Manifestationen des Geistes: Frömmigkeit, Spiritualismus und Dichtung in der Frühen Neuzeit 9783737002141, 9783847102144, 9783847002147


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Manifestationen des Geistes: Frömmigkeit, Spiritualismus und Dichtung in der Frühen Neuzeit
 9783737002141, 9783847102144, 9783847002147

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Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung

Band 17

Herausgegeben vom Vorstand des Interdisziplinären Zentrums Mittelalter – Renaissance – Frühe Neuzeit mit der Redaktion des Interdisziplinären Zentrums Mittelalter – Renaissance – Frühe Neuzeit, Berlin

Volkhard Wels

Manifestationen des Geistes Frömmigkeit, Spiritualismus und Dichtung in der Frühen Neuzeit

Mit 12 Abbildungen

V& R unipress

Mein Dank gilt der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die diese Arbeit durch ihre Finanzierung ermöglicht hat, und Peter-Andr¦ Alt, der ihre Entstehung in jeder Hinsicht gefördert hat.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0214-4 ISBN 978-3-8470-0214-7 (E-Book) Ó 2014, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Druck und Bindung: CPI Buch Bücher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I.

II.

Die Lutherische Theologie und ihre spiritualistische Herausforderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundlagen der lutherischen Theologie . . . . . . . . . . . 2. Spiritualistische Widerstände im Luthertum . . . . . . . . 3. Johann Arndt und die Integration des Spiritualismus in die lutherischer Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. »Häresie« und »Orthodoxie« . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Magie, Kabbala und Mystik in den Anfängen der Reformation . . . 1. Die spiritualistische Herausforderung durch Magie und Kabbala 2. Logik und Hermeneutik bei Erasmus und Melanchthon . . . . . 3. Vernunft und Offenbarung bei Luther und Melanchthon . . . . . 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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III. Melanchthons antispiritualistische Anthropologie und Naturphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die medizinische und theologische Bedeutung der spiritus-Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. causae naturales: naturphilosophische versus theologische Erklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Spirituelle versus naturalistische Naturphilosophie . . . . . 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.

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Paracelsistischer Spiritualismus . . . . . . . . . . . . . . . 1. Spiritus-Theorien des Paracelsismus . . . . . . . . . . . 2. Paracelsismus, Aristotelismus und traditionelle Alchemie 3. Der Spiritualismus als antiakademische Bewegung . . . . 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6 V.

Inhalt

Alchemie zwischen Dichtung und Naturphilosophie in der Atalanta fugiens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Michael Maiers Atalanta fugiens . . . . . . . . . . . . . 2. Poetischer Hermetismus . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Sprache der Alchemie . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VII. Dichtung zwischen Spiritualismus und Frömmigkeit, insbesondere bei Martin Opitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Bekenntnis des Martin Opitz . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Frömmigkeit und Dichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Sprache des Herzens und die Sprache der Vernunft . . . . . 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

293 294 312 334 345

VIII. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

347

IX.

355 355 368

VI. Das Rosenkreuz zwischen Spiritualismus und Frömmigkeitsreform . . . . . . . . . . . . . . 1. Rosenkreuz und Paracelsismus . . . . . . . 2. Die frühe Rezeption der Manifeste . . . . . 3. Andreaes Frömmigkeit . . . . . . . . . . . 4. Der Roman der Rosenkreuzer . . . . . . . 5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . .

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Einleitung

Gegenstand dieses Buches sind die protestantischen Auseinandersetzungen um den Spiritualismus in der Frühen Neuzeit. Der Begriff des Spiritualismus bezeichnet dabei die Annahme einer Gegenwart des göttlichen Geistes – des spiritus sanctus – in dieser Welt, im menschlichen Körper und in der Natur. Diese Gegenwart des Geistes spielt für die Theologie, die Naturphilosophie, die Medizin, die Magie, Kabbala und Alchemie, aber auch, als göttliche Inspiration, für das Selbstverständnis der Dichtung eine wichtige Rolle. Während die lutherische Theologie den göttlichen Geist an das »äußere« Wort der Bibel bindet und damit in letzter Instanz eine akademische Hermeneutik erzwingt, die den Sinn dieses Wortes erschließt, entstehen gleichzeitig mit der lutherischen Reformation spiritualistische Strömungen, die eine Verfügbarkeit des göttlichen Geistes jenseits dieses Wortes behaupten: als göttliche Inspiration, als unmittelbare Anrede des »inneren« Wortes der Bibel, als magisch oder kabbalistisch herbeizuführende Erleuchtung, als alchemische Extraktion des sich in der Natur offenbarenden Geistes. Die ›lebendige‹ Offenbarung Gottes – sei es in der Natur, sei es im Inneren des Gläubigen – steht gegen die ›tote‹ Schriftgläubigkeit mit ihren logisch-rhetorischen Methoden der Exegese und ihren philologischen Streitereien. Während das gemeinsame Merkmal dieser Spiritualismen ihre Opposition zu akademischen, rationalistischen Formen der Theologie und Naturphilosophie darstellt, unterscheiden diese Spiritualismen sich hinsichtlich ihrer Radikalität. In einer gemäßigten Form kann sich der Spiritualismus im Laufe des 17. Jahrhunderts an den Universitäten und in der Schultheologie etablieren. Dieser gemäßigte Spiritualismus, der vor allem im Gefolge von Johann Arndt steht, tritt als »innere Frömmigkeit« und als gelebte Praxis des Glaubens in Gegensatz zu einer dogmatisch-abstrakten Theologie, die sich vor allem als Theorie des Glaubens versteht. Die Frömmigkeitsübung, die das Leben des Gläubigen betrifft, bildet den Kontrast zur akademischen Theologie mit ihren Lehrbüchern und Disputationen als bloß intellektuellen Übungen des Verstan-

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Einleitung

des. Am Ende des 17. Jahrhunderts mündet dieser gemäßigte Spiritualismus in den Pietismus. Auch in seiner naturphilosophischen – medizinischen, biologischen, chemischen – Dimension muss zwischen radikalen und gemäßigten Formen des Spiritualismus unterschieden werden. Das naturphilosophische Merkmal des Spiritualismus ist die Überzeugung von einer ›lebendigen‹ Offenbarung Gottes in der Natur im Gegensatz zum mechanistischen Naturbegriff des Aristotelismus und Galenismus. Die Annahme einer göttlich-spirituell durchfluteten Natur bildet das gemeinsame Merkmal von Magie und Alchemie als den prominentesten Formen, die der radikale Spiritualismus naturphilosophisch annehmen kann. Beide zielen auf eine spirituelle Erleuchtung, die sich durch die göttlich beseelt und belebt gedachte Natur vollzieht. Insbesondere der Paracelsismus wird gegen Ende des 16. Jahrhunderts zum Sammelbecken dieses Spiritualismus und bedient sich dabei bevorzugt der Alchemie als einer traditionell außerhalb der Universitäten angesiedelten Erfahrung der Natur und des Geistes. Der Magier, der die Kräfte der Natur beherrscht, wird zum Gegenbild des Professors, der sich in ziel- und zwecklosen, vor allem aber wirkungslosen Disputationen verliert. Wo der Geist sich offenbart, ist die Universität überflüssig. Der Gegensatz von Magier und Professor, von ›lebendig‹-konkretem und ›tot‹-abstraktem Wissen wiederholt sich auf tieferer Stufe in dem Gegensatz von geistlichem Dichter und akademischem Theologen. Die geistliche Dichtung will eine Anleitung zur gelebten Frömmigkeit sein und zielt auf eine spirituelle Reinigung des Lesers durch eine meditativ verfahrende Psychagogik. Als solche wendet sie sich gegen die akademische Theologie, die zwar über die dogmatischen Feinheiten der Abendmahlslehre disputieren lehrt, das »Herz« als den spirituellen Mittelpunkt des Menschen aber kalt lässt. Diese Thesen entfaltet die Arbeit in sieben Kapiteln. Diese Kapitel bilden keine umfassende Behandlung des Themas – die angesichts der Forschungslage noch in weiter Ferne liegt –, sondern greifen einige zentrale Aspekte heraus. Das erste Kapitel skizziert die Geschichte des protestantischen Spiritualismus, angefangen bei Luther und seiner Auseinandersetzung mit den radikalreformatorischen Bewegungen. Mit der zunehmenden Etablierung der lutherischen Reformation entsteht im 16. Jahrhundert eine akademische Theologie, deren Fokus auf der dogmatischen Auseinandersetzung liegt. Gegen diese akademische Theologie entwickelt sich im Untergrund eine mehr oder weniger stark spiritualistisch geprägte Frömmigkeitsbewegung, die um 1600 mit Johann Arndt an die Oberfläche tritt, sich im Luthertum durchsetzt und am Ende des Jahrhunderts in den Pietismus mündet. Bereits um 1520 kommen in den Auseinandersetzungen um Magie, Kabbala und Mystik die beiden extremen Optionen des Luthertums – Spiritualismus

Einleitung

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oder Naturalismus – prominent zum Ausdruck. Ihnen gilt das zweite Kapitel. Insbesondere ist es der Status der Vernunft in theologischen Fragen, der auf dem Spiel steht. Melanchthon entwickelt in seiner Dialektik und Rhetorik eine logische Methodik der Erkenntnis genauso wie der Hermeneutik. Diese Methodik erkennt der menschlichen Vernunft einen sehr hohen Rang zu. Reuchlin dagegen bestreitet mit seiner Konzeption der Kabbala dieser Vernunft und ihren Methoden die Gültigkeit in theologischen Fragen. Er steht damit in Analogie zum frühen Luther, der vor seiner Bekanntschaft mit Melanchthon von den Traditionen der mittelalterlichen Mystik geprägt war. Auch sie gestand der menschlichen Vernunft nur einen sehr geringen Status zu. Dieser Gegensatz verlängert sich in der Naturphilosophie, wie das dritte Kapitel zeigt. Melanchthon entwickelt mit seiner aristotelischen Naturphilosophie und deren Nachdruck auf den »natürlichen Ursachen« eine antispiritualistische, naturalistische Konzeption, die insbesondere für die Universitäten des protestantischen Raumes von großer Bedeutung wird. Diese Naturphilosophie steht in einer bedingten Nähe zu der von Pomponazzi ausgehenden, ebenfalls antispiritualistischen und aristotelischen Naturphilosophie, aber in Gegensatz zu Ficino und dem Neuplatonismus. Vor allem aber steht Melanchthons Nachdruck auf einer Erforschung der »natürlichen Ursachen« quer zu Luthers Berufung auf ein unmittelbares Wirken Gottes in der Natur. Wenn Gott unmittelbar in der Natur wirkt, ist – etwa bei Krankheit – das Gebet und nicht die medizinische Ursachenforschung die angemessene Haltung. Der schärfste und bedeutendste Gegner der aristotelischen Naturphilosophie Melanchthons und seiner Nachfolger ist im 16. Jahrhundert der Paracelsismus, dem das vierte Kapitel gewidmet ist. Er bezieht seine geistes- und sozialgeschichtliche Bedeutung zu einem guten Teil überhaupt erst aus diesem Gegensatz, indem er als Alternative zur ›Geistlosigkeit‹ der Universität auftritt. Weil der menschliche Körper als Teil der Natur göttlich beseelt ist, hat der paracelsistische Arzt es nicht nur mit dem Körper zu tun, sondern auch mit dem göttlichen Geist. Die paracelsistische Medizin steht damit in einem oppositionellen Verhältnis zu den mechanistischen Konzepten der aristotelisch-galenischen Medizin und überschreitet die Grenze zur Theologie. Unmittelbarer Ausdruck davon ist die von Paracelsisten praktizierte, spiritualistische Alchemie, die auf der Suche nach dem göttlichen Geist in der Materie dieser Welt ist. Dieser Geist bildet in seinen verschiedenen Erscheinungsformen den eigentlich wirksamen Bestandteil (al)chemisch präparierter Medikamente. Die alchemia medica der Paracelsisten steht damit wiederum in Opposition zu einer mechanistischen Konzeption der Alchemie, wie sie zeitgleich etwa Andreas Libavius vertritt. Die Alchemie kann deshalb nicht grundsätzlich mit dem Spiritualismus verrechnet werden, sondern nur dort, wo sie vom Paracelsismus übernommen wird.

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Einleitung

Vor dem Hintergrund der innerlutherischen Opposition von Spiritualismus auf der einen und Naturalismus und Rationalismus auf der anderen Seite, wie ihn die ersten vier Kapitel entwickeln, stehen die folgenden drei Kapitel, die die Entwicklung dieses Gegensatzes an signifikanten Punkten zu Beginn des 17. Jahrhunderts aufgreifen. Zu dieser Zeit beginnt sich insbesondere mit Johann Arndt ein gemäßigter Spiritualismus innerhalb des Luthertums durchzusetzen, der sich in Alchemie, Rosenkreuzertum und Dichtung jeweils unterschiedlich äußert. Mit Michael Maier, Johann Valentin Andreae und Martin Opitz werden deshalb drei spezifische Profile zwischen Spiritualismus, Frömmigkeit und Dichtung beschrieben. Der Atalanta fugiens Michael Maiers ist das fünfte Kapitel gewidmet. Entgegen seiner ›esoterischen‹ Rezeption in der Moderne ist dieses Emblembuch Ausdruck eines sehr gemäßigten Spiritualismus. Die theologischen Überzeugungen, die es formuliert, bleiben im Rahmen der lutherischen Schultheologie. Seine alchemischen Lehren stehen, wie die Alchemie des Libavius, in der Tradition der melanchthonischen Naturphilosophie, nicht in der Tradition des Neuplatonismus oder Paracelsismus. Seine Bildersprache impliziert keine ›Mystik‹, sondern stellt eine poetische Transformation der Arkansprache der älteren Alchemie dar. Ebenfalls wider den Anschein sind auch die Rosenkreuzer-Manifeste Johann Valentin Andreaes, denen das sechste Kapitel gewidmet ist, Ausdruck eines gemäßigten Spiritualismus. Sie sind stark vom Wahren Christentum Johann Arndts und seiner Konzeption einer gelebten Frömmigkeit geprägt, überschreiten jedoch ebenfalls nicht die Grenzen der lutherischen Schultheologie. Sie formulieren vielmehr ein Bekenntnis zur lutherischen Kirche und vertreten, auch als Geheimbund, keinen Separatismus. Wenn die Rosenkreuzer dennoch als spiritualistischer Geheimbund wahrgenommen worden sind, liegt dies an der stark spiritualistischen, magischen und paracelsistischen Rezeption dieser Manifeste. Die Rosenkreuzer-Manifeste unterscheiden sich in ihrem theologischen Gehalt auch nicht von den anderen Schriften Andreaes. Was sie von diesen Schriften unterscheidet, ist ihr fiktionaler, poetischer Charakter. Dieser kommt insbesondere in der Figur des Christian Rosenkreuz zum Ausdruck, der als literarische Figur nach dem spätantiken Vorbild des Apollonius von Tyana gestaltet ist. Mit dieser ›romanhaften‹ Anlage sind die Rosenkreuzer-Manifeste, wie die Atalanta fugiens Maiers, der Ausdruck einer »verborgenen« – nämlich poetisch gestalteten – Theologie. Das letzte Kapitel gilt dieser Rede von der Dichtung als einer »verborgenen Theologie«, wie sie in der Poeterey von Martin Opitz begegnet. Zu zeigen ist, dass dieser Begriff nicht neuplatonisch als Berufung auf eine Uroffenbarung (prisca theologia) zu verstehen ist, sondern als Bekenntnis zu einer überkonfessionellen

Einleitung

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Frömmigkeit, wie sie zu diesem Zeitpunkt Merkmal des irenischen Calvinismus oder Philippismus war. Diese theologische Zuordnung bestätigt die weltliche Dichtung von Opitz, die mit ihrer offensiven Sinnlichkeit (etwa im Petrarkismus) nicht mit den asketischen Tendenzen des Spiritualismus zu vereinbaren ist. Insbesondere der Vergleich mit Andreaes Kritik der »Fruchtbringenden Gesellschaft« einerseits und den Auseinandersetzungen zwischen der lutherisch konservativen Geistlichkeit Nürnbergs mit dem liberalen Philippismus eines Harsdörffer anderseits zeigt die scharfen Grenzen zwischen geistlich-spiritueller und weltlicher Dichtung.

I.

Die Lutherische Theologie und ihre spiritualistische Herausforderung

1.

Grundlagen der lutherischen Theologie

Rechtfertigungslehre Den Mittelpunkt der lutherischen Theologie bildet die Lehre von der Rechtfertigung allein aus der Gnade. Es handelt sich dabei um die Überzeugung, dass dem Menschen allein durch den Glauben an die Gnade, die ihm durch den Tod Christi zuteilgeworden ist, seine Sünden vergeben werden.1 Nicht eigene Tätigkeit oder eigene Werke können dem Menschen die Freisprechung von seinen Sünden erkaufen, wie es die katholische Tradition will, sondern nur der Glaube an den Tod Christi als heilsvermittelndes Geschehen, als Gnade Gottes. Allein durch den Tod Christi, allein durch Glauben, allein aus Gnade ist der Mensch vor Gott gerechtfertigt. Damit ist auf der anderen Seite auch impliziert, dass aus dem »Gesetz« allein, das heißt aus der Befolgung der Zehn Gebote des Alten Testaments, mithin durch »Werke«, die der Mensch aus eigener Kraft vollbringt, keine Rechtfertigung möglich ist. Wie das Neue Testament mit seiner Botschaft vom Tod Christi die Herrschaft des Gesetzes, die das Alte Testament verkündigt, ablöst, so wird die Werkgerechtigkeit und das von ihr implizierte Vermögen zur Rechtfertigung aus eigener Kraft von dem Glauben an die Gnade Gottes abgelöst. Das Reich des Gesetzes und das Reich der Gnade verhalten sich gegensätzlich zueinander. Die Rechtfertigung durch den Glauben ist damit an die Bibel, genauer an das Neue Testament gebunden, denn allein durch dieses erfährt der Mensch von der Gnade Gottes und dem Tod Christi. Als Vermittlung des im Tod Christi versprochenen Heils ist die Rechtfertigung an das Wort des Neuen Testaments 1 Stellvertretend für eine ausführliche Darstellung und umfassende Literaturangaben vgl. den Art. »Rechtfertigung«, Teil IV (»Das 16. Jahrhundert«) und Teil VII (»Dogmatisch«) von Gerhard Sauter in: Theologische Realenzyklopädie Bd. 28 (1997), S. 315 – 328 und S. 352 – 364.

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Die Lutherische Theologie und ihre spiritualistische Herausforderung

gebunden, das im Glauben angenommen werden muss. Deswegen muss die Bibel in die Volkssprache übersetzt und jedem Menschen zugänglich gemacht werden, deswegen muss dieses Wort Gottes von den Kanzeln gepredigt werden und deshalb muss allein dieses Wort die Grundlage der Theologie bilden. Anders als für die katholische Tradition ist die protestantische Theologie aus diesem Grund von Anfang an mit der Auslegung der Bibel verknüpft. Alles andere, aus dem die mittelalterliche Theologie geschöpft hatte – die Kirchenväter, die Konzilien, die heidnisch antike Philosophie –, muss sich vor dem Wort der Bibel legitimieren. Was davor nicht bestehen kann, wie etwa das Amt des Papstes, die Marien- und Heiligenverehrung, die Mönchsorden, der Zölibat, die lateinische Liturgie, die Ohrenbeichte oder der Ablass, wird verworfen und abgeschafft. Das Christentum muss auf der Grundlage der Bibel reformiert, das heißt in seinen ursprünglichen Zustand zurückversetzt werden. Damit kommt der Auslegung der Bibel eine bis dahin unbekannte Bedeutung zu, denn sie allein soll zur Grundlage des Glaubens und Lebens werden. Luther verwirft deshalb von Anfang an, mit seinen ersten Psalmenauslegungen, den vierfachen Schriftsinn und das Prinzip der Allegorese, wie es in verschiedener Intensität die mittelalterliche Exegese bestimmt hatte.2 Wenn das Wort der Bibel als solches heilsnotwendig ist, weil es im wörtlichen Sinne als Anweisung für das christliche Leben zu verstehen ist, dann darf es nicht in der Allegorese auf irgendeinen anderen Sinn hin bezogen werden, sondern es gilt, den literalen, buchstäblichen Sinn als solchen herauszuarbeiten. In diesem Punkt ist Luther ein gelehriger Schüler der neuen humanistischen Methoden der grammatischen Texterschließung, wie sie Lorenzo Valla und Erasmus vorgeführt hatten. Der buchstäbliche, grammatische Sinn der Bibel ist heilsnotwendig, weil die Bibel allein von Christus spricht, sowohl im Alten wie im Neuen Testament. Weil der Tod Christi die einzige heilsgeschichtlich bedeutsame Tatsache darstellt, handelt sowohl das Alte Testament im prophetischen und typologischen Sinne und das Neue Testament im literalen Sinne von nichts anderem als Christus. Deswegen ist der grammatische, buchstäbliche Sinn der Heiligen Schrift allein Christus, und in diesem Punkt greift Luther offensichtlich weit über eine bloß grammatische Texterschließung im Sinne der Humanisten hinaus. Der literale, grammatische Sinn der Bibel ist Christus, auch dort, wo, wie im Alten Testament, von Christus keine Rede ist. Der Sündenfall Adams und die Gesetze Mose deuten auf die Erlösung durch den Tod Christi hin, und auch bei den Propheten und den Psalmen ist Christus der Kern, auf den alles bezogen werden muss. Das Neue Testament ist dagegen die Botschaft von diesem Tod als Erfüllung und Einlösung der im Alten Testament angekündigten Verheißung. 2 Zu Luthers Schriftverständnis stellvertretend Ebeling, Evangelische Evangelienauslegung und Raeder, Grammatica Theologica, vor allem S. 8 – 80.

Grundlagen der lutherischen Theologie

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Diese Verheißung – der Tod Christi, wie er im Wort des Evangeliums vermittelt wird – muss im Glauben angenommen werden, um seine rechtfertigende, das heißt heilsvermittelnde Wirkung zu entfalten. Allein dieser Glaube rechtfertigt den Menschen vor Gott. Der Tod Christi kann also nicht durch die Vernunft gewusst oder erkannt werden, sondern er muss geglaubt werden.3 Daraus ergeben sich die drei lutherischen Grundsätze des sola scriptura, sola gratia und sola fide: Allein aus der Schrift (sola scriptura) erfahren wir vom Tod Christi, allein aus Gnade (sola gratia) und allein im Glauben (sola fide) werden wir gerechtfertigt.

Inneres und äußeres Wort Die entscheidende Frage, wie der rechtfertigende Glaube, der allein das individuelle Heil vermittelt, im Menschen zustandekommt, beantwortet Luther mit der Unterscheidung von »äußerem« und »innerem Wort«, wobei der Heilige Geist das vermittelnde Element darstellt. Der Heilige Geist benutzt das äußere Wort des Evangeliums, den »Buchstaben«, um das »innere Wort« als Erleuchtung im Glauben zu wirken.4 Niemand könne das Wort Gottes verstehen, schreibt Luther 1521, wenn er es nicht »on mittel von dem heyligen geyst« erfahren habe. Außerhalb dieser »Schule des Heiligen Geistes« gebe es »nur scheinwort unnd geschwetz«.5 Das innere Wort, das Wirken des Heiligen Geistes, ist an das äußere Wort des Evangeliums gebunden. Es kann keinen Glauben und keine Rechtfertigung vor Gott und damit keine Erlösung geben, es sei denn durch die Vermittlung des Evangeliums. Ein unmittelbarer Bezug zu Gott durch eine Form der ›privaten‹ Offenbarung, wie bei den Spiritualisten, oder durch die Tradition der Kirche (die Konzilien werden von Gottes Geist gelenkt), wie auf katholischer Seite, ist ausgeschlossen. Der einzige Weg zu Gott führt über das Wort und die Kenntnis des Evangeliums, wobei die »äußerlichen Stucke« – das »mündliche Wort des Euangelii« – den »innerlichen«, nämlich der Mitteilung des Heiligen Geistes und 3 Luther, Kirchenpostille (1522), S. 628. 4 Zur lutherischen Lehre vom »inneren Wort« vgl. stellvertretend den Art. »Wort Gottes IV.6.1 u. 2: Gottes Wort als äußeres Wort« von Joachim Ringleben in: Theologische Realenzyklopädie Bd. 36 (2004), S. 321 – 323. Zu Luthers Geistverständnis und der Lehre vom inneren Wort außerdem Kinder, Zur Lehre vom Heiligen Geist; zur Mühlen, Nos extra nos; Oberman, Simul gemitus et raptus; Ruokanen, Doctrina divinitus inspirata. Eine sehr gute Einführung bietet der Art. »Geist/ Heiliger Geist/ Geistesgaben IV.5: Pneumatologische Neuorientierung in Reformation und früher Neuzeit« von Wolf-Dieter Hauschild in: Theologische Realenzyklopädie Bd. 12 (1984), S. 207 – 217. 5 Luther, Das Magnificat verdeutscht und ausgelegt (1521), S. 546.

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Die Lutherische Theologie und ihre spiritualistische Herausforderung

dem Glauben, vorhergehen müssen. Gott habe beschlossen, »keinem Menschen die innerlichen Stuck zu geben ohn durch die äußerlichen Stucke.«6 Dieses Insistieren auf der Priorität des äußeren Wortes als notwendiger Voraussetzung für die Vermittlung des inneren Wortes und des Heiligen Geistes ist in diesem letzten Zitat schon polemisch gegen diejenigen gewendet, von denen Luther sich von Anfang an genauso stark herausgefordert sah wie von der katholischen Kirche, nämlich, wie Luther sie nennt, die »himmlischen Propheten« oder »Schwärmer«.7 Das einigende Band dieser in sich höchst divergenten Gruppe ist die Priorität des Geistes vor der Heiligen Schrift, im Unterschied zum protestantischen Schriftprinzip. Charakteristisch für diesen durch Priorität des Geistes markierten Spiritualismus ist die Behauptung einer direkten Verbindung zwischen Gott und Mensch, sei es in mystischer Form durch Einswerdung mit Gott, sei es in prophetischer Form durch Offenbarungen oder Gesichte. Gegenüber diesen ›Geistesgaben‹ werden die äußeren Heilmittel, wie die Heilige Schrift und die Sakramente, abgewertet. Für eine Kirche als solche gibt es im Grunde keine Funktion mehr, denn die unmittelbare spirituelle Verbindung zu Gott definiert den Heilsweg als einen individualistischen, der per se von der institutionellen Vermittlung unabhängig ist. Dieser ›Individualismus‹, der sich auf Geistbeseeltheit und Offenbarungen beruft, ist auch dafür verantwortlich, dass die Spiritualisