen Fabeln zu bedeuten hätten oder treffe gar Fabeln an, die gar keine Lehre hätten.67 Wie Masen unterscheidet Rotth die Erfindung in eine Erfindung »per se« und »per accidens«, andererseits in eine Erfindung von Handlungen und eine von Sachverhalten. Weit klarer noch als bei Masen – und gegen Aristoteles – wird der »fictio rerum« der Vorzug gegeben, weil sie »zwar erdacht scheinet/ doch etwas anders zugleich/ so wahrhafftig ist/ andeutet«.68 Diese fictio rerum wird weiter unterschieden in eine »fictio propria« und eine »fictio metaphorica« einerseits und eine »fictio naturalis« und »fictio moralis« andererseits, wobei auch damit wieder Unterscheidungen Masens aufgegriffen werden.69 Der zweite Teil der »Vollständigen Deutschen Poesie« behandelt die einzelnen poetischen Gedichte »insonderheit«, die entweder nach ihrer Materie – dann wären theologische, juristische, medizinische und philosophische Dichtungen zu unterscheiden – oder nach ihrer Form in erzählende und dramatische unterschieden werden. Das ganze Epos gilt ihm – dies dürfte wie später bei Gottsched auf LeBossus »Traite du poème epique« zurückgehen – als die Illustration und Veranschaulichung eines präzise zu benennenden Satzes, der durch Episoden ausgeschmückt wurde. So ist Gegenstand der »Ilias« das Lob der Tapferkeit des Achilles, der Trojanische Krieg sei nur »per Episodia mit hinein gebracht worden.«70 Endzweck von Epos und Roman ist, »daß man dem Leser mit der Lust zugleich allerhand nützliche Sachen beybringe. [...] Nebst diesem aber werden iederzeit die Tugenden gelobt und die Laster gescholten.«71 Das auffälligste Kennzeichen der Tragödientheorie Rotths ist das widersprüchliche Nebeneinander unvereinbarer Theorieelemente von Aristoteles und Masen. So bestimmt Rotth im Anschluß an die aristotelische »Poetik« den Helden der Tragödie als eine »durchlauchtige Person« »mittelmässigen Zustandes«, denn nur so lasse sich »der Affect des Schröckens und des Mitleidens« erregen.72 Die Katharsis selbst wird dann jedoch als _____________ 67 68 69

70 71 72

Rotth: Poesie S. 775. Auch dieses Urteil schon bei Masen: Palaestra I.1.7, S. 14. Rotth: Poesie S. 777 f. Auch die abschließenden Kapitel zwei bis vier des ersten Teiles, die der »Formierung« und Ausschmückung einer poetischen Erfindung gewidmet sind, stammen in ihrem Konzept von Masen: das zweite Kapitel entspricht dem Kapitel I.1.14 der Palaestra, das Material der Kapitel drei und vier stammt aus den Kapiteln acht bis zehn der Palaestra. Rotth: Poesie S. 1039 f. Rotth: Poesie S. 1108 Rotth: Poesie S. 211 f.

Poetik des 18. Jahrhunderts

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Reinigung von Furcht und Mitleid bestimmt, das heißt die Tragödie »mässiget« die Zuschauer, so daß sie nicht zu sehr erschröcken noch sich gar zu jammerig bezeugen/ wenn dergleichen Unglück einigen warhafftig zu stossen sollte/ was sie itz nur erdichtet sehen/ weiter daß sie auch nicht gar ohne solche affecten seyn/ sondern auch eine Empfindligkeit gegen solche miserabele Personen lernen tragen.73

Dies entspricht, mit einer bemerkenswerten Abweichung, der traditionellen Bestimmung der Katharsis als »Abstumpfung« der Affekte, wie sie sich bei Masen findet.74 Während dort jedoch Furcht und Mitleid gemäßigt werden müssen, nimmt Rotth in der zitierten Bestimmung die Mäßigung des Mitleids im letzten Teilsatz wieder zurück und fordert statt dessen, »eine Empfindligkeit gegen solche miserabele Personen« tragen zu lernen. Das Mitleid wird damit zum positiven Affekt, der von der Tragödie geschult werden soll, wie es dann im bürgerlichen Trauerspiel des 18. Jahrhunderts zur zentralen Forderung erhoben werden wird.75 Als Musterbeispiel für eine solche Tragödie stellt Rotth, wie vor ihm Rappolt, den »Christus patiens« des Hugo Grotius vor.

Poetik des 18. Jahrhunderts ›Naturnachahmung‹ Der Beginn des 18. Jahrhunderts markiert in der Geschichte der Poetik keinen Bruch, sondern eine Radikalisierung der bekannten Auffassungen. 1713 vertritt Christian Thomasius Ansichten, die genausogut von Melanchthon oder Erasmus stammen könnten. Die Grammatik legt er auf die Regeln für richtige, die Poetik und Rhetorik auf die Regeln für »zierliche« Rede fest.76 In der Antike wäre Dichtung überhaupt nur in »Gedichte und Fabeln« gebrachte Philosophie gewesen. Diese poetisch verzuckerte Weisheitslehre habe _____________ 73 74 75 76

Rotth: Poesie S. 979. Auf die immanente Widersprüchlichkeit der Tragödientheorie Rotths hat bereits Zeller: Diskurs S. 30 hingewiesen. Vgl. oben S. 117. Zeller: Diskurs S. 31 hat bereits auf diese Stelle hingewiesen. Thomasius: Studio der Poesie S. 122.

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ihren unstreitigen Nutzen um der Schwachen willen, welche die heilsamsten und zum Studio der Weisheit gehörigen Wahrheiten eher vertragen können, wann sie in allerhand Erfindungen und Gedichte gleichsam eingehüllet sein, als wann sie nacket und bloß ihnen vor die Augen geleget werden.77

Was diese traditionelle Funktion des docere jedoch »in Ansehen des heutigen Versmachens« betrifft, ist Thomasius äußerst skeptisch. Wo die antike Dichtung noch ihren Nutzen gehabt haben mag, könne die heutige höchstens belustigen, das aber schicke sich für einen »Liebhaber der Weisheit« nicht.78 Überflüssig seien die Poetiken, in denen sich »mehr subtile als nützliche Praecepta« finden, an denen »ein Liebhaber der Weisheit ohne Sorge vorbei gehen« könne.79 Daß mit den »subtilen Praecepta« vor allem Aristoteles gemeint sein dürfte, wird deutlich, wenn Thomasius in der Folge sein Unverständnis dafür ausdrückt, daß die Handlung einer Tragödie an einem Tag geschehen solle. Das einzige Gebot, das Thomasius dem Dichter einschärft, ist, daß »seine Gedichte und Erfindungen nicht so beschaffen sind, daß sie wegen ihrer Unwahrscheinlichkeit und Unannehmlichkeit den Leser mehr verdrießlich als aufmerksam machen.«80 Dieses Verbot der »Unwahrscheinlichkeit« wird als Gebot der »Naturnachahmung« im Gefolge von Gottsched zum wichtigsten Begriff der Poetik. Der Begriff der Naturnachahmung begegnet schon 1624 in Opitz' »Poeterey«, wenn es dort heißt, daß »die gantze Poeterey im nachäffen der Natur bestehe/ vnd die dinge nicht so sehr beschreibe wie sein/ als wie sie etwan sein köndten oder solten.«81 Opitz verweist damit auf »Poetik« 1460b, wo es heißt: Da der Dichter ein Nachahmer ist, wie ein Maler oder ein anderer bildender Künstler, muß er von drei Nachahmungsweisen, die es gibt, stets eine befolgen: er stellt die Dinge entweder dar, wie sie waren oder sind, oder so, wie man sagt, daß sie seien, und wie sie zu sein scheinen, oder so, wie sie sein sollten.

Scaliger hatte daraus gefolgert, daß der Dichter eine »zweite Natur« schaffe, ähnlich der ersten, von Gott geschaffenen.82 In Schottels Übersetzung dieser Stelle wird deutlich, daß der Nachdruck in diesem Vergleich auf der Ähnlichkeit, Abbildlichkeit und Anschaulichkeit liegt, nicht auf dem Schöpfungsakt: _____________ 77 78 79 80 81 82

Thomasius: Studio der Poesie S. 123. Thomasius: Studio der Poesie S. 122. Thomasius: Studio der Poesie S. 124. Thomasius: Studio der Poesie S. 124. Opitz: Poeterey S. 350. Scaliger: Poetices libri I.1, S. 70 f.

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Scaliger gibt also dieses Zeugniß: Die anderen Wissenschaften erzehlen blößlich das Ding oder Wesen/ wie es an jhm selbst etwa gewesen oder sey: Die Poesis aber/ machet gleichsam eine andere Natur/ zwinget (was sonst ungut) mehr als ein gutes zuhaben/ und also ist sie Göttlich/ machet jhre Liebhabere zu Nachfolgeren und Vorstelleren alles dessen/ was Göttlich/ himlisch/ herrlich/ doch in der Natur das anmuhtigste/ und in der Tugend das lieblichste seyn kan.83

Der Begriff der Naturnachahmung entwickelt sich nicht aus dem aristotelischen Begriff der Nachahmung einer Handlung, sondern aus dem Begriff der empirischen »Wahrheitsähnlichkeit« und dem »ut pictura poesis erit« des Horaz. Er ist eine weitere Hypostase der averroischen similitudo. In der anonymen Breslauer »Anleitung« (1725) wird dies besonders deutlich. Aufgabe der Dichtung als einer »Nachbildung der Natur« sei es, etwas »so natürlich, klar und angenehm« vorzustellen, »wie es entweder an sich selber ist, oder doch der vernünfftigen Einbildung nach beschaffen seyn sollte, damit man nicht wider die Natur der Sache handle«, und etwa den Göttern Laster andichte oder im Trojanischen Krieg Kanonen zur Anwendung kommen lasse.84

Wolff Diesen rationalistischen Dichtungsbegriff als Radikalisierung der frühneuzeitlichen Poetik bringt Christian Wolff auf seinen philosophischen Begriff. Wesen der Dichtung ist die Fabel als gleichnishafte Lehrdichtung. In seinen »Vernünfftigen Gedancken von der Menschen Thun und Lassen, zu Beförderung ihrer Glückseligkeit« (1720) nennt Wolff die Fabeln und Exempel als Mittel, den »Erfolg der guten und bösen Handlungen« anschaulich werden zu lassen. Zwar könne man die Jugend auch durch Schläge zum Guten bewegen. Indem diese jedoch die fortwährende Strafandrohung voraussetzten, sei die durch Fabeln und Exempel gewonnene Einsicht dauerhafter, weil sie auf freier Entscheidung beruhe.85 In seiner »allgemeinen Moralphilosophie« (»Philosophia practica universalis«, 1739) bildet die fabula einen Sonderfall des exemplum. Im Gegensatz zur abstrakten Lehr- und Erkenntnismethode der deduktiv ver_____________ 83 84 85

Schottel: Arbeit Bd. 1, S. 106. [anonym] »Anleitung« 2, S. 2. Wolff: Gedancken von der Menschen Thun § 373 und 374. Zit. nach der Ausgabe 1733. Zu Wolff vgl. Birke: Metaphysik S. 1-20; Dürbeck: Einbildungskraft S. 269-285; Eichner: Prosafabel S. 49-83; Harth: Begründung; Kimpel: Wolff; Krüger: Wolff; Schmidt: Sinnlichkeit; Schrader: Lebenswelt S. 21-30.

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fahrenden Logik bestehe der Vorteil von Exempel und fabula in der Tatsache, daß diese nicht nur den Verstand (intellectus), sondern auch die Sinne und die Phantasie (sensus et imaginatio) ansprächen. Die fabulae lehrten keine neuen, sondern machten nur »gemeinhin bekannte« (in vulgus nota) Wahrheiten, insbesondere der Moralphilosophie, anschaulich und sinnfällig.86 Wie die Exempel täten sie dies, indem sie »das Allgemeine im Besonderen zur Anschauung bringen« (universalia in singularibus intuenda sistunt).87 Fabulae seien deshalb Argumente, die die Regeln der Klugheit vermittelten und damit der »Eindämmung menschlicher Dummheit« dienten.88 Die exempla erzählten wahre Geschehnisse, die fabulae erfundene.89 Auch das ist sicherlich wieder, wie bei Harsdörffer und Masen, ein Reflex der aristotelischen Unterscheidung »Rhetorik« II.20. Was erfunden werde, ohne eine Wahrheit zu lehren, sei ein »Altweibermärchen« (fabula anilis) und eines Mannes, »der sich seines Verstandes bedient«, unwürdig.90 Das Prinzip der Fabelerfindung erläutert Wolff unter dem Begriff des Reduktionsprinzips (principium reductionis). Fabeln würden erfunden, indem man zu der Wahrheit, von der man überzeugen will, einen »wahren Fall« (casus verus) suche und diesen entsprechend der Ähnlichkeit zum Wahren (similitudo cum vero) gestalte.91 Die Gleichnisse (parabola), wie sie Christus im Neuen Testament verwendet, seien eine Art der fabulae.92 Vorteil des »erfundenen Falles« oder des historischen Exempels, das durch die Hinzuerfindung von Umständen zu einer fabula wurde, sei die Rückführung der »allgemeinen Wahrheit« auf eine »intuitive Erkenntnis«.93 Eine »intuitive Erkenntnis« sei diejenige, die – wie später Baumgartens »ästhetische Erkenntnis« – »durch die Betrachtung von Vorstellungen gewonnen wird«, also nicht durch Begriffe. Deshalb nützten die fabulae »um allgemeine Wahrheiten besser zu verstehen, um die einem Begriff zugrundeliegende Wirklichkeit zu zeigen und um eine Wahrheit, die anderweitig angenommen wurde, zu bestätigen.«94 Die Erkenntnis wird über eine abstrakt-begriffliche Schlußfolgerung (demonstratio) gewonnen, die _____________ 86 87 88 89 90 91 92 93 94

Wolff: Philosophia practica § 306 und 320. Die Paragraphen 302-316 sind auszugsweise übersetzt in Theorie der Fabel S. 34-42. Wolff: Philosophia practica § 321, vgl. auch § 250. Wolff: Philosophia practica § 316. Deutsche Übers. Theorie der Fabel S. 42. Vgl. Wolff: Philosophia practica § 302 und Wolff: Gedancken von der Menschen Thun § 373. Wolff: Philosophia practica § 302. Deutsche Übers. Theorie der Fabel S. 35. Wolff: Philosophia practica § 308 ff. Wolff: Philosophia practica § 302 und 307. Wolff: Philosophia practica § 307. Wolff: Philosophia practica § 307. Deutsche Übers. Theorie der Fabel S. 40.

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dann durch die Bildlichkeit der fabula eine Überzeugungskraft bekommt, indem das Vorstellungsvermögen dazu geführt werde, der Schlußfolgerung zuzustimmen.95 In seinen »Vernünfftigen Gedancken von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen« (1721) nennt Wolff die Komödien und Tragödien als eine Form der Exempel und fabulae. Als solche seien sie in einem Staat zuzulassen, wenn sie durch ihre »Einrichtung« zur »Beförderung aller Tugend und Besiegung aller Laster« beitrügen. Das täten sie, »wenn die Tugenden und Laster nach ihrer wahren Beschaffenheit vorgestellet werden, absonderlich aber darauf gesehen wird, daß man zeiget, wie die freudigen Begebenheiten aus der Tugend, hingegen die Trauerfälle aus den Lastern kommen«. Gegenüber den »geschriebenen Historien« hätten Komödien und Tragödien den Vorzug der Anschaulichkeit, durch die sie »einen grössern Eindruck in das Gemüthe« machten. Gegenüber den »wahren Exempeln, die in der Welt passiren« hätten sie den Vorzug, alles »in einer kurtzen Reihe« darzustellen, wogegen im Leben selbst »auch öffters lange Zeit hingehet, ehe das Unglück kommet, welches man sich durch lasterhafftes Leben auf den Hals ziehet«, so daß man oft gar nicht erkenne, »daß dieser oder jener Zufall aus diesen oder jenen Handlungen erfolget«.96 In seinen »Vernünfftigen Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt« (1720) erläutert Wolff die Wahrscheinlichkeit der »erdichteten Geschichten, die man Romainen zu nennen pflegt« als »realistische«, empirische Möglichkeit. »Möglich« könne man einen Roman nennen, wenn »nichts widersprechendes darinnen anzutreffen« und das Geschehen sich also in dieser Welt hätte ereignen können.97 Wolff erläutert diese »Möglichkeit« an sich selbst, der am Schreibtisch sitzt und schreibt, genauso gut aber aufstehen könnte. Das Mögliche sei das, was in der »gegenwärtigen Verknüpfung der Dinge« zwar nicht realisiert wurde, grundsätzlich aber hätte realisiert werden können, mithin empirisch möglich war. Dieser Möglichkeitsbegriff Wolffs widerspricht dem aristotelischen Begriff einer poetischen Wahrscheinlichkeit zwar nicht, verhinderte aber seine Rezeption. Mit »Wahrscheinlichkeit« ist bei Aristoteles nicht gemeint, ob ein Geschehen empirisch möglich ist, sondern ob ein bestimmtes Geschehen vom Dichter so erfunden wurde, daß der Zuschauer es in einer erfundenen Handlung als möglich akzeptiert. Während das Gegen_____________ 95 96 97

Wolff: Philosophia practica § 317. Wolff: Gedancken von dem gesellschaftlichen Leben § 328. Zit. nach der Ausgabe 1725. Wolff: Gedanken von Gott, der Welt und der Seele § 571. Zit. nach der Ausgabe 1751.

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teil der aristotelischen Wahrscheinlichkeit das weniger Wahrscheinliche ist, ist das Gegenteil der Wolffschen »Möglichkeit« das Unmögliche als das Wunderbare, das den Naturgesetzen widerspricht. Der Begriff der »Naturnachahmung« bezeichnet in diesem Sinne die Abbildung von empirisch möglichen Sachverhalten. Als Teil der Moralphilosophie, deren Aufgabe es ist, die Menschen dazu zu führen, das Gute zu tun und vor dem Bösen zu fliehen, steht die Dichtung durch ihre gleichnishafte Lehrform neben der Logik. Die praktische Philosophie behandelt nach Wolff Gut und Böse hinsichtlich des Begehrungsvermögens, die Logik hinsichtlich des Erkenntnisvermögens.98 Mit diesem Begriff der Dichtung als einer argumentativen Form im Dienst der Moralphilosophie, in ihrem instrumentellen Charakter der Logik verwandt, steht Wolff in der Tradition Averroes' und Zabarellas, genauso wie mit seiner Ableitung des Wahrheitsbezugs der Dichtung als einer Form der »Wahrheitsähnlichkeit« im Sinne einer empirischen Möglichkeit.

Gottsched Gottsched, der es als die eigentliche Leistung seiner »Critischen Dichtkunst« (1729) begreift, die Poetik auf den Begriff der Naturnachahmung begründet zu haben, steht in dieser Tradition Wolffs, die er für die aristotelische hält.99 Welchen Bekanntheitsgrad die aristotelische »Poetik« zu diesem Zeitpunkt hat, erhellt aus der Bemerkung Gottscheds in der Vorrede zu seinem »Sterbenden Cato«, er habe überhaupt nur durch Rotths »Vollständige Deutsche Poesie« von der Existenz der aristotelischen »Poetik« erfahren, die er dann in der französischen Übersetzung Daciers gelesen habe. Das »Hauptwerk der Poesie« besteht nach Gottsched in der Fabel, diese aber sei »nichts anders, als eine Nachahmung der Natur«. Die »Aehnlichkeit« mit der Natur ist die »Haupteigenschaft aller Fabeln«, denn _____________ 98 99

Wolff: Discursus praeliminaris § 61 und 62. Zu Gottsched vgl. Alt: Begriffsbilder S. 351-372; Alt: Tragödie S. 66-84; Bing: Naturnachahmungstheorie S. 9-54; Birke: Metaphysik S. 21-48; Bruck: Mimesisbegriff S. 73-132; Finken: Wahrheit S. 38-59; Herrmann: Naturnachahmung S. 123-145; Hohner: Naturnachahmung; Knops: Erkenntnis S. 183-203; Möller: Überlieferung S. 16-43; Rieck: Gottsched S. 155-187; Scherpe: Gattungspoetik S. 26-49; Schmidt: Sinnlichkeit S. 71-124; Schrader: Lebenswelt S. 31-44; Stahl: Wunderbares S. 74-122; Unger: Handeln S. 17-72; Voßkamp: Romantheorie S. 145-151; Wetterer: Publikumsbezug S. 85-160; Zeuch: Prämissen. Zur Tradition der Deutung der Tierfabel als Allegorie vgl. Alt: Begriffsbilder S. 392-412; Freytag: Fabel.

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allein die Ähnlichkeit macht die »Wahrscheinlichkeit« aus, »und wenn eine Fabel nicht wahrscheinlich ist, so taugt sie nichts.«100 Drei Arten dieser »Nachahmung der Natur« unterscheidet Gottsched. Die erste bestehe in der anschaulichen »Beschreibung« und »lebhaften Schilderey«, die dem Leser eine »natürliche Sache« im Sinne der rhetorischen evidentia vor Augen stelle. Die zweite bestehe in der Nachahmung einer anderen Person und ihrer »Affecte«, indem der Dichter zum Beispiel ein Liebesgedicht schreibt, ohne selbst verliebt zu sein.101 Beide Arten der Nachahmung wären nach Aristoteles, mangels Handlung, keine Dichtung. Erst die dritte Art scheint der aristotelischen Definition zu entsprechen, wenn Gottsched die »Fabel« zu deren »Hauptwerk« und diese, als eine erfundene, zur »Seele der ganzen Dichtkunst« erklärt.102 Damit allerdings endet die Übereinstimmung mit Aristoteles. Nach Gottsched nämlich unterscheidet sich die Fabel in einen »moralischen Lehrsatz«, der wahr ist, und dessen »Einkleidung«, die falsch, das heißt erfunden ist.103 Durch den »moralischen Lehrsatz« steht die Dichtung im Dienst der Moralphilosophie. Die Tierfabel ist das eigentliche Paradigma dieses Fabelbegriffes, was Gottsched schon dadurch deutlich macht, daß er – wie Wolff – die Fabel als Handlung allein dadurch von der Tierfabel unterscheidet, daß in dieser »lauter Menschen und andre vernünftige Wesen vorkommen«.104 Ähnlich verfährt Gottsched mit der Tatsache, daß Aristoteles die naturphilosophische Lehrdichtung mangels Handlung aus der Dichtung ausschließt. Gottsched zitiert diesen Einwand, gibt ihm auch Recht, entscheidet sich dann aber mit Berufung auf die allgemeine Überzeugung trotzdem dagegen.105 Diametral gegen Aristoteles heißt es, Dichtung sei an ihrer spezifischen »Schreibart« zu erkennen, nämlich eben der »poetischen Schreibart«, deren Gesetze Gottsched ausführlich in mehreren Kapiteln erörtert.106 Wenn die Handlung nur die Einkleidung eines moralischen Lehrsatzes ist, bleibt die »philosophischere Allgemeingültigkeit«, die nach Aristoteles der Dichtung zukommt, eine unerfüllbare Forderung. Nach Gottsched bezeichnet diese »philosophischere Allgemeingültigkeit« einerseits die _____________ 100 Gottsched: Dichtkunst I.1.33, S. 141. 101 Gottsched: Dichtkunst I.4.1, S. 195 und I.4.3, S. 197 f.. 102 Gottsched: Dichtkunst I.4.7, S. 202. Gottscheds Dreiteilung ist von Vossius: De artis poeticae natura Kap. 3 inspiriert. 103 Gottsched: Dichtkunst I.4.8, S. 203. 104 Gottsched: Dichtkunst I.4.10, S. 205. 105 Gottsched: Dichtkunst II.8.2, S. 241 f. 106 Vgl. die Kap. sieben bis zwölf des ersten Teiles der Dichtkunst.

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Anschaulichkeit, die die Dichtung der »Trockenheit« der deduktiv und abstrakt vorgehenden Moralphilosophie verleiht, andererseits die Möglichkeit, den immer nur besonderen Fall der Historie so zu verändern, daß sein Lehrgehalt allen verständlich wird. »Allgemeingültigeit« ist als »Allgemeinverständlichkeit« zu verstehen und bezeichnet ein niedrigeres intellektuelles Niveau als die syllogistisch verfahrende Moralphilosophie. Wie diese »den gemeinen Verstand unstudirter Leute« oft übersteige, so setze auch die Historie mit ihren jeweils besonderen Fällen »viel Verstand zur Ausdeutung« bei ihren Lesern voraus. Die Dichtung halte deshalb die Mitte »zwischen einem moralischen Lehrbuche, und einer wahrhaftigen Geschichte«. Sie »ist so erbaulich, als die Moral, und so angenehm, als die Historie; sie lehret und belustiget, und schicket sich für Gelehrte und Ungelehrte«.107 Die Handlung ist die allegorische Einkleidung des »lehrreichen moralischen Satzes«, von dem der Dichter ausgeht. Ihre wesentliche Aufgabe ist es, diesen »moralischen Satz« so auszugestalten, daß er »sehr augenscheinlich in die Sinne fällt«, ihn also rhetorisch evident zu machen.108 Beispiele für eine solche Fabel, die »allgemein«, »nachgeahmt«, »erdichtet« und »allegorisch« heißen darf, sind die »Odyssee«, die nach Gottsched lehrt, daß die Abwesenheit eines Fürsten für sein Reich schädlich ist, und der »König Ödipus«, der lehre, »daß die Vohersehung der Götter untrüglich sey, und durch kein menschliche List und Vorsicht irre gemacht werden könne.«109 Wie in der gesamten averroischen Tradition werden Handlungen, die nicht in dieser Form allegorisch sind, als »Ammenmährlein« grundsätzlich ausgeschlossen.110 Während die aristotelische Glaubwürdigkeit darin besteht, daß der Dichter die historische Wahrheit so verändern kann, daß sie eine »philosophischere Allgemeingültigkeit« erhält, ist der Prozeß bei Gottsched (und Wolff) genau umgekehrt: der Dichter denkt sich eine Fabel aus, die dem gewählten »moralischen Lehrsatz« entspricht und sucht sich dann die entsprechenden historischen Ereignisse und Namen zur Einkleidung dieser Fabel.111 Wichtigste Qualität der Fabel ist das Wunderbare, worunter nicht das Übernatürliche zu verstehen ist, sondern das Ungewöhnliche und Seltene,

_____________ 107 108 109 110 111

Gottsched: Dichtkunst I.4.28, S. 220 f. Gottsched: Dichtkunst I.4.21, S. 215. Gottsched: Dichtkunst I.4.19, S. 213 f. Gottsched: Dichtkunst I.4.18, S. 212 f. Gottsched: Dichtkunst I.4.25, S. 218; II.9.20 S. 292 f. und II.10.11, S. 317.

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das sich dennoch im Rahmen der empirischen Wahrscheinlichkeit hält.112 Dazu gehört etwa die Verkleidung und Entdeckung gewisser Personen, die bisweilen einer Sache schleunig einen andern Ausschlag giebt; die Ankunft abwesender Personen, der Tode der Kranken, oder das unvermuthete Leben derer, die man für Tod gehalten. Auch Processe, die man gewinnt oder verliert, Erbschaften, die man thut, Testamente, Heirathen, Briefe, u.d.m. verursachen oft recht wunderbare Zufälle.113

Diese Liste entspricht dem, was Masen in seiner Dramentheorie an möglichen Verwicklungsursachen aufgezählt hatte.114 Aufgabe der Tragödie und Komödie ist es, »durch Exempel der Tugenden und Laster, die Zuschauer zu unterrichten«.115 Wie sich diese belehrende Wirkung mit der Katharsis vermitteln läßt, bleibt offen. Gottsched stellt beides einfach nebeneinander: »Der Poet will also durch die Fabeln Wahrheiten lehren, und die Zuschauer, durch den Anblick solcher schweren Fälle der Großen dieser Welt, zu ihren eigenen Trübsalen vorbereiten.«116 Die technischen Anforderungen, denen Aristoteles die Handlung unterwirft (Anagnorisis, Peripetie, Pathos usw.) erwähnt Gottsched nicht. Am Beispiel des "König Ödipus" erläutert Gottsched die Forderung vom »mittleren Charakter« und dem Fehler, der den Helden zu Fall bringt. Nach Gottsched besteht der Fehler des Ödipus darin, daß er willkürlich einen Fremden (der sich später als sein Vater erweist) erschlagen habe, wo er doch durch das Orakel vor jedem Mord gewarnt sein mußte. Die gerechte Strafe, die ihn dafür ereilt, hat auf den Zuschauer eine »erbauliche« Wirkung, insofern dieser sowohl Mitleid mit ihm hat, als auch die »göttliche Rache« bewundert, »die gar kein Laster ungestraft läßt.«117 Ähnlich bezeichnet Gottsched in seinem eigenem »Cato« es als den »Fehler« Catos, daß dieser sich selbst umbringe, womit er seine Freiheitsliebe zu weit treibe und dazu noch der falschen »stoischen Meinung« anhinge, der Selbstmord sei erlaubt.118 Damit bleibt das Bekenntnis zum »mittleren Charakter«, das Gottsched im Kapitel über das Trauerspiel übernimmt, ein bloßes Lippenbekenntnis. _____________ 112 Gottsched: Dichtkunst I.5.28, S. 249 f. Auch Gottscheds Begriff des Wunderbaren dürfte von Vossius inspiriert sein, vgl. Vossius: Institutiones I.2.13 ff. und I.3. 113 Gottsched: Dichtkunst I.5.28, S. 249 f. 114 Masen: Palaestra III, S. 55 f. 115 Gottsched: Dichtkunst I.1.31, S. 140. Vgl. auch die zusammenfassende Bestimmung in Gottsched: Schauspiele S. 5. 116 Gottsched: Dichtkunst II.10.5., S. 312. 117 Gottsched: Dichtkunst II.10.6, S. 313. 118 Gottsched: Cato S. 17.

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Deutlich genug heißt es gleichzeitig im Kapitel über das Wunderbare, ein »kluger Poet« täte am besten daran, wenn er sich »lauter ungemeine Helden und Heldinnen, lauter unmenschliche Tyrannen und verdammliche Bösewichter« aussuche, die »treffliche Bilder großer Tugenden und Laster« abgäben.119 Handlungsgenerierendes Prinzip ist für Gottsched nicht die Nachahmung menschlicher Handlungen entsprechend der technischen Anforderungen der aristotelischen »Poetik«, sondern der »moralische Lehrsatz«.120 Auch wenn Gottsched sich im Gegensatz zu Masen ununterbrochen auf die aristotelische »Poetik« beruft, ist ihm deren Dichtungsbegriff grundsätzlich fremd geblieben, genauso wie die Werke von Heinsius, Vossius und Rappolt, von denen er behauptet, sie sich »zu Nutze gemacht« zu haben.121 Die »Ars poetica« des Horaz, die der »Critischen Dichtkunst« vorangestellt ist, ist für Gottscheds Dichtungsbegriff ungleich wichtiger.

Breitinger Dieser Befund gilt auch für Bodmer und Breitinger.122 Bodmer erhebt das Gebot der Naturnachahmung 1721 in den »Discoursen der Mahlern« zur »ersten und eintzigen Regel«. Ursprung dieses Gebots ist die averroische »Wahrheitsähnlichkeit« und die rhetorische Anschaulichkeit, denn »Naturnachahmung« besagt auch bei Bodmer nichts anderes, als daß »jedweder Schreiber und Redner« »das Natürliche nachspühre, und copiere«, so daß es dem Leser sinnlich vor Augen trete.123 In Breitingers »Critischer Dichtkunst« heißt es 1740, die »Grundregel« sei, daß die Worte »die Gedancken und Bilder, gleichwie diese die Sachen deutlich und lebhaft ausdrücken«, das heißt »natürlich« sind, »und in dieser

_____________ 119 Gottsched: Dichtkunst I.5.23, S. 244. Ähnlich Gottsched: Dichtkunst I.5.24, S. 245 über das Wunderbare in der Komödie. 120 Gottsched: Dichtkunst II.10.11, S. 317. 121 Gottsched: Dichtkunst, Vorrede S. 15. Ähnlich Gottsched: Cato S. 8. 122 Zu Bodmer und Breitinger vgl. Alt: Begriffsbilder S. 372-392; Bender: Bodmer und Breitinger S. 69-109; Bing: Naturnachahmungstheorie S. 55-107; Bruck: Mimesisbegriff S. 133-197; Finken: Wahrheit S. 61-90; Herrmann: Naturnachahmung S. 163-276; Knops: Erkenntnis S. 203-208; Kowalik: Poetics; Möller: Überlieferung S. 44-70; Schmidt: Sinnlichkeit S. 124-151; Schrader: Lebenswelt S. 45-75; Stahl: Wunderbares S. 174-182; Voßkamp: Romantheorie S. 152-160; Wetterer: Publikumsbezug S. 161-228; Willems: Anschaulichkeit S. 272-333. 123 Bodmer: Discourse I.19, S. 3 f.

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natürlichen Vorstellung und Uebereinstimmung ist so wohl die Wahrheit der Gedancken und Begriffe, als der Schildereyen gegründet.«124 Gegenstand dieser »Schilderey« sind nicht menschliche Handlungen, sondern das gesamte menschliche Wissen. Aufgabe des Dichters ist es, dieses Wissen entsprechend der Gesetze der rhetorischen Anschaulichkeit auszugestalten, es »durch sinnliche Bilder« auszuzieren und »in einem sichtbaren Gemählde« vorzulegen.125 Vor allem jedoch ist es Aufgabe der Dichtung, »den Menschen zur Beobachtung der natürlichen, bürgerlichen und christlichen Pflichten« zu ermuntern. Dichtung ist deshalb eine leichter verständliche Form der Moralphilosophie, insofern sie »diejenigen moralischen und politischen Wahrheiten, die das Gemüthe zum guten lencken können, auf eine angenehm-ergezende, allgemeine und sinnliche Weise vorstellet.«126 Die entscheidende Rolle kommt dabei wiederum der Fabel zu, die die ›Verzuckerung‹ darstellt, mit der man die Wahrheit für den »größten Haufen der Menschen«,127 der nicht befähigt oder gewillt ist, die Wahrheit in ihrer begrifflich abstrakten Form zu verstehen, anschaulich und verdaulich macht.128 Die Fabel vom Kopf und vom Magen, mit der Menenius Agrippa die Plebs dazu bewegte, nach Rom zurückzukehren, ist Breitingers Beispiel für diese argumentative Kraft der Dichtung. Wie Gottsched drei verschiedene Begriffe der Nachahmung unterschieden hatte, von denen die ersten beiden bloße »Schildereyen« darstellten und erst die dritte über eine »Fabel« verfügte, so unterscheidet auch Breitinger zwischen den »kleineren Gattungen der Lyrischen Gedichte«, die bisweilen »bloß ergetzen«, und den »grösseren Hauptstücken der Poesie«, die durch ihre Fabel auch bessernd auf den Willen der Leser einwirkten. Epos und Tragödie seien eine »Schule für den Leser, wo er zu hohen, tugendhaften und großmüthigen Unternehmungen aufgewecket und vorbereitet wird«, was sich vor allem durch die »nützliche Hauptlehre« vollziehe. Komödie und Tragödie dienten den Funktionen von Lob und Tadel. In der Tragödie könne man die Abwechselungen des menschlichen Schicksals erlernen, mittelst des Schreckens und des Mitleidens die Affecten der Leute reinigen, und die Mächtigen durch das Beyspiel anderer, die sich selbst durch ihre Tyrannie in das gröste Elend gestürtzet haben, von Grausamkeit und Gewaltthätigkeit abhalten; die

_____________ 124 125 126 127 128

Breitinger: Dichtkunst II, S. 290 f. Breitinger: Dichtkunst I.3, S. 53 f. Breitinger: Dichtkunst S. 102. Breitinger: Dichtkunst I.1., S. 3 und S. 6. Breitinger: Dichtkunst I.1, S. 8 f.

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Comödie stellet uns die Mängel gemeiner Personen vor Augen, und ist ein Spiegel des bürgerlichen Lebens, damit die Haus-Väter unter dem Volck lernen, ihren Haushaltungen vorstehen, ihre eigenen Fehler verbessern, und sich an ihrem Stand begnügen.129

Die Überflüssigkeit einer Tragödientheorie im aristotelischen Sinne wird deutlich genug durch die Tatsache, daß Breitinger diese gar nicht behandelt. Wie bei Wolff und Gottsched wird der Handlungsbegriff von vornherein dem Begriff der Fabel als Tierfabel subsumiert. Breitinger definiert die Fabel als »eine unter der wohlgerathenen Allegorie einer ähnlichen Handlung verkleidete Lehre und Unterweisung« und resümiert selbst, daß damit »jedes lehrreiches Beyspiel, das eine nützliche moralische Lehre künstlich verbirgt, den Nahmen einer Fabel« verdiene.130 Einziger Unterschied zwischen der epischen Fabel und der Tierfabel ist die Tatsache, daß die epische und tragische Fabel »eine grosse und wichtige, meistens politische Wahrheit, an deren Beobachtung nicht nur die Wohlfahrt einzelner Menschen, sondern das Heil gantzer Völcker hängt, zur Haupt-Absicht« habe, während die äsopische Fabel »das gemeine bürgerliche Leben der Menschen« regiere.131 Zudem unterschieden sich beide Arten der Fabel durch die Grade des Wunderbaren, das sie enthalten.132 Unterschied zwischen Dichtung und Historie ist die moralische Wahrheit, die der Dichtung, im Gegensatz zum bloßen Bericht des Geschehenen in der Historie, eignet.133 Allerdings kann, wie für Masen, Birken und Rotth auch für Breitinger die Historie selbst zu einer Allegorie werden, wenn man sie »nicht mehr vor eine würckliche Geschichte, sondern alleine vor ein Bild, und vor etwas, das uns Anlaß zu einer wichtigen Erinnerung geben kan«, ausgibt.134 Entscheidend ist die Tatsache, daß die Fabel keine bloße Erfindung, sondern Ausdruck einer Wahrheit ist und deshalb über die ›Wahrheitsähnlichkeit‹ an diese Wahrheit gebunden ist. Wie bei Gottsched wird diese ›Wahrheitsähnlichkeit‹ unter dem Einfluß Wolffs als »Nachahmung der Natur in dem Möglichen« definiert.135 _____________ 129 130 131 132 133 134 135

Breitinger: Dichtkunst S. 104 f. Breitinger: Dichtkunst I.7, S. 193 f. Breitinger: Dichtkunst I.7, S. 197. Breitinger: Dichtkunst I.7, S. 187. Breitinger: Dichtkunst I.7, S. 171 f. Breitinger: Dichtkunst I.7, S. 194. Breitinger: Dichtkunst I.3, S. 56 f.

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Auch für Breitinger ist das Wunderbare die wichtigste Eigenschaft des Möglichen, das der Dichter erfindet. Im Gegensatz zu Gottsched schließt das Wunderbare aber auch übersinnliche Wesenheiten ein wie Engel, Teufel, Personifikationen der Tugenden und Laster und jede Art von allegorischen Darstellungen, bei denen der Dichter durch die Kraft seiner Phantasie gantz neue Wesen erschaffet, und entweder solche Dinge, die keine Wesen sind, als würckliche Personen aufführet, denselben Leib und Seele mittheilet, [...] oder diejenigen Wesen, die schon würcklich sind, zu der Würde einer höhern Natur erhebet, indem er den leblosen Geschöpfen Meinungen und Gedanken leihet, wenn er Wäldern, Flüssen, Landschaften und allen anderen unbelebten Wesen Gedancken und Reden zuschreibet [...].136

Kriterien der ›Wahrscheinlichkeit‹ sind deshalb unter anderem glaubwürdige Zeugen, das Zeugnis der Sinne oder das Zeugnis der Allgemeinheit.137 Dieser Begriff der Wahrscheinlichkeit läßt sich zwar mit »Poetik« 1460b – der Dichter »stellt die Dinge entweder dar, wie sie waren oder sind, oder so, wie man sagt, daß sie seien, und wie sie zu sein scheinen, oder so, wie sie sein sollten« – verbinden, wie es Breitinger im Anschluß tut, nicht aber mit der Forderung einer Glaubhaftigkeit im Sinne einer »philosophischeren Allgemeingültigkeit«, wie sie Aristoteles 1451b aufstellt. Die ganze antike Mythologie ist nach Breitinger als »allegorische Lehrart« zu verstehen, »indem der Aberglaube die Personen, die zuerst bloß allegorisch waren, hernach in historische verwandelte.«138 Der Aberglaube des Volkes ist die genaue Umkehrung des poetischen Verfahrens, mit dem die antiken Dichter historische Personen in allegorische verwandelten, indem sie etwa mit der Geschichte von Narziß vor »übermässiger Eigenliebe« warnten. Auf diese Weise ist auch die Allegorie, die auf die alte Mythologie gebauet ist, eine der reichsten und fruchtbarsten Quellen des poetischen Schönen, inmassen sie dem Poeten eine Menge wunderbarer Bilder an die Hand giebt, durch die er gantz bekannte Gedancken auszieren und erheben kan.139

Sinn und Zweck des Wunderbaren ist es, »die truckene Erzehlung durch die geschickte Einstreuung dergleichen angenehmer Fabeln vor Mattigkeit« zu bewahren.140 Das Wunderbare steht deshalb gänzlich im Dienste des moralischen Lehrsatzes, der der Fabel zugrundeliegt. Denn Aufgabe _____________ 136 137 138 139 140

Breitinger: Dichtkunst I.6, S. 143, vgl. auch S. 199. Breitinger: Dichtkunst I.6, S. 138. Breitinger: Dichtkunst S. 339. Breitinger: Dichtkunst S. 345 f. Breitinger: Dichtkunst S. 342 f.

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der Dichtung ist es, die »bekanntesten moralischen Wahrheiten«, die sich sonst niemand immer wieder »vorsagen« ließe, in immer neue, »wunderbare« Allegorien zu fassen.141

Schlegel, Pyra Carl Friedrich Brämer behauptet 1744 in seiner »Gründlichen Untersuchung von dem wahren Begriffe der Dichtkunst« zurecht, es bestehe kein wesentlicher Unterschied zwischen Gottsched und den Schweizern, trotz der Gefechte, die sich beide Parteien lieferten.142 Auf den Begriff der Naturnachahmung trifft dies zu. Johann Elias Schlegel, ein Schüler Gottscheds, muß sich 1740 in einer Abhandlung »Über die Comödie in Versen« mit dem Vorwurf auseinandersetzen, die Versform des Dramas würde gegen das Gebot der Naturnachahmung verstoßen, da die Menschen nicht in Versen sprechen würden. In seiner »Abhandlung, daß die Nachahmung der Sache, der man nachahmet, zuweilen unähnlich werden müsse« (1745) und in seiner »Abhandlung von der Nachahmung« (1742-45) versucht er den Begriff der Nachahmung als Abschilderung der »Natur« so zu lockern, daß dieser nur ein proportionales Verhältnis bezeichne, kein abbildliches. Grundsätzlich stellt er den Begriff der Naturnachahmung jedoch nicht in Frage. In Schlegels »Gedanken zur Aufnahme des dänischen Theaters« (1747) spielt die aristotelische »Poetik« keine nennenswerte Rolle. Während Aristoteles 1450a ausdrücklich die Handlung über die Charaktere stellt und diese von jener abhängig macht, bezieht Schlegel (ohne diesen Widerspruch zu vermerken) die genau gegenteilige Position, wenn er meint, nichts von der »Ausarbeitung« eines Schauspiels sagen zu müssen, denn diese folge aus der naturgemäßen Darstellung der Charaktere.143 Jacob Immanuel Pyra bezieht dagegen in der »Fortsetzung des Erweises, daß die G*ttsch*dianische Sekte den Geschmack verderbe« (1743) die Position Bodmers und Breitingers. Diese hätten im Gegensatz zu Gottsched den »rechten Weg« erwählt, weil sie von dem »ut pictura poesis« ausgegangen wären. Was den Dichter ausmache, sei »nicht blos die Fabel«, sondern die »Episoden«. Diesen Begriff dürfe man nicht wie Gottsched als die »Ein_____________ 141 Breitinger: Dichtkunst I.5, S. 110 f. 142 Brämer: Begriff der Dichtkunst § 71 und 72. 143 Schlegel: Aufnahme S. 220. Zu Schlegels Poetik vgl. Bretzigheimer: Theorie.

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schaltung fremder Handlungen« verstehen, sondern wie Aristoteles als die »Ausführung der Fabel«. Deshalb müsse man in einer Poetik zeigen, »wie Charakter und charaktermäßige Handlungen, Reden, lebhafte Begebenheiten, und Umstände zu erfinden und auszubilden seyn«.144 In der folgenden »Untersuchung« des Gottschedschen »Cato« »nach den Regeln des Aristoteles« zitiert Pyra zwar die aristotelische Tragödiendefinition, bestimmt aber schon wenige Seiten später die Fabel als »eine nachgeahmte Handlung, die eine Sittenlehre unter sich begreift«. Durch diese »Sittenlehre« vollziehe sich die »Reinigung« der »Leidenschaften«. Da eine solche nicht stattfinde, bestreitet er dem »Cato« die Existenz einer Fabel.145 Georg Friedrich Meier, der ebenfalls gegen Gottsched Partei ergreift, bestreitet in seinen »Betrachtungen über den ersten Grundsatz aller schönen Künste und Wissenschaften« (1757) die Gültigkeit der Naturnachahmung als einem solchen Grundsatz. An dessen Stelle setzt er, als Schüler Baumgartens, die »sinnliche Erkenntnis«, die durch größtmögliche Schönheit vermittelt werden müßte.146 Ähnlich argumentieren Moses Mendelssohn in seinen »Betrachtungen über die Quellen und die Verbindungen der schönen Künste und Wissenschaften« (1757) und Johann Adolf Schlegel in der Abhandlung »Von dem höchsten und allgemeinsten Grundsatze der Poesie« (1759).147 Auch damit aber ist kein substanziell neuer Dichtungsbegriff eingeführt, wie Baumgartens Ästhetik selbst illustriert.

Baumgarten In seinen »Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus« (1735) hatte Baumgarten die Dichtung (poema) als »vollkommene sensitive Rede« (oratio sensitiva perfecta) bestimmt.148 »Sensitive Vorstellungen« seien diejenigen, die durch die Sinne als den »niederen Teil des _____________ 144 145 146 147

Pyra: Fortsetzung des Erweises S. 21 f. Pyra: Fortsetzung des Erweises S. 74. Meier: Betrachtungen § 20 ff. Schlegel: Von dem höchsten und allgemeinsten Grundsatze der Poesie. In ders.: Abhandlungen S. 185-248. Zur Kritik des Nachahmungsbegriffes bei Meier und Schlegel vgl. Costazza: Imitatio und Scherpe: Gattungspoetik S. 190-205. 148 Baumgarten: Meditationes § 9. Ich zitiere die Übersetzung von Paetzold. Zu Baumgarten und Meier vgl. Bender: Tradition; Franke: Kunst; Groß: Aestheticus; Knops: Erkenntnis S. 208-232; Nivelle: Dichtungstheorien S. 7-38; Poppe: Baumgarten; Riemann: Ästhetik; Schmidt: Sinnlichkeit; Schweizer: Ästhetik; Strube: Theorie; Strube: Entstehung.

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Erkenntnisvermögens« (partem facultatis cognoscitivae inferiorem) erworben würden.149 Je mehr Merkmale eines Sachverhalts die »sensitive Rede« darstelle, desto »verworrener« werde zwar einerseits der sinnliche Eindruck, desto »extensiv klarer« und »poetischer« werde er aber andererseits.150 Anschaulichkeit ist damit das entscheidende Merkmal der Dichtung. Im Gegensatz zu deren »sensitiven Vorstellungen« sind die »deutlichen Vorstellungen« der Philosophie begrifflich vermittelt. Sie erfassen den Sachverhalt vollständiger und adäquater, sind aber, weil sie nicht anschaulich sind, auch nicht poetisch. Baumgarten illustriert diese Behauptung, indem er einen Syllogismus in Verse bringt.151 Die Unterscheidung zwischen einer »klaren« und einer »deutlichen« Erkenntnis hatte Baumgarten von Leibniz und Wolff übernommen. Die ästhetische Erkenntnis ist »klar«, weil sie sich durch Empfindungen und Vorstellungen in den Sinnen und der Phantasie vollzieht, die logische ist »deutlich«, weil sie sich durch Begriffe in der Vernunft vollzieht. Während der begrifflichen Deutlichkeit die analytische Kraft des Verstandes und die logische Begründungsfähigkeit der Vernunft zukommt, verfügt die ästhetische Klarheit über Anschaulichkeit und Unmittelbarkeit. Damit ist es nicht mehr die exemplarische Schlußform, wie etwa bei Savonarola oder Zabarella, die die Dichtung von der Logik unterscheidet, sondern die Art der Erkenntnis. In seiner »Aesthetica« (1750/58) definiert Baumgarten die Ästhetik als »Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis« (scientia cognitionis sensitivae), die als »Analogon der Vernunft« (ars analogi rationis) und »untere Erkenntnislehre« (gnoseologia inferior) das leiste, was die Logik für die Begriffe leiste.152 Die Logik sei deshalb die »ältere Schwester« der Ästhetik.153 Georg Friedrich Meier, der mit seinen »Anfangsgründen aller schönen Wissenschaften« (1748) eine deutschsprachige Variante von Baumgartens »Aesthetica« verfaßte, sieht im »Aestheticus« eine »menschlichere« Version des »Logicus«. Dieser sei eine so schulfüchsige Creatur, daß man ihn ohne Lachen nicht betrachten kan; da im Gegentheil ein blosser Aestheticus menschlich ist und sich jederzeit mehrern Personen gefällig machen kan. Ein schöner Vortrag findet einen viel stärckern

_____________ 149 150 151 152 153

Baumgarten: Meditationes § 3. Baumgarten: Meditationes § 15 ff. Baumgarten: Meditationes § 14. Baumgarten: Ästhetik § 1. Ich zitiere die Übersetzung von Mirbach. Baumgarten: Ästhetik § 13.

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und ausgebreiterten Beyfall, als eine bloß mathematische [das heißt formalsyllogistisch verfahrende] Demonstration.154

Mit kleineren Unterschieden in der Begründung bestimmt Baumgarten in den »Meditationes« und in der »Aesthetica« die Dichtung als Argument. In den »Meditationes« leitet Baumgarten den argumentativen Charakter der Dichtung aus ihrer »Sensitivität« ab. Je präziser ein Sachverhalt bestimmt werde, desto weiter entferne er sich von seinem Gattungsbegriff und nähere sich dem Individuellen an. Das Individuelle sei als sinnlich Konkreteres poetischer als die Gattung. Indem das exemplum »die Vorstellung von etwas stärker Bestimmtem«, mithin Individuellerem ist, »die zur Erklärung einer Vorstellung von weniger Bestimmtem beigebracht wird«, seien die exempla poetischer als die zu beweisende, weniger bestimmte Vorstellung.155 In der »Aesthetica« gilt jede Dichtung als eine sinnliche Vorstellung. Insofern diese »Grund einer anderen Vorstellung« sei, sei sie ein Argument für diese.156 Voraussetzung der poetischen Argumentation sei deshalb eine Kenntnis der Wissenschaften, insbesondere derjenigen, die den »sittlichen Zustand« betreffen, also der Moralphilosophie.157 Als Argument ist die sinnliche Vorstellung an eine »ästhetische Wahrheit« geknüpft, das heißt an die Wahrheit, »insofern sie sinnlich zu erkennen ist«.158 Während die Wahrheit durch den Verstand als logische Wahrheit betrachtet werde, werde sie durch das »Analogon der Vernunft«, das »untere Erkenntnisvermögen«, als ästhetische Wahrheit betrachtet. Die ästhetische Wahrheit sei dabei nicht die »Wahrheit im strengsten Sinne« als Darstellung des »absolut Notwendigen«, sondern die »heterokosmische Wahrheit« als Darstellung der »zufälligen Dinge als Mögliche einer anderen Welt«.159 Ihr Gegenteil ist die »ästhetische Falschheit« als »Nichtübereinstimmung« mit der Wahrheit. Beispiel dafür ist, wie bei Gottsched,160 der Horazische Menschenkopf auf einem Pferdehals.161 Zu den Forderungen der ästhetischen Wahrheit gehört auch, daß lasterhaftes Verhalten ohne Zweideutigkeit als solches erkennbar sein soll. Diese moralische Forderung ließe sich nicht ästhetisch begründen, son_____________ 154 155 156 157 158 159 160 161

Meier: Anfangsgründe § 5, S. 9. Baumgarten: Meditationes § 19-§ 22. Baumgarten: Ästhetik § 26. Baumgarten: Ästhetik § 64 ff. Baumgarten: Ästhetik § 423. Baumgarten: Ästhetik § 441. Gottsched: Dichtkunst I.6.1, S. 255. Baumgarten: Ästhetik § 445 f.

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dern beruhe auf den »wichtigeren Regeln einer guten Gesinnung«.162 Damit ist das Lasterhafte, von dem die Dichtung abschreckt, als Häßliches ästhetisch reformuliert. Deutlicher noch heißt es bei Meier, die Ästhetik demonstriere, »daß alle lasterhafte Gedanken eben deswegen häßlich sind, weil sie lasterhaft sind.«163 Die Dichtung erwecke »Vergnügen und Verdruß, Begierden und Verabscheuungen durch das Anschauen einer Vollkommenheit oder Unvollkommenheit«.164 Wie Gottsched und Breitinger wendet Baumgarten den Wolffschen Begriff der »möglichen Welten« auf die Dichtung an, wenn er zwischen »wahren Erdichtungen« (figmenta vera) und »Erdichtungen« (figmenta) unterscheidet. »Wahre Erdichtungen« sind »in der bestehenden Welt« möglich, »Erdichtungen« unmöglich. Sind letztere »in allen möglichen Welten unmöglich«, sind sie »utopisch«, sind sie nur in der bestehenden Welt unmöglich, »heterokosmisch«.165 Indem »utopische« Vorstellungen als in sich widersprüchliche nicht vorgestellt werden können (wie zum Beispiel ehebrechende Götter in der antiken Dichtung166), sind sie nicht poetisch. Die heterokosmische Wahrheit der Dichtung ist als »ästhetische Wahrheitsähnlichkeit« (verisimilitudo) an die Wahrheit gebunden.167 In seiner »Untersuchung der Frage: Ob Milton in der Wahl der Haupthandlung in dem verlohrnen Paradiese glücklich gewesen?« (1744) hält Meier den Sündenfall Adams für sehr wahrscheinlich, weil er »würklich in der beßten Welt geschehen« sei, deshalb »die größte hypothetische Möglichkeit« habe und folglich auch »im höchsten Grade wahrscheinlich« sei. Überdies werde der Sündenfall durch die Bibel bestätigt, die jedem Christen die »Gewißheit des Glaubens« gewähre.168 Auch damit ist die Wahrscheinlichkeit eine Form der empirischen Wahrheit. In seiner »Beurtheilung« des »Messias« (1749) hält Meier Klopstocks Wahl der Handlung – »die Erlösung des gantzen menschlichen Geschlechts« – mit Berufung auf Aristoteles für die bestmögliche Wahl, die Klopstock noch über Homer und Vergil erhebe.169 Mit dem aristotelischen Begriff der Handlung läßt sich aber dieses Epos sicherlich nicht beschreiben. Gerade mit diesem Stoff steht Klopstock in einer Tradition, die sich nahtlos an das 17. Jahrhundert anschließt. _____________ 162 163 164 165 166 167 168 169

Baumgarten: Ästhetik § 465 und 467. Meier: Anfangsgründe § 22, S. 36. Meier: Anfangsgründe § 35, S. 59. Baumgarten: Meditationes § 51 ff. Baumgarten: Meditationes § 59. Baumgarten: Ästhetik § 483. Meier: Haupthandlung S. 115 f. Meier: Beurtheilung S. 95.

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Baumgarten setzt bei jedem Dichter ein »absolutes ästhetisches Streben nach Wahrheit« voraus. Je genauer die Darstellung eines Sachverhalts ist, desto größer ist die ästhetische Wahrheit.170 Der Dichter müsse deshalb darauf achten, daß bei seiner Bearbeitung möglichst wenig material vollkommene Wahrheit seines Stoffes verlorengeht. Wo er nicht die Wahrheit erhalten kann, muß er Wahrheitsähnlichkeit erstreben.171 Die ästhetische Darstellung könne sich dabei in ihrem Streben nach Wahrheit entweder auf Allgemeines richten, etwa wenn sie Lehrinhalte anderer Disziplinen ästhetisch anschaulich darstellt. Wenn sie moralphilosophisch argumentiere, rät sie etwa in der Satire von lasterhaftem Verhalten ab.172 Die ästhetische Darstellung könne sich zweitens auf die »wirklichen Dinge dieser Welt« richten und historisch Geschehenes oder Gegenwärtiges darstellen.173 Drittens könne sich das ästhetische Streben nach Wahrheit auf den eigentlich poetischen Bereich richten und heterokosmische Wahrheit ästhetisch darstellen. Dieser dritte Fall sei dort erlaubt, wo die Geschichte nicht genug Fülle, Größe, sittliche Wahrheit oder Anschaulichkeit biete.174 Indem die Dichtung ihrem Stoff diese Qualitäten verleihe, komme sie der Wahrheit, wie sie von den Wissenschaften gefordert würde, näher als die Historie. Weil man die konkreten Details der Historie nie genau kenne, verfüge diese immer nur über Wahrheitsähnlichkeit. In diesem Sinne wäre Aristoteles zu verstehen, wenn er 1451b schreibe, die Dichtung sei philosophischer als die Historie, weil sie das Allgemeine, diese aber das Besondere darstelle.175 Wenn Aristoteles 1447b Empedokles den Namen eines Dichters verweigert, weil dieser keine Handlungen erfunden habe, so heißt es dagegen bei Meier in den »Anfangsgründen«, Aristoteles habe Empedokles eher für einen »Naturlehrer« als für einen Dichter gehalten, weil dieser seine »abstrakten Wahrheiten« nicht sinnlich genug dargestellt habe.176 Die Erfindung einer Handlung bekommen Baumgarten und Meier, wie Gottsched, Breitinger und die gesamte averroische Tradition, nur unter dem Begriff der fabula als Veranschaulichung und exemplum einer »praktischen Lehre« (dogma practicum) in den Blick. Sie beruhe entweder auf historischer Wahrheit oder auf heterokosmischer Wahrheitsähnlich_____________ 170 171 172 173 174 175 176

Baumgarten: Ästhetik § 555 f. Baumgarten: Ästhetik § 564 f. Baumgarten: Ästhetik § 576. Baumgarten: Ästhetik § 580. Baumgarten: Ästhetik § 585. Baumgarten: Ästhetik § 586. Meier: Anfangsgründe § 47, S. 83.

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keit.177 Beruhe eine Fabel auf keiner Lehre, sei sie »fabula annilis«, ein Ammenmärchen.178 Mit der »Sensitivität« als definierendem Merkmal der Dichtung reformuliert Baumgarten das rhetorische Prinzip der Anschaulichkeit. Dichtung ist damit eine Form, die allen Sachverhalten gegeben werden kann, insofern sie überhaupt einer sinnlichen Darstellung fähig sind. Aus der Sensitivität leitet Baumgarten weitere traditionelle Eigenschaften der Dichtung ab. Die »sensitiven Vorstellungen« seien desto klarer, je stärker die Empfindungen seien, die diese Vorstellung auslöse, also sei eine Vorstellung desto poetischer, je mehr Affekte sie errege.179 Analog leitet Baumgarten aus der Anschaulichkeit auch die Verwendung von Gleichnissen, die Ähnlichkeit von Malerei und Dichtung oder den Gebrauch des Wunderbaren ab.180 Auf der sprachlich-stilistischen Ebene folgt aus der Sensitivität, daß ein Ausdruck desto poetischer ist, je sensitiver er ist. Die »poetische Schreibart« (die der Sache nach bei Baumgarten gemeint ist) verwendet deshalb insbesondere Metaphern, Allegorien und Epitheta.181 Aus der Sensitivität der dichterischen Rede folgt auch die Versform (Metrum, Rhythmus) als notwendige Bedingung, indem der »Wohlklang« des Metrums eine »sinnliche Vollkommenheit« darstelle.182 Die Definition der Dichtung über den Begriff der Nachahmung zitiert Baumgarten nur im Nachhinein.183 Nachahmung bestehe in der Hervorbringung einer »ähnlichen Wirkung«. Indem die Natur immer nur sensitive und klare Vorstellungen hervorbringe (offensichtlich denkt Baumgarten hier bereits an die »Naturschönheit«), sei die Dichtung eine Nachahmung der Natur.184 Obwohl Baumgarten nicht nur von der »Nachahmung der Natur« spricht, sondern immer auch hinzufügt »oder von Handlungen«, kann diese aristotelische Reminiszenz nicht darüber hinwegtäuschen, daß der aristotelische Handlungsbegriff Baumgarten zutiefst fremd geblieben ist. Was Baumgarten mit »von der Natur abhängenden Handlungen« meint, _____________ 177 Baumgarten: Ästhetik § 526 f. 178 Baumgarten: Kollegnachschrift § 610. Wörtliche Übernahme von Wolff: Philosophia practica § 302, vgl. oben S. 132. 179 Baumgarten: Meditationes § 24 ff. 180 Baumgarten: Meditationes § 36, 39 und 43 ff. 181 Baumgarten: Meditationes § 77 ff. 182 Baumgarten: Meditationes § 97 ff. 183 Baumgarten: Meditationes § 111. 184 Baumgarten: Meditationes § 108 ff.

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ist die Tatsache, daß eine Person entsprechend ihres Charakters als ihrer »Natur« handelt.185 Wenn auch begrifflich in den Termini der neu entstandenen Ästhetik, reformuliert Baumgarten doch auf substanzieller Ebene den Dichtungsbegriff von Gottsched und Breitinger. Die in den »Meditationes« ununterbrochen zitierte »Ars poetica« des Horaz ist sein Paradigma. Der Begriff der Dichtung als einer »sinnlichen Rede« ist aus der Versform und der »poetischen Schreibart« abgeleitet. Von hier aus führt kein Weg zum Handlungsbegriff der aristotelischen »Poetik«. Dies illustriert ausgerechnet die erste Übersetzung der »Poetik« ins Deutsche.

Curtius Michael Conrad Curtius versieht seine 1753 erschienene Übersetzung der »Poetik« mit ausführlichen Anmerkungen und gesonderten »Abhandlungen«. In diesen widerlegt er aus der Perspektive Baumgartens heraus die aristotelischen Bestimmungen, die er zuvor übersetzt hat. Die erste dieser Abhandlungen ist »dem Wesen und dem wahren Begriffe der Dichtkunst« gewidmet. Ausführlich referiert Curtius Baumgartens und Meiers Definition des »Gedichts« als einer »vollkommenen sinnlichen Rede«.186 Die Dichtungsbegriffe von Horaz, Scaliger, Gottsched und Breitinger werden als unzutreffend zurückgewiesen, genauso wie die aristotelische Definition über die Nachahmung. Diese könne das Wesen der Dichtkunst nicht erschöpfen. Auch wenn Aristoteles für diesen Begriff streite, so sei doch die Wahrheit mächtiger.187 Obwohl Curtius in den »Anmerkungen« zu seiner Übersetzung den Begriff der Nachahmung zutreffend als Nachahmung von Handlungen erklärt hat, identifiziert er jetzt die Nachahmung wieder mit der Nachahmung der Natur. Gegen Aristoteles erklärt Curtius die Lehrdichtung zu einer legitimen Form der Dichtung. Wenn sie im »Ausdruck« »sinnlich« sei, erfülle sie die Bedingungen des Gedichts, auch wenn ihr Inhalt unsinnlich sei.188 Epos, Tragödie und Komödie seien »deutliche Wahrheiten in sinnlichen Putz gekleidet«.189 _____________ 185 Baumgarten: Meditationes § 110. 186 Curtius: Wesen der Dichtkunst S. 354. Zu Curtius vgl. Alt: Begriffsbilder S. 426-428; Alt: Tragödie S. 100-107; Luserke: Bändigung S. 133-144; Mönch: Abschrecken S. 35-38. 187 Curtius: Wesen der Dichtkunst S. 375. 188 Curtius: Wesen der Dichtkunst S. 371. 189 Curtius: Wesen der Dichtkunst S. 367.

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In der »Abhandlung von der Absicht des Trauerspiels« heißt es, durch das Trauerspiel werde »die Liebe zur Tugend, und der Haß des Lasters gewirket«, indem »das Laster mit der darauf folgenden Strafe, die Tugend mit der Belohnung vorgestellet« werde.190 Als weiteren »Endzweck« nennt Curtius die »Verbesserung der Leidenschaften«, als die er die aristotelische Katharsis versteht. Indem der »Fehler« des tragischen Helden in dem »plötzlichen Ausbruch einer Leidenschaft« bestehe, lehre das Trauerspiel an den üblen Folgen dieses Ausbruchs die bessere Beherrschung der Leidenschaften.191 Den größeren philosophischen Charakter der Dichtung, wie Aristoteles ihn 1451b behauptet, begründet Curtius in seiner Anmerkung mit dem »lehrreicheren« Charakter der Dichtung. »Lehrreicher und philosophischer« sei die Dichtung, weil die Historie die Begebenheiten so darstellen müße, wie sie sich wirklich zugetragen hätten. Diese Begebenheiten könnten aber nicht immer dazu dienen, die »Sitten zu bessern, oder zur Tugend zu führen«. Der Leser könne also nicht »belehrt werden, ob das Glück und Unglück eine Folge der Tugend oder des Lasters, rechtmäßiger oder unrechtmäßiger Absichten, sey.« Die Dichtung dagegen könne »die Quellen der Begebenheiten, die Ursachen des glücklichen oder unglücklichen Erfolges derselben« entdecken.192 Die »Abhandlung von der Wahrscheinlichkeit« zeichnet sich dadurch aus, daß Curtius sich von vornherein nicht weiter auf Aristoteles bezieht, da dieser »keine ausführlichen Begriffe davon« gebe.193 Curtius unterscheidet zwischen einer »innerlichen« und »äußerlichen« Wahrscheinlichkeit. Die »innerliche« ruhe auf den Gründen, die die Sache in sich hat. So sei die Unsterblichkeit der Seele im höchsten Grade wahrscheinlich. Curtius bemerkt selbst, daß diese »Wahrscheinlichkeit« eigentlich in die »Sphäre der Vernunftlehre« gehöre.194 Die »äußerliche« Wahrscheinlichkeit ruhe dagegen auf Gründen, die die Sache in sich zu haben scheine und hänge deshalb von den jeweiligen Ansichten ab. Curtius unterscheidet vier »Ordnungen der poetisch wahrscheinlichen Handlungen«. »Höchst wahrscheinlich«, weil »unveränderlich wahr«, seien »die Bewegungen unsrer Seele« und »die Begebenheiten der Natur«. Wahrscheinlich seien dagegen, zweitens, »Handlungen, welche die Kräfte der wirkenden Personen nicht übersteigen«, im Gegensatz zu den »übermenschlichen« Kräften vieler Romanhelden. Drittens seien »Sätze« wahr_____________ 190 191 192 193 194

Curtius: Absicht des Trauerspiels S. 391 f. Curtius: Absicht des Trauerspiels S. 393 f. Curtius: Anmerkungen zur Dichtkunst S. 149 ff. Curtius: Wahrscheinlichkeit S. 400. Curtius: Wahrscheinlichkeit S. 401.

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scheinlich, »die von ganzen Religionen oder Völkern für wahr gehalten« würden. Viertens müßten in Lehrgedichten Dinge wie die »vorherbestimmte Harmonie« Leibnizens für wahrscheinlich gelten, auch wenn diese nur wenigen Menschen einsichtig und damit wahrscheinlich wären.195 Diese Bestimmung der Wahrscheinlichkeit ist insofern bemerkenswert, als Curtius Brämers »Untersuchung von dem Begriffe der Dichtkunst« kennt und sich auch bemüht, die beiden Brämerschen Kriterien der Wahrscheinlichkeit, den Satz vom Widerspruch und den Satz vom zureichenden Grund, in seine Begründung einzubauen.196 Die Bedeutung von Brämers Unterscheidung zwischen einer logischen Wahrheit von Sätzen und einer poetischen Wahrscheinlichkeit von Handlungen bleibt ihm aber verschlossen. Seine vier Kategorien der Wahrscheinlichkeit sind, wie bei Gottsched, Breitinger und Baumgarten, Kategorien einer empirischen Wahrheitsähnlichkeit, deren »Wahrscheinlichkeit« sich an der Wahrheit bemißt und an der Realität überprüfbar ist.

_____________ 195 Curtius: Wahrscheinlichkeit S. 404. 196 Zu Brämer vgl. unten S. 170 ff. Auch im Referat der antiken und modernen Dichtungsbegriffe ist Curtius stark von Brämer abhängig, was er auch ausdrücklich vermerkt, vgl. Curtius: Wesen der Dichtkunst S. 349.

Die Legitimität der Fiktion Scaliger, Heinsius, Vossius Handlung als Seele der Dichtung Nach der aristotelischen »Poetik« ist das Wesen der Dichtung die Nachahmung von Handlung, der μῦθος. Nun geht es um Nachahmung von Handlung, und es wird von Handelnden gehandelt, die notwendigerweise wegen ihres Charakters und ihrer Erkenntnisfähigkeit eine bestimmte Beschaffenheit haben. [...] Die Nachahmung von Handlung ist der Mythos.1 (1449b 35 ff.) Der wichtigste Teil ist die Zusammenfügung der Geschehnisse. Denn die Tragödie ist nicht Nachahmung von Menschen, sondern von Handlung und von Lebenswirklichkeit. [...] Daher sind die Geschehnisse und der Mythos das Ziel der Tragödie; das Ziel aber ist das wichtigste von allem. (1450a 15 ff.) Das Fundament und gewissermaßen die Seele der Tragödie ist also der Mythos. (1450a 39 f.)

Ausgehend von ihrem averroischen Verständnis der Nachahmung als similitudo oder veri similitudo, als Gleichnishaftigkeit, ›Wahrheitsähnlichkeit‹ oder ›Naturnachahmung‹, hatte die Frühe Neuzeit die allergrößten Schwierigkeiten, diese Definition zu akzeptieren. Wo sie nicht versucht hat, Aristoteles umzuinterpretieren, hat sie seinen Begriff der Dichtung zurückgewiesen. Wenn das Wesen der Dichtung nicht Handlung, sondern Gleichnishaftigkeit ist, dann ist die »Seele der Dichtung« die ›Wahrheit‹ oder Lehre, für die die Dichtung ein Gleichnis ist, oder das Wissen aller anderen Disziplinen, das die Dichtung anschaulich darstellt. Die Lehrdichtung im weitesten Sinne ist der eigentliche Gattungsbegriff der Dichtung. Wo die Handlung in den Blick kommt, wird sie als Gleichnis oder Allegorie begriffen. Wenn die Handlung einer Dichtung allein nach den Gesetzen der ›Wahrheitsähnlichkeit‹ oder Gleichnishaftigkeit erfunden wird, dann ist die Handlung auch eine bloße Hülle oder Einkleidung die_____________ 1

Ich zitiere hier und im folgenden die Übersetzung von Manfred Fuhrmann.

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ser Wahrheit. Die aristotelischen Forderungen von Pathos, Anagnorisis, Peripetie, »mittlerem Charakter«, allen voran aber die Forderung der Wahrscheinlichkeit einer Handlung, mußten vor diesem Hintergrund bedeutungslos oder unverständlich bleiben. Wenn die Handlung allegorischer Ausdruck einer Wahrheit ist, dann gibt es keinen Grund, diese Handlung noch irgendwelchen anderen Gesetzen zu unterwerfen. Ebenso unverständlich mußte die »philosophischere Allgemeingültigkeit« bleiben, die Aristoteles 1451b für die Dichtung behauptet hatte, denn wenn die Dichtung gleichnishafter Ausdruck einer Wahrheit war, dann war sie »Dienerin« der Disziplin, die diese Wahrheit begrifflich-abstrakt formulieren konnte.2 Die Handlung ihrerseits war genau das, was die Lügenhaftigkeit der Dichtung, nämlich ihren fiktionalen Charakter, offensichtlich machte, mithin der Verdammung und dem Verbot der Dichtung die stärksten Argumente lieferte. Die »Lügengeschichten« und »Ammenmärchen«, wenn sie gar noch in Prosa daherkamen und voll waren von unglaubhaften Heldentaten, abstrusen Übertreibungen und lasziven Schilderungen, wie die »Amadis«-Romane, waren der Kern allen Übels. Der erste und wichtigste Schritt auf dem Weg zu einer Legitimität der Fiktion war deshalb ihre Anerkennung als einer gattungskonstituierenden, historischen Gegebenheit.

Scaliger Eine solche Anerkennung impliziert die aristotelische »Poetik« 1448b mit ihrer Bestimmung der Dichtung als Ausdruck eines natürlichen, angeborenen Nachahmungsbedürfnisses. Wenn die Dichtung auf eine angeborene Freude an der Nachahmung zurückgeht, dann ist sie ein anthropologisches und historisches Faktum. Ihr Wesen kann nicht aus einer Klassifikation der Wissenschaften deduziert werden, wie es die averroische Tradition getan hatte, sondern sie gehört als natürliches Nachahmungsbedürfnis zur conditio humana. Die Tatsache, daß die Menschen sich Lieder und Geschichten ausdenken, gehört zum Wesen des Menschen. Die Geschichte der Literatur ist der Beweis, daß es keinen Sinn hat, dies zu leugnen. _____________ 2

Vgl. dagegen die Rekonstruktion des aristotelischen Handlungsbegriffes bei Schmitt: Mimesis; Schmitt: Literatur und Schmitt: Dichtung.

Scaliger, Heinsius, Vossius

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Am Anfang der Dichtung stehen keine Philosophen, die ihre Lehre in verschlüsselter Form vermitteln wollten, sondern Hirten und Schäfer, die sich die Langeweile vertreiben wollten. Scaliger ist der erste, der das revolutionäre Potential dieser Lehre von den Anfängen der Dichtung in den Improvisationen einer Menschheit im Naturzustand erkennt. Die »Selbstzeugung« der Dichtung aus der Improvisation (αὐτοσχεδιασμάτα) hat Aristoteles 1448b diese Anfänge genannt. Scaliger trägt diesem Befund Rechnung, wenn er seine »Poetices libri septem« (1561) mit einer Bestimmung der kommunikativen Funktion der Sprache eröffnet. Dichtung unterscheidet sich in ihren Anfängen nicht wesenhaft von den Anfängen der sprachlichen Kommunikation überhaupt. Zwar habe die Sprache anfänglich nur dem Notwendigen gedient, also etwa dem Ausdruck von Befehlen, nach und nach jedoch habe man erkannt, daß man die Sprache auch gestalten und sich schmuckvoll ausdrücken konnte. Dabei habe man auch die metrische Formbarkeit der Sprache entdeckt.3 Die dichterische »Nachahmung« unterscheidet sich von der grundlegenden Funktion der Sprache als Bezeichnung von Sachverhalten nur darin, daß sie Sachverhalte zum Ausdruck bringt, die nicht oder nicht in dieser Art existieren.4 Dieser Ableitung von Metrum und Erfindung aus den angeborenen Bedürfnissen des Menschen folgt das erste Buch der »Poetices libri septem« mit dem Titel »Historicus«. Es setzt die Darstellung der anthropologischen Ursprünge fort, denn was Scaliger hier formuliert, ist keiner der Dichterkataloge, wie es sie bis dahin gegeben hatte, sondern eine Beschreibung der Dichtung als historisches Phänomen. Anders als seine Vorgänger deduziert Scaliger das Wesen und die Regeln der Dichtung nicht aus einer Klassifikation der Wissenschaften, sondern er stellt an den Anfang seiner Poetik eine Literaturgeschichte, aus der er das Wesen und die Regeln der Dichtung deskriptiv ableitet. Scaliger historisiert die Dichtung und setzt damit den deskriptiven Ansatz der aristotelischen »Poetik« fort. Das Ergebnis ist eine Art Naturgeschichte der Dichtung. An ihrem Anfang stehen die Hirten, die sich auf ihren Weiden langweilten und »durch einen Anstoß der Natur« (naturae impulsu) mit ihrem Gesang die Vögel oder das Rauschen der Blätter nachahmten.5 Gegenstand dieser ersten Lieder war die geschlechtliche Liebe. Angesichts des ewigen Triebes, den die Natur dem Menschen eingepflanzt _____________ 3 4 5

Scaliger: Poetices libri I.1, S. 58 f. Ich zitiere die Übersetzung von Deitz und Vogt Spira. Scaliger: Poetices libri I.1, S. 60 f. Vgl. auch das Vorwort von Deitz ebd. S. 47 f. Scaliger: Poetices libri I.4, S. 94.

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hat und der ganz handgreiflichen Tatsache, daß die Hirten den kopulierenden Tieren zuschauen mußten, verwundert dies nicht: Der älteste [Gegenstand der Ekloge] scheint jedenfalls die Liebe gewesen zu sein, und zwar aus mancherlei Ursachen: zum einen stehen von den Uranfängen an alle Lebewesen von Natur aus um der Fortdauer der Gattungen willen, die in ihrer Abhängigkeit von der veränderlichen Materie vergänglich sind, unter dem Joch der Liebe; zum anderen hüteten Sterbliche beiderlei Geschlechts unterschiedslos die Herden. Da sie sahen, wie die Tiere zusammenkamen, entzündeten sie sich leicht an ihrem Beispiel.6

Erschwerend kam hinzu, daß die jungen Leute, die zum Hüten auf die Weide geschickt wurden, wohlgenährt und dürftig bekleidet waren: Ich übergehe, wie die Jugend, von Milch und Fleisch gesättigt, durch die Jahreszeit und die Einsamkeit der Gegenden, wenn sie frei war von Kummer, Angst oder Haß, auf Grund gegenseitiger Anziehung überaus leicht zur Geschlechtsliebe verführt wurde, insbesondere da die jungen Menschen den Großteil ihrer Arbeiten nackt oder nur leicht bekleidet verrichteten.7

Die Dichtung, die unter diesen Bedingungen als Mittel der Anbahnung von Geschlechtsliebe entstand, spielt dabei eine moralisch wenig überzeugende Rolle. Ihre Geschichte ist deshalb alles andere als eine Geschichte der Degeneration, an deren Anfang die mythologisch verschlüsselte Weisheit der ersten Philosophen steht. Genau umgekehrt führt diese Geschichte von den einfachen zu den komplexen Formen, von den Liebesliedern der Hirten zur Lehrdichtung der gebildeten Gegenwart. Damit ist auch gesagt, daß die griechischen Dichter neben den afrikanischen Nomaden stehen. Deren Hirten bedienten sich nach Scaliger ganz ähnlicher Instrumente, nämlich einem »geschälten und ausgekratzten Lorbeerzweig, der einen äußerst schrillen, dem Wiehern sehr ähnlichen Klang von sich gab.«8 Solche Informationen werfen 1561 ein ganz neues Licht auf die antike Dichtung. Statt der ganzen antiken Mythen, die sich um die göttliche Herkunft der Musikinstrumente ranken, weiß Scaliger zu berichten, daß die Unterschenkelknochen von Hirschkälbern und jungen Ziegen in der Antike bevorzugt zur Herstellung von Flöten verwendet wurden.9 _____________ 6

7

8 9

Scaliger: Poetices libri I.4, S. 96: »Vetustissima tamen videtur amatoria fuisse, idque multis de causis, tum quia amoris vis a primordiis ipsis ultimis indita est omnibus animantibus a natura ob species perpetuandas, quae in materia essent variabili corruptibiles, tum quod promiscue pascebant utriusque sexus mortales. Atque ii pecora cum viderent coeuntia, illorum exemplo facile inflammabantur.« Scaliger: Poetices libri I.4, S. 98: »Omitto lacte et carnibus saturam iuventutem anni tempestate, locorum solitudine maeroris metusque atque odii expertem, invitatam, in Veneris officia facillime illectam, praesertim cum nudi aut male tecti magna ex parte agerent.« Scaliger: Poetices libri I.4, S. 108. Scaliger: Poetices libri I.20, S. 274.

Scaliger, Heinsius, Vossius

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Ähnlich desillusionierend sind die Anfänge der Komödie, die ursprünglich nicht dazu diente, das Volk zu belehren, sondern, ganz im Gegenteil auf die Gelage und das nächtliche Herumschweifen junger Leute zurückgeht, die die »Freiheit der Nacht« dazu ausgenutzt hätten, um durch die Dörfer zu ziehen und sich zu betrinken.10 Die Ursprünge der Tragödie verortet Scaliger im Rahmen der antiken Wettspiele, neben Faustkampf und Pferderennen. Während der Aufführungen mußte das Werfen mit den Rasenstücken, auf denen die Zuschauer saßen, eigens untersagt werden.11 Diese Entstehungsbedingungen der Tragödie sind alles andere als dazu angetan, Ehrfurcht aufkommen zu lassen. Sehr naturalistisch fällt in diesem Sinne auch Scaligers Begründung für die aristotelische Forderung 1449b einer »gewissen Größe« für die Tragödie aus. Ein Publikum, das von weit her gekommen wäre, »um die Langeweile vieler Tage mit der Unterhaltung einiger Stunden zu vertauschen«, konnte man nicht nach ein paar Versen wieder nach Hause schicken. Ebenso unvorteilhaft sei Weitschweifigkeit, denn wenn der Hintern vom Sitzen schmerze, sei das der Unterhaltung des Publikums ebenfalls abträglich.12 Der Katharsis widmet Scaliger einen halben Satz, in dem er ihre Gültigkeit für alle Stoffe bezweifelt. In den unzähligen historischen Details, die Scaliger mit seiner antiquarischen Belesenheit angehäuft hat, liegt das revolutionäre Potential der »Poetices libri septem«. Das Wesen und die Gesetze der Dichtung haben sich mit dieser selbst entwickelt und verändert und sind mithin immer schon historische. Den Kern der Poetik muß deshalb die Literaturgeschichte bilden. Daß die Dichtung unterrichtet und vergnügt, steht auch für Scaliger außer Frage. Aber es steht nicht deshalb außer Frage, weil sich diese Aufgabe aus dem Wesen der Dichtung ableiten ließe, sondern weil die Dichtung in ihrer historischen Entwicklung offensichtlich beide Aufgaben übernommen hat. Angesichts der von Scaliger beschriebenen Entstehung der Dichtung aus Langeweile und Geschlechtstrieb erstaunt es dabei nicht, daß am Anfang nicht das docere, sondern das delectare stand.13 Lob und Tadel von konkreten Menschen oder Handlungen bilden nach Scaliger den primitiven Anfang, die epische oder dramatische Handlung als Instrumente sittlicher Besserung das komplexe, vorläufige Ende der Literaturgeschichte. _____________ 10 11 12 13

Scaliger: Poetices libri I.5, S. 121. Scaliger: Poetices libri I.21, S. 282. Scaliger: Poetices libri I.6, S. 132 f. Scaliger: Poetices libri I.1, S. 61 f.

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Die Legitimität der Fiktion

Daß die Dichtung sich über weite historische Strecken als frivole Liebesgedichte oder bloße Lügengeschichten im amoralischen Gebiet bewegt, ist jedoch nicht so zu verstehen, daß Scaliger deshalb eine amoralische Dichtung gutheißen würde. Ganz im Gegenteil lehrt die Literaturgeschichte, daß die Dichtung einem Prozeß der moralischen und stilistischen Verfeinerung gehorcht. Diese Entwicklung ist der Hintergrund, vor dem Scaligers vieldiskutierte Bevorzugung Vergils gegenüber Homer zu bewerten ist, lange vor jeder »Querelle des Anciennes et Modernes«. In denselben Kontext gehört die Tatsache, daß für Scaliger die bedeutenste Dichtung der Gegenwart gerade ein Lehrgedicht ist, nämlich Fracastoros Darstellung der Syphilis.14 Dieses stellt gerade deshalb einen vorläufigen Höhepunkt der Literaturgeschichte dar, weil Fracastoro in ihm auf alle Erfindung von Handlung verzichtet hat. Je weiter die primitiven Anfänge der Dichtung in Langeweile und Geschlechtstrieb zurückweichen, desto mehr verfeinert sich die Dichtung. Damit ist aber auch gesagt, daß von Scaligers »Poetices libri septem« kein Weg zum aristotelischen Begriff der Handlung führt.15 Die Lehrdichtung ist das Ideal Scaligers, auch wenn die Dichtung historisch über weite Strecken diesem Ideal nicht gerecht wird, und sich statt dessen der Lüge bedient und Handlungen erfunden hat. Die antike Tragödie behandelt Scaliger deshalb eher als ethnologisches denn als literarisches Phänomen, und in diesem Sinne ist auch seine vielzitierte, vor allem den DonatKommentaren geschuldete Definition der Tragödie zu verstehen. Sie faßt das Erscheinungsbild der antiken Tragödie, wie es sich dem Philologen darbietet, zusammen.

Heinsius Daniel Heinsius macht in seiner »Constitutio tragoediae« (1611) den nächsten Schritt. Ohne dies eigens in irgendeiner Form zu vermerken, erkennt er die Fiktionalität der Tragödie an. Am bezeichnendsten ist deshalb, was sich in der »Constitutio tragoediae« nicht findet: nämlich die Versicherung, die Tragödie sei gleichnishaft oder enthalte moralphilosophisches Wissen. Heinsius rekonstruiert die Logik der aristotelischen »Poetik« von innen heraus, aus dem Begriff der Nachahmung als Nachahmung von _____________ 14 15

Zu Fracastoro vgl. Scaliger: Poetices libri VI.4, S. 204-219, zum Vergleich von Homer und Vergil das Kapitel V.3. Zum grundsätzlichen Gegensatz vgl. Weinberg: Scaliger.

Scaliger, Heinsius, Vossius

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Handlung. Erst von diesem Handlungsbegriff her werden die gesamten technischen Anforderungen der aristotelischen »Poetik« verständlich und erscheinen nicht nur als »überflüssige Subtilitäten«. Der Titel der »Constitutio tragoediae«, der etwa mit »Der Aufbau der Tragödie« zu übersetzen wäre, kündigt diesen technischen Charakter der Untersuchung bereits an. Heinsius geht es, anders als seinen italienischen Vorgängern, nicht um einen gelehrten, historisch-philologischen Kommentar,16 sondern um eine Rekonstruktion der aristotelischen »Poetik« in ihrer technischen Begrifflichkeit und inneren Logik. Indem Heinsius dabei im ersten Kapitel den aristotelischen Anspruch erläutert – und ebenfalls erhebt –, daß es sich bei diesen Gesetzen nicht nur um partielle Besonderheiten einer bestimmten Kultur handelt, sondern diese Gesetze aus dem Wesen der Tragödie selbst fließen und deshalb überhistorische Gültigkeit haben, versteht sich die »Constitutio tragoediae« natürlich auch als normatives Handbuch. Anders als seine italienischen Vorgänger macht sich Heinsius jedoch von dem unübersichtlichen Aufbau der aristotelischen »Poetik« frei und gliedert das Material allein nach inhaltlichen Vorgaben. Auch dies betont den technischen Charakter der »Constitutio tragoediae«. Heinsius verknüpft den Nachahmungsbegriff nicht mehr mit Lob und Tadel und löst sich damit vom Kerngedanken der logisch-didaktischen Poetik, wie sie Averroes formuliert hatte. Nachahmung besteht in der Nachahmung von Handlungen, und diese Handlungen müssen nicht danach ausgewählt und aufgebaut werden, ob sie sich für die Demonstration von Tugenden und Lastern eignen, sondern sie gehorchen eigenen, sehr komplizierten Gesetzen. Diese Gesetze, wie Aristoteles sie in der Lehre von der Peripetie und der Anagnorisis, vom mittleren Charakter, von der Wahrscheinlichkeit, von der Verknüpfung und der Lösung eines Knotens, vom Nahverhältnis der Personen entwickelt, erörtert Heinsius. Durch die technischen Anforderungen wird die Handlung der Tragödie zu einem eigenständigen Wert. Sie dient nicht mehr der Exemplifikation und Veranschaulichung moralphilosophischer Lehrsätze, sondern entspricht den Gesetzen der Peripetie und der Anagnorisis, mit einem Helden, der weder ausschließlich gut noch ausschließlich böse ist, der durch einen Fehler die tragische Verwicklung verursacht und dessen Sturz Furcht und Mitleid auslöst. Eine Handlung, die solchen komplexen Anforderungen gehorcht, kann allein aus diesem technischen Grund keine gleichnishafte Lehre veranschaulichen. Über die technischen Anforderun_____________ 16

Heinsius: De constitutione tragoediae S. 102 grenzt sich von der Philologie ab. Zu Heinsius vgl. Becker-Cantarino: Literaturprogramm; Kern: Influence; Meter: Theories; Salatowsky: Dichtung und die Einleitung von Duprat in ihre Edition.

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Die Legitimität der Fiktion

gen emanzipiert sich die Handlung der Tragödie von ihrem moralphilosophischen Gehalt. Damit soll natürlich nicht gesagt sein, daß der moralphilosophische Gehalt für Heinsius keine Rolle mehr spielt. Die Katharsis deutet Heinsius weiter als moraldidaktischen Zweck. Im Anschluß an Robortello versteht Heinsius sie als eine Art Gewöhnungseffekt. Die Tragödie solle Furcht und Mitleid erregen, um den Zuschauer dadurch an diese Affekte zu gewöhnen, so daß er lerne, sie zu beherrschen.17 Der Anblick eines grausam verstümmelten Soldaten auf dem Schlachtfeld löse bei einem kriegsunerfahrenen Betrachter Mitleid und Furcht aus, der kriegserfahrene Arzt dagegen leite sofort die nötigen Maßnahmen ein, ohne sich von Mitleid oder Furcht stören zu lassen. Die Tragödie sei deshalb eine »Schule unserer Affekte« (palaestra affectuum).18 Das ist etwas anderes als eine unmittelbare Belehrung durch Lob und Tadel, durch Aufforderung zur Tugend und Abschreckung vom Laster. Heinsius ordnet die Katharsis nicht mehr der Gleichnishaftigkeit unter, indem er die Erregung von Furcht und Mitleid als affektive Vorbereitung zur Aufnahme einer Lehre verstünde. Die Tragödie ist eine »Schule der Leidenschaften«, ohne deshalb Gleichnis einer Wahrheit oder eines moralischen Lehrsatzes zu sein. An die Stelle der gleichnishaften Abbildung einer Wahrheit ist die Nachahmung einer Handlung getreten, die als solche zwar Affekte erregen kann, darüber hinaus aber nur ihren eigenen Gesetzen gehorcht. Die zweiwertige Relation ›Dichtung ist Gleichnis einer Wahrheit‹ wird zu der dreiwertigen Relation ›Dichtung ist durch ihre Handlung, die eigenen Gesetzen gehorcht, eine Schule der Leidenschaften‹. Diese Eigengesetzlichkeit der Handlung wird ihrerseits wiederum vom Charakter der Personen bestimmt. Wenn Aristoteles 1449b 35 ff. schreibt: »Nun geht es um Nachahmung von Handlung, und es wird von Handelnden gehandelt, die notwendigerweise wegen ihres Charakters und ihrer Erkenntnisfähigkeit eine bestimmte Beschaffenheit haben«, dann ist damit impliziert, daß die Handlungen der Personen nicht von dem bestimmt werden, was die Gleichnishaftigkeit der Handlung erfordert, sondern von ihrem Charakter. Diese Eigengesetzlichkeit, die sich allein nach der Glaubwürdigkeit und Wahrscheinlichkeit richten muß, ermöglicht wiederum das, was Aristoteles den »philosophischen Charakter« der Tragödie genannt hat. _____________ 17 18

Heinsius: De constitutione tragoediae S. 124. Heinsius: De constitutione tragoediae S. 126.

Scaliger, Heinsius, Vossius

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Nach »Poetik« 1451b ist die Dichtung philosophischer als die Geschichtsschreibung, weil sie mehr das Allgemeine mitteilt, die Geschichtsschreibung aber immer nur das Besondere. Diese Allgemeingültigkeit der Dichtung ist durch die Forderung der Glaubwürdigkeit an die Handlung geknüpft und kann deshalb auch dann erst in ihrer Bedeutung erkannt werden, wenn die Eigengesetzlichkeit der Handlung anerkannt wird. Wir lernen aus der Tragödie nicht deshalb, weil sie uns gleichnishaft, analog zur Tierfabel, eine bestimmte Lehre vermittelt, sondern weil wir an ihr die Gesetze selbst erkennen, denen menschliches Handeln gehorcht. Die höhere philosophische Dignität der Dichtung – die nicht zu erklären ist, wenn die Dichtung nur eine »Dienerin« der Moralphilosophie ist – wird nur dann erkenntlich, wenn man die Forderung der Glaubhaftigkeit nicht als Gleichnishaftigkeit oder empirische »Wahrheitsähnlichkeit« deutet.19 Die Emanzipation der Nachahmung als Nachahmung einer Handlung impliziert damit bereits den Begriff, der für die Definition der Dichtung zukünftig die größte Rolle spielen wird, nämlich den Begriff der Fiktion. Erst in der Fiktion ist die Eigengesetzlichkeit der dichterischen Nachahmung auf ihren Begriff gebracht. Seine Einführung in die Poetik ist das historische Verdienst von Vossius.

Vossius Gerhard Johannes Vossius verbindet in seinem »De artis poeticae natura ac constitutione liber« (1647) den historischen Zugriff Scaligers mit der »Poetik«-Rekonstruktion von Heinsius.20 In der Frage, ob Vers oder Erfindung die Dichtung ausmacht, bezieht Vossius eine vermittelnde Position. Nach Vossius wäre Aristoteles der Meinung gewesen, daß Dichtung immer metrisch gebunden sei, jedoch würde er den Begriff »Epos« sowohl auf die Nachahmung von Handlungen in Prosa wie in Versform beziehen. Aristoteles würde in einem weiteren Sinne auch die prosaische Nachahmung von Handlung (also den Roman) ein »Epos« nennen, dieses wäre jedoch keine Dichtung. Im engeren

_____________ 19 20

Heinsius: De constitutione tragoediae S. 157. Zu Vossius' Poetik als Rekonstruktionsversuch der aristotelischen »Poetik« vgl. die Selbstcharakteristik Vossius: De artis poeticae natura 14, S. 83-86. Zu Vossius vgl. Kern: Influence S. 100-138.

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Die Legitimität der Fiktion

Sinne würde er dagegen nur die metrisch gebundene Nachahmung von Handlung »Epos« nennen, und nur diese könne Dichtung heißen.21 Während also Dichtung nur metrisch gebundene Sprache bezeichnet, könne auf der anderen Seite Dichtung sehr wohl ohne die Nachahmung von Handlung auskommen.22 Damit ist auch gesagt, daß die »Ilias« in Prosa keine Dichtung mehr wäre. Wie die Geschichten von Achilles Tatius wäre sie dann nur noch eine »erfundene Geschichte« (historia fabularis), genauso wie eine Tragödie in Prosa nur noch ein »drama prosaica« wäre, aber keine Dichtung mehr. Damit ist der Roman aus der Dichtung ausgeschlossen. Dem entsprechend würden die Werke von Thukydides und Livius nicht die Bezeichnung der »historia« verlieren, wenn man sie in Verse brächte. Das Wesen der Geschichtsschreibung sei die historische Wahrheit, und diese bleibe auch in der Versform erhalten. Es handele es sich bei einem solchen Werk deshalb um ein »poema historicum«, genauso wie eine Dichtung naturphilosophischen Inhalts ein naturphilosophisches Gedicht wäre.23 Diese systematische Begründung leitet Vossius historisch ab, und damit schließt er sich eng an Scaliger an. Wie dieser zeigt Vossius in einer Art Naturgeschichte der Dichtung, daß diese als metrisch gebundene Sprache entstanden und dann nach und nach durch die Erfindung von Handlungen ergänzt wurde. So erkläre sich die Tatsache, daß es (gegen Aristoteles, der vom entwickelten Zustand der Dichtung ausging) auch Dichtung ohne Handlung gibt. Wie für Scaliger sind für Vossius diese lyrischen Formen der Anfang aller Dichtung, denn niemand könnte bezweifeln, daß sich die Hirten durch Gesänge die Zeit vertrieben hätten. Wahrscheinlich hätten Liebeslieder am Anfang gestanden, denn Frauen und Männer weideten gemeinsam die Tiere.24 Aus diesen einfachen Formen hätten sich nach und nach komplexere Formen entwickelt, wie etwa für Hochzeiten und religiöse Rituale.25 Die ältesten überlieferten Dichtungen wären dem Lob der Götter gewidmet, woraus sich dann das Lob von Menschen entwickelt habe, die sich in irgendeiner Form besonders ausgezeichnet hätten. Daraus habe sich dann wiederum die historische Darstellung in dichterischer Form entwickelt, wie man sie nicht nur aus der Antike kenne, sondern auch aus der gallischen, germanischen, skandinavischen, slavischen und amerikanischen Vorgeschichte.26 _____________ 21 22 23 24 25 26

Vossius: De artis poeticae natura 2.6, S. 9-11 Vossius: De artis poeticae natura 2.7, S. 11 Vossius: De artis poeticae natura 2.8, S. 11 f. Vossius: De artis poeticae natura 3, S. 13. Vossius: De artis poeticae natura 3, S. 14. Vossius: De artis poeticae natura 3.10-12, S. 15-17.

Scaliger, Heinsius, Vossius

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Dieser historische Zugriff erzwingt die Anerkennung der Tatsache, daß der Begriff der Dichtung Abstufungen zuläßt. Wie man in der Logik verschiedene Gradationen von Beweiskraft kenne, nämlich vom apodiktischen bis zum bloß wahrscheinlichen Syllogismus, so müsse man auch in der Dichtung verschiedene Gradationen anerkennen, die von einfachen lyrischen Formen bis hin zum Epos und zur Tragödie reichen.27 In einem weiten Sinne sei die Dichtkunst »die Kunst, Gedichte [carmina] zu schreiben«. Stoff könne schlechthin alles sein, definierendes Merkmal ist allein die metrische Form. In einem engeren, aristotelischen Sinne aber sei Dichtung »die Kunst, in metrischer Sprache Handlungen nachzuahmen.«28 Zweck der Dichtung im weiten Sinne ist das docere et delectare, Zweck der Dichtung im engeren, aristotelischen Sinne sei es, »mit erfundenen Fabeln auf angenehme Art das zu lehren, was die Menschen von den Lastern zu den Tugenden hinführt«.29 In diesem Sinne ist die Dichtkunst, wie die Rhetorik, eine »Dienerin des Gemeinwesens« (ministra politicae), denn sie dient dem allgemeinen Besten.30 Wie bei Heinsius führt dies aber auch bei Vossius nicht zu einem Begriff der Dichtung als »Gleichnishaftigkeit«. In seiner eigentlichen Poetik, den »Poeticae Institutiones« (1647), entwickelt Vossius einen aristotelischen Begriff der Wahrscheinlichkeit. Vossius markiert dabei insofern eine Epoche, als er den Begriff der Nachahmung durch den Begriff der Fiktion (fictio) ergänzt und teilweise ersetzt. Sein Kritikpunkt ist dabei eben die Tatsache, daß der Begriff der Nachahmung durch die geforderte Wahrscheinlichkeit (veri similitudo) der nachgeahmten Handlung an diese und damit an das Wahre gebunden bleibe. Dem gegenüber bezeichne der Begriff der Fiktion nur das Geschehen als solches, unabhängig von dessen Wahrscheinlichkeit: Die wichtigste Aufgabe des Dichters ist das Nachahmen und Erfinden, wobei beide zwar nicht weit auseinanderliegen, dennoch aber sich auf eine bestimmte Art unterscheiden. Die Nachahmung ist nämlich auf das gerichtet, gemäß dem man irgend etwas bildet, die Fiktion aber auf das, was geschieht.31

_____________ 27 28

29 30 31

Vossius: De artis poeticae natura 3.22, S. 21. Vossius: De artis poeticae natura 4.1, S. 21: »Atque ex his difficile non erit, statuere etiam, quid sit poetice. Nam laxe ita dicitur ars carminis scribendi: presse autem, ars oratione metrica imitandi actiones.« Zur Unterscheidung des Stoffes vgl. Vossius: De artis poeticae natura 6, S. 30-36. Vossius: De artis poeticae natura 7.4, S. 37: »[...] fictis fabulis iucunde ea docere, quae homines a vitiis ad virtutes adducunt.« Vossius: De artis poeticae natura 7.11, S. 39 f. Vossius: Institutiones 2.1, S. 6: »Praecipuum poetae officium est imitari ac fingere: quae duo etsi non admodum distent, aliquo tamen modo differunt. Nam imitatio attendit illud, secundum quod facimus aliquid: fictio autem id, quod fit.«

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Die Legitimität der Fiktion

Der Begriff der Fiktion ist damit der Oberbegriff, unter den die Nachahmung als die spezifische Art der Fiktion, die am Wahrscheinlichen orientiert ist, fällt. Die Fiktion als solche umfaßt dagegen auch die Art von Erfindung, die keine Wahrscheinlichkeit hat und damit empirisch unmöglich ist. Während der Begriff der Fiktion also auch die unaristotelischen Phänomene des Wunderbaren und Märchenhaften abdeckt, dessen Legitimation in der Folge des Kapitels ausführlich diskutiert wird, wird der Begriff der Nachahmung im aristotelischen Sinne als »Abzeichnung von guten oder schlechten Handlungen« (adumbratio actionum bonarum vel malarum)32 bestimmt, die als solche auf die »bürgerliche Glückseligkeit« (beatitudo civilis) zielten, also auf ein tugendhaftes Leben.33 Ausdrücklich heißt es jedoch, daß Tugenden und Laster nicht an der Abschilderung von Charaktereigenschaften zu erkennen seien, sondern nur an Handlungen, und deshalb ausschließlich Handlungen der Gegenstand dieser Art von Nachahmung seien.34 Damit ist ein unmittelbarer moralischer Zweck der Dichtung (der ausschließlich positive Held dient als Vorbild, der Bösewicht als Abschreckung) ausgeschlossen. Aufgrund des wahrscheinlichen Charakters dieser Handlungen könne dem Dichter nicht der Vorwurf der Lüge gemacht werden, denn die Erfindung beziehe sich als »figürlicher Ausdruck« (figura sermonis) auf die Wahrheit.35 Mit dieser »Figürlichkeit« der Handlung ist keine Gleichnishaftigkeit oder ›Wahrheitsähnlichkeit‹ gemeint, denn als wahrscheinlich bestimmt Vossius, was geschehen könne, und je öfter etwas tatsächlich geschehe, desto wahrscheinlicher sei es.36 Wenn Aristoteles 1451b schreibe, »daß es nicht Aufgabe des Dichters ist mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, das heißt das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche« und die Dichtung deshalb »etwas Philosophischeres und Ernsthafteres als Geschichtsschreibung« sei, dann darf dies nach Vossius nicht so verstanden werden, daß der Dichter nur historische Tatsachen oder naturwissenschaftliche Prozesse zum Gegenstand machen dürfe, denn Aristoteles erkläre auch, daß die naturphilosophischen Dichter wie Empedokles keine echten Dichter seien. Einen notwendigen Sachverhalt zu behandeln, wie naturwissenschaftliche oder historische Tatsachen, sei etwas anderes als etwas gemäß der _____________ 32 33 34 35 36

Vossius: Institutiones 2.2, S. 6. Vossius: Institutiones 2.3, S. 7. Vossius: Institutiones 2.4, S. 7. Vossius: Institutiones 2.10, S. 9. Vossius: Institutiones 2.11 und 12, S. 10.

Scaliger, Heinsius, Vossius

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Notwendigkeit zu erfinden. Etwas gemäß der Notwendigkeit zu erfinden, heiße, es so zu erfinden, wie es die Handlung erfordere, so wie zum Beispiel Terenz in der »Andria« erfunden habe, daß Chrysides kurz nach seiner Rückkehr aus Athen verstarb, weil dieser Tod für den Fortgang der Handlung notwendig sei.37 Damit gelangt Vossius zu einer klaren Unterscheidung zwischen empirischer Wahrheitsähnlichkeit und poetischer Wahrscheinlichkeit. Das der Tragödie gewidmete Kapitel ist schon mit seinem Titel – »De tragoediae constitutione« – eine Verbeugung vor Heinsius. Wie dieser rekonstruiert Vossius detailliert die aristotelischen Gesetze, denen der Aufbau einer Handlung genügen muß. Dennoch sind beide Werke kaum zu vergleichen. Im Gegensatz zu Heinsius sind die »Poeticae Institutiones« ein von philologischen und historischen Erörterungen durchzogenes, schon in seiner Gliederung schwer überschaubares Werk, dessen Nachdruck auf den historischen und philologischen Details liegt. Diese Unterschiede sind jedoch marginal im Vergleich zu der nur einige Jahre nach Vossius entstandenen Poetik von Masen. Für Heinsius und Vossius ist die aristotelische »Poetik« das begriffliche Modell und die antike Dichtung das Reservoir ihrer Beispiele. Masen dagegen illustriert seine Poetik nicht nur an seinen eigenen Dramen, sondern hält die Antike für einen Bimstein, aus dem man kein Öl herauspressen könne.38 Daß Masen von Vossius den Begriff der Fiktion übernimmt, darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß Masen diesen Begriff als »figmentum significativum« bestimmt, das heißt als »bedeutungstragende Erfindung«, die »wahrheitsähnlich« in dem Sinne ist, daß sie sich gleichnishaft oder allegorisch auf eine Wahrheit bezieht. Vossius dagegen erklärt zum eigentlichen Zweck der poetischen Wahrscheinlichkeit, etwas so zu erfinden, daß es der Handlung die Allgemeingültigkeit gibt, die die höhere philosophische Würde der Dichtung ausmacht. Die Poetik von Masen ist Ausdruck eines allein systematischen und normativen Zugriffes, der als solcher die Unterordnung der Dichtung unter die Moralphilosophie erzwingt, während Vossius durch seinen historischen und deskriptiven Zugriff die Dichtung als ein ›Naturphänomen‹ behandelt, das zwar immer im Dienst der Moralphilosophie stehen sollte, aber, wie die historische Rekonstruktion zeigt, nicht immer gestanden hat.

_____________ 37 38

Vossius: Institutiones 2.18, S. 19. Masen: Palaestra III, S. 2 f., mit Bezug auf die antike Komödie.

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Die Legitimität der Fiktion

Rappolt, Brämer, Lessing Rappolt Mit Heinsius »Constitutio tragoediae« war der aristotelische Begriff der Dichtung als Nachahmung einer Handlung erschlossen. Eine Rezeption dieses Nachahmungsbegriffes läßt sich jedoch im deutschsprachigen Raum erst 1678 mit der »Poetica aristotelica« Friedrich Rappolts nachweisen.39 Neben Heinsius – dessen »Constitutio tragoediae« klar als Vorbild zu erkennen ist – sind es Vossius und Scaliger, sowie gelegentlich die »Poetik«-Kommentare von Maggi und Robortello, die Rappolt zitiert. Die »Synopsis« des ersten Teiles der »Poetica aristotelica« ist eine systematisch geordnete Zusammenfassung der aristotelischen Regeln. In einer kurzen Vorrede grenzt Rappolt diesen systematischen Zugriff mit einem Verweis auf sein Vorbild, die Aristoteles-Kommentare Bartholomäus Keckermanns, vom historisch-philologischen Textkommentar ab. Was für die Logik, Physik und Metaphysik des Aristoteles längst geleistet sei, nämlich der studierenden Jugend die »bloßen und nackten Regeln« vor Augen zu stellen, müsse endlich auch für jenes »goldene Buch« der »Poetik« geleistet werden. Der Zweck der »Synopsis« sei deshalb ausschließlich, die aristotelischen Regeln von allen Ausschmückungen, Begründungen, Erweiterungen, Abschweifungen und Einkleidungen zu befreien.40 In diesem Sinne ist jedes der sechsundzwanzig Kapitel – die Aufgliederung folgt der aristotelischen »Poetik« – in eine Reihe von einzelnen, durchnumerierten Sätzen gegliedert. _____________ 39

40

Rappolt, Professor der Dialektik, Poesie und später der Theologie in Leipzig, war 1676 gestorben. Die »Poetica aristotelica« wurde aus dem Nachlaß herausgegeben von Joachim Feller. Die »Diascepsis«, oder zumindest ein Teil von ihr, war bereits 1656 als Dissertation von Christoph Seeling verteidigt worden. Der äußerst seltene Druck war mir leider nicht zugänglich, vgl. Friedrich Rappolt: Diascepsis aristotelea De Poetica/ quam annuente inclutae facultatis philosophicae collegio in Academia Lipsiensi florentisima praeside Dn. M. Friderico Rappolto [...] publico examini exponit Christophorus Seeling SchlackenwerdaBohemus [...]. Leipzig 1656. Zu Rappolt vgl. Zeller: Diskurs. Auf jesuitischer Seite hat 1668 Sylvester Maurus: Aristotelis opera S. 833-894 einen ganz ähnlichen Versuch wie Rappolt unternommen. Rappolt: Poetica S. 1-3.

Rappolt, Brämer, Lessing

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Der zweite Teil der »Poetica aristotelica«, die »Untersuchung der aristotelischen ›Poetik‹« (»Diascepsis aristotelea«), diskutiert einige besondere Probleme ausführlich, der dritte Teil exemplifiziert die Regeln an den zwei (vollständig abgedruckten) Beispielen von Senecas »Trojanerinnen« und Grotius' »Christus patiens«. Daß die Exemplifikation der aristotelischen Regeln in Rappolts ausführlichem Kommentar gegenüber dem technischen Niveau der »Synopsis« und »Diascepsis« stark abfällt, hat weniger mit der Tatsache zu tun, daß sowohl die »Trojanerinnen« wie der »Christus patiens« sich nur bedingt für eine solche Exemplifikation eignen, als damit, daß die philologischen Interessen Rappolts zunehmend die Oberhand gewinnen. Während im Kommentar zu den »Trojanerinnen« den konstitutiven Elementen der Handlung (Peripetie, Pathos, mittlerer Charakter usw.) noch mehrere Abschnitte gewidmet sind, ist der Kommentar zum »Christus patiens« fast gänzlich ein philologischer Kommentar. Unter den Problemen, denen Rappolt sich in der »Diascepsis« besonders zuwendet, steht an einer der ersten Stellen die Handlung als der von Aristoteles behauptete Gegenstand der Dichtung. Dabei müssen dies nach Rappolt moralisch bewertbare Handlungen sein, das heißt Handlungen, die vom Willen des Menschen abhängen. Durch die Nachahmung menschlicher Handlungen gewöhne die Dichtung an Tugend und tugendhaftes Handeln. Zurecht werde die Dichtung deshalb »Dienerin der Politik« genannt.41 Auf die Handlung bezieht Rappolt auch die Unterscheidung zwischen Dichter und Historiker (»Poetik« 1451b) über das Wirkliche und das Wahrscheinliche. Gegenstand der Dichtung ist nicht das Wahrscheinliche als ein »Wahrheitsähnliches«, sondern als ein Mögliches und der Natur – dem natürlichen Gang der Dinge – Entsprechendes. Als Nachahmung von Handlung beziehe sich die Dichtung nicht auf die Inhalte der theoretischen Philosophie (philosophia theoretica), sondern nur auf die der Moralphilosophie (philosophia practica), so daß die Dichtung ein ›Seitenstück‹ zu dieser darstelle.42 Damit ist die Gattung des Lehrgedichts mit etwa theologischen oder physikalischen Gegenständen ausgeschlossen. Schon die »Synopsis« hatte Rappolt mit der Definition der Dichtung als »Abzeichnung oder Darstellung von Handlungen« (actionum adumbratio vel repraesentatio) eröffnet.43 Als »Seele der Dichtung« bestimmt Rappolt nicht die Nachahmung, _____________ 41 42 43

Rappolt: Poetica These 17, S. 95. Rappolt: Poetica These 22, S. 98. Rappolt: Poetica S. 3. Der Begriff »adumbratio« verweist auf Vossius: Institutiones 2.2, S. 6.

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Die Legitimität der Fiktion

sondern die Handlung (fabula), womit auch eine Gleichnishaftigkeit oder »Wahrheitsähnlichkeit« im Sinne der averroischen Tradition ausgeschlossen ist.44 Für den Vorwurf der Lüge hat Rappolt nur mühsam verhehlte Verachtung übrig. Natürlich erfinde der Dichter Dinge, aber er tue dies eben, um die Aufmerksamkeit des Lesers zu gewinnen. Und selbst wenn er Falsches erfinde – dieses Argument stammt von Robortello45 –, folgere er daraus mittels des »Paralogismus« (nach »Poetik« 1460a 19 ff.), der von falschen Prämissen zu richtigen Schlußfolgerungen kommt, Wahres und Zutreffendes. Was der Dichtung mit der Lüge als Fehler angerechnet werde, sei gerade ihr eigentlicher Kunstgriff.46 Rappolt übernimmt die begriffliche Neuerung Vossens, wenn er vorschlägt, statt des Begriffes der Nachahmung besser den der Fiktion zu verwenden. Dieser bezeichne die Tatsache, daß es der Dichtung nicht genüge, die Dinge so zu erzählen, wie sie sich zugetragen haben, sondern so, daß sie »durch die Einführung einer gleichsam neuen Form und durch ein künstlich hinzu erfundenes neues Aussehen« sich so zugetragen zu haben scheinen.47 Ebenfalls wie Vossius ist Rappolt der Meinung, daß jedoch nicht diese Erfindung allein das Wesen der Dichtung ausmache, sondern diese auch noch in einer genuin poetischen, metrisch gestalteten Sprache formuliert sein müsse.48 Der Zweck der Dichtung ist ein interner und ein externer. Interner Zweck ist Unterhaltung und Belehrung (delectare und docere), wobei die Unterhaltung alleine nur ein »inadäquater Zweck« (finis inadaequatus) ist, der immer mit der Belehrung als dem »adäquaten Zweck« (finis adaequatus) verbunden sein müsse. Die Unterhaltung identifziert Rappolt mit dem Vergnügen, das nach Aristoteles aus der Nachahmung und der sprachlichen Gestaltung entspringt, die Belehrung mit der philosophischen Allgemeingültigkeit, die nach »Poetik« 1451b 5 ff. der poetischen Nachahmung im Gegensatz zur Historie zukomme.49 Aus der Geschichtschreibung lerne man nicht so viel wie aus der Dichtung, weil die Geschichtschreibung immer nur den spezifischen Einzelfall beschreibe. Den daraus gezogenen Schlußfolgerungen _____________ 44 45 46 47

48 49

Rappolt: Poetica S. 12. Vgl. oben S. 32. Rappolt: Poetica S. 98 f. Rappolt: Poetica These 27, S. 100 f. Ab hier ist für die nächsten zehn Seiten die Paginierung durcheinander geraten, der Drucker beginnt auf S. 101 wieder mit S. 93. Ich gebe die eigentlich richtige Seitenzahl in eckigen Klammern an. Rappolt: Poetica These 30, S. 94 [102]. Rappolt: Poetica These 35, S. 96 [104].

Rappolt, Brämer, Lessing

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komme deshalb niemals dieselbe Allgemeingültigkeit zu wie der Fiktion der Dichtung. Worin die Belehrung als interner Zweck besteht, geht aus dem äußeren Zweck der Dichtung hervor, den Rappolt mit der Katharsis als einer »Reinigung des größten Teiles der Affekte« identifiziert. Durch die Belehrung als internem Zweck – also ihren Aufweis am exemplarischen Fall – könne man die Affekte auf gleichzeitig ernsthafte und angenehme Weise beherrschen lernen.50 Gegen eine derartige Übertragung des spezifischen Zweckes der Tragödie auf die Dichtung insgesamt ist nach Rappolt als einer Übertragung von der species auf das genus nichts einzuwenden, vor allem da Aristoteles an der Tragödie als wichtigster species der Dichtung die Gesetze dieser als genus skizzieren habe wollen.51 Mit der »Reinigung« der Affekte, die Rappolt als »Herausreißen der Affekte« versteht, ist der Zweck der Dichtung identisch mit dem Zweck der Moralphilosophie, deren Aufgabe es eben ist, das menschliche Leben von den »vielen Lastern und Verwirrungen«, denen es unterworfen ist, zu befreien.52 Mit demselben Zitat aus Strabos »Geographika«, das auch bei Opitz eine so prominente Rolle spielt, erklärt Rappolt die Dichtung zu einer »ersten Philosophie«, die uns von Kindheit an über das richtige Verhalten unterrichte und uns auf unterhaltsame Art beibringe, welche Verhaltensweisen, Gefühle und Handlungen uns angemessen sind.53 Wie Scaliger und Vossius nimmt auch Rappolt natürliche Ursprünge der Dichtung an, warnt jedoch ausdrücklich davor, über diese Ursprünge zu spekulieren. Schon Aristoteles selbst sei der Meinung gewesen, der genaue Zeitpunkt der Entstehung der Dichtung lasse sich nicht mehr rekonstruieren, da aus der vorhomerischen Zeit nichts Sicheres überliefert ist.54 Eigentlicher Hintergrund dieser Warnung dürfte sein, daß die natürlichen Ursprünge der Dichtung, wie Scaliger sie rekonstruiert hatte (Langeweile und Geschlechtstrieb), der Legitimation der Dichtung gegenüber den um 1678 beständig zunehmenden, pietistischen Vorbehalten abträglich gewesen wären. Die pietistischen Streitigkeiten dürften auch mit dafür verantwortlich sein, daß eine Rezeption der »Poetica aristotelica« nicht nachzuweisen ist, als diese nach dem Tod Rappolts veröffentlicht wurde. Wenn das Theater _____________ 50 51 52 53 54

Rappolt: Poetica These 36, S. 96 [104]. Rappolt: Poetica These 37, S. 96 f. [104 f.], mit einem Zitat von Maggis Kommentar. Rappolt: Poetica These 38, S. 95 [105]. Rappolt: Poetica These 40, S. 98 [106]. Rappolt: Poetica These 14 und 15, S. 91-94. Vgl. Aristoteles: »Poetik« 1448b 28 ff.

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Die Legitimität der Fiktion

christlich und moralisch überhaupt zu legitimieren war, dann als Lob der Tugend und Tadel des Lasters oder als besonders anschauliche »Schreibart« im didaktischen Sinn, wie dies von Gottsched bis Baumgarten geschehen ist, aber sicherlich nicht als Fiktion, die nur ihren eigenen – und damit keinen moralischen – Forderungen gehorcht. Obwohl Christian Weise bei Rappolt studiert hat,55 läßt sich in seinen Schriften nirgends eine Auseinandersetzung oder auch nur Kenntnis der aristotelischen »Poetik« erkennen. Rotth zitiert Rappolt zwar mehrfach, wird sich aber der Unvereinbarkeit des aristotelischen Nachahmungsbegriffs mit der Poetik Masens, seinem eigentlichen Modell, nicht bewußt. Gottsched nennt Rappolt neben Heinsius und Vossius zwar als Vorbilder,56 findet aber aufgrund seines Begriffes der Naturnachahmung keinen Zugang zum aristotelischen Handlungsbegriff. Ähnlich Johann Elias Schlegel, der Rappolt dafür kritisiert, »die Regeln des Aristoteles ausgeleget, oder vielmehr abgeschrieben« zu haben, diese dann aber mit Grotius' »Christus patiens« an einem Stück zu demonstrieren, welches »wider alle diese Regeln« verstoße.57 Damit ist jedoch nicht gesagt, daß Schlegel selbst sich für diese Regeln interessiert hätte.

Brämer Carl Friedrich Brämer ist in seiner »Gründlichen Untersuchung von dem wahren Begriffe der Dichtkunst« (1744) der erste, der den aristotelischen Begriff der Dichtung als Nachahmung einer Handlung klar benennt. »Mit gutem Bedacht« weiche er von der Gewohnheit ab, die Dichtung über »moralische Absichten, ja wohl gar insbesondere die allegorische Bedeutung« zu definieren.58 Die Fabel als Erfindung einer Handlung sei nach Aristoteles definierendes, die Versform dagegen zufälliges Merkmal der Dichtung.59 Von Horaz bis in die Gegenwart sei der aristotelische Dichtungsbegriff mit _____________ 55 56 57 58 59

Weise hat 1662 eine »Dissertatio de gignenda comparandaque sapientia: ad cap. VII lib. XIII Noct. Att. A. Gellii« unter dem Vorsitz Rappolts verteidigt. Gottsched: Dichtkunst, Vorrede S. 15. Schlegel: Herodes S. 34. Brämer: Begriff der Dichtkunst § 75. Teilabdruck in Dichtungstheorien der Aufklärung S. 92-98. Zu Brämer vgl. Alt: Begriffsbilder S. 425 f. und Scherpe: Gattungspoetik S. 50-53. Brämer: Begriff der Dichtkunst § 25-33.

Rappolt, Brämer, Lessing

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dem »volkstümlichen« Begriff der Dichtung als Versform vermischt worden. Dieser Begriff sei ebenso wenig zu halten wie neuere Versuche, die Dichtung über eine bestimmte, besonders »lebhafte« und affektive »Schreibart« zu definieren, wie von Gottsched unternommen, oder sie als »vollkommene sinnliche Rede« zu definieren, wie Baumgarten.60 Mit Aristoteles definiert Brämer die Dichtung deshalb als Erfindung. Ihr Wesen sei es, etwas, das »nicht wirklich« sei, als gegenwärtig vorzustellen.61 Gegen Aristoteles müsse man jedoch anerkennen, daß man nicht nur Handlungen, sondern auch einzelne, nicht zu Handlungen verknüpfte »Dichtungsbilder« erfinden könne. So sei die Figur des Aeneas ein »Dichtungsbild«, die »Aeneis« dagegen eine »Fabel« als »Erdichtung einer Begebenheit«.62 »Endzweck« der Dichtung sei es, »auf unvermerkte Art zu erbauen«.63 Brämer erhebt damit keine moralische Forderung, sondern leitet dies als eine Beobachtung aus der Praxis der Dichtung ab. Diese »Erbauung« vollziehe sich durch »Überredung«. Durch die dichterische Erfindung werde die Seele zu Abscheu oder Zustimmung gebracht.64 Sowohl »Dichtungsbilder« wie »Fabeln« könnten diesen Zweck auf zweifache Art erfüllen. »Bedeutend und hieroglyphisch« seien sie, wenn sie als »Dichtungsbilder« etwa Personifikationen oder als »Fabeln« allegorische Erzählungen wären. »Exempel« oder »sichtbare Beyspiele« seien sie, wenn sie als »Dichtungsbilder« etwa den Charaktertypus des Geizigen in der Komödie darstellten, oder, als »Fabeln«, etwa ein Beispiel für belohnte Beständigkeit lieferten.65 Gegenüber den »Dichtungsbildern« könnten »Fabeln« jedoch den Zweck der »unvermerkten Belehrung« noch auf eine dritte Art erfüllen, indem sie »gewisse Sachen durch die redenden und handelnden Personen ausmachen« ließen.66 Mit dieser dritten Möglichkeit bezeichnet Brämer die Lehrart, die Aristoteles mit den »erfundenen Handlungen« angestrebt habe und wie er sie aus der Tragödie und dem Epos gekannt habe. Weil in der griechischen Kultur nur diese beiden Formen der Dichtung ausgeprägt gewesen wären, hätte Aristoteles die beiden anderen Möglichkeiten – also die »un_____________ 60 61 62 63 64 65 66

Brämer: Begriff der Dichtkunst § 151-182 zur »Schreibart«, § 204 zu Baumgarten. Brämer: Begriff der Dichtkunst § 75. Brämer: Begriff der Dichtkunst § 77. Brämer: Begriff der Dichtkunst § 207 und öfter. Brämer: Begriff der Dichtkunst § 120 und 121. Brämer: Begriff der Dichtkunst § 124 und 125. Brämer: Begriff der Dichtkunst § 128.

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vermerkte Belehrung« durch Allegorie und exemplum – gar nicht gekannt.67 Damit erkennt Brämer an, daß sich die antike Tragödie nicht als Allegorie oder Veranschaulichung eines »moralischen Lehrsatzes« fassen läßt und sich umgekehrt das Wesen der Dichtung nicht in Allegorie und Exempel erschöpft. Der Begriff der »Fabel« wird nicht mehr als Tierfabel, sondern als Handlung gedacht. Auch den aristotelischen Wahrscheinlichkeitsbegriff rezipiert Brämer adäquat, wenn er die Wahrscheinlichkeit als Eigenschaft einer erfundenen Handlung darin erkennt, diese Handlung für wirklich halten zu können.68 Mit Berufung auf Wolffs Ontologie erklärt Brämer den Satz vom Widerspruch und den Satz vom zureichenden Grund zu Bedingungen der poetischen Wahrscheinlichkeit. Eine Erfindung dürfe nicht in sich widersprüchlich sein, also etwa Gegenteiliges von derselben Person aussagen, wenn sie für wirklich gehalten werden solle.69 Für das, was die Erfindung als wirklich behaupte, müsse sie einen zureichenden Grund angeben, denn man halte das für wirklich, für dessen Entstehung oder Entwicklung man den Grund kenne.70 Die Wahrscheinlichkeit sei deshalb immer eine relative, denn was man als zureichende Gründe anzuerkennen bereit sei, sei bei den verschiedenen Völkern und in den verschiedenen Epochen unterschiedlich.71 Diese poetische Wahrscheinlichkeit als Glaubhaftigkeit einer Erdichtung dürfe nicht mit der logischen Wahrscheinlichkeit eines Satzes verwechselt werden. Im Lateinischen verwende man deshalb zwei verschiedene Begriffe und spreche von der poetischen Wahrscheinlichkeit als verisimilitudo und von der logischen Wahrscheinlichkeit als probabilitas.72 Beide Begriffe widersprächen sich nicht, gehörten aber unterschiedlichen Kategorien an. Die poetische Wahrscheinlichkeit betreffe die Wahrscheinlichkeit eines Sachverhalts, die logische Wahrscheinlichkeit (die »Wahrheitsähnlichkeit« der averroischen Tradition) die eines Urteils über Sachverhalte. Gottsched und Breitinger, deren Wahrscheinlichkeitsbegriff als »Übereinstimmung mit der Natur« ein logischer sei, beriefen sich deshalb zu Unrecht auf Aristoteles.73 _____________ 67 68 69 70 71 72 73

Brämer: Begriff der Dichtkunst § 194. Brämer: Begriff der Dichtkunst § 82. Brämer: Begriff der Dichtkunst § 84. Brämer: Begriff der Dichtkunst § 87. Brämer: Begriff der Dichtkunst § 90. Brämer: Begriff der Dichtkunst § 91. Brämer: Begriff der Dichtkunst § 92.

Rappolt, Brämer, Lessing

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Gegen Aristoteles ist Brämer bereit, auch unwahrscheinliche Handlungen zuzugestehen, nämlich gerade die Handlung der Tierfabeln oder der allegorischen Erzählungen.74 Gegen Aristoteles erkennt Brämer außerdem die Möglichkeit von Handlungen an, die nicht auf ein begrenztes Geschehen eingeschränkt sind. Der Satz vom zureichenden Grund erfordere, etwa um die Handlungen einer Person zu erklären, »den Ursprung, die Erziehung, und unzehliche andere Umstände, Zufälle und Begebenheiten derselben Person« zu erzählen.75 Mit dieser Forderung nach einer möglichst lückenlosen Kausalkette weist Brämer auf Friedrich von Blanckenburgs »Versuch über den Roman« voraus, in dem diese psychologische Ursachenforschung 1774 zur Gründungsurkunde des psychologischen Romans werden wird. Wenn Brämer die Dichtung als »Erfindung einer Handlung« definiert und die Versform zum akzidenziellen Merkmal erklärt, bringt er diesen auf den – aristotelischen – Begriff. Die entstehende Romantheorie ist sich dieser aristotelischen Wurzeln allerdings nicht bewußt geworden, auch wenn Johann Elias Schlegel die Nähe von antiker Tragödie, deren »größter Vorzug […] in der Einrichtung der Fabel« bestünde, und »französischen Romanenverwirrungen« konstatiert76 und Johann Gottlob Benjamin Pfeil 1755 sogar die häretische Frage stellt, ob sich »die Beschreibung des Aristoteles nicht noch viel weiter als auf das ganze Trauerspiel« ausdehnen lasse.77

Lessing Brämers »Untersuchung von dem wahren Begriffe der Dichtkunst« hat, wie Rappolts »Poetica aristotelica«, keine nennenswerte Rezeption gefunden. Curtius beruft sich in seiner Übersetzung der aristotelischen »Poetik« (1753) zwar mehrfach auf Brämer, bedient sich auch gerne seiner Argumente, entscheidet sich aber in den wesentlichen Punkten gegen ihn und für Baumgarten. Dies ist zumindest anfänglich auch die Wahl Lessings. _____________ 74 75

76 77

Brämer: Begriff der Dichtkunst § 142-144. Brämer: Begriff der Dichtkunst § 193. Der 1744 anonym erschienene Beitrag Einige Gedanken und Regeln von den deutschen Romanen weist einige Ähnlichkeiten zu Brämers Argumentation auf. Vgl. zu diesem Text Frick: Providenz S. 245-251. Schlegel: Auszug eines Briefes S. 6. Pfeil: Trauerspiel S. 95 f.

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Die Legitimität der Fiktion

1755 bestreiten er und Mendelssohn Alexander Pope den Namen eines Dichters. Sie tun dies allerdings nicht, weil dessen »Essay on Man« als einem Lehrgedicht die Handlung fehlte, sondern weil beide zuvor das Gedicht mit Baumgarten und Meier als »vollkommene sinnliche Rede« bestimmt hatten. Zwar könne man ein philosophisches System in Verse bringen, es werde dadurch aber nicht zur Dichtung. Mit diesem Argument hatte Baumgarten im § 14 seiner »Meditationes« demonstriert, daß ein in Verse gebrachter Syllogismus noch lange kein Gedicht ist.78 Obwohl Lessing Curtius' Übersetzung der aristotelischen »Poetik« schon 1753 gelesen und rezensiert hat,79 ist ihm die Bedeutung des aristotelischen Handlungsbegriffes nicht bewußt geworden. 1754 kritisiert er Gottscheds Begriff des Dramas als Illustration eines moralischen Lehrsatzes, ohne dabei auf Aristoteles zu rekurrieren. Seneca und Euripides hätten ihre Dramen wohl kaum nach den Regeln Gottscheds verfaßt: »Erst eine Wahrheit sich vorzustellen, und hernach eine Begebenheit dazu zu suchen, oder zu erdichten, war die Art ihres Verfahrens gar nicht.«80 Lessing lehnt dabei nicht nur das »Verfahren« Gottscheds ab, sondern grundsätzlich die Überzeugung, »daß aus der Fabel eines Trauerspiels eine gute Lehre fliessen müsse«. Es genüge völlig, »wenn uns nur einzelne Stellen von nützlichen Wahrheiten unterrichten.«81 In dem Briefwechsel, der sich im Anschluß an Friedrich Nicolais »Abhandlung vom Trauerspiele« (1757) zwischen ihm, Nicolai und Mendelssohn entspinnt, lockert er, im Gegensatz zu Nicolai, die Bindung von Trauerspiel und Moral. Wo Nicolai die moralische Wirkung des Trauerspiels – ähnlich wie Curtius und Pfeil – in einer »Besserung der Leidenschaften« erblickt, denkt Lessing diese Wirkung als eine Schule des Mitleids, in der die allgemeine Empfindungsfähigkeit des Menschen ausgebildet werde. Wie auch immer diese Theorie konkret zu denken ist, sie enthebt das Trauerspiel auf jeden Fall der unmittelbaren Einflußnahme, »Liebe zur Tugend« und »Haß des Lasters« zu erwecken, indem »das Laster mit der darauf folgenden Strafe, die Tugend mit der Belohnung vorgestellet« wird.82 Den aristotelischen Handlungsbegriff, wie überhaupt die aristoteli_____________ 78

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Lessing und Mendelssohn: Pope S. 415. Zu Lessing vgl. Alt: Begriffsbilder S. 455-467; Alt: Tragödie S. 235-251; Arndt: Lessing; Eichner: Prosafabel; Finken: Wahrheit S. 107-167; Freytag: Fabel; Kommerell: Lessing; Koopmann: Lessing; Scherpe: Gattungspoetik S. 113-134; Schrader: Lebenswelt S. 89-108. Lessing: [Rezension von Curtius]. Lessing: Trauerspiele des Seneca S. 197. Lessing: Trauerspiele des Seneca S. 196. Curtius: Absicht des Trauerspiels S. 391 f.

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sche »Poetik« als ganze, bekommen in dem Briefwechsel jedoch weder Lessing, noch Nicolai oder Mendelssohn in den Blick.83 1759 definiert Lessing in seiner Abhandlung »Von dem Wesen der Fabel« diese als »Erdichtung, womit der Poet eine gewisse Absicht verbindet«.84 Ausführlich kritisiert er den Versuch, die Fabel – wobei er die Tierfabel ausdrücklich nur als spezifische Ausformung der Fabel als Handlung überhaupt betrachtet – über den Begriff der Allegorie zu definieren.85 Scharf grenzt er diese auch von Gleichnis und Parabel ab. Handlung sei »eine Folge von Veränderungen, die zusammen ein Ganzes ausmachen«.86 »Endzweck« der Fabel sei ein »moralischer Lehrsatz«, aber die Fabel bedeute diesen nicht auf allegorische Art, sondern mache ihn, wie Lessing in der Terminologie Baumgartens schreibt, einer »anschauenden Erkenntnis fähig«.87 Unterschied zwischen der Fabel als Tierfabel und der Fabel als Handlung sei, daß der Dichter bei der Handlung von Drama und Epos neben der »äußeren« Absicht durch die Belehrung auch eine »innere«, nur der Handlung selbst zukommende Absicht habe.88 Nicht durch eine »versteckte Allegorie« erreiche die Handlung ihren »Endzweck«, sondern durch Rückführung des moralischen Lehrsatzes »auf einen einzelnen Fall«. In diesem einzelnen Fall werde der moralische Lehrsatz nicht durch eine »Aehnlichkeit« entdeckt, sondern »anschauend« erkannt. Um anschaulich werden zu können, müsse der »einzelne Fall« für wirklich gehalten werden können. Auf diesem Umweg entdeckt Lessing die poetische Wahrscheinlichkeit, denn um für wirklich gehalten werden zu können, müsse der einzelne Fall wiederum »Bewegungsgründe« enthalten89 und die »Veränderungen« seiner Handlung kausal motivieren.90 Die wichtigste Voraussetzung dafür, etwas für wirklich zu halten, sei damit die Wahrscheinlichkeit einer Handlung.91 Diesen aristotelischen Handlungsbegriff verteidigt Lessing ausgerechnet gegen Aristoteles, den er allerdings nicht mit seiner »Poetik« zitiert, _____________ 83 84 85 86 87 88 89 90 91

Lessing: Briefwechsel über das Trauerspiel, mit der »Abhandlung« Nicolais und den Briefen Nicolais und Mendelssohns. Lessing: Wesen der Fabel S. 418. Lessing: Wesen der Fabel S. 421-425. Lessing: Wesen der Fabel S. 429. Lessing: Wesen der Fabel S. 433. Lessing: Wesen der Fabel S. 438. Auch Lessing: Dramaturgie 35. Stück, S. 331 behauptet die Gültigkeit derselben Gesetze für Tierfabel und Drama. Lessing: Wesen der Fabel S. 443. Lessing: Wesen der Fabel S. 429. Lessing: Wesen der Fabel S. 446.

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sondern mit der Definition von Exempel und Parabel aus der »Rhetorik«. Historisch ist dies insofern konsequent, als Lessing damit genau die Definition der Dichtung kritisiert, die für die frühe Neuzeit grundlegend war. Paradox ist dies insofern, als Lessing die Möglichkeit bestreitet, den aristotelischen Exempelbegriff auf die Dichtung zu übertragen, ohne zu realisieren, daß Aristoteles selbst dies gar nicht getan hat, sondern ganz im Gegenteil in der »Poetik« einen Handlungsbegriff zur Verfügung gestellt hat, der nicht auf Ähnlichkeit, sondern auf Wahrscheinlichkeit beruht. Lessings Umwege nehmen noch größeres Ausmaß an, wenn es im »Laokoon« (1766) nach langwierigen Untersuchungen endlich heißt: »Gegenstände, die auf einander, oder deren Theile auf einander folgen, heißen überhaupt Handlungen. Folglich sind Handlungen der eigentliche Gegenstand der Poesie.«92 In den Entwürfen für den zweiten Teil des »Laokoon« hatte Lessing offensichtlich vor, die Gesetze der Handlung noch weiter zu deduzieren, wenn er dort notiert, das »Ideal der Handlung« bestehe »1) in der Verkürzung der Zeit 2) in der Erhöhung der Triebfedern, und Ausschließung des Zufalls, 3) in der Erregung der Leidenschaften.«93 Damit kündigt sich die Erkenntnis an, die Lessing 1767 in der »Hamburgischen Dramaturgie« zur allgemeinen Forderung erhebt: Das Genie können nur Begebenheiten beschäftigen, die in einander gegründet sind, nur Ketten von Ursachen und Wirkungen. Diese auf jene zurück zu führen, jene gegen diese abzuwägen, überall das Ungefehr auszuschliessen, alles, was geschieht, so geschehen zu lassen, daß es nicht anders geschehen können: das, das ist seine Sache, wenn es in dem Felde der Geschichte arbeitet, um die unnützen Schätze des Gedächtnisses in Nahrungen des Geistes zu verwandeln.94

Mit dieser Forderung, dem immer bloß Besonderen des historischen Ereignisses durch Bearbeitung entsprechend der Gesetze der poetischen Wahrscheinlichkeit die höhere philosophische Dignität der Dichtung zu verleihen, reformuliert Lessing, bewußt oder unbewußt, »Poetik« 1451b. Wie bei Brämer wird die Kausalität der Handlung, die »Ketten von Ursachen und Wirkungen«, zur entscheidenden Forderung, um die Autonomie der Fiktion gegenüber dem moralischen Lehrsatz zu sichern. Im 38. Stück der »Hamburgischen Dramaturgie« stößt Lessing schließlich zum Kern des aristotelischen Dichtungsbegriffes vor, wenn es dort heißt: Nichts empfiehlt Aristoteles dem tragischen Dichter mehr, als die gute Abfassung der Fabel; und nichts hat er ihm durch mehrere und feinere Bemerkungen zu er-

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Lessing: Laokoon § 16, S. 94 f. Lessing: Vorstudien zum Laookon S. 603. Lessing: Dramaturgie, 30. Stück, S. 308 f.

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leichtern gesucht, als eben diese. Denn die Fabel ist es, die den Dichter vornehmlich zum Dichter macht […]. Er erklärt aber die Fabel durch die Nachahmung einer Handlung, πράξεως; und eine Handlung ist ihm eine Verknüpfung von Begebenheiten, σύνθεσις πραγμάτων.95

Von hier aus erschließt sich ihm in den folgenden Stücken der argumentative Zusammenhang der aristotelischen »Poetik« als einem Regelwerk zur Konstruktion von erfundenen Handlungen.

_____________ 95

Lessing: Dramaturgie, 38. Stück, S. 343.

Theologischer Exkurs Die Religionsgeschichte ist der eigentliche Hintergrund, vor dem sich die Auseinandersetzung um den Begriff der Dichtung abspielt. Diesen Hintergrund darzustellen, würde den Rahmen der Arbeit sprengen, auf ihn zu verzichten, das Bild seines Hintergrundes berauben. Der folgende Exkurs, der sich auf eine rudimentäre Skizze beschränkt und auf alle weitergehenden Literaturangaben verzichtet, ist der unbefriedigende Mittelweg.

Neuplatonische Enthusiasmus-Theorie Am Ende des 15. Jahrhunderts entwickelte Marsilio Ficino mit dem platonischen Enthusiasmus eine Theorie der göttlichen Inspiration, die die Dichtung als prisca theologia auf den Rang der biblischen Offenbarung erhob. Als begeisterter Seher wird der Dichter zu Gott entrückt und schaut in dieser Entrückung die göttlichen Ideen. In dieser EnthusiasmusTheorie verschmilzt Ficino nicht nur heidnische und christliche Elemente, indem er etwa die antiken Gottheiten als Stufen der Entrückung auffaßt, sondern er deutet die Enthusiasmus-Theorie auch als eine Theorie der Magie. Dieser magisch konnotierte, christlich überformte Neuplatonismus brachte Ficino in keine größeren Schwierigkeiten mit der Kirche, im Unterschied zu seinem Gegenspieler Savonarola. Was diesen in Schwierigkeiten und letztlich auf den Scheiterhaufen brachte, war allerdings nicht sein – im Vergleich zu Ficino theologisch konservativer – Thomismus, sondern die Tatsache, daß Savonarola aufgrund seiner prophetischen Gaben eine Reform der Kirche gefordert und in Florenz auch zeitweilig durchgesetzt hatte. Der christliche und moralische Fundamentalismus Savonarolas äußerte sich auch, wie gezeigt, in seiner Einstellung zur Dichtung. Wo Ficino die Dichtung auf den Rang der Offenbarung erhoben hatte, verwies Savonarola sie auf den untersten Rang der Wissenschaften und Künste. Lediglich als geistliche Dichtung gestand er ihr eine gewisse Würde zu.

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Ficinos Theorie des Enthusiasmus und die mit ihr verbundene Aufwertung der Dichtung wurde im deutschsprachigen Raum schnell rezipiert und verbreitet. Auch hier bleiben diese Neuplatoniker weitestgehend unbehelligt von der Kirche und der akademischen Theologie, selbst wo sie antike Gottheiten wie Apollon als Inspirationsgottheiten anriefen oder in Traumvisionen auftreten ließen. Dies ändert sich mit der Reformation, die nicht nur mit ihren fundamentalistischen Forderungen nach einer durchgreifenden Reform des christlichen Lebens, sondern auch mit ihrer Einstellung zur Dichtung wesentliche Elemente von Savonarola bewußt oder unbewußt übernimmt. Die neuplatonische Poetik hatte mit der Reformation keine Zukunft mehr. Ihre Rezeption bricht um 1520 endgültig ab.

sola scriptura Luthers entscheidende theologische Einsicht bestand in der aus den paulinischen Briefen gewonnenen Überzeugung, daß allein der Glaube an die Gnade Gottes, wie sie im Tod Christi sichtbar geworden ist, den Menschen vor Gott rechtfertigt. Nicht eigene Tätigkeit oder eigene Werke können ihm die Rechtfertigung erkaufen, wie es die katholische Kirche will, sondern nur der Glaube an den Tod Christi als heilsvermittelndes Geschehen. Diese Rechtfertigung als zentrales Element der protestantischen Theologie ist an die Bibel gebunden, denn allein durch diese erfährt der Mensch von der Gnade Gottes und dem Tod Christi. Deshalb mußte die Bibel in die Volkssprache übersetzt und jedem Menschen zugänglich gemacht werden, deshalb mußte dieses Wort Gottes von den Kanzeln in der Volkssprache gepredigt werden und deshalb mußte allein dieses Wort die Grundlage der Theologie bilden. Anders als für die katholische Tradition war die protestantische Theologie aus diesem Grund von Anfang an mit der Auslegung der Bibel verknüpft. Alles andere, aus dem die mittelalterliche Theologie geschöpft hatte – die Kirchenväter, die Konzilien, die heidnisch-antike Philosophie –, mußte sich vor dem Wort der Bibel legitimieren. Was davor nicht bestehen konnte, wie etwa das Amt des Papstes, die Marien- und Heiligenverehrung, die Mönchsorden, der Zölibat, die lateinische Liturgie, die Ohrenbeichte oder der Ablaß, wurde verworfen. Das Christentum mußte auf der Grundlage der Bibel reformiert, das heißt in seinen ursprünglichen Zustand zurückversetzt werden. Damit kam der Auslegung der Bibel eine bis dahin unbekannte Bedeutung zu. Sie allein sollte zur Grundlage des Glaubens und Lebens werden.

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Luther verwarf deshalb von seinen ersten Psalmenauslegungen an den vierfachen Schriftsinn und das Prinzip der Allegorese, wie es in verschiedener Intensität die mittelalterliche Hermeneutik bestimmt hatte. Wenn das Wort der Bibel als solches heilsnotwendig war, das heißt im wörtlichen Sinne als Anweisung für das christliche Leben zu verstehen ist, dann durfte es nicht in der Allegorese auf irgendeinen anderen Sinn hin bezogen werden, sondern es galt, den literalen, buchstäblichen Sinn als solchen herauszuarbeiten. In diesem Punkt war Luther ein Schüler der neuen humanistischen Methoden der philologischen Texterschließung, wie sie Lorenzo Valla und Erasmus vorgeführt hatten. Der buchstäbliche, grammatische Sinn der Bibel war heilsnotwendig, weil die Bibel allein von Christus spricht. Weil der Tod Christi die einzige heilsgeschichtlich bedeutsame Tatsache darstellt, handelt sowohl das Alte Testament im prophetischen und typologischen Sinne und das Neue Testament im literalen Sinne von nichts anderem als Christus. Deswegen ist der grammatische, buchstäbliche Sinn der Heiligen Schrift allein Christus, und in diesem Punkt griff Luther offensichtlich weit über eine bloß philologische Texterschließung im Sinne der Humanisten hinaus. Der literale, grammatische Sinn der Bibel war Christus, auch dort, wo, wie im Alten Testament, von Christus scheinbar keine Rede ist. Der Sündenfall Adams und die Gesetze Mose deuten auf die Erlösung von ihnen durch den Tod Christi hin, und auch bei den Propheten und den Psalmen war Christus der Kern, auf den alles bezogen werden mußte. Das Neue Testament ist dagegen die Botschaft von diesem Tod selbst, die Erfüllung und Einlösung der im Alten Testament angekündigten Verheißung. Diese Verheißung muß im Glauben angenommen werden, um ihre rechtfertigende, heilsvermittelnde Wirkung zu entfalten. Allein dieser Glaube rechtfertigt den Menschen vor Gott. Der Tod Christi kann nicht durch die Vernunft gewußt oder erkannt werden, sondern er muß geglaubt werden. Die entscheidende Frage, wie dieser rechtfertigende Glaube im Menschen zustandekommt – mit anderen Worten, warum manche Menschen glauben und andere nicht, obwohl doch alle das Evangelium lesen oder in der Predigt hören können – beantwortete Luther mit der Unterscheidung von »äußerem« und »innerem Wort«, wobei der Heilige Geist das vermittelnde Element ist. Der Heilige Geist benützt das äußere Wort des Evangeliums, um das innere Wort als Erleuchtung im Glauben zu wirken. Das innere Wort, das Wirken des Heiligen Geistes, ist damit an das äußere Wort des Evangeliums gebunden. Es kann keinen Glauben und keine Rechtfertigung vor Gott und damit keine Erlösung geben, außer durch die Vermittlung des Evangeliums. Ein unmittelbarer Bezug zu Gott,

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wie ihn auf der einen Seite etwa Mystiker und Propheten, oder, auf der anderen Seite, die katholische Kirche allein durch ihre Tradition zu besitzen glaubte, war ausgeschlossen. Der einzige Weg zu Gott führt über die Kenntnis des Evangeliums als des äußeren Wortes. Allein durch die Schrift, sola scriptura, allein durch den Glauben, sola fide, und allein durch die Gnade Gottes, sola gratia, ist der Mensch vor Gott gerechtfertigt.

Die Auseinandersetzung mit den Enthusiasten Dieses Insistieren auf der Priorität des äußeren Wortes war gegen die Spiritualisten, oder, wie Luther selbst sie nennt, die »himmlischen Propheten« oder »Schwärmer« gewendet, von denen Luther sich von Anfang an genauso stark herausgefordert sah wie von der katholischen Kirche. Das einigende Band dieser in sich höchst divergenten Gruppe war die Priorität des Geistes vor der Heiligen Schrift, im Unterschied eben zum protestantischen Schriftprinzip. Charakteristisch für diesen Spiritualismus ist die Behauptung einer direkten Verbindung zwischen Gott und Mensch, sei es in mystischer Form durch Einswerdung mit Gott, sei es in prophetischer Form durch Offenbarungen oder Gesichte. Gegenüber diesen ›Geistesgaben‹ wurden die äußeren Heilsmittel, wie die Heilige Schrift und die Sakramente, abgewertet. Für eine Kirche als solche gab es bei diesen "Schwärmern" im Grunde keine Funktion mehr, denn die unmittelbare spirituelle Verbindung zu Gott definiert den Heilsweg als einen individuellen, der per se von der institutionellen Vermittlung unabhängig ist. Dieser ›Individualismus‹, der sich auf Geistbeseeltheit und Offenbarungen beruft, ist dafür verantwortlich, daß die Spiritualisten selbst keine Kirche bildeten, sondern in Sekten und Splittergruppen – »Rottengeister« in der Terminologie Luthers – zerfielen. Zwischen diesem Spiritualismus und dem Katholizismus sieht Luther sich in der Mitte stehen. Die Katholiken haben die Kirche zu einer bloßen ›Mauerkirche‹ gemacht, die durch nichts zusammengehalten wird als äußerliche Rituale, die Spiritualisten dagegen entwerten alles Äußere und wollen nur noch die individuelle Geistbeseeltheit gelten lassen. Die Katholiken entwerten die Schrift, indem sie die Autorität für die Auslegung der Schrift in die kirchliche Tradition und in das Lehramt des Papstes verlegen, die Spiritualisten entwerten die Schrift zugunsten unmittelbarer Offenbarungen des Geistes. In der Mitte steht, so die Selbstwahr-

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nehmung Luthers, das protestantische Schriftprinzip, das die Vermittlung des Heiligen Geistes an das äußere Wort des Evangeliums bindet. Mit Christus und seinem Tod ist alle Offenbarung abgeschlossen. Christus ist die Einlösung aller Versprechen des Alten Testamentes, er ist die Erfüllung der Gnade, deswegen ist darüber hinaus keine Offenbarung oder Prophetie mehr nötig. Genauer gesagt, ist das Ende aller Prophetie für Luther mit dem Pfingstereignis gekommen, mit dem Auftrag an die Apostel, die Botschaft von Christi Tod in die Welt hinaus zu tragen. Indem die Apostel und ihr ›lebendiges Wort‹, das Evangelium, vom Heiligen Geist erfüllt wurden, ist Gottes unmittelbares Wirken auf und für die Welt vollendet. Der Geist Gottes lebt im äußeren Wort des Evangeliums und deswegen ist eine unmittelbare Inspiration weder nötig noch möglich. Melanchthon entwickelt von hier aus seine spiritus-Lehre, die auch poetologisch bedeutsam wird. Sie impliziert gerade keine neue Offenbarung, sondern nur die Übertragung des göttlichen Geistes in den menschlichen Geist durch die Lektüre der Bibel, durch das Hören des Wortes in der Predigt oder durch die erbauliche Dichtung. Wie in den Psalmen bereits prophezeit, enden mit der Offenbarung des Evangeliums alle Zeichen und Wunder. Luther hat deshalb für sich selbst, anders als Savonarola, niemals irgendeine Inspiration, Offenbarung oder prophetische Sendung in Anspruch genommen, sondern sich allein auf seine Exegese der Bibel und sein theologisches Lehramt berufen. Der Geist Gottes ist, vermittelt durch das äußere Wort der Bibel, in Luthers Geist wie in dem Geist jedes anderen Lesers. Letzte Instanz über die Entscheidung von Glaubensfragen ist damit die menschliche Vernunft, die sich in der Exegese der Heiligen Schrift beweisen muß. Niemand hat einen priviligierten Zugang zur heiligen Schrift, weder die Spiritualisten mit ihrer Berufung auf private Offenbarungen, noch der Papst mit seiner Berufung auf die apostolische Tradition. Gegen diese Schrifttheologie Luthers erhob sich von vornherein Widerspruch. Andreas Karlstadt, Thomas Müntzer und Caspar von Schwenckfeld gehören zu den Reformatoren der ersten Generation, die sich, auf unterschiedliche Art, aber alle im Gegensatz zu Luther, auf unmittelbare Offenbarungen beriefen. Ab 1522 reagiert Luther auf diese »Spiritualisten« mit einer Schärfe, die seiner Aburteilung des Papsttums in nichts nachsteht. Der Begriff, dessen er sich dabei mit Vorzug bedient, ist der der »Schwärmerei«. Der Begriff ist abgeleitet vom scheinbar ziellosen Schwärmen der Bienen, das für Luther mit der theologischen Verworrenheit der Spiritualisten ver-

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gleichbar ist. Wer sich vom äußeren Wort der Bibel löst, gerät ins ziel- und grundlose »Schwärmen«. Für die Geschichte des Spiritualismus wesentlich bedeutungsvoller ist die Tatsache, daß 1531 Melanchthon zur Kennzeichnung dieser Gruppe den Begriff der »Enthusiasten« wählt. Er übernimmt diesen Begriff allerdings nicht von Platon, sondern von den Kirchenvätern. Diese hatten ihn bereits als Ketzerbezeichnung für Sektierer und Propheten, die sich auf private Offenbarungen beriefen, verwendet. Mit Luthers »Schmalkaldischen Artikeln« (1537) wird der Begriff als Ketzerbezeichnung auch im Deutschen zum Allgemeingut. Luther erweiterte den Begriffsumfang erheblich, indem er ihn auch auf die Katholiken ausdehnte. Alle, die sich auf Wahrheiten beriefen, die nicht aus der Schrift begründet werden konnten, verfielen dem Verdikt des Enthusiasmus.

Spiritualistische Frömmigkeit des 17. Jahrhunderts Die Geschichte dieses Enthusiasmus ist deshalb weitestgehend mit der Geschichte der protestantischen Theologie identisch. Von den frühen Radikalreformatoren Andreas Karlstadt, Thomas Müntzer und Caspar von Schwenckfeld, über Sebastian Franck und die in sich wiederum höchst divergente Gruppe der »Wiedertäufer« bis hin zu Valentin Weigel, Jacob Böhme und Johann Arndt durchzieht das 16. Jahrhundert ein breiter Strom des Spiritualismus, der die lutherische Theologie immer wieder zur Auseinandersetzung zwingt. Gegen Ende des Jahrhunderts tritt neben diese im engeren Sinne theologische Opposition eine medizinisch-naturphilosophische, die sich auf die Schriften des Paracelsus und die dort vertretene Lehre vom »Licht der Natur« beruft und damit ebenfalls von vor- und überrationalen Offenbarungen ausgeht. Dieser Paracelsismus verschmilzt am Ende des 16. Jahrhunderts mit dem theologischen Spiritualismus zu einem Konglomerat, das seinen wirkungsmächtigsten Ausdruck in Johann Arndts »Vier Büchern vom wahren Christentum« (1605 ff.) findet, dem meist gedruckten Erbauungsbuch der Frühen Neuzeit. Das erste Buch behandelt die Offenbarung Gottes in der Heiligen Schrift, das zweite die Offenbarung »in dem lebendigen Buch oder lebendigen Exempel« Christi, das dritte die Offenbarung im Menschen selbst, in seinem »Herzen« und »Gewissen«, das vierte die Offenbarung in der Natur. Schon dieser Grundgedanke einer vierfachen Offenbarung steht

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zumindest in einem bedingten Widerspruch zum lutherischen Prinzip des sola scriptura. Wo Luther das »innere Wort« an die Vermittlung des »äußeren«, mithin an Bibellektüre und Predigt gebunden hatte, da ist bei Arndt nur noch von einem »Einsprechen des heiligen Geistes« die Rede. Die Vermittlung des »inneren Wortes« wird weniger über den Verstand und die exegetische Arbeit am Text legitimiert, als durch »Gelassenheit« und Aufgabe des eigenen Willens. Die Vermittlung des »inneren Wortes« kann nicht durch die Vernunft erzwungen werden. Die Berufung auf das »innere Wort« war deshalb mit einer scharfen Ablehnung der akademischen Theologie verbunden. Das »Herz«, in das sich der Geist Gottes ergießt, tritt in Gegensatz zur Vernunft, die sich das »äußere Wort« vermittels philologischer und exegetischer Anstrengungen aneignet. An die Stelle des theologischen Lehrbuchs und der gelehrten Auseinandersetzung tritt die Erbauungsliteratur. Hier wird, mehr als hundert Jahre vor der »Empfindsamkeit« und der Entstehung der »Lyrik« als einer Sprache des Herzens, die »Innerlichkeit« des Dichters eingeübt. Mit Arndts Theologie setzt sich im 17. Jahrhundert zunehmend eine spiritualistisch beeinflußte Theologie durch, die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in den entstehenden Pietismus mündet. Dieser Vorgang ist von beständigen theologischen Kontroversen geprägt, in denen der Begriff des Enthusiasmus und die Annahme göttlicher Offenbarungen eine zentrale Rolle spielen. Entscheidend ist dabei, daß Arndt und mehr noch sein wichtigster Schüler, Johann Gerhard, diesen Spiritualismus in das Luthertum integrieren und damit dieses Luthertum in seinem Kern verändern. Das Luthertum wird zunehmend spiritualisiert. Die Schrifttheologie Luthers verwandelt sich in eine Frömmigkeit, die als gelebter Glaube (»praxis pietatis«) in Gegensatz zur akademischen Theologie tritt. Luthers Bindung des »inneren Wortes« an die Vermittlung des »äußeren«, an Bibellektüre und Predigt, lockert sich zugunsten eines »Einsprechens« Gottes, das nicht durch äußere Verrichtungen erzwungen werden kann. Mehrfach muß Arndt sich gegen den Vorwurf der »Enthusiasterey« verteidigen. 1620 stellt er in seiner »Repetitio apologetica« die wahre Theologie als »Himmlische Göttliche Weißheit vnd erleuchtigung/ durch den heiligen Geist vnd Wort Gottes« gegen die Theologie als »Menschli-

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che wortkunst«.1 Gott offenbart sich nicht dem akademisch gebildeten Theologen, der die Bibel kennt, sondern dem, der ihn liebt: Der HERR spricht wer mich lieb hat/ dem wil ich mich offenbahren. Hie ist die Schule der Himlischen Weißheit gezeiget/ wo sol die Offenbahrung geschehen? Ohne zweiffel im Hertzen/ wodurch? Durch die Liebe Christi: Was sol denn die Offenbahrung seyn? Göttliche Weißheit vnd Erkenntniß.2

Der protestantische Theologe Arndt beruft sich dabei sogar auf Ovid (»Fasti« 6.5), um die Legitimität der göttlichen Inspiration zu beglaubigen: Ist schande vnd zubeklagen/ das ein Mensch/ ich geschweige ein Christ/ solche tröstliche Lehr anfeinden/ lestern vnd verketzern sol/ da es doch die Heyden besser verstanden vnd gesagt: Est Deus in nobis, agitante calescimus illo. Item: An dubium est habitare Deum sub pectore nostro? Das ist: Gott ist in vns/ durch jhn werden wir entzündet/ Ist es bey dir noch im zweiffel daß Gott in vnserm Hertzen wohnet?3

Insbesondere über die zahlreichen Schüler Gerhards verbreitet sich die Frömmigkeitsbewegung innerhalb der lutherischen Kirche. Neben der Erbauungsliteratur ist es vor allem die Dichtung, die durch das neue Frömmigkeitsideal geprägt wird. Die religiöse Lyrik und Kirchenlieddichtung, von Andreas Gryphius über Johann Rist, Catharina Regina von Greiffenberg, Johann Heermann und Martin Rinckart bis hin zu Paul Gerhardt ist in die Schule Arndts gegangen. Das »innere Wort« bedient sich bevorzugt poetischer und bildlicher Formen, weil es nicht den Verstand, sondern das Herz und die in ihm lokalisierten Gefühle anspricht. Dieser Prozeß hatte sich schon bei Arndt selbst in der ›poetischen‹, bildlichen Sprache des »Wahren Christentums«, seinen zahlreichen Gleichnissen und Metaphern, aber auch in den emblematischen Illustrationen angekündigt. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts mündet das Arndtsche Frömmigkeitsideal in den Pietismus. 1675 erscheint mit Philipp Jacob Speners »Pia desideria« dessen Programmschrift. Grundgedanke ist, wie bei Arndt, die Reform der Kirche von innen heraus, aus der gelebten Frömmigkeit. »Hertzliches Verlangen/ Nach Gottgefälliger besserung der wahren Evangelischen Kirchen« heißen die »Pia desideria« im Untertitel. Beklagt wird die Überfremdung der Theologie durch aristotelische Philosophie und scholastische Subtilitäten. An die Stelle einer bloß äußerlichen Moralität solle die »geistreiche Kraft und höchste Einfalt« des wahren Christentums treten. Entscheidendes Merkmal des Pietismus ist damit _____________ 1 2 3

Johann Arndt: Repetitio apologetica. Das ist: Widerholung vnd Verantwortung der Lehre vom wahren Christenthumb [...]. Magdeburg 1620, I.36, S. 48. Vgl. auch dort S. 49 f. Arndt: Repetitio apologetica III.1, S. 87 f. Arndt: Repetitio apologetica II, S. 69.

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von vornherein das Streben nach einer Erfahrung des Geistes, mithin einem »Enthusiasmus«. Wie sich im 16. Jahrhundert die Spiritualisten von der lutherischen Kirche abspalteten, so ergeht es im 17. Jahrhundert den spiritualistischen Reformatoren und Pietisten selbst. Von Anfang an haben sie mit radikalen Einzelgängern und Gruppen zu kämpfen, die sich auf private Offenbarungen und ihre prophetische Sendung berufen und zumeist von einem stark endzeitlichen Bewußtsein geprägt sind. Spener hatte schon 1676 mit Gerüchten zu kämpfen, daß in seinen Collegia pietatis »weissagende Mägde« aufträten. Um 1690 kommt es zum massiven Auftreten solcher Mägde und Propheten, die durch das Reich ziehen und den Anbruch der Endzeit predigen. Im Gegensatz zum kirchlichen Pietismus, der sich innerhalb der lutherischen Kirche behauptet, ist der Separatismus bei diesen inspirierten Einzelgängern und Gruppen wiederum notwendige Begleiterscheinung ihres Bewußtseins einer göttlichen Inspiration. Um 1715 kommt es zur Bildung der sogenannten Inspirationsgemeinden, in denen sich ganze Gemeindestrukturen um das prophetische Wirken einzelner formieren. Als »Werkzeuge« Gottes leiten sie die Gemeinde durch ihre in der Ekstase empfangenen Prophezeiungen. Inhaltlich waren diese »Aussprachen« von Bußrufen, Mahnungen, Ankündigung göttlicher Strafgerichte, Zurechtweisungen, Geißelung von sündigem Verhalten einzelner und natürlich der Weissagung zukünftigen Geschehens erfüllt. Sittliche Integrität, »Wahrheit und Rechtschaffenheit des Herzens« gehörten zu den notwendigen Voraussetzungen, um als »Werkzeug« berufen zu werden. Daneben ist es das »innere Wort«, dem sich der Prophet »in kindlicher Demut und Gelassenheit« ergeben muß. Der kirchlichen Polemik gegen diese Inspirierten hatte schon 1699 der Radikalpietist Gottfried Arnold mit seiner »Unpartheyischen Kirchen- und Ketzerhistorie« eine mächtige Apologie gewidmet. In dieser Kirchengeschichte manifestiert sich die wahre Religion nicht mehr innerhalb der Kirche, sondern in der kleinen Gemeinde der wenigen echten, geistbeseelten Christen. Alle institutionalisierten Kirchen sind, von der Konstantinischen Schenkung an, die eigentlichen Sekten, das eigentliche Babel, während die wahre Kirche sich in einer unsichtbaren Kirche des Geistes manifestiert und jeder Institutionalisierung widerstreitet. Die katholische und die protestantische Kirche verfallen als institutionalisierte Kirchen gleichermaßen dem Verdikt der ›Geistlosigkeit‹. Jede Art von dogmatischer Verfestigung und kultischer oder kirchenrechtlicher Verfassung ist für Arnold schon Verrat an der wahren Kirche und Zeichen des Verfalls.

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Der Enthusiasmus wird zum Kennzeichen des wahren Christen: »Das ganze Leben eines Christen ist in dem Wort Enthusiasmus enthalten. Vor welchen die verkehrten Lutheraner aus Haß wider die wahre und lebendige Gottes-Gelahrtheit so einen abscheu haben.«4 Die »praxis pietatis«, die gelebte Frömmigkeit ist das Wesen des Glaubens geworden, während die rationalistische Theologie ein zunehmend akademisches Schattendasein führt. Zum eigentlichen Gegner der spiritualistischen Theologie und des Pietismus wird der Rationalismus der "Aufklärung".

Die Inspiration des Dichters Die damit rudimentär skizzierte Geschichte der spiritualistischen Frömmigkeit und ihrer Durchsetzung bildet das Rückgrat für jede Geschichte der poetischen Inspiration in der Frühen Neuzeit. Für den Begriff der Dichtung ist diese Geschichte insofern von entscheidender Bedeutung, als sie zeigt, daß vom 16. Jahrhundert bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts jede Behauptung einer unmittelbaren göttlichen Inspiration eine theologische Stellungnahme bedeutet hat. Diese Stellungnahme mußte den Dichter keineswegs zum besonders erwählten Sprachrohr Gottes machen. Von zentraler Bedeutung ist die Unterscheidung zwischen einer mittelbaren, über das »äußere Wort« vermittelten, und einer unmittelbaren Offenbarung, die sich nicht am Wort der Schrift messen lassen wollte. Die mittelbare Inspiration am Wort der Bibel gehörte in der ganzen Frühen Neuzeit zum Kernbestand der protestantischen Theologie und war deshalb auch dem Dichter, wie jedem anderen Gläubigen, verfügbar. Der Geist Gottes, der spiritus sanctus war in jedem Gläubigen wirksam. Seine Ausgießung in den Geist des Menschen, den spiritus animalis, vollzog sich mit der Vermittlung des »inneren Wortes«. Von Opitz bis Klopstock können sich die Dichter deshalb, ohne in irgendeiner Form »häretische« Ansprüche zu stellen, darauf berufen, vom Geist Gottes geführt zu werden. Der Dichter ist, wie jeder Gläubige, vom "inneren Wort" der Bibel "inspiriert", insofern dieses Wort allein seinen Glauben erst erzeugt. Was ihn auszeichnet, ist nicht eine Offenbarung, sondern das Geschick oder die Begabung, mit der er das "innere Wort" in seinen eigenen Dichtungen poetisch (das heißt metrisch, stilistisch und anschaulich) gestaltet. _____________ 4

Gottfried Arnold: Unparteyische Kirchen- und Ketzerhistorie. Frankfurt a. M. 1729. Ndr. Hildesheim 1967. Theil II, Buch 16, cap. 19, S. 691.

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Die starke Zunahme der religiösen Dichtung und die Entstehung der Erbauungsliteratur überhaupt, wie sie sich im 17. Jahrhundert beobachten läßt, hängt ursächlich mit dem Erstarken eines solchen Gestaltungswillens zusammen. In Konflikt mit der Theologie konnte der Dichter nur dort geraten, wo er Anspruch auf eine unmittelbare Offenbarung und damit auf eine Sonderrolle erhob. Dieser Anspruch findet sich unter den Dichtern der Frühen Neuzeit äußerst selten. Paradigmatisch sind deshalb die Ausnahmen von dieser Regel, wie etwa Johannes Scheffler (Angelus Silesius) und Quirinus Kuhlmann. Beide wenden sich aufgrund ihrer enthusiastischen Erfahrungen von der lutherischen Kirche ab. Scheffler beruft sich für seinen »Cherubinischen Wandersmann« (1656) auf göttliche Inspiration, wenn es dort heißt, die »geistreichen Sinn- und Schlußreime« seien »dem Urheber meisten theils ohne Vorbedacht und mühsames Nachsinnen in kurtzer Zeit von dem Ursprung alles guten einig und allein gegeben worden aufzusetzen; also daß er auch das erste Buch in vier Tagen verfertiget hat«.5 Allerdings ist Scheffler zu dem Zeitpunkt, zu dem er diesen Anspruch erhebt, bereits zum katholischen Glauben konvertiert. In seiner Verteidigung dieser Konversion nennt Scheffler die »Geistfeindlichkeit« der protestantischen Kirche und den Vorwurf der »Enthusiasterey«, mit dem er mehrfach zu kämpfen hatte, ausdrücklich als Begründung.6 Mit dem Erstarken des Pietismus hätte er, nur einige Jahrzehnte später, diesen Vorwurf weit weniger fürchten müssen. Während Scheffler mit seinem »Cherubinischen Wandersmann« einen relativ moderaten, noch am »inneren Wort« orientierten Inspirationsanspruch erhebt, markiert Quirinus Kuhlmann das Extrem einer Offenbarung, die sich vom »äußeren Wort« der Bibel fast völlig gelöst hat. Schon früh hatte sich Kuhlmann unter dem Eindruck der »Erleuchtungen«, die er bei der Leküre Jacob Böhmes erfahren hatte, von der protestantischen Kirche abgewandt. 1684 beginnt er, sich mit dem »Kühlpsalter« seine eigene Verkündigung zu schreiben. Diese übertreffe alle bisherigen Offenbarungen soweit, wie die Macht eines absoluten Fürsten die Macht seiner Untertanen.7 Er _____________ 5

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7

Johannes Scheffler: Vorwort zum Cherubinischen Wandersmann. In ders. [Angelus Silesius]: Sämtliche poetische Werke. Hg. u. eingel. v. Hans Ludwig Held. München 1953, Bd. 1, S. 307-314, hier S. 314. Johannes Scheffler: Gründtliche Vrsachen vnd Motiven, warumb er von dem Lutherthumb abgetretten vnd sich zu der Catholischen Kyrchen bekennet hat (1653). In ders. Sämtliche poetische Werke, Bd. 1, S. 233-254, hier bes. S. 240, Punkt XI. Quirinus Kuhlmann: Der Kühlpsalter. Hg. v. Robert L. Beare. Tübingen 1971, Bd. 2, Vorrede zum achten Buch, S. 271 f.

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selbst sei der »Kühlmann«, der »refrigerator«, der mit der »Kühlungszeit« eine »fünfte Monarchie« heraufbringe, die dem Ende der Welt vorhergehe. Abseitig und extrem wird dieses Beispiel Kuhlmanns nur anmuten, isoliert man es als literaturgeschichtliche Erscheinung. In der Religionsgeschichte des späten 17. Jahrhunderts steht Kuhlmann mit seinem messianischen Sendungsbewußtsein dagegen alles andere als allein. Es sei hier nur an Antoinette de Bourignon erinnert, die sich, ähnlich wie später Eva von Buttlar, eine »neue Eva« oder »Braut Christi« nannte und sich zeitweilig als vierte Person der Gottheit verehren ließ. Wenn Kuhlmann etwas auszeichnet, so ist es die Tatsache, daß sich sein messianisches Bewußtsein noch in poetischen Formen äußert. Im allgemeinen gilt dagegen die Regel, daß sich die Inspirierten des 17. Jahrhunderts nicht mehr in Versen äußern. Anders als noch für Ficino ist nicht mehr die metrische und stilistische Vollkommenheit der poetischen Rede ein Merkmal ihrer göttlichen Herkunft, sondern gerade das unzusammenhängende Stammeln des Ekstatikers.

Problemkonstellation in der Zeit des Pietismus Weitaus bedeutsamer ist eine zweites Verschiebung, die sich mit der zunehmenden Etablierung des Spiritualismus vollzieht. Das Erstarken der spiritualistischen Frömmigkeit führt gerade nicht zu einer größeren Toleranz gegenüber der Dichtung, sondern ganz im Gegenteil tritt die fundamentalistische Moral des Pietismus in einen scharfen Gegensatz zur Dichtung. Wenn überhaupt, ist der Pietismus der Dichtung nur als spiritueller, geistlicher Dichtung gewogen. Im allgemeinen jedoch lehnt der Spiritualismus jede Form poetischer Äußerung als weltlich und damit teuflisch ab. Auch in diesem Punkt hat Savonarola mit seinem »Apologeticus« der Frühen Neuzeit die Richtung gewiesen. Die Toleranz gegenüber dem »inneren Wort« und dem Einsprechen Gottes, wie sie den Spiritualismus auf der einen Seite auszeichnet, äußert sich auf der anderen Seite in einer aggressiven Intoleranz gegenüber jeder weltlichen Dichtung. Die Zunahme der spiritualistischen Dichtung geht deshalb im Verlauf des 17. und frühen 18. Jahrhunderts mit einer zunehmenden Abgrenzung von geistlicher und weltlicher Dichtung einher. Ein Dichter wie Opitz konnte beides noch in seinem Werk vereinen. Geistliche und weltliche Dichtung stehen dort nebeneinander, Paraphrasen der Psalmen neben Trink- und Liebesliedern. Allerdings wird Opitz

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von Comenius, einem stark spiritualistisch beeinflußten Autor, bereits brieflich gebeten, beides nicht gemeinsam zu veröffentlichen.8 Schon eine Generation später wird man bei spiritualistischen Autoren wie Daniel Czepko, Johannes Scheffler oder Catharina Regina von Greiffenberg vergeblich nach Trink- und Liebesliedern suchen. Je stärker sich der Spiritualismus etabliert, desto stärker scheiden sich geistliche und weltliche Dichtung. Anfang des 18. Jahrhunderts steht ein biblisches Epos wie die »Uranias« (1720) des Radikalpietisten Johann Wilhelm Petersen unversöhnt neben dem galanten Roman, der seine Weltlichkeit demonstrativ zur Schau trägt. Das Luthertum des 16. Jahrhunderts hatte gegenüber weltlichen Vergnügungen (wie Tanz, Gesang oder Schauspiel) eine liberale Haltung vertreten.9 Mit dem Schultheater hatte der Protestantismus dem Theaterspiel innerhalb der schulischen Lehrpläne sogar eine wichtige Funktion zugewiesen und eine eigene Gattung begründet. Mit der zunehmenden Spiritualisierung des Glaubens im 17. Jahrhundert und seiner Identifikation als »gelebter Frömmigkeit«, die dann in die Entstehung des Pietismus mündet, ändert sich die theologische Einstellung gegenüber diesen Vergnügungen grundlegend. Im Gegensatz zum Luthertum des 16. Jahrhunderts bestreitet der Pietismus die Existenz von "Mitteldingen" (Adiaphora), die für sich genommen weder gut noch böse sind, und erklärt alle weltlichen Vergnügungen für schädlich. Wer sich solchen Vergnügungen hingibt, setze sein Seelenheil aufs Spiel. Insbesondere das Theater und mehr noch die Oper werden zum Gegenstand heftig geführter Auseinandersetzungen. Die lutherische Tradition des Schultheaters bricht unter dem Druck zusammen. Wenn einige Jahrzehnte später mit Gottsched ein professionelles Theater entsteht, ist dieses nicht mehr in einen schulischen Kontext eingebettet. Noch stärker als das Theater ist der Roman betroffen, der als Fiktion und Lüge und allzu oft allein der Unterhaltung dienender Zeitvertreib den schärfsten theologischen Anfeindungen ausgesetzt war. Die gegen Ende des 17. Jahrhunderts immer stärker werdende Polemik gegen den Roman ist ausschließlich theologisch, oder genauer spiritualistisch motiviert. Wenn im ersten Teil dieser Arbeit gezeigt wurde, mit welchen Schwierigkeiten die theoretische Legitimierung der Fiktionalität zu kämpfen hatte, so ist dies nur die Rückseite der theologischen Entwicklung als einer zunehmend stärker werdenden Spiritualisierung des Glaubens. _____________ 8 9

Johann Amos Comenius: Brief an Martin Opitz. In ders.: Das Labyrinth der Welt und andere Schriften. Leipzig 1984, S. 189. Grundlegend zur Adiaphora-Theorie ist Sdzuj: Adiaphorie.

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Wenn Friedrich Rappolt, der nach seiner Poetik-Professur eine Professur der Theologie übernahm, seine »Poetica aristotelica« zeit seines Lebens nicht veröffentlicht hat, mag dies bereits auf spiritualistischen Druck zurückzuführen sein. In der Person Rotths schließlich werden die Interferenzen von Theologie und Poetik manifest, denn Rotth ist nicht nur Verfasser einer Poetik, die noch einmal den Versuch macht, die Dichtung über die Wahrheit zu legitimieren, sondern er ist auch einer der wichtigsten Gegner der Pietisten im zweiten adiaphoristischen Streit. Der akademische Aristotelismus und seine Vernunfttheologie ist das Feindbild, gegen das sich die pietistische Reform des Glaubens als praktizierte Frömmigkeit des Herzens richtet. Selbst wenn die »Poetik« des Aristoteles in dieser theologischen Diskussion keine Rolle spielt, war sie als Berufungsinstanz eine denkbar schlechte Adresse. Allein die Tatsache, daß die aristotelische »Poetik« das Drama zum Paradigma der Dichtung erhebt und die Gattung der Lyrik nicht kennt, ja einer Dichtung ohne Handlung sogar abspricht, überhaupt Dichtung zu sein, mußte sie für den Pietismus als eine Anleitung zu weltlichen Vergnügungen erscheinen lassen, mithin in die Nähe des Bösen rücken. Die einzige Gattung, mit der Spiritualismus und Pietismus verhältnismäßig wenige Probleme haben, ist die geistliche Musik und mit ihr die gesungene Dichtung, die sich auf das Vorbild der Psalmen berufen konnte. Mit Christian Kortholt ist es gerade ein Sympathisant des Pietismus,10 der sich mit seiner »Disquisitio de enthusiasmo poetico« (1696) um eine Rehabilitation des poetischen Enthusiasmus bemüht. Das merkwürdige Schwanken seines Lehrers Morhof in dessen Begründung des Enthusiasmus dürfte auf ähnliche Sympathien für den Spiritualismus zurückgehen, wie es ja auch seine Ableitung des Göttlichen in den Disziplinen suggeriert. Thomasius' Polemik gegen Morhof ist vor diesem Hintergrund zu bewerten. Es ist sicherlich nicht übertrieben, zu behaupten, daß es in der poetologischen Diskussion um 1700 kein Argument gibt, das nicht innerhalb dieses theologischen Kontextes zu verorten wäre. Der rein technische Zugriff in der Poetik Christian Weises, der jede theologische Dimension völlig ausspart, präfiguriert den Zugriff Gottscheds, bei dem die Zurückweisung theologischer – und das heißt jetzt: spiritualistischer – Ansprüche aggressive Züge annimmt. Schon in der Tatsache, daß beide Autoren sich als Dramatiker, Weise sogar als Romancier betätigen, manifestiert sich ihre anti-spiritualistische Ausrichtung. Wenn Gottsched sich über den Enthusi_____________ 10

Vgl. Manfred Jakubowski-Tiessen: Der Pietismus in Dänemark und Schleswig-Holstein. In: Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert. Hg. v. Martin Brecht und Klaus Deppermann. Göttingen 1995, S. 446-471, hier S. 456 f.

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asmus lustig macht, ist das – auch – eine theologische Positionierung gegen den Pietismus. Die neue Gattung der »Lyrik« als Ausdruck eines enthusiastisch erregten Dichters entsteht im Kontext und in der Auseinandersetzung zwischen Pietismus und Rationalismus. Pyra und Lange, die beiden wichtigsten Theoretiker und Praktiker der Ode vor Klopstock, gehören beide dem Umfeld des Halleschen Pietismus an, auch wenn sie ihrerseits in Konflikt mit den radikaleren Kreisen geraten. Baumgarten, der mit seiner Theorie einer »Hebung des Seelengrundes« die entstehende Gattung der Lyrik anthropologisch fundiert, markiert die Auseinandersetzung zwischen Pietismus und Rationalismus in seiner eigenen Person. Wenn in seiner »Aesthetica« Drama und Roman eine so marginale Rolle spielen, ist dies sicherlich kein Zufall.

Die Naturalisierung des Enthusiasmus Die Geschichte des Enthusiasmus wäre jedoh unvollständig ohne das wichtige Element der medizinischen, physiologischen Theorie des Enthusiasmus als einer Entrückung des spiritus animalis. Schon Pomponazzi hatte am Ende des 15. Jahrhunderts, ausgehend von dem (pseudo-) aristotelischen »Problem 30.1«, Ficinos neuplatonischer Enthusiasmus-Theorie eine naturalistische Deutung entgegengehalten. Der Enthusiasmus war dem zufolge keine göttliche Entrückung, sondern Folge einer physiologisch bedingten, besonderen Begabung, die auf ein melancholisches Temperament zurückging. Indem gerade dieses Temperament besonders feine und leicht bewegliche »Lebensgeister« (spiritus animalis) hervorbringt, gilt der Melancholiker als besonders »scharfsinnig« und phantasiebegabt. Auf der anderen Seite erklärt das »Problem 30.1« den Melancholiker als besonders gefährdet, indem es dasselbe melancholische Temperament ist, das ihn für geistige Erkrankungen anfällig macht. Die Nähe von Genie und Wahnsinn ist im »Problem 30.1« präfiguriert. Den theologischen Grundannahmen der Reformatoren und ihrer wachsenden Ablehnung der »Enthusiasten« mußte diese physiologische Deutung des Enthusiasmus entgegenkommen. Mit ihrer Übernahme eröffnet Melanchthon der protestantischen Polemik die Möglichkeit, die spiritualistischen Abweichler als Verrückte zu behandeln. Wer Stimmen hört, ist nicht inspiriert, sondern verrückt. Der Rationalismus der lutherischen Theologie findet seine Ergänzung in der physiologischen Erklärung der Entrückung. Damit sind die Weichen bis ins 18. Jahrhundert gestellt.

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Die anti-enthusiastische Polemik bedient sich der physiologischen Theorie der Melancholie, um die Spiritualisten zu pathologisieren. Die Spiritualisten beharren dem gegenüber auf der Unmittelbarkeit der göttlichen Inspiration. Die Auseinandersetzung zwischen Thomasius und Morhof wiederholt um 1700 Argumente, die in ähnlicher Form seit Melanchthons Auseinandersetzung mit den Spiritualisten in der Diskussion gegenwärtig waren. Thomasius und die "Aufklärung" stehen dabei in der Tradition der lutherischen Theologie. Wenn Mitte des 18. Jahrhunderts der Enthusiasmus in der Theorie des Genies seine Wiederauferstehung feiert, so tut er dies nicht als göttliche Entrückung, sondern als physiologisches Temperament, als ›Natur‹. Mit der unmittelbaren Äußerung dieser Natur im Genie des Dichters ist die Vernunft ausdrücklich ihrer Kontrolle enthoben. Man kann die zunehmende Einschränkung unmittelbarer göttlicher Eingriffe, wie sie das 16. und 17. Jahrhundert kennzeichnen, deshalb nicht als zunehmende Rationalisierung oder gar Säkularisierung deuten, denn diese Entwicklung läuft genau auf das Gegenteil zu. Das Göttliche wird in der Mitte des 18. Jahrhunderts mit der Natur durch eine Kategorie ersetzt, deren irrationales Potential nicht geringer ist. Ganz im Gegenteil: Mit dem Begriff des Genies und der Natur kommt eine Dichtungsauffassung zum Tragen, die in ihrem grundsätzlichen Irrationalismus die gesamte Frühe Neuzeit als eine Epoche des Rationalismus erscheinen läßt. Die Deutung des Wesens der Dichtung als Wahrheitsähnlichkeit und Gleichnishaftigkeit, wie sie das 16. und 17. Jahrhundert beherrscht und im ersten Teil dieser Arbeit demonstriert wurde, ist als Konsequenz der skizzierten theologischen Diskussion zu verstehen. Die Rückführung der Dichtung auf eine Tätigkeit der Vernunft mit didaktischer Absicht ist die Folge eines theologischen Rationalismus, der eine göttliche Inspiration des Dichters grundsätzlich ausschloß. Indem der zweite Teil der Arbeit die Geschichte dieser Inspirationstheorie nachzeichnet, verhält er sich komplementär zu ihrem ersten Teil.

Zweiter Teil: Enthusiasmus

Göttliche Entrückung oder natürliche Begabung Der neuplatonische Begriff der Dichtung Ficinos Theorie des furor poeticus In einem Brief mit dem Titel »Welche Art von Wahnsinn die Dichter erfassen muß« (Qualem furorem poetis adesse oporteat) entwickelt Leonardo Bruni die Theorie des furor poeticus nach Platons »Phädrus«, den er 1424 auch übersetzt hatte. Zwei Arten des Wahnsinns gebe es, eine gewöhnliche, die auf eine Krankheit des Körpers, und eine andere, die auf eine »göttliche Entrückung des Geistes« (divina mentis alienatio) zurückgehe. Diese zweite Art habe vier Formen: den prophetischen furor, von Apollon verursacht; den rituellen, von Dionysos verursacht; den dichterischen, von den Musen verursacht; und den Wahnsinn der Liebe, von Venus verursacht. Wie die echte Prophetie von der bloß mehr oder weniger geschickten Zukunftsvorhersage zu unterscheiden sei, so auch der echte Dichter vom bloßem Verseschmied. Die Verse allein, das »Handwerk gesunder Menschen« (sanorum hominum artificium) sei gar nichts, erst der »göttliche Anhauch« (afflatu quodam divino, nach Cicero, »Rede für Archias« 8.18), der »Wahnsinn« zeuge die wahre Dichtung.1 Deswegen würden die Dichter auch ›Seher‹ (vates) genannt. Eitel sei die Hoffnung, heißt es mit einem Zitat aus dem »Phädrus«, ohne den Wahnsinn der Musen an die Pforten der Dichtung zu gelangen und gleichsam nur durch Kunstfertigkeit (ars) zu einem guten Dichter werden zu wollen. Die aus bloß menschlicher Klugheit entstandene Dichtung werde zunichte vor jener, die aus dem furor entstanden sei.2 In seiner »Vita di Dante« (1436), unterscheidet Bruni im selben Sinne zwischen zwei Arten von Dichtern. Die eine Art werde aus innerer Anziehung und _____________ 1 2

Bruni: Qualem furorem poetis adesse oporteat. In ders.: Epistolarum libri Bd. 2, S. 36-40, hier S. 38. Zu Bruni vgl. Buck: Dichtungslehren S. 72-77 und Leuker: Dichtungslehren. Bruni: Epistolarum libri S. 39.

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aus einer Entrückung des Geistes zu Dichtern, die andere durch Ausbildung, technische Fertigkeiten und Klugheit.3 Während Orpheus und Hesiod zur ersten Sorte gehörten, sei Dante ein Beispiel für die zweite. Knapp zwanzig Jahre später, 1457, schreibt Marsilio Ficino seinen »De divino furore« betitelten Brief an Peregrino Agli, einen jungen Dichter, der ihm einige seiner Werke geschickt hatte.4 Ficino bewundert diese Werke so sehr, daß er sie sich »nicht auf Weise der Kunst und durch intellektuelle Anstrengung« (non arti modo ac studio) entstanden denken kann, sondern nur als offensichtliche Zeichen einer göttlichen Besessenheit (furor divinus), eines ›enthousiasmos‹, wie der griechische Begriff lautet, einer Inspiration durch göttlichen Anhauch. Diese göttliche Besessenheit Aglis nimmt Ficino zum Anlaß, die Theorie des furor poeticus selbst aus ihren platonischen Quellen zu entwickeln. Bevor die Seelen durch ihre weltlichen Bedürfnisse in das Gefängnis des Körpers hinabgezwungen wurden, befanden sie sich, laut der auf Hermes Trismegistus zurückgehenden, zu Platon hinführenden Tradition, bei Gott als dem höchsten Licht und dem Ursprung aller Dinge. Dort betrachteten sie in größter Klarheit, im reinen Licht – das heißt nicht mit den körperlichen Sinnen, sondern mit den Augen des Geistes – die Ideen selbst: Gerechtigkeit, Weisheit, Harmonie und die wunderbare Schönheit des göttlichen Wesens. Solange sich die Seelen bei Gott aufhielten, hatten sie das vollkommene Wissen. Je tiefer sie jedoch abstiegen, desto mehr werden sie dem Vergessen überantwortet. Sind die Seelen in der materiellen Welt angekommen, sind sie dem bloßen Schein ausgeliefert und von jedem göttlichen Wissen abgeschnitten. Nur die allerwenigsten Seelen können auf diesem Abstieg ein Bild der Ideen zurückhalten oder den schwachen Reflex der Ideen in ihren materiellen Verzerrungen wahrnehmen. Diese Seelen würden jedoch von der Liebe zu Gott erfüllt und durch sie wieder zu Gott hinaufgezogen. Dazu müssen sie sich von den Fesseln, die sie an die irdische Welt ketten, den _____________ 3 4

Bruni: Le vite di Dante e di Petrarca. In ders.: Schriften S. 50-69, hier S. 59 f. Ficino: De divino furore. In ders.: Lettere I S. 19-28. Eine englische Übersetzung des Briefes findet sich in Ficino: Letters Bd. 1, Nr. 7, S. 42-48. Eine weitere Edition des Textes mit begleitender Studie findet sich in Zintzen: Inspiration. Zur Person Aglis vgl. Kristeller: Supplementum Bd. 2 S. 322 f. Der Brief ist in ungewöhnlich vielen Abschriften erhalten, vgl. die Angaben bei Kristeller: Iter Bd. 1, ad ind. Im Inhaltsverzeichnis der Basler Ausgabe der Opera wird dieser Brief als einer der wenigen eigens aufgelistet. Zu Ficinos Brief an Agli im besonderen und seiner furor-Theorie im allgmeinen vgl. Allen: Icastes; Allen: Platonism S. 4167; Brann: Origin S. 82-107; Chastel: Ficin S. 129-135; Gentile: In margine; Greenfield: Poetics S. 230-236; Margolin: Notion; Oehlig: Begründung S. 51-83; Sheppard: Influence; Steppich: Numine S. 146-214; Tomlinson: Music S. 170-183. Grundsätzlich zum Platonismus der Renaissance vgl. Hankins: Plato. Dort Bd. 2, S. 483-485 zur Datierung der platonischen Schriften Ficinos.

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Sinnen, freimachen. Die Schwierigkeit des Aufstiegs besteht gerade darin, daß die Sinne als Instrument der Täuschung und Einkerkerung zum Instrument des Aufstiegs und der Befreiung werden. Nach Ficino ist dies auf zwei Arten möglich. Entweder die Seelen entdecken durch die Augen in der Zusammenstellung der Glieder und Teile eines Körpers, seiner Symmetrie und Anmut, das Abbild der göttlichen Schönheit wieder. Oder sie finden durch das Gehör in der Harmonie, die durch menschliche Musik erzeugt wird, das Abbild der göttlichen Harmonie. Der erste Weg ist der Weg der göttlichen Liebe (amor divinus). Sie ist das genaue Gegenteil zu jenem irdischen Begehren, das sich ausschließlich auf die körperliche Schönheit richtet. Wo dieses irdische Begehren seine Erfüllung gerade in der Sinnlichkeit findet, erhebt der amor divinus als »göttliche Entfremdung und Besessenheit« (divina alienatio furorque) denjenigen, den er ergriffen hat, über die materielle Welt und deren Bedürfnisse hinaus zum alleinigen Wunsch nach der Betrachtung göttlicher Schönheit. Analog führt der Weg über die irdische Musik, in deren Harmonie die Seelen das Echo der göttlichen Harmonie wiederfinden, um sich dann über dieses Echo zur »tiefsten und schweigenden«, also nicht mehr sinnlich wahrnehmbaren, »Wiedererinnerung« (intima ac tacita recordatio) dieser Harmonie selbst aufzuschwingen. Ist diese Erinnerung wieder gegenwärtig, entsteht in der Seele gleichzeitig das Bewußtsein ihrer Einkerkerung und der Wunsch nach Befreiung, der wiederum in der Seele, weil sie die göttliche Harmonie selbst nicht mehr genießen kann, den Wunsch der Nachahmung entstehen läßt. Wie bei der Liebe sich aus dem Reflex der göttlichen Schönheit zwei Möglichkeiten der Bedürfnisbefriedigung ergeben, eine materielle und eine geistige, so bieten sich auch hier zwei Möglichkeiten. Eine bloße irdische, bei der »oberflächliche und ganz gewöhnliche Musiker« (leves ac pene vulgares musici) die himmlische Harmonie mittels Stimme und Instrumenten nachahmen, und eine geistige, die nur von den wenigsten erkannt werden könne. Von einem göttlichen Geist angeblasen, brächten diese ihr inneres Wesen und Wissen in die »erhabensten und herrlichsten Lieder« (gravissima ac preclarissima carmina).5 Während die bloß menschliche Musik durch ihre Süßlichkeit schmeichle und ergötze, sei die Dichtung die eigentliche Nachahmung der göttlichen Harmonie, weil sie das tue, was der göttlichen Harmonie eigentümlich ist, nämlich, »vom Feuer ergriffen, im Rhythmus der Laute und _____________ 5

Ficino: Lettere I S. 25.

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Bewegungen die erhabensten und prophetischen Bedeutungen auszudrücken« (vocum ac motuum numeris gravissimos quosdam et [...] Delphicos sensus ardentius exprimit). Deswegen schmeichle diese – gesungene – Dichtung nicht nur den Ohren, sondern wende sich auch an den Geist und nähere sich damit der Göttlichkeit an. In dieser Funktion sei die Dichtung von den Musen inspiriert, wertlos aber alles, was dieser göttlichen Inspiration entbehre. Eitel ist die Hoffnung, schreibt Ficino, durch Kunst oder Technik (ars) ein Dichter werden zu können. Nicht menschliche Fähigkeiten, sondern göttlicher Wahnsinn erzeuge die echte Dichtung, deswegen könnten die Dichter auch oft selbst nicht mehr verstehen, was sie gesungen hätten, wenn der furor sie wieder verlassen hat. Die neun Musen, die die Dichter inspirieren, stehen Ficino zufolge für die Sphären, deren Bewegung die Sphärenharmonie erzeuge. Diese stehe ihrerseits wiederum für Zeus, der von den Platonikern die Weltseele genannt werde, die alles durchdringt, wie es eben die Sphärenharmonie tut. Gott selbst ist damit, wie es auch die »Orphischen Hymnen« zeigen, das belebende Prinzip des Universums, unmittelbar für jede Bewegung verantwortlich, und damit in letzter Instanz auch die Ursache des von den Musen inspirierten furor. Diese Stufen, die die Seele auf ihrem Abstieg in den Körper hinuntersteigen mußte, kann sie durch den furor wieder nach oben steigen, zurück zur Identität mit dem Einen. Erst am Schluß des Briefes kommt Ficino auch noch auf die beiden anderen Arten des furor zurück, die Platon zufolge die Seele auf diesen Weg bringen können. Die »Mysterien« bezögen sich auf die »heftige Erregung der menschlichen Seele«, wie sie durch die verschiedenen Formen von Kulten, Riten, Ritualen und religiösen Zeremonien verursacht werde, also etwa durch rituelle Bewegungen, Prozessionen oder das Verbrennen von Kräutern. Das falsche, bloß menschliche Zerrbild dieses ›rituellen‹ furors ist der vulgäre Aberglaube, der durch irgendwelche Bewegungen, Vermeidungen oder sonstige Machinationen Einfluß zu nehmen suche. Prophetie als vierte Form sei die Form des furor, in der ein göttlicher Geist das Wissen um zukünftige Dinge vermittle. Das Zerrbild dieses vierten furor ist der Versuch, durch bloß menschliche Vermögen zukünftige Ereignisse vorherzusehen, »Mutmaßung« genannt. Diese vier Arten des furor werden abschließend wiederum Venus, den Musen, Dionysos und Apollo zugewiesen.

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Der Aufstieg der Seele In seinem Kommentar zum platonischen »Symposion« (1469) kommt Ficino ein zweites Mal auf den furor zu sprechen.6 Die siebte Rede dreht sich um die Unterscheidung zweier Arten von Liebe, der gemeinen, irdischen, tierischen und sinnlichen auf der einen und der himmlischen, göttlichen und übersinnlichen Liebe auf der anderen Seite. Die erste Form, heißt es im dritten Kapitel, sei im medizinischen Sinn des Wortes keine Form des Wahnsinns, denn Wahnsinn gehe als Ungleichgewicht der Säfte auf Gebrechen des Gehirns zurück, die gewöhnliche sinnliche Liebe (amor vulgaris) jedoch auf eine besondere Anfälligkeit des Herzens. Dieses nämlich (so das vierte Kapitel) sei für die Qualität des Blutes verantwortlich, das Blut aber seinerseits für die Qualität der spiritus, der »Lebensgeister«. Ist das Blut besonders dünn, hell, warm und süß, wie vor allem in der Jugend, sind die spiritus besonders schwer zu bändigen. Da die spiritus durch die Augen weitergegeben werden, könne es auf diese Art zu einer Form der Bezauberung (fascinatio) kommen, eben dem sinnlichen Begehren, das letztendlich dazu führe, daß der von der sinnlichen Liebe befallene Mensch seiner höheren geistigen Vermögen – vor allem der ratio – verlustig gehe und auf die Ebene eines bloß animalischen Wesens, eines Tieres, herabsinke. Dem stehen die vier Arten der göttlichen Liebe gegenüber, auf die Ficino im dreizehnten Kapitel zu sprechen kommt. Wie die sinnliche Liebe den Menschen auf die Stufe des Tieres herabsinken lasse, so könne ihn die göttliche Liebe auf die nächst höhere Stufe des Seins hinaufziehen: Die Begeisterung hingegen, welche Gott uns eingibt, erhebt den Menschen über seine Natur hinaus und verwandelt ihn in Gott. Die göttliche Begeisterung ist eine Erleuchtung der vernünftigen Seele, durch welche Gott die aus der höheren Region zur niederen hinabgesunkene Seele wieder von der niederen zur höheren Region zurückzieht.7

Dieser Wiederaufstieg der anima rationalis muß sich also über dieselben Stufen vollziehen, die sie auf ihrem Abstieg in den Körper zurückgelegt hat. Indem die Ordnung des Seins aus sechs Stufen besteht, nämlich deus, _____________ 6

7

Ich zitiere nach der Edition von Marcel, vgl. Ficino: Commentaire. Die zitierte deutsche Übersetzung stammt von Hasse: Ficino: Über die Liebe. Der Text ist eine zum größten Teil wörtliche Übernahme aus dem Kommentar zum platonischen »Ion«, vgl. Ficino: Opera Bd. 2, f. 1281-1284. Zu diesem Kommentar vgl. Allen: Soul. Ficino: Commentaire S. 257: »Divino autem furore super hominis naturam erigitur et in deum transit. Est autem furor divinus illustratio rationalis anime, per quam deus animam a superis delapsam ad infera, ab inferis ad superna retrahit.« Übersetzung Hasse S. 349.

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mens, ratio, opinio, natura und corpus, vollzieht sich der Abstieg der Seele von Gott bis auf die Stufe der Natur. Jede dieser Stufen wird mit einem bestimmten Zustand der Seele verbunden. Gott ist die in sich ruhende Einheit. Die mens ist der Geist, der der Sphäre der Engel zugeordnet ist und die Ideen in sich begreift. Die ratio ist das spezifisch menschliche Vermögen, das in Begriffen denkt und in Syllogismen fortschreitend Folgerungen ziehen kann. Die opinio ist die Erfassung der körperlichen Welt mittels der Sinne und des Vorstellungsvermögens (imaginatio). Die natura entspricht dem Fortpflanzungs- und Ernährungsvermögen der vegetativen Seele. Das corpus schließlich ist die reine Körperwelt. Die menschliche Seele ist von ihrer ursprünglichen Einheit mit Gott hinabgestiegen bis auf die Stufe der Natur, der sie mit ihrem vegetativen Teil angehört. Der Wiederaufstieg der Seele muß sich über dieselben vier Stufen vollziehen. Im vierzehnten Kapitel identifiziert Ficino diese mit den vier Arten der göttlichen Besessenheit. Die erste Stufe, von der natura zurück zur opinio, vollzieht sich durch den furor poeticus. Warum die dichterische Besessenheit die erste Stufe darstellt, erklärt Ficino mit der Tatsache, daß die Seele sich an erster Stelle wieder aus ihrer Zersplitterung in die Vielheit der körperlichen Welt zu einer Einheit sammeln muß. Die Seele, eingesperrt in die körperliche Welt, zerstreue sich in die Mannigfaltigkeit bloß körperlicher Tätigkeiten, die ihrem vegetativen Erhalt dienen. Ihre höheren Vermögen (ratio, mens) schlummerten und nur die niederen (imaginatio, sensus) seien in Tätigkeit. Aus dieser Zerstreuung in die gerade gegebenen Vorstellungsinhalte könne sich die Seele durch die dichterische Begeisterung befreien, indem sie sich auf die Harmonie der Musik und Dichtung konzentriert, in dieser Konzentration die Einheit ihrer zerstreuten Teile wiederherstellt und derart in der Harmonie der Dichtung ihre eigene innere Einheit wiederfindet. Die Kraft der Dichtung besteht für Ficino also gerade darin, die jeweils sinnlich konkreten Vorstellungsinhalte in harmonischen Einklang zu bringen. Dennoch bleibe die Vielheit als solche in der Seele zurück. Diese Vielheit aufzulösen könne der Seele durch die nächste Stufe der Begeisterung gelingen, den furor mysterialis. Indem die Seele sich auf rituelle Handlungen wie Reinigungen und Opfer konzentriere, gelinge es ihr, sich von den bloß sinnlichen Vorstellungsinhalten auf die nächste Stufe der ratio zu erheben. Erst auf dieser stelle die Seele ihre Einheit her, indem sie die konkreten Einzeldinge im Begriff sammle. In einem dritten Schritt müsse diese Einheit der Seele auf die übergeordnete Einheit des Geistes zurückgeführt werden. Dies geschehe durch

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die prophetische Entrückung, in der die Seele das Zukünftige voraussieht und auf die Stufe der Ideen und Engel gelangt. Von hier aus müsse sie sich in einem letzten Schritt durch die Liebe, den amor divinus, auf die Höhe Gottes erheben und mit diesem verschmelzen. Diesen viergeteilten Aufstieg illustriert Ficino mit dem platonischen Bild des Wagenlenkers. Die menschliche Seele stelle den Wagen dar, der von zwei Pferden gezogen wird, Verstand (ratio) und Meinung (imaginatio). Der Lenker dieses Wagens sei der dem Übersinnlichen zugewandte Geist (mens), der Kopf des Wagenlenkers die Einheit der Seele. Solle sich dieser Wagen bewegen, müsse zuerst das gute Pferd (ratio) das schlechte Pferd (imaginatio, opinio) zu beherrschen lernen (furor poeticus). Dann müsse der Wagenlenker (mens) die Herrschaft über diesen Wagen (die Seele) erlangen (furor mysterialis), der Wagenlenker diesem Wagen die Richtung vorgeben (furor propheticus) und ihn zur Einheit, zum Ursprung des Alls, zurückführen (amor divinus). Dort sei der Wagenlenker selig, indem er seine Rosse an die Krippe der übersinnlichen Schönheit stelle.8

Die rationale Form der inspirierten Dichtung Im vierten Kapitel seines Kommentars zum platonischen »Phädrus« (Druck 1484) hat Ficino ein weiteres Mal »Über den furor poeticus und die übrigen Arten des furor, deren Reihenfolge, Verbindung und Zweck« (De furore poetico ceterisque furoribus et eorum ordine, coniunctione, utilitate) gehandelt.9 Ficino stellt sich dort die Frage, warum Platon den furor poeticus erst an dritter Stelle nenne, nach dem prophetischen und rituellen und vor dem amor divinus. Seine Antwort ist, daß der prophetische furor sich auf das Erkenntnisvermögen (cognitio) beziehe, der rituelle auf die Affekte, der poetische auf das Gehör und der amor auf das Sehvermögen. Zuerst aber erkennen wir Gott (Prophetie) als das Gute, dann verehren wir ihn (Ritus), dann beten wir ihn an (Dichtung) und erst dann empfangen wir den amor divinus, der es uns erlaubt, Gott als das Schöne zu erkennen und zu lieben. Wie Ficino ausdrücklich vermerkt, bezieht sich diese Rei_____________ 8 9

Ficino: Commentaire S. 259. Übersetzung Hasse S. 359. Ficinos Texte zum platonischen »Phädrus« hat Allen gesammelt, neu ediert und ins Englische übersetzt, vgl. Ficino: Charioteer. Das vierte Kapitel dort S. 82-87. Vgl. auch S. 140145. Die genaue Entstehungszeit des »Commentarium in Phedrum« wird in der Forschung unterschiedlich diskutiert, vgl. die Einleitung von Allen S. 15- 21.

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henfolge auf die Entstehung der vier Arten des furor, im Gegensatz zu der im Kommentar zum »Symposion« aufgestellten Reihenfolge, die sich auf den Wiederaufstieg der Seele beziehe. Eine Sonderrolle komme dem furor poeticus insofern zu, als auch die drei anderen Formen des furor sich als poetische äußern könnten, denn von wem auch immer das Göttliche Besitz ergriffen hat, der wird in der Tat auf Grund der Stärke des göttlichen Einflusses und der Fülle der Kraft überschäumen, er ist erregt, übermütig und überschreitet die menschlichen Grenzen und Verhaltensweisen. Deshalb wird diese Besessenheit (occupatio) oder Entzückung (raptus) zurecht ein Wahnsinn (furor) und eine Entrückung (alienatio) genannt. Denn kein Wahnsinniger ist mit einer einfachen Sprache zufrieden, sondern bricht in Geschrei, Gesang und Lieder aus.10

Mit diesem »Geschrei« ist nicht gemeint, daß die inspirierte Dichtung der metrischen und stilistischen Vollkommenheit entbehrt. Ficinos Stufenfolge ist wörtlich zu verstehen. Der furor erfaßt die ratio und hebt diese auf eine höhere Stufe. Als höhere Stufe der ratio ist die Dichtung der Begeisterten und »Verrückten«, was ihren intellektuellen Gehalt und ihre formale Gestaltung betrifft, damit auf einer höheren Stufe als der alltägliche Verstand. Von einer Aufwertung der Phantasie (imaginatio) gegenüber der Vernunft (ratio) kann deshalb keine Rede sein. Im dreizehnten Buch der »Theologia platonica« (1474) zeigt Ficino, daß nicht die unsterbliche Seele dem sterblichen Körper, sondern der Körper der Seele gehorcht.11 Es gehört zur höchstmöglichen Vollkommenheit des Menschen, seinen Körper den Forderungen der ratio zu unterwerfen. Im zweiten Kapitel wählt Ficino die Philosophen, die Dichter, die Priester und die Propheten als Beispiele. Was diese miteinander verbindet, sei ihre Fähigkeit, allein mittels intellektueller Anspannung ihre Seele aus dem Körper lösen zu können. Pythagoras habe zehn, Zarathustra zwanzig Jahre im Verborgenen gelebt, Sokrates eine ganze Nacht lang unbewegt auf einem Platz verharrt. Platon, Xenokrates, Archimedes und Plotin sei allen auf ihre Art das Vermögen zugesprochen worden, ihre Seele von ihrem Körper lösen zu können. In genau demselben Sinne führt Ficino die Tatsache, daß die Dichter im furor ihre Seele vom Körper lösen können, als Beleg für die Überle_____________ 10

11

Ficino: Charioteer S. 85: »Quicunque numine quomodolibet occupatur, profecto propter ipsam impulsus divini vehementiam virtutisque plenitudinem exuberat, concitatur, exultat, finesque et mores humanos excedit. Itaque occupatio hec sive raptus furor quidam et alienatio non iniuria nominatur. Furens autem nullus est simplici sermone contentus, sed in clamorem prorumpit et cantus et carmina.« Vgl. zum folgenden Ficino: Théologie S. 196 ff. Zum Begriff der imaginatio bei Ficino vgl. Garin: Phantasia; Klein: Imagination und Klibansky, Panofsky, Saxl: Saturn S. 486 ff.

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genheit der ratio an. Erst wenn die letzte Stufe der technischen Vollkommenheit erreicht ist, kann sich die Entrückung auf die höhere Stufe der Göttlichkeit ereignen. Orpheus, Homer, Hesiod und Pindar, sowie der nur aus dem »Ion« bekannte Tynnichos von Chalcis sind Ficinos Beispiele. Im Kommentar zum »Symposion« nennt er Sappho, Anakreon und Sokrates.12 Cristoforo Landino gelten Vergil und Dante – zwei Dichter, denen wohl niemand mangelnde formale Gestaltung vorwerfen wird – als göttlich entrückt. Der Zustand der Entrückung, wie ihn der Neuplatonismus behauptet, ist kein Bereich außerhalb der Vernunft und Technik, sondern deren höchste Vollendung. Nicht die vorrationale Phantasie (imaginatio), sondern die ratio wird vom furor ergriffen und vom Körper gelöst, so daß die Werke des entrückten Dichters nicht der Regeln der Poetik als rational angewandter Technik entbehren, sondern diese gerade in ihrem höchsten Grad von Vollendung zum Ausdruck bringen. Indem die phantasia mit der Natur, der Kreatürlichkeit und Sinnlichkeit identifiziert wird, besteht die Erhebung zur Schau der Ideen in einer Trennung und sukzessiven Loslösung von den Eindrücken der Phantasie. Dieser rationalen Strukturiertheit der seelischen Vermögen entspricht, daß Ficino keinen Unterschied zwischen Dichtern und Philosophen macht, sondern die Dichter den Philosophen annähert, indem er die Dichtung zur Philosophie oder »verborgenen Theologie« erklärt. Wenn sich der rationale Gehalt der Dichtung nur durch Allegorese enthüllt, ist dies Ausdruck der Tatsache, daß die verschleierte Sprache der Dichtung, als göttlich inspirierte, die ratio übersteigt, und nicht etwa hinter ihr zurückbleibt, wie es bei bloß menschlichen Äußerungen oft der Fall ist.

Melancholie In seinen »De vita libri tres« (1489) erklärt Ficino, ausgehend von dem aristotelischen »Problem 30.1«, den melancholischen Charakter zur Grundlage jeder außergewöhnlichen Begabung.13 »Manische« oder »enthusiastische« Anfälle, wie es im griechischen Text des »Problem 30.1« heißt, sind insbesondere für prophetische und dichterische Gaben verantwortlich: _____________ 12 13

Ficino: Commentaire S. 260. Übersetzung Hasse S. 359. Das »Problem 30.1« gilt heute als pseudo-aristotelischer Text. Zur Melancholie vgl. Babb: Malady S. 1-72; Brann: Origin; Klibansky, Panofsky und Saxl: Saturn S. 367-394.

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Viele aber werden auch, weil diese Wärme nahe dem Sitz des Verstandes ist, von krankhaften Anfällen der Raserei und der Verzückung ergriffen; so entstehen die Sibyllen, die Wahrsager und alle Gottbegeisterten, soweit sie nicht durch Krankheit, sondern durch ihr physisches Temperament so geworden sind. – Marakos von Syrakus war immer dann ein besserer Dichter, wenn er in Ekstase war.14

»Raserei« und »Verzückung«, mania und enthousiasmos, werden im lateinischen als »furor« wiedergegeben. Aber selbst ohne diese begriffliche Übereinstimmung lag die Parallele zu den vier Arten der platonischen Entrückung nahe. Diese Verbindung zwischen dem melancholischem Temperament geistig überragender Menschen des »Problem 30.1« und dem göttlichen Wahnsinn Platons hat Ficino hergestellt.15 Bis hierher möge es genügen, daß wir erstens aus himmlischen, zweitens aus natürlichen, drittens aus menschlichen Gründen gezeigt haben, warum die Priester der Musen entweder von Anfang an Melancholiker waren oder durch das Studium dazu geworden sind. Dies behauptet auch Aristoteles in den ›Problemata‹, wenn er sagt, daß alle Menschen, die sich in irgendeiner Fähigkeit besonders ausgezeichnet haben, Melancholiker sind. In diesem Punkt bestätigt er die Behauptung Platons in ›De scientia‹, daß ingeniöse Menschen für gewöhnlich die erregbarsten und verrücktesten [furiosos] sind. Auch Demokrit sagt, daß es keine bedeutenden Menschen mit ingenium gibt und jemals geben kann, außer denen, die von einem furor zutiefst erfaßt sind. Dasselbe scheint auch unser Platon im ›Phädrus‹ zu belegen, wenn er sagt, daß man ohne furor vergebens an die Pforten der Dichtung klopft. Auch wenn er hier vielleicht den göttlichen furor meint, so kann ein solcher furor doch nach Meinung der Ärzte nur bei Melancholikern ausgelöst werden.16

Die »himmlische«, astrologische Ursache für die Verbindung von Melancholie und besonderer Begabung besteht in den trockenen und kalten Eigenschaften Saturns, der im Horoskop aller Gelehrten die entscheiden_____________ 14 15

16

Aristoteles: Problemata physica 954a 34 ff., S. 253. Übers. Flashar. Klibansky, Panofsky und Saxl: Saturn S. 373 erkennen in dieser Verbindung Ficinos historisches Verdienst und stellen sie S. 361 f. an den Ursprung des modernen Genie-Begriffs. Dies trifft jedoch nur bedingt zu, denn wenn der Genie-Begriff im 18. Jahrhundert auftaucht, impliziert er gerade keinen unmittelbaren göttlichen Eingriff mehr, sondern wird als angeborene Veranlagung gedeutet. Dies entspricht der Lösung Pomponazzis. Ficino: On Life Kap. 5, S. 116: »Hactenus quam ob causam Musarum sacerdotes melancholici vel sint ab initio vel studio fiant, rationibus primo coelestibus, secundo naturalibus, tertio humanis ostendisse sufficiat. Quod quidem confirmat in libro ›Problematum‹ Aristoteles, omnes enim inquit viros in quavis facultate praestantes melancholicos extitisse. Qua in re Platonicum illud quod in libro ›De scientia‹ scribitur confirmavit, ingeniosos videlicet plurimum concitatos furiososque esse solere. Democritus quoque nullos inquit viros ingenio magnos, praeter illos qui furore quodam perciti sunt, esse unquam posse. Quod quidem Plato noster in ›Phaedro‹ probare videtur, dicens poeticas fores frustra absque furore pulsari. Etsi divinum furorem hic forte intelligi vult, tamen neque furor eiusmodi apud physicos aliis unquam ullis praeterquam melancholicis incitatur.«

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de Rolle spielt. Die »natürliche« Ursache ist die geistige Tätigkeit selbst, die Kontemplation und Konzentration voraussetzt und damit in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis zur schwarzen Galle, der Ursache des melancholischen Charakters, steht. Die »menschliche«, physiologische Ursache schließlich liegt ebenfalls in der geistigen Tätigkeit begründet, diese nämlich trocknet das Gehirn aus und senkt dessen Temperatur, was also wiederum den melancholischen Charakter fördert.17 Zwei Arten von Melancholie müssen unterschieden werden. Die eine ist natürlich und angeboren, die andere entsteht durch Verbrennung. Die durch Verbrennung und Austrocknung des Blutes entstehende Melancholie, die letztlich auf ein Ungleichgewicht zwischen den Säften zugunsten der »gelben Galle« zurückgeht, verursacht den herkömmlichen Wahnsinn, das heißt Geistesschwäche oder Geisteskrankheit, und kann letztlich jedem Menschen zustoßen. Die natürliche Melancholie dagegen, die auf ein angeborenes Übermaß an schwarzer Galle zurückgeht, führt zu einer Verschärfung des Urteilsvermögens (iudicium) und damit zu einer größeren Erkenntnisfähigkeit und Sachkenntnis (sapientia).18 Selbstverständlich sind geborene Melancholiker aufgrund ihrer Konstitution in viel größerer Gefahr als andere Menschen, in den herkömmlichen Wahnsinn zu verfallen. Das Gleichgewicht, auf dem ihre Ingeniosität beruht, ist ein äußerst labiles und muß durch mannigfaltige diätetische Maßnahmen (denen Ficinos eigentliches Interesse gilt) gesichert werden. Die Kette von Ursachen und Wirkungen, die vom Säfteverhältnis zur größeren Geistesschärfe der Melancholiker führt, muß hier nicht nachgezeichnet werden. Im Prinzip beruht diese Kette auf der Tatsache, daß das Säfteverhältnis für die Art des Blutes verantwortlich ist und dieses Blut die spiritus (»Lebensgeister«) produziert und transportiert. Die spiritus wiederum sind wesentlich für das Vorstellungs- und Denkvermögen verantwortlich.19 Die spiritus, die die schwarze Galle des Melancholikers produziert, sind durch höhere Hitze und Druck wesentlich feiner, heißer, schneller und ausdauernder als andere, wodurch auch sämtliche geistige Tätigkeiten schneller und einfacher werden. Dazu kommt der saturnische Einfluß, der auf die spiritus wirkt und den Melancholiker noch weiter anregt und unterstützt. _____________ 17 18 19

Ficino: On Life Kap. 4. Ficino: On Life S. 116: »Sola igitur atra bilis illa quam diximus naturalem ad iudicium nobis sapientiamque conducit, neque tamen semper.« Zur Theorie der spiritus Ficino: On Life III.11 und III.22. Vgl. Klibansky, Panofsky und Saxl: Saturn S. 381 ff.; Steppich: Numine S. 229-249.

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Daraus entstehen einzigartige Philosophen, besonders weil die Seele, derart von den äußeren Bewegungen und ihrem eigenen Körper weggerufen, in die größte Nähe des Göttlichen gebracht und zu einem Instrument des Göttlichen gemacht wird. Deswegen wird sie von oben mit göttlichen Einflüssen und Vorhersagen (oraculis) erfüllt, erfindet beständig Neues und Ungewöhnliches und sagt das Zukünftige voraus.20

Was den Melancholiker auszeichnet, ist die Feinheit und Schärfe seiner spiritus, und was diese Feinheit und Schärfe der spiritus bewirkt, ist eine besondere Disposition für den furor, den Aufstieg in die Sphäre des Göttlichen. Die physiologische Grundlage des melancholischen Temperamentes allein macht niemanden zum Dichter, Propheten oder Philosophen, sondern stellt nur eine besonders günstige Voraussetzung für die Erweckung des furor dar, der seinerseits auf einer bestimmten Qualität der spiritus basiert.

Die Magie der Dichtung Durch die spiritus, die innerhalb des Körpers durch das Blut transportiert werden, ist der Mensch in die allgemeine Harmonie der Weltseele (anima mundi) eingebunden. Der ganze Kosmos, von den Planeten und ihren Sphären bis in den Mikrokosmos des menschlichen Körpers hinein, ist von den spiritus durchwirkt. Wesentlich, aber nicht nur durch die spiritus steht in diesem Kosmos alles miteinander in Verbindung. Den Planeten entsprechen bestimmte psychologische Qualitäten, bestimmte Berufe und Begabungen, bestimmte innere Organe des Menschen, bestimmte Lebensmittel, Tiere, Pflanzen, Metalle, Edelsteine, Farben, geometrische Formen usw., vor allem aber natürlich Tages- und Jahreszeiten, die ihrerseits von der Konstellation der Planeten bestimmt werden. Die astrologische Dimension spielt eine entscheidende Rolle in diesem Modell. Durch die Konstellation der Sterne ist jeder Mensch von Geburt an in die harmonischen und analogischen Verhältnisse des Kosmos eingebunden, denn das humoralpathologisch bestimmte Temperament jedes Menschen, das ihn für bestimmte Dinge prädestiniert, ist astrologisch induziert. _____________ 20

Ficino: On Life S. 120 ff.: »Hinc philosophis singulares evadunt, prasertim cum animus sic ab externis motibus atque corpore proprio sevocatus, et quam proximus divinis et divinorum instrumentum efficiatur. Unde divinis influxibus oraculisque ex alto repletus, nova quaedam inusitataque semper excogitat et futura praedicit.«

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Der Aufstieg der Seele zu Gott im furor poeticus vollzieht sich durch und über die spiritus. Wie das konkret vorzustellen ist, entwickelt Ficino im dritten Buch der »De vita libri tres«, das den Titel trägt, »Wie man sich Leben von den Himmeln erwirbt« (»De vita coelitus comparanda«). Durch die Kenntnis der kosmischen Analogien hat der Mensch die Möglichkeit, Einfluß auf den Erfolg all seiner Bemühungen und Tätigkeiten, Einfluß auf sein organisches und spirituelles Leben zu nehmen, und genau das heißt es, »sich Leben von den Himmeln zu erwerben«. Die spiritus nehmen insofern eine Schlüsselstellung ein, als sie es sind, durch die sich die Kräfte in den Analogien übertragen. Jedem Planeten entspricht eine bestimmte Art der spiritus, und indem man seinen eigenen Körper in Kontakt mit solaren Gegenständen bringt, solare Bewegungen ausführt, solare Speisen zu sich nimmt, und dies besonders zu solaren Tageszeiten tut, kann man solare spiritus in seinen Körper herabziehen, seinen Körper mit diesen anfüllen und sich dadurch wiederum selbst die solaren Kräfte zu eigen machen. Auf diese Art sind die spiritus das Medium der Analogien. Darauf basiert etwa die Wirkung von Medikamenten. Man nimmt genau das als Medikament zu sich, was, im Sinne der Analogie, das kranke Organ stärkt, oder, im Sinne der Opposition, der Erkrankung entgegengesetzt ist. Das Einsalben mit den jeweiligen Elementen und ihr Verbrennen als Räucherwerk sind zwei weitere Möglichkeiten, die Ficino erwähnt, das Verfertigen und Betrachten von Talismanen, die das Bild des jeweiligen Elements tragen und dadurch dessen Macht herbeirufen, eine dritte. Im einundzwanzigsten Kapitel nennt Ficino als weitere Mittel, um sich über sieben Stufen den Himmeln anzunähern, »die Kraft der Worte und des Gesanges« (De virtute verborum atque cantus ad beneficium coeleste captandum, ac de septem gradibus perducentibus ad coelestia). Die sieben Stufen entsprechen den sieben Planeten, wobei wiederum jeder Planet einer bestimmten Stufe auf dem Weg von der Materie zum Geist entspricht. Die unterste Sphäre ist die des Mondes, dem die Steine und Metalle entsprechen; die zweite ist die Sphäre Merkurs, dem Pflanzen, Früchte und Tiere entsprechen; der dritten Sphäre der Venus entsprechen Puder, Dämpfe, Gerüche und Salben, der vierten, apollinischen Sphäre Worte, Lieder, Klänge und Musik; der fünften Sphäre des Mars sind die Affektionen der imaginatio zugeordnet, also Vorstellungen und Gefühle; der sechsten Stufe des Jupiter die ratio mit dem diskursiven, schlußfolgernden Denken und der siebten Stufe Saturns schließlich die mens, die Intelligenz, der fast mit dem Göttlichen verschmolzene Geist.

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Auf jeder dieser Stufen kann der Mensch sich den Sphären anpassen. Er kann sich auf die Harmonie des Kosmos »einstimmen«, seine spiritus in Gleichklang mit diesen bringen und dadurch Einfluß auf sein eigenes Leben nehmen, denn es ist die Bewegung der sieben Himmel, die für jedes Geschehen und jede konkrete Lebensform verantwortlich ist.21 Die sieben Wege, in denen sich die Seele auf die Himmel einstimmen kann, beschreibt Ficino am Anfang des zweiundzwanzigsten Kapitels. Auf der untersten Stufe geschehe dies durch Bilder, wie sie auf Steinen dargestellt und als Talismane getragen werden; auf der zweiten Stufe durch die Medizin, auf der dritten durch Dämpfe und Gerüche, auf der vierten durch Lieder, Klänge, Tänze und rituelle Bewegungen, auf der vierten durch die Ordnung der Vorstellungsinhalte, auf der fünften durch in sich stimmige Vernunftschlüsse, auf der letzten schließlich durch die ruhige Kontemplation des Geistes. Wer versuche, auf diese Arten positive himmlische Einflüsse, spiritus, auf sich herabzuziehen, bete nicht die Sterne an, sondern versuche, durch deren Nachahmung eine natürliche Übereinstimmung herzustellen.22 Musik – also gesungene Dichtung – gehört in diesen Kontext. Sie ist, neben Talismanen, Räucherwerk und Medizin ein Weg, auf dem der Mensch seine kosmische Einheit wiederherstellen kann.23 Die Wirkung des ›stellaren‹ Gesangs vergleicht Ficino mit der Wirkung, die jeder Gesang auf seine Zuhörer hat.24 Wie der Zuhörer unmittelbar von der Macht der Musik ergriffen und derart zur »Nachahmung« des musikalisch ausgedrückten Affektes in seinen Körperregungen gezwungen werde, so könne auch der menschliche Geist durch den Gesang hinaufgezwungen oder der himmlische Einfluß herabgezwungen werden. Die Wirkung sei auch hier der eines Arzneimittels vergleichbar, das einerseits vom Körper angenommen werden, andererseits auch selbst seine Wirkung entfalten müsse. Der Gesang hat dabei für Ficino eine wesentlich größere Macht, weil er nicht nur über die Musik wirke, sondern durch die Worte auch noch fähig sei, sowohl Vorstellungen zu erwecken als auch rationale Inhalte zu vermitteln, also die nächsthöheren Sphären anzusprechen. Es ist in diesem Sinne auch keine Frage, daß die gemeinsame Anwendung aller Techniken – Tragen von Talismanen, Einnahme von bestimmten Nahrungs- und Arzneimitteln, Verbrennung von Räucherwerk, Ausführung von rituellen Bewegungen, Absingen von Liedern, deren Inhalte _____________ 21 22 23 24

Ficino: On Life S. 362. Ficino: On Life S. 356 f. Ficino: On Life S. 356. Vgl. zum folgenden Ficino: On Life S. 358 f.

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bestimmte Vorstellungen und Gefühle wecken und die durch ihre Inhalte die Vernunft auf dem Weg von rationalen Schlüssen zu einem bestimmten Ziel hin lenken, sowie schließlich die intellektuelle Kontemplation dieses Zieles – für Ficino am erfolgversprechendsten gewesen ist. Je stärker sich der ganze Mensch, in der Zusammenwirkung seiner körperlichen und seelischen Fähigkeiten, auf die Harmonie des Universums einstellt, desto größer sind seine Aussichten, himmlische Einflüsse herabzuziehen. Dichtung ist damit eine Form der natürlichen Magie. Im Gegensatz zur schwarzen Magie, die sich der übernatürlichen, dämonischen Kräfte bedient, beruht die natürliche, »weiße« Magie ausschließlich auf den natürlichen Eigenschaften der Dinge, wie sie ihnen durch die Analogie zukommen. Als einer Form der natürlichen Magie ist Dichtung kein Zweck, sondern nur ein Mittel zum Zweck, der als solcher der Aufstieg der Seele ist. Die »Orphischen Hymnen«, die in etwa die Mitte halten zwischen Beschwörungsformel und göttlicher Offenbarung, sind für den neuplatonischen Begriff der Dichtung insofern von paradigmatischer Bedeutung. Pico della Mirandola widmete ihnen in seinen »900 Thesen« (1486) einen eigenen Abschnitt, in denen er sie als Teil einer natürlichen Magie zu interpretieren versuchte, »als geheimes Wissen über die göttlichen und natürlichen Dinge«.25 Nichts sei in der natürlichen Magie wirksamer als sie. Wenn sie zusammen mit der »notwendigen Musik« und den »übrigen Umständen, wie sie den Sachverständigen bekannt sind« (Talismane, Düfte etc.) angewandt würden, richteten sie die Seele auf das höhere Leben hin aus.26 Die dritte These besagt, daß die Namen der in den Hymnen angerufenen Götter Bezeichnungen für natürliche Kräfte seien; die vierte These, daß so, wie die Psalmen dem kabbalistischen Werk auf wunderbare Weise, die »Orphischen Hymnen« der Magie auf natürliche und erlaubte Weise dienten. Die fünfte These lautet, daß wer nicht verstehe, die sinnlichen Eigenschaften auf dem Weg der geheimen Analogie zu vergeistigen, von den »Orphischen Hymnen« überhaupt nichts verstehe.27

_____________ 25

26 27

Pico: Conclusiones S. 120. Walker: Magic S. 22 hat als erster Picos Interpretation der »Orphischen Hymnen« mit Ficino Theorie der Magie verbunden. Vgl. auch Shumaker: Sciences S. 120-133. Zu den spezifischen Unterschieden von Ficinos orphischer und Picos kabbalistischer Magie vgl. Yates: Bruno S. 84-116. Pico: Conclusiones S. 120: »Nichil efficientius hymnis Orphei in naturali Magia, si debita musica, animi intentio, et caeterae circumstantiae, quas norunt sapientes, fuerint adhibitae.« Pico: Conclusiones S. 122.

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prisca theologia Viele Indizien sprechen dafür, daß Ficino die natürliche Magie der »Orphischen Hymnen« selbst praktiziert hat. »Er führte die ›Orphischen Hymnen‹ auf und sang sie, wie man sagt, mit wundervoller Süße auf die Art der Antike«28 heißt es in einer zeitgenössischen Biographie. »Orphische Laute« nannte Ficino das Instrument, auf dem er sich selbst begleitete, wenn er im Kreis seiner Freunde und Schüler sang. Sein melancholisches Temperament und saturnisches Horoskop mußten ihn, in seinen eigenen Augen, dafür prädestinieren, die verborgene Theologie der Antike in seinem Gesang zu neuem Leben zu erwecken. Angelo Poliziano, der zum Kreis seiner Zuhörer gehörte, beschreibt die Wirkung von Ficinos Gesang analog zur Macht der Dichtung, wie sie im platonischen »Ion« beschrieben wird: Oft vertreibt er durch seine gelehrte Laute die schweren Sorgen, und den klangvollen Fingern folgt seine Stimme, beschaffen wie die des Orpheus, Tonmeister des apollinischen Liedes [...]. Dann, wenn er verstummt ist, kehre ich wieder nach Hause zurück, vom Stachel der Musen erregt, und sinne nun selbst über Rhythmen, rufe Apollon an und schlage entrückt die heilige Laute mit dem Plektrum.29

Die »Orphischen Hymnen« waren das erste, was Ficino 1462 aus dem Griechischen übersetzt hat, noch lange vor seiner Übersetzung Platons.30 In dem Brief an Peregrino Agli zitiert er aus diesen Hymnen, um zu belegen, daß die Sphären mit den Musen identisch sind, diese aber auf Jupiter zurückgehen, der wiederum mit dem All selbst und der Ureinheit iden_____________ 28

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Giovanni Corsi: Vita Marsilii Ficini, hg. von Raymond Marcel in ders.: Ficin S. 680-689, hier S. 682: »[...] Orphei hymnos exposuit, miraque, ut ferunt, dulcedine ad lyram antiquo more cecinit.« Zu Ficino als orphischem Sänger vgl. Allen: Plotinus; Voss: Orpheus und Warden: Orpheus; Yates: Bruno S. 62-83. Kristeller: Supplementum S. 282 f.: »Saepe graves pellit docta testudine curas, | Et vocem argutis suggerit articulis, | Qualis Apollinei modulator carminis Orpheus | [...] Hinc ubi conticuit Musarum concitus oestro | Deferor ad solitos protinus ipse Lares, | Atque iterum meditor numeros Phoebumque lacesso | Attonitusque sacram pectine plango chelym.« In den Opera Polizianos findet sich das Gedicht als Wiederabdruck der Fontius-Ausgabe von Fógel und Juhász, Bd. 3 S. 169-173. Eine französische Übersetzung des Gedichtes bei Maïer: Politien S. 78-82. Ähnlich wie Landino übernimmt Polizian die furor-Theorie Ficinos an einigen Stellen wörtlich, vgl. Leuker: Poliziano S. 143-151. Zur Datierung der Übersetzung der »Orphischen Hymnen« vgl. Kristeller: Supplementum Bd. 1, S. cxliv f. Zum folgenden vgl. Walker: Magic und Walker: Orpheus, dessen Ergebnisse von der neueren Forschung weitestgehend bestätigt wurden. Vgl. Allen: Plotinus; Copenhaver: Magic; Euler: Philosophia; Garin: Astrologie S. 81-116; Garin: Elezioni; Tomlinson: Music; Vasoli: Prisci Theologi; Vasoli: Prisca theologia; Voss: Orpheus; Warden: Orpheus; Yates: Bruno S. 62-83. Stellvertretend zur Magie vgl. Copenhaver: Astrology und Zambelli: Natura. Stellvertretend für die Bedeutung der antiken Mythologie vgl. Stillers Legitimation.

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tisch ist.31 Der furor, der Orpheus ergriffen hat, geht über die Sphären auf die Musen und über die Musen auf Jupiter zurück, der damit sein eigenes Wesen und die Struktur des Kosmos enthüllt. Als eine solche Offenbarung sind die »Orphischen Hymnen« auch das Paradigma einer prisca theologia, einer ursprünglichen Offenbarung, vor und neben der Offenbarung der Heiligen Schrift.32 Die Offenbarung ist kein Prozeß, der mit der Bibel ein für allemal abgeschlossen wäre, sondern sie vollzieht sich immer noch, wie schon in der heidnischen Antike, durch ausgewählte Dichter und Philosophen. Die biblische Offenbarung ist nur der Sonderfall eines sich kontinuierlich vollziehenden Offenbarungsprozesses. Als geheime Lehre stehen die »Orphischen Hymnen« in einer arkanen Vermittlungstradition, in der das Wissen seit den Anfängen der Menschheit von Lehrer zu Schüler weitergegeben wurde. Zarathustra, das »Haupt der Magier«, war der erste dieser »größten Theologen«, nach ihm kam Hermes Trismegistus, der »Fürst der ägyptischen Priester«, nach diesem Orpheus, Aglaophemus, Pythagoras und Platon. »Weil aber alle diese Theologen die heiligen Geheimnisse von den göttlichen Dingen, um sie nicht zu profanisieren, unter poetischen Schleiern verbargen, ist es geschehen, daß von ihren Nachfolgern jeder die Theologie anders verstanden hat.«33 ›Verschleiert‹ ist diese Darstellung, weil sie sich auf einem höheren Niveau als dem bloß menschlichen bewegt. Die Gottheit selbst hat kein Interesse daran, ihre Mysterien der Masse zu offenbaren und den Schleier der Mythen und Allegorien zu heben. Deswegen sind es nur einzelne Seelen, die sie in die Sphäre der Ideen und der Ureinheit entführt, deswegen ist der furor eine elitäre Veranstaltung, die nur den wenigsten, nur den großen, auserwählten und ausgezeichneten Geistern möglich ist. Es ist die dieselbe Tradition, in der Giovanni Pico della Mirandola steht, wenn er in »De hominis dignitate« von seinem Plan spricht, eine »theologia poetica« zu schreiben, in der er beweisen wolle, daß die home_____________ 31 32

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Ficino: Lettere I S. 27. Natürlich hat die Annahme einer prisca theologia eine Vorgeschichte, die weit über Ficino hinaus zurückreicht, stellvertretend sei verwiesen auf Curtius: Literatur S. 221-234 und Greenfield: Poetics ad. ind. Ficino: Théologie Kap. 17, 1, Bd. 3 S. 148: »Quoniam vero ii omnes sacra divinorum mysteria, ne prophanis communia fierent, poeticis umbraculis obtegebant, factum est, ut successores eorum alii aliter theologiam interpretarentur.« Ähnlich auch Ficino in dem Argumentum zu seiner Übersetzung des Hermes Trismegistus (Ficino: Opera Bd. 2, S. 1836), wobei die Reihe der Theologen dort noch anders lautet. Zur Genese der Liste vgl. Hankins: Plato Bd. 2, S. 460-464 und Marcel: Ficin S. 602 ff..

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rischen Epen eine verschlüsselte Darstellung der platonischen Mysterien sind.34 In der »Apologia« seiner »900 Thesen« verteidigt Pico seine Verwendung der »Orphischen Hymnen« mit den Worten, Orpheus habe den Griechen als Vater und Urheber der ersten Weisheit (prisca sapientia) gegolten. Pythagoras sei sein Schüler gewesen und von dort leite sich die ganze griechische Philosophie her. Mit demselben Argument wie Ficino erklärt er die poetische Form zu einem »Schleier«, der der Verhüllung dieser Weisheit gedient habe: Aber wie es die Gewohnheit der antiken Theologen war, so bedeckte auch Orpheus die Geheimnisse seiner Lehren mit der Hülle von Fabeln und verbarg sie unter einem poetischen Schleier, so daß, wenn jemand diese Hymnen läse, er nicht glaube, daß sie außer den reinsten Fabeln und Possen irgend etwas enthielten.35

Auch das Alte Testament selbst ließ sich einer solchen Allegorese unterziehen. In seinem »Heptaplus« legt Pico die ersten Verse der Genesis als eine poetisch verschleierte Darstellung theologischer Grundwahrheiten aus. Im Vorwort skizziert er eine Traditionslinie von den Juden über die Ägypter zu den Griechen, so daß er behaupten kann, Platon habe seine philosophischen Wahrheiten aus Moses bezogen. Der biblische Bericht vom Sechstagewerk im ersten Buch Mose ist weit mehr als ein bloßer Bericht von der Entstehung der Welt, wenn er das überhaupt ist. Denn wenn Moses in seinen Werken bisweilen »eher roh und volkstümlich« wirke, so sei auch dies nur darauf zurückzuführen, daß er sich an das Gebot der antiken Weisheitslehrer gehalten habe, göttliche Dinge »entweder gar nicht aufzuschreiben oder nur verborgen.«36

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Pico: De hominis dignitate S. 54. Petrus Crinitus berichtet von einem Gespräch zwischen Pico und Savonarola über die Einheit von antiker Mythologie und christlicher Religion, bei dem er Zeuge war, leider ohne Details mitzuteilen. Vgl. Crinitus: De disciplina III.2. Pico: Apologia S. 124: »Sed qui erat vetorum mos theologorum, ita Orpheus suorum dogmatum mysteria fabularum intexit involucris, et poetico velamento dissimulavit, ut si quis legat illius hymnos, nihil subesse credat, praeter fabellas nugasque meracissimas […].« Pico: Heptaplus S. 172.

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Landinos Vergil-Allegorese In genau diesem Sinne wurde auch die antike Dichtung als prisca theologia verstanden.37 Cristoforo Landino zitiert bereits in der Einführung zu seiner Vergil-Vorlesung (1462) Ficinos Theorie des furor, in den folgenden Jahren wiederholt er sie – ohne Modifizierungen und mit zum Teil wörtlichen Übernahmen – in der Einführung zu seiner Dante-Vorlesung (1473), der Einleitung zum dritten Buch der »Disputationes Camaldulenses« (1473 entstanden, 1480 gedruckt), sowie in seinen Horaz- und Vergilkommentaren (1482 und 1488).38 In allen Fällen dient die Theorie vom furor poeticus als Legitimation einer neuplatonischen Allegorese. Im dritten und vierten Buch der »Disputationes Camaldulenses« (Ficino selbst ist einer der Gesprächspartner), geht Landino von der Überzeugung aus, daß Vergil, wie vor ihm schon Platon und Homer, aus der Quelle der ägyptischen Weisheit und Uroffenbarung geschöpft habe. In der Figur des Aeneas habe Vergil, wie Homer mit Odysseus, den Weg zu Weisheit und Tugend darstellen wollen.39 Dieser Weg ist im Sinne von Ficinos Theorie des Seelenaufstiegs der Weg vom Laster zur Weisheit, von der Materie zum Geist, von der Verfallenheit an das weltliche Begehren zur Loslösung davon. Es ist der Weg der Seele aus dem Grab des Körpers zurück zum himmlischen Leben, ihrem eigentlichen Ursprungsort. Diesen Weg habe Vergil mit den Irrfahrten des Aeneas beschrieben. Troja entspreche der Jugend und ihrer Verfallenheit an die Sinnlichkeit, der vita voluptuosa. Durch den Brand Trojas gezwungen – denn die Seele würde von sich aus niemals den Antrieb verspüren, sich aus der Sinnlichkeit zu erheben – verläßt Aeneas mit seiner Mutter Venus – der amor divinus – seine Heimat, während die bloß irdische, gewöhnliche Liebe, der _____________ 37

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Vgl. zum folgenden Allen: Mysteriously Meant S. 142-154; Buck: Dichtung und Dichter; Cardini: Landino; Greenfield: Poetics S. 214-229; Kallendorf: Aeneid; Müller-Bochat: Vergil-Deutung; Tigerstedt: Poet; Weiss: Landino; Wolf: Vergilerklärung; Zintzen: Aeneis-Interpretation. Ein weiterer Vertreter der neuplatonischen Poetik und gleichzeitig Kollege Landinos und Ficinos ist Bartholommeo della Fonte, vgl. Trinkaus: Image und Trinkaus: Fonte. Zu diesen Angaben vgl. Lentzen in seiner Einführung zu Landino: Reden S. 12; Buck: Dichtung und Dichter und Cardini: Landino S. 100-112. Die Einführung zur Vergil-Vorlesung findet sich ebendort S. 312-326 und bei Lentzen: Dante-Exegese S. 234-242. Die Einführung zur Dante-Vorlesung ist abgedruckt in Landino: Reden S. 22-35. Die »Disputationes Camaldulenses« sind neu hg. von Lohe, vgl. Landino: Disputationes. Deutsche Übersetzung des ersten und zweiten Buches: Landino: Camaldolensische Gespräche. Die englische Übersetzung des dritten und vierten Buches war mir nicht zugänglich: Thomas Herbert Stahel: Cristoforo Landino's Allegorization of the Aeneid: Books III and IV of the Camaldoleses Disputationes. Diss. Johns Hopkins Univ. 1968. Landino: Disputationes S. 118 f.

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eigentliche Anlaß des Untergangs – Paris – mit Troja, dem sinnlichen Leben, zugrunde gehen muß. Aeneas tritt damit in das zweite Stadium seines Lebens ein und gelangt nach einigen Irrfahrten, die für verschiedene Laster stehen, von denen sich die Seele freimachen muß, nach Karthago, wo er Dido begegnet. Dieses zweite Stadium entspricht der vita activa, dem Leben als Staatsbürger, in dem Aeneas zeitweilig der Versuchung erliegt, seine Bestimmung in der politischen Betätigung (Staatsgründung) zu finden. Dido stellt dabei als Verkörperung des Eigennutzes die größte Gefahr dar. Im Durchgang durch diese Gefahren erwirbt Aeneas sich die moralischen Tugenden, die ihn nun wiederum zu seiner eigentlichen und höchsten Bestimmung führen, der vita contemplativa als dem dritten, der Erkenntnis gewidmeten Stadium. Dieses Stadium erreicht Aeneas mit der Ankunft in Italien. Wie der vita activa die moralischen, so entsprechen der vita contemplativa die intellektuellen Tugenden. Doch bevor Aeneas mit der Erkenntnis des Göttlichen das höchste Gut erlangen kann, muß er unter Leitung der Sibylle – eine Verkörperung der sapientia – in die Unterwelt hinabsteigen, denn bevor die menschliche Seele zum Göttlichen hinaufsteigen kann, muß sie von allem Weltlichen gereinigt werden. Die Allegorese Landinos erstreckt sich dieserart über zwei umfangreiche Bücher der »Disputationes Camaldulenses« und gibt auch den kleinsten Details der »Aeneis« noch eine Bedeutung für den Weg der Seele. Ganz ähnlich liest Landino die »Commedia« Dantes.40 Wenn Dante sich dort Vergil zum Führer genommen habe, so sei dies Ausdruck eben der Tatsache, daß die gesamte »Commedia« denselben Stoff behandelt, wie Vergil in seiner »Aeneis«. Dantes Wanderung durch die Hölle über den Läuterungsberg bis ins Empyreum bezeichnet den Weg, den die in die Körperlichkeit gestürzte Seele zurücklegen müsse, um ihre himmlische Heimat wiederzuerlangen. Wie Aeneas' Aufbruch aus Troja die Absage der zu sich selbst gekommenen Seele an die Welt der Sinnlichkeit bezeichnet, so auch Dantes Entschluß, in der Mitte seines Lebens (denn erst in diesem Alter kann die Seele ihre Verstrickung in die Sinnlichkeit erkennen), verirrt in einem dunklen Wald (eben die Körperlichkeit), den Abstieg in die Hölle zu unternehmen. Der Führer, dem Dante sich auf seiner Wanderung anvertraut, Vergil, verkörpere dabei die höhere Vernunft (ratio), die der von der Sinnlichkeit _____________ 40

Zu Landinos Allegorese der »Divina Commedia« vgl. Lentzen: Dante-Exegese S. 59-157 und Lentzen: Dante-Kommentar.

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bedrohten Seele zu Hilfe eilt und sie im ersten Teil zur Erkenntnis der Laster – die Wanderung durch die Hölle – führt. Die Erkenntnis der Laster führt zum Wunsch nach Reinigung, die Dante im zweiten Teil mit dem Aufstieg auf den Läuterungsberg vollzieht. An der Schwelle zum Paradies muß Vergil (die ratio) den Wanderer verlassen, denn für das letzte Stadium des Aufstiegs, hin zur Kontemplation des höchsten Gutes, hat sie keine Bedeutung mehr. Auch hier ist es, wie in der »Aeneis«, der amor divinus, der die Antriebskraft der Seele darstellt, während die drei Jenseitsreiche, die Dante zu durchqueren hat, den drei Stadien der vita voluptuosa, vita activa und vita contemplativa entsprechen. Diese Allegorese Landinos ist ernst zu nehmen und nicht als bloßer Vorwand zur Formulierung eigener philosophischer Positionen zu denunzieren. Der Vorwurf verkennt das eigentliche Fundament, das dem Begriff einer theologia poetica zugrundeliegt. Als ein im furor poeticus verfaßtes Werk ist die »Aeneis« für Landino keine Dichtung, die auf ihre eigentlich gemeinte Aussage hin interpretiert werden muß, sondern ein verschlüsselter Text, der Vergil durch göttliche Inspiration zuteil geworden ist. Göttlich inspirierte Texte aber haben keinen ›eigentlichen‹ Sinngehalt. Der Sinngehalt solcher Texte ist unerschöpflich, gerade weil das menschliche Wissen ein beschränktes ist, das Wissen aber, dessen die zu Gott erhobene Seele teilhaftig wird, unendlich. Die poetische Form ist gerade Ausweis dieses unendlichen Sinngehalts, im Unterschied zur begrifflich abstrakten Form der menschlichen Philosophie. Jedes Detail der »Aeneis«, wie etwa die Farbe, die der Nachen Charons hat, kann Bedeutung tragen, oder eine solche im Laufe der Geschichte noch bekommen. Die »Aeneis« enthält eine theologische Wahrheit, und die poetische Form dieses Werkes ist Ausweis gerade dieser seiner Göttlichkeit. Die menschliche Allegorese eines solchen Werkes ist der Versuch einer Annäherung an die in diesem Werk enthaltene prisca theologia, eine Annäherung, die als solche auf Analogien und von außen herangetragene Ähnlichkeiten angewiesen ist, weil die menschliche Perspektive eine begrenzte ist. Es ist eine natürliche Konsequenz aus der Vorstellung von einer durch den furor poeticus inspirierten prisca theologia, daß das dichterische Werk als spezifisch dichterisches keine Bedeutung hat. Die poetische Form ist eine metaphorische Sprechweise, deren sich die göttliche Offenbarung in ihrer unendlichen Sinnfülle als einer »Verschleierung« bedient.

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Polydor Vergil, Pontano, Muzio, Minturno, Patrizi Die Wirkung Ficinos demonstriert Polydor Vergil mit seinen »De rerum inventoribus« (1499), das allein zu Lebzeiten des Autors dreißigmal nachgedruckt wurde und später über hundert Auflagen in acht Sprachen erfuhr.41 Das achte Kapitel des ersten Buches, dem Ursprung der Dichtkunst gewidmet, eröffnet Vergil mit einem klaren Bekenntnis zur platonischen Tradition, wenn dort von allen Künsten allein die Dichtung »auß verzuckung des geysts begriffen wirt/ Dann die Poeten oder dichter/ wann sie im geyst verzucket seind/ singends ding her/ das man sich verwundert/ vnd gleich darab entsetzet.«42 Im folgenden Kapitel wird dem entsprechend das Metrum auf die Nachahmung der Sphärenharmonie zurückgeführt. Ähnlich ist auch Ludovicus Caelius Rhodiginus (Ricchieri) mit seiner monumentalen, oft nachgedruckten Enzyklopädie der Antike »Antiquarum lectionum libri XVI« (1516) in den der Dichtung, der Melancholie und dem furor gewidmeten Kapiteln ein Vertreter der neuplatonischen Poetik. Giovanni Pontano vermerkt in seinem Dialog »Actius« (Druck 1507), daß der furor der Propheten dem furor der Dichter verwandt sei. Insbesondere die spiritus melancholisch veranlagter Menschen seien diesem furor günstig, da diese von der Bewegung der Gestirne besonders leicht beeinflußt würden.43 Eine der ersten Poetiken des Cinquecento, Marco Girolamo Vidas »De arte poetica« (1517/1527), erkennt die Notwendigkeit des »heiligen furor« (sacer furor) zwar an, warnt den Dichter jedoch, sich allzu sehr dem Wahnsinn zu überlassen. Vernunft (ratio) und Sorgfalt (cura) müßten das in der Brust des Dichters wütende Göttliche (saevum numen) auffangen. Der Dichter solle seine Tätigkeit immer wieder unterbrechen und redigieren, was die »blinde Hitze« auf das Papier geworfen habe.44 Am Ende der Poetik heißt es, glücklich seien die Dichter, denen die Musen es geben, den Regeln, die Vida selbst unter Einfluß des poetischen furor aufgestellt habe, zu folgen, denn Regelkenntnis allein nütze nichts ohne die Hilfe der _____________ 41

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Allgemein zur Rezeption Ficinos vgl. Brann: Origin; Buck: Begriff; Buck: Dichtung und Dichter; Buck: Dichtungslehren S. 87 ff.; Hathaway: Age S. 399-459; Link: Theorie; Manica: Il critico; Weinberg: History. Vergil: Von den Erfindern f. XIIr. Im lateinischen Original Vergil: On Discovery S. 90 f. Giovanni Pontano: Actius. In ders.: Dialoge S. 279-511, hier S. 328 ff. Vida: De arte poetica Buch 2, v. 445 ff.

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Musen.45 Damit belegt die Poetik Vidas noch einmal, daß Inspiration und Regelpoetik im Neuplatonismus noch nicht als Gegensätze gedacht werden. In Girolamo Muzios »Dell'arte poetica« (1551) wird der Dichter als reines Instrument der Götter bezeichnet. Wenn die Götter schwiegen, verstumme auch die Leier des Sängers.46 In Minturnos »De poeta« (1559) bemerkt einer der Gesprächspartner, die Kunstlehre der Dichtung, das Regelwerk der Poetik, bewirke überhaupt nichts. Die Fähigkeit zu dichten sei keine Kunst, sondern eine göttliche Kraft, die die Dichter von den Musen empfingen. Ungeachtet seiner Funktion als Bischof läßt Minturno dann über zwanzig Seiten antike Inspirationsmythen Revue passieren, ohne dies in irgendeiner Weise mit theologischen Vorbehalten zu versehen.47 Allerdings hat ihn diese frühe Stellungnahme zugunsten des furor nicht gehindert, einige Jahre später eine zweite Abhandlung folgen zu lassen (»L'arte poetica«, 1564), in der er detaillierte Anweisungen für die einzelnen Gattungen aufstellt und sich ganz in aristotelischen Gleisen bewegt. Vom furor ist dort nicht mehr die Rede. Damit ist allerdings nicht gesagt, daß Minturno deswegen seine frühere Position widerruft oder überhaupt ein Widerspruch zwischen beiden Werken bestehen muß. Die Entrückung des Dichters impliziert, um dies noch einmal zu wiederholen, einen höheren Zustand der ratio und mithin der technischen Regelbefolgung. Agnolo Segni erklärt in seinen »Lezioni intorno alla Poesia« (1573) den furor im Sinne Ficinos zur alleinigen Ursache gelungener Dichtung. Mit einem Zitat von Proclus heißt es, der furor der Liebe sei der Schönheit Gottes gemäß und betrachte diese, der furor des Propheten sei der Kraft Gottes gemäß und verkündige deshalb Zukünftiges, der furor der Dichter aber sei der göttlichen Harmonie und Symmetrie gemäß und bilde deshalb im Vers die göttliche Symmetrie und Harmonie nach.48 Das in der Zeit oft zitierte Diktum vom Vers als der Sprache der Götter bedeutet eben auch, daß die Götter sich eines metrisch perfekten Ausdrucks bedienen. Als letzter großer Vertreter des Neuplatonismus nimmt Francesco Patrizi da Cherso im Cinquecento einen herausragenden Platz ein. Bereits in einem frühen »Discorso della diversità de i furori poetici« (1553) vertritt er mit aller Vehemenz die göttliche Beseeltheit der Dichter, die er mit _____________ 45 46 47 48

Vida: De arte poetica v. 527 ff. Muzio: Dell'arte poetica S. 207 v. 1490 ff. Minturno: De poeta S. 66 ff. Segni: Lezioni S. 64. Zeitgenössische Veröffentlichung der »Lezioni« unter dem Titel »Ragionamento sopra le cose pertinenti alla poetica« (1581).

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antiquarischer und philologischer Gelehrsamkeit nachweist. Patrizi führt dabei die unterschiedlichen Begabungen der Dichter und ihre Vorlieben für bestimmte Gattungen und Themen auf die Wirkung unterschiedlicher Sterne und Sphären zurück, denen wiederum die verschiedenen Musen zugewiesen werden.49 1586 greift Patrizi das Thema im zweiten Teil seiner Poetik (»La deca disputata«) noch einmal auf.50 Nachdem er im ersten Teil an Hand einer Geschichte der griechischen Dichtung bereits gezeigt hatte, daß die antiken Dichter tatsächlich von Apollo besessen waren, kann die Existenz des furor nicht mehr bestritten werden. Zwar leugnet Patrizi nicht, daß auch Veranlagung (natura) und Dichtkunst (ars) ihre Bedeutung haben, allzu groß könne diese jedoch nicht sein, da die bedeutendsten griechischen Dichter ihre Werke verfaßt haben, bevor es irgendwelche Regeln gab. Den furor definiert Patrizi als »eine Bewegung der natürlichen Seele, genötigt von den Vorstellungsbildern, die von dem Licht dargestellt werden, das irgendeine Gottheit, ein Genius oder ein Dämon in die Seele gießt; und diese [Bewegung] wirkt gemäß dem Subjekt, das dieses Licht empfängt, ohne daß es weiß, was es tut oder sagt«.51 Für anderweitige Erklärungen des furor, die dessen göttliche oder dämonische Herkunft bestreiten könnten, läßt Patrizi keinen Raum. Die seit Plutarch immer wieder für die antiken Orakel in Anschlag gebrachten natürlichen Gase, die aus Erdspalten ausströmen und die Ekstase der Priester verursachen, können dem Urteil nicht standhalten, denn schließlich sind auch von den Ägyptern, Chaldäern und Juden Orakel und Prophetien überliefert. Bei ihnen finden sich aber keine Erdspalten und Gase.52 Die Melancholie, die Aristoteles im »Problem 30.1« als Erklärung für das dichterische Schaffen heranzieht, könne der kritischen Beurteilung nicht standhalten. Die Melancholie werde von Galen, aber auch von Aristoteles selbst, als kaltes und trockenes Temperament beschrieben und es sei völlig uneinsichtig, wie ein solches Temperament für die Hitze und Entzückung, als welche der furor beschrieben wird, verantwortlich sein könne.53 _____________ 49 50 51

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Patrizi: Discorso della diversità. In ders.: Poetica Bd. 3, S. 447-462. Zur Poetik Patrizis vgl. Bolzoni: Patrizi; Brann: Origin S. 374-384; Muccillo: Ficino bes. S. 626-632. Patrizi: Poetica Bd. 2, S. 7-35. Patrizi: Poetica Bd. 2, S. 27: »un commovimento dell'animo naturale e sforzato, per le fantasie appresentate dal lume che nell'anima infonde alcuna deità, o genio, o demone; e opera secondo il soggetto che quel lume riceve, senza saper ciò che si faccia«. Patrizi: Poetica Bd. 2, S. 22 ff. Patrizi: Poetica Bd. 2, S. 18 ff.

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Damit verzichtet Patrizi, im Gegensatz zu Ficino, auf jede Begründung des furor durch das humoralpathologische Temperament und bringt Melancholie und göttlich induzierten furor in einen Gegensatz. Diese Entkoppelung von furor- und Melancholie-Theorie ist 1586 notwendig, weil sich die medizinische, naturalistische Erklärung, auf die jetzt einzugehen sein wird, durchgesetzt hat. Patrizi steht bereits auf verlorenem Posten. Die Zukunft gehört dem naturphilosophischen, medizinischen Modell, wie es etwa Castelvetro vertritt, gegen den Patrizi sich vor allem richtet.

Die Naturalisierung des Enthusiasmus Pomponazzi Pietro Pomponazzis Abhandlung über Wunder, Zauberei und jede Art von übernatürlichen Erscheinungen trägt den Titel »Über die Ursachen natürlicher Wirkungen, oder: Über Zauberei« (De naturalium effectuum causis sive de incantationibus, 1520).1 Das Werk ist der Versuch, für alle Arten von Phänomenen, die dem Wirken von Engeln und Dämonen zugeschrieben wurden, naturphilosophische Erklärungen zu finden. Eine wichtige Rolle übernimmt dabei die Astrologie, die für Pomponazzi einen Teil im System der natürlichen Ursachen darstellt. Die Rückführung von scheinbar übernatürlichen Phäno_____________ 1

Pomponazzi selbst hat das Werk zu Lebzeiten nicht veröffentlicht, es wurde erst 1556 (zweite Auflage 1567) von einem protestantischen Auswanderer in Basel herausgegeben. Die französische Teilübersetzung von Busson: Pietro Pomponazzi: Les causes des merveilles de la nature ou les enchantements. Paris 1930, war mir nicht zugänglich. In nuce hatte Pomponazzi das zentrale Argument bereits in seiner »Abhandlung über die Unsterblichkeit der Seele« entwickelt, vgl. dort Kap. 14, Widerlegung des fünften Einwandes, S. 200-215, mit explizitem Verweis auf das »Problem 30.1«. Zu Pomponazzi vgl. Stellvertretend Brann: Origin S. 167-177; Busson: Rationalisme; Garin: Astrologie S. 113-143; Hathaway: Age S. 329-340; Kristeller: Acht Philosophen S. 63-78; Kristeller: Aristotelismo; Pine: Pomponazzi vor allem S. 235-274 (ältere Forschungsliteratur dort S. 239 Anm. 8); Poppi: Fate S. 653-660; Walker: Magic S. 107-111; Weil: Pomponazzi; Zanier: Richerche. Zum ›Paduaner Aristotelismus‹ und seiner Schlüsselfunktion für die Herausbildung der Naturphilosophie der Neuzeit sei stellvertretend verwiesen auf Lohr: Transformation; Nardi: Saggi; Randall: School. In vielen Punkten immer noch grundlegend ist Renan: Averroès S. 322-433.

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menen auf den Einfluß der Planeten ist eine ›naturwissenschaftliche‹ Erklärung in dem Sinne, als sie kein unmittelbares göttliches Wirken impliziert. Dasselbe gilt für den astrologischen Einfluß der Sterne auf das menschliche Leben. Auch dieser ist im Sinne eines ›Naturgesetzes‹ zu verstehen. Er entspricht mathematischen Gesetzen und ist damit berechenbar. Astrologie ist keine Form des Aberglaubens, sondern des Rationalismus. Zu den scheinbar übernatürlichen Phänomenen, die Pomponazzi auf natürliche, astrologische Ursachen zurückführt, gehört auch die göttliche Inspiration oder Entrückung. Wie man Menschen finde, die alles aus Büchern oder durch Unterricht gelernt hätten, so scheine es auch Menschen zu geben, die all dies »als Geschenk der Götter« »ohne Arbeit und Mühe« erworben hätten. »Gewöhnliche Menschen und solche, die die Ursachen der Dinge nicht kennen«, glaubten deshalb, daß solche Menschen göttlich oder dämonisch inspiriert seien. Die Philosophen würden jedoch davon ausgehen, daß solche Gaben »durch die Vermittlung der himmlischen Körper« zustande kämen.2 An die Stelle der göttlichen Inspiration tritt damit die astrologische Disposition. Wenn Platon im »Menon« sage, daß Dichter oft selbst nicht verstünden, was sie sagen, und im »Phädrus«, daß die Seher und Sibyllen von einem furor gepackt und ekstatisch seien, im »Ion«, daß nicht menschliche Kunst, sondern göttliche Kraft den Dichter bewege, daß Dichter von Gott erfüllt seien, ihrem Geist entrückt und der Verstand beim Dichten nichts nütze, und gerade Tynnichos von Chalcis, der schlechteste Dichter, als Sprachrohr Apollos das herrlichste Lied sang, dann wolle Platon damit nichts anderes sagen, als daß die Dichtung eine besondere Veranlagung sei. Als eine solche habe auch Aristoteles sie im »Problem 30.1« analysiert, nämlich als ein melancholisches Temperament.3 Was Platon an Tynnichos von Chalcis zeige, zeige Aristoteles an Marakos von Syrakus. Die komplexe Argumentation Pomponazzis kann hier nicht dargestellt werden.4 Ihr Ergebnis lautet, daß prophetische und dichterische Inspiration erklärt werden kann, ohne auf göttliches Wirken zurückgreifen zu müssen, allein aus naturphilosophischen Gründen, aus der dispositio der Gestirne. Wie Ficino verbindet Pomponazzi die platonische furorTheorie mit der Melancholie-Theorie des »Problem 30.1«. Aber anders als Ficino versteht Pomponazzi das melancholische Temperament nicht als eine Prädisposition für einen göttlich verursachten furor, der die Seele _____________ 2 3 4

Pomponazzi: De incantationibus S. 124 f. Pomponazzi: De incantationibus S. 127 f. Pomponazzi: De incantationibus S. 132 ff.

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zurück zu Gott führt, sondern nur als ein astrologisch verursachtes Temperament, das insbesondere für die Dichtung prädisponiert.5 Während die astrologische dispositio die Wirkursache (causa efficiens) von Prophetie und Dichtung ist, ist die materiale Ursache (causa materialis) der prophetischen und dichterischen Gabe das melancholische Temperament des »Problem 30.1«. Propheten und Dichter sind nicht göttlich inspiriert, sondern sie sind »wie Aristoteles im Abschnitt dreißig der ›Problemata‹ schreibt, melancholisch, ohne Teilnahme, wie verrückt, ekstatisch, und während sie prophezeien, sind sie entrückt und außerhalb ihrer selbst.«6 Das aber ist etwas anderes als göttlich inspiriert. Die Gestirne bestimmen als causa efficiens das Temperament eines Menschen, dieses Temperament bildet dann die causa materialis seines Charakters und seiner Begabungen. Wer aufgrund dieses Temperaments außerhalb seiner selbst ist – zum Beispiel weil er über ein besonders großes Konzentrationsvermögen verfügt – ist deshalb noch lange nicht zu Gott entrückt. Pomponazzi leugnet nicht, daß Propheten und Dichter von einem furor ergriffen werden und in Ekstase verfallen. Aber er erklärt diese Ekstase im Unterschied zu Ficino nicht als eine göttliche Entrückung, sondern als besondere mentale Fähigkeit aufgrund einer bestimmten physiologischen Disposition. Er führt es auf ein vom Verhältnis der Säfte bestimmtes Temperament zurück, das seinerseits auf astrologischen Einfluß zurückgeht. Wo Ficino außerweltliche Kräfte für die Inspiration verantwortlich macht, da reduziert Pomponazzi die Inspiration auf ein natürliches, medizinisches Phänomen. Er naturalisiert die göttliche Entrückung. Im Grunde ist es deshalb nicht mehr sinnvoll, bei Pomponazzi von einer ›Inspiration‹ zu sprechen. Was den Dichter auszeichnet, ist nicht eine außerweltliche Entrückung, sondern eine physiologische Disposition, oder ganz einfach das, was man das besondere ingenium des Dichters nennt. Der Dichter ist nicht inspiriert, sondern begabt.

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Vgl. Walker: Magic S. 110. Pomponazzi: De incantationibus S. 140: »Tales etiam vates habent causam materialem, quoniam dispositionem, sunt enim, ut dicitur tricesima sectione Aristotelis problematum, melancholici, sine curis, veluti amentes, extatici, dumque vaticinantur, baccantur et furiunt.«

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Rezeption Pomponazzis Wie einflußreich diese Naturalisierung des dichterischen Vermögens war, illustriert mittelbar Juan Huartes einflußreiches »Examen de los ingenios« (1566). Huarte erklärt die Verschiedenheit der Begabungen rein physiologisch aus der Beschaffenheit des Gehirns, das sich je nach Trockenheit, Feuchtigkeit oder Wärme durch Verstand, Gedächtnis oder Einbildungskraft auszeichne. Noch 1752 übersetzt Lessing diesen Traktat unter dem Titel »Prüfung der Köpfe zu den Wissenschaften« ins Deutsche. Die unmittelbaren Konsequenzen aus dem Naturalismus Pomponazzis sind am »Naugerius, sive de poetica dialogus« (1555) Girolamo Fraucastoros, einem Schüler Pomponazzis, abzulesen. Fracastoro stellt sinnfällig vor Augen, wie man sich eine »natürliche Entrückung« des Dichters, ohne göttliche Intervention, vorstellen muß. Die namensgebende Figur, der Dichter Andrea Navagero, ergreift schon zu Beginn des Dialogs plötzlich eine Laute und stimmt selbstvergessen und ›entrückt‹ ein Lied an. Auch der Dialog selbst muß später mehrere Male unterbrochen werden, weil Navagero etwa von der Schönheit der Verse Vergils so ergriffen wird, daß er sie mit Leidenschaft zu rezitieren beginnt. Navagero erklärt diese »Ergriffenheiten« selbst als eine musikalische »Entzückung«, eine Ekstase als ein »Außer-Sich-Sein«, das vom Wohlklang und der Harmonie der Musik ausgeht und den Dichter kurzzeitig auf eine andere Bewußtseinsstufe entrückt. Dies werde im Nachhinein als furor wahrgenommen. Götter spielten dabei jedoch keine Rolle.7 Die »Entrückung« des Dichters ist eine Selbstvergessenheit, die durch die Schönheit und die Kraft der Dichtung und der Musik verursacht ist. Die Bedingung ihrer Möglichkeit ist ein bestimmtes humoralpathologisches Mischungsverhältnis im Temperament des Dichters. Ähnliche Deutungen des furor finden sich in Maggis, Lombardis und Robortellos Kommentaren zur aristotelischen »Poetik«. In dieser taucht die Theorie der dichterischen Entrückung nur an einer einzigen Stelle auf. Aristoteles empfiehlt dort den Dichtern, sich ihrem Stoff am besten zu nähern, indem sie sich das Geschehen, das sie darstellen möchten, möglichst lebhaft vor Augen führen. Wer an der jeweiligen Szene selbst emotionalen Anteil nehme, werde sie am besten darstellen. 1455a 32-34 folgert Aristoteles daraus: »Deshalb ist die Dichtkunst Sache von begabten oder von vom furor besessenen Menschen, denn die einen sind leicht zu formen, die anderen ekstatisch.« (Διὸ εὐφυοῦς ἡ _____________ 7

Fracastoro: Naugerius f. 160v des Nachdrucks, S. 65 der Übersetzung.

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ποιητική ἐστιν ἢ μανικοῦ τούτων γὰρ οἱ δὲ ἐκστατικοί εἰσιν.) Damit scheint Aristoteles hier von zwei grundsätzlich verschiedenen Arten von Dichtern auszugehen, nämlich begabten und vom furor besessenen. Mit Ausnahme des Kommentars von Riccoboni8 erklären jedoch alle »Poetik«-Kommentare des Cinquecento diese Stelle in dem Sinne, daß Aristoteles hier nicht von zwei verschiedenen Arten von Dichtern spreche, sondern nur von zwei verschiedenen Arten, auf die sich der Dichter den von ihm dargestellten Personen nähere. Die »Entrückung« (furor) des ersten Teilsatzes sei so zu verstehen, daß der Dichter sich in seine Personen versetze und deshalb seines eigenen Geistes »entrückt« sei. So heißt es bei Maggi und Lombardi, die Dichter könnten sich entweder aufgrund ihrer natürlichen Begabung wie Wachs in ihre Personen verwandeln, oder sie würden sich, von einer Leidenschaft (furor) ergriffen, vollständig in diese Personen selbst verwandeln.9 Ähnlich Robortello, der meint, der Dichter müsse die Verhaltensweisen, Leidenschaften und Sprechweisen anderer Menschen darstellen können. Dies könne aber nur jemand schaffen, der sich selbst völlig vergessen habe. Der furor sei deshalb als »Außerhalb-Seiner-Selbst-Sein« zu verstehen, als Identifikation mit den dargestellten Personen.10 Ähnlich deutet auch Vettori den »furor« als Metapher für die emotionale Erregbarkeit des Dichters. Was den emotional erregbaren Dichtern durch ihre Identifikation gelinge, gelinge den begabten durch ihre Intelligenz und die Schärfe ihres Verstandes, nämlich sich in andere Zeiten und Personen zu versetzen.11 Es gebe also nicht zwei Arten von Dichtern, sondern lediglich zwei verschiedene Arten, wie der Dichter sich in seine Figuren hineinversetze. Castelvetro geht 1570 noch einen Schritt weiter. Ihm zufolge ist der Text an dieser Stelle verderbt, indem statt des »oder« ein »nicht« zu lesen ist. 1455a 32 würde also lauten: »Die Dichtkunst ist Sache begabter Personen und nicht Sache eines Besessenen [...].«12 Dabei handle es sich bei dem Abschreibefehler um eine Art unbewußte Fehlleistung der Abschreiber, die so stark von der Theorie des furor poeticus geprägt waren, daß sie sich gleichsam eine andere Erklärung der Stelle gar nicht vorstellen konnten. _____________ 8 9 10 11 12

Riccoboni: Poetica S. 18. Maggi/ Lombardi: Explanationes S. 187. Robortello: Explicationes S. 199. Vettori: Commentarii S. 167 f. Castelvetro: Poetica S. 486 f.: »poetica [...] è da persona ingegnosa e non da furiosa; percioché degli 'ngegnosi alcuni sono cambievoli in ogni forma e alcuni sono investigativi«.

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Ursprung der furor-Theorie ist nach Castelvetro das Unverständnis des Volkes, das durch die Eitelkeit der Dichter gefördert und unterstützt worden sei.13 Indem jeder das bewundere, was seine eigenen Fähigkeiten übersteige, und dies im selben Zuge für göttlich und übernatürlich halte, kam es, daß das unverständige Volk die ersten Dichter für göttlich inspiriert hielt. Es konnte sich nicht vorstellen, daß man solche Fabeln und Geschichten aus eigener Kraft erfinden und diese Geschichten dann auch aus eigener Kraft in solche schönen Verse bringen konnte. Die Annahme einer göttlichen Inspiration der Dichtung sei ferner durch die Tatsache unterstützt worden, daß auch die Orakel und Prophetien in metrischer Sprache abgefaßt waren. Dieser Glaube schmeichelte den Dichtern und erhöhte ihre öffentliche Wertschätzung, weshalb sie ihn unterstützten und deshalb auch ihre Werke mit Anrufungen von Gottheiten eröffneten, um das Volk glauben zu machen, daß diese Gottheiten selbst durch sie sprächen. Diese Überzeugung dürfe man jedoch auf keinen Fall Platon unterstellen. Natürlich spreche Platon vom furor divinus, Castelvetro ist jedoch überzeugt, daß es sich dabei um Ironie handelt. Im »Phädrus« würde der furor poeticus nur als Glaube des Volkes erwähnt, und im »Ion« würde Platon ein einziges Beispiel erwähnen, um zu beweisen, daß Dichter im Zustand des furor dichteten. Dieser eine Dichter – Tynnichos von Chalcis – habe, wie Platon es darstellt, in seinem ganzen Leben nur ein einziges erinnernswertes Gedicht geschrieben, ansonsten aber über Jahrzehnte nichts. Wer könne glauben, daß Platon tatsächlich mit diesem einen Gedicht eines einzigen Dichters beweisen wolle, daß alle Dichter aller Jahrhunderte unter dem Einfluß eines göttlichen furor dichteten? Die radikale Lösung Castelvetros besagt also, daß nicht nur Aristoteles nicht an eine göttliche Entrückung geglaubt habe, sondern auch Platon nicht. Wenn Platon wirklich geglaubt habe, daß Dichter unter göttlichem Einfluß stünden, ließe sich nicht erklären, warum er die Dichter aus seinem Staat ausschließen wollte. In Girolamo Frachettas »Dialogo del furore poetico« (1581) vertritt einer der Gesprächspartner die Überzeugung, Platon habe die furorTheorie durchaus ernst gemeint.14 Gleichzeitig habe er aber auch solche Dichter in Betracht ziehen müssen, die die Dichtung zu bloß menschlichen Zwecken mißbrauchen und deshalb alle Dichter aus seinem Staat ausschließen müssen. _____________ 13 14

Castelvetro: Poetica S. 91 ff. Ähnlich die Argumentation in Castelvetro: Parere del medesimo sopra l'ajuto, che domandano i Poeti alle Muse. In ders.: Opere critiche S. 79-99. Frachetta: Dialogo del furore poetico.

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Frachetta selbst vertritt die Überzeugung Castelvetros, daß Platon nur ironisch vom furor gesprochen und nicht an diesen geglaubt habe. Die Dichtkunst sei eine Fertigkeit des Geistes und weil der Dichter sich in diese wie in eine Leidenschaft hineinsteigern könne, entstehe der Eindruck einer »Entrückung«. Im übrigen würde die aristotelische »Poetik« nicht nur besser den Forderungen der ratio entsprechen, sondern sei auch mit dem christlichen Glauben besser zu vereinbaren. Lorenzo Giacomini meint in seiner Rede »Del furor poetico« (1587), daß es nicht angehen könne, der Dichtkunst als normativem Regelwerk zugunsten des furor alle Bedeutung abzusprechen. Dies würde die Dichtung aus dem Kanon der anderen Wissenschaften und Künste herausreißen und ihr jede Grundlage entziehen. Daß die dichterischen Werke, so verschieden sie sein mögen, gewissen Regeln folgten, sei jedoch offensichtlich. Der furor sei deshalb keine göttliche Entrückung, sondern beruhe auf einer ausgewogenen Mischung von spiritus, die für die Tätigkeit des Forschens, Nachdenkens und Urteilens, wie sie der Dichtkunst zugrunde liege, verantwortlich sei. Eine solche Mischung werde eher von den kühleren spiritus dominiert sein, wie sie Aristoteles im »Problem 30.1« für den Melancholiker beschreibt, wogegen die Ausführung der Dichtung selbst und die damit einhergehende Konzentration eine Erhitzung der spiritus zur Folge habe. Diese Erhitzung könne vom Dichter selbst als eine Erhebung, ein »Außer-Sich-Sein«, als »ekstasis« oder eben furor wahrgenommen werden.15 Torquato Tasso hat seinen eigenen Wahnsinn nicht als göttliche Entrückung, sondern als notwendige Gefährdung betrachtet, verursacht durch dasselbe melancholische Temperament, das ihn auch zum Dichter prädestinierte. In einem Brief aus dem Jahr 1577 fragt er, ob der Verstand die Verse bilde oder sie ihm eingegeben würden. Würde der Verstand des Dichters tatsächlich aus seinem Körper herausgezogen, müßte man ihm alle persönlichen Verdienste als Dichter absprechen. Wenn durch den Dichter Gott spricht, dann erwerbe sich dieser Ruhm, und nicht der Dichter. Ein zweites Argument Tassos richtet sich unmittelbar gegen die neuplatonischen Grundlagen der Theorie des furor als einem Aufstieg der Seele. Wenn der furor als eine Entrückung des Verstandes von seinen materiellen Grundlagen, namentlich der imaginatio, zu verstehen sei, dann stellt dies für Tasso eine contradictio in adiecto dar. Eine der imaginatio _____________ 15

Giacomini: Del furore poetico S. 432.

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entrückte ratio impliziere nämlich die Möglichkeit eines Dichtens ohne Bilder und sinnliche Vorstellungen, dies aber sei nicht möglich.16 Dagegen setzt Tasso die metaphorische Bestimmung des furor als ein Gefangen- oder Gebannt-Sein durch die Vorstellungskraft, wie es die »Poetik«-Kommentatoren an 1455a 32-34 vorgeführt hatten. Der furor poeticus ist keine Entrückung des Verstandes von seinen materiellen, physiologischen Grundlagen in dem Sinne, daß die ratio zu Gott entrückt würde, sondern gerade umgekehrt werde die ratio des Dichters durch die sinnliche Kraft der Bilder und Vorstellungen so sehr gebannt, daß sie in diese materiellen Grundlagen, nämlich in die imaginatio, entrückt werde und nichts mehr außerhalb dieser Vorstellungsbilder wahrnehme. Natürlich ist diese metaphorische ›Entrückung‹ nur eine vorübergehende, deren Ergebnisse später immer wieder am poetologischen Regelwerk überprüft werden müßten. Auch Montaigne schließt sich in seinen »Essais« (1580) der rationalistischen Deutung des Enthusiasmus an. Nur auf niedrigem Niveau, schreibt Montaigne, könne man Dichtung nach den Regeln und der Kunstfertigkeit (par les preceptes et par art) beurteilen, große, »göttliche« Dichtung jedoch sei »über den Regeln und der Vernunft« (audessus des regles et de la raison). Mit ruhigem und gelassenem Blick sei ihre Schönheit nicht zu erfassen. Wen sie ergreife, dessen Urteilskraft reiße sie mit sich fort. Diese »Entrückung« beschreibt Montaigne mit dem Gleichnis Platons. Wie der Magnet seine Kraft an das Eisen weitergebe, so packe der furor den Dichter, der seine Entrückung wiederum an seine Zuhörer weitergebe. Diese Wirkung der Dichtung habe er selbst seit seiner frühen Kindheit erfahren.17 Nicht ein Gott entrücke den Dichter, sondern die Lektüre der großen Dichter entrücke ihren Leser so sehr, daß dieser sich selbst vergißt oder sogar selbst im Stil seiner Lektüre zu dichten beginnt. Auch das ist eine rationalistische Deutung des furor poeticus.

_____________ 16

17

Tasso: Lettere Bd. 1, Brief Nr. 94 (1577), S. 244 f. Vgl. auch den Brief vom 1. 10. 1583, Bd. 2, Nr. 258, S. 247 f., in dem Tasso versichert, seine Dichtungen gingen nicht auf einen furor zurück. Zu Tassos Melancholie vgl. Aurnhammer: Pathographie. Michel de Montaigne: Essais. Texte établi et annoté par Albert Thibaudet. Paris 1950, hier I.37, S. 269. Vgl. Franchet: Poète S. 40 Anm. 4. Zum Einfluß Pomponazzis vgl. Busson: Rationalisme S. 434-449.

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Scaliger Der eigentliche Propagator Pomponazzis in der Poetik ist Julius Cäsar Scaliger mit seinen »Poetices libri septem« (1561). Nach drei Kriterien könne man die Dichter klassifizieren: nach ihrem »spiritus«, nach der Epoche, der sie zugehörten, und nach ihrem Gegenstand.18 ›Spiritus‹ ist dabei wiederum im medizinischen Sinne des spiritus animalis als »Lebensgeist« zu verstehen.19 Daß es dieser spiritus animalis ist, den Scaliger als Klassifikationsmerkmal im Sinn hat, bestätigt der folgende Satz, in dem Scaliger auf »Poetik« 1455a 32-34 anspielt, ohne die Stelle wörtlich zu zitieren.20 Zwei Arten von Dichtern gebe es, die einen würden als solche geboren, die andern dagegen »von einem furor erfaßt und so aus der gemeinen Körperlichkeit herausgezogen« (furore rapi atque abstrahi a vulgari materia).21 Diese aristotelische Unterscheidung identifiziert Scaliger mit der Klassifikation der Dichter nach ihrem spiritus. Der einen Gruppe, zu der Hesiod und Homer gerechnet würden, komme »die göttliche Kraft vom Himmel herab von selbst und unvermutet zu Hilfe« (caelitus advenit illa divina vis aut ultro nec opinanti).22 Die zweite Gruppe dagegen, zu der Ennius, Horaz, Alkaios und Aristophanes gehörten, sei vom Alkohol enthusiasmiert, indem die »Ausdünstung des Weines« die »spiritus« als »Werkzeuge der Seele« »schärfe« und diese aus den »stofflichen Teilen des Körpers« herausziehe.23 Diese Parallele von göttlicher Entrückung und alkoholischem Rauschzustand war bereits im »Problem 30.1« angelegt. Die spiritus sind die »Werkzeuge« der Seele, weil sie genau die Stelle bezeichnen, an der Seele und Körper verbunden sind, und die Seele ihre Herrschaft über den Körper eben durch die spiritus ausübt. Durch den Weingenuß werden der Seele diese ihre Werkzeuge weggenommen und also, genau wie es beim furor geschieht, die Seele dem Körper ›entzogen‹. Die Seele verliert ihre Kontrolle über den Körper und die Sinneswahrnehmungen, wie es bei Rauschzuständen häufig zu beobachten ist. _____________ 18 19 20 21 22 23

Scaliger: Poetices libri I.2, S. 82. Deitz, dessen Übersetzung ich im folgenden zitiere, übersetzt den Begriff ›spiritus‹ mit ›Begabung‹, vgl. Scaliger: Poetices libri S. 82 f. Es findet sich allerdings schon im vorhergehenden Absatz ein wörtliches Zitat von 1455a, vgl. Scaliger: Poetices libri I.2, S. 80 Z. 9. Scaliger: Poetices libri I.2, S. 82. Scaliger: Poetices libri I.2, S. 82. Scaliger: Poetices libri I.2, S. 84: »Alterum acuit meri exhalatio educens animae instrumenta, spiritus ipsos a partibus corporis materialibus.« Meine Übersetzung.

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Bei der göttlichen Entrückung dagegen sind es ebenfalls die spiritus, die als »Werkzeuge der Seele« zu Gott hinauf gezogen werden und dort die Offenbarung erhalten. Wenn Scaliger die Dichter also nach ihren spiritus klassifiziert, klassifiziert er sie entsprechend der Herkunft ihrer Inspiration, die entweder göttlich oder durch die Wirkung des Alkohols verursacht ist. Das entscheidende an dieser Klassifikation ist die Art der Klassifikation selbst, das heißt die Tatsache, daß Scaliger den göttlichen furor mit dem alkoholischen Rausch parallelisiert. Die Offenbarungen, die der Dichter in seiner Entrückung erfährt, werden neben die Sinnestäuschungen des Betrunkenen gestellt. Diese ›Entmächtigung durch Klassifikation‹ könnte auch das Motiv der folgenden Einteilung der Dichter nach den Epochen sein. Die gesamten ›prisci theologi‹, die göttlich inspirierten Dichter wie Orpheus, Musäus und Linus, bringt Scaliger in einer ersten und zweiten Epoche unter, während dann eine dritte, offensichtlich bis in die Gegenwart andauernde Epoche alle anderen Dichter umfaßt.24 Es muß damit scheinen, als sei die alkoholisch induzierte Entrückung die einzige, die den modernen Dichtern verbleibt, während die echte, göttliche Entrückung das Phänomen einer längst vergangenen, abgeschlossenen Epoche ist. Scaliger würde damit derselben Haltung Ausdruck verleihen, die François Rabelais satirisch auf die Spitze getrieben hat. Wie Scaliger war auch Rabelais im Hauptberuf Arzt und also mit der spiritus-Lehre eng vertraut.25 Für den furor poeticus hat Rabelais nur den schärfsten Spott übrig. So kommentiert Panurge im 22. Kapitel des »Tiers livre« (1546) die wahlweise tiefsinnigen oder sinnlosen, angeblich von Apollon inspirierten Verse des alten Dichters Raminagrobis mit den Worten: »Nennen Sie das einen furor poeticus?«26 Wie nach ihm Scaliger gefällt Rabelais sich darin, den Enthusiasmus neben den Alkoholismus zu stellen. Im Prolog zum »Tiers livre« bittet er seine Leser, sich ein wenig zu gedulden, bis er einen Schluck aus der Flasche genommen habe, die er »meinen wahren und einzigen Helikon, meine kaballinische Quelle, meinen einzigen Enthusiasmus« nennt.27 _____________ 24 25 26 27

Scaliger: Poetices libri I.2, S. 84. Aggressiv antiplatonisch ist auch Scaligers »Contra poetices calumniatores disputatio«. Vgl. die Ausgabe und Übersetzung in Hall: Defense. Zum Einfluß der Naturphilosophie auf Rabelais vgl. Busson: Rationalisme, vor allem S. 179201, ad ind. François Rabelais: Oeuvres complètes. Édition établie, présentée et annotée par Mireille Huchon, avec la collaboration de Francois Moreau. Paris 1994, hier S. 418. Rabelais: Oeuvres S. 349.

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Der Gipfel des Spottes aber ist im 46. Kapitel des fünften Buches (1564) erreicht, das den Titel trägt: »Wie Panurge und die anderen im furor poeticus reimten«. Als Panurge dort die Augen verdreht, in konvulsivische Zuckungen verfällt und ihm sogar Schaum vor den Mund tritt, glaubt man zuerst an eine Magenverstimmung oder Vergiftung, bis auch Pantagruel und schließlich frère Jean von demselben »metrischen Enthusiasmus« erfaßt werden und vor sich hin zu reimen beginnen. »In höchstem Rot« stößt frère Jean schließlich die – offensichtlich göttlich inspirierten – Verse aus: »Oh Gott väterlicher Vater | der du das Wasser zu Wein verwandelst, | mach aus meinem Hintern eine Laterne, | damit ich meinem Nachbarn leuchten kann.«28 Der furor poeticus wird bei Rabelais und Scaliger zu einem folkloristischen Detail der antiken Mythologie, einem Aberglauben, der sich längst überlebt hat. Orpheus ist nicht mehr das überhistorische, zeitlose Modell aller echten, göttlich inspirierten Dichtung, wie er es noch für Ficino war, sondern eine historische, vielleicht auch nur mythologische Figur, deren Epoche abgeschlossen ist. Wer im Jahr 1561 noch an diese Dinge glaubt, läuft Gefahr, sich lächerlich zu machen. Scaliger entmythologisiert die dichterische Entrückung, indem er sie klassifiziert und historisiert. Nicht Orpheus, der im Zustand göttlicher Entrückung heilige Hymnen singt, steht am Anfang dieser Dichtung, sondern Hirten, die sich auf ihren Weiden langweilten. Die ersten Dichter waren nicht Philosophen, die ihre göttlich inspirierte Weisheit in verschlüsselter Form zur Ausdruck bringen wollten, sondern die Hirten, die sich die Zeit mit Wein, Weib und Gesang vertrieben. Diese schäferlichen Ursprünge der Dichtung sind kein äußerliches Kolorit, sondern markieren das Wesen von Scaligers Begriff der Dichtung. Die natürliche Entstehung der Dichtung aus einer Mischung von Langeweile, sexueller Erregung, Trunkenheit und Sangesbedürfnis sind das schärfste Argument, das gegen den neuplatonischen Begriff einer Dichtung als »erster Offenbarung« formuliert werden konnte. Vor dem reduktionistischen Blick des Arztes, der Scaliger ist, schmilzt die Entstehung der Dichtung auf die rudimentären Tatsachen des Lebens zusammen. Aus dieser historischen und anthropologischen Perspektive folgt auch, daß die Geschichte der Dichtung keine Geschichte der Degeneration ist, in der sich aus den göttlichen Anfängen die zunehmend schwächeren Erzeugnisse des menschlichen Geistes entwickeln, sondern genau umgekehrt eine Geschichte, die von den einfachen zu den komplexen Formen _____________ 28

Rabelais: Oeuvres S. 836. Der Spott von Rabelais dürfte hier insbesondere Ronsard und der Pléiade gelten, die einen exzessiven Kult des Enthusiasmus betrieben.

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führt. »Im übrigen sind alle Künste am Anfang roh und verfeinern sich dann im Laufe der Zeit.«29 Damit aber sind die Gesetze, denen die Dichtung gehorcht, immer schon historische. Anders als Zabarella, der noch am Ende des Jahrhunderts glaubt, das Wesen der Dichtung erkennen zu können, indem er dieses aus den Gesetzen der Logik deduziert, ohne die Dichtung selbst dabei auch nur eines einzigen Blickes zu würdigen, ist für Scaliger von vornherein der Kern der Poetik die Literaturgeschichte. Wie Aristoteles sichtet Scaliger die Literaturgeschichte, ordnet und klassifiziert, benennt Übereinstimmung und Abweichung, und aus diesem Material formuliert er seine Regeln. Dichtung gehorcht nicht einem Ideal der Vernunft, sondern sie ist, was im Laufe der Geschichte unter diesem Namen verfaßt worden ist. Dieser Poetik als Literaturgeschichte, wie Scaliger sie betreibt, wohnt als einer bloßen empirischen Erhebung von Daten und Fakten eine enorm subversive Kraft inne. Sie mußte sich auf jeden Versuch einer Sakralisierung der Dichtung, wie ihn der Neuplatonismus Ficinos darstellt, vernichtend auswirken.

Vossius Während Scaliger die Existenz des furor wenigstens als Möglichkeit bei einigen ganz frühen Dichtern zugestanden hatte, bestreitet sein Verehrer Gerhard Johannes Vossius 1647 in seinem »De artis poeticae natura ac constitutione liber« eine solche Möglichkeit gänzlich. Das erste Kapitel ist dem auf den ersten Blick unscheinbaren Nachweis gewidmet, daß die Prosa historisch gesehen älter sein muß als die metrisch gebundene Sprache.30 Bedeutsam ist diese Tatsache, weil Vossius damit von vornherein wie Scaliger (den er ehrfurchtsvoll zitiert) die Dichtung als historische Tatsache behandelt. Ausgeschlossen ist damit, daß die Dichtung einen göttlichen Ursprung hat und die Versform etwas wesenhaft anderes wäre als die Prosa. Die Dichtung war anfänglich nicht eine »erste Theologie«, sondern sie hat einen klaren, historisch zu bestimmenden Anfang, der als solcher bereits innerhalb der Geschichte liegt. Die letzten vier Kapitel sind den Wirkursachen (causae efficientes) der Dichtung gewidmet, nämlich erstens der Begabung (natura), zweitens dem _____________ 29 30

Scaliger: Poetices libri III.96, S. 32: »Ceterum omnes artes rudiores primum, tractu deinde temporis excoluntur.« Zu Scaligers Historisierung der Dichtung vgl. oben S. 154 ff. Vossius: De artis poeticae natura 1, S. 2. Zu Vossius vgl. Häfner: Götter S. 37-48.

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furor poeticus, drittens dem natürlichen, das heißt nicht theoretisch reflektierten Sangesbedürfnis und viertens der Kunstlehre (ars) als Vervollkommnung dieses natürlichen Bedürfnisses. Daß es sich bei der Poetik überhaupt um eine Kunst (ars) handelt, hatte Vossius schon im fünften Kapitel geklärt. Dies nämlich wäre nicht der Fall, wenn die Dichtung allein von der Begabung (natura) oder einem »göttlichen Anhauch« (afflatus divinus) abhinge, wie das Sprichwort »Redner werden gemacht, Dichter geboren« suggeriert.31 Den Katalog von Belegen für diese Überzeugung, der Cicero, Platon und Pindar umfaßt, schließt Vossius jedoch mit der Bemerkung, aus all dem könne man nur folgern, daß der Dichter »eine große Kraft der Begabung« (magnam ingenii vim) brauche.32 Daß es Regeln gebe, könne niemand bezweifeln, denn alle Dichtungen stimmen in bestimmten Punkten überein und weichen in anderen voneinander ab. An diesen Abweichungen könne man erkennen, was der eine Dichter besser als der andere gemacht habe, daraus Regeln ableiten und diese in einer Kunstlehre zusammenfassen.33 Genau dies ist es, was Scaliger im vergangenen Jahrhundert geleistet habe, und wofür man aus der Antike jenes »Wunder der Natur« haben, die »Poetik« des Aristoteles.34 Das elfte Kapitel schließt an diese Naturalisierung des furor poeticus an. Unter dem Begriff der Begabung und Naturanlage (natura) selbst begreift Vossius dort sowohl die Qualität der Begabung, das heißt »die dem Menschen von Natur mitgegebene und angeborene Erfindungskraft« (vim excogitandi natura homini insitam innatamque) als auch jenen »Drang der Natur, durch den wir bei der Abfassung einer Dichtung entrückt werden« (impetum illum naturae, quo rapimur ad poema condendum). Letzterer werde metaphorisch auch furor genannt, weil der Dichter gleichsam außer seiner selbst sei und die Verhaltensweisen und Gefühle von anderen annehme.35 Diese zweifache Art der Naturanlage bringe Aristoteles »Poetik« 1455a 32-34 zum Ausdruck, wenn er dort schreibe, die Dichtung sei Sache von Begabten oder von Entrückten. Mit diesen Worten habe Aristoteles zwei Arten von Ursachen für das dichterische Vermögen angegeben, wobei das eine von Geburt an da sei, das andere aber von außen dazukomme. _____________ 31 32 33 34 35

Vossius: De artis poeticae natura 5.1, S. 23 f. Vossius: De artis poeticae natura 5.2, S. 25. Vossius: De artis poeticae natura 5.4, S. 26. Vossius: De artis poeticae natura 5.5, S. 27 f. Vossius: De artis poeticae natura 11.3, S. 64.

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Das erste sei die Begabung, welche dafür verantwortlich sei, daß die einen Kinder mehr und die anderen weniger scharfsinnig und erfindungsreich sind, und deswegen gehöre zu dieser Begabung vor allem eine gut ausgebildete Phantasie. Die andere Ursache sei die μᾶνία oder ἔκστασις, die dafür verantwortlich ist, daß jemand außerhalb seiner selbst »entrückt« werden könne, das heißt, sich in einen anderen Menschen hineinversetzen und dessen Gedanken und Äußerungen darstellen könne.36 Deswegen würden auch – wie es mit Bezug auf Aristoteles 1448b heißt – die einen, die von Natur aus ernster veranlagt seien, ernstere und würdigere Handlungen nachahmen (sie können sich nämlich besser in ernstere Charaktere versetzen) und diejenigen, die von Natur aus leichtsinniger veranlagt seien, eher leichtere und alltäglichere Handlungen.37 Die Tatsache, daß es überhaupt zur Überzeugung von einer göttlichen Inspiration der Dichter kommen konnte, führt Vossius auf einen Betrug der heidnischen Priester zurück. Nachdem sich die Heiden einmal an die Orakelpriester und ihre Berufung auf göttliche Inspiration gewöhnt hätten, sei es nicht schwer gewesen, eine solche Entrückung zu simulieren. Diejenigen, die das ganze durchschaut hätten, hätten es nicht gewagt, den Betrug aufzudecken, denn es seien nicht nur die Priester, sondern auch der Adel und die Könige in ihn verwickelt gewesen. »Die Dichter aber, die von den Priestern ernährt wurden, um in doppeldeutigen Versen das zu verbürgen, was ihnen die Priester befahlen, hüteten eifrig dieses schreckliche Geheimnis.«38 Zu diesen Hütern des Geheimnisses zählt Vossius auch Platon, dessen Enthusiasmus-Theorie er ausführlich referiert, um dann in einigen wenigen Sätzen zu vermerken, daß Aristoteles darüber ganz anders gedacht habe, wenn er jene »Erregung der Natur« physiologisch erklärt habe, indem er sie auf ein besonders ausgeprägtes melancholisches Temperament zurückführe.39 Zu dieser Überzeugung sei Aristoteles gekommen, weil er – und hier übernimmt Vossius das Argument Pomponazzis – rein naturphilosophisch argumentiert habe. Weil Aristoteles die Existenz von Dämonen nicht angenommen habe, habe er den furor poeticus nicht auf Musen oder Götter zurückgeführt, sondern auf ein melancholisches Temperament, das der Wirkung des Weines vergleichbar sei. _____________ 36 37 38

39

Vossius: De artis poeticae natura 11.3, S. 65. Vossius: De artis poeticae natura 11.7, S. 67. Vossius: De artis poeticae natura 12.1, S. 69: »Poetae autem, quia a sacerdotibus alebantur, ut versibus ambiguis consignarent, quae iussissent sacerdotes, sedulo horribile illud secretum occultabant.« Vossius: De arte poeticae natura 12.2, S. 71 f.

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Auf dieselbe Ursache habe er im »Problem 30.1« auch die Sibyllen, die Bacchen und jede andere Art von angeblich göttlicher Entrückung zurückgeführt. Der Dichter glaube, »entrückt« zu sein, weil er sich aufgrund seines melancholischen Temperaments oder der stimulierenden Wirkung des Weins mit den Personen seiner Dichtung so stark identifiziere, daß er von seinem eigenen Körper kein Bewußtsein mehr habe.40 Was von den antiken Inspirationsmythen nach dieser Erklärung noch übrig ist, löst Vossius philologisch auf. Ein Traum sei es, zu glauben, daß jemand ein Dichter werden könne, indem er auf dem Helikon träumt, wie es Hesiod von sich behauptet habe.41 Der Name »Helikon« sei auf das hebräische Wort »halach«, das »umhergehen«, »Muße haben« bedeute, zurückzuführen, ähnlich wie »Parnaß« auf denselben chaldäischen Wortstamm wie »pascere« (weiden) zurückzuführen ist. Wenn Hesiod also behauptet, daß er beim Weiden seiner Schafe auf dem Helikon eingeschlafen und im Traum zum Dichter berufen worden sei, will er nichts anderes sagen, als daß die Dichtung Muße und Zurückgezogenheit erfordere, wie man sie beim Weiden der Schafe habe. Manche, wie zum Beispiel Avicenna, hätten den Versuch gemacht, die platonische und die aristotelische Überzeugung so miteinander zu versöhnen, daß der furor poeticus von der Melancholie stamme, diese aber dämonisch beeinflußt sei. Jedoch bedarf es nach Vossius hier nicht der Annahme einer dämonischen Inspiration. Ein gut entwickeltes Vorstellungsvermögen, Musik und die Lektüre der besten Dicher genügten völlig, um jemanden, der über die entsprechende Naturanlage verfüge, so zu inspirieren, daß er Gedichte schreiben könne.42 Was man deshalb früher metaphorisch einen »furor poeticus« genannt habe, könne man nun als »Erregung der Naturanlage« (excitatio ingenii) auf fünf natürliche Ursachen zurückführen. Diese sind das Säftegleichgewicht, das heißt ein melancholisches Temperament; der Affekt oder das Gefühl, in das sich der Dichter versetzt; der Wein, der, freizügiger genossen, den Geist aus seiner Lähmung reißt; Musik, die dasselbe bewirkt; und schließlich die Vorbildfunktion, die die Lektüre der besten Dichter hat.43 Das heißt auch, daß die Dichtung weder mythische Anfänge (Orpheus) hat, noch auf eine Uroffenbarung (prisca theologia) zurückgeht, sondern daß sie »natürlich« entstanden ist, nämlich aus dem spontanen, theoretisch unreflektierten Bedürfnis nach Lied und Gesang. Wie bei _____________ 40 41 42 43

Vossius: De artis poeticae natura 12.2, S. 72. Damit erklärt Vossius auch den Emendationsvorschlag zu 1455a 32-34 von Castelvetro (vgl. oben S. 225) für unnötig. Vossius: De artis poeticae natura 12, S. 68 und 12.8, S. 74 f. Vossius: De artis poeticae natura 12.4 und 5, S. 72. Vossius: De artis poeticae natura 12.6, S. 72 f.

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Göttliche Entrückung oder natürliche Begabung

Scaliger sind es diese »Autoschediasmata« der Dichtung, wie sie »Poetik« 1448b beschrieben werden, die die spontane Zeugung der Dichtung aus der Improvisation und damit die Historisierung der Dichtung begründen. »Carmina subito et ex tempore fusa« nennt Vossius sie. Aus ihnen seien nach und nach die Gesetze der Dichtung, von den metrischen angefangen, abgeleitet worden.44 Historisch verortet Vossius diese Anfänge bei den orientalischen Völkern, wie die metrisch noch unvollkommenen Verse des Alten Testamentes zeigten.45 In den »Poeticae Institutiones« (1647) erläutert Vossius denselben Sachverhalt aus der Perspektive der Frage, was ein Dichter wissen müsse. Zwar gelte, daß, wer von dem Sachverhalt, den er darstellen wolle, nichts verstehe, ihn nicht darstellen könne. Auf der anderen Seite wäre es jedoch lächerlich, vom Dichter eine Kenntnis aller Sachverhalte und Wissenschaften zu fordern, wie es seit der Antike immer wieder geschehen sei. Vossius weiß nicht, ob er über solchen Hochmut lachen oder lieber die Dummheit derjenigen beweinen soll, die glaubten, den Dichter zu loben, indem sie ihm ein solches Wissen zusprechen. Fast alle Dichter hätten in dem Sachverhalt, den sie behandelten, irgendwo einen Fehler gemacht, und über zahllose Gegenstände würden sie aus Unkenntnis überhaupt nicht wagen, zu schreiben. Grotesk sei die Behauptung, die Dichter hätten dieses Wissen aus göttlicher Inspiration, im Unterschied zu Grammatikern, Redner und Philosophen. Wie alle anderen Menschen hätten die Dichter ihre historischen, naturwissenschaftlichen und moralphilosophischen Kenntnisse von Lehrern gelernt oder durch Erfahrung erworben. Zwar sei zuzugeben, daß die Menschen aus den Werken der Dichter historische und naturphilosophische Kenntnisse geschöpft hätten. Dabei hätten sie die Dichter aber gerade nicht als Dichter gelesen, sondern als Historiker oder Philosophen. Wenn ein Architekt ein Gebäude auf dem Papier entwerfe, dann tue er dies als Maler, nicht als Architekt. Dumm wäre es, wenn man ihm deswegen die Kenntnis der Architektur, am allerdümmsten aber, wenn man ihm deswegen göttliche Inspiration zuspräche.46

_____________ 44 45 46

Vossius: De artis poeticae natura 13.1 und 2, S. 76. Vossius: De artis poeticae natura 13.2, S. 77. Vossius: Institutiones I.5, S. 3 f. (falsch paginiert).

Geschichte des Enthusiasmus Die Rezeption Ficinos 1486 bis 1518 Celtis, Augustinus Moravus, Corvinus, Barinus Schon 1497 (nach ihrem Erstdruck 1495) wurden Ficinos »Epistolae« – mit »De furore divino« an einer der ersten Stellen – in Nürnberg nachgedruckt. 1508 werden Landinos »Disputationes Camaldulenses« in Straßburg gedruckt. Um 1505 wird der Neuplatonismus bereits als Bewegung wahrgenommen, wenn der Nürnberger Humanist Pangratz Schwenter mit Augustinus Moravus, Matthaeus Lupinus und Jacob Locher drei neuplatonisch inspirierte Autoren in einer illustrierten Prachthandschrift versammelt.1 Ursprung der Bewegung war Konrad Celtis, der auf seiner italienischen Bildungsreise Ficino in Florenz gehört und später ›sodalitates‹ nach dem Muster der »academia platonica« gegründet hatte. Diese frühe Neuplatonismus-Rezeption findet vor dem konservativen Hintergrund der averroischen Tradition statt. Inspiration und Regelpoetik werden, wie bei Ficino, nicht als Widerspruch wahrgenommen. Celtis' eigene Poetik, die »Ars versificandi et carminum« (1486) ist in ihrem Kern eine Verslehre, ergänzt durch eine kurze Gattungslehre und stilistische Regeln.2 Gerahmt wird diese »Kunstlehre« (ars) von der Berufung auf apollinische Inspiration. In einem Widmungsgedicht an Friedrich den Weisen behauptet Celtis, die Poetik als Gabe Apollos und der Musen erhalten zu haben. In einem Abschlußgedicht, der »Ode an Apollon«, wird dieser _____________ 1

2

Apologia poetarum. Zur Entstehung vgl. dort die Einleitung von Worstbrock. Zu einer frühen Erwähnung des furor bei Petschmessingsloer oben S. 44, bei Gossenbrot oben S. 46, bei Gratius oben S. 47, bei Vives oben S. 54, bei Gentili oben S. 66. Grundlegend zu Celtis' »Ars versificandi« ist Robert: Celtis S. 19-103, zur Ingolstädter Rede S. 128-144; vgl. außerdem Robert: Carmina; Worstbrock: Ars versificandi und Worstbrock: Celtis. Zu Celtis' Ficino-Rezeption vgl. Giehlow: Celtis. Zum Dichtungsbegriff der »Ars versificandi« vgl. oben S. 51 f.

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aufgefordert, von Italien über die Alpen nach Deutschland zu kommen. Dasselbe Verhältnis von Regelvermittlung und Inspiration findet sich in der Ingolstädter Antrittsrede (1492). Celtis definiert mit Berufung auf Platon und Pythagoras die Dichtung als ›prima philosophia et theologia‹, bestimmt aber den Inhalt der Dichtung als »Beweise« (demonstrationes). Im Gegensatz zur Rhetorik bringe die Dichtung diese in Versen vor.3 Beides fügt sich dem didaktischen Zweck der Dichtung, wie ihn die ganze Rede entwickelt. In einem Brief am Ende der »Amores« (1502) heißt es, daß so, wie die Tiere nur zu bestimmten, durch den Einfluß der Sterne festgelegten Zeiten empfangen und gebären, auch die Dichter und Redner nur zu bestimmten Zeiten schöpferisch tätig sein könnten. Dies sei nicht unbedingt dann, wenn sie es selbst wünschen, sondern »wenn sie, ich weiß nicht von welchem Dämon oder Geist erregt, zum Schreiben begeistert und entrückt werden« (nescio quo δαίμονε aut spiritu concitati, ad scribendum incalescant et rapiantur). Wie sich der bei der Zeugung entstandene Foetus im Laufe der Zeit entwickle, so sei es auch mit den Werken der Dichter und Redner, die erst durch die Bearbeitungsstadien der inventio, dispositio und elocutio zu ihrer endgültigen Gestalt und Vollkommenheit gelangten.4 Die technische Gestaltung folgt auf die inspirierte Schöpfung. Dies ist auch der eigentliche Anlaß des Briefes, denn Celtis begründet damit, warum er zwölf Jahre lang mit der Veröffentlichung seiner »Amores« gewartet habe. Der Olmützer Bischof Augustinus Moravus (Käsenbrot) tritt in seinem »Dialogus in defensionem poetices« (1493) selbst als Person auf.5 Laelius findet ihn in bukolischer, mit Platons »Phädrus« assoziierter Umgebung bei der Lektüre antiker Dichtung und fordert ihn auf, sich mit nützlicheren Dingen zu beschäftigen, wie etwa der Medizin. Augustinus antwortet mit einer Invektive gegen die Medizin, die in dem Aperçu gipfelt, daß es besser gewesen wäre, wenn Platon die Mediziner, die weit mehr Schaden anrichten als die Dichter, aus seinem Staat verbannt hätte. Mit »Ion« 534B in der Übersetzung Ficinos antwortet Augustinus, der Dichter sei heilig und könne nur dichten, wenn er »von Gott erfüllt und außerhalb seiner selbst gestellt sei« (deo plenus et extra se positus).6 Mit zwei weiteren Platon-Zitaten heißt es, nichts könne wunderbarer sein, als wenn der Geist des Dichters von einem »göttlichen furor« erfaßt werde, _____________ 3 4 5 6

Celtis: Oratio S. 238. Celtis: Briefwechsel S. 473. Zu Augustinus Moravus vgl. Svoboda: Dialogo. Augustinus: Dialogus S. 23 Z. 30.

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so daß er seine eigenen Kräfte überschreite und den Göttern als Werkzeug diene.7 Auf den Einwand des Laelius, daß er trotzdem noch nicht verstehe, warum er sich mit solchem Unsinn wie den Fabeln der Dichter abgeben solle, antwortet Augustinus, daß gerade die von Laelius so geschätzten Ärzte sich mit diesen Fabeln abgäben. Dies demonstriert er mit der medizinischen Deutung eines antiken Mythos nach Plinius. Das Wesen der fabula definiert Augustinus entsprechend Macrobius' Kommentar zum »Somnium Scipionis« (I.2.7-9). Unterschieden werden müsse zwischen einer dem Vergnügen und einer der moralische Unterweisung dienenden fabula. Beispiele für die erstere seien die Komödien Menanders und die erfundenen Liebesgeschichten, die jedes Sachverstandes (sapientia) entbehrten. Die moralisch nützliche fabula wird weiter unterteilt in die erfundenen, empirisch unmöglichen Fabeln, wie die äsopischen, und diejenigen, die auf der Wahrheit beruhen, diese aber unter dem Schleier einer Erfindung vorbringen. Zu diesen letzteren gehörten die Erzählungen von den Genealogien der Götter von Hesiod und Orpheus und die pythagoreischen Mythen. Daß die »göttlichen Seher« (divini vates) ihre Dichtungen nicht ohne Grund verfaßten, soll eine kurze Gattungslehre beweisen, in der Augustinus zeigt, inwiefern die jeweilige Gattung der menschlichen Unterweisung dient. Vergil habe in Aeneas das Vorbild eines Fürsten entworfen. Die Tragiker lehrten die Unbeständigkeit menschlicher Angelegenheiten. Die Komödie zeichne ein Bild des tatsächlichen Lebens. Die Satire geißle das Laster. Fabeln und Parabeln brächten Menschen zur Vernunft, wie die Fabel des Menenius Agrippa, mit der er die Plebs nach Rom zurückgeholt hat. Diese Formen der Dichtung kann Augustinus, wie er selbst sagt, kurz behandeln, denn sie sind es nicht, die Laelius als Unsinn bezeichnet. Was umstritten ist, sind die mythologischen Erzählungen. Die zweite Hälfte des Dialogs ist deshalb der moralischen und naturphilosophischen Allegorese der antiken Mythologie gewidmet. Eine einzige Ausnahme von der göttlichen Inspiration der antiken Dichtung ist Augustinus bereit, einzugestehen, und das sind die lasziven Stellen. Diese wären auf die »persönlichen Leidenschaften« (privati affectus) der Dichter zurückzuführen und in der Tat nicht zu legitimieren.8 Ein Schüler von Celtis aus seiner Krakauer Zeit ist Laurentius Corvinus, dessen »Kurzgefaßte und leichtverständliche Darstellung der ver_____________ 7 8

Augustinus: Dialogus S. 24, Z. 11 ff. Augustinus: Dialogus S. 36 f.

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schiedenen Versformen, mit passenden Beispielen illustriert« (»Compendiosa et facilis diversorum carminum structura«) 1496 erschien und bis 1508 drei Auflagen erlebte. Logik und naturphilosophischer Sachverstand, heißt es in dem an seine Schüler gerichteten Prolog, sind Voraussetzungen für den »gelehrten Seher« (doctus vates). Zwar finde man Logiker und Philosophen, die von der Dichtung keine Ahnung hätten, niemals jedoch Dichter, die von Logik und Philosophie keine Ahnung hätten.9 Ursprung der Dichtung sei das Gebet, das durch die Schönheit seiner rhythmischen Struktur als Nachahmung der Sphärenharmonie (harmonia celestis) die himmlischen Götter gewogen machen und von den unterirdischen Schonung erflehen solle. Eine »unbearbeitete rhythmische Struktur« habe von Beginn der Welt an existiert. Als Gott den Dichtern eine »spirituelle Tugend und himmlische Kraft einflößte« (spiritalem quandam virtutem et celestem vim inspiraret), hätten diese – entsprechend der Abfolge von inventio und elocutio – etwas Außergewöhnliches gefunden, es mit dichterischem Schmuck ausgestaltet und in metrische Form gebracht.10 Eine Reihe von antiken und christlichen Autoritäten (Cicero, Platon, Ovid, David, Salomon) belegt diese Inspiration. Freilich sind die Dichtungen mit erfundenen figmenta gemischt, ziehe man jedoch die äußere, fabelhafte Schale ab, bleibe nichts außer Wahrheit und das reine Mark der Philosophie.11 Die erste Regel der folgenden Poetik besagt, daß der Dichter darauf achten müsse, ob sein Stoff einen erhabenen, mittleren oder niederen Stil erfordere. Zweitens müsse er entsprechend dieses Stoffes gleichnishafte Erzählungen (fabellae) wählen, die sich auf die Geschichte, die Geographie, die Astronomie oder auf das verborgene Wesen der Dinge beziehen könnten. Die Dichter erfänden keine Geschehnisse, sondern stellten, wie es mit Laktanz heißt, das tatsächlich Geschehene in anderen Formen und in poetischer Verhüllung dar. Drittens müsse der Dichter eine stilistische und metrische Gestaltung wählen, wie sie der jeweiligen Gattung entspreche.12 Der umfangreiche Rest der Poetik betrifft Stilistik und Verslehre. In der Widmung seiner »Musterung der Arten von Sehern und ihrer Dichtungen« (»Recognitio in genere vatum et carmina eorundem«, 1494) begrüßt Jacob Barinus es, daß das Studium der alten Dichter wieder möglich sei.13 _____________ 9 10 11 12 13

Corvinus: Carminum structura f. A2v. Corvinus: Carminum structura f. A2v f. Corvinus: Carminum structura f. A3r f. Corvinus: Carminum structura f. A5r. Zu Barinus vgl. Rupprich in Humanismus und Renaissance S. 45 und Bauch: Frühhumanismus S. 44-47.

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Soweit, wie die Menschen über den Tieren, stünden die Dichter über den anderen Menschen. Zu Recht werde die Dichtung als prima philosophia bezeichnet, weil sie zeige, wie man leben solle. Hermes Trismegistus werde deshalb der ›Dreifach Große‹ genannt, weil er Philosoph, Priester und König gewesen sei. Weil er als erster über Physik, Mathematik und die Ordnung der Dämonen disputiert habe, sei er der primus theologiae autor, dessen Wissen von Orpheus über Pythagoras und Philolaus bis zu Platon weitergegeben worden sei. Die prisca theologia, die er gefunden habe, habe Platon vollendet. Wieso jetzt so ein Geschrei und Gekläffe gegen die »Religion der Dichter« einsetze, sei unerfindlich. Die »Musterung« besteht, wie es der Titel anzeigt, aus einer Aufzählung der antiken Dichter und einigen Stichworten zu ihren Werken, nach Gattungen gegliedert. Anläßlich der Liebesgedichte des Properz schiebt Barinus ein Kapitel »Über die erlaubte und unerlaubte Liebe der Dichter« (»De concesssis et inconcessis amoribus poetarum«) ein, in dem er Ficinos »De amore« (1469) ausschreibt. Den Dichtern wohne eine himmlische Kraft inne. Die Liebe, die sie besängen, sei nicht die der Tiere, sondern die, die den Menschen über sich selbst hinaushebe, wie sie zwischen den Göttern und den Menschen die Mitte halte. Sie mache die Menschen der Göttlichkeit teilhaftig, versuche das Schöne darzustellen und das Häßliche und Nutzlose zu verwerfen. Wie die Liebe alle Lebewesen zur körperlichen Fortpflanzung treibe, so suche sie auch geistig nur das Beste hervorzubringen und es für die Menschen nutzbar zu machen. Aus diesem Grunde habe Solon seine Gesetze aufgestellt und deshalb verbänden die Dichter Schönheit des Geistes und Körpers, wenn sie in ihren Werken die Irrungen und Wirrungen der Liebe darstellten. Unwahrscheinlich sei es, daß die Dichter wegen eines bloß tierischen Begehrens so viele Bände geschrieben hätten. Körperlich und geistig spürten sie der Liebe nach und erst nach langen Mühen gelänge es ihnen, die Liebe selbst in ihrem Urbild zu schauen. Diese Suche der Dichter nach der Liebe dürfe man nicht mit Laszivität und Wollust verwechseln. Nachdem die Dichter die »Kenntnis aller Sachverhalte« erlangt hätten, verhüllten sie die »geheimen Gedanken der unsterblichen Götter und der Natur«, um dadurch ein Vergnügen zu erzeugen und diese Wahrheiten desto leichter in die Anwendung zu überführen.14 Die Herkunft der Liebe referiert Barinus wörtlich nach Ficinos »De amore« IV.1 mit der platonischen Fabel von den Doppelwesen, die Zeus in männliche und weibliche zerschnitt. _____________ 14

Barinus: Recognitio f. A6v.

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Lupinus Im Rahmen einer disputatio de quolibet, im Sommersemester 1497 in Leipzig gehalten, 1500 gedruckt, verteidigt Matthäus Lupinus Calidomius die Dichter gegen ihren Ausschluß aus Platons Staat.15 Die »Quaestio« ist in drei articuli unterteilt. Der erste Artikel begründet, warum die Dichter »göttliche Seher« (divini vates) genannt werden, der zweite erläutert die furor-Theorie und der dritte zeigt, daß echte Dichtung von Gott kommt (vera poesis a deo est). Der Begriff ›vates‹ ist nach Lupinus mit dem griechischen ›Prophet‹ gleichzusetzen, dem »Übersetzer der Gesetze und Orakel«. Ein Exeget der zukünftigen Schicksale (fatum) sei der Seher (vates), weil er, »angehaucht vom göttlichem Wesen«, das Zukünftige in Versen vorhersage.16 Lupinus belegt dies mit den Versen der cumäischen Sibylle, in denen Vergil die Geburt eines Knaben vorhergesagt hat. Ein Dichter oder Seher in diesem Sinne heißt nicht jeder, der Verse schreibt, sondern nur der, »der mit Unterstützung der Musen, das heißt von einer göttlichen Erregung des Geistes erfaßt, Dichtungen ersinnt, wobei ich gute Dichtungen meine, aus denen der furor poeticus, das heißt ein Drang zum Sprechen und eine bestimmte Göttlichkeit des ingenium herausleuchtet«.17 Der »vollkommene Dichter« und »göttliche Seher« müsse Kenntnis der Dichtkunst (ars poetica) und göttlichen Wahnsinn (divinus furor) besitzen, und wem diese beiden fehlten, der nenne sich umsonst Dichter.18 Die Kenntnis der Dichtkunst könne sich jeder aneignen, fehle jedoch der furor, bleibe er ein bloßer Verseschmied oder »poetaster«, wie die meisten.19 Selbst Horaz habe sich aus diesem Grund gelegentlich nicht zu den Dichtern gerechnet, wie »Satiren« I.4.38 ff. zeige. Mit Horaz heißt es weiter, daß es nicht genug sei, einen Vers schreiben zu können, den nichts von der Alltagssprache unterscheide, wenn man das Metrum auflöse. Den echten Dichter erkenne man vielmehr am Gebrauch eines so erhabenen Stiles, daß, werde die metrische Anordnung der Worte aufgelöst, jeder _____________ 15

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Zu Lupinus vgl. die Einführung von Rupprich in Humanismus und Renaissance S. 45 f., Bauch: Frühhumanismus S. 59-66 und Tewes: Nominalisten S. 461 f. Rupprich hat leider nur einen Teil des Textes herausgegeben. Soweit möglich, zitiere ich nach dieser Ausgabe. Lupinus: Quaestio S. 268. Lupinus: Quaestio S. 269: »Neque etiam accipitur poeta pro quolibet versus scribente, sed pro eo, qui Musarum auxilio, id est quadam divina mentis concitatione carmina componit, carmina inquam bona, e quibus furor poeticus, id est dicendi impetus et quaedam ingenii divinitas relucet, quae non pulchra solum, sed et dulcia sunt.« Lupinus: Quaestio S. 269. Lupinus: Quaestio S. 269.

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beliebige versificator die Worte sofort wieder in ihre Versform bringen könne.20 Weitere Beispiele für die göttliche Entrückung der Dichter sind die türkischen Derwische, die sich im Zustand der Entrückung in rhythmisch gegliederter und stilistisch vollkommener Form äußerten. Als Signum ihrer göttlichen Inspiration wertet Lupinus, daß ihre Äußerungen mehr christliche als türkische Glaubenswahrheiten bestätigten, so daß die Weissagungen der Derwische von den islamischen Priestern abgelehnt und nicht verstanden würden.21 Dies entspricht einem späteren Abschnitt der »Quaestio«, in dem Lupinus versichert, daß alle echten Dichter, die von Gott sangen, in allen Weltaltern nur den einen und einzigen Gott meinten, von Orpheus angefangen.22 Weitere Beispiele sind Dante und Freidank. Klingsor habe die Geburt der heiligen Elisabeth geweissagt. Hätte er nicht Angst, sich lächerlich zu machen, würde Lupinus auch von jenem analphabetischen Sattlermeister erzählen, den er als Kind einst ex tempore rhythmisch sprechen hörte. Solche Menschen können wohl auch Propheten gewesen sein, wie Hieronymus bezeuge. Nach Platon sei überhaupt nichts Dauerhaftes ohne den Einfluß des furor geschrieben worden. Dies betreffe auch die Kirchenväter, wie etwa Augustinus, die dort, wo ihnen in ihren Reden und Predigten ein poetischer Stoff begegnete, von Entrückung erfaßt worden seien. Den Vers Ovid: »Fasti« 6.5 – »Es ist ein Gott in uns, erregt von ihm erglühen wir« – hätte mit genau demselben Recht auch Augustinus von sich sagen können. Der zweite Teil der »Quaestio« ist der Frage gewidmet, was der furor überhaupt ist und welche Arten es gibt. Mit Platon unterscheidet Lupinus zwischen einem Wahnsinn als Krankheit (insania), der aus dem Menschen ein Tier mache, und einem Wahnsinn als göttlicher Entrückung (furor), der den Menschen über sich erhebe und besonders häufig, wie Aristoteles (gemeint ist das »Problem 30.1«) schreibe, bei Melancholikern anzutreffen sei. Dies illustriert Lupinus mit dem Beispiel eines gewissen Walter, der in Lupinus' Gegenwart den Brand eines Hauses vorhergesagt habe. Neben dem furor poeticus gebe es auch andere Arten der Entrückung, für die Lupinus auf Ficino verweist. Der dritte Teil der »Quaestio« setzt die Platon und Ficino-Exegese fort, indem Lupinus unter anderem die vier Zeichen referiert, an denen _____________ 20 21 22

Lupinus: Quaestio S. 270. Lupinus: Quaestio S. 270. Lupinus: Carmina f. djr f., in dem von Rupprich nicht herausgegebenen Teil.

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göttliche Beseeltheit zu erkennen sei. Erstens umfaßten die echten Dichter (legitimi poetae) wie Orpheus, Homer, Hesiod und Pindar alle Künste und Wissenschaften in ihren Werken, ohne sie studiert zu haben. Zweitens verstünden diese Dichter oft später ihre eigenen Werke nicht mehr. Drittens reiche selbst die größte intellektuelle Anstrengung allein nicht aus, große Dichtung zu erzeugen. Viertens seien oft rohe und ungebildete Menschen plötzlich die größten Dichter, wie der Schafhirte Hesiod, König David oder der heilige Franciscus. Auch diesen Punkt bestätigt Lupinus aus eigener Erfahrung, denn Johannes Cuspinian, heute gekrönter Dichter, sei in jungen Jahren sein Schüler gewesen, und obwohl dieser noch kaum Latein gekonnt hätte, hätte er nicht nur seine Mitschüler, sondern auch ihn, seinen Lehrer, überragt. Völlig zu Recht sei Cuspinian deshalb von Kaiser Maximilian zum Dichter gekrönt worden, während er, sein Lehrer, im Staub der Schulen ersticke.23

Wimpina gegen Polich Mit den Schriften von Barinus und Lupinus wurde die humanistisch geprägte Universität Leipzig zu einem Zentrum für die Rezeption des Neuplatonismus. Wie in Florenz regte sich auch in Leipzig Widerspruch. Im Mittelpunkt des Streites zwischen Martin Polich und seinem ehemaligen Schüler Konrad Wimpina stand die Frage einer göttlichen Inspiration der Dichter. Polich, der diese Inspiration behauptete, berief sich am Ende seines »Laconismos« auf die von Celtis gegründeten ›sodalitates‹, insbesondere auf Johann von Dalberg und Bohuslaus von Hasenstein, der dort als Nachfolger des verstorbenen Matthäus Lupinus bezeichnet wird.24 Anlaß des Streites ist die Behauptung eines ungenannten Leipziger Dichters, die – oder eine – Quelle der ›heiligen Weisheit‹ sei die Dichtung (fontem sophiae poesim esse sacratae).25 Damit würde der Dichtung im Sinne einer prisca theologia Offenbarungscharakter zugesprochen. Gegen diesen Anspruch richtet sich Wimpinas »Verteidigungsschrift zum Schutz der heiligen Theologie, gegen diejenigen gerichtet, die ver_____________ 23 24

25

Lupinus: Quaestio S. 275, Z. 12-19. Polich: Laconismos f. C5v. Polich hatte zu Celtis' »Ars versificandi« und zu dessen Ausgabe der Tragödien Senecas Widmungsgedichte beigesteuert. Darstellung des Streites bei Bauch: Frühhumanismus S. 96-167; Overfield: Humanism S. 173-185 und Tewes: Nominalisten. Bibliographie Polichs bei Schlereth: Pollichiana. Wimpina: Apologeticus f. B4r.

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sucht haben, die Dichtung zur Quelle, zum Haupt und zur Beherrscherin der Theologie zu machen« (»Apologeticus in sacre theologie defensionem. Adversus eos qui nixi sunt eidem, fontem caput et patronam poesim instituere«, 1500). Wimpina übernimmt nicht nur den Titel »Apologeticus« von Savonarola, sondern auch die Argumente, wenn er sich gegen die neuplatonische Aufwertung der Dichtung auf die aristotelische Wissenschaftseinteilung beruft. Der Rang einer Wissenschaft beruhe auf der Würde ihres Gegenstands und der Gewißheit ihrer Erkenntnis. Mit Thomas' Kommentar zur »Zweiten Analytik«, den schon Savonarola zitiert hatte, stellt Wimpina die Dichtung zu den Teilen der Logik, hinter die Rhetorik und vor die Sophistik, also auf den vorletzten Platz innerhalb des gesamten Systems.26 Mit wörtlicher Aufnahme der averroischen Poetik schreibt Wimpina, der »poetische Syllogismus« (ratiocinatio poetica), auf dem die Gleichnishaftigkeit (assimilatio, representatio) der Dichtung beruhe, könne kein Wissen erzeugen.27 Durch diese Gleichnishaftigkeit werde ein Sachverhalt als abschreckend oder wünschenswert dargestellt. Dies könne nur eine Einschätzung oder Meinung (existimatio) erzeugen, kein notwendiges Wissen. Deshalb könne die Dichtung nicht Quelle der Theologie sein.28 Freilich wisse er, Wimpina, daß die Dichtung von berühmten Männern verteidigt worden sei. Er selbst habe Enea Sylvio Piccolomini und Boccaccio gelesen. Aber keiner hätte die absurde Behauptung vertreten, die Dichtung wäre der Theologie voranzustellen. Wer behaupte, daß es vor den Theologen schon Dichter gegeben habe, könne sich nur auf die heidnische Theologie beziehen, die ihren Göttern Verbrechen andichte, nicht aber auf die Offenbarung. Daß Orpheus und seinesgleichen Theologen genannt würden, obwohl sie doch nichts von den Vollkommenheiten des ersten Seins wüßten, sei nur dem Unwissen des Volkes zu verdanken. Die angeblichen Dichtertheologen hätten von den ägyptischen Priestern über die jüdischen Essäer und indischen Brahmanen bis zu den gallischen Druiden nicht die eigentlichen Funktionen von Dichtern erfüllt. Er selbst sei in Rom gewesen und habe dort keinen Theologen über Poetisches sprechen hören. Auch wenn man die antiken Dichter von Aischylos bis Afranius lese, finde man dort keine Erörterung von theologischen Begriffen. Keiner der Dichter habe etwas über die in der Theologie so viel erörterte Frage geschrieben, ob die von den Sakramenten unterschiedenen Sakramentalien ein und dieselbe Gnade enthielten.29 _____________ 26 27 28 29

Wimpina: Apologeticus f. A3v. Wimpina: Responsio f. A5r führt dieses Argument weiter aus. Wimpina: Responsio f. B4r. Wimpina: Apologeticus f. A6v.

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Wer sich zuviel mit der Lektüre der Dichter abgebe, könne so schwierige Dinge wie die quididates rerum irgendwann nicht mehr durchdringen. Er werde niemals zu den Höhen der Theologie aufsteigen, zu Thomas, Hugo von Sachsen oder Albertus Magnus. Manche Kirchenväter seien zwar literarisch gebildet gewesen, hätten dies aber bereut, wie Augustinus, oder seien dafür bestraft worden, wie Hieronymus in seinem Prügeltraum. Die prophetischen Schriften der Bibel seien zwar in dichterischer Form geschrieben, inspiriert aber nur dem Inhalt nach. Weil die Propheten Seher und Dichter (vates) gewesen seien, hätten sie die Inhalte der göttlichen Inspiration in dichterische Form überführt. Aber nicht durch diese poetische Form werde jemand zum Propheten, sondern durch die ekstatische Vision. Wenn in den Kirchen Hymnen gesungen würden, heiße dies nur, daß die Dichtung von den religiösen Bräuchen nicht ganz ausgeschlossen sei. Von der Theologie als Theorie dagegen müsse sie ausgeschlossen werden.30 Zwar könne also die Dichtung nicht Quelle der Theologie sein, wohl aber sei die Theologie Quelle der Dichtung. Augustinus lasse die Theologie mit dem ›fiat lux‹ des ersten Tages geschaffen sein, und da dem ersten Tag nichts vorausgehe, müsse die Theologie die Quelle der Dichtung sein. Abraham sei älter als alle Dichter und Historiker. Moses habe lange vor dem trojanischen Krieg gelebt, mit dem die Dichtung begann. Dies hätten die Griechen gewußt, denn ihr Musäus, den sie als Lehrer des Orpheus bezeichnen, sei mit Moses identisch. Von ihm sei alle Weisheit über die Phönizier an die Griechen weitergeleitet worden.31 Dem »Apologeticus« Wimpinas antwortet Polich mit seinem »Laconismos tumultuarius in defensionem poetices« (1500). Polich bestreitet darin nicht die Zuordnung der Poetik zur Logik, sondern nur, daß daraus eine Unterordnung im Sinne eines Rangverhältnisses abzuleiten sei. Nach Aristoteles werde keine ars rationalis (die Disziplinen des »Organon«) einer scientia realis (zu denen die Theologie gehört) untergeordnet. Beide Arten von Wissenschaften könnten nicht miteinander verglichen werden. Der würdigere Gegenstand und die größere Gewißheit einer Wissenschaft widersprächen nicht der Tatsache, daß diese trotzdem aus einer anderen Wissenschaft als ihrer Quelle abgeleitet sein könne. Die Dichtung sei keine Wissenschaft im eigentlichen Sinne, sondern eine »Art des Wissens« (modus sciendi) und eine »Fähigkeit des Erörterns« (facultas disserendi). Die Dichtung bezöge ihre Würde aus der Tatsache, daß sie die pädagogische Vermittlung der Theologie unterstütze. _____________ 30 31

Wimpina: Apologeticus f. B3v. Wimpina: Apologeticus f. B5r ff.

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Wimpina habe die ganze thomistische Einteilung der Wissenschaften nicht verstanden. Thomas definiere die Poetik gar nicht als Wissen über Versformen und Silbenlängen, was zur Grammatik gehöre, und auch nicht über stilistische Fragen, wie sie zur Rhetorik gehörten. Wären Silbenlängen und stilistische Fragen Gegenstand der Poetik, könnte diese nach Aristoteles gar keine Wissenschaft genannt werden, denn beide sind willkürlich, eine Wissenschaft müsse jedoch einen universal gültigen Gegenstand haben. Dieser Gegenstand sei das exemplum, wie es mit einem Verweis auf die averroische Paraphrase heißt.32 Die ars demonstrativa habe notwendige Schlußfolgerungen zum Gegenstand, die Topik wahrscheinliche, die Rhetorik das Enthymem und die Poetik das exemplum. Für das exemplum spezifisch ist der Schluß vom Partikulären auf Partikuläres, wie Polich mit der schon von Savonarola angeführten »Analytica priora« II.24 68b20-69a15 beweist.33 Daraus schließt Polich auf die Legitimität der Fiktion, denn weil den »göttlichen Sehern« aufgrund der nicht zu überschauenden Menge der partikulären Einzeldinge diese nicht alle bekannt sein könnten, dürften sie solche Gleichnisse oder Ähnlichkeiten, wie sie dem exemplum zugrundeliegen, auch erfinden.34 In diesem Sinne sei Aeneas das Gleichnis des Menschen, denn seine Mühen bezeichneten das Bild eines tapferen Mannes, der allen Begierden und Verlockungen widerstehe und den Wechselfällen des Schicksals nicht unterliege. Horaz, Persius und Juvenal schreckten durch ihre erdichteten Gleichnisse von Krankheiten der Seele wie Wollust, Ehrgeiz und Ausschweifung ab. Plautus und Terenz wollten die Neigungen und Leidenschaften aller Altersgruppen im Bild enthüllen, Properz und Juvenal vor der Liebe warnen.35 Auch Polich beruft sich also auf den averroischen Begriff der Gleichnishaftigkeit. Im Gegensatz zu Wimpina und Savonarola wird dieser didaktische Begriff der Dichtung aber nicht gegen die Inspiration gerichtet, sondern vollzieht sich durch diese. Die »exemplarische Gleichnishaftigkeit« (similitudo exemplaris) der Dichtung habe ihren Ursprung in den Musen und »in den exemplarischen Ideen im göttlichen Geist« (formis exemplaribus in mente divina), die dem Dichter in einem furor divinus zuteil würden. _____________ 32 33 34 35

Polich: Laconismos f. B2r f. Vgl. oben S. 23 f. Polich: Laconismos f. B2v. Eine Marginalie an dieser Stelle verweist auf den Florentiner Neuplatoniker Bartholommeo della Fonte, Kollege von Ficino und Landino, von dem dies »fast wörtlich« abgeschrieben sei, vgl. Polich: Laconismos f. B2v.

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Diese »inspirierte Erfindung« (concepta fictio) brächten die Dichter dann in metrische Form. Die »Idee« ist inspiriert, die metrische Form aber Ergebnis einer regelgeleiteten Anstrengung. Während die metrische Form durch ihre Schönheit (vetustas) erfreut, hat der exemplarische Gehalt moralische und pädagogische Funktion.36

Locher Jacob Locher beglückwünschte Celtis, seinen Lehrer und Vorgänger auf der Ingolstädter Poetik-Professur, zu dessen gerade erschienener »Germania« (1500) mit den Worten, ihm, Celtis, sei es gelungen, Minerva, Apollo und Orpheus nach Deutschland zu holen. Damit hätte Celtis das eingelöst, was er in seiner »Ode an Apollo« am Ende seiner Poetik noch erfleht hatte. Leider, so Locher weiter, würde der »barbarische Haufen« der Theologen den »fremden Göttern« noch nicht seinen Tribut zollen. Celtis und er, die »heiligen Dichterseher und Verehrer der ersten Theologie« (sanctos vates et priscae theologiae cultores), würden von ihnen geschmäht und entehrt.37 Wie Celtis, so berichtet auch Locher von einer Begegnung mit Apollo und den Musen. In der »Oratio de studio humanarum disciplinarum et laude poetarum extemporalis« (1495/96) beschreibt Locher, wie in einer schlaflosen Nacht Apollo und die Musen sein Bett umstanden hätten.38 Apollo habe ihm versichert, er sei gekommen, um ihn mit seinem Geist zu erfüllen, denn kein Dichter könnte ohne diesen etwas Bleibendes schaffen. Nicht durch Regelkenntnisse (ars) und Übung entstehe die »heilige Dichtung« (sacra poesis), sondern durch einen »göttlichen Wahnsinn« (furor divinus). Erst wenn er die »menschliche Bedingtheit« (conditio humana) hinter sich zurückgelassen habe, würde ihm die »Schau der göttlichen Dinge« (contemplatio rerum divinarum) zuteil.39 Die inspirierte _____________ 36

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Polich: Laconismos f. B3r: »Similitudo autem exemplaris cum numero imitationem etiam quadam venustate invehit: ob eam rem antiqui poete divino furore (qui a Musis et formis exemplaribus in mente divina oritur) perciti atque inflammati: concepte sue fictioni quo manifestetur atque delectet pedum rythmorumque numeros […] ut corolarium et auctarium quoddam adiecerunt.« Celtis: Briefwechsel S. 398. Zu Lochers neuplatonischer Inspirationstheorie im Gegensatz zu Brant vgl. Rupp: Narrenschiff S. 72-74; zu Lochers thomistischer Herkunft im Gegensatz zu Wimpfelings nominalistischer vgl. Tewes: Nominalisten. Zu Lochers Oratio vgl. Heidloff: Untersuchungen S. 205-222. Locher: Oratio f. a3v. Ähnlich noch einmal f. b1v.

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Herkunft der Dichtung steht nicht in Widerspruch zu ihrem didaktischen Zweck. Nutzen und erfreuen wollten die Dichter, indem sie schlechte Lebensgewohnheiten und Verbrechen abscheulich machten, Tugend und richtiges Verhalten aber lobend der Nachwelt überlieferten.40 Deutlich formuliert Locher diesen didaktischen Anspruch auch in der lateinischen Übersetzung von Sebastian Brants »Narrenschiff« (1494, lateinische Übersetzung 1497). Was Brant selbst nur relativ kurz voranstellte – »zu nutz und heylsamer ler/ vermanung und ervolgung der wyßheit/ vernunfft und guter sytten: Ouch zu verachtung und straff der narheyt/ blintheyt yrrsal und dorheit/ aller stät/ und geschlecht der menschen«41 – rekonstruiert Locher in seinem lateinischen »Prolog« als Bestandteil einer auf die Antike zurückgehenden Tradition der ›satyra‹. Um die Krankheiten der Sterblichen und ihre Verwirrungen zu heilen, hätten verständige und gebildete Menschen ihre Lehren in schriftlicher Form niedergelegt, aus denen dann die Einrichtung der philosophischen Schulen entstand. Den Philosophen folgten die Dichter, die in Komödie und Satire die Fehler und Laster der Menschen tadelten. In dieser Tradition stehe auch Brant mit seinem »Narrenschiff«, dessen Zweck es sei, zu lehren, was gut und schlecht, was Weisheit und Narrheit sei. Wie bei Celtis steht diese moraldidaktische Bestimmung der Dichtung neben der Berufung auf Inspiration. In einer Ode, die seinem »Prolog« vorausgeht, nimmt Locher für seine Übersetzung apollinische Inspiration in Anspruch.42 Allerdings verschärft sich bei Locher das elitäre Bewußtsein des inspirierten Dichters. Im »Lasterhaften Vergleich des unfruchtbaren Maulesels und der Muse« (»Vitiosa sterilis mule/ ad Musam […] comparatio«, 1506) kehrt Locher diesen Vergleich eines ungenannten Theologen zugunsten der Muse um.43 Die Musen stammen von Jupiter ab, bewohnen die Sphären und inspirieren, von Apollo bewegt, den heiligen Wahnsinn der Dichterseher, so daß die Dichtung aufgrund dieses »himmlischen Ursprungs« (celestis origo) eine heilige genannt werden könne. Der brüllende Maulesel dagegen sei ein Geschöpf des Teufels.44 Nicht die Muse sei mit dem Maulesel zu vergleichen, sondern die Theologie. Dies demonstrieren zwei Holzschnitte. Während der Dichter, im Kreis _____________ 40 41 42 43 44

Locher: Oratio f. b2v. Brant: Narrenschiff S. 2. Beide Texte liegen in zwei Editionen und Übersetzungen vor, vgl. Hartl: Stultifera Navis S. 22-27 und S. 36-41 sowie Rupp: Narrenschiff S. 92-95 und S. 100-103. Teilabdruck in Lefebvre: Fols S. 402-412. Vgl. dazu dort S. 149-155, außerdem Heidloff: Untersuchungen S. 253-279 und Schmidt: Histoire littéraire S. 57-67. Locher: Comparatio f. A1v, Lefebvre: Fols S. 402.

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der Musen sitzend, mit dem Lorbeer bekränzt wird, fängt der Theologe, hinter einem Maulesel stehend, dessen Exkremente in einem Korb auf. Eine Elster, auf dem Rücken des Esels sitzend, verkörpert die leere Geschwätzigkeit des Theologen. Ein beigefügtes Epigramm erklärt, daß die ganze Theologie soviel wert sei wie die Exkremente des Esels. In dem Brief an Georg von Sintzenhof, der den beiden Holzschnitten folgt, wird der furor divinus als entscheidendes Merkmal der Dichter gegen die scholastische Theologie ins Feld geführt. Locher beruft sich auf den platonischen »Ion«, wo die Dichtung nicht auf eine »menschliche Begabung« (humanum ingenium), sondern auf eine »göttliche und himmlische Kraft« (divinum/ atque ethereum quendam vigorem) zurückgeführt werde, die den Geist des Dichters entflamme, so daß er Verse schaffe, deren Erhabenheit die »gemeine Masse« der Menschen (profanum vulgus) nicht begreifen könne.45 Neidisch wären sie deshalb, weil sie nicht von dieser »Göttlichkeit der Prophezeiung« (divinitas vaticinandi) erfüllt seien. Kirchenväter wie Eusebius, Clemens Alexandrinus, Cyprian oder Prudentius hätten durch ihre apollinische Inspiration Großes für die Kirche geleistet.46 In den Kirchen werde nichts gelesen oder gesungen, als was Dichter in ihrer Inspiration geschaffen hätten, wie Hymnen, Sequenzen und Psalmen. Homer, Musäus, Orpheus, Hesiod, Sophokles, Euripides, Vergil, Lukan, Ovid, Statius, Terenz und Plautus seien vom furor divinus inspiriert und deshalb nicht nur große Dichter, sondern auch große Theologen. Aristoteles, Platon und Demokrit hätten ihre Weisheit aus ihnen empfangen. Mehrfach wird die »heilige Dichtung« als Quelle der Theologie bezeichnet,47 also genau die Behauptung vertreten, die zum Anlaß des Streits zwischen Wimpina und Polich geworden war. Gegenteil der Dichtung sei das fruchtlose, leere Geschwätz der Theologen, von Geltungssucht inspiriert, das sich in der Erörterung sinnloser Quaestionen erschöpfe. Duns Scotus, Buridan, Ockham und andere werden namentlich aufgeführt.48 Wer die mystischen Sinne der Schrift oder das richtige Verhalten zu erkennen begehre, wer die biblischen Geschichten im Gedächtnis behalten wolle, dem nutzten die scholastischen Quaestionen gar nichts. Der Maulesel der scholastischen Theologie habe keine Früchte getragen, die Muse dagegen Könige und Dichter hervorgebracht und David, Salomon, die Propheten und die Sibyllen inspiriert. Als was die Musen eigentlich zu _____________ 45 46 47 48

Locher: Comparatio f. A4v, Lefebvre: Fols S. 404. Zur apollinischen Inspiration der Kirchenväter vgl. auch Locher: Comparatio f. B2v. Locher: Comparatio f. B1v und f. B3r. Locher: Comparatio f. B2v.

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verstehen sind, sagt Locher abschließend, wenn er sie mit Fulgentius als die neun Stufen des dichterischen Prozesses beschreibt.49

Wimpfeling und Brant gegen Locher Trotz dieser allegorischen Deutung der Musen ist Locher, wenn auch folgenlos, der Häresie bezichtigt worden. Georg Zingel, ein Kollege Lochers aus Ingolstadt und wahrscheinlich der Adressat der Satire, betrat den Klageweg und hob vierundzwanzig Thesen der »Comparatio« heraus, die ihm der Häresie verdächtig schienen. Darunter findet sich an erster Stelle die These vom göttlichen Ursprung der Dichtung, die Zingel mit einem Verweis auf die Würde der Heiligen Schrift, die einzig als geoffenbart gelten dürfe, als häretisch bezeichnet.50 Die vierte These wirft Locher Dämonenanrufung vor, denn als ein solcher müsse Apollo gelten. Die fünfte verurteilt die Behauptung, die ersten Theologen seien Dichter gewesen, die sechste die Behauptung eines furor divinus, die zehnte die Behauptung, Orpheus habe zu Ehren des christlichen Gottes gedichtet, die dreizehnte, keiner habe sich im Geist ausgezeichnet, außer mit Hilfe Apollos, die zwanzigste und einundzwanzigste, David und Salomon seien von der Muse inspiriert gewesen. Auf der Seite Zingels griff Jacob Wimpfeling in die Auseinandersetzung ein. In einer satirischen Beichte (»Confessionale«) läßt er Locher seine eigenen Sünden beichten, darunter die des Hochmuts, die ihn als ein bloßes Mitglied der artistischen (im Gegensatz zur höheren, theologischen) Fakultät befallen habe. Locher sei nur ein gekrönter Dichter und habe also nur einen Grad in der Poetik, die Wimpfeling mit der »Kunst des Versifizierens« (ars metrificandi) und dem Nacherzählen von heidnischen Fabeln, wie man es in der Vorschule zum Sprachunterricht mache, gleichsetzt.51 1510 folgte mit der »Contra turpem libellum Philomusi de-

_____________ 49

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51

Locher: Comparatio f. B4v. Locher hat 1521 eine ausführlich kommentierte Ausgabe der »Mythologie« des Fulgentius veranstaltet, vgl. Fulgentius Placiades: Mythologiarum libri tres, scholia paraphrastica a Philomusi addita sunt. Augsburg 1521. Die zitierte Stelle dort f. F2v f. Die Thesen Zingels hat Schlecht: Fehden S. 243 ff. in Regestform aus der Handschrift veröffentlicht. Die erste These zitiert Heidloff: Untersuchungen S. 290. Zum Verlauf des Streits Overfield: Humanism S. 185-207. Vgl. den ebenfalls nur handschriftlich überlieferten Text bei Schlecht: Fehden S. 240-243 und Lefebvre: Fols S. 427-429.

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fensio theologiae scholasticae et neotericorum« Wimpfelings eigentliche Antwort.52 Der Dichtung wird jeder moralische oder sonstige Nutzen bestritten. Ihre Lektüre diene lediglich dem lateinischen Spracherwerb. Dafür genügten Vergil und Baptista Mantuanus.53 Ovid mit seinen lasziven Geschichten sei nicht zu tolerieren, ähnlich Catull, Properz, Tibull oder Martial.54 Die Fieberträume der Dichter habe Zeus, das heißt der Teufel, ersonnen. Götzendienst sei es, die Musen als die Töchter des Teufels anzubeten.55 Ausgenommen von diesem Urteil werden die zeitgenössischen christlichen Dichter, die Gott verherrlichten, die Laster abscheulich machten, die Tugend lobten und große Männer ehrten. Als unbedenklich in diesem Sinne bezeichnet Wimpfeling unter anderem Brant, Busche, Johannes Rhagius (Aesticampianus), Bebel, Eoban Hesse, Reuchlin und Ortwin Gratius.56 Pädagogisch nützlicher als die Dichter seien Prosaschriftsteller. In der Dichtung fänden sich verderbliche Leidenschaften, Liebesgeschichten und erfundene Heldentaten, bei Cicero dagegen Moralität, philosophische Kraft und sprachliche Eleganz. Prosa diene dem Ausdruck der Wahrheit besser als Verse, denn im Vers sei der Dichter gezwungen, die Dinge den Worten und nicht die Worte den Dingen anzupassen.57 Im Gegensatz zur Dichtung seien Philosophie und Theologie durch ihre logisch fortschreitende Argumentation dem christlichen Glauben notwendig.58 Bedauernswert sei das Jahrhundert, daß keine Männer wie Thomas von Aquin oder Duns Scotus aufzuweisen habe. Die Dichtung verdiene kaum den Namen einer Kunst oder Wissenschaft, weil sie keine logischen Schlußfolgerungen bilden könne.59 Damit bestreitet Wimpfeling zumindest implizit auch den averroischen Begriff der Dichtung und geht in seiner Polemik noch über Savonarola hinaus. Sebastian Brant hat sich in einigen Versen, die er zu Wimpfelings »Defensio« beigesteuert hat, von seinem ehemaligen Schüler und Übersetzer distanziert. Brants konservativere Auffassung der Dichtung illustriert die Einleitung in seine Äsop-Ausgabe (1501), die Äsop dafür lobt, unter der _____________ 52 53 54 55 56 57 58 59

Auszugsweise abgedruckt bei Lefebvre: Fols S. 413-429. Vgl. dazu Heidloff: Untersuchungen S. 295-301. Wimpfeling: Defensio 2, f. Aijv. Wimpfeling: Defensio 3, f. Aiijr. Wimpfeling: Defensio 6, f. Bijr. Wimpfeling: Defensio 6, f. Bv. Wimpfeling: Defensio 5, f. A4v. Wimpfeling: Defensio, Widmungsbrief f. Aijr und 3. Kap., f. Aiijr. Wimpfeling: Defensio 4, f. Aiijv f.

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Hülle von Fabeln (sub fabulosis integumentis) zur Belehrung des einfachen Volkes beigetragen zu haben.60 Den Neuplatonismus hat Brant gekannt. In seiner Vorrede zur Bibelkonkordanz des Konrad von Halberstadt (1496) unterscheidet Brant entsprechend Ficinos Gleichnis vom Seelenwagen zwischen der fleischlichen Begierde, die ihre Erfüllung in den Sinnen, und der echten Freude, die ihre Erfüllung im Geist findet.61 Aus ihrer Zerstreuung in die Sinnlichkeit führe die ratio die Seele zurück zur Kontemplation des Göttlichen und zur echten Freude. Wie Landino bezieht Brant diesen Aufstieg der Seele auf die »Odyssee« und die »Aeneis«. Odysseus und Aeneas seien Vorbilder der Tugend, die sich aus einem der Begierde verfallenen Leben (Troja) auf den Weg zurück in die Heimat (das heißt zum Ursprung der Seele) machten. Im Gegensatz zu Ficino bezieht Brant den Aufstieg der Seele aber nicht auf den furor divinus. Statt dessen leitet er von der gleichnishaften Deutung der »Odyssee« und »Aeneis« auf die Bibel über, die genau die Gesetze formuliere, die, wenn sie befolgt würden, die Menschen aus ihrer Verstrickung in die Sinnlichkeit befreiten. Die Fronten zwischen Locher und Wimpfeling, genauso wie zwischen Wimpina und Polich, sind nicht die zwischen einer christlichmoraldidaktischen und einer antik-heidnischen Dichtung, wobei die antikheidnische als inspirierte Dichtung einen größeren moralischen Spielraum hätte. Sicher spielt das Heidentum und die Laszivität der antiken Dichtung, die sie nicht als Jugendlektüre geeignet erscheinen läßt, eine große Rolle, genauso wie die Möglichkeit, den Kult der Musen als Götzenanbetung auszulegen. Aber der Kern der Auseinandersetzung ist ein anderer. Was Wimpfeling ablehnt, ist die Aufwertung der Dichtung zu einer ›sacra poesis‹, einer prisca theologia, die auf einem Rang mit der biblischen Offenbarung stünde. Wichtigstes Argument dieser Aufwertung ist die Annahme einer göttlichen Inspiration. Wimpfeling und Brant, genauso wie Wimpina und nach ihnen eine ganze Reihe weiterer Humanisten, darunter Erasmus und Melanchthon, sind nicht bereit, der Dichtung eine solche Sonderrolle zuzugestehen. Für sie ist die Dichtung eine pädagogisch wertvolle Methode, moralische oder wissenschaftliche Inhalte zu vermitteln, aber nicht mehr. Wenn sich der Dichter durch irgend etwas auszeichnet, so nicht durch Inspiration, son_____________ 60 61

Brant: Fabeln S. 17-28. Zu Brant vgl. Lefebvre: Fols S. 141 ff. und Rupp: Narrenschiff S. 7479. Gegenteilige Einschätzung bei Gaier: Platonismus. Brant: Texte Nr. 171, S. 277-279. Vgl. Rupp: Narrenschiff S. 74-79.

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dern durch höhere moralische Integrität oder ein größeres sprachliches Ausdrucksvermögen. Wenn Wimpfeling deshalb so vehement die Existenz der Musen leugnet, leugnet er sie nicht als Gottheiten oder Dämonen.62 An der dies bezüglichen Rechtgläubigkeit Lochers dürfte – das zeigt der wirkungslos gebliebene Versuch, Locher der Häresie anzuklagen – kein Zweifel bestanden haben. Was zur Debatte steht, ist nicht die Existenz der Musen, sondern die Existenz der Inspiration. Dafür spricht auch die Unsicherheit, die darüber herrscht, wie genau der Inspirationsvorgang zu denken ist, ob als plötzliche Entrückung oder langsame Entwicklung, und ob Gott den Dichter nur dem Sinn nach inspiriert oder auch die einzelnen Worte. Wimpfeling leugnet die Musen nicht als Gottheiten, sondern als Personifikationen. Er leugnet sie als genau das, als was Locher sie eingeführt hatte, nämlich als Instanzen der poetischen Inspiration, die die Dichtung ihres »heiligen Ursprungs« versichern. Locher benutzt die Musen als begriffliches Modell einer Inspirationstheorie, die er anders nicht formulieren konnte. Das medizinisch-astrologische Erklärungsmodell, das Ficino in seinen »De vita libri tres« formuliert hatte, war Locher und den anderen Celtis-Schülern wohl entweder nicht bekannt oder wurde in seiner Bedeutung nicht erkannt. Eine Rolle hat es jedenfalls zu diesem frühen Zeitpunkt im deutschsprachigen Raum nicht gespielt.

Vadian Joachim Vadian (von Watt), Schüler und Nachfolger von Celtis auf dem Poetik-Lehrstuhl der Universität Wien, bestätigt in seiner Vorlesung über die Grundlagen der Dichtung (»De poetica et carminis ratione«, gehalten 1513, Druck 1518) die These, daß die Musenallegorese nur das Modell einer Inspirationstheorie war.63 Vadian hält es für lächerlich, die Musen als Göttinnen verehren zu wollen. Sie stünden allegorisch entweder für die Tonarten, die Planetensphären oder – wiederum nach Fulgentius – für die Stadien des dichterischen Schaffens. Wenn die Dichter sie anriefen, so nur, um die spezifischen Kräfte zu beschwören, die allein dem Geist der Dichter eigneten.64 _____________ 62 63

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Zur Musen-Allegorese im 16. Jh. allgemein vgl. Ludwig: Musenkult und Rädle: Musen. Zu Vadian vgl. Näf: Vadian S. 277-301; Steppich: Numine S. 252-274 sowie die Einleitung von Schäffer in Vadian: De poetica Bd. 3. Ich verweise auf den lateinischen Text in Bd. 1 der Ausgabe von Schäffer. Vadian: De poetica 22, S. 204 Z. 4 ff.

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Die Theorie des furor poeticus referiert Vadian nach Ficino.65 Aufgabe der göttlichen Entrückung wäre es, die Seele aus ihrer Zerstreutheit in die irdische Welt wieder in einen harmonischen Einklang zu versetzen und in den Himmel zurückzuführen. Es handle sich dabei nicht um eine dämonische Besessenheit, sondern um eine natürliche Begabung, ihrerseits aus der astrologischen Konstellation abzuleiten. Allerdings kommt bei Vadian, anders als bei Ficino, nicht Saturn, sondern Merkur und seinem Einfluß auf Scharfsinn und Intellekt die wichtigste Rolle zu.66 Wie die Flamme von selbst auf den Zunder übergreife, sobald dieser in ihre Nähe gebracht wird, so werde auch der Geist der echten Dichter von Gott ergriffen und zum Verständnis der verschiedenen Künste geführt. Dieser Prozeß vollziehe sich langsam und von Tag zu Tag, nur dem Außenstehenden scheine es ein plötzlicher Vorgang. Das Ergebnis ist das allumfassende Wissen, das den Dichter gegenüber den Vertretern anderer Wissenschaften auszeichnet.67 Obwohl Dichtung und Rhetorik in ihren technischen Grundlagen eng verwandt wären, stelle die göttliche Inspiration den Dichter weit über den Redner. Der platonische »Ion« ist für Vadian der Versuch, nachzuweisen, daß den Dichtern ohne göttlichen Antrieb ein so umfassendes Wissen nicht zukommen könnte. Der von Platon als Beispiel für die göttliche Entrückung angeführte Tynnichos von Chalcis und die Entrückung des Schafhirten Hesiod seien nur symbolisch auf eine göttliche Veranlagung zum Wissenserwerb zu beziehen. Aus solchen Beispielen dürfe keine Geringschätzung der Regelkenntnis folgen. Die Regelkenntnis müsse durch Übung gefördert werden, um die natürliche Veranlagung (natura) für die »Entrückung des furor« (raptum furoris) geeignet zu machen.68 Der dieserart auf göttliche Prädestination zurückgeführte furor sei eine Gnade des Heiligen Geistes, aus dem Schoße des Vaters in die Herzen der Menschen eingegossen. Er sei etwa den Aposteln zuteil geworden.69 Nach dem Zeugnis des Augustinus könnten diese Gnade jedoch auch die »Frommen in einem falschen Glauben« erfahren, wie Orpheus oder die Sibyllen, die die Geburt Christi und sein Leiden vorhersagten. Auch deren Inspiration ist deshalb nicht dämonisch verursacht. Der Heilige Geist halte sich nicht an die Würde oder Unwürde des Einzelnen. Auch ein

_____________ 65 66 67 68 69

Vadian: De poetica 14, S. 100-109. Vadian: De poetica 2, S. 19 Z. 19 ff. Vadian: De poetica 14, S. 103 ff. Vadian: De poetica 14, S. 106 Z. 2 ff. Vadian: De poetica 14, S. 106 Z. 24 f.

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böser Mensch könne die Gabe der Prophetie besitzen, wie die Beispiele Sauls und Kaiphas' zeigen.70 Gegenstand der göttlichen Inspiration ist die fabula, zu der sowohl die Fabeln Äsops wie die Handlungen der Komödien und Tragödien gehören.71 Aus ihnen erfahre man, wie man sich richtig verhalte und was man zu tun und zu lassen habe. Auch der antike Mythos verbirgt unter der Hülle der fabula eine wahrhafte Bedeutung historischer, naturwissenschaftlicher oder auch theologischer Art. Vorbild einer mythologischen Allegorese sind unter anderem Landinos »Disputationes Camaldulenses«. Vadian bedauert den frühen Tod Picos, der dessen Vorhaben einer prisca theologia zunichte gemacht habe. Genauso wie auf Bildern die Apostel in kostbaren Gewändern und Gott als alter Mann mit einem Bart dargestellt werde, diene auch die Hülle der antiken Mythen dem Zweck, schwer verständliche Wahrheiten so darzustellen, daß der einfache Mann in bildlicher Form das verstehen könne, was ihm abstrakt nicht zugänglich sei. Diese Freiheit, das sinnlich Faßbare als Heranführung an das Übersinnliche zu verstehen, wie sie den Malern überall zugestanden werde, stehe auch den Dichtern zu. Die Bibel bediene sich überall der Gleichnisse und Allegorien, ähnlich wie Platon, Pythagoras und die Kabbala.72 Indem es nur eine göttliche Wahrheit gibt, bestehe zwischen der antiken Mythologie und Philosophie und der Bibel kein Widerspruch.73 Entstanden sei die Dichtung aus dem Bedürfnis, die harmonische Gestalt des Universums, von Gott nach dem Gesetz der Zahl entworfen, im Metrum der Dichtung nachzubilden.74 Die Dichtung sei so alt wie das menschliche Geschlecht. Indem das hebräische Volk das älteste ist, sind David und Moses die ältesten Dichter. Von ihnen führe die Tradition über Orpheus zu Homer.75 Aufgrund dieses Alters der Dichtung könne man durchaus behaupten, daß alle anderen Disziplinen in der Dichtung ihre Fundamente und Anfänge gefunden hätten.76

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Vadian: De poetica 14, S. 108 Z. 5 ff. Vadian: De poetica 16, S. 118-128. Vadian: De poetica 16, S. 127 Z. 10 ff. Vadian: De poetica 18, S. 133-145. Vadian: De poetica 2, S. 18 Z. 5-10. Vadian: De poetica 2, S. 20 Z. 18 ff. Vadian: De poetica 2, S. 20 Z. 6 ff.

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Badius’ Terenz-Ausgabe Jodocus Badius Ascensius verlangt in den »Praenotamenta«, die er ab 1502 seiner Terenz-Ausgabe vorangeschickt hat, neben außergewöhnlicher Begabung (ingenium) die Ergriffenheit durch einen furor divinus.77 Der furor divinus erhebe den Dichter über das, was allein aus Begabung möglich sei. Die Begabung identifiziert Badius mit der Beherrschung der Regeln, das heißt mit der Fähigkeit, metrisch korrekte Verse zu verfassen und sich der rhetorischen Stilmittel zu bedienen. Dichter in diesem allgemeinen Sinne könne jeder genannt werden, der sich in herausragender Weise der metrischen Form bediene. Wenn Horaz »Satiren« I.4.40 ff. von sich selbst behaupte, kein Dichter genannt werden zu dürfen, verstehe er dies in Abgrenzung von dem Dichter, der als Seher und Prophet von einer göttlichen Entrückung ergriffen ist. Während die nur begabten Dichter sich auf ihr Regelwissen verlassen müßten, sei allein der entrückte Dichter ein vollkommener Dichter, weil er über jene Würde und Majestät der Sprache verfüge, die allein durch die Mitwirkung des Heiligen Geistes zustandekomme.78 Etwas später schreibt Badius allerdings, die göttliche Entrückung befreie nicht von der Notwendigkeit einer Sprachbeherrschung grammatischer und rhetorischer Art, denn der göttliche Geist inspiriere nur den Sinn, nicht die Worte.79 Der entrückte Dichter sei nicht an Metrum und Vers gebunden, sondern könne sich auch in Prosa ausdrücken.80 Die göttliche Entrückung stehe nicht im Gegensatz zur Regelkenntnis, sondern diese sei in ihrer höchsten Form eine Folge der Entrückung. Die Predigten von Augustinus seien durch ihre vollkommene rhetorische Form der Beweis für Augustinus’ göttliche Entrückung. Wenn der Vers zwar keine notwendige Form des entrückten Dichters sei, so finde er sich doch sehr häufig, wie die delphischen und sibyllinischen Orakel, die jüdischen Propheten, die Psalmen, Paulinus von Nola, Ambrosius und Fortunatius zeigten. Das Sprichwort, als Dichter werde man geboren, zum Redner werde man gemacht, bedeute, daß der Dichter ohne einen Lehrer oder Meister zu einem solchen werde, allein aufgrund _____________ 77

78 79 80

Badius: Praenotamenta f. a2r. Bibliographische Angaben nach Renouard: Bibliographie Bd. 3 S. 279 ff. Erster Druck der Ausgabe bereits 1493, die »Praenotamenta« sind jedoch erst ab 1502 auf dem Titelblatt vermerkt. Ich zitiere nach der Ausgabe Lyon 1511. Französische Übersetzung in: Badius: Préfaces S. 49-19. Badius: Praenotamenta f. a2v. Badius: Praenotamenta f. a3v Badius: Praenotamenta f. a2r.

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seiner göttlichen Entrückung.81 Wenn Hesiod berichte, er habe seine Berufung erhalten, als er aus dem Quell der Musen getrunken habe, sei dies wörtlich zu verstehen. Hesiod sei von einem Augenblick auf den anderen Dichter geworden, ähnlich wie später Ennius und Persius. Badius vertritt damit die Interpretation des furor, die Vadian bestreitet. Ähnlich radikal deutet Badius den furor mysterialis, wenn er die Stigmatisierung des heiligen Franciscus als Beispiel nennt.82 In sechs Punkten sei der Dichter mit Gott vergleichbar.83 Erstens, wie Gott das Universum aus dem Nichts erschaffen habe, so könne der Dichter eine Handlung erfinden. Nach »Rhetorica ad Herennium« I.13 sei die fabula der Tragödie frei erfunden, das argumentum der Komödie dagegen wahrscheinlich. Nach Badius bezieht sich die Unwahrscheinlichkeit der tragischen fabula auf den antiken Mythos, der mit seinen Götter- und Heroengeschichten gegen die Gesetze der Wirklichkeit verstößt. Legitim sei diese Erfindung, weil die tragische fabula ein Gleichnis theologischer und naturphilosophischer Wahrheiten sei, nach dem Vorbild der Propheten und Sibyllen. Das wahrscheinliche argumentum der Komödienautoren diene dagegen der Besserung der Verhaltensweisen. Zweitens seien Gott und Dichter in der Harmonie vergleichbar, die ihren Schöpfungen eigen sei. Wie die Schöpfung Gottes Gegensätzliches enthalte, dennoch aber ein harmonisches Ganzes bilde, so werde der Dichter kein unharmonisches Ganzes bilden, indem er inhaltliche Widersprüche zulasse oder sprachlich die Stilebenen vermische. Drittens spiegle sich die Vollkommenheit des göttlichen Werkes in der Schönheit der dichterischen Sprache, die das göttliche Werk anschaulich vor Augen treten lasse. Wie Gott den sündhaften Menschen vergeben und sie ins Leben zurückholen könne, so könne viertens der Dichter die vom rechten Weg abgeirrten Menschen als Seelenarzt wieder auf den Pfad der Tugend holen.84 Fünftens könne der Dichter in seiner Entrückung wie Gott das Zukünftige vorhersehen. Sechstens spiegle sich Gottes Macht, ewiges Leben zu verleihen, in der Macht des Dichters, ewigen Ruhm zu verleihen.85 Badius’ Terenz-Ausgabe, mit über 30 Auflagen sehr erfolgreich, war 1496 und 1499 auch in Straßburg erschienen, die Ausgabe 1499 sogar mit einem Widmungsgedicht von Locher.86 Auffällig ist deshalb die Tatsache, daß diese Ausgabe später nie wieder im deutschsprachigen Raum gedruckt _____________ 81 82 83 84 85 86

Badius: Praenotamenta f. a2v. Badius: Praenotamenta f. a3v. Badius: Praenotamenta f. a4r Badius: Praenotamenta f. a4v f. Badius: Praenotamenta f. a5r. Vgl. Renouard: Bibliographie Bd. 3 S. 281.

Der Enthusiasmus im 16. Jahrhundert

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worden ist. Eine der Ursachen ist sicher, daß ab 1518 Melanchthons Terenz-Ausgabe erscheint, die sich durch die Autorität ihres Herausgebers im protestantischen Raum durchsetzt. Aber auch der Neuplatonismus von Badius dürfte dabei eine Rolle gespielt haben. Nach der Reformation muß er als Aberglaube, Teufelsbeschwörung und Neuheidentum erschienen sein. Was vor 1518 noch als unterschiedliche Akzentsetzung oder Streiterei zwischen Gelehrten gelten konnte, entwickelt sich mit der Reformation zu einer Kulturgrenze. Während im deutschsprachigen Raum die Rezeption des Neuplatonismus nahezu vollständig abbricht und der rationalistische Dichtungsbegriff Melanchthons sich durchsetzt, beginnen ab 1518 in Frankreich die zahlreichen Drucke von Ficinos Werken. 1546 wird mit dem platonischen »Ion« eines der wichtigsten Dokumente der antiken EnthusiasmusTheorie ins Französische übersetzt.87 Gleichzeitig erlebte diese Enthusiasmus-Theorie mit der unter dem Namen der Pléiade bekannten Dichtergruppe und insbesondere im Werk Ronsards ihren eigentlichen Höhepunkt.

Der Enthusiasmus im 16. Jahrhundert Die Melancholie-Theorie Melanchthons Anders als Vadian, der sich offensichtlich erst unter dem Eindruck Luthers von der neuplatonischen Poetik abwendet (nach 1518 hat er sich jedenfalls zur Poetik nicht mehr geäußert), ist Melanchthon bereits vor seiner Begegnung mit Luther ein Gegner des Neuplatonismus. Schon als Schüler Wimpfelings hat er zu dessen gegen Locher gerichteter »Defensio« ein Widmungsgedicht beigesteuert.88 _____________ 87 88

Franchet: Poète S. 14. Zum Einfluß Ficinos in Frankreich vgl. Festugière: Philosophie. Zu Melanchthons grundsätzlicher Antipathie gegenüber dem Neuplatonismus vgl. auch die »Oratio de Platone« (1538), in der Melanchthon diejenigen, die platonische Philosophie und biblische Offenbarung miteinander vermischen, schärfstens tadelt. Vgl. Melanchthon: Oratio de Platone Sp. 424. Gegen die ältere Forschung bestreiten auch Scheible: Einfluß S. 8893 und Rhein: Italia S. 383 jeden neuplatonischen Einfluß auf Melanchthon. Vgl. dagegen

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Geschichte des Enthusiasmus

Mit Melanchthons Übernahme der Melancholie-Theorie des (pseudo-) aristotelischen »Problem 30.1« in seine Lehrbücher setzt sich im protestantischen Raum die Deutung des Enthusiasmus als ›natürliche Begabung‹ durch.89 Entsprechend des »Problems 30.1« unterscheidet Melanchthon zwischen zwei Formen der Melancholie, einer natürlichen und einer krankhaften. Die humoralpathologische Grundlage dieser Theorie besagt, daß die vier Säfte – schwarze und gelbe Galle, Blut und Phlegma – in der Leber aus dem Blut herausgekocht werden. Das mehr oder weniger ausgewogene Verhältnis, in dem die vier Säfte stehen, ist für das Temperament eines Menschen verantwortlich. Ein natürlicher Melancholiker sei in diesem Sinne ein Mensch, bei dem es ein leichtes Übergewicht der schwarzen Galle gibt, die vier Säfte aber im Gleichgewicht sind. Eine schädliche, unnatürliche Mischung sei dagegen, wenn es zu einem unausgewogenen Verhältnis der vier Säfte kommt. Im Fall der Melancholie ist die Ursache einer solchen krankhaften Melancholie eine Verbrennung der schwarzen Galle, bei der diese »die gröbere und beißendere Natur der Asche« annehme.90 Diese melancholia adusta (wörtlich die »verbrannte schwarze Galle«) äußere sich als Wahnsinn. Seine konkrete Erscheinungsform hänge vom genauen Verhältnis der Säfte ab. Je nach Mischungsverhältnis könne sie zum besinnungslosen Wüten eines Aiax und Herkules oder zu depressiver Trägheit und Traurigkeit führen. Die besondere Geistesschärfe und intellektuelle Begabung, die das »Problem 30.1« dem Melancholiker zuspricht, geht nicht auf die unnatürliche melancholia adusta, sondern auf das natürliche melancholische Temperament zurück. Daß es gerade dieses Temperament ist, das eine besondere Geistesschärfe erzeugt, hängt wiederum mit den spiritus, den »Lebensgeistern«, zusammen, denn die schwarze Galle ist besonders nahrhaft und dauerhaft und erzeugt dadurch im Blut besonders viele und leicht bewegliche spiritus. Der spiritus animalis wird nach Galenischer Vorstellung im Gehirn erzeugt und ist der Träger der Wahrnehmung, der Gefühle und des Denkens. Als »Werkzeug der inneren Sinne« transportiert der spiritus die äußeren, sinnlichen Wahrnehmungen zum Vorstellungsvermögen, von dort zum Intellekt und zum Gedächtnis. Je schneller und besser die spiritus arbeiten, desto schneller und besser funktionieren damit Verstand und _____________ 89

90

Ludwig: Musenkult S. 18 ff., der in der Musen-Allegorese Melanchthons einen neuplatonischen Einfluß ausmacht. Zur Melancholie-Theorie Melanchthons und der Zeit allgemein vgl. Babb: Malady S. 42-72; Brann: Origin; Klibansky, Panofsky, Saxl: Saturn passim, Schmitz: Melancholieproblem und Schleiner: Melancholy S. 56-72. Zu Melanchthon vgl. Fuchs: Melanchthon S. 23-50. Melanchthon: De anima Sp. 83.

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Vernunft. Der ›natürliche Melancholiker‹ zeichnet sich durch seinen Geist aus, weil durch die Mischung seines Blutes seine spiritus besonders scharf, dauerhaft und leicht beweglich sind, und weil sein besonders kühles und ruhiges Blut das Wahrnehmungs- und Denkvermögen bestärkt.91 Die humoralpathologische Grundlage der menschlichen Temperamente, das Mischungsverhältnis der vier Säfte, kann astrologisch beeinflußt sein. So etwa ist die Melancholie edler und vortrefflicher, wenn sie aus der Konjunktion von Saturn und Jupiter in der Waage hervorgeht.92 Das dieser Art astrologisch und humoralpathologisch bestimmte Temperament ist das, was als Naturanlage oder Begabung (ingenium, natura) für das Wesen eines Menschen, seine Handlungsweise, seine Vorlieben und Abneigungen verantwortlich ist. Als causa secunda, das heißt als mittelbare Ursache, ist es auf Gott zurückzuführen. In diesem Sinne sei es zu verstehen, wenn es heißt, jemand wäre zum Dichter oder zum Soldaten geboren.93 Im Unterscheid zu Ficino und den Neuplatonikern verschmilzt Melanchthon die Melancholie-Theorie des »Problem 30.1« nicht mit der Enthusiasmus-Theorie Platons. Der mit besonderer Geistesschärfe Begabte ist nicht als Melancholiker ein Gottbegeisterter, sondern als Melancholiker verfügt er über die Naturanlage, die ihn zu besonders scharfem Denken befähigt. Nur an einer einzigen Stelle ermöglicht Melanchthon einen zumindest mittelbaren göttlichen Eingriff. Entsprechend der lutherischen Theologie des »inneren Wortes«, das über das »äußere Wort« der Bibel das Herz des Gläubigen affektiv ergreift und zum Glauben wendet, schreibt Melanchthon, daß sich beim Hören des göttlichen Wortes der Heilige Geist – der spiritus sanctus – in die spiritus animales des Menschen ergieße.94 Melanchthon begründet damit die lutherische Theologie des sola scriptura physiologisch. Das »innere Wort« bedient sich der spiritus animales als materieller Träger des göttlichen Geistes. Diese Möglichkeit betrifft aber ausdrücklich nur die Heilige Schrift. Sie ist keine elitäre, magische Praxis wie bei Ficino, sondern erklärt die affektive Wirkung des Glaubens, wie sie sich in jedem Gläubigen ereignet. _____________ 91

92 93 94

Melanchthon: De anima Sp. 86 und Melanchthon: Initia doctrinae physicae Sp. 340. Zu Melanchthons spiritus-Lehre vgl. Jürgen Helm: Die »spiritus« in der medizinischen Tradition und in Melanchthons »Liber de anima«. In: Melanchthon und die Naturwissenschaften seiner Zeit. Hg. v. Günther Frank und Stefan Rhein. Sigmaringen 1998, S. 219-237. Melanchthon: De anima Sp. 84. Vgl. auch Melanchthon: Initia doctrinae physicae Sp. 324 f. Melanchthon: Initia doctrinae physicae Sp. 323 f. und Sp. 344. Melanchthon: De anima Sp. 88.

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Die Begabungslehre Melanchthons Der Melancholiker ist begabt, aber nicht von einem Enthusiasmus entrückt. Damit kommt Melanchthon, was die Bewertung der physiologischen Grundlagen der Begabung betrifft, zum selben Ergebnis wie Pomponazzi. Die Begabung des Dichters ist ein mittelbares Geschenk Gottes, keine unmittelbare Inspiration. Diesen Befund bestätigen die »De dialectica libri quatuor« (1528), in denen Melanchthon das dichterische Vermögen als eine angeborene und durch Übung ausgebaute Fähigkeit (ἕξις) bestimmt. Wie die Fähigkeit zum Ringkampf als eine ἕξις für die Sicherheit der Bewegung im Kampf veranwortlich sei, so sei die Kunst der Malerei eine Fähigkeit, einen bestimmten Pinselstrich sicher und sauber auszuführen. Einerseits brauche der Maler die Werkzeuge des Tuns (Augen und Hände), andererseits einen »natürlicher Antrieb« (impetus naturalis), der ihn überhaupt zur Malerei führe und der durch Übung und Gewohnheit zu einer ἕξις werde. Auf diese Art entstehe auch die Fähigkeit des Dichtens. »Göttlich« und zugleich »natürlich« könne dieser Antrieb heißen, weil Gott ihn in die jeweilige Natur des Menschen gelegt habe. In diesem Sinne laute Ciceros Argument in seiner »Rede für Archias«, daß Archias das Bürgerrecht zuerkannt werden sollte, weil er als Dichter gleichsam von einem göttlichen Geist angeblasen scheine, und solche Begabung geehrt werden müsse.95 Noch einmal kommt Melanchthon auf diese Bestimmung der Dichtung bei der Definition der Tugend zurück. Die Wirkursache der Tugend sei die Seele, die mit Zustimmung der Vernunft »ehrenvolle«, also moralisch richtige Tätigkeiten ausführe. Durch die beständige Wiederholung solcher Taten und Tätigkeiten entstehe in der Seele eine ἕξις oder ein habitus. Er bestehe sowohl darin, intellektuell richtig zu urteilen, als auch das, was der Intellekt geurteilt habe, zu wollen. Um einen habitus zu erzeugen, genüge es jedoch nicht, Urteilsvermögen und Willen zu besitzen, sondern es müsse auch ein »natürlicher Antrieb« (impetus naturalis) dazukommen.96 So könne sich ein außergewöhnlicher Dichter nur entwickeln, wenn er durch die »besondere Kraft seiner Veranlagung« (peculiaris vis ingenii) »entrückt« werde. Es genüge nicht, die Länge der Silben (wie sie für die lateinische Prosodie entscheidend ist) zu kennen. Ein »einzigartiger Antrieb in der Seele« (impetus in animis), den Aristoteles eine »natürliche _____________ 95 96

Melanchthon: De dialectica S. 24 f. Melanchthon: De dialectica S. 78 f.

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Tugend« (φυσικὴν ἀρετὴν) nenne, sei notwendig.97 Natürlich könne man auch ohne eine solche »natürliche Tugend« auf irgendeine Art Verse machen, wie man ja auch sehe, daß viele singen, ohne dafür begabt zu sein. In diesen Fällen müsse man von mangelnder Begabung sprechen. »Natürlich« nennt Melanchthon diese Tugend, weil sie auf eine angeborene Begabung zurückgeht, die dann willentlich durch Übung entwickelt werden muß. Wenn er diesen Prozeß zweimal mit dem Verb »entrücken« (rapere) beschreibt, ist die terminologische Tradition des furor poeticus noch vollständig gegenwärtig, nur eben physiologisch umgedeutet, als »natürlicher Antrieb«. In den »Erotemata dialectices« (1547) hat Melanchthon an dieser Stelle einen Verweis auf Eoban Hesse eingebaut. Angeborene und erworbene Fähigkeiten müßten unterschieden werden, um zu erkennen, welche Fähigkeiten man durch Fleiß erwerben könne und welche nicht. Am besten sei es jedoch, wenn angeborene Begabung und durch Kunst und Übung erworbene Fähigkeit zusammenkämen, wie bei Homer, Ovid und Eoban Hesse.98 In einer universitären Rede aus dem Jahr 1534 hatte Melanchthon Ovid: »Fasti« 6.5 und den »göttlichen Anhauch« (divinus afflatus) als eine gottgeschenkte Begabung verstanden, die ihre Träger – und dazu gehören die Gelehrten aller Wissenschaften – verpflichte, sie zum Wohl der Allgemeinheit einzusetzen.99 In einem Brief an Eoban Hesse, in dem er diesem zu seiner Übersetzung der Psalmen gratuliert (1537), bezeichnet Melanchthon das Vermögen, ein Gedicht zu verfassen, zwar als eine »himmlische Bewegung«, versteht dies aber nur im Sinne einer angeborenen und deshalb gottgeschenkten, durch die Bewegung der Gestirne vermittelten Begabung, deren Zweck es sei, die »Formen der Gottesverehrung« zu erhalten. Gerade weil diese Begabung ein göttliches Geschenk sei, müßten sie die Dichter auch dafür einsetzen, »göttliche Dinge zu veranschaulichen«.100

_____________ 97 98 99 100

Melanchthon: De dialectica S. 78. Melanchthon: Erotemata Sp. 541. Melanchthon: De gratitudine Sp. 253. Melanchthon: Opera Bd. 3, Sp. 394. Übersetzung nach Weng: Gedichte S. 180 f. und Ludwig: Musenkult S. 44. Ähnlich äußert sich Melanchthon auch in einigen Gedichten, vgl. Weng: Gedichte S. 193 ff. Zum Verhältnis von Melanchthon und Hessus und dem Psalter als Modell der Dichtung vgl. Huber-Rebenich: Psalter und Rhein: Melanchthon und Hessus.

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Eoban Hesse, Willich, Praetorius, Stigel, Pontanus Eoban Hesse selbst weist den Gedanken einer Inspiration oder eines furor poeticus weit von sich. Gegen einen Dichter, der Apollo statt Christus angerufen hat, heißt es in einer Kontrafaktur von Ovid, »Ars amatoria« 3.549 f. und »Fasti« 6.5: »Nicht ein Gott, wie Ovid ihn besang, ist in uns, | unser Herz glüht von Christus, nicht von Phoebus. | In euch ist Pluto und ihr glüht von jenem erregt, | dieser Geist ist aus der Unterwelt gekommen.«101 Mit ähnlichem Stolz heißt es im »Sylvarum liber« (1533): Nicht den verschlungenen Rätseln des doppelzüngigen Rechtes | Folge ich, nicht, o Galen, deinem betrüglichen Pfad, | Sondern den heiligen Musen, des Phöbus ewiger Gottheit | Lebe ich, doch nur soweit Christus sich ihnen verträgt. | Weißt ja, was für ein Dichter zu sein und zu heißen ich wünsche, | Nicht mein sind die von falschen Göttern trunkenen Herzen.102

Begrifflich schärfer gefaßt ist diese Konsequenz in Jodokus Willichs Kommentar zur »Ars Poetica« des Horaz (1539). Die Regel des Horaz (»Ars poetica« v. 103), daß der Dichter, der bei seinen Lesern Gefühle auslösen wolle, diese Gefühle erst einmal selbst empfinden müsse, habe zu dem Glauben an eine dichterische Ekstase geführt, weil der Dichter durch die Stärke seiner Gefühle gleichsam außerhalb seiner selbst zu stehen scheine.103 Die Verse 295 ff., in denen Horaz sich ironisch über Demokrit äußert, der geistig gesunde Dichter vom Helikon ausgeschlossen habe, so daß, wer als Dichter gelten wolle, sich nun Haare und Bart nicht schneiden lasse und sich nicht wasche, kommentiert Willich mit einem medizinischen Exkurs zu der Frage, ob es sich bei dem beschriebenen Krankheitsbild eher um eine manische oder melancholische Erkrankung handle. Daß es sich um eine göttliche Entrückung handeln könnte, zieht Willich nicht in Betracht. Was Platon dagegen mit dem Enthusiasmus gemeint habe, sei die »einzigartige Gabe Gottes« (singulare Dei donum) als »eine starke Neigung _____________ 101 Hessus: Opera S. 370: »Est deus in nobis, non qualem Naso canebat, | Christo non Phoebo pectora nostra calent. | Est Pluto in vobis agitante calescitis illo, | Sedibus infernis spiritus iste venit.« Vgl. dazu Steppich: Numine S. 246, der S. 236-251 noch weitere Reflexe dieser Ovid-Stelle zitiert. 102 Hessus: Opera S. 394: »Hic ego nec bifidi perplexa aenigmata Iuris, | Nec sequor ambages magne Galene tuas. | Sed sacra Musarum Phoebique aeterna professus | Numina, sed quorum nomina Christus amet. | Scis qualem dicique velim fierique poetam, | Non mea sunt falsis ebria corda deis.« Übersetzung nach Krause: Hessus S. 120. 103 Willich: Commentaria S. 85. Ich zitiere nach der Ausgabe Wittenberg 1545. Eine ganz ähnliche Interpretation findet sich später bei den italienischen Kommentatoren der »Poetik« des Aristoteles, vgl. oben S. 224 ff.

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des Geistes zur Dichtung« (magna animi ad poeticen propensio).104 Neben der im Unterricht vermittelten ars und ihrer Einübung durch exercitatio und imitatio brauche der Dichter Begabung (ingenium). Diese Begabung sei in der Antike für einen »göttlichen Anhauch« (numinum afflatus) gehalten worden. Was Demokrit unter »furor« verstanden habe, sei dasselbe, was Cicero meine, wenn er schreibe, daß Dichter nicht gemacht, sondern geboren würden.105 Abdias Praetorius definiert in seinen »De poesi graecorum libri octo« (1561) den Dichter als eine Person, die von Gott mit den Gaben ausgestattet worden sei, die man zum Dichten entsprechend der Regeln der Dichtkunst braucht. In diesem Sinne sei auch die antike Lehre von der göttlichen Inspiration der Dichter als Begabung zu verstehen.106 Johann Stigel kommentiert Melanchthons Bemerkung in »De anima« – »Ob wir etwa nicht sehen, daß die Dichter wie göttlich angeblasen scheinen, wenn sie angespannt etwas schreiben« – in seinen »Commentarii« (1570) mit einem Verweis auf den platonischen »Phädrus«. Es scheine, als ob die Dichter von einem Enthusiasmus als einer göttlichen Erregung ergriffen seien. Diese Erregung sei aber vor allem bei Melancholikern anzutreffen und auf eine »glückliche Naturanlage« (felix natura) zurückzuführen.107 Auch die jesuitischen Poetiken lehnen die Annahme einer göttlichen Inspiration ab. Pontanus will mit seinen »Poeticarum institutionum libri tres« (1594) ein Lehrbuch der Dichtung für den Unterricht an jesuitischen Gymnasien schreiben.108 Wie es diese Absicht schon nahelegt, kann dem furor poeticus dabei keine allzu große Bedeutung beigemessen werden, denn ekstatische Zöglinge waren in den seltensten Fällen zu erwarten. Pontanus deutet die antiken Belegstellen für den furor poeticus als Metaphern für die natürliche Begabung. Dies habe auch schon die Antike getan. Ansonsten sei es nicht zu erklären, wieso in dieser so viele poetologische Regeln aufgestellt worden wären.109

_____________ 104 105 106 107 108 109

Willich: Commentaria S. 152. Willich: Commentaria S. 185. Praetorius: De poesi graecorum S. 24 und S. 335. Stigel: De anima commentarii f. 119v. Pontanus: Institutiones f. )( 4r f. Pontanus: Institutiones S. 2.

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Scaliger hatte 1561, in einer Fortführung von Pomponazzis Naturalismus, die angeblich göttliche Entrückung des Dichters auf eine physiologische Disposition der spiritus zurückgeführt. Durch die ausgeprägte Phantasie des Dichters würden die spiritus im schöpferischen Vorgang so erregt und auf den jeweiligen Vorstellungsinhalt konzentriert, daß der Dichter diesen Zustand als eine Ekstase, ein Außer-Sich-Sein, eine ›Begeisterung‹ wahrnehme. Insbesondere durch die Verschmelzung mit der Forderung Horaz: »Ars poetica« v. 103 (»Si vis me flere«) – wer Affekte auslösen will, muß sie selbst empfinden – wurde die Affektion des Dichters zu einer allgemein geteilten Überzeugung. Sie ist immer wieder daran zu erkennen, daß der Alkohol als Mittel der Inspiration erwähnt wird, denn es war gerade der Wein, dessen anregende Wirkung man, mit dem »Problem 30.1«, auf eine Anregung des spiritus animalis zurückführte. Diese physiologische Deutung der ›Entrückung‹ fand ihre Ergänzung in der gleichzeitigen Rückführung des heidnischen Inspirationsglaubens auf die Naivität der Antike und den Betrug und das Machtstreben der Priester, wie sie Castelvetro (1570) skizziert und Vossius (1647) ausgeführt hatte. In der Folge wird zu zeigen sein, wie dieses naturalistische Erklärungsmodell die Poetiken des 17. Jahrhunderts beherrscht.

›Gießener Poetik‹, Alsted, Sarbiewski Die »Poetica latina nova« (zuerst 1607) von Helwig, Finck und Bachmann widmet die erste ihrer »allgemeinen Beobachtungen« den Wirkursachen der Dichtung. Erste Ursache sei »eine angeborene Güte der Anlagen und der Natur des Dichters« (poetae insitam ingenii naturaeque bonitatem).110 Diese Naturanlage wird mit dem Enthusiasmus identifiziert. Zu dem Katalog von antiken Referenzen, die zu diesem Zweck angeführt werden, gehören nicht nur Cicero und Ovid, sondern auch Platon (»umsonst klopft an die Pforten der Dichtung, wer seiner selbst mächtig ist«) und das »Problem 30.1« (»kein großer Mensch ohne eine Beimi_____________ 110 Helwig, Finck, Bachmann: Poetica S. 180. Die Gießener Professoren verweisen gleich am Anfang des Kapitels auf das erste Kapitel von Pontanus' »Institutiones«.

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schung von Wahnsinn«).111 In seinem Vorwort zur Ausgabe der »Poetica latina nova« von 1671 ist Hieronymus Thomas der Meinung, die Nähe des Dichters zum Wahninn sei in der Antike als Herabsetzung der Dichtung gemeint gewesen.112 Eine übernatürliche Begründung der Dichtkunst im Sinne des furor würde nicht nur der geforderten »angeborenen Güte der Anlagen und der Natur« widersprechen, sondern auch mit dem Fortgang der "Poetica latina nova" unvereinbar sein. Nach knapp einer, der Begabung gewidmeten Seite, werden in der Folge auf sechzehn Seiten die drei anderen Ursachen der Dichtung behandelt: Übung, Nachahmung und Lektüre. Hier finden sich die klassisch humanistischen Anweisungen: Bearbeitung eines vorgegebenen Themas, Übersetzung, Umschreiben in andere Versmaße, Amplifikationsmöglichkeiten, Übungen zur imitatio und Lektüreempfehlungen. Dem entsprechen auch die zweite, dritte und vierte »allgemeine Beobachtung«, die logische, rhetorische und grammatische Lehrinhalte spezifisch auf die Dichtung bezieht, das heißt die poetische Bedeutung der inventio, dispositio und elocutio beschreibt. An ihrer grundsätzlichen Gültigkeit für die Dichtung haben die Gießener Professoren keinerlei Zweifel, auch wenn es heißt, daß die inventio oft nicht erzwungen werden könne und von einem glücklichen Moment abhänge.113 Ähnlich grenzt Alsted in seiner »Encyclopaedia« (1630) die Dichtung vom Wahnsinn ab. Dichtung sei die Kunst, wahre und bisweilen auch erfundene Sachverhalte vor Augen zu stellen und deshalb keine Form des Wahnsinns.114 Dabei versteht Alsted »Wahnsinn« tatsächlich im Sinne von Demenz, denn wie es gleich darauf heißt, dürfe man den Dichtern weder zu wenig zutrauen und sie für dement, noch zuviel, und sie für göttlich inspiriert halten. Zwar könne es keine dichterische Begabung ohne göttliche Zustimmung geben, deswegen dürfe man aber nicht glauben, daß die heidnischen Dichter im Zustand einer göttlichen Ergriffenheit ihre Dichtungen verfaßt hätten. Der Jesuit Sarbiewski erklärt in »De perfecta poesi« (1626/7) zur »Wirkursache« der Dichtung die Natur selbst, die sich schon im Nachahmungsbedürfnis von Kindern bemerkbar mache, und damit in letzter _____________ 111 Helwig, Finck, Bachmann: Poetica S. 180, mit Zitat von Seneca: »De tranquillitate animae« 17.10-11, der den platonischen Enthusiasmus ebenfalls mit einer melancholischen Naturanlage identifiziert hatte. 112 Helwig, Finck, Bachmann: Poetica, unpag. Vorwort. 113 Helwig, Finck, Bachmann: Poetica S. 199. 114 Alsted: Encyclopaedia Bd. 1 S. 509.

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Instanz Gott als Urheber der Natur.115 Auch die heidnischen Dichter können sich deshalb für ihre Dichtungen auf einen »natürlichen Antrieb« (instinctu naturae) berufen, nämlich eben das angeborene Nachahmungsbedürfnis. Der übernatürliche Antrieb (instinctu supernaturalis) ist dagegen nur einigen Auserwählten, wie etwa Moses oder David, vorbehalten.116 Im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen kennt Sarbiewski die platonische Theorie des furor poeticus aus eigener Lektüre, wie die Zitate aus dem »Ion« und dem »Phädrus« belegen.117 Im platonischen Sinne wird der furor poeticus als Einigung und Beruhigung der Seele erklärt, die durch ihre Einkerkerung im Körper in einzelne und divergente Bestrebungen zerfällt. Während die höheren Teile durch die Funktionen der Körperlichkeit gelähmt werden, beherrschen die unteren Teile die anderen durch die Affekte, und die ganze Seele wird von Uneinigkeit erfüllt. Primärer Zweck des furor poeticus ist deshalb, durch Musik und Harmonie die Seele wieder in Einklang zu versetzen.118 Von diesem »göttlichen Geist« (afflatus divinus) angehaucht und »auf wahrhaft übernatürliche Weise entrückt wurden die heiligen Seher und Dichterinnen: Judith, Debora, Anna und Zacharias sangen erfüllt vom Heiligen Geist ihren Gesang.«119 Ob dagegen auch heidnische Dichter oder die Sibyllen vom Heiligen Geist ergriffen wurden, wagt Sarbiewski nicht zu entscheiden, ist jedoch eher der Meinung, daß diese von Gott nur »mit besonderen Gaben der Natur« ausgestattet worden seien. Alles, was zur Religion und Theologie gehöre, wie die göttliche Entrückung, sei von Ewigkeit her den Christen vorbehalten.120

_____________ 115 Sarbiewski: De poesi S. 11 Z. 18-25. 116 Sarbiewski: De poesi S. 11 Z. 22-33. Auch S. 15 Z. 2-6 wird noch einmal, in anderem Kontext, der instinctu naturae, an den die antiken Dichter glauben, als Begabung (»mens idonea ad poesin«) verstanden, mit explizitem Bezug auf Ovid: »Fasti« 6.5. 117 Sarbiewski: De poesi S. 190 Z. 16-33 und S. 191 Z. 8-11. 118 Sarbiewski: De poesi S. 190 Z. 25-33. 119 Sarbiewski: De poesi S. 191, Z. 12-14: »Occupatio a Musis significat afflatum divinum, quo re vera supernaturali sacri vates et poetriae rapiebantur: Iudith, Debora, Anna, et Zacharias repletus Spiritu sancto cecinit canticum illud.« 120 Sarbiewski: De poesi S. 191 Z. 14-21.

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Opitz, Buchner Opitz stellt in seinem »Buch von der deutschen Poeterey« (1624) den Enthusiasmus als »natürliche regung« dem »aberwitz« und der »blödigkeit« gegenüber.121 Die »regung des Geistes«, die den Dichter »treibt«, ist eine Bewegung des spiritus animalis und kommt deshalb nicht »vom Himmel her«, wie Ovid und andere »vermeinen«.122 Die antiken Dichter waren keine göttlich inspirierten Propheten, sondern »die ersten Väter der Weißheit […] vnd aller gutten ordnung«, die »die bäwrischen vnd fast [das heißt gänzlich] viehischen Menschen zue einem höfflichern vnd bessern leben« bringen wollten. Indem sie sich dabei des Versmaßes und Reimes bedienten und Dinge sagten, »welche einen schein sonderlicher propheceiungen vnd geheimnisse von sich gaben/ vermeineten die einfältigen leute/ es müste etwas göttliches in jhnen stecken/ vnd liessen sich durch die anmutigkeit der schönen getichte zue aller tugend vnnd guttem wandel anführen.«123 Opitz ist weit davon entfernt, sich selbst zu diesen »einfältigen leuten« zu zählen, die sich vom »schein sonderlicher propheceiungen« täuschen lassen. August Buchner hat diesen literaturgeschichtlichen Entwurf, den Opitz nur andeutet, in seinem »Poet« (1632-34 entstanden, Druck erst 1663) ausführlicher entwickelt. Eine »ältere Philosophie« sei die Dichtung, indem die Dichter nichts anderes getan hätten als die Philosophen, nur im Unterschied zu diesen in poetischen Formen.124 In einem zweiten Schritt hätten die Dichter dann, um den »einfältigen leuten« leichter verständlich zu sein, aufgehört, ihre Lehren gleichnishaft darzustellen und sich in wissenschaftlicher Prosa an das Volk gewandt.125 Das hatte allerdings zur Folge, daß die Weisheit in Verruf geriet, indem sich philosophische Schulen bildeten und die Philosophie damit in ein »lauteres Gezänk und nichtiges Wortwechseln« ausartete.126 In einem dritten Schritt seien deshalb einige Philosophen, von dem schulphilosophischen Gezänk angeekelt, wieder zur poetischen Form zurückgekehrt, das heißt sie hätten ihre Lehren wieder in gleichnishafter _____________ 121 Opitz: Poeterey S. 409. Zum furor poeticus, zur Phantasie und zur Anschaulichkeit in der Poetik des 17. Jhs. vgl. Dyck: Ticht-Kunst S. 116-122; Fischer: Rede S. 37-52; Grimm: Literatur S. 154-165; Herrmann: Naturnachahmung S. 52-91; van Ingen: Selbstverständnis; Kemper: Religion; Scheitler: Lied S. 111-151; Till: Affirmation; Vietta: Phantasie S. 46 ff.; Wiedemann: Engel. 122 Opitz: Poeterey S. 349. 123 Opitz: Poeterey S. 345. 124 Buchner: Poet S. 13 f. 125 Buchner: Poet S. 14 f. 126 Buchner: Poet S. 15 f.

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Form vermittelt.127 Zu dieser Philosophie in poetischer Form gehöre das Werk Platons, Synesius', die »Tabula Cebetis«, Erasmus' »Lob der Torheit«, Thomas Mores »Utopia« und John Barclays Romane. Während anfangs nur theologische und naturphilosophische Fragen Gegenstand der Dichtung gewesen wären, hätte sie sich nach und nach auch moralphilosophischen Fragestellungen zugewandt, wie etwa mit den Formen von Tragödie und Komödie.128 Wie Opitz folgert auch Buchner aus dieser Geschichte der Dichtung, daß »die Poeterey nicht enger/ als die Welt und Natur an ihr selbsten/ eingeschrencket sey«,129 womit aber weniger der uneingeschränkte Gegenstandsbereich der Dichtung bezeichnet ist, als die Tatsache, daß die Dichtung eine Form ist, die jedem »unterricht« gegeben werden kann. Mit der Ausdifferenzierung der Wissenschaften hat auch die Dichtung ihren Gegenstandsbereich ausdifferenziert. Buchner belegt diese Behauptung mit einer mehrseitigen Liste von Lehrdichtungen von der Antike bis in die Gegenwart.130 Als eine solche Lehrdichtung, die der »Unterrichtung« der Zuhörer dient, ist die Dichtung tatsächlich bloß eine Form, deren Inhalte sich genauso gut in Prosa ausdrücken lassen. Als Lehrdichtung, von »Gelehrten« verfaßt, geht die Dichtung nach Opitz auf einen natürlichen Antrieb, eine angeborene Begabung zurück. Deswegen habe es Dichter gegeben, bevor es Poetiken gab. Die »Gelehrten« haben aus dem, was die Dichter »auß einem Göttlichen antriebe vnd von natur«, mithin aus einer natürlichen, gottgeschenkten Begabung verfaßt haben, »eine kunst gemacht«, also die Regeln der Ars poetica extrahiert. Wie Melanchthon identifiziert Opitz diese natürliche Begabung als die »tugend« der Dichter.131 Die Poetik ist eine deskriptive Kunst, die aus den Schriften der Dichter abgeleitet wird, die ihrerseits »von natur« aus bereits eine intuitive Kenntnis von dieser Kunst besaßen. Die Anfänge und der Fortgang der Dichtung implizieren keine göttliche Offenbarung, sondern einen »antrieb« (es handelt sich um die deutsche Übersetzung des humoralpathologisch begründeten »affectus«, den »impetus animi« Melanchthons) und die »natur«, die humoralpathologische Grundlage selbst. Der spiritus animalis kommt in Bewegung und regt die »geistige« Tätigkeit des Dichters an. _____________ 127 128 129 130 131

Buchner: Poet S. 16 f. Ähnlich auch Titz: Von der Kunst f. A5v f. Buchner: Poet S. 19 f. Buchner: Poet S. 22. Buchner: Poet S. 22 ff. Opitz: Poeterey S. 343.

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Dies bestätigt auch Opitzens Übersetzung von Ovid: »Fasti« 6.5. Die deutschsprachige Dichtung werde erst dann den Glanz bekommen, der ihr zustehe, wenn der spiritus der natürlich begabten Dichter erregt wird: »Est Deus in nobis, agitante calescimus illo. | Es ist ein Geist in vns/ vnd was von vns geschrieben/ | Gedacht wird vnd gesagt/ das wird durch jhn getrieben.«132 Falsch ist diese Übersetzung, als bei Ovid von »Geist« nichts steht, sondern von Gott die Rede ist. Daß es der spiritus animalis ist, an den Opitz mit seiner Übersetzung denkt, belegt der vorhergehende Satz, in dem einmal mehr der »fleiß« und die natürliche Begabung (»welche von natur selber hierzue geartet sein«) für den poetischen Erfolg verantwortlich gemacht werden. Daneben kann der spiritus animalis auch durch den Gebrauch von Alkohol zu erhöhter dichterischer Tätigkeit angeregt werden, wie Opitz in Anlehnung an Scaliger vermerkt.133 Was die dichterische Darstellung vor der prosaischen auszeichnet, ist ihre Anschaulichkeit. Diese Forderung formuliert Opitz in der »Poeterey«, wenn es dort heißt, der Dichter müsse »εὐφαντασίοτος, von sinnreichen einfällen vnd erfindungen sein/ muß ein grosses vnverzagtes gemüte haben/ muß hohe sachen bey sich erdencken können/ soll anders seine rede eine art kriegen/ vnd von der erden empor steigen.«134 Daß es sich bei den »sinnreichen Einfällen« um ein rhetorisches Ideal handelt, zeigt der Begriff des εὐφαντασίοτος, der die rhetorische Qualität der Anschaulichkeit (evidentia) bezeichnet. Opitz bezieht sich hier auf Quintilian: »Institutio oratoriae« 6.2.26 ff., wo es heißt, der Redner müsse mit einem gut entwickelten Vorstellungsvermögen ausgestattet εὐφαντασίοτος) sein, um sich die Dinge, die er darstellen will, selbst gut vorstellen zu können. Die medizinische spiritus-Lehre ist die Verbindung zwischen dem »Enthusiasmus« als Entrückung und der Phantasiebegabtheit, indem die Phantasiebegabtheit vor allem auf einer angeborenen »Scharfsinnigkeit« des Denkens und Vorstellens, also auf einer besonders feinen Qualität der spiritus beruht. Die dadurch erzeugte Anschaulichkeit der Vorstellungsbilder ›entrückt‹ den Dichter so sehr, daß er die vorgestellten Bilder für tatsächlich gegenwärtig hält. In den Worten von Opitz: eine »sinnreiche faßung aller sachen die wir vns einbilden können«, kann der Dichter nur hervorbringen, wenn er sich den Gegenstand seiner inventio so »sinnreich« vor Augen stellen kann, _____________ 132 Opitz: Poeterey S. 409. 133 Opitz: Poeterey S. 352, zu Scaliger oben S. 229. 134 Opitz: Poeterey S. 349. Auf den grundsätzlichen Zusammenhang dieser Stelle mit der evidentia-Lehre hat bereits Herrmann: Naturnachahmung S. 81-91 aufmerksam gemacht.

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daß seine spiritus aus den Sinnen abgezogen und in die Phantasie ›entrückt‹ sind und er sich selbst, seine konkrete Umgebung, dadurch ganz vergessen hat. Der Dichter ist ›begeistert‹. Die »sinnreichen einfälle vnd erfindungen«, die Opitz zum Kennzeichen des echten Dichters erklärt, sind deshalb das Komplement der »sinnreichen faßung aller sachen die wir uns einbilden [das heißt vorstellen] können«, als die Opitz die inventio definiert.135

Opitz’ Theorie der Andacht Es ist derselbe Vorgang, den Andreas Tscherning beschreibt, wenn er 1655 die »Melancholey« von sich selber sagen läßt, sie bleibe durch ihr »edles Blut« – die besonders feinen spiritus des melancholischen Temperaments – »stets eine Poetinn«. Wenn sich der »himmelische Geist« in ihr rege, entzünde sie »als ein Gott die Hertzen«, die dann »ausser sich« gingen und eine »Bahn« suchten, »die mehr als weltlich ist«.136 Diese mehr als weltliche, nämlich ›geistliche‹, spirituelle »Bahn« hatte auch Opitz schon 1624 auf eine ›Begeisterung‹ des Dichters durch den Heiligen Geist, den spiritus sanctus, zurückgeführt. In seinem »Lobgesang Vber den Frewdenreichen Geburtstag vnseres HErren vnd Heylandes Jesu Christi« bestimmt Opitz die »Andacht« als Merkmal einer Durchmischung des spiritus sanctus mit dem spiritus animalis des Menschen. In der Konzentration auf die Inhalte des christlichen Glaubens vermischt sich der göttliche Geist mit den menschlichen ›Lebensgeistern‹, wie Melanchthon es in seinem »De anima«-Lehrbuch beschrieben hatte. Es handelt sich dabei gerade nicht um eine neue Offenbarung oder eine prophetische Gabe, sondern um eine Mitteilung des göttlichen Geistes, der sich bei jedem Gläubigen abspielen kann. Indem dieser Prozeß an das Wort und die Glaubensinhalte der Bibel gebunden ist, werden keine neuen Offenbarungen vermittelt, sondern ein affektiver Zustand, nämlich der Trost, der mit dem freudigen Affekt des Glaubens verbunden ist.137 In seinem »Lobgesang« instrumentalisiert Opitz diese Theorie poetologisch. Durch die Verse des Dichters, die die Aufmerksamkeit des Lesers ganz auf das »unverwandte Anschauen« Gottes richten, werde der spiritus animalis »vor andacht« so auf die Vorstellung Gottes konzentriert, daß er _____________ 135 Opitz: Poeterey S. 360. 136 Tscherning: Melancholey redet selber. In ders.: Vortrab des Sommers deutscher Gedichte, unpag. 137 Vgl. oben S. 261.

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»vom [Heiligen] Geist entzündet« werde. Wie das Feuer alles, was es ergreife, in Feuer verwandle, so verwandle der spiritus sanctus die spiritus animales des Zuhörers oder Lesers, der wiederum durch die Anschaulichkeit der Dichtung in diese andächtige Versenkung gerät.138 Das thut des Menschen Geist/ wann er das Fleisch verlassen/ | Vnd gantz sein selber ist/ so hebt er an zu hassen | Was Fleisch vnd Blutt gefellt; lebt in dem Leibe zwar/ | Vnd wird vor andacht doch sein gleichsam nicht gewar. | Vor allem lest er nie die Augen der gedancken/ | Gleich wie die Lieber [Liebenden] thun/ von seinem Schöpffer wancken/ | Schawt vnverwandt jhn an. Dann wann schon vnser sinn | Vom Geist entzündet wird/ so sieht er nirgends hin | Als bloß nur auff den Geist: Wie Fewer alle sachen | Die es ergreiffen kann zu Fewer pflegt zu machen.139

Die eigentümliche, spezifische Aufgabe des Dichters ist es, dem theologischen Lehrgehalt mit rhetorischen Mitteln solche Anschaulichkeit zu geben, daß damit die Andacht des Lesers möglich wird. Der theologische Begriff der Andacht verhält sich damit komplementär zum rhetorischen Begriff der Anschaulichkeit. Nur wenn es dem Dichter gelingt, durch die Anschaulichkeit seiner Verse den Geist des Lesers völlig in der Betrachtung Gottes zu versenken, haben die Verse ihre Aufgabe erfüllt. Die physiologische Konzentration der spiritus animales macht durch die Anschaulichkeit die Andacht möglich, die ihrerseits zur »Entzündung« durch den spiritus sanctus führt. Opitz beschreibt diese Aufgabe im Kommentar zum »Lobgesang« als das »vornemste Ampt des Menschlichen gemüttes«. Erst indem der menschliche Geist von »den euserlichen sinnen/ abgeführet« werde, könne er zur Betrachtung der »vnsichtbaren/ als da sind die Weißheit/ Tugend/ bevor aber GOtt selber« geführt werden. Zu diesem Zweck wären die »Geistreichen«, also vom spiritus sanctus erfüllten »Lobgesänge vnd Lieder«, wie sie in der Bibel und bei den Kirchenvätern zu finden seien, geschrieben worden. Als »hohe gedancken« würden sie »mit sonderer anmuth vnd bewegung« gelesen. Im Sinne einer solchen »Entrückung« der Gedanken sei auch der platonische Enthusiasmus zu verstehen, wie er im »Phädrus« beschrieben werde.140 Die Verse des Dichters müssen den Leser »mit sonderer anmuth vnd bewegung« erfüllen, sie müssen ihn im rhetorischen Sinne affizieren, indem sie seine spiritus im physiologischen Sinne ›entrücken‹. Die Befreiung von den Affekten, den »verwirrungen/ welchen das grösseste theil der Menschen sonst vnterworffen«, die Reinigung des »Gemüttes« und seine _____________ 138 Opitz: Lobgesang S. 135. 139 Opitz: Lobgesang S. 135. 140 Opitz: Lobgesang S. 144-146.

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Hinführung zur »betrachtung der vnsterblichen vnd Göttlichen sachen« spielt sich physiologisch durch die Mitteilung des Heiligen Geistes ab, indem der spiritus sanctus die Herrschaft über die spiritus animales übernimmt, und damit im wörtlichen Sinne »vns noch hier mit vnserem Schöpfer vereinigt«.141 Der affektive Zustand des Trostes, den der Leser bei der Lektüre der ›geistlichen‹ Dichtung empfindet, ist die unmittelbare Wirkung dieser Vermischung.

Donati Donati vertritt im achtzehnten Kapitel seiner »Ars poetica« (1631) in der Frage nach den Voraussetzungen der Dichtung mit der Trias von Begabung, Ausbildung und Übung einen sehr rationalistischen Standpunkt.142 Daß Dichter geboren und nicht gemacht würden, bezieht Donati ganz auf die Naturanlage, traut dieser allein allerdings nicht so viel zu und kann auch nicht verstehen, warum allein in der Dichtung die Begabung einen so hohen Stellenwert haben sollte. Durch Fleiß bilde man Begabungen aus und durch Zucht erziehe man selbst wilden Tieren ihre Natur ab.143 Wahnsinn, wie ihn Demokrit gefordert hat, der nach Horaz, »Ars poetica« v. 296 vom Helikon alle gesunden Dichter ausschloß, gehört nicht zu den Anlagen des Dichters. Verrückte Dichter hätten die kulturstiftende Rolle, die ihnen Cicero und Horaz zusprechen, nicht übernehmen können. Wer selbst verrückt sei, könne nicht anderen Menschen zivilisierte Verhaltensweisen beibringen. Von seinem Temperament her müsse der Dichter deshalb nicht verrückt sein, sondern »still und sanft« (placidus ac suave).144 Mit der Behauptung einer göttlichen Entrückung hätten sich die antiken Dichter nur Autorität verschaffen wollen. Es handle sich um Märchen, die nur den Dichtern erlaubt seien, den Philosophen jedoch nicht, auch wenn dies Ficino nicht passe.145 Aristoteles habe recht, wenn er die dichterische Entrückung auf einen Überfluß an schwarzer Galle zurückführe. Dieser erdige, dichte und seiner Natur nach kalte Körpersaft könne wie der Wein den Körper stark erhitzen und wenn dies geschieht, könne die Melancholie den Körper entzünden, den Geist entflammen und alle _____________ 141 142 143 144 145

Opitz: Lobgesang S. 146. Auch dies entspricht Melanchthons spiritus-Lehre. Donati: Ars poetica S. 38. Donati: Ars poetica S. 38 f. Donati: Ars poetica S. 40. Donati: Ars poetica S. 42.

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Bewegungen und Kräfte beschleunigen. Das ist es, was die Dichter erfindungsreich macht und weshalb Aristoteles im "Problem 30.1" über Marakos von Syrakus schreibe, daß dieser immer dann ein besserer Dichter gewesen sei, wenn er außer sich gewesen ist.146 Für Aristoteles sei der furor poeticus eine »Entflammung der inneren Sinne und der seelischen Kräfte« durch den erhitzten melancholischen humor, durch den wiederum der Geist zu dichterischen Gesängen erregt werde. Dies sei insofern nicht verwunderlich, als die geistigen Fähigkeiten von der Schnelligkeit des Vorstellungsvermögens abhingen und diese Schnelligkeit eben durch die Erhitzung des melancholischen humor erheblich zunehme. Dieser dringe »in die hintersten Winkel des Vorstellungsvermögens« und durchmische »die Bilder der Sachverhalte, die dort bewahrt werden«. Zugrunde liegt wieder die physiologische Verortung des Vorstellungsvermögens in einer Kammer des Gehirns, wobei die Vorstellungsbilder durch die spiritus animales über die Blutbahnen transportiert werden. Nach Donati – und in diesem Punkt auch nach dem »Problem 30.1« – bringt die Erhitzung des melancholischen humor deshalb diese Vorstellungsbilder in Bewegung, wobei durch die Erhitzung auch das Blut in den Venen aufschwillt und der Dichter ›inspiriert‹ wird, indem er durch die starke Präsenz der Vorstellungsbilder den Eindruck hat, außerhalb seiner selbst zu stehen.147 Diese Beweglichkeit und dieses »Außer-Sich-Sein« des Dichters erlaubt ihm auch, sich in die Gefühle anderer Menschen zu versetzen und diese dann umso besser darzustellen.148 Damit übernimmt Donati die naturalistische Erklärung, wie sie Scaliger und seine Schüler vorgeführt hatten. »Poetik« 1455a 32-34 versteht Donati, gegen den Wortlaut der Stelle, nicht als Alternative, sondern als zwei Beschreibungen desselben Sachverhaltes. Der Dichter sei »von Natur und Anlage stark, von einem bestimmten furor angeblasen, gut geeignet, alles zu untersuchen, ekstatisch und im Geist erregt« (natura et ingenio valens, quodam furore afflatus, bene ad omnia conformatus indagator, excstaticus ac mente motus). Diese Naturanlage gehe auf ein entsprechendes Säfteverhältnis und auf die Qualität der »inneren Sinne«, vor allem des Vorstellungsvermögens, zurück.149 Im Gegensatz zu anderen Künsten und Wissenschaften, bei denen die Anfänge am schwierigsten sind, zeichne sich der in der Dichtkunst Begab_____________ 146 147 148 149

Donati: Ars poetica S. 43. Donati: Ars poetica S. 43 f. Donati: Ars poetica S. 44. Donati: Ars poetica S. 45.

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te von Anfang an aus, indem er »bisweilen glühend und erregt fast ohne Mühe Verse von sich gibt, bisweilen, von einem kalten melancholischen Humor erstickt, stumm und traurig« bleibe. Sein Talent dränge dazu, sich zu äußern, deswegen schrieben die einen, von niemandem gelehrt, in der Volkssprache die besten Verse, andere überholten den Lehrer in lateinischen.150 Neben diesen begabten Dichtern gebe es aber auch andere, die gerade im Gegenteil sich für unbegabt hielten, weil sie nur mit Mühe ein paar Verse heraustreiben könnten. Weil diese aber glaubten, daß anderen die Verse so leicht aus der Feder flößen wie einst das Wasser aus der Quelle des Musenbergs, fingen sie selbst mit dem Dichten gar nicht erst an. Diese täuschten sich jedoch oft über ihre eigenen Anlagen. Obgleich die dichterische Begabung sich oft von alleine zeige, tue sie dies jedoch selten ohne Regelkenntnis und Übung. Was Cicero über das rhetorische Talent schreibe, daß es durch Unterricht geschult werden müsse, gelte genauso für das poetische Talent.151 Wie man das wertvolle Metall in den Bergen erst dadurch entdecke, daß es schon von sich aus leuchte, so müsse man bei einem Schüler seine Begabung erkennen. Wie die Strahlen der aufgehenden Sonne nicht durchbrechen könnten, wenn die Sonne von Wolken verhangen sei, so könne das Licht der Begabung nicht leuchten, wenn es nicht durch Regelkenntnis, Übung und Lektüre geschult werde.152 Auf den folgenden fünfzig Seiten, dem Rest des ersten Buches der »Ars poetica«, widmet sich Donati deshalb ausführlich den Anweisungen für den Unterricht, der Lektüreauswahl, den Schreibübungen, der Schulung des Urteils und den Anweisung für die imitatio.

Masen, Balde Wie Donati urteilen auch seine Ordensbrüder Masen und Balde. Masen, Professor für Rhetorik, legitimiert seine »Palaestra eloquentiae ligatae« (1654) als ein ausschließlich didaktisches Unternehmen. Aus dem »Staub der Schule« sei seine Poetik geboren, und zum Ethos des Lehrers bekennt sich Masen, wenn für ihn von vornherein nur in Frage steht, ob der Weg zum Dichter besser über die Regeln oder über die Beispiele führt. Mit _____________ 150 Donati: Ars poetica S. 46. 151 Donati: Ars poetica S. 47. 152 Donati: Ars poetica S. 48.

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einer ironischen Anspielung auf das »Dichter werden geboren, Redner gemacht« heißt es, wenige würden als Dichter geboren, viele aber dazu gemacht.153 Damit ist nicht bestritten, daß der Dichter begabt sein muß. Diese Begabung sei bei der inventio von besonderer Bedeutung. Deshalb hätten viele geglaubt, daß die inventio eher auf einen göttlichen Anhauch als auf »Regelkenntnis und Arbeit« (ars ac labor) zurückgehe und gleich ganz darauf verzichtet, feste Regeln für sie zu finden. Aber auch wenn die Begabung hier tatsächlich eine große Rolle spiele, könne man Regeln finden.154 Diese Regeln betreffen die Wahl der Gattung, die Angemessenheit der sprachlichen Ausgestaltung und des Metrums und die Art und Länge der Abschweifungen oder Episoden. Insbesondere bezieht Masen die Erfindung jedoch im Sinne der rhetorischen evidentia auf die anschauliche Ausgestaltung der einzelnen Teile einer Dichtung durch Gleichnisse, exempla, Vergleiche, Gegensätze und Beschreibungen von Orten, Zeiten und Personen.155 Jacob Balde, der eine ausführliche Poetik angesichts der Leistungen seiner Vorgänger schon für überflüssig hält, deutet in seiner »Dissertatio de studio poetico« (1658) die Analogie von Gott und Dichter dahingehend, daß beide zwar Neues erschaffen, Gott aber aus dem Nichts, der Dichter aus seinem Gehirn.156 Neigung und Begabung müssen vorausgesetzt, aber durch Ausbildung und Übung ergänzt werden.157 Alkohol könne Talent zwar nicht ersetzen, mache die poetische Ader aber erst zur sprudelnden Quelle.158 Ein natürliches melancholische Temperament sei die Voraussetzung der Dichtung, was für Balde auch die Frage entscheidet, ob Dichter geboren oder gemacht werden.159 Als »Enthusiasmen« bezeichnet Balde eine Gattung von Oden, die aus einem affektiv besonders erregten Zustand des Dichters hervorgehen, den Balde sowohl auf die antiken Inspirationsgottheiten als auch auf die Lektüre anderer Dichter zurückführt. Diese »Enthusiasmen«, die in einem engen Verhältnis zu den MelancholieGedichten Baldes stehen, schildern visionäre Erlebnisse, wie etwa imaginäre Reisen, in einer besonders anschaulichen Form.160 _____________ 153 154 155 156 157 158 159 160

Masen: Palaestra »Ad lectorem« f. t5r. Masen: Palaestra I.1.3, S. 5. Masen: Palaestra I.1.3, S. 6. Balde: Dissertatio 9, S. 14-15. Zu Balde vgl. die Einleitung von Burkard zu seiner Ausgabe. Balde: Dissertatio 24, S. S. 30-31; 47-50, S. 46-51; 53, S. 52-53. Balde: Dissertatio 43-46, S. 44-47. Balde: Dissertatio 58-64, S. 56-61. Vgl. Promberger: Enthusiasmen S. 40-61; Lefèvre: Melancholie; Schäfer: Horaz S. 178-188.

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Grimmelshausen, Harsdörffer, Klaj, Zesen Grimmelshausen bringt in seinem »Satyrischen Pilgram« (1667) die Dichtung in einen Gegensatz zu allen anderen Künsten und Wissenschaften. Wo diese aus »Unterrichtung gelernet« und »aus stetiger ubung perfectionirt« würden, da verrichte der Dichter »seine Sachen gleichsamb aus aigner natur […] darzue die Kräffte seines Gemüths durch einen sonderbaren Himlischen Gaist innerlich uffgemuntert: bewegt und angetrieben werden«. Dies meine Aristoteles, wenn er »Poetik« 1455a 32-34 sage, »daß die Poesis […] ein Werck eines fähigen: und gleichsamb von einem furor verzuckten Verstandes« sei.161 Ausführlich referiert Grimmelshausen die antiken Inspirationsmythen und stellt sie in eine Linie mit der Kabbala und den alttestamentarischen Propheten und Dichtern. Die ambrosianischen Hymnen singe man noch heute in der Kirche »mit grosser Andacht und trefflichem Nutz«.162 Deswegen müsse man die Dichter am meisten ehren, »die ihre Gaben zu den Ehren Gottes anlegen und aus Krafft der infliessenden himlischen Gaister/ die sie beleichten und antreiben/ solche andächtige und gottseelige Gesänge machen/ dardurch auch andere in das Lob Gottes entzuckt werden«.163 Dieselben »furores« umnebeln das »Hirn mit Poetischen Dünsten der Thorheit« so sehr, daß die Dichter als verrückt erscheinen können.164 Harsdörffer versteht in seinen »Frauenzimmer Gesprächspielen« (1645) den dichterischen Schöpfungsakt ausdrücklich nicht analog zu demjenigen Gottes, sondern als sprachlich-rhetorischen Gestaltungsakt im Sinne der Anschaulichkeit.165 Das »schöpferische« Vermögen des Dichters sei »das natürliche Vermögen der guhten Einbildung/ in dem man die Gestalten aller Sachen wol verfasse/ und zimlich vorstelle [...].«166 Der Dichter müsse »Neigungen und Eignungen/ welche er seinem Zuhörer beybringen will erstlich in sich empfinden/ und in die Personen/ welche er vorstellen will/ gleichsam entzükket sich verstellen: Was er ausbilden will/ muß er ihm zuvor kunstartig einbilden.«167 Auch hier ist die _____________ 161 Grimmelshausen: Satyrischer Pilgram S. 89. Quelle von Grimmelshausens Zusammenstellung ist Garzonis »Piazza Universale«. 162 Grimmelshausen: Satyrischer Pilgram S. 91. 163 Grimmelshausen: Satyrischer Pilgram S. 91 f. 164 Grimmelshausen: Satyrischer Pilgram S. 93. 165 Harsdörffer: Gesprächspiele V, Nr. 204, S. 131. Kindermann: Der deutsche Poet II.1.4, S. 49 bezieht diese Anschaulichkeit auf Opitz' Definition der inventio als »sinnreiche Fassung« (II.1.8, S. 50). 166 Harsdörffer: Gesprächspiele V, Nr. 204, S. 132 f. 167 Harsdörffer: Gesprächspiele V, Nr. 204, S. 142.

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terminologische Tradition des furor poeticus mit dem »entzükket« noch gegenwärtig. Aus der Tatsache, daß das Vorstellungsvermögen (»BildungsKrafft«) insbesondere von der Tätigkeit der spiritus animales (»subtile Geisterlein«) abhängt, die wiederum durch den Genuß von Alkohol angeregt werden kann, erkläre es sich, daß »die Poeten zuzeiten bey dem Becher der Frölichkeit mit bescheidener Mässigung Belieben suchen.«168 Natürliche Begabung, die in der Schule und Universität durch Regelkenntnis, Lektüre und Nachahmung ausgebildet werde, dazu eine auf demselben Wege erworbene Grundkenntnis aller Wissenschaften und Künste sind Voraussetzung der Dichtung, denn vorstellen kann man sich nur Dinge, die man kennt.169 Johann Klaj fordert in seiner »Lobrede der teutschen Poeterey« (1645), der Dichter müsse ein »vielwissender«, »erfahrner Mann« sein, um sich all die Dinge, die er in seiner Dichtung beschreibt, vorstellen und durch »geziemende zierliche Worte« in »lebendige Beschreibungen« bringen zu können.170 Den Glauben an eine göttliche Inspiration führt auch Klaj auf die Leichtgläubigkeit der Antike zurück, die sich von diesen rhetorischen Fähigkeiten täuschen ließen. Weil die Dichter »was niemaln gewesen/ als wer es gewesen/ fürgestellet«, also besonders lebhaft und anschaulich schreiben konnten, hätte man sie »hoch und herrlich/ ja Gott fast [das heißt gänzlich] selbst gleich/ geachtet/ in dem man geargwohnet/ sie hätten eine heimliche Zusamenkunft und Verbündniß mit den Göttern«.171 Mit Berufung auf Balde bezeichnet Klaj eine Art von Gedichten, in denen der Dichter »gleichsam entzukket und ihme außer sich selbsten im Gesichte etwas ungewähnliches vorgestellet wird«, als »Enthusiasmen«. Der Dichter sei in dieser Gedichtform an keine bestimmten »Reimarten« gebunden, um den Zuhörer »desto bestürtzter« machen zu können.172 Auch hier ist also die Anschaulichkeit das entscheidende Merkmal. Klajs visionäre Schau der Höllenfahrt Christi beginnt in diesem Sinne mit dem »Enthusiasmus«: »WJe geschieht mir? Das Geblüte kaltet/ | Das Hertze pocht/ die Haut veraltet/ | Die Zähne knirschn/ die Haare starren/ | Ach wo wil ich immer hin?«173 _____________ 168 Harsdörffer: Vorrede zu Klajs Herodes, S. 197. 169 Harsdörffer: Trichter II, Vorrede, a4v. Vgl. dort auch II.7.2; III.4.31, S. 27 und III, »Vorrede Von der natürlichen Fähigkeit zu der Poeterey und Redkunst«, f. )(r. 170 Klaj: Lobrede S. 5. 171 Klaj: Lobrede S. 4. 172 Klaj: Redeoratorien S. 90. 173 Klaj: Redeoratorien S. 65.

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Philipp von Zesen antwortet 1668 auf die Frage, ob Natur oder Kunst mehr vermöge, daß die »angebohrenheit zur Dichtkunst« zwar das wichtigste sei, gleichwohl aber »fleissige übung/ und ein guhter unterricht« viel vermögen. Vor einem Temperament, das der Zügelung durch die Kunst nicht mehr zugänglich ist, muß ausdrücklich gewarnt werden. Eine »alzu feurige und alzu heftige angebohrenheit zur Dichtkunst« könne mangels Geduld den »überflus« der »hohen dichterischen erfindungen und einfälle« nicht mehr bändigen. Mangels »künstlichen nachdenkens« schmeckten solche Dichtungen »allein nach dem brande der alzu hitzigen Natur; die ohne Kunst nimmermehr zur rechten volkommenheit gelangen kann.«174 Diese nicht durch Kunst gebändigte Dichtung hält Zesen für »viel schlimmer und ungeschikter« als jene Dichtung, in der allein »Kunst und übung ihr meisterstükke« bewiesen hätten. Dichter, die »ihre natur alzu kunterbund spielen laßen«, liefen in ihren Dichtungen »wider andere höhere Wissenschaften und Künste/ ja oft wider die vernunft selbst«.175 Ursache der mangelnden rationalen Durchdringung und regelgemäßen Organisation der Dichtungen sei oft die Trunkenheit der Dichter. Diese bringe eher »ungeschikte rasereien« als »weislich ausgearbeitete Gedichte« hervor.176 Während der »ziemliche gebrauch des Weines« »die schläfrigen und alzu schweermühtigen köpfe leichtmühtig und munter macht«,177 bringe der übermäßige Gebrauch des Weines »eine halbrasende/ halbwühtende/ und doch zugleich süße tohrheit« hervor. Zesen rät deshalb aber nicht vom Gebrauch des Weines ab, sondern nur dazu, die »überaus treflichen einfälle«, die den Dichtern, »wan sie nüchtern/ nimmermehr aufstoßen würden«, in betrunkenem Zustand »tapfer hinzuschreiben«, in nüchternem Zustand aber mit »reiffem urteil und nachdenken« zu verbessern und auszuarbeiten.178

_____________ 174 Zesen: Helikonische Hechel S. 301 f. 175 Zesen: Helikonische Hechel S. 302. 176 Zesen: Helikonische Hechel S. 302. Die Abhängigkeit von Opitz wird in der Folge noch deutlicher, wenn Zesen dieselben Horaz- und Pindar-Zitate anführt und genau wie Opitz der Meinung ist, Aischylos habe seine Tragödien im Rausch geschrieben. 177 Zesen: Helikonische Hechel S. 303. 178 Zesen: Helikonische Hechel S. 304 f.

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Rappolt, Birken, Schottel, Sacer Friedrich Rappolt deutet 1678 »Poetik« 1455a 32-34 wie die italienischen Kommentatoren im Sinne von Horaz »Ars poetica« v. 103 (»Si vis me flere«). Entweder der Dichter müsse begabt sein, oder er müsse sich leicht mit seinen Personen identifizieren können.179 Die Behauptung einer göttlichen Inspiration, die er mit einem Verweis auf Platons »Phädrus« referiert, weist Rappolt zurück. Einzig dem Heiligen Geist, nicht aber den falschen Göttern der Heiden könne Inspiration zugesprochen werden. Unmittelbar göttlich inspiriert seien nur die beiden ältesten erhaltenen Lieder von Moses.180 Sigmund von Birken verschmilzt in seiner »Rede-bind- und DichtKunst« (1679) die Forderung nach Phantasie, wie sie Quintilian 6.2.26 ff. mit dem Begriff εὐφαντασίοτος erhoben hatte, und die Forderung nach Begabung, wie sie Aristoteles, »Poetik« 1455a 32-34 mit dem Begriff der εὐφυία erhoben hatte. Der »göttlichen Begeisterung« werde durch die Natur der Weg gebahnet/ mit einpflanzung/ sowol eines hurtigen Geistes/ als einer redfärtigen Zunge oder Feder: welches die Griechen die Wolangeborenheit (εὐφυίαν) nennen. Vor allem muß ein Poet seyn Scharfsinnig/ εὐφαντασίοτος) und ihme von einem Dinge mancherlei Bildungen vorstellen können. Dann seine Kunst und das Dichten/ hat den Namen vom Denken/ und fließet aus den Gedanken in die Worte.181

Schon in den ersten Paragraphen seiner Poetik hatte Birken klargestellt, daß die Dichtung keine göttlichen, sondern höchst menschliche Anfänge hat, wenn er dort mit Scaliger die Anfänge der Dichtung bei den ersten, als Schäfern herumziehenden Menschen gefunden hatte, die sich nicht nur durch Musik, sondern eben auch durch Gesang die Zeit vertrieben.182 Der supponierte göttliche Ursprung der Dichtung bei den Orakeln und Sibyllen in der griechischen Antike wird dagegen auf teuflisches und dämonisches Wirken zurückgeführt.183 Amphion, Linus und Orpheus werden nicht als mythische Offenbarungsträger, sondern als historische Personen behandelt. Da sie vor der Formulierung von Poetiken lebten, hatten sie es besonders schwer.184 Wer behaupte, dichten zu können, ohne eine »Dichtlehre oder Prosodiam« _____________ 179 180 181 182 183 184

Rappolt: Poetica S. 38. Rappolt: Poetica These 9, S. 87-89. Birken: Dicht-Kunst § 129, S. 170. Birken: Dicht-Kunst, Vorrede § 1, f. ):( vijr. Birken: Dicht-Kunst, Vorrede § 6, f. ):( 10 f. Birken: Dicht-Kunst § 130, S. 171.

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gelesen zu haben, sei lächerlich.185 Der Weg zur Dichtkunst setze natürliche, von Gott gegebene Begabung voraus, die Erwerbung der Regelkenntnis, Fleiß und Übung.186 Als Birken auf die entscheidende Frage kommt, woher der poetische Einfall zu nehmen ist, sind es die loci topici der Dialektik und Rhetorik, auf die er sich beruft, nicht die göttliche Inspiration.187 Indem die Dichtkunst eine gottgeschenkte Begabung ist, müssen die Dichter diese Fähigkeit vor allem zum Lob Gottes einsetzen. Die »Dichtfähigkeit« sei eine »Feuer-Flut des himlischen Geistes«, eine »GeistesFlut«. Weil sie »vom Himmel einfließet«, solle sie auch »wieder gen Himmel steigen und Gott zu Ehren verwendet werden.« Auch dieser Vorstellung liegt offensichtlich Melanchthons spiritus-Lehre zugrunde. Wie Opitz bezeichnet Birken das »spirituelle« Vermögen der Dichtung, das sinnbildlich auf dem Titelkupfer seiner Poetik dargestellt ist, als »Andacht«.188 Was »ohne Geist und Andacht« geschrieben wurde, könne auch die Andacht des Lesers nicht erregen, seinen Geist nicht »anfeuern«.189 Die physiologische Deutung des spiritus ist wiederum daran zu erkennen, daß Birken sofort im Anschluß davor warnen muß, die »Geister« durch Wein zu stärken.190 In der Vorrede zur »Pegnesis« (1673) versichert Birken mit einer weiteren Kontrafaktur Ovids den Leser, daß es sich bei seiner Anrufung der Musen nicht um eine Bitte um Inspiration – mithin Dämonenbeschwörung – handle, sondern um Spielerei mit der antiken Tradition, um Zeitvertreib und ein »bloßes nennen«. Wenn die »Blätter« des Dichters »brennen«, ist dies nicht auf göttlichen Wahnsinn (»Brunst«) zurückzuführen, sondern auf die Anschaulichkeit der dichterischen Sprache (»FlammenWort«): »Das Herz ist weit von dem/ was eine Feder schreibt | Wir dichten/ im Gedicht/ daß man die Zeit vertreibt. | In uns wohnt keine Brunst: ob schon die Blätter brennen | Von manchem Flammen-Wort. Es ist ein bloßes nennen.«191 _____________ 185 186 187 188

Birken: Dicht-Kunst § 130, S. 172. Birken: Dicht-Kunst § 131 f., S. 172 f. Birken: Dicht-Kunst § 143, S. 187. Birken: Dicht-Kunst, Vorrede § 14, f. ):( ):( iiijv. Vgl. auch Birken: Dicht-Kunst § 141, S. 184 f.: »Die Poetische Dichtfähigkeit/ wie zuvor erwehnt/ und der Geist/ komt von Himmel: so ist ja billig/ daß dessen Wirkung in seinen Ursprung wiederkehre.« Zu Melanchthons spiritus-Lehre vgl. oben S. 168, zu Opitz oben S. 168 ff. 189 Birken: Dicht-Kunst § 148, S. 191. Vgl. auch § 25. 190 Birken: Dicht-Kunst, Vorrede, § 15, f. ):( ):( vijv. 191 Birken: Pegnesis, unpag. Vorrede. Kempe zitiert diese Verse Birkens zustimmend in seinen Anmerkungen zu Neumark: Tafeln S. 46. Vgl. auch Birken: Dicht-Kunst § 128, S. 168. Es folgt der unvermeidliche Verweis auf Ovid: »Fasti« 6.5.

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Justus Georg Schottel zitiert in seiner »Ausführlichen Arbeit von der teutschen HaubtSprache« (1663) die antiken Referenzen für den Enthusiasmus in einem knappen Paragraphen, um dann ausführlich vom Dichter »Wissenschaft und Erudition« einzufordern.192 In Gottfried Wilhelm Sacers Satire »Reime dich/ oder ich fresse dich« (1673) wird der Glaube an die göttliche Entrücktheit der Dichter zum bevorzugten Gegenstand des Spotts. Nachdem Sacer dort im dritten Kapitel die antiken Belege für den Enthusiasmus (vor allem Ovid, »Fasti« 6.5) zitiert hat, fragt er, wie ein »Poët« zu seiner Kunst komme und antwortet darauf selbst, diese würde ihm von einer Sphinx eingeblasen, so daß er »von Witze starret/ wie ein Schweinsblase vom Winde.« Studium und Fleiß sei überflüssig, auch Hans Sachs und eine ganze Reihe weiterer Dichter hätten nicht studiert und seien dennoch berühmte Dichter geworden.193 Die Reihe kulminiert in der Grabschrift des Pfarrers von Utenheim, die »nachdencklicher und scharffsinniger« nicht sein könnte: »Unter diesem Stein/ | Liegt begraben der Pfarrer von Utenheim/ | Er war nicht von Eißleben | Gott geb ihm das ewige Leben.«194 Orpheus, Amphion und Linus hätten auch gedichtet, ohne eine Prosodie gelesen zu haben. Ein Dichter werde nicht durch Regeln gemacht, sondern als solcher geboren. Er bringe seine Kunst aus dem Mutterleib mit, wie der Spielmann seine Fiedel und der Müller seinen Sack. Wenn der »Furor Poëticus, das ist/ die Poëtische Raserey« ihn ergreife, gieße sein Gemüt »wunderlich Sachen« aus, die er selbst nicht verstehe, ganz wie Vergil von den Sibyllen berichte, daß ein Gott durch sie spreche.195 Wohl nirgendwo wird der Kult des ingenium und der »Scharfsinnigkeit«, den das 17. Jahrhundert betrieben hat, so deutlich wie bei Sacer. Nicht die Inspiration, sondern der – Begabung voraussetzende, durch Kunstlehre, Übung und Lektüre erworbene – »Witz« und der »Scharfsinn« sind es, auf die der Dichter stolz ist. Wer die »gelehrten Inventiones« verachte, solle sich nur vor ein leeres Papier setzen und an seiner Feder kauen, dann werde ihm schon etwas einfallen, empfiehlt Sacer. Man solle sich von niemandem einreden lassen, aus nichts werde nichts. »Bilde dir ein daß aus deinem Häupte wohl Gold regnen könne/ ob du gleich kein Bergwerck darinnen hast. Welches eben der rechte Weg etwas tüchtiges herfür zu bringen.«196 _____________ 192 193 194 195 196

Schottel: Arbeit Bd. 1, S. 105 f. Sacer: Reim dich S. 9. Sacer: Reim dich S. 11. Sacer: Reim dich S. 60 f. Sacer: Reim dich S. 31.

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Geschichte des Enthusiasmus

Nütze das alles nicht, bleibe immer noch ein guter »Klingenberger/oder Bacharacher/ es thuts auch wohl ein geringer Wein/ und trincke nicht den dreyen Gratien zu liebe/ dreymahl/ sondern den neun Musis zu Ehren neun mahl duppelt [...].«197 Denn es gilt die populäre Überzeugung: Wein schärfft das Gehirn/ man siehts an unsern Bauren wohl/ welche/ wenn sie weidlich in den Weinkrug gejuckt und draus geschluckt/ Nase und Bart begossen haben/ vor Freuden einen poetischen Juchs thun und darauff eh man sichs versiehet ein Roll-Gedichte/ sine scansione, die Stiege hinab machen und haben doch des Herrn Filip von Zesens Poetischen Helicon niemahls gelesen.198

Der Enthusiasmus im 18. Jahrhundert

Gegen Ende des 17. Jahrhunderts richtet sich die Aufmerksamkeit zunehmend auf die Frage, wie die Affektion des Dichters, seine ›Begeisterung‹, künstlich stimuliert werden könne, um ihn in die Stimmung zu versetzen, aus der Gedichte entstehen. Drei Vorgänge sind dabei zu unterscheiden. Die künstliche Stimulierung des Enthusiasmus tritt als affektiver Zustand in ein gegensätzliches Verhältnis zur Topik als einem rationalen Verfahren. Gleichzeitig konzentriert sich die Theorie dieses künstlich stimulierten Enthusiasmus zunehmend auf die »Ode« als das gesungene Lied oder Gedicht. Drittens tritt die aus einem Zustand der Begeisterung entstandene Ode in einen Gegensatz zu dem bloß aus technischer Fertigkeit entstandenen »Gelegenheitsgedicht«.

_____________ 197 Sacer: Reim dich S. 32. 198 Sacer: Reim dich S. 35.

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Neukirch, Stolle, Thomasius, Hansch Benjamin Neukirch steht 1697 vor dem Problem, wie man die ganzen Schulmeister und Gelegenheitsdichter vom Dichten abbringt, um den Ruf der Dichtung zu retten. Talent und Bildung ist es, was seiner Meinung nach diesen Dichtern fehlt. Bevor man deshalb Dichter werden wolle, solle man sich fragen, »ob dasjenige/ was uns zur Poesie anreitzet/ ein natürlicher trieb/ oder nur ein gemachtes verlangen sey«.199 Was die echten Dichter auszeichne, sei, daß sie »nicht allein an natürlichen gaben viel reicher/ sondern auch in erfindungen tieffsinniger/ in der arbeit gedultiger/ und in der schreib-art fester und mehr poliret seyn.« Außerdem müßten sie, neben einer umfassenden Bildung, »bey ihren amts-geschäfften die freyheit haben/ daß sie drey oder vier stunden des tages verschwenden dürffen«.200 Alle anderen sollten das Dichten besser lassen. Gottlieb Stolle hält 1709 die Behauptung, daß die Poesie die Sprache der Götter sei, für »recht erbärmlich«, da doch schon Vossius gezeigt habe, »daß die götter der heyden, aus aberglauben entstandne getichte, und die in versen ertheilten oracula, eine schlaue erfindung der heydnischen pfaffen gewesen.«201 Der »göttliche Trieb«, den man den Dichtern zuschreibe, sei »ein rest des heydenthums, der sammt den Musen längst ausgepeitscht seyn sollte.« Wenn Dichter geboren und nicht gemacht würden, folge daraus noch keine Göttlichkeit der Dichtung. Auch Mathematiker und Redner würden geboren, dennoch halte niemand die Mathematik oder Redekunst für übernatürliche Vermögen. Die Menschen unterschieden sich aufgrund ihres humoralpathologischen Temperaments, wie es Gott eingerichtet habe, und deswegen unterschieden sie sich auch in ihren Fähigkeiten.202 Die physiologische Interpretation des Enthusiasmus übernimmt auch Stolle, wenn er Horaz dafür entschuldigt, daß er sich »manchmal zuvor aus dem circkel gesoffen, ehe er eine ode ausgesonnen«. Daß es auch ohne Alkohol gehe, hätten Opitz, Lohenstein, Hoffmannswaldau, Gryphius und Neukirch gezeigt, die »viel herrliche getichte ohne so seltsame entzückung, und beyhülffe des Bacchi verfertiget.« Es könne deshalb nicht angehen, »die Poesie zu einer tochter der unsinnigkeit, enthusiasterey oder völlerey« zu machen.203 _____________ 199 200 201 202 203

Neukirch: Vorrede S. 17 f. Neukirch: Vorrede S. 18 f. Stolle: Vorrede S. 7. Stolle: Vorrede S. 7 f. Stolle: Vorrede S. 10.

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Geschichte des Enthusiasmus

Auf der anderen Seite dürfe man die Dichtung auch nicht zum Inbegriff aller Weisheit machen. Wenn die Dichtung wirklich die »wiege der weisheit« sei und also die Anfänge der Wissenschaft in der Dichtung lägen, so dürfe man deshalb noch lange nicht die Wiege dem darin liegenden Kinde vorziehen.204 Gelehrsamkeit könne zur Dichtung beitragen, umgekehrt gelte aber nicht, daß jeder Dichter ein Gelehrter sein müsse. Gerade in Hoffmannswaldaus Gedichten finde sich keine Spur von »metaphysicalischen haken, mathematischen stäben oder fern-gläsern, und arithmetischen wegweisern«.205 Christian Thomasius handelt 1707 vom supponierten göttlichen »Ursprung der Poesie«. Wenn die Dichtung für göttlich gehalten worden wäre, so nur aus »blinder Eigenliebe« der Dichter, die den tatsächlichen Ursprung und Wert der Dichtung nicht hätten untersuchen wollen. Dergleichen »sottisen« dürfe man aber nicht nachbeten.206 Eine ähnliche »sottise« sei es, zu behaupten, daß die Dichtkunst alle anderen Wissenschaften umfasse, denn gerade die Dichter seien an keine »Wahrheit und Solidität« gebunden und es genüge ihnen im allgemeinen, »wenn sie nur von jeder Wissenschaft etliche curiosa oder gemeine persuasiones wissen/ ob die Disciplin selbst gar nicht verstehen.«207 Was Scaliger und Vossius vorgeführt hatten, nämlich die Historisierung der Dichtung, ist für Thomasius ein Allgemeinplatz geworden. Die Poesie war nicht eine erste Theologie oder gar Offenbarung, sondern nur eine Form, der sich die ältesten bekannten Philosophen (Orpheus und Zoroaster) bedient haben. Ihnen sind jedoch unzählige andere vorhergegangen, die sich der prosaischen Form bedient hätten, und von denen man nur nichts mehr wisse. Niemand könne heute mehr leugnen, daß die angeblich göttlich inspirierten Orakel nur die »Erfindungen betrügerischer Pfaffen«, Apollo und die Musen nur »entia poetica« und der »Göttl. furor« nur »ein Trieb der Wollust oder eines andern affectes« sei.208 Wie für Scaliger ist der »Trieb der Wollust« der Ursprung der Dichtung, indem die Hirten und Schäfer die Muße hatten, beim Hüten ihrer Herden Liebeslieder zu dichten. Die eigentliche »Inspiration« dieser frühen Dichter waren deshalb die Mädchen, die sie erobern wollten. Nur den alttestamentarischen Dichtern David und Moses gesteht Thomasius göttliche Inspiration zu. Allerdings ist es nicht mehr das melancholische, son_____________ 204 205 206 207 208

Stolle: Vorrede S. 8. Stolle: Vorrede S. 9. Thomasius: Ursprung S. 147. Thomasius: Ursprung S. 148. Thomasius: Ursprung S. 149 f.

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dern das sanguinische Temperament, das Thomasius diesen inspirierten Dichtern zuspricht.209 Wenn nicht jeder ein großer Dichter werden könne, folge daraus noch nicht, daß die Dichtkunst eine »besondere Gabe Gottes sey oder daß was außerordtentl. und übermenschliches darinne stecke«. Sonst müßte man auch die »Bierfiedlerey« eine göttliche Kunst nennen, »weil viel Leute sind/ die selbige zu lernen weder Lust noch Geschicke haben.« Die Menschen seien »nicht alle einerley Art und Temperaments« und deshalb auch nicht alle poetisch veranlagt.210 Es entspricht diesem rationalistischen Ansatz, daß Thomasius die Abhandlung »Vom Ursprung der Poesie« mit einer »Anmerckung« beschließt, die belegt, »Daß die Poeten die vortrefflichsten Diebe sind«. Thomasius weist dort nach, wie und in welchem Ausmaß die Dichter schon immer voneinander abgeschrieben haben. Auch das widerspricht der Annahme einer göttlichen Inspiration. 1713 hat Thomasius das Thema noch einmal im achten Kapitel seiner »Höchstnötigen Cautelen für einen Studiosus juris« aufgenommen. Voraussetzung für das Versemachen sei das entsprechende »Naturell«, das dann »excoliert« werden müsse. Deswegen sei nicht nur die Annahme einer »poetischen Raserei« ein »Irrtum«, sondern auf der anderen Seite auch die Poetiken. Wer kein »poetisches Ingenium« habe, dem würden auch die Poetiken nichts helfen.211 Michael Gottlieb Hansch widmet sich in seiner »Diatriba de Enthusiasmo Platonico« (1716) vor allem der religiösen Bedeutung des Enthusiasmus, behandelt den furor poeticus aber zumindest der Vollständigkeit halber ebenso. Nachdem er die platonische Enthusiasmustheorie ausführlich referiert hat, erklärt er, dies alles könne nicht davon überzeugen, daß der furor der Dichter tatsächlich göttlich sei. Man wisse ja, wie wenig »Ehrsamkeit und solides Wissen« (honestas et solida eruditio) in der antiken Dichtung zu finden sei. Man kenne die »eitle Anmaßung und dumme Selbstbeweihräucherung« (arrogantia et stulta gloriatio), durch die sich die antiken Dichter die »Gunst des Pöbels« zu erwerben versucht hätten. Es werde heute wohl niemand mehr daran zweifeln, daß nicht göttliche Inspiration, sondern Begabung und Phantasie, die in einem bestimmten humoralpathologischen Temperament bestünden, für die Dichtung verantwortlich seien.212 _____________ 209 210 211 212

Thomasius: Ursprung S. 151. Thomasius: Ursprung S. 150 f. Thomasius: Studio S. 124. Hansch: Diatriba S. 20.

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Geschichte des Enthusiasmus

Morhof, Weise, Omeis, Breslauer »Anleitung« Daniel Georg Morhof war schon 1682 in seinem »Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie« der Meinung, der Enthusiasmus – der aus einer »sonderlichen Glückseeligkeit der Natur« komme – werde als »Trieb der Natur« durch Musik stimuliert und komme deshalb auch bei einer Ode, als gesungener Dichtung, besonders zum Tragen. Bei der Abfassung einer Ode solle man deshalb von der Musik ausgehen und nicht vom Text.213 Der Enthusiasmus lasse sich »in allen Stücken eines Gedichtes« nachweisen, »ja in den Worten selbst« und ist damit schon bei Morhof auch eine stilistische Qualität oder »Schreibart«, wie es bei Gottsched heißen wird. Die physiologische Deutung des Enthusiasmus als »Entrückung« der spiritus animales illustriert Morhofs Beispiel des Dichters Marino, der beim Dichten so konzentriert gewesen wäre, daß er nicht gemerkt habe, wie er sich das Bein verbrannt hat.214 Durch »Kunst und Nachsinnen« werde der Enthusiasmus nur behindert. Deswegen seien auch die ersten »Einfälle«, die der Enthusiasmus hervorbringe, immer die besten. Was man dagegen aus den »fontibus, welche die Kunst eröffnet« – also den loci topici – herhole, habe nie denselben »Nachdruck«. Deswegen solle man beim Dichten einer Ode auch alles, was einem einfalle, gleich aufschreiben, »ohne Ordnung/ ohne Connexion, halbe/ gantze Verse/ damit mir die ersten Gedancken nicht aus dem Sinne fallen.« Dann allerdings solle man sich bei der »Außarbeitung« Zeit lassen, denn »je mehr man drüber nachsinnet/ je besser wird die Arbeit seyn.« Ähnlich meint Christian Weise in seinen »Curiösen Gedancken von Deutschen Versen« (1693), der entscheidende Punkt sei, wie der Dichter einen »affect« bei sich erregen könne, den er gerade gar nicht empfindet.215 Empfinde man den Affekt nicht von selbst, sei es am besten, ihn durch die identifikatorische Kraft des Vorstellungsvermögens in sich zu erzeugen. Nur wo dies gelinge, sei das Gedicht keine »todte Invention«.216 Die eigentliche Begabung, die der Dichter mitbringen muß, sei deshalb auch ein besonders leicht erregbares »naturel«. Durch dessen »affectuöse Entzückung« werde man »zu artigen inventionibus getrieben«.217 Es empfehle sich dabei, den Affekt nicht »an sich selbst zu verhindern«, sondern »die Feder laufen zu lassen« und alles »roh und gleichsam als eine _____________ 213 214 215 216 217

Morhof: Unterricht S. 345. Morhof: Unterricht S. 315. Weise: Gedanken II.4.7, S. 64. Weise: Gedanken II.4.10, S. 66. Vgl. auch II.1.24, S. 21. Weise: Gedanken II.1.25, S. 21.

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disposition« hinzuschreiben, und dann, bei Gelegenheit, die Verse »auszukünstlen und fertig zu machen«, das heißt einer von rationalen, poetologischen Regeln geleiteten Bearbeitung zu unterwerfen.218 Wie Morhof und Weise identifiziert Magnus Daniel Omeis in seiner »Gründlichen Anleitung zur Dichtkunst« (1712) Begabung, Phantasie und Enthusiasmus, wenn er die »Haupt-Frage«, »wo man die Poëtische Erfindungen hernehmen solle?« damit beantwortet, daß »eine gute Natur, muntere Phantasie, und ein feuriger enthusiasmus« allein nicht ausreichten, sondern diese Naturanlage durch »die Lehre, die Kunst, das Nachsinnen« ergänzt werden müßten. Anders als Morhof nimmt Omeis keinen Widerspruch zwischen Kunstlehre und Enthusiasmus wahr. Indem der »Anfänger in der Poesie«, ganz wie der Student der Rhetorik, seine »hurtige Einbildungs-Krafft« die »loci topici« durchlaufen lasse, könne er aus diesen »eine unerschöpfliche Menge der Erfindungen« nehmen.219 Mit dieser Überzeugung steht Omeis zunehmend allein. Der Enthusiasmus wird zum plötzlichen Einfall, der nicht durch »künstliche«, erlernte Methoden erzwungen werden kann. So unterscheidet Johann Georg Neukirch in seinen »Anfangs-Gründen zur Reinen Teutschen Poesie« (1724) zwischen dem Enthusiasmus und dem »fähigen Naturell« insofern, als der erste eher den plötzlichen Einfall, der erwartet sein wolle, bezeichne, das zweite dagegen die angeborene Begabung.220 Friedrich Andreas Hallbauer empfiehlt dem Dichter in seiner »Teutschen Oratorie« (1725), sich »durch ein Glaß Wein«, »durch Lesung eines guten Poetens« oder etwa einen Spaziergang so zu stimulieren, daß er in die richtige poetische Stimmung gerate.221 Ähnlich die anonyme Breslauer »Anleitung zur Poesie« (1725), die empfiehlt, vor Abfassung eines Gedichts erst einmal einen »guten Autorem« zu lesen, der bereits über denselben Gegenstand geschrieben habe. Die erste Idee, die der »Enthusiasmus poeticus« darreiche, sei zumeist die beste. Man solle sich den »Affect, welcher in dem Gedichte regieren soll«, »recht lebhafft« vorstellen. Die loci topici hingegen seien für die Erfindung nur von bedingtem Nutzen. Wenn man nach deren »Register« zu »meditieren« anfange, bringe man zwar einen »reichen Vorrath an allerhand guten und schönen Gedancken« zusammen, würde man am das ganze Gedicht »eintzig nach den _____________ 218 219 220 221

Weise: Gedanken II.4.12, S. 67 f. Omeis: Anleitung S. 131 f. Neukirch: Anfangs-Gründe S. 162. Hallbauer: Teutsche Oratorie S. 775.

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Locis topicis ausarbeiten«, »würde es mehr nach der Oratorie als Poesie schmecken«.222 Dies gelte auch für den Gebrauch der poetischen Wörterbücher und Exzerptsammlungen.223 »Unverhoffte Gedancken« finde man so nicht. Zu diesen kommt man besser auf dem Weg der Assoziation, indem man »aus einer Invention in die andere verfällt, von Gott aufs Licht, vom Lichte auf die Erleuchtung, von der Erleuchtung auf das Sehen«. Dieses Assoziationsprinzip identifiziert die »Anleitung« als »Enthusiasmus poeticus«, der der »Kunst und den Locis topicis« entgegengesetzt sei. Gefördert werde dieses Assoziationsprinzip durch »eine gute Belesung«, das wichtigste aber sei »ein gutes Naturell«.224 Der Enthusiasmus wird damit zu einer stilistischen Technik, zu einer »Schreib-Art«. Insbesondere bei den Oden komme sie zur Anwendung, deren Gegenstand das ist, was etwas später, mit der breiter einsetzenden Longin-Rezeption, das Erhabene heißen wird: »Wo etwas Krafft und Feuer braucht, so ist es eine Ode. Der Poet muß sich offt ausser sich selbst schwingen, er muß Dinge sagen, die er ihm vorhero kaum eingebildet, und er muß mit solcher Bewegung sprechen, daß er den Leser oder Zuhörer gleich gefangen nimmt.«225 Beispiel dafür sind vor allem die Psalmen, mithin eben genau die »Oden«, die kaum ein Vierteljahrhundert nach der Breslauer »Anleitung« Klopstock zum Vorbild nehmen wird. Eigentlicher Zweck der Psalmen sei die Andacht der Gläubigen gewesen.226 Neben der Andacht sei es vor allem die Liebe (»Wollust«) und der Wein, die die »Lebens-Geister« des Dichters so »anfeuren«, daß ein Gedicht entstehe.227

_____________ 222 [anonym:] Anleitung zur Poesie S. 96 ff. 223 [anonym:] Anleitung zur Poesie S. 101. 224 [anonym:] Anleitung zur Poesie S. 101 f. Die Versform selbst kann auf diese Art zum Mittel der Inspiration werden, vgl. ebendort S. 13: »Denn in einer gebundenen Rede versetzt man immer mehr die Worte, biß sie in eine zierliche Ordnung gebracht, daß sie in den Ohren wohl klingen, als in einer ungebundenen geschiehet. Bey diesem Nachdencken fällt man auch auf andere scharffsinnige Gedancken, artige Allusionen und Allegorien, welche der Rede nicht eine geringe Zierde beylegen.« 225 [anonym:] Anleitung zur Poesie S. 109. 226 [anonym:] Anleitung zur Poesie S. 9. 227 [anonym:] Anleitung zur Poesie S. 12 f.

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Gottsched Auch Gottsched führt den Glauben an eine göttliche Inspiration der Dichter in seiner »Critischen Dichtkunst« (1729) auf das Geltungsbedürfnis der Dichter zurück, die alles getan hätten, um für »göttlich erleuchtete Männer« gehalten zu werden.228 Durch die »Einfalt der ältesten Völker« sei dies leicht gewesen. Die »dummen Leute« hätten gleich für göttlich inspiriert gehalten, was sie nicht aus ihrem eigenen Kopfe vorbringen konnten.229 Lächerlich sei der Glaube, »die Poeten würden gebohren, und wüchsen gleichsam, wie die Pilze, fix und fertig aus der Erden.«230 In der Rekonstruktion der Geschichte der Dichtung erweist sich Gottsched als überzeugter Vertreter des naturgeschichtlichen Ansatzes Scaligers, der auch mehrfach zitiert wird. Die Dichtung geht auf ein natürliches Sangesbedürfnis zurück und ist insofern die jüngere Schwester der Musik.231 Älteste Gattung sind deshalb auch die Oden. Als Lied war die Dichtung am Anfang nichts anderes als der natürliche Ausdruck von »Gemüts-Bewegungen«, wie sie sich auch im Weinen, Lachen und Klagen Ausdruck verschaffen.232 Den »Lebensgeistern« kommt dabei eine wichtige Rolle zu, insofern ihre Beweglichkeit, die sich durch einen »starken Trunk« oder den Affekt der Liebe erheblich verstärken läßt, wesentlich für den »poetischen Trieb« verantwortlich ist. Ein »muntrer Kopf, von gutem Naturelle«, der »sich bey der Mahlzeit, oder durch einen starken Trunk, das Geblüt erhitzet und die Lebensgeister rege gemacht hatte«, genügte schon, um ein Lied als Ausdruck von Lebensfreude entstehen zu lassen.233 Ähnlich hätte es auch geschehen können, daß einem »verliebten Schäfer« »die Gegenwart einer angenehmen Schäferinn das Herz rührete, und das Geblüt in eine Wallung setzte«, so daß dieser, »nach dem Muster der Vögel«, ihr etwas vorsang. Im Anfang sei die Dichtung deshalb nichts anderes gewesen als der »ungekünstelte« Ausdruck eines »Affects«,234 wobei das »ungekünstelte« bei Gottsched als das Kunstlose noch negativ besetzt ist, anders als fünfunddreißig Jahre später bei Herder. Wie bei Scaliger ist die Geschichte der Dichter für Gottsched eine fortschreitende Verfeinerung, denn »alle _____________ 228 Zu Gottsched vgl. Herrmann: Naturnachahmung S. 99-123; Reitze: Auffassung S. 68-94; Schmidt: Genie-Gedanke S. 31-47; Till: Transformationen S. 394-424; Wolf: Geniebegriff S. 82-87. 229 Gottsched: Dichtkunst I.5.4., S. 227. 230 Gottsched: Dichtkunst S. 85. 231 Gottsched: Dichtkunst I.1.1, S. 115. 232 Gottsched: Dichtkunst I.1.3, S. 116. 233 Gottsched: Dichtkunst I.1.18, S. 131. 234 Gottsched: Dichtkunst I.1.27, S. 137.

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Dinge sind anfänglich rauh und grob«, würden aber mit der Zeit immer weiter verbessert.235 Gottsched illustriert dies sowohl an der Entwicklung des Versmaßes und Reimes wie an der Entstehung der komplexeren Gattungen der Dichtung. An diesem historischen Punkt stehen Orpheus und Amphion mit ihren Erzählungen von den Göttern. Sie seien den »Bänkelsängern« auf den Jahrmärkten vergleichbar, die noch heute den »Pöbel« »mit ihren Liedern von Wunder-Geschichten« einnehmen.236 Erst nach und nach kamen die »trefflichen Sittenlehren und LebensRegeln« in die Lieder, und das Epos und die Tragödie als Illustrationen »moralischer Lehrsätze« entstanden. Wie Scaliger legt Gottsched besonderen Wert auf den Ursprung der griechischen Tragödie aus den »abgeschmacktesten Liedern« einer Horde besoffener Bauern, die zu Ehren von Dionysos über die Dörfer zogen und »Zoten« aufführten.237 Gottsched selbst sieht sich damit am vorläufigen Endpunkt eines langen, die Geschichte der Menschheit umspannenden Fortschrittsprozesses stehen. Das Ergebnis dieses Prozesses ist der kultivierte Dichter des 18. Jahrhunderts, der den Aberglauben einer göttlichen Inspiration nicht mehr nötig hat. Was ein Dichter brauche, seien Witz, Scharfsinn und Einbildungskraft.238 Aus dem Zusammenwirken dieser drei Vermögen entstehe der »poetische Geist«, der keine Topik mehr nötig hat, um auf seine »Einfälle« zu kommen: »das Gegenwärtige bringt sie aufs Vergangene; das Wirkliche aufs Mögliche, das Empfundene auf alles, was ihm ähnlich ist, oder noch werden kann.«239 »Kunst und Gelehrsamkeit« müßten die natürliche Begabung ergänzen.240 Was der Dichter schreibe, müsse auf »eine gesunde Vernunft und gute Einsicht in philosophische Wissenschaften« gegründet sein.241 »Närrische Köpfe« könnten keine Dichter werden, denn diese müssen genauso denken wie »andere vernünftige Leute.«242 Die Gefahr, die von einer zügellosen, nicht von der Vernunft kontrollierten Einbildungskraft ausgeht, ist nach Gottsched gar nicht zu überschätzen, denn selbst einzelne »hitzige Dichter« können den Geschmack auf Generationen hinaus verderben, wie etwa Ariost in Italien und Lohenstein in Deutschland. _____________ 235 236 237 238 239 240 241 242

Gottsched: Dichtkunst I.1.6, S. 117. Gottsched: Dichtkunst I.1.28, S. 138. Gottsched: Dichtkunst II.10.3 und 4, S. 311. Gottsched: Dichtkunst I.2.11, S. 152. Gottsched: Dichtkunst I.11.6 S. 426 f. Gottsched: Dichtkunst I.2.14, S. 154. Gottsched: Dichtkunst S. 87. Gottsched: Dichtkunst I.11.4, S. 423 f.

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Bodmer, Breitinger, Curtius Für Bodmer bedeutet 1721 der Begriff Enthusiasmus »nichts anderes, als die hefftige Passion, mit welcher ein Poet für die Materie seines Gedichtes eingenommen ist, oder die gute Imagination, durch welche er sich selbst ermuntern, und sich eine Sache wieder vorstellen, oder einen Affect annehmen kan, welchen er will.«243 Für Breitinger ist 1740 der Enthusiasmus eine »freye Metaphor«, »die sich auf eine Vergleichung der erhizten Phantasie mit der Raserey der Priester« gründe.244 Die Antike hätte dieses physiologische Phänomen (»diese äusserste Bestrebung einer aufgerührten und durch die Leidenschaften erhizten Phantasie«) nicht richtig erklären können und die Ursachen deshalb im übernatürlichen Bereich, in einer »göttlichen Begeisterung« gesucht.245 In den »erleuchteten Zeiten« der Gegenwart sei jedoch für solche »Leichtgläubigkeit« kein Platz mehr. In seiner Übersetzung der aristotelischen »Poetik« (1753) versteht Curtius 1455a 32-34 im Sinne einer Alternative zwischen »Witz« als Scharfsinn und »Wuth« als affektiver Entrückung: »Ein Dichter muß daher entweder vielen Witz besitzen, oder in Wuth seyn: weil witzige Geister die Aehnlichkeit der Leidenschaften nachahmen können; Wüthende aber leicht in allerhand Arten von Entzückungen gerathen.« In seinen »Anmerkungen« erklärt Curtius die »Wuth« zu einem Synonym für »Begeisterung«, die ihrerseits darin bestehe, durch eine »erhitzte Einbildungskraft« sich Dinge leichter vorstellen und sich besser in die »Leidenschaften« der Personen versetzen zu können. »Witz« dagegen heiße bei Aristoteles eigentlich »natürliche Fähigkeit« und bilde den »Hauptgrund der Dichtkunst«. Durch die »verschiedene Mischung des Bluts, und die daher entspringende Veränderung der Temperamente« sei diese natürliche Fähigkeit bei den Menschen »unendlich unterschieden« und könne deshalb ganz unterschiedliche Begabungen hervorbringen.246 Wenn man die Dichtung in der Antike auf ein »göttliches Einblasen« zurückgeführt habe, so ginge das auf die »Schwachheit« der Dichter zurück, die ihrer »Schooßwissenschaft« ein möglichst »ehrwürdiges Ansehen« hätten geben wollen.247 Damit wiederholt Curtius eine Auslegung, wie sie schon zweihundert Jahre zuvor die italienischen Kommentatoren der »Poetik« gegeben hatten. _____________ 243 Bodmer: Discourse S. 10. Zu Bodmer vgl. Reitze: Auffassung S. 95-124; Schmidt: GenieGedanke S. 47-60; Wolf: Geniebegriff S. 87-97. 244 Breitinger: Dichtkunst I.9, S. 330. 245 Breitinger: Dichtkunst I.9, S. 329. 246 Curtius: Anmerkungen zu Aristoteles: Dichtkunst S. 269. 247 Curtius: Wesen der Dichtkunst S. 350.

Genie und Affekt Vorgeschichte des Genies Auch im 18. Jahrhundert berufen sich die Dichter auf die Gegenwart des göttlichen Geistes im Geist des Dichters, wenn es um christliche Stoffe geht. Johann Wilhelm Petersen schreibt in der Vorrede zu seiner »Uranias« (1720), er habe sich der Arbeit »unter Führung des göttlichen Geistes« (spiritu dei me agente) und »auf göttlichen Antrieb hin« (dei impulsu) gewidmet .1 Pyra meint 1737 in seinem »Tempel der wahren Dichtkunst«, nur der trage den Namen eines »frommen Dichters« mit Recht, der »voll von Gottes Geist« sei.2 Auf genau diese Präsenz des »Geist Schöpfers« beruft sich 1748 Klopstock in den ersten Versen seines »Messias«. Mit diesen und ähnlichen Berufungen auf den Geist Gottes ist nichts behauptet, was nicht schon Melanchthon in seiner spiritus-Lehre begründet und Opitz mit dem Begriff der Andacht eingefordert hätte.3 Aber die Theorie des Enthusiasmus ist im 18. Jahrhundert weit mehr als ein Relikt vergangener Jahrhunderte. Mit dem gleichermaßen physiologischen wie psychologischen Begriff der Begeisterung, mit dem diese Theorie reformuliert wird, schlägt der Enthusiasmus in etwas substanziell Neues um.4 Durch die »Erhitzung der Einbildungkraft« und die affektive »Entrückung« des Dichters gerät die Dichtung zunehmend außer die Kontrolle der Vernunft und wird zu einem irrationalen Akt der Phantasie, die jetzt als Gegenprinzip der Vernunft wahrgenommen wird. Nicht mehr die Vernunft, die sich der Regeln der ars poetica bedient, spricht aus dem Dichter, sondern das Genie, das als die Natur des Dichters der Vernunft überhoben ist. Aus den Ruinen der EnthusiasmusTheorie entsteht das Genie und der Begriff einer Dichtung, die sich im Affekt, mithin ohne Kontrolle der Vernunft vollzieht. Die Natur erhebt _____________ 1 2 3 4

Petersen: Uranias praefatio S. 6 und argumentum des I. Buches, S. 17. Pyra: Tempel V. Gesang, v. 72 f., S. 116. Zu Melanchthon vgl. oben S. 261, zu Opitz oben S. 272 ff. Herrmann: Naturnachahmung S. 175-203; Reitze: Auffassung S. 89-91.

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sich als Natur des Genies und als natürlicher affektiver Zustand über die Poetik als rationale Technik. Aus dem ingenium, wie es das 16. und 17. Jahrhundert als besondere Begabung gefordert hatte, wird der genius als ein durch seine Begabung ausgezeichnetes Genie. Die Natur, die im Begriff des ingenium passiv als Naturanlage gedacht wurde, wird im Genie zur aktiven, schöpferischen Instanz. »Die Natur war Homer, und Homer war die Natur!« schreibt Klopstock 1745, und »mit Hülfe der Natur« – und das heißt: nicht durch die Regeln der Kunst – habe »jenes große und reiche Genie«, nämlich Homer, das »höchste Urbild dichterischer Vollkommenheit« geschaffen.5 Wenn Immanuel Kant im Paragraphen 46 der »Kritik der Urteilskraft« (1790) am Ende des Jahrhunderts Genie als das Talent bestimmt, das der Kunst die Regel gebe, bildet er damit die späte Blüte einer Theorie, deren Anfänge bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts zurückreichen.

Morhof Während Morhof in seinem »Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie« (1682) eine natürliche Begründung des Enthusiasmus formuliert,6 hatte er schon in einer 1661 als Antrittsvorlesung vorgetragenen »De enthusiasmo seu furore poetico dissertatio« den göttlichen und enthusiastischen Ursprung aller Wissenschaften behauptet. Ohne theologische oder naturphilosophische Begründung beschreibt Morhof den Enthusiasmus mit einem umfassenden Referat der antiken Belege. Darunter sind nicht nicht nur die klassischen Quellen Platon, Ovid und Cicero, sondern auch Petronius, Claudian, Dio Chrysostomus und Persius. Der einzige neuere Dichter, den er zitiert, ist Friedrich Taubmann, der im Schlaf ein Gedicht geschrieben habe.7 Dies wäre Zeichen eines »äußerst glücklichen genius« (felicissimum genium). Außerhalb der antiken Belege führt Morhof noch die Goten ein, von denen er zu berichten weiß, daß der Enthusiasmus dort bevorzugt bei Neumond aufgetreten sei. Im Gegensatz zu allen Poetiken des 17. Jahrhunderts identifiziert Morhof damit den Enthusiasmus nicht mit der Begabung. Was der Enthusiasmus allerdings genau sei und wem er zustoße, betrachtet Mor_____________ 5 6 7

Klopstock: Declamatio S. 64 und S. 107. Im lateinischen Original war von »ingens et dives ingenium« die Rede gewesen, wo Cramer »Genie« übersetzt. Vgl. oben S. 288. Morhof: De enthusiasmo S. 75.

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hof nicht als seine Aufgabe zu erörtern.8 In seinem einleitenden Lobpreis des Enthusiasmus läßt Morhof jedoch keinen Zweifel daran, daß dieser göttlich verursacht ist. Der Enthusiasmus sei der Weg, sich über die Sterne zu erheben, höher als die Götter zu steigen, die Zukunft vorherzusagen und den Sterblichen Unsterblichkeit zu geben. Er sei die Magie und der Zauber, mit der der Dichter die Seelen bindet, er ist die »göttliche Rute«, die auch die Unwilligen entrückt und bannt. Zurecht werde deshalb der Enthusiasmus auf eine höhere Kraft zurückgeführt, zurecht heiße er ein »göttlicher Anhauch«.9 Daneben betrachtet Morhof »inspiratio«, »aura«, »spiritus« und »ardor« als weitere synonyme Begriffe.10 Im Widerspruch zu dieser göttlichen Begründung steht die Tatsache, daß Morhof an anderer Stelle mit ausdrücklichem Bezug auf »Poetik« 1455a 32-34 behauptet, die Bezeichnung »Wahnsinn« (furor) sei zutreffend, weil der Dichter außerhalb seiner selbst entrückt werde und sich gleichsam in einen anderen Menschen versetze.11 Der damit angedeuteten, physiologischen Begründung des furor entspricht es, daß Morhof im Anschluß an das »Problem 30.1« eine besondere »Schärfe des melancholischen humor« (acrimonia humoris melancholici) verlangt, die ihrerseits garantiere, daß der Dichter εὐφαντασίοτος sei und damit über genügend Vorstellungsvermögen und seine Dichtung über Anschaulichkeit verfüge.12 Dieses Vorstellungsvermögen müsse der Dichter so anwenden, daß seine Darstellung den »Gesetzen der Ähnlichkeit zum Wahren« (leges verosimilitudinis) entspreche. Diese Gesetze der Wahrheitsähnlichkeit entwickelt Morhof skizzenhaft nach Masens »Palaestra eloquentiae ligatae«. Die gleichnishaften Darstellungen entsprächen den »phantasmata«, die die Phantasie des Dichters im Enthusiasmus empfängt.13 Zwar ist der Enthusiasmus göttlichen Ursprungs, aber er kann über seine physiologische Grundlage stimuliert werden. Auch Morhof denkt dabei – mit wörtlichem Zitat Scaligers – an den Wein, dessen Wirkung darin bestehe, die spiritus zu erhöhter Tätigkeit anzureizen.14 Der Wein mache jedoch keine Dichter, sondern wäre immer nur ein »instrumentum«. _____________ 8 9 10 11 12 13 14

Morhof: De enthusiasmo S. 77. Morhof: De enthusiasmo S. 72. Morhof: De enthusiasmo S. 75. Morhof: De enthusiasmo S. 75. Morhof: De enthusiasmo S. 77. Morhof: De enthusiasmo S. 78 f. Vgl. Scaliger: Poetices libri I.2, S. 82 ff. Vgl. oben S. 229.

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Wie sich Morhof die instrumentelle Wirkung des Weines vorstellt, zeigt sich, wenn er die Passage mit den Worten schließt, es wäre oft schwierig, die Seele auf den poetischen »Trieb« zurückzuführen, wenn man sich längere Zeit »ernsthafteren Studien« gewidmet hätte.15 Ein Glas Wein am Abend – es sind die »Nebenstunden« des später so geschmähten Gelegenheitsdichters – helfe, indem es den Dichter in poetische Stimmung bringe. An zweiter Stelle empfiehlt Morhof die Musik als poetische Stimulans, an dritter Stelle werden die Affekte genannt, die etwa als Zorn über die Laster zur Satire oder als Liebe zum Liebesgedicht führen. An vierter Stelle steht die Lektüre der großen Dichter, die in der Seele des Lesers den Drang erwecke, es jenen gleichzutun. Die spiritus des Lesers würden durch die Lektüre so erregt, daß sie sich »gleichsam freiwillig aus ihrem Gefängnis in ein Lied ergießen«. Von der Lektüre gleichsam trunken werde jener »heilige furor« erweckt, der den Geist außer sich entrücke. Grotius bezeuge dies, wenn er schreibe, daß sein ingenium so bildbar und leicht zu führen sei, daß es sich durch die Lektüre eines bestimmten Dichters sofort an dessen Stil gewöhnt hätte und in dessen imitatio entrückt worden sei. So wäre es ihm, Grotius, nacheinander mit Lukan, Manilius, Statius und Claudian gegangen.16 An letzter Stelle der poetischen Stimulantien stehen für Morhof schließlich die äußeren Gegebenheiten: Einsamkeit und Zurückgezogenheit an einen ruhigen Ort wie Garten oder Wald, beruhigende Umgebung wie Flußufer, Schatten und sanftes Plätschern, und schließlich eine entsprechende Tageszeit, vor allem der frühe Morgen oder die Nacht. Etwas mehr Hinweise auf die Frage, wie sich Morhof den Enthusiasmus erklärt hat, finden sich in seinem »Polyhistor literarius, philosophicus et practicus« (zuerst 1688), der mit dem 22. Kapitel des ersten Buches einen »Exkurs über das, was in den Disziplinen göttlich ist« (De eo, quod in disciplinis divinum est, excursus) enthält. Morhof nennt als Anlaß für seine Überlegungen die Feier des Pfingstereignisses 1687. An diesem Tag hätte »der höchste Verwalter aller Weisheit«, »der größte Meister aller Künste«, der Heilige Geist, sich in sichtbarer Form in die Apostel ergossen. Wie es kein Wissen gebe, das nicht aus dieser heiligen Quelle stamme, so gebe es unter den wissenschaftlichen Disziplinen keine, die nicht dieses »göttliche Merkmal« an sich trage.17 Morhof vergleicht dieses Göttliche in den Wissenschaften mit einem »süßen Brei«, von dem man nicht kosten könne, weil er in einem Glas sei. _____________ 15 16 17

Morhof: De enthusiasmo S. 80. Morhof: De enthusiasmo S. 81. Morhof: Polyhistor S. 113. Auf diesen Text hingewiesen haben Gierl: Löcher S. 268-270 und Mulsow: Moderne S. 165-173 und S. 183 f.

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Das Göttliche leuchte aus den Wissenschaften heraus, weil man sich aber immer nur am leeren Glanz der Meinungen erfreue, werde das Bedürfnis nach diesem Göttlichen niemals befriedigt. Wenn man sich jedoch nur ein wenig auf sich selbst zurückbesinne und sich Gott überlasse, werde der Weg zur Wahrheit einfacher und man verbinde den eigenen mit dem göttlichen Geist nur umso enger.18 Es gebe Menschen, die mit der »blitzartigen Kraft ihres ingeniums« alles durchdrängen, indem sie, »einem Genius gleich« (geniorum instar), alles mit einem einzigen Blick erfaßten.19 Was der genius derart auf einen Schlag erfasse, müßten alle anderen sich später auf langen Umwegen über die Regeln aneignen. Gleichsam göttlich erregt, sähen wir, wie sich diese Menschen auf bestimmte Wissenschaften verlegten und in diesen Fortschritte machten, die ans Wunderbare grenzten. Wie von Natur aus schienen sie für bestimmte Wissenschaften und Künste geschaffen, seien es mechanische, die Bildhauerei, die Zeichenkunst, die Dichtung, die Mathematik oder die Chirurgie. Ohne etwas gelernt zu haben, manchmal als einfache Leute aus dem Volk, manchmal blind oder stumm, wäre in ihnen ein »prophetischer Trieb« (instinctu vaticinandi) wirksam, der sie zu »reinen Orakeln« (mera oracula) mache und eine übermenschliche Fähigkeit anzeige.20 Die Gabe des Heiligen Geistes ist zwar mit dem Pfingstereignis allen zuteilgeworden, offensichtlich aber nicht in gleichen Maßen. In der Folge des Kapitels geht Morhof die einzelnen Wissenschaften und Künste durch und weist dort das Göttliche jeweils im Einzelfall nach. Als erstes wendet er sich mit dem Alphabet der Grammatik zu und entdeckt das Göttliche dort etwa in den Mysterien des göttlichen Namens, wie sie Reuchlin in der Kabbala herausgearbeitet habe, wie sie Jamblich für die ägyptischen Mysterien behaupte oder wie sie bei denen hervorträten, die durch Worte heilen können. Wer all dies nur als Aberglauben betrachte, bleibe diesen Mysterien lieber fern.21 Ausdrücklich wendet sich Morhof gegen Pomponazzi, der alles auf natürliche Kräfte zurückführen wolle. Etwas Übermenschliches leuchte auch aus der Rhetorik, was die Herzen der Zuhörer bezwinge und ein Instrument des Göttlichen sei. Nicht nach menschlichen Lehren seien diese Künste zu beurteilen, sondern göttlich seien sie, ewig, und aus derselben Quelle geschöpft, aus der sie sich einst in die Seelen der Apostel ergossen. Die Regeln, die die Lehrer daraus im Fortgang der Jahrhunderte geschöpft hätten, seien jedoch ange_____________ 18 19 20 21

Morhof: Polyhistor S. 113. Morhof: Polyhistor S. 113. Morhof: Polyhistor S. 113. Morhof: Polyhistor S. 114.

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boren, und deshalb wende man zu göttlichem Gebrauch nur an, was göttlich und durch die Hände der Lehrer gleichsam nur ans Licht gebracht worden sei.22 In einem Zusatz zu einer späteren Ausgabe des »Polyhistor« wird hier das Erhabene eingeführt, das »im Geist und Antrieb« liege, und von dem es dann heißt, daß zu ihm sich nur ein erregter Geist erheben könne, der das Gewöhnliche verachte, sich aus göttlichem Antrieb höher emporschwinge und mit mehr als sterblichem Mund singe. Wer immer bei sich sei, wer nicht vom Gewöhnlichen abweiche und wie ein wildes Pferd mit seinem Reiter durchgehe, könne nichts Erhabenes erreichen.23 Auf den Redner bezogen heißt das, daß er dieses Erhabene genau dort erreichen wird, wo er ohne Vorüberlegung und ohne ausgearbeitete Rede spricht – nämlich im Affekt. An dritter Stelle wendet sich Morhof der Dichtung zu. Ohne das Göttliche, den Enthusiasmus könne keine Dichtung geschrieben werden. Deshalb würden die Dichter »Seher« (vates) genannt und von sich selbst behaupten, von Gott besessen zu sein.24 Am größten sei jener göttliche furor, wenn es sich um göttliche Hymnen handle. Platon sschreibe im »Ion«, daß alle Dichtung aus der Inspiration komme. Gott habe dies nach Platon gerade dadurch anzeigen wollen, daß er durch den unfähigsten Dichter das schönste Lied gesungen habe. Ein Beispiel aus der neueren Zeit sei ein Johannes Dominicus Perus, von dem Erythraeus (ein Pseudonym Gian Vittorio Rossis) in seiner »Pinacotheca« berichte, daß er, ein Mann von bäurischer Herkunft, durch die Lektüre der Werke Tassos »gleichsam von einem solchen Geist angeblasen worden sei«, daß er die elegantesten Lieder gedichtet habe.25

Thomasius gegen Morhof Noch im Erscheinungsjahr des »Polyhistor« (1688) diskutiert Thomasius in seinen »Monatsgesprächen« den »Exkurs über das Göttliche«. Thomasius beklagt, daß Morhof zwar eine »grosse Gelehrsamkeit« gezeigt habe, es aber nicht ersichtlich würde, ob er das Göttliche »dem/ was natürlich ist/ _____________ 22 23 24 25

Morhof: Polyhistor S. 115. Morhof: Polyhistor S. 115. Vgl. auch Morhof: Polyhistor S. 1016 und 1018. Zu Morhofs Rezeption Longins vgl. unten S. 306 f. Morhof: Polyhistor S. 115 . Vgl. Morhof: Polyhistor S. 116. Dieses Beispiel übernimmt noch 1763 die anonyme Abhandlung Von der Begeisterung S. 356 f.

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entgegen setze/ und auff was übernatürliches/ das keines Menschen Vernunfft begreiffen kan/ sein Absehen habe«, oder darunter »nur etwas sonderliches verstehe/ das nicht bey allen Menschen anzutreffen ist/ gleichwohl durch geschickte Aufferziehung und Gebrauchung eigenen Fleißes« aber ausgebildet werden könne.26 Handle es sich um letzteres, sollte man besser nicht von etwas Göttlichem sprechen, denn dann würde es sich um einen jener »allgemeinen Irrthümer« handeln, mit dem wir das, »worinnen unsere Natur hauptsächlich würckte für etwas übernatürliches/ und nach Gelegenheit der Umstände für was Göttliches oder teuflisches hielten.«27 Nach diesem Prinzip halte, wer »nur eine kleine natürliche Regung zur Tugend« empfinde, dies schon »für sonderbahre Würckungen des Heiligen Geistes«. Auf der anderen Seite »werde man nicht leichte zum exempel eine Hure antreffen/ die nicht vorgebe/ der Teuffel habe sie geritten.«28 Wenn Morhoff aber tatsächlich etwas Göttliches meine, so möchte Thomasius dies »aus respect zu der Gottes Gelahrheit und Theologie« lieber leugnen, denn nur diese dürfe sich zu Recht auf Übernatürliches berufen.29 In der Rhetorik kann Thomasius nichts Göttliches, sondern nur ein Regelwissen erkennen.30 Ähnliches gilt für den furor poeticus, von dem »Plato und so viel andere Heyden« geschrieben hätten. Für die christlichen Dichter wäre es jedoch besser, sie würden »ihre raptus Poëticos«, »die öffters von einem Glaß Wein oder Brandwein herrühren«, nicht zu einer göttlichen Kraft erklären.31 Alle derartigen Erscheinungen könnten aus »natürlichen Ursachen/ als Gewohnheit/ attention, temperament der spirituum, u.s.w.« abgeleitet werden.32 Thomasius kennt diesen natürlichen Enthusiasmus aus eigener Erfahrung. Als er vor einigen Jahren ein heftiges Fieber gehabt hätte und auf dem Krankenlager nichts Ernsthaftes hätte arbeiten können, habe er einige Stunden lang Molière gelesen. Als er gleich darauf »den paroxismus« bekam, hätte er »in der Hitze lauter Frantzösische Verse von allerhand inventionen« gemacht. Deswegen wolle er diese aber noch lange nicht »für etwas göttliches« ausgeben.33 Man müsse grundsätzlich aufpassen, daß die Behauptung eines »Göttlichen« nicht einfach zu einem »asylum ignoran_____________ 26 27 28 29 30 31 32 33

Thomasius: Monatsgespräche S. 593. Thomasius: Monatsgespräche S. 594. Thomasius: Monatsgespräche S. 594. Thomasius: Monatsgespräche S. 595. Thomasius: Monatsgespräche S. 595 f. Thomasius: Monatsgespräche S. 596. Thomasius: Monatsgespräche S. 597. Thomasius: Monatsgespräche S. 597.

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tiae« werde. Mit diesem rationalistischen Reduktionismus steht Thomasius in der Tradition Pomponazzis. Die Zurückhaltung, mit der Thomasius 1688 eine Kritik an Morhof noch vorbringt, ist 1707 in den »Außerlesenen Anmerckungen« gewichen, wenn es dort nur noch knapp heißt, Morhof habe dieses Göttliche in der Dichtung nur aus seiner Eigenliebe als Dichter heraus behauptet, »oder weil er es von seinen Praeceptoribus so gefasset/ und die Lehre von den affecten nicht recht inne gehabt«.34 Dieser Interpretation schließt sich auch Zedlers »Großes Universallexikon« an. Mit einem Verweis auf Thomasius heißt es in dem Artikel »Poetische Raserey« (1741), was Morhof (der nicht namentlich genannt wird) über das Göttliche in der Poesie lehre, beruhe »auf schlechtem Grunde«, besonders, wenn damit »etwas übernatürliches, das keines Menschen Verstand erreichen kan« gemeint sei. Morhof wird mit seinen Überzeugungen in einem Zuge mit der »erdichteten Raserey der heydnischen Priester bey denen Orackeln« genannt.35 Im Artikel »Enthusiasterey« (1734) heißt es, die »platonischen Scribenten« hätten diesen Begriff zwar »im guten Verstande« genommen, aber nur deshalb, weil sie vom wahren Gott nichts gewußt hätten. Heute nehme man den Begriff nur noch »im bösen Verstande«. Im allgemeinen sei die »Enthusiasterey« auf Betrug zurückzuführen. Manche würden zwar tatsächlich »dergleichen hefftige Bewegungen« in der Seele empfinden, diese hätten aber ihren Grund zumeist in einer »Schwachheit des Verstandes«, »wenn ein Mensch eine allzu lebhaffte imagination und dabey ein schwaches iudicium hat, so daß er sich durch seine Einbildungs-Krafft allerhand göttliche Würckungen in seiner Seelen vorstellet, welche doch nur natürliche Würckungen sind.«36

Kortholt Die »Disquisitio de enthusiasmo poëtico« (1696) von Sebastian Kortholt steht ganz in der Nachfolge Morhofs, wie in zahlreichen Exzerpten deutlich wird.37 Das grundsätzliche Problem der »Disquisitio« ist, daß sie den furor poeticus zum Merkmal der Dichtung überhaupt erklärt. Jeder Dich_____________ 34 35 36 37

Thomasius: Ursprung S. 149. Zedler: Universallexikon Bd. 28, Sp. 1011 f. Zedler: Universallexikon Bd. 8, Sp. 1286. Morhof selbst bezieht sich in späteren Auflagen auf Kortholt und Muhl, unter dessen Vorsitz die dissertatio verteidigt wurde, als seine Schüler, vgl. Morhof: Polyhistor S. 1017.

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ter ist, als Dichter, ein enthusiasmierter, ob er es nun selbst wußte oder nicht. Im Laufe der Untersuchung werden unter anderem Lope de Vega, Heinsius, Grotius, die beiden Pico, Paulus Manutius, Politian, Melanchthon, John Donne, Milton, Georg Sabinus und – mit besonderem Nachdruck – zwei Frauen (die Neapolitanerin Martha Marchina und Sibylla Schwartz) zu inspirierten Dichtern erklärt. Die Begründung weist dabei in einigen Fällen schon auf die zukünftige Genie-Debatte voraus. So etwa gilt Melanchthon als enthusiasmiert, weil er schon mit dreizehn Jahren eine lateinische Komödie geschrieben habe.38 Ausgerechnet Hans Sachs, der bisher immer als Beispiel für den Verseschmied im Gegensatz zum echten Dichter gebraucht wurde, wird schon allein deswegen, weil er als »ungebildeter Mensch« (homo rudis) 6048 Gedichte geschrieben habe, für ›entrückt‹ erklärt.39 Immer wieder erwähnt Kortholt Beispiele von ungebildeten Menschen oder Analphabeten, die plötzlich in der Volkssprache oder sogar lateinisch dichten konnten. Auch in der Theorie des Enthusiasmus sind entscheidende Veränderungen zu beobachten. Unter dem entstehenden Druck der Originalitätsforderung heißt es bei Kortholt, daß der Enthusiasmus verschiedenen Dichtern dieselben Worte inspirieren könne,40 womit genau dem Einwand vorgebeugt werden sollte, den Thomasius dann auch tatsächlich erhoben hatte, daß nämlich die Tatsache, daß die Dichter voneinander abschreiben, ein Argument gegen die Annahme einer Inspiration ist.41 Konsequenterweise ist Kortholt auch wieder der Meinung, daß die sibyllinischen Orakel echt und also von Gott oder Dämonen inspiriert sind, auf jeden Fall aber nicht auf natürliche Ursachen oder auf Betrug zurückgeführt werden können.42 Die entscheidende Frage nach dem Verhältnis von physiologischer und theologischer Begründung beantwortet Kortholt im Sinne Morhofs mit einer Kombination beider Begründungen. Der Enthusiasmus sei ein von Gott oder einem Dämon inspirierter Anreiz (incitatio), Verse zu bilden, aber er ergreife im allgemeinen nur diejenigen, die von Natur aus zur Dichtung geeignet seien.43 Daß es nicht immer von Natur aus zur Dichtung geeignete Menschen sind, die enthusiasmiert werden, zeige die Tatsache, daß Dämonen manchmal auch von ungebildeten und vom Land stammenden Mädchen _____________ 38 39 40 41 42 43

Kortholt: Disquisitio S. 17. Kortholt: Disquisitio S. 46. Kortholt: Disquisitio S. 39 f. Vgl. oben S. 287. Kortholt: Disquisitio S. 52-60. Kortholt: Disquisitio S. 61.

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Besitz ergriffen. Auf der anderen Seite könne es auch eine natürliche Begabung zur Dichtung geben, die ohne göttliche Beteiligung zustande komme.44 Der Enthusiasmus ist für Kortholt nicht nur eine plötzliche Entrückung, sondern auch eine beständige Eigenschaft, über die der Dichter verfügt. Gerade das »beständige und fortwährende Beharren auf der Dichtung«, das so stark sei, daß der Dichterprophet (vates) durch nichts von der Dichtung abgebracht werden könne, sei ein Indiz für den Enthusiasmus. Nicht die größten Leiden, keine Krankheiten und keine Schmerzen könnten den echten Dichter an der Dichtung hindern. Als Beispiele werden Tasso, Ronsard, Fleming und Scarron genannt, die alle die größten Schicksalsschläge zu ertragen gehabt hätten.45 Als solcher ist der Enthusiasmus von den bekannten Bedingungen und Stimulantien abhängig: Wein, Musik, Affekte, Phantasie, stellare Einflüsse, humoralpathologisches Temperament.46 Eine besondere Rolle spiele die Phantasie, die bei den Dichtern so stark ausgeprägt sei, daß sie ihnen Abwesendes als Wirkliches vor Augen stelle. Dies sei die eigentlich spezifische Eigenschaft des Dichters und die »Seele der Dichtung«, weil sie den Dichter εὐφαντασίοτος mache.47 Daraus erklärt sich auch der stellare Einfluß, denn insbesondere die Macht, die der Mond und Saturn über die schwarze Galle haben, prädestiniere den Melancholiker für den furor. Diesmal sind es die Skalden Islands, die bezeugen, daß der furor bei Neumond am heftigsten ist.48 Ausführlich widmet Kortholt sich der Frage, warum es gerade das melancholische Temperament ist, das zum Enthusiasmus neigt. Mit Berufung auf das »Problem 30.1« heißt es, die Seele – die spiritus animales – des Melancholikers sei so sehr in die äußeren Sinne diffundiert, daß sie zukünftige Dinge voraussehen könne. Am »ingeniösesten« aber ist die Melancholie bei denjenigen, bei denen die »Hitze der schwarzen Galle« sich nahe dem »Sitz des Geistes« ereigne, woraus der Enthusiasmus des »vorzüglichen Dichters« entstehe.49 Die »scharfen Partikel« der schwarzen Galle würden den spiritus animalis so erregen, daß der Geist sich ganz auf das in der Phantasie vorgestellte Bild konzentriere und alle übrigen Bewe-

_____________ 44 45 46 47 48 49

Kortholt: Disquisitio S. 61. Kortholt: Disquisitio S. 34 ff. Kortholt: Disquisitio S. 63. Kortholt: Disquisitio S. 64. Kortholt: Disquisitio S. 65 f. Kortholt: Disquisitio S. 66 f.

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gungen und Ideen nicht mehr wahrnehme. Daher komme es, daß der Mensch wie »entrückt« erscheine.50 Kortholt hat auch schon die Abhandlung (Pseudo-) Longins »Über das Erhabene« gelesen, wenn es in der »Disquisitio« heißt, daß für die »leichteren und weniger gehaltvollen« Gedichte, wie etwa Gelegenheitsgedichte, keine göttliche Intervention nötig wäre. Ein Epos sei dagegen so schwierig und voraussetzungsreich, daß es nicht nur das größte ingenium, sondern auch einen afflatus divinus voraussetze – ein Argument, das auch Klopstock in seiner »Declamatio, qua poetas epopeia auctores recenset« (1745) anführen wird. Die Erhabenheit (sublimitas) der »Odyssee« und der »Aeneis« könne nur erreichen, wer von einem »singulari furore et enthusiasmo« ergriffen sei, die Kraft eines normalen ingenium und die »Geduld des Schweißes« reiche dafür nicht aus.51 Im letzten Teil der »Disquisitio« widmet Kortholt sich der Literaturgeschichte als Beleg für enthusiastische Inspiration. Tasso, der Kortholt als der größte Dichter nach Homer und Vergil gilt, muß jetzt mit der Tatsache, daß er sich mit der »Gerusalema Conquistata« seinen gelehrten Kritikern gebeugt hat, als Beispiel für den schädlichen Einfluß der gelehrten Kritik dienen.52 Der Enthusiasmus des Dichters dürfe sich niemals dem gelehrten Urteil unterordnen. Ähnliches gelte für Ronsard. Auch hier zeugen die Verbesserungen, die Ronsard in den späteren Ausgaben seiner Gedichte vorgenommen hat, von weit weniger »Kraft der Begabung« (vis ingenii). Tassos göttliche Entrückung sei unter anderem auch daran zu erkennen, daß er bereits im Alter von sechs Monaten gesprochen und im Alter von sieben Jahren perfekt Latein und immerhin mittelmäßig Griechisch gesprochen habe. Im selben Alter habe er bereits Reden gehalten und Sonette geschrieben, die überhaupt nichts Kindliches mehr hatten. Als Jugendlicher habe er am Hof von Ferrara ein Gedicht vorgetragen, das alle mitgerissen habe, womit offensichtlich die »magnetische Kraft« belegt werden soll, die Platon dem Enthusiasmus zuspricht. Bei Kortholt findet sich jetzt auch schon die Verbindung von Krankheit und Genie, wenn Tassos melancholisches Temperament als Ursache seines Wahnsinns angeführt wird.53 Ähnliches weiß Kortholt von Ronsard zu berichten. Dieser habe manchmal sechs Monate lang keinen guten Vers zustandegebracht, dann aber, wenn ihn der Enthusiasmus ergriffen habe, seien die Verse nur so _____________ 50 51 52 53

Kortholt: Disquisitio S. 67. Kortholt: Disquisitio S. 69 f. Kortholt: Disquisitio S. 73. Kortholt: Disquisitio S. 74 ff.

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aus ihm herausgeströmt. Fleming mit seinem Sonett »An sich«, Scarron mit seinem »Roman comique«, Lukrez mit seinen »Pharsalia« und Marino mit seinem »Adonis« sind weitere Beispiele, ebenso wie Archimedes, der so in die Mathematik vertieft war, daß er den Krieg nicht wahrnahm, und Nostradamus, der als Ekstatiker die Zukunft vorhersah. Den antiken Dichtern Aristäus, Musäus, Orpheus, Tiresias, Linus und Amphion folgt die Erwähnung von Moses als erstem inspirierter Dichter überhaupt, gefolgt wiederum von Homer und Hesiod. Ausführliche Erwähnung findet Petrus Lotichius Secundus, der nach Eoban Hesse der größte deutsche Dichter sei, ein anderer Vergil, Ovid und Horaz, allen französischen und italienischen Dichtern gleichzusetzen. Beleg für seine göttliche Inspiration sei unter anderem, daß er die Zerstörung Magdeburgs vorhergesagt habe.54

Paradoxien der ›Naturnachahmung‹ Longin-Rezeption, Heineken, Lange Wenn Kortholt (Pseudo-) Longins Abhandlung »Über das Erhabene« gelesen hat, geht dies auf seinen Lehrer Morhof zurück, der drei Jahre zuvor, 1693, seine »Commentatio de disciplina argutiarum« veröffentlicht hatte.55 Deren viertes Kapitel ist dem »Trieb der Natur« als einer besonderen Beschaffenheit des ingenium bei der Findung von Argutien gewidmet (De impetu naturae, ac ingenii facilitate in inventione argutiarum). Dort heißt es, daß ein heftigerer Affekt bisweilen das ingenium schärfe, indem er den Geist zu Erhabenheit und Größe (sublimitas et magnitudo) »entrücke« (rapitur). In diesem Zustand sei der Geist fähig, die Ideen zu schauen, was ein ruhigerer und alltäglicherer Zustand nicht erlaube.56 _____________ 54 55

56

Kortholt: Disquisitio S. 90 ff. Zur Rezeption Longins vgl. vor allem Till: Erhabenes S. 234-316, der S. 245-248 auf die »Commentatio« Morhofs hingewiesen hat. Zum weiteren Kontext vgl. Strube: Begriff; Zelle: Grauen und Zelle: Ästhetik. Morhof: Commentatio S. 100 f.

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Sei die natürliche Anlage (ingenium) schwächer, müsse sie durch Lektüre und Nachahmung angeregt werden, bis sie es aus eigener Kraft schaffe, sich zu ähnlichen Gedanken zu »entrücken« (rapiatur). Genau diese »Leichtigkeit im Erfassen« (promtitudo concipiendi) meine Longin, wenn er für das Erhabene des Redners einen Enthusiasmus fordere, wie ihn ansonsten nur der Dichter brauche. Fehle dem Gedicht (carmen) ein solcher Enthusiasmus als »Trieb der Natur und Leichtigkeit der Phantasie« (impetus naturae et facilitas imaginum), rühre das Gedicht seine Leser nicht. Aus diesem Grund sehe man, daß die Dichter Gottheiten anriefen, oder erdichten würden, von einer Gottheit erregt zu sein.57 Zwischen dieser Erregung der Phantasie und der dialektischen Topik sieht Morhof keinen Widerspruch, denn das nächste Kapitel ist eben dieser Topik als Quelle der Erfindung gewidmet. Schon an einer früheren Stelle seiner Abhandlung hatte Morhof auf das fünfzehnte Kapitel von »Περὶ ὕψους« hingewiesen,58 das in der Folge zur Keimzelle der weiteren Entwicklungen werden sollte. In der ersten deutschen Übersetzung von Carl Heinrich Heineken (1737) war das fünfzehnte Kapitel »Von den Einbildungen« betitelt, womit Heineken den Begriff der φαντασία übersetzt hatte. Die Phantasie müsse solche »Einbildungen« im Leser erzeugen, daß es das Ansehen habe, »als ob die von einer Begeisterung, und aus einem hefftig gerührten Herzen entstandene Vorstellung würklich gesehen, und den Zuhörern vor Augen gestellet würde«. Mit »Begeisterung« übersetzt Heineken den Begriff des Enthusiasmus. Wichtig wurde diese Stelle, weil Longin in der Folge zwischen der Phantasie des Redners und der des Dichters unterschied. Während die »Einbildungen« des Redners nur der »Deutlichkeit« (ἐνάργεια) dienten, sei der Zweck der poetischen das »Erschrecken«.59 Was Heineken dabei mit »Erschrecken« übersetzt, die »ἔκλειψις«, war schon am Anfang des Traktats (1.4) als »ἔκστασις«, als »Entrückung« beschrieben worden. Damit erklärt Longin die »Entrückung« des Lesers durch »Begeisterung« zum Ziel des Dichters, im Gegensatz zur Deutlichkeit als dem Ziel des Redners. Das achte Kapitel hatte die ausdrücklich als »angeboren« apostrophierte Fähigkeit zum »enthusiastischen Pathos«, zur »heftigen und gleichsam von einer Begeisterung herrührenden Leidenschaft« (ἐνθουσιαστικὸν πάθος), als zweite Quelle des Erhabenen bestimmt.60 _____________ 57 58 59 60

Morhof: Commentatio S. 101. Morhof: Commentatio S. 20 f. Longin: Vom Erhabenen 15.1, S. 141. Gleichzeitig mit Heineken hatte Pyra an einer Übersetzung Longins gearbeitet, vgl. Pyra: Über das Erhabene, dazu Zelle: Logik. Longin: Vom Erhabenen 8.1, S. 57 f.

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Es gebe nichts Erhabeneres, »als eine zu rechter Zeit erregte Leidenschafft, wenn dieselbe gleichsam von einer wütenden Begeisterung aufgebracht wird, und hernach die Rede mit dem Dicht-Geist beseelet.«61 Die Angeborenheit dieser Fähigkeit, den Hörer zu »begeistern«, wird in den Kapiteln 33-36 zu einem Exkurs über das Verhältnis von Regel und Begabung. Nicht durch Beherrschung der Regeln sei diese Begeisterung zu erreichen, denn diese führt immer nur zu Fehlerlosigkeit, sondern nur durch die Natur selbst, die sich in der Größe der Begabung ausdrücke (36.4). »Göttliche von oben kommende Gaben« (34.4) erlaubten es dem ingenium, sich über die Regeln hinwegzusetzen.62 Während das spätere 18. Jahrhundert an dieser Stelle Genie statt ingenium las, hatte Heineken selbst in seiner »Untersuchung von dem was Longin eigentlich durch das Wort Erhaben verstehe?« darauf beharrt, darunter »blosserdings einen aufgebrachten Geist und ein wallendes Hertze« zu verstehen.63 Heineken illustriert die »Begeisterung« deshalb auch mit einem Glückwunschgedicht zur Geburt einer Prinzessin, in dem der Dichter in einer Art Vision neben der Königin die Tugenden einherschreiten sieht. Der Dichter simuliert ein visionäres Erlebnis. Das ist genau die »Nachahmung« eines Affekts, die Klopstock nur kurze Zeit später so verdammen wird. Auch bei Samuel Gotthold Lange ist 1752 in seinem Vorwort zu seiner Übersetzung der »Oden« des Horaz genau diese Zurückhaltung aufgegeben. Der Dichter muß ergriffen sein, um andere ergreifen zu können. Das Vorbild Longins ist bis in die Wortwahl hinein zu erkennen: »Horatz war ein Dichter, er dachte folglich anders als der Redner; der Affect riß ihn hin, er redet lauter Empfindungen, und mahlet in einer beständigen Entzückung.« Wie bei Longin ist es diese »beständige Entzückung«, die dem Dichter »keine erkältende Ordnung gemeiner Wortfügung« erlaubte, »folglich sprach er ganz anders als es gewöhnlich war. Seine vorzügliche Stärke bestehet […] in der Versetzung der Wörter, die er in solcher odenmässigen Unordnung unter einander wirft, oder vielmehr kunstreich ordnet, als sie sich dem Gemüthe des Lesers darstellen sollen.«64 Der ergriffene Dichter hält sich nicht an die logische Ordnung der Gedanken und Wörter, sondern erzeugt das, was Boileau die »schöne Unordnung« der Ode genannt hatte. Während Boileau sich jedoch sicher war, daß die »schöne Unordnung« der Ode ein »Effekt der Kunst« ist, ist _____________ 61 62 63 64

Longin: Vom Erhabenen 8.4, S. 61. Longin: Vom Erhabenen 34.4, S. 255. Heineken: Untersuchung S. 369. Lange: Vorrede zu Horaz f. a4v f.

Paradoxien der ›Naturnachahmung‹

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die Formulierung Langes in ihrem Schwanken symptomatisch. Es ist nicht mehr klar, ob es sich bei der »Versetzung der Wörter«, also dem rhetorischen Stilmittel der Inversion, um eine »kunstreiche« Ordnung oder um ein »Untereinanderwerfen« als Ergebnis der affektiven, »hitzigen« Ergriffenheit des Dichters handelt. Die Inversion wird, ähnlich wie die Exclamatio und Aposiopese, als scheinbar unmittelbarer Ausdruck der Empfindung zum gesuchten Stilmittel. Damit entsteht das Paradox, daß diese Stilmittel sowohl Ausdruck der unmittelbaren Empfindung wie der rhetorischen Kunst sind. Horaz habe die Regeln der lateinischen Syntax so wenig beachtet, schreibt Lange, »daß man in diesem Verstande von ihm sagen kan, er habe das Latein auf Griechisch geschrieben«. Das habe Horaz nur gekonnt, weil es zu seiner Zeit keine »Kunstrichter« gegeben habe, die in Silbenmaß gebrachte Prosa für ein Gedicht gehalten hätten. Horaz habe gewußt, »daß die Sprache der Leidenschaften und Gemüthsbewegungen (welche die Sprache der Dichtkunst überhaupt, und der Ode insbesondere ist,) sich von der Sprache der Unterredung durch etwas mehr, als durch das Sylbenmaaß, unterscheide.«65 Das ist gegen Gottsched gerichtet.

Gottsched, Batteux, Schlegel, Klopstock Mit deutlichem Bezug auf Longin hatte auch Gottsched 1729 in seiner »Critischen Dichtkunst« die Forderung der ›echten‹ Gemütsbewegung erhoben, wenn er die Begeisterung des Dichters zur notwendigen Voraussetzung zumindest der Dichtung erklärte, die den Leser »erregt« (movere). Wolle der Dichter nicht nur unterhalten und belehren, sondern auch »Gemüthsbewegungen« erregen, so müsse er die »Gemüthsbewegung«, die er in andern erwecken wolle, »selbst annehmen, und so feurig und heftig, oder affectuös und pathetisch, als welches einerley ist, reden, daß sein Leser oder Zuhörer auch entzündet wird; wie solches Horaz in seiner Dichtkunst gelehret hat: Si vis me flere etc.«66 Diese »Begeisterung« als »das berühmte Göttliche« sei es, die für die »Schönheiten« einer »erhitzten Einbildungskraft« verantwortlich sei.67 _____________ 65 66

67

Lange: Vorrede zu Horaz f. a4v. Gottsched: Dichtkunst I.11.12, S. 432. Zu Gottscheds Longin-Rezeption vgl. Till: Erhabenes S. 290-309. Zur Problematik des nachgeahmten Affekts vgl. vor allem Till: Transformationen S. 376-432; außerdem Campe: Affekt; Carrdus: Rhetoric; Guthke: Entdeckung; Stenzel: Si vis me flere. Gottsched: Dichtkunst II.1.11, S. 13.

310

Genie und Affekt

Wie schon in der Breslauer »Anleitung« ist es gerade die erhabene oder »pathetische Schreibart« der Ode, bei der der Dichter »selbst im Affecte steht, und sich voller Feuer ausdrückt«.68 Die »pathetische Schreibart« ist, wie es mit ausdrücklichem Bezug auf Longin heißt, die natürliche Sprache der Affekte und als solche ›kunstlos‹ und ›unstudiert‹. Sie folgt einer hitzigen Unbedachtsamkeit, die in allen Affecten herrscht, und keinem Zeit läßt auszustudieren, was er sagen will. Sie scheint auch mehr zu donnern und zu blitzen, als zu reden; weil alles unvermuthet, herausfährt, und man zuweilen nicht begreifen kann, wo alles mit einander hergekommen.69

Zwar führt Gottsched Pindar als Modell ein, meldet aber gleichzeitig Vorbehalte gegenüber dem »Verstümmeln der Sprache« (also den Inversionen, Aposiopesen etc.) an. Nicht durch »grammatische Schnitzer« sei Pindar zum Gegenstand der Bewunderung geworden, sondern durch »edle Gedanken«. Diese könnten auch »bey der Richtigkeit der Sprachregeln« bestehen. Es gebe also keinen Grund, möglichst »dunkel, abgebrochen, und verstümmelt« zu schreiben.70 Die Frage ist also, wie sich die geforderte Kontrolle der Vernunft mit der »Erhitzung der Einbildungskraft« bei der »pathetischen Schreibart« vermitteln läßt. Eine allzu »hitzige« Einbildungskraft mache »unsinnige Dichter«, »dafern das Feuer der Phantasie nicht durch eine gesunde Vernunft gemäßiget wird«. Gerade das Gebot der Naturnachahmung und der Wahrheitsähnlichkeit fordere eine Herrschaft des Verstandes. Wer seinen »regellosen Trieben« die Zügel schießen lasse, werde von seinem »gar zu feurigen poetischen Geist« aus den »Schranken der Vernunft« gerissen und zu »lauter Fehlern« verführt.71 Anläßlich seiner Unterscheidung dreier Formen der Naturnachahmung löst Gottsched diesen latenten Widerspruch, indem er erklärt, der Dichter ahme in solchen Fällen die Affekte nur nach. Er drücke sich »mit so natürlichen Redensarten« aus, als wenn er wirklich im Affekt spräche.72 Damit ist zwar das Problem beseitigt, wie der Dichter »im Affect stehen« kann und dennoch die Vernunft die Kontrolle behält. Auf der anderen Seite entsteht jedoch ein neues Paradox aus der Tatsache, daß in bestimmten Fällen, vor allem bei Liebes- oder Trauergedichten, der Dichter nicht »im Namen eines andern«, sondern in eigenem Namen schreibt, aus seinem eigenen »Affekt« heraus, mithin also wohl kaum einen Affekt nur »nachahmt«. _____________ 68 69 70 71 72

Gottsched: Dichtkunst I.11.28, S. 449. Gottsched: Dichtkunst I.11.27, S. 448 f. Gottsched: Dichtkunst II.1.13, S. 15 f. Gottsched: Dichtkunst I.2.17, S. 158. Gottsched: Dichtkunst I.4.3, S. 197.

Paradoxien der ›Naturnachahmung‹

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Diesen Einwand formuliert 1748 Georg Friedrich Meier in seiner »Beurtheilung der Gottschedischen Dichtkunst«, wenn er Gottsched entgegenhält, von »Nachahmung« könne in einem solchen Fall »ohne Zwang« nicht mehr die Rede sein.73 Wer eine Leidenschaft nicht wirklich selbst empfinde, der könne sie auch nicht ausdrücken. Seine Sprache werde »ohnfehlbar frostig und matt« sein.74 Auf dasselbe Problem war auch Charles Batteux in seiner Abhandlung über die Nachahmung (»Les beaux arts reduits a une meme principe«, 1747) gestoßen. Wie Gottsched hatte er das Wesen aller Künste im Begriff der Naturnachahmung gesucht und den Dichter für den Fall, daß er von seinen eigenen Gefühlen spricht, zu einem Nachahmer seiner selbst erklärt.75 Sein deutscher Übersetzer, Johann Adolf Schlegel, hatte in seiner »Abhandlung über den höchsten Grundsatz der Poesie« (1758) entschieden widersprochen. Zwar könne man Epos, Oper, Drama und Fabel aus der Naturnachahmung ableiten, nicht aber die Ode. Um seinen Grundsatz der Naturnachahmung auch hier zu beweisen, leugne Batteux dies und erkläre den Odendichter zu einem »Nachahmer seiner selbst«, der nicht die »wirklichen Empfindungen« seines Herzens zum Ausdruck bringe, sondern nur deren Nachahmung.76 Ganz unter dem Eindruck der Schlegel-Lektüre formuliert Klopstock 1759 in seinen »Gedanken über die Natur der Poesie« denselben Einwand mit bedeutend mehr Emphase. Diese macht deutlich, was auf dem Spiel steht: Batteux hat nach Aristoteles das Wesen der Poesie mit den scheinbarsten Gründen in der Nachahmung gesetzt. Aber wer tut, was Horaz sagt: ›Wenn du willst, daß ich weinen soll; so muß du selbst betrübt gewesen sein!‹ ahmt der bloß nach? Nur alsdann hat er bloß nachgeahmt, wenn ich nicht weinen werde. Er ist an der Stelle desjenigen gewesen, der gelitten hat. Er hat selbst gelitten. Wenn mein Freund beinahe eben das empfindet, was ich empfinde, weil ich meine Geliebte verloren habe; und diesen Anteil an meiner Traurigkeit andern erzählt: ahmt er nach? Von dem Poeten hier weiter nichts als Nachahmung fodern, heißt ihn in einen Akteur verwandeln, der sich vergebens als einen Akteur anstellt. Und vollends der, der seinen eignen Schmerz beschreibt! Der ahmt also sich selbst nach?77

_____________ 73 74 75 76 77

Meier: Beurtheilung S. 88. Meier: Beurtheilung S. 98. Batteux: Einschränkung III.1.12, S. 385. Schlegel: Von dem höchsten und allgemeinsten Grundsatze der Poesie. In ders.: Abhandlungen S. 193. Klopstock: Natur der Poesie S. 181.

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Genie und Affekt

Nicht »Nachahmung«, sondern »Ausdruck der wirklichen Empfindungen unsers Herzens« (Schlegel) ist das Paradigma dieser neuen Form der Dichtung als einer angewandten ›Empfindsamkeit‹. Die Theorie der Ode, unter deren Namen dieser Ausdruck der Empfindungen verhandelt wird, ist damit der Punkt, an dem die Nachahmungstheorie und mit ihr die Kontrolle der Vernunft über die Werke des Dichters aufgehoben wird.

Hagedorn, Lange, Klopstock Schon Morhof hatte 1682 in seinem »Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie« den Enthusiasmus ausschließlich auf die Ode bezogen, ähnlich wie später die anonyme Breslauer »Anleitung zur Poesie« (1725).78 Friedrich von Hagedorn erklärt in der Vorrede zu seinem »Versuch einiger Gedichte oder Erlesene Proben Poetischer Neben-Stunden« (1729), die »freye Lyrische Schreib-Art« der Ode sei nicht »nach dem Maaß-Stabe des Schul-Witzes« zu beurteilen. Vom Wesen der Schönheit ließen sich keine »durchgängigen Regeln« geben. Verwegen sei es, »mit kaltsinnigem Gemüthe« von Werken zu urteilen, die mit »aufgewecktem Geiste« geschrieben worden seien. Das Leben einer Ode bestehe in ihrem »starcken Feuer«, sie müsse ein »Original« darstellen, kein »gekünsteltes Nachgemählde«. Ein »ausserordentlicher Trieb« bemeistere sich der Seele des Dichters und in diesem »glücklichen Augenblick« der Begeisterung stehe ihm »Welt, Natur, Zeit und Geschichte« zur Verfügung. Alles stehet ihm zu Gebote: alles eilet einem dergestalt gerührten Geiste entgegen und befördert die Lebhafftigkeit seiner weitaussehenden Einbildungs-Krafft. Diese unwidertreibliche Empfindung, die den Dichter und durch ihn den Leser selbst beherrschen muß, ist die beste Richtschnur einer Ode, und übertrifft die Regeln, so ihr jemahls zur Fürschrifft gestellet worden.79

Für dieses »Empfindungsvermögen« des Dichters, das an einer besonders anschaulichen, ergreifenden Darstellung seines Gegenstandes zu erkennen ist, beruft sich Hagedorn auf Longin. Lange fordert in seiner »Lehre von der Ode« (1749) vom »Odendichter« »ein empfindungsreiches Herz, welches die gehörigen Eigenschaften _____________ 78

79

Zu Morhof vgl. oben S. 168, zur Breslauer »Anleitung« oben S. 168. Zur Theorie der Ode vgl. Große: Aufklärung; Krummacher: Poetik; Scherpe: Gattungspoetik bes. S. 105-111; Viëtor: Ode S. 110-143. Hagedorn: Versuch S. 7 f. Vgl. auch Hagedorns Ode »Die Poesie« dort S. 35-40.

Paradoxien der ›Naturnachahmung‹

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hat, durch würdige Gegenstände stark gerühret zu werden.« In der Ode schreibe der Dichter, was er fühlt, und dieses Gefühl, »diese starke Rührung seiner Sinlichkeit, ist die Begeisterung, oder der Enthusiasmus«. Diese Begeisterung gebe dem Dichter die Gedanken ein, die er in der Ode zum Ausdruck bringe. Grundsätzlich dürfe sich der Dichter deshalb auch nur die Gegenstände wählen, die überhaupt das Gemüt in Bewegung setzen könnten. Ausgeschlossen werden »blosse Einfälle des Witzes« genauso wie »Wahrheiten, die blos auf den Verstand wirken«, wie etwa in der Lehrdichtung. Vollständige Syllogismen verbietet Lange ausdrücklich, genauso wie Allegorien.80 Der Dichter dürfe die rhetorischen Figuren nicht durch die Kunst »herbeysuchen«, sondern nur diejenigen benutzen, die der »Affect« selbst hervorbringe. Die Syntax der Ode dürfe sich deshalb auch nicht an der »prosaischen Wortfügung« orientieren, sondern müsse dem »Affect« folgen und sich eine »eigene Wortfügung« schaffen. Damit ist, einmal mehr die Inversion gemeint. Die Begeisterung des Dichters verlange keine »demonstrativische Lehrart«, sondern die affektive, »schöne Unordnung«.81 In seinem Nachweis, »daß das Wesen der Dichtkunst in unserer Natur gegründet sei« (1751), leitet Lange die Dichtung aus der Tätigkeit der »Lebensgeister« ab, wenn er die »Poesie« als »Sprache der Leidenschaften und Empfindungen« aus dem »gerührten Herz« und dem »bewegten Blut« ableitet.82 Als »Triebfedern der Natur« gehören die »Leidenschaften und Empfindungen« zum Wesen des Menschen und aus ihnen kann, »gleichsam aus dem Eingeweide des Menschen« die Dichtkunst abgeleitet werden.83 »Dunkel und undeutlich« sind die »Empfindungen und Affecte«, »Unordnung herrschet in unserer Seele«, aber gerade die daraus resultierende »dunkle Erkentnis« ist die eigentlich »lebendige Erkentnis«, im Gegensatz zur »todten Erkentnis«, »daß 2 mal 2 vier ausmachen«, die uns »kaltsinnig und ruhig« läßt. Diese Gegenüberstellung von Empfindung und Erkenntnis weist Lange als einen der ersten Leser Baumgartens aus. Die Lebendigkeit der sinnlichen Erkenntnis bilde als das »Phantasiereiche der Dichtkunst« die »poetische Begeisterung« und den Enthusiasmus, im Gegensatz zur abstrakten und toten Erkenntnis des Verstandes. Nicht die verstandesmäßi_____________ 80 81 82 83

Lange: Lehre von der Ode S. 127 f. Lange: Lehre von der Ode S. 129 ff. Ganz ähnlich argumentiert auch die 1763 anonym erschienen Abhandlung Von der Ode. Lange: Wesen der Dichtkunst S. 160. Lange: Wesen der Dichtkunst S. 161.

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Genie und Affekt

gen Prinzipien von »Sylbenmaas und Reim« machten deshalb die »Dichtkunst« aus, sondern die aus dem Enthusiasmus resultierende, affektive Erregtheit.84 Der recht verstandene Begriff der Naturnachahmung könne nichts anderes bezeichnen als diese Form des »natürlichen«, affektgemäßen Schreibens.85 Pyras und Langes »Freundschaftliche Lieder« (1749) beschwören diese Begeisterung an zahlreichen Stellen.86 Pyras »Tempel der wahren Dichtkunst« (1737) könnte mit einigem Recht als Allegorie des Enthusiasmus bezeichnet werden, denn Pyra beschreibt hier nichts anderes als seine »Entrückung« in das Reich der Poesie. »Den Tempel und dein Reich laß mich, o Königin | Der wahren Poesie, durch deinen Trieb besingen« lauten die ersten beiden Verse, bevor Pyra dann beschreibt, wie er »in dunckler Einsamkeit« »entzückt« wurde, als er die Psalmen sang.87 In seiner Vorrede zu den »Freundschaftlichen Liedern« hatte Lange dasselbe Paradigma benannt, wenn er diese Lieder als »Empfindungen des Hertzens« bezeichnet hatte, »die wir, ohne an die Kunst zu dencken, so auf zu setzen suchten, wie wir sie fühlten«.88 »Ohne an die Kunst zu dencken«, heißt dabei, ohne die Regeln der Poetik durch die Vernunft zur Anwendung zu bringen. Der Verzicht auf den Reim, den Meier 1747 in seiner Vorrede zu Langes »Horatzischen Oden« gefordert hatte, ist sichtbarer Ausdruck dieses Bedürfnisses. Wie aber die metrische Form dieser »Freundschaftlichen Lieder« zustandegekommen sein soll, wenn die Verfasser dabei nicht »an die Kunst dachten«, gehört weiterhin zu den Paradoxien dieser frühen Odentheorie. Erst Klopstock, der 1747 seine »Oden« zu schreiben begonnen hatte, entschärft dieses Paradox mit der Entwicklung der »freien Rhythmen« und macht damit einen entscheidenden Schritt mehr zu einer auch technisch ganz ›subjektiven‹ Lyrik. Anstatt »zu Strophen zu werden«, also von der Vernunft gemacht zu werden, solle das Lied »frei aus der schaffenden Seele taumeln«, »ununterwürfig Pindars Gesängen gleich«.89 Damit ist, wie Klopstocks Oden zeigen, die exzessive Anwendung von Inversion, Exclamatio, Asyndeton, Aposiopese und ähnlichen Stilmit_____________ 84 85 86 87 88 89

Lange: Wesen der Dichtkunst S. 162. Lange: Wesen der Dichtkunst S. 164. Lange und Pyra: Lieder S. 24, S. 37, S. 42, S. 47, S. 48, S. 55, S. 57, S. 127, S. 129. Pyra: Tempel I. Gesang, v. 1 f. und v. 33 f., S. 83 u. 85. Zu Pyra vgl. Jacob: Poesie S. 55-110 und Kemper: Lyrik Bd. 6.1, S. 96-148. Lange: Vorrede, in ders. und Pyra: Freundschaftliche Lieder S. 8. Klopstock: Auf meine Freunde (1747). Zu Klopstock vgl. Kaiser: Klopstock S. 133-160; Kemper: Lyrik Bd. 6.1, S. 468-498; Kohl: Rhetoric; Schmidt: Genie-Gedanke S. 61-68; Schneider: Klopstock; Schödlbauer: Odenform; Sparn: Ilias.

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teln gemeint. Im Gegensatz zu Pyras und Langes »Freundschaftlichen Liedern« gelingt es Klopstock durch sie, die Begeisterung nicht nur zu beschwören, sondern tatsächlich vorzuführen. Klopstocks Oden sind der erste Ausdruck jener »enthusiastisch aufgeregten Dichtweise«, als die Goethe später die »Lyrik« beschreiben wird, »wahrhafter Ausdruck eines aufgeregten erhöhten Geistes, ohne Ziel und Zweck«.90 Mit dieser Ziel- und Zwecklosigkeit tritt die neue Gattung der »Lyrik« in Gegensatz zu der fortan in den subpoetischen Bereich hinabgedrückten Kasualdichtung, die als handwerkliches »Machwerk« zwar mit Ziel und Zweck, dafür aber ohne Enthusiasmus verfaßt wurde.91

Der dunkle Grund der Seele Bodmer Eigentlicher Prophet der neuen ›Empfindsamkeit‹ ist Johann Jakob Bodmer. Im Gegensatz zu Gottsched entscheidet er sich von vornherein klar gegen die Kontrolle von Vernunft und Regel und für den Affekt. Schon 1721 heißt es in den »Discoursen der Mahlern«, »Enthusiasmus«, »Inspiration« und »Poetische Raserey« bezeichneten nichts anderes als die »hefftige Passion« und »gute Imagination«, die den Dichter ergreife. In diesem ›entrückten‹ Zustand wüchsen ihm »die Worte auf der Zungen, er beschreibet nichts als was er siehet, er redet nichts, als was er empfindet, er wird von der Passion fortgetrieben, nicht anderst als ein Rasender, der ausser sich selbst ist, und folgen muß, wohin ihn seine Raserey führet.«92 Der Enthusiasmus ist die »Sprache des Herzens« als eine Sprache der Affekte. Diese Sprache ist deshalb keineswegs eine unrhetorische. Sie ist Ausdruck einer ›natürlichen‹ Rhetorik als einer ›Rhetorik der Affekte‹: »Ihr werdet einen Affect allezeit natürlicher ausdrücken, den ihr in dem Hert_____________ 90 91 92

Goethe: Divan S. 192 und 194. Vgl. Segebrecht: Gelegenheitsgedicht S. 255-286. Bodmer: Discourse S. 10. Zu Bodmer und Breitinger vgl. Reitze: Auffassung S. 95-124; Till: Erhabenes 266-283; Wolf: Geniebegriff S. 87-97.

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zen fühlet, als den ihr nur simulieret. Die Leidenschaft wird euch im ersten Fall alle Figuren der Rhetoric auf die Zunge legen, ohne daß ihr sie studieret.«93 Die metaphorische Deutung des Enthusiasmus wird damit zur historischen Wurzel der ›Empfindsamkeit‹. Mit dieser Deutung des Enthusiasmus als einer echten »Leidenschaft« des Dichters ist gegenüber seiner Deutung als Identifikation mit den dargestellten Figuren, wie sie in der Poetik seit Scaliger begegnet, eine neue Stufe erreicht. Bodmer fordert nicht mehr, daß sich der Dichter durch Stimulantien (Wein, Musik etc.) bewußt in einen poetisch produktiven Zustand versetzt, sondern er fordert, daß der Dichter nur dichtet, wenn er selbst von einem Affekt ergriffen ist. Der Affekt darf nicht künstlich erzeugt oder nur ›simuliert‹ sein, er muß echt und ›original‹ sein, wie auch das Werk des Dichters nur über Originalität verfügen wird, wenn der ihm zugrunde liegende Affekt ein ›echter‹ war: »Ich fodere demnach von einem Schreiber/ der seine Leser bewegen will/ daß er niemahls schreibe/ als wenn er selbst von denen Regungen gerührt ist/ die er in ihnen erregen will«.94 In der Konsequenz, mit der diese Forderungen vorgetragen werden, unterscheidet sich Bodmer merklich von seinem Freund und Mitarbeiter Breitinger. In seiner »Critischen Dichtkunst« (1740) spricht dieser ausdrücklich von einer – wenn auch »ungezwungenen« – »Nachahmung« der Affekte, in der die »bewegliche und hertzrührende Schreibart« bestünde.95 An anderer Stelle unterscheidet Breitinger die Selbstaffektion und den ›echten‹ Affekt, wenn es heißt, der Dichter müsse die Phantasie mit dem Affekt anfüllen, den er nachahmen wolle, indem er in sich selbst einen solchen Affekt errege, wenn ein solcher Affekt ihn nicht sowieso schon beherrsche, »wie bey verliebten Poeten zu geschehen pfleget.«96 Am stärksten nähert sich Breitinger der Position Gottscheds an, wenn er anläßlich der (durch die Affekte des Dichters verursachten) »Unordnung« der Ode den Dichter dazu aufruft, die letzte Kontrolle über den poetischen Prozeß der Leitung der Vernunft und der »Kunst« zu überlassen. Der Dichter dürfe die Identifikation mit den Gefühlszuständen der von ihm dargestellten Personen (den »Enthusiasmus«) nicht so weit treiben, daß er dabei »das gesunde Urteil« verliere.97 _____________ 93 94 95 96 97

Bodmer: Discourse S. 5. Bodmer und Breitinger: Einbildungskraft S. 118. Ähnlich Bodmer: Betrachtungen S. 340, wo Bodmer empfiehlt, die Feder niederzulegen, wenn man nichts mehr empfinde. Breitinger: Dichtkunst II, S. 353. Breitinger: Dichtkunst I.9, S. 332. Auch Breitinger beruft sich dafür auf Quintilian: »Institutio oratoriae« 6.2.26 ff., vgl. Breitinger: Dichtkunst I.9, S. 334. Breitinger: Dichtkunst I.9, S. 331.

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Aber diese Unterschiede zwischen Bodmer und Breitinger sind vernachlässigenswert angesichts der grundsätzlichen Übereinstimmung, die beide, ausgehend von Longin, dem »Einfluß und Gebrauch der Einbildungskraft« (1727) zuerkennen. Allein durch diese gelinge es dem Dichter, »sein Herz reden zu lassen« und den »frostigen Sinn« und die »künstliche Verstellung« der bloßen Regelanwendung zu vermeiden. Wer sich durch eine »lebhafte und entzückende Vorstellung« in die »erforderliche Hitze« treibe und »das Hertz reden« lasse, der werde auch »den natürlichen Ausdruck der Leidenschaften« am besten treffen. Darin unterscheiden sich jetzt Dichtung und Rhetorik, denn der »Verdacht einer künstlichen Verstellung, der des Redners Ansehen und Glaubwürdigkeit so nachtheilig ist«, weil seine Rede »aus dem blossen Gehirne künstlich herausgesponnen« sei, könne auf den Dichter, dessen Ode »aus dem tiefen Grund seines Hertzens« hervorquelle, nicht fallen.98 Allein die »poetische Einbildungskraft«, die Phantasie des Dichters ist es, die es diesem erlaubt, sich seinen Gegenstand so zu vergegenwärtigen, daß der Affekt tatsächlich in ihm entsteht. Der Dichter muß deshalb »seine Imagination cultivieren«, denn allein die »Imagination« unterscheide »die Poesie von der Prosa«.99 Darin unterschieden sich auch die guten von den schlechten Dichtern.100 Die damit umrissene Wechselwirkung von starkem Affekt und lebhafter Phantasie ist die Grundlage der dichterischen Begabung. Die physiologische Vermittlung zwischen humoralpathologisch begründeter Begabung und ihrer Aktualisierung als Tätigkeit der Phantasie stellen dabei weiterhin die spiritus dar, die Bodmer »Geisterchen« nennt. Am Beispiel von Milton exemplifiziert Bodmer, wie die poetische ›Begeisterung‹ zustandekommt. Milton sei ein »sterblicher Mensch« gewesen, aber mit einer sehr glüklichen Beschaffenheit des Gehirns und aller Werkzeuge desselben gebohren, sein Geblüte wallete leicht in währendem Arbeiten, so daß es die Springfedern der Phantasie im Ueberflusse mit Geisterchen versah, welche sie vor Entkräfftung bewahreten. Daher entstuhnd bey ihm das poetische Naturell, die Begeisterung, welche so grosse, so göttliche Werke hervorbringet, daß wir sie selbst göttlich nennen, und sie für eine unmittelbare Einflössung des Himmels ansehen.101

_____________ 98 Breitinger: Dichtkunst S. 364. 99 Bodmer: Discourse S. 3. 100 Bodmer: Betrachtungen S. 3-26. Ähnlich Bodmer: Discourse S. 5 und Breitinger: Dichtkunst I.9, S. 309. 101 Bodmer: Neue critische Briefe S. 10. Reitze: Auffassung S. 137 verweist auf das französische Modell dieser Formulierung bei Dubos.

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Schlegel, Klopstock Auch wenn der Begriff noch fehlt, ist dieses »poetische Naturell« Miltons ganz offensichtlich das Naturell des Genies. Der Enthusiasmus ist der »glückliche Augenblick«, in dem das Gehirn des Genies seine Einfälle empfängt: Es gibt also für das Genie glückliche Augenblicke, wo die Seele, als von einem göttlichen Feuer entflammt, sich die ganze Natur vorstellt, wo sie über die Gegenstände das Leben ausgießt, das dieselben beseelet, und ihnen die rührenden Züge leihet, die uns täuschen, ja mit Gewalt hinreißen. Diese Verfassung der Seele nennt man den Enthusiasmus oder die Begeisterung [...].102

Diesen Zustand herbeizuführen, liegt nach Schlegel nicht in der Gewalt des Genies. Oft werde dieser Zustand »von einer ganz zufälligen Ursache, von irgend einem äußerlichen Eindrucke, ohne den Vorsatz der Seele« erregt.103 Gleichwohl hat er eine physiologische Voraussetzung, nämlich eine »sehr lebhafte Einbildungskraft«, eine »zarte Empfindsamkeit des Herzens« und eine »weiche Reizbarkeit der Empfindungen und Affecten«. Diese Voraussetzungen sind identisch mit der »Erklärung des Genies in den schönen Künsten«, so daß der Enthusiasmus eigentlich nur noch der Arbeitszustand des Genies ist. »Denn man siehet daraus, daß das Genie eigentlich die Fähigkeit ist, sich in Begeisterung zu setzen; die Begeisterung aber der Stand seiner Wirksamkeit, dieselbe Fassung, in der es sich als Genie zeiget.«104 Wie man sich einen solchen Enthusiasmus des Genies konkret vorzustellen hat, beschreibt Johann Adolf Schlegel anhand seines Bruders, des Dramatikers Johann Elias Schlegel. Diesen konnte er mehrfach bei der Arbeit an seinen Tragödien beobachten. Seine »Lebensgeister« seien so stark in der Einbildungskraft konzentriert gewesen, daß der Körper äußerlich »ganz unbeweglich« schien und »nur in einigen mechanischen Handlungen einzelne Zeichen des Lebens« von sich gegeben habe. Tiefsinn und Feuer blickten alsdenn zugleich aus seinen Augen. Seine ganze Brust war dabey in Arbeit; sie athmete schneller; ihr Athmen gieng in ein obwohl nicht wildes, doch gar lebhaftes Schnauben über, also, daß es jedem Ohre vernehmlich war. In diesem Zustande goß er seine Verse in vollem Strome oft zu Hunderten hin.105

Der Dichter war in seine Figuren »entrückt«: _____________ 102 103 104 105

Batteux: Einschränkung S. 44. Zu Schlegel und Batteux vgl. von der Lühe: Natur S. 186-243. Schlegel, Anm. 15 in Batteux: Einschränkung S. 48. Schlegel: Vom Genie in den schönen Künsten. In ders.: Abhandlungen S. 10 f. Schlegel, Anm. 15 in Batteux: Einschränkung S. 49 f.

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Bey dem Anblicke seines Gegenstandes entzündet sich sogleich sein Feuer; er vergißt sich; seine Seele wandert in die Dinge, die er schafft; er ist wechselweise itzt Cinna, itzt August, itzt Phädra, itzt Hippolytus; und wenn es ein LaFontaine ist, so wird er bald der Wolf und bald das Lamm, bald die Eiche und bald das Schilf. In solchen Entzückungen erblicket Homer die Wagen und Rosse der Götter, und Vergil höret das schreckliche Geschrey, das Phlegyas unter den Schatten der Hölle erhebt.106

Ganz ähnlich äußerte sich der Enthusiasmus Klopstocks, als dieser die »Ode an den Erlöser« schuf. »Mit ungewöhnlichem Ernst, mit zurückgebeugten Händen auf dem Rücken« habe er dagestanden, so berichtet Frau von Winthem später an Cramer, der ihren Bericht wiedergibt: Sie sieht ihn an. Er schweigt immer ernster. Er athmet kaum. Dieser Anblick ergreift sie so, daß sie fragt: Fehlt Ihnen was, Klopstock? – Noch einen Augenblick, so stürzen ihm die Thränen aus den Augen; er geht an seinen Tisch, ohne zu antworten, und in wenigen Minuten ist sein Dank aus dem Herzen herausgeströmt.107

Klopstock selbst beschreibt die Entstehung seiner Oden als eine Art Empfängnis: [D]er erste Grundkeim befruchte sich plötzlich in ihm, und ohne daß er es im geringsten darauf anlege, wie durch das Einflüstern eines Genius. So wie ihn ein solcher Gedanke überfalle, und er sichs zum erstenmal lebhaft gedacht habe: Daraus kann eine Ode werden, trage er ihn einige Tage mit sich herum, und wende ihn so lange, bis er aus ihm den Plan herausgesponnen habe. Abends schlafe er ganz voll davon ein. Um Mitternacht wache er gewöhnlich wieder auf, und in diesem Mittelerwachen stehe die Ode schon vollendet vor ihm, so daß er sie des Morgens nur aufschreiben dürfe.108

Die Legende, daß Klopstock die Idee zu seinem »Messias« in einer schlaflosen Nacht in einer Art Vision empfangen habe,109 wird schon von Klopstock selbst ironisiert und teilweise wieder zurückgenommen. Zu deutlich gehörte diese Form der unmittelbaren göttlichen Anrede einem veralteten Entwurf der Inspiration an. Mit den modernen, physiologischen Theorien des Genies verträgt sie sich schlecht. Ähnlich symptomatisch ist der in seiner Zeit heftig geführte Streit, ob Klopstock Miltons »Paradise lost« schon gelesen hatte, als ihm die Idee zu seinem »Messias« kam. Auch hier hat sich Klopstock mit widersprüchlichen Angaben aus der Affäre gezogen.110 Die durch Inspiration garantierte Originalität des Dichters, auf der Klopstock als Genie beharren mußte, _____________ 106 107 108 109 110

Batteux: Einschränkung S. 46. Klopstock: Oden Bd. 1, S. 107, nach einem Bericht Cramers ohne genaue Quellenangabe. Böttiger: Klopstock S. 331. Kolportiert etwa bei Kaiser: Klopstock S. 137. Kaiser: Klopstock S. 139.

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gerät in Widerspruch zu dem reduktionistischen Einspruch des Thomasius, »daß die Poeten die vortrefflichsten Diebe sind«.111

Baumgarten Baumgarten wendet sich in seiner »Aesthetica« (1750/58) gegen den Begriff der Nachahmung und erklärt den Affekt selbst zum Ursprung der Dichtung. Der Begriff des Genies taucht bei ihm nicht auf, was Baumgarten aber als »felix aestheticus« bezeichnet, kommt diesem sehr nahe. Was den felix aestheticus auszeichne, sei eine angeborene, natürliche Veranlagung zum »schönen Denken«. Zu dieser natürlichen Veranlagung gehörten auf Seite der »unteren Erkenntnisvermögen« ein ausgeprägtes sinnliches Vorstellungsvermögen, Witz, Gedächtnis und Geschmack, aber auch, auf Seiten der »oberen Erkenntnisvermögen« die Fähigkeit, die »unteren Erkenntnisvermögen« in Übereinstimmung mit diesen, das heißt mit Verstand und Vernunft zu bringen.112 Ein Dichten außerhalb der Kontrolle der Vernunft ist Baumgarten unvorstellbar. Nur »im Scherz oder aufgrund eines schweren Irrtums« habe Demokrit (wie Horaz, »Ars poetica« 300 f. berichtet) die Vernünftigen vom Helikon ausschließen können. Die »Veranlagung zum gründlichen Denken« und die zum »schönen Denken« träten immer gemeinsam auf.113 Ein melancholisches Temperament werde allgemein als am günstigsten für das schöne Denken genannt.114 Der eigentliche Nachdruck der »Aesthetica« liegt auf Übung, Unterricht und beständiger Verbesserung der poetischen Ergebnisse. Damit steht Baumgarten ganz in der Tradition des 17. Jahrhunderts. Desto mehr sticht der Abschnitt V der »Aesthetica« heraus, der der »ästhetischen Begeisterung« (impetus aestheticus) gewidmet ist. Baumgarten benutzt den Begriff synonym mit »exstasis«, »furor«, »enthousiasmos« und »πνεῦμα θεοῦ«, wobei die Reihung verschiedene Stufen der »Begeisterung« bezeichne. Die »niedrigeren Grade dieser Glut« könne man bisweilen nicht als solche erkennen. Wenn sie zugegen war, merke man dies daran, daß man in größerer Geschwindigkeit als gewöhnlich geschrieben _____________ 111 Vgl. oben S. 287. 112 Baumgarten: Ästhetik § 28-35. Ich zitiere die Übersetzung von Mirbach. Zu Baumgartens Geniebegriff vgl. Wolf: Geniebegriff S. 97-108. 113 Baumgarten: Ästhetik § 43. 114 Baumgarten: Ästhetik § 46.

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habe und die Schriften einige Zeit nach ihrer Abfassung besser gefielen als im Augenblick selbst.115 Die Begeisterung entstehe in einer durch improvisiertes Dichten aus dem Stegreif bereits »aufgeweckten Natur«, durch Unterricht geschärft, die in einem günstigen Augenblick ihre »unteren Erkenntnisvermögen« auf das »Tun des schönen Denkens selbst« richte, so daß diese durch die in Erscheinung tretende Übereinstimmung als höhere leben, als sie sich bei vielen anderen Menschen gegenüber demselben Thema oder bei demselben, aber nicht ebenso erregten Menschen zu einer anderen Zeit zeigen könnten. Die unteren Erkenntnisvermögen können dann sogar diesen ihren lebendigen Kräften gleichförmige Wirkungen erzeugen, die größer sind als die gewöhnlichen Kräfte und sich zu diesen ungefähr so verhalten wie das Quadrat zu seiner Wurzel.116

Diese Potenzierung der natürlichen Kräfte durch die »Begeisterung« gehe auf eine »Hebung« des »Grundes der Seele« (fundus animae) zurück, in der diese »irgend etwas Höheres atmet und willig Dinge gewährt, die uns vergessen, nicht erfahren, uns selbst und noch viel weniger anderen voraussehbar schienen.« Von diesem »Grund der Seele« hätte die Philosophie bisher nichts gewußt, deshalb sei die »außerordentliche Wirkung«, die dessen »Hebung« habe, den Göttern zugeschrieben worden.117 Die besonderen Gelegenheiten, bei denen sich diese Hebung des Seelengrundes ereigne, seien eine »bestimmte Bewegung und Regung des Leibes, vor allem bei einem etwas melancholischen Temperament, zum Beispiel während eines schnelleren Rittes«, was vielleicht der Grund dafür sei, daß so viele Gedichte auf Reisen entstünden.118 In seiner deutschen Fassung der »Aesthetica« wird Georg Friedrich Meier an dieser Stelle selbst poetisch gestimmt, wenn er einen »angenehmen und lustigen Spatziergang« als poetische Stimulans zur Hebung des Seelengrundes empfiehlt: »Ein Wald, eine Wiese mit tausenderley Blumen durch würkt, das Rieseln eines Bachs, das Laub der schwancken Aeste, welches ein Westwind bewegt, der melodiereiche Gesang der Vögel, und tausend andere Reitzungen der Natur erquicken die Sinne, und erhitzen die Einbildungskraft.«119 Die Notwendigkeit einer Anregung der Körper-

_____________ 115 Baumgarten: Ästhetik § 79. 116 Baumgarten: Ästhetik § 78. 117 Baumgarten: Ästhetik § 80. Zum Begriff des fundus animae vgl. Adler: Prägnanz S. 26-48. Von Baumgarten abhängig ist die anonyme Abhandlung Von der Begeisterung (1763). 118 Baumgarten: Ästhetik § 81. 119 Meier: Anfangsgründe § 244, S. 579.

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säfte und Lebensgeister ist für Meier auch der Grund dafür, daß man Dichter so oft in ihren Stuben hin und hergehen höre.120 Wer ohne eine solche Begeisterung dichte, gehört für ihn zum »kriechenden Ungeziefer des Parnaß«, zu den »Zwergen des Helicons«.121 Durch die Notwendigkeit der Begeisterung steht die Dichtung dem bürgerlichen Erwerbsstreben eher konträr gegenüber. Wer eine »beschwerliche Lebensart« habe und fleißig sei, könne schwerlich Dichter sein. Die größten Dichter hätten entweder keinen Beruf gehabt, der sie sehr in Anspruch genommen habe, oder aber sie wären in diesem Beruf nicht fleißig gewesen.122 Neben der körperlichen Bewegung, der Naturbetrachtung und Muße erklärt Baumgarten die »schwierigen Wechselfälle dieses Lebens«, Anregung durch die Lektüre, Wein, Liebe oder Affekte wie Entrüstung, Trauer oder Fröhlichkeit als poetische Stimulantien. Insbesondere in der Jugend, wenn »die unteren Erkenntnisvermögen in der Seele in Erscheinung treten«, sei diese Erhebung des Seelengrundes, wie sie sich durch die Anregung der Lebensgeister und die dadurch verursachte »Erhitzung« der Einbildungskraft ereignet, poetisch fruchtbar.123 Damit gibt Baumgarten in seiner »Aesthetica« nicht nur einen umfassenden Katalog der Gelegenheiten, zu denen fortan »Lyrik« geschrieben werden wird, sondern beschreibt mit der »Hebung des Seelengrundes«, in der sich die Fähigkeiten der Seele potenzieren, genau die vor- und überrationale, »ästhetische« Stimmung, in der der Dichter Zugang zu den Teilen seiner Seele bekommt, die ihm mit der Vernunft nicht zugänglich sind. Den Begriff des Genies trägt Mendelssohn 1757 in seinen »Betrachtungen über die Quellen und die Verbindungen der schönen Künste und Wissenschaften« genau an dieser Stelle nach. Das Genie verfüge über eine »Vollkommenheit aller Seelenkräfte« und vermöge dadurch mehr als Geduld, Übung und Fleiß.124 Nicht die Nachahmung sei das verbindende Prinzip der schönen Künste und Wissenschaften, sondern die Schönheit, durch welche die »Triebfedern unsrer Seele« (also die Lebensgeister) in größte Bewegung gesetzt würden.125 _____________ 120 121 122 123 124

Meier: Anfangsgründe § 244, S. 576. Meier: Anfangsgründe § 242, S. 572. Meier: Anfangsgründe § 244 S. 578. Baumgarten: Ästhetik § 82-92. Mendelssohn: Betrachtungen S. 171. Zum Begriff des Genies vgl. Kemper: Lyrik Bd. 6.2; Ostermann: Authentizität S. 89-107; Rosenthal: Geniebegriff; Schmidt: Genie-Gedanke; Schneider: Propheten S. 141-189; Wolf: Geniebegriff. 125 Mendelssohn: Betrachtungen S. 167 und S. 169.

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Durch das Genie spreche die Natur, und in dessen »glücklichen Augenblicken«, in denen es die Schönheit erschafft, ertappe man sie »gleichsam auf der Tat«. Durch »bloßes Nachdenken« könne man dieses Vermögen nicht ergründen. Auch Selbstbeobachtung tauge nicht, denn gerade in diesen »glücklichen Augenblicken« sei die Seele so beschäftigt, daß sie nicht gleichzeitig noch wahrnehmen könne, was in ihr vorgehe.126 Die neue Gattung der ›Lyrik‹ steht damit in einem schwierigen Verhältnis zu Gelehrsamkeit und Vernunft. Das Gedicht, das in einem Moment der »Erhebung des Seelengrundes« als ein Aufscheinen des Vergessenen und Vorbewußten entsteht, als das »Erhabene« im wörtlichen Sinne, ist nicht von rationalem Kalkül durchdrungen, sondern ein Ergebnis der Affekte. Das rationale Kalkül und die – rhetorische oder argumentative – »Ordnung«, die sie dem Gedicht aufzwingt, steht im Widerspruch zu dem Moment der »Begeisterung«, in dem sich der dunkle Grund der Seele hebt und das Gedicht hervorbringt.

Herder »Allein Ordnung! Was hat der Dichter damit zu thun? [...] Nichts ist der Begeisterung eines wahren Dichters mehr zuwider«127 rufen Lessing und Mendelssohn 1755. Die »schöne Unordnung der Ode« (Boileau), die rational nicht erklärbare und deshalb ›kunstlose‹, ›affektive‹ Ordnung eines Gedichts, in enthusiastischer ›Begeisterung‹ entstanden, ist der Keim, aus dem sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Lyrik als »Muttersprache des menschlichen Geschlechts« (Hamann, 1762) entwickelte.128 Die ›Lyrik‹ als ›Ausdruck‹ eines Gefühls, eines ›Ich‹, eines ›Erlebnisses‹ oder ganz allgemein als ›Subjektivität‹ entsteht aus der rhetorischen und logischen »Unordnung« des Affekts, in dem der Dichter »steht«, wenn er dichtet. Als »unstudierter Ausdruck der Empfindungen« steht die Ode damit auch am Anfang der Dichtung überhaupt, wie Schlegel bemerkt. Die ältesten erhaltenen Gedichte, nämlich die Psalmen, seien als Ausdruck der Natur alles andere als artifizielle und kunstvolle »Nachahmung der Natur«. Wenn aber die Dichtung in ihrem Ursprung ein solcher Ausdruck der _____________ 126 Mendelssohn: Betrachtungen S. 167. 127 Lessing und Mendelssohn: Pope S. 415. 128 Hamann: Aesthetica S. 197.

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Affekte war, dann kann sie mit allem Recht der Natur auch heute noch ein solcher Ausdruck sein, ja in ihrem Kern wird sie nie etwas anderes sein.129 Die wahre Dichtung ist Musik, die unmittelbar aus dem Herzen fließt. Auch damit hat sich eine Wende vollzogen. Morhof hatte 1682 dem Odendichter nur empfohlen, beim Dichten einer Ode von der Musik auszugehen, um sich so in die richtige ›Stimmung‹ zu bringen. Für Gottsched war 1729, wie schon für Scaliger, die Musik zwar der Anfang der Dichtung, aber es war dieser Anfang ein ›kunstloser‹, der im Laufe der Zeit durch die Vernunft verbessert werden mußte. 1759 ist Friedrich Josef Wilhelm Schröder dagegen der Überzeugung, das Wesen der »lyrischen Poesie« sei die Musik, die ihrerseits wiederum nichts anderes ist als »ausgedrückte Empfindung«.130 »Wahrheiten, die das Herz nichts angehen« (wie »trockne« Abhandlungen), hätten in der »Form des Sylbenmaaßes« als einem unmittelbaren Ausdruck des Herzens nichts zu suchen. »Nein, wer Oden und Lieder singen will, der singe wirklich, ich meyne, er rede Empfindungen, oder lasse es lieber gar bleiben, wenn sein Herz dazu zu hart und zu hölzern ist.«131 Die Musik als unmittelbarer Ausdruck der Affekte ist das Wesen der »lyrischen Poesie«, das als überhistorisch angenommen wird. Wenn es das »Herz« ist, das singt, dann kann es keine zunehmende Verbesserung dieses Gesangs durch Regeln geben. Johann Gottfried Herder formuliert 1764 in seinen Entwürfen zu einer Abhandlung über die Ode die Kernsätze dieses neuen Paradigmas der ›Lyrik‹: »Das erstgeborne Kind der Empfindung, der Ursprung der Dichtkunst, und der Keim ihres Lebens ist die Ode.«132 Unter dem Titel des »Volksliedes« hat Herder angefangen, diese »erstgeborenen Kinder« zu sammeln und zu rekonstruieren. Die Geschichte der Dichtung führt nicht im Sinne des Neuplatonismus von den göttlichen Ursprüngen zu den bloß menschlichen Machwerken, sondern wie jede Geschichte von den einfachen zu den komplexeren Formen. Aus Denkfaulheit (»Gemächlichkeit«) verstand man eigentlich, was die Dichter metaphorisch gesagt hatten und legte der Dichtung einen göttlichen Ursprung bei. Man konstruierte eine Geschichte, die dem »Lauf der Natur« und der »Historie aller übrigen Künste, Wissenschaften, Werke _____________ 129 130 131 132

Schlegel: Vorrede zur Übersetzung von Batteux: Einschränkung S. XVII. Schröder: Über das Natürliche S. 72. Schröder: Über das Natürliche S. 86. Herder: Von der Ode S. 78. Zum folgenden vgl. Adler: Prägnanz, bes. S. 125-149 und Scherpe: Gattungspoetik S. 234-259. Zu Herders Odentheorie vgl. den Kommentar von Gaier zu seiner Edition, außerdem Kemper: Lyrik Bd. 6.2, S. 232-238 und Ostermann: Authentizität S. 108-117.

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und Handlungen« völlig entgegengesetzt war, indem man nur für die Dichtung eine Vollkommenheit im Ursprung und eine darauf folgende Verschlechterung behauptete.133 Wie Vossius führt Herder die Überzeugung vom enthusiastischen Ursprung der Dichtung auf einen Betrug der Priester zurück. Dennoch bekommt die literaturgeschichtliche Konzeption Scaligers, Vossius' und Gottscheds bei Herder eine neue Wendung. Auch für Herder ist die Geschichte der Dichtung eine Geschichte des Fortschritts. Gleichzeitig aber ist sie auch eine Geschichte des Verfalls. Dieser Verfall besteht gerade in der Abkehr vom natürlichen Ursprung, indem die Menschheit den ursprünglichen Ausdruck der Empfindungen verlernte. Die Regeln einer künstlichen Poetik erstickten zunehmend die Sprache des Herzens. Die Entstehung der Poetik zerstörte die »Poesie«, »endlich haben wir Regeln, statt Poetischer Empfindungen […] und die Dichtkunst ist tot!«134 Das Genie verkümmert unter den trockenen Regeln der Vernunft. Auf den »Naturdichter« folgt der »Kunstpoet« und, an allerletzter Stelle, der »wissenschaftliche Reimer«.135 Herder deutet deshalb die Literaturgeschichte als eine Entwicklung der zunehmenden Entfremdung, in der die Dichtung immer mehr Zwecken (erst dem »Vergnügen« des delectare, dann dem »Nutzen« des prodesse) unterstellt wurde. Diese Zwecke waren dem eigentlichen Wesen der Dichtung, Ausdruck einer affektiven Entrückung zu sein, fremd. In dem Maße, in dem die Dichtung einer Nutzanwendung unterstellt wurde, entfernte sie sich von ihrem eigentlichen Wesen als unmittelbarer Ausdruck des Lebens. Dieser unmittelbare, affektiv gesteuerte Ausdruck des Lebens war der Enthusiasmus (»Wut«), erst nach und nach wurde dieser Ausdruck »abgemildert« zum Zweck der »Rührung«, später des »Vergnügens« und noch später der »Neigung zu gefallen«. An letzter Stelle stehe der »Grundsatz« (der »moralische Satz« Gottscheds) und der Nutzen durch Belehrung.136 Dieser zunehmenden Instrumentalisierung der Dichtung für außerdichterische Zwecke entspricht die Entwicklung von der Ode als »Ausdruck« oder »nächstes Kind« der Natur zum »kalten Lehrgedicht«, das dem »seichten Grundsatz« von der »Nachahmung der Natur« folge, wie es mit einer weiteren deutlichen Anspielung auf Gottsched heißt. Gerade dieses Prinzip verrate, warum es so wenig »Originalpoesie« gebe und sogar der »Schein der Empfindung« verloren und durch eine _____________ 133 134 135 136

Herder: Geschichte der lyrischen Dichtkunst S. 92. Herder: Von der Ode S. 85. Herder: Von der Ode S. 89. Herder: Von der Ode S. 92.

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»moralische Predigt über einen allgemeinen Satz« ersetzt worden sei. In den Anfängen der Dichtung, »den ersten Hymnen, Dithyramben, verliebten und Heldenoden«, in denen man meistens sein Gefühl besungen habe, könne man den »subjektiven Faden« jedoch noch aufspüren.137 Während der ›echte‹ Dichter, das ›Originalgenie‹ »im ganzen Strome des Affekts« schwimme, stehe der »Kunstpoet« mit seiner Staffelei bloß am Ufer und ahmt den Affekt nach.138 Der Affekt sei nicht mehr die »Quelle«, sondern nur noch das »Muster« der Ode.139 Während die Ode des »Naturdichters« »nicht Nachahmung«, »nicht eine Statue, noch ein leeres Gemälde« ist, sondern »ein lebendiges Geschöpf«,140 »vom sinnlichen Affekt und der trunknen Einbildungskraft geführt«, ist das Werk des »Kunstpoeten« von Geschmack und Wissenschaft geleitet.141 Schillers Unterscheidung des »Naiven« und »Sentimentalischen« kündigt sich deutlich an. Auch Herder kämpft mit dem Paradox des nachgeahmten Affekts, denn er ist sich sicher, daß aus der »Empfindung der Natur« »doch wohl nie eine Ode fließen« werde. Wenn Klopstock über dem Leichnam seiner Frau weine, dann sehe er dort keine Engel stehen.142 Die gleichzeitige Notwendigkeit des Affekts, um den Leser affektiv anzusprechen – Herder zitiert das »si vis me flere« des Horaz –, interpretiert auch Herder als eine Form der Identifikation. Allerdings soll sich der Dichter nicht mit den Gefühlen der dargestellten Person identifizieren, sondern mit denen des Zuhörers. Der Dichter schildere nicht »wahre Empfindungen, sondern ein Perspektiv von ihnen, in dem sie der andre siehet«.143 Der Dichter müsse den »Gesichtspunkt« des Lesers einnehmen und die Empfindungen so schildern, daß er die Empfindungen des Lesers wecke. Gelinge ihm dies, so habe er diesen »künstlich mit der Wahrheit hintergangen«.144 Die Ode ist ein »perspektivisch gezeichnetes Gemälde des Affekts«.145 Herder beschreibt diese paradoxe Konstruktion als eine »Logik des Affekts«.146 Paradox ist diese Konstruktion, als für Herder selbst Vernunft und Gefühl Gegensätze sind. Es ist dasselbe Paradox, das _____________ 137 138 139 140 141 142 143 144 145 146

Herder: Von der Ode S. 89. Herder: Von der Ode S. 91. Herder: Von der Ode S. 93. Herder: Von der Ode S. 94 f. Herder: Von der Ode S. 96. Herder: Von der Ode S. 67, ähnlich S. 95. Herder: Von der Ode S. 68. Herder: Von der Ode S. 68. Herder: Von der Ode S. 95. Herder: Von der Ode S. 90.

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in der Tatsache zum Ausdruck kommt, daß die rhetorischen, ›künstlichen‹ Figuren von Inversion und Aposiopese ›natürliche‹ Affekte zum Ausdruck bringen. Ganz ähnlich wie Herder hat im selben Jahr Mendelssohn das Problem in seinem »275. Literaturbrief« gelöst. Mendelssohn deutet die »schöne Unordnung« in einem höheren Sinne wieder als Ordnung, nämlich als »Ordnung der begeisterten Einbildungskraft«. Diese Ordnung unterscheide sich grundsätzlich von der Ordnung der Vernunft, indem diese die Begriffe logisch auseinander entwickle, die »begeisterte Einbildungskraft« aber nach dem Grad der »Lebhaftigkeit«. Mendelssohn definiert die Ode als »eine einzige ganze Reihe höchst lebhafter Begriffe«. Die »anscheinende« Unordnung der Ode entspringe aus der Tatsache, daß der Odendichter die »Mittelbegriffe, welche die Glieder mit einander verbinden«, überspringe.147 Gleich darauf heißt es sogar, die »Anlegung des Plans zu einem Gedichte« sei überhaupt kein »Werck der Begeisterung«, sondern der »überlegenden Vernunft«. Die Vernunft müsse überdenken, »was die feurige Begeisterung für einen Weg nehmen würde«. Die eigentliche Schwierigkeit der Ode bestände deshalb darin, daß der Dichter zugleich nachdenken und empfinden müsse.148 Was für die Ode noch angehen mag, ist für Epos und Drama schwer nachzuvollziehen. Aus diesem Grund erklärt Herder die Konstruktion einer Handlung, wie sie Epos und Drama erfordern, in der Geschichte der Dichtung für eine späte und abgeleitete Erscheinung. Am Anfang stand das »Odengenie«, das unmittelbar seinem Gefühl Ausdruck verlieh. Das »Odengenie« ist, mit den Worten Morhofs, den Herder – ohne Namensnennung – zitiert, »das Göttliche der Natur«. Es ist das »ursprünglichste, der Samenkeim«, aus dem sich dann die anderen Gattungen entwickelten und das »im Keim den individuellen Zug des Dichters« enthalte. »Kurz, Genie der Ode ist der Maßstab der ganzen Poetischen Seele«.149 Der Urzustand dieses »Odengenies«, in dem es »bei lebendigen Vorfällen« seinem Gefühl Ausdruck verleiht, ist der Enthusiasmus, die »Poetische Wut«, »das Originalgenie eines Idealpoeten«.150 Wo der Roman oder das Drama an der Ursprünglichkeit der Ode teilhaben wollen, müssen sie in einer enthusiastischen Entrückung verfaßt worden sein. Shakespeare gilt jetzt als ein solches Genie, das ohne Regeln und rationale Kontrolle seine Dramen aus sich herausgeworfen hat. Die Stürmer und Dränger versuchen, es ihm gleichzutun. _____________ 147 148 149 150

Mendelssohn: Briefe, die Litteratur betreffend S. 586. Mendelssohn: Briefe, die Litteratur betreffend S. 587. Herder: Von der Ode S. 77. Herder: Von der Ode S. 90.

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»Die Leiden des jungen Werthers« (1774) schreibt sich Johann Wolfgang Goethe von der Seele, wie man noch lange später lesen kann, womit eine enthusiastische Entrückung bezeichnet ist. Wie »künstlich« dieser Enthusiasmus ist, zeigen wieder die Inversionen, Aposiopesen und Exclamationen, deren kunstvolle Verwendung in der Prosa des »Werther« – ganz zu schweigen von seinen metrisch geformten Passagen – von ihrer Herkunft aus den Paradoxien des nachgeahmten Affekts künden. Goethe selbst hat sich schon ganz als »Originalgenie« erlebt. Wenn er in »Dichtung und Wahrheit« die Äußerungen seines Genies als Äußerungen der Natur beschreibt, ist er sich der langen Entwicklung, in der er damit steht, nicht mehr bewußt. Goethe glaubt an sein »Genie«. Auch wenn er sein »dichterisches Talent« hätte stimulieren können, sei dieses doch am »freudigsten und reichlichsten« hervorgetreten, wenn es »unwillkürlich, ja wider Willen« angeregt worden sei.151 Seine eigene Leistung beschreibt Goethe als eine Aufzeichnung der Hervorbringungen der Natur. Diese Aufzeichnung ist einem Diktat ähnlich, das auf keinen Fall durch äußerliche Ablenkungen unterbrochen werden durfte. Die Natur spricht durch den Enthusiasmus des Genies: Ich war so gewohnt mir ein Liedchen vorzusagen, ohne es wieder zusammen finden zu können, daß ich einigemal an den Pult rannte und mir nicht die Zeit nahm einen quer liegenden Bogen zurecht zu rücken, sondern das Gedicht von Anfang bis zu Ende, ohne mich von der Stelle zu rühren, in der Diagonale herunterschrieb. In eben diesem Sinne griff ich weit lieber zu dem Bleistift, welcher williger die Züge hergab; denn es war mir einige Mal begegnet, daß das Schnarren und Spritzen der Feder mich aus meinem nachtwandlerischen Dichten aufweckte, mich zerstreute und ein kleines Produkt in der Geburt erstickte.152

Dieses »nachtwandlerische Dichten« ist es, das Baumgarten als eine Hebung des »dunklen Grundes der Seele« beschrieben hatte. Das Gedicht als Ausdruck eines momentanen Gefühls, eines zutiefst persönlichen, individuellen und unwiederholbaren ›Erlebnisses‹, in seiner Entstehung aus den Umständen und dem affektiven Zustand des Dichters genau zu datieren, ist damit geboren. »In der Postchaise d. 10 Oktbr 1774« datiert Goethe seine Ode »An Schwager Chronos«, und in der Nacht vom 6. 9. 1780 schreibt er, mangels Papier, sein »Über allen Gipfeln ist Ruh« an die Wand der Jagdhütte am Kickelhahn. Der Entstehungskontext beider Gedichte entspricht Baumgartens Beobachtungen zur ›spirituell‹ anregenden Tätigkeit von Lektüre, Reise und Bewegung an der frischen Luft. _____________ 151 Goethe: Dichtung und Wahrheit IV.16, S. 716. 152 Goethe: Dichtung und Wahrheit IV.16, S. 716 f.

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Die entstehende »Lyrik« ist eine besondere Form der Körpertechnik als einer Stimulierung durch äußere ›Erlebnisse‹, denen sich der Dichter bewußt aussetzt, um die ausgelösten Gefühle aufschreiben zu können. Das »lyrische Ich« als ein Ich im Zustand der affektiven Entrückung ist das Ergebnis einer grundsätzlichen Umdeutung, in der das »Künstliche« für unorginell und schlecht, das »Natürliche« aber, wie es als Affekt im Zustand der Begeisterung aus dem »dunklen Grund der Seele« aufsteigt, für schön erklärt wurde.

Ausblick Ausblick Am Ende der Entwicklung steht, wie an ihrem Anfang, das Paradigma der Wahrheit. Denn nichts anderes ist es, was mit dem ›Ausdruck‹ der Affekte als Diktat der Natur zur Forderung erhoben wird. Der Dichter soll keine ›künstlichen‹ Lügen erdenken, sondern den Leser ergreifen, indem er einen Gefühlszustand in seiner größtmöglichen Wahrheit zum Ausdruck bringt. Der Dichter macht sich durchlässig für die Aussprache der Natur. Als vorbewußte Instanz spricht die Natur durch Bilder und Gefühle, nicht durch die logischen Formen der Vernunft. Dichten wird zu einem vorrationalen Akt der Natur, der an Wahrheit einbüßt, je weiter er sich von der Natur entfernt. Baumgarten, in dessen »Aesthetica« wichtige Elemente dieser Ausdrucksästhetik formuliert werden, beruft sich explizit auf die eingangs zitierte augustinische Bestimmung der Dichtung als »Figur der Wahrheit«. Es entspricht dieser Bewegung, daß das Interesse am Handlungsbegriff der aristotelischen »Poetik« schon am Ende des 18. Jahrhunderts wieder nahezu erloschen ist. Die aristotelische »Poetik«, die die Dichtung als Handlung definiert, mithin als rational kontrollierten Akt der Vernunft, hat den Empfindsamen, den Stürmern und Drängern, den Romantikern nichts mehr zu sagen. Shakespeare ist als ›Naturdichter‹ und geborener Antiaristoteliker ihr Modell. Gleichzeitig hat sich am Ende des 18. Jahrhunderts die Legitimität der Fiktion durchgesetzt, auch wenn die Pietisten noch lange vor der Romanlektüre warnen. Das Problem ist mittlerweile nicht mehr die Verteidigung der Fiktionalität gegenüber dem Vorwurf der Lüge, sondern die Tatsache, daß die Fiktionalität als hervorstechendes Kennzeichen des Romans zunehmend in den ›Unterhaltungsbereich‹ abgedrängt zu werden beginnt. Je fiktionaler der Roman, je weiter er sich von der Darstellung der Wirklichkeit als der Wahrheit entfernt, je weniger er Gleichnis, Allegorie oder Parabel ist, desto weniger wird er ernst genommen. Während die Wahrheit das Paradigma der Dichtung bleibt, wird die Fiktion ohne Wahrheitsanspruch nicht mehr als Dichtung wahrgenommen. Am Ende der Arbeit steht damit der doppelte Begriff der Dichtung, wie er das 19. und 20. Jahrhundert beherrschen wird. Auf der einen Seite entsteht eine Theorie der Fiktionalität, die sich vorwiegend als Roman-

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theorie formiert und zunehmend auf handwerkliche Aspekte konzentriert. Sie steht in der Tradition der aristotelischen »Poetik«, ohne sich dieser Wurzeln je bewußt geworden zu sein. Als Dichtung gilt diesem Begriff entsprechend, was sich durch Fiktionalität auszeichnet und als erfundene Handlung in einem rational kontrollierten Schreibvorgang entstanden ist. Der angelsächsische Sprachgebrauch bedient sich dafür, sehr treffend, des Begriffes der »fiction«, im Französischen und Deutschen spricht man von »Literatur«. Als ›echte‹ Dichtung gilt dagegen, was im Enthusiasmus eines ausgezeichneten, affektiv erregten, besonders begabten Individuums verfaßt wurde, im allgemeinen in Versform oder zumindest in »poetischer Schreibart« geschrieben ist und eine Wahrheit zum Ausdruck bringt, die sich nicht begrifflich formulieren läßt. Erhabenheit, schwere Verständlichkeit und eine spezifisch melancholische Stimmung gehören zu den Merkmalen, die dieser Begriff der Dichtung aus seiner Vorgeschichte übernommen hat. Im Englischen spricht man von »poetry«, im Französischen von »poesie«, im Deutschen von »Lyrik« oder »Poesie«. Es gehört zur spezifischen Ausprägung dieses doppelten Dichtungsbegriffes gerade im Deutschen, daß die »Literatur« mit dem Roman als Modell einer sozial und intellektuell tieferen Ebene zugerechnet wird als die »Lyrik«. Je stärker sich der einzelne Roman über seine Fiktionalität definiert (bis hin zum »Genre« des Abenteuer- oder Kriminalromans), desto weniger Wahrheit bringt er zum Ausdruck. Je weniger Wahrheit er zum Ausdruck bringt, desto weniger ist er Dichtung und literarisch wertvoll. Wenn der Roman ernst genommen werden will, muß er an der Wahrheit partizipieren, ansonsten degeneriert der Dichter zum Romancier und der Roman zum Broterwerb. Schon früh entwickelt sich deshalb ein spezifischer ›Kunstroman‹, der am Wahrheitsanspruch der Lyrik partizipiert und im Gegenzug auf fiktionale Elemente verzichtet. Der »Werther« ist für diesen ›Kunstroman‹ paradigmatisch. Den eigentlichen Gegensatz zum Unterhaltungsroman bildet die Zweckfreiheit der Lyrik. Der Begriff der Lyrik befreit sich im Laufe des 18. Jahrhunderts von allen Schlacken, die ihn noch an seine irdische Vorgeschichte binden. Dazu gehören an erster Stelle die Reste der Regelpoetik und die gelehrten Inhalte, an zweiter Stelle der jetzt als »Gelegenheit« abqualifizierte Zweck der Dichtung. In diesem Zweck erhob sich nicht der dunkle Grund der Seele in einer affektiven Erregung zu einem notwendigerweise schwer verständlichen Gedicht, sondern in dieser »Gelegenheit« sprach sich ein rationales Anliegen in verständlicher Form aus. Die Kasualdichtung, die in der Frühen Neuzeit noch das Bild der Dich-

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tung prägte, wird von der erhabenen »Lyrik« zunehmend an den Rand und schließlich aus dem Begriff der Dichtung hinausgedrängt. Je stärker die »Lyrik« zum Ausdruck eines genialischen Individuums wurde, desto mehr wird der gelehrte, technisch versierte, rational konstruierende, sich an Regeln haltende Dichter tatsächlich zum »Gelegenheitsdichter« als einer schlechten und minderen Ausprägung des ›echten‹ Dichters, des ›Sängers‹ ewiger Wahrheiten. Als »Unterhaltungslyrik«, vor allem in ihrer heiteren und komischen Variante, rutscht diese »Gelegenheitsdichtung«, ähnlich dem Unterhaltungsroman, in einen Bereich ab, der nicht mehr als ›echte‹ Dichtung gilt. Die Wahrheit ist ein ernstes Geschäft.

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Register Personen- und Werkregister Abraham de Balmes 14 Abraham 246 Abu Bishr Matta 13 Achilles Tatius 112, 162 Achilles 128 Admet 45 Afranius 245 Aglaophemus 213 Agli, Peregrino 198, 212 Agricola, Rudolf 49–51, 58 Aiax 260 Aischines 55 Aischylos 245, 280 Alanus ab Insulis 43 Albertus Magnus 112, 246 Alcestis 45 Alfarabi 16 Alkaios 229 Alsted, Johann Heinrich 103–4, 267 Amadis-Romane 40, 94, 154 Ambrosius 26, 257, 278 Ammonius 35, 66 Amphion 281, 283, 292, 306 Anakreon 205 Anton Ulrich, Herzog von BraunschweigWolfenbüttel 121, 125 Apollinaris 122 Apollon 60, 180, 197, 200, 212, 222, 230, 237, 248, 249, 251, 264, 286 Apuleius 53, 55, 56, 57, 83, 94, 112 Archimedes 204 Ariost, Ludovico 292 Aristäus 306 Aristophanes 32, 73, 229 Aristoteles Erste Analytik 21, 23, 24, 247 Organon 21, 22, 30, 31, 35, 37, 39, 50, 246 Peri hermeneias 21 Physik 44

Poetik (frühe Erwähnungen) 49, 53, 63, 64, 68, 73, 74, 78, 80 Poetik 1447b (Versform als Kriterium) 3, 18, 56, 68, 69, 83, 86, 93, 101, 135, 147, 149, 161, 163, 170 Poetik 1448a (bessere und schlechtere Menschen) 4, 15, 34, 78 Poetik 1448a (Nachahmung von Handlung) 3, 16, 54, 67, 68, 80, 82, 83, 86, 93, 127, 149, 160, 164, 171, 176, 177 Poetik 1448b (angeborenes Nachahmungsbedürfnis) 18, 84, 154 Poetik 1448b (Entstehung aus Improvisation) 155, 162, 169, 236, 292 Poetik 1449b (Katharsis) 4, 31, 34, 35, 67, 81, 89, 90, 96, 109, 117, 123, 127, 128, 137, 143, 150, 157, 160, 169 Poetik 1450a (Handlung als Seele) 3, 39, 40, 80, 86, 92, 98, 100, 112, 121, 135, 153, 161, 167, 177 Poetik 1450a (qualitative Teile der Tragödie) 18, 81, 100 Poetik 1450a (Vorrang der Handlung gegenüber den Charakteren) 142, 160 Poetik 1451b (philosophischer Charakter der Dichtung) 3, 17, 32, 42, 56, 79, 83, 85, 86, 92, 94, 100, 115, 118, 136, 141, 147, 150, 154, 161, 164, 167, 168, 172, 176 Poetik 1452a (einfache und komplexe Fabeln) 109, 119 Poetik 1452a (Peripetie) 3, 39, 89, 109, 154, 159 Poetik 1452b (Anagnorisis) 3, 39, 89, 109, 154, 159 Poetik 1452b (quantitative Teile der Tragödie) 80, 81

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Poetik 1453a (Hamartia) 39, 95, 119, 137, 150 Poetik 1453a (mittlerer Charakter des Helden) 19, 91, 95, 110, 117, 123, 128, 137, 154, 159 Poetik 1453b (Pathos) 3, 89, 154 Poetik 1455a (begabte oder entrückte Dichter) 224–26, 229, 233, 235, 275, 278, 281, 293, 297 Poetik 1459a (Ähnlichkeiten erkennen) 105 Poetik 1460a (Paralogismus) 32–33, 168 Poetik 1460a (Vorzug des Wahrscheinlichen) 114 Poetik 1460b (Arten der Nachahmung) 130, 141 Rhetorik II.20 (Klassifikation Beispielargumente) 107, 115, 132, 176 Rhetorik 21, 35, 67, 75 Sophistische Widerlegungen 21, 23, 35 Topik 21, 23, 35 Zweite Analytik 21, 23, 35 Arndt, Johann 184–86 Arnold, Gottfried 187 Artus-Romane 40 Äsop 40, 140, 239, 252, 256 Athene 33, 114, 127 Augustinus Moravus 237, 238–39 Augustinus 1, 26, 112, 243, 246, 255, 257, 331 Averroes 13–21, 25, 29, 30, 34, 35, 38, 43, 44, 49–52, 66, 70, 83, 98, 131, 134, 153, 154, 159, 168, 172, 245, 247 Avicenna 13, 16, 30, 235 Bachmann, Konrad vgl. Gießener Poetik Badius Ascensius, Jodocus 72, 257–59 Balde, Jacob 125, 277, 279 Baptista Mantuanus 252 Barclay, John 270 Barinus, Jacob 240–41, 244 Batteux, Charles 311, 318, 319 Baumgarten, Alexander 132, 143–49, 151, 173, 175, 313, 323, 328, 331 Bebel, Heinrich 48–49, 252 Beni, Paolo 12 Bernhard, Hl. 117 Bersmann, Gregor 65 Bibel 23, 27, 28, 45, 60, 146, 253, 256 1. Buch Mose 214 1. Tim. 4.7 1

Register

Buch Judith 75 Buch Tobias 75, 122 Gleichnisse, neutestamentliche 27, 28, 41, 76, 117, 132 Lk 15.11-32 116 Mt 10.28 96 Mt 20.1-16 116 Propheten 26, 106, 181, 246, 257, 278 Psalmen 40, 65, 66, 181, 190, 192, 250, 257, 263, 290, 314, 323 Birken, Sigmund von 121–26, 140, 281– 82 Blanckenburg, Friedrich von 173 Boccaccio, Giovanni 40, 44, 47, 245 Bodmer, Johann Jakob 138, 142, 293, 315–17 Boethius 44 Böhme, Jacob 184, 189 Boileau, Nicolas 308, 323 Brämer, Carl Friedrich 142, 170–73, 176 Brant, Sebastian 249, 252–54 Breitinger, Johann Jakob 138–42, 142, 146, 147–51, 293, 316–17 Breslauer Anleitung 131, 289–90, 310, 312 Bruni, Leonardo 197 Buchler, Johann 82 Buchner, August 103, 269–70 Buridan, Jean 250 Busche, Hermann von dem 48, 252 Buttlar, Eva von 190 Caelius Rhodiginus, Ludovicus 218 Caesarius, Johannes 75 Camerarius, Joachim 77–79, 101 Campanella, Tommaso 39–42 Caselius, Johannes 65 Castelvetro, Ludovico 12, 109, 221, 225– 26, 235, 266 Cato 137 Catull 41, 252 Celtis, Konrad 52, 70, 51–52, 244, 248, 254 Christophorus, Hl. 61 Christus 27, 28, 60, 61, 115, 125, 132, 255, 264 Chytraeus, David 62–63, 64 Cicero 47, 48, 55, 83, 233, 240, 252, 266, 274, 276, 296 Rede für Archias 197, 262 Claudian 105, 296, 298 Clemens Alexandrinus 250 Comenius, Johann Amos 191

Personen- und Werkregister

Copius, Bernhard 63 Corvinus, Matthaeus 239–40 Crinitus, Petrus 214 Curtius, Michael Conrad 173, 174, 293 Cuspinian, Johannes 244 Cyprian 250 Czepko, Daniel 191 Dacier, André 134 Dalberg, Johann von 244 Dämonen 211, 220, 221, 234, 238, 241, 254, 255, 281, 282, 303 Dante 198, 205, 215, 216, 243 David 45, 103, 240, 244, 250, 251, 256, 268, 286 Demokrit 250, 264, 265, 274, 320 Demosthenes 47 Derwische, türkische 243 Desmarets, Jean 110 Diana 60 Dilherr, Johann Michael 107 Dio Chrysostomus 296 Dion von Prusa 54 Dionysos 197, 200, 292 Donat 71, 72, 75, 77, 84, 99, 123, 158 Komödie als Spiegel 2, 4, 33, 71, 107, 123, 140 Donati, Alessandro 111, 274–76 Donne, John 303 Dringenberg, Ludwig 45 Dukas, Demetrius 11 Dunkelmännerbriefe 48 Duns Scotus, Johannes 250, 252 Egloge Theoduli 44 Elisabeth, Hl. 243 Empedokles 3, 68, 93, 101, 147, 164 Ennius 229, 258 Erasmus, Desiderius 51, 58, 129, 181, 253 Antibarbari 48 Colloquia 77 De copia 52, 64 De ratione studii 48 Ecclesiastes 59 Ecclesiastes 62 Lob der Torheit 270 seine Aristoteles-Ausgabe 12, 53 Eratosthenes 102 Euripides 79, 174, 250 Eusebius 250 Evanthius 70, 72, 75 Fabricius, Georg 64–65, 79, 97, 101

379

Feller, Joachim 166 Ficino, Marsilio 5, 23, 29, 179–80, 193, 197–215, 222, 223, 231, 237–44, 253– 55, 259, 261, 274 Finck, Kaspar vgl. Gießener Poetik Fleming, Paul 304, 306 Fonte, Bartholommeo della 215, 247 Fortunatius 257 Fracastoro, Girolamo 158, 224, 226 Frachetta, Girolamo 226 Franciscus, Hl. 244, 258 Franck, Sebastian 184 Freidank 243 Freigius, Thomas 69 Frischlin, Nikodemus 100 Fulgentius 251, 254 Galen 220, 260, 264 Garzoni, Tomaso 278 Geist, Heiliger 23, 26, 181–90, 255, 257, 268, 272–74, 278, 281, 282, 298–301 Gentili, Scipione 66–67 Georg, Hl. 122 Gerhard, Johann 185 Gerhardt, Paul 186 Giacomini, Lorenzo 227 Gießener Poetik 97–100, 266–67 Goclenius, Rudolf 63 Goethe, Johann Wolfgang 315, 328–29, 332 Gossenbrot, Sigismund 45–46 Gottsched, Johann Christoph 128, 130, 170, 171, 174, 191, 192, 291–92, 309– 11, 315, 316, 324, 325 Gratius, Ortwin 47–48, 252 Greiffenberg, Catharina Regina von 186, 191 Grimmelshausen, Johann Jacob Christoffel 278 Grotius, Hugo 129, 167, 170, 298, 303 Gryphius, Andreas 126, 186, 285 Hagedorn, Friedrich von 312 Hallbauer, Friedrich Andreas 289 Hamann, Johann Georg 323 Hansch, Michael Gottlieb 287 Harsdörffer, Georg Philipp 104–10, 132, 278–79 Hasenstein, Bohuslaus von 244 Heermann, Johann 186 Heineken, Carl Heinrich 307–8 Heinsius, Daniel 39, 100, 101, 109, 138, 158–61, 163, 165, 170, 303 Heliodor 94, 112

380

Helwig, Christoph vgl. Gießener Poetik Heraklit 55 Herder, Johann Gottfried 291, 324–27 Herkules 260 Hermannus Alemannus 13, 15–21, 29, 31 Hermes Trismegistus 198, 213, 241 Herodot 42, 83, 94 Hesiod 55, 56, 59, 198, 205, 229, 235, 239, 244, 250, 255, 258, 306 Hesse, Eoban 62, 252, 263, 264 Hieronymus 26, 54, 243, 246 Hoffmann, Gottfried 125 Hoffmannswaldau, Christian Hofmann von 285, 286 Holofernes 76 Homer 41, 45, 54–61, 63, 66, 68, 83, 86, 92, 93, 105, 106, 128, 136, 146, 158, 162, 205, 215, 229, 244, 250, 253, 256, 263, 296, 305, 306, 319 Horaz 40, 43, 48, 86, 116, 119, 149, 170, 229, 242, 247, 257, 280, 285, 306, 308, 309 Ars poetica 30, 62, 63, 65, 69, 138, 145, 149 Ars poetica 103 (si vis me flere) 264, 266, 281, 309, 311, 326 Ars poetica 295 ff. (schließt gesunde Dichter vom Helikon aus) 264, 274, 320 Ars poetica 333 (prodesse et delectare) 3, 33, 35, 45, 58, 80, 84, 91, 98, 109, 249, 325 Ars poetica 361 (ut pictura poesis) 3, 131, 142, 148 Huarte, Juan 224 Hugo von Sachsen 246 Isac ibn-Hunain 13 Jamblich 299 Jephtias 125 Jonas 115 Judith 76, 268 Julian Apostata 122 Juno 113 Jupiter 113, 114, 127, 213, 249 Juvenal 98, 247 Kaiphas 256 Kant, Immanuel 296 Karl V. 115 Karlstadt, Andreas Bodenstein von 183, 184 Keckermann, Bartholomäus 166

Register

Kempe, Martin 103, 120–21, 282 Kindermann, Balthasar 278 Kirchner, Hermann 66 Klaj, Johann 108, 279 Klingsor 243 Klopstock, Friedrich Gottlieb 146, 188, 193, 290, 295, 305, 308, 311, 314–15, 326 Knorr von Rosenroth, Christian 125 Konrad von Halberstadt 253 Kortholt, Sebastian 192, 306 Kuhlmann, Quirinus 189 LaFontaine, Jean de 319 Laktanz 1, 43, 45, 46, 48, 240 Landino, Cristoforo 27, 60, 88, 205, 215– 17, 237, 253, 256 Lang, Reiner 63 Lange, Samuel Gotthold 193, 308–9, 312–14 Lavinius, Petrus 60 LeBossu, René 128 Leibniz, Gottfried Wilhelm 144, 151 Leoninus, Petrus Ferrariensis 12 Lessing, Gotthold Ephraim 173–77, 224, 323 Linus 230, 281, 283, 306 Livius 93, 162 Locher, Jacob 49, 237, 248–51, 253, 254, 251–54, 258 Lohenstein, Daniel Casper von 126, 285, 292 Lombardi, Bartholomeo 11, 29–31, 38, 224, 225 Longin 290, 300, 305, 306–9, 317 Lot 45 Lotichius Secundus, Petrus 306 Lukan 40, 47, 62, 86, 250, 298 Lukian 53, 55, 56, 83 Lukrez 2, 81, 86, 98, 103, 306 Lupinus, Matthaeus 237, 242–44, 244 Luther, Martin 60, 61, 75–76, 122, 180– 84, 185 Macer 98 Macrobius 239 Maggi, Vincenzo 12, 29–31, 35, 39, 166, 169, 224, 225 Manilius 298 Mantino, Jakob 14 Manutius, Aldus 11 Manutius, Paulus 303 Marakos von Syrakus 206, 222, 275 Marchina, Martha 303

Personen- und Werkregister

Maria, Jungfrau 60 Marino, Giovanni Battista 288, 306 Martial 41, 252 Masen, Jacob 111–29, 132, 140, 165, 170, 276–77, 297 Medea 70 Meier, Georg Friedrich 143, 144, 146, 149, 174, 311, 314, 321–22 Melanchthon, Philipp 51, 58–61, 64, 79, 101, 129, 183, 184, 253, 259, 265, 270, 295, 303 Begabungslehre 259–64 Dramentheorie 72–75 Menander 239 Mendelssohn, Moses 143, 174, 175, 322– 23, 323, 327 Menenius Agrippa 139, 239 Mesnardière, Jules de la 109 Micyllus, Jacob 79, 80, 81, 101 Milton, John 146, 303, 317, 318, 319 Minerva 248 Minturno, Antonio Sebastiano 219 Mirabelli, Domenicus Nani 49 Molière 301 Montaigne, Michel de 228 More, Thomas 270 Morhof, Daniel Georg 192, 194, 288–89, 296–303, 306, 307, 312, 324, 327 Moses 66, 246, 256, 268, 281, 286, 306 Müntzer, Thomas 183, 184 Murmellius, Johannes 48 Musäus 40, 230, 246, 250, 306 Musen 197, 200, 212, 219, 248, 249, 251, 253, 254, 258, 264, 282, 285, 286 Muzio, Girolamo 219 Narziß 141 Negri, Antonio 110 Neukirch, Benjamin 285 Neukirch, Johann Georg 289 Neumark, Georg 120 Nicolai, Friedrich 174, 175 Nostradamus 306 Nythart, Hans 71 Ockham, William 250 Ödipus 70, 136, 137 Odysseus 45, 55, 56, 87, 215, 253 Omeis, Magnus Daniel 126, 289 Opitz, Martin 97, 100–103, 130, 169, 188, 190, 266–74, 278, 280, 285, 295 Oppian 102 Orpheus 40, 56, 66, 198, 205, 212–14, 230, 231, 235, 239, 241, 243–46, 248,

381

250, 251, 255, 256, 281, 283, 286, 292, 306 Orphische Hymnen 200, 211, 212, 213 Orth, Zacharias 65 Ovid 26, 60, 63, 240, 250, 252, 263, 264, 266, 306 Ars amatoria 40, 56, 264 Fasti 186, 243, 263, 264, 268, 271, 282, 283, 296 Metamorphosen 40, 58, 59, 68, 104, 127 Paracelsus 184 Patrington, Stephan 44 Patrizi da Cherso, Francesco 219–21 Paulinus von Nola 257 Pazzi, Alessandro 11, 29 Pegasus 113 Penelope 45 Persius 247, 258, 296 Perus, Johannes Dominicus 300 Petersen, Johann Wilhelm 191, 295 Petrarca, Francesco 40 Petronius 296 Petschmessingsloer, Christoph 43–44, 46 Peuerbach, Georg von 46–47 Pfeil, Johann Gottlob Benjamin 173, 174 Philolaus 241 Phokylides 98, 103 Phython 60 Piccolomini, Enea Sylvio 245 Pico della Mirandola, Gianfrancesco 303 Pico della Mirandola, Giovanni 211, 213, 214, 256, 303 Pindar 205, 233, 244, 280, 310, 314 Pithopoeus, Lambert Ludolf 65 Platon 33, 40, 55, 62, 67, 83, 184, 198, 204, 212, 213, 214, 215, 227, 228, 233, 234, 238, 240, 241, 243, 250, 256, 261, 264, 266, 270, 287, 296, 301, 305 Ion 5, 54, 201, 205, 212, 222, 226, 238, 250, 255, 259, 268, 300 Menon 222 Phädrus 5, 197, 203, 206, 222, 226, 238, 265, 268, 273, 281 Sophistes 103 Staat 28, 35, 242 Symposion 201, 204, 205, 241 Timäus 32 Plautus 47, 48, 74, 77, 247, 250 Plinius 239

382

Plotin 204 Plutarch 59, 88, 99 Pluto 264 Polich, Martin 244–48, 250, 253 Poliziano, Angelo 212, 303 Polydor Vergil 218 Pomponazzi, Pietro 193, 206, 221–24, 229, 234, 262, 266, 299, 302 Pontano, Giovanni 218 Pontanus, Jacob 82–85, 89, 90, 97, 99, 265, 266 Pope, Alexander 174 Posidonius 120 Praetorius, Abdias 64, 265 Problem 30.1 5, 193, 205, 220–23, 227, 229, 235, 243, 260, 261, 266, 275, 297, 304 Proclus 219 Properz 241, 247, 252 Prudentius 250 Pyra, Jacob Immanuel 142–43, 193, 295, 314, 315 Pythagoras 98, 204, 213, 214, 238, 239, 241, 256 Quintilian 61, 105, 271, 281, 316 Rabelais, Francois 230, 231 Ramus, Petrus 67–69 Rappolt, Friedrich 138, 166–70, 173, 192, 281 Reuchlin, Johannes 252, 299 Rhagius, Johannes (Aesticampianus) 252 Rhetorica ad Herennium I.13 87, 107, 115, 258 Rhodiginius, Caelius 88 Riccardini, Benedetto 74 Riccius, Stephan 75 Riccoboni, Antonio 12, 36, 38–39, 225 Rinckart, Martin 186 Rist, Johann 186 Robortello, Francesco 12, 31–34, 39, 160, 168, 224, 225 Ronsard, Pierre de 65, 231, 259, 304, 305 Rossi, Gian Vittorio 300 Rotth, Albrecht Christian 126–29, 134, 140, 192 Sabinus, Georg 58, 65, 80, 303 Sachs, Hans 283, 303 Salomon 240, 250, 251 Salutati, Coluccio 33 Samson 45 Sannazaro, Iacopo 105 Sappho 205

Register

Sarbiewski, Maciej Kazimierz 85–91, 267–68 Sardus, Gasparus 22 Saturn 33 Saul 256 Savonarola, Girolamo 22–28, 29, 30, 51, 144, 179, 183, 245, 247, 252 Scaliger, Julius Cäsar 86, 97, 98, 101, 109, 111, 130, 149, 154–58, 161, 162, 166, 169, 229–32, 233, 236, 266, 271, 281, 286, 291, 292, 297, 316, 324, 325 Scarron, Paul 304, 306 Scheffler, Johannes (Angelus Silesius) 189, 191 Schiller, Friedrich 326 Schlegel, Johann Adolf 143, 311, 312, 318–19, 323 Schlegel, Johann Elias 142, 170, 173, 318 Schosser, Johannes 80–82 Schottel, Justus Georg 130, 283 Schröder, Friedrich Josef Wilhelm 324 Schwartz, Sibylla 303 Schwenckfeld, Caspar von 183, 184 Schwenter, Pangratz 237 Segni, Agnolo 219 Segni, Bernardo 12 Seneca 70, 79, 101, 167, 174, 267 Shakespeare, William 327, 331 Sibyllen 66, 206, 216, 222, 235, 242, 250, 255, 257, 258, 268, 281, 283, 303 Silius Italicus 105 Sintzenhof, Georg von 250 Sokrates 204, 205 Solon 103 Sophokles 77, 78, 83, 136, 137, 250 Spener, Philipp Jacob 186 Statius 250, 298 Stigel, Johann 61, 65, 265 Stolle, Gottlieb 285–86 Strabo 169 Sylburg, Friedrich 13 Synesius 270 Tabula Cebetis 270 Talon, Omer 68 Tasso, Torquato 65, 227–28, 300, 304, 305 Taubmann, Friedrich 296 Terenz 47, 48, 70–74, 77, 165, 247, 250, 257 Terenz-Ausgabe, Straßburger 71–72 Teufel 26, 46, 60, 249, 252, 264, 281, 301 Themistius 43

Personen- und Werkregister

Theognis 98 Thomas von Aquin 25, 27, 38, 245–47, 252 Thomas, Hieronymus 97, 267 Thomasius, Christian 129–30, 192, 194, 286–87, 300–303 Thukydides 162 Thyestes 70 Tibull 252 Tiresias 306 Todros Todrosi 14 Tscherning, Andreas 272 Tynnichos von Chalcis 205, 222, 226, 255 Vadian, Joachim 62, 254–58 Valla, Giorgio 11, 14 Valla, Lorenzo 181 Vega, Lope de 303 Venus 197, 200 Vergil 26, 41, 48, 56, 59, 60, 63, 66, 105, 146, 158, 205, 224, 250, 252, 305, 306 Aeneis 27, 40, 47, 80, 83, 85, 87, 89, 106, 113, 171, 215–17, 239, 247, 253, 305 Georgica 40, 41, 57, 68, 86, 92, 93, 98, 103 vierte Ekloge 46, 242, 283

383

Vettori, Pietro 12, 80, 225 Vida, Marco Girolamo 62, 109, 218 Viperano, Giovanni Antonio 84 Vives, Juan Luis 48, 53–58, 59, 63, 85 Vossius, Gerhard Johannes 111, 112, 127, 135, 137, 138, 161–65, 166, 167, 168, 170, 232–36, 266, 285, 286, 325 Vulkan 47 Weigel, Valentin 184 Weise, Christian 170, 192, 288–89, 289 Wilhelm von Moerbeke 11, 13, 21 Willich, Jodocus 63, 264–65 Wimpfeling, Jacob 49, 251–54 Wimpina, Konrad 244–48, 250, 253 Wolff, Christian 131–34, 135, 136, 140, 144, 148, 172 Xenokrates 204 Zabarella, Iacopo 35–39, 67, 94, 98, 134, 144, 232 Zarathustra 213 Zedlers Universallexikon 302 Zesen, Philipp von 280, 284 Zeus 33, 252 Zingel, Georg 251 Zoroaster 286

Sachregister Begriffe aus der aristotelischen »Poetik« vgl. Personen- und Werkregister Adiaphora 191–92 Alkohol vgl. Wein als poetisches Stimulans Allegorie 2, 4, 41, 114, 127, 140, 141, 148, 171–73, 175, 313 Ammenmärchen, Verbot der 1, 53, 56, 94, 98, 106, 112, 116, 121, 123, 132, 136, 148, 154 Andacht 272–74, 282, 290 Anschaulichkeit 3, 33, 47, 52, 57, 58, 78, 102, 106, 107, 122, 133, 135, 136, 138, 144, 148, 271, 272–74, 277, 279, 282, 297 Aposiopese 309, 310, 314, 327, 328 assimilatio 20, 34, 245 Astrologie 206, 209–11, 221–23, 238, 255, 261, 263, 304 Asyndeton 314 copia 52, 59, 61, 66 Dialektik 29, 31, 35, 36, 49–51, 58, 60, 88, 94, 282 Dichter werden geboren, Redner gemacht 233, 257, 261, 265, 274, 277, 280, 283, 285 Dichtung allegorisch gedeutet 27, 56, 59, 60, 63, 68, 215–17 als argumentatives Verfahren 2, 15–42, 46, 49, 50, 67, 70–82, 98, 134, 144 als Teil der Moralphilosophie 19, 30, 32, 35, 37, 46, 58, 67, 70–82, 83, 134, 135, 139, 167 Drama, allegorisches 54, 96, 97, 110, 119, 124–26 Einbildungskraft vgl. Vorstellungsvermögen Ekloge 62, 156 Elegie 40, 65, 86, 111 elocutio vgl. Stilistik 44 eloquentia 26, 44, 48, 49, 52, 57, 59, 61, 66, 73, 254 Empfindsamkeit 185, 312, 316 Enthymem 23, 29, 36, 37, 38, 50, 247 Epicedium 65, 104 Epigramm 86, 103, 111 Epitaph 65, 104

Epitasis 99 Epithalamium 65 Epos 32, 64, 84, 87, 94, 96, 99, 101, 103, 111, 119, 126, 128, 139, 140, 149, 157, 161, 163, 292, 305, 311, 327 Erbauungsliteratur 185, 186, 189 Erhabenes 290, 300, 305, 306–10, 332 Exclamatio 309, 314, 328 exemplum 2, 23–26, 29, 31, 36, 37, 41, 42, 45, 47, 58, 61, 63, 66, 67, 76, 78, 94, 99, 107, 122, 131–33, 137, 140, 144, 145, 147, 171, 172, 176, 247, 277 Fiktion 4, 7, 112, 163–65, 168 Furcht und Mitleid 4, 19, 31, 34, 35, 73, 79, 89, 90, 91, 95, 99, 109, 117, 118, 124, 128, 137, 160 Genie 5, 193, 194, 296, 303, 308, 320, 322–23, 327–29 genus demonstrativum 47, 104 Geschichtsschreibung 17, 42, 47, 62–64, 70, 79, 83, 85, 87, 93, 98, 107, 115, 136, 140, 147, 150, 162, 164, 168 Gleichnis 2, 16, 20, 25, 27, 28, 30, 41, 46, 47, 50, 51, 63, 76, 82, 105, 106, 112, 113, 119, 131, 153, 175, 247, 277 Hymne 40, 57, 104, 111, 250, 278, 300, 326 imaginatio, Imagination vgl. Vorstellungsvermögen imitatio 67, 80, 105, 112, 116, 123, 132, 136, 148, 154, 265, 267, 276, 279, 298, 307 Induktion 37 inventio 50, 59, 64, 69, 105, 240, 267, 271, 277 Inversion 308, 310, 313, 314, 327, 328 Kabbala 211, 230, 256, 278, 299 Kasualdichtung 61, 65, 284, 305, 315, 332 Katastasis 99 Katastrophe 77, 99 Kirchenlied 186 Lehrdichtung 2, 102, 106, 135, 149, 153, 156, 167, 270, 313, 325

Sachregister

Lektüre als poetisches Stimulans 6, 224, 228, 235, 277, 289, 298, 300, 301, 307, 322 Licentia 68, 93 Lob und Tadel 4, 16, 19, 21, 34, 41, 46– 49, 64, 66, 70, 71, 92, 125, 139, 157, 159, 249 Logik 15–42, 63, 67, 69, 103, 134, 144, 163, 166, 240, 245, 246 Lyrik als Gattung 6, 185, 192, 193, 314, 323, 322–29, 332 Magie 208–11 Malerei 33, 256, 262 Märtyrerdrama 91, 95–96, 117 Medizin, bittere 2, 81, 109 Melancholie 5, 193, 194, 205–8, 212, 220– 23, 227, 234, 235, 243, 205–8, 264, 265, 272, 274, 277, 286, 297, 304, 305, 320, 332 Metapher 16, 28, 41, 55, 114, 148 Metrik 3, 51, 64, 99, 101, 237, 247 Mitleid als positiver Affekt 129 Musik 7, 44, 63, 64, 88, 192, 199, 202, 210, 268, 281, 324 als poetische Stimulans 6, 224, 235, 288, 298, 304, 324 Mythos, antiker 28, 32, 53, 56, 58, 59, 106 allegorisch gedeutet 33, 47, 48, 54, 60, 104, 113, 114, 121, 128, 141, 156, 213, 239, 254, 256, 258 Naturnachahmung 100, 129–31, 134, 135, 138–43, 148, 149, 153, 310–14, 323, 326 Ode 6, 93, 193, 284, 288, 290, 291, 312, 317, 319, 323–29 ihre schöne Unordnung 308, 313, 316, 323, 327 Oper 191, 311 Originalität 105, 303, 312, 316, 326 Panegyrik 65, 104 Pfingstereignis 183, 255, 298, 299 Phantasie vgl. Vorstellungsvermögen Pietismus 185, 187 prisca theologia 23, 60, 212–14, 230–32, 235, 238, 241, 244, 253, 256, 286 Prophetie 182, 183, 197, 200, 203, 219, 226, 243, 250, 256, 297, 299 Prosodie 3, 58, 64, 98, 237, 247, 262, 283 Protasis 77, 99

385

Reim, Verzicht auf den 314 Rhetorik 3, 7, 21, 23, 25, 29, 31, 35–40, 44, 46–48, 51, 52, 58, 59, 63, 64, 67, 69, 73, 88, 94, 103, 129, 163, 245, 247, 255, 282, 285, 299, 301, 315 Rhythmen, freie 314 Roman 7, 40, 53, 55, 83, 94, 112, 121–23, 126, 127, 133, 154, 162, 173, 191, 193, 327, 331 Satire 239, 249 Schäferspiel 106 Schriftsinn, allegorischer 27, 60, 181, 250 Schülergespräche 55, 77 Schultheater 75–77, 109, 111, 124, 191 Spaziergang als poetisches Stimulans 289, 321, 328 Sphärenharmonie 199, 200, 208–11, 218, 240 spiritus animalis 5, 188, 193, 201, 207, 208–11, 218, 227–30, 260–61, 269–75, 279, 282, 288, 291, 295, 297, 301, 304, 313, 317, 318, 322 Ständeklausel 84, 99, 109, 117 Stilistik 44, 51, 52, 57–59, 61, 64, 69, 73, 101, 105, 237, 240, 247, 257, 267 Theologie 22, 26, 46, 64, 88, 102, 244–46, 249, 250, 301 Tierfabel 2, 17, 47, 51, 53, 55, 104, 107, 110, 135, 140, 161, 172, 173, 175, 239 Topik 25, 50–51, 247, 282, 284, 288, 289, 292, 307 Tragikkomödie 118 Vergnügen als Zweck der Dichtung 33, 35, 157, 168, 239, 325 Versform als Kriterium der Dichtung 2, 18, 26, 30, 40, 45, 47, 48, 52, 53, 56, 62–64, 66, 68, 69, 83, 86, 94, 98, 99, 103, 104, 111, 127, 135, 148, 162, 163, 168, 170, 243, 251, 309, 314 Vorstellungsvermögen 33, 133, 141, 144, 145, 202, 204, 205, 209, 228, 234, 235, 260, 271, 275, 278, 289, 292, 293, 295, 297, 302, 304, 309, 307–10, 315–20, 327 Wanderbühne 124 Wein als poetisches Stimulans 6, 229, 230, 234, 235, 266, 271, 279, 280, 282, 284, 285, 289–91, 297, 301, 304, 316, 322 Weltseele 208–11 Wort, inneres 181, 185, 186, 190 Wunderbares 134, 136, 140–42, 148, 164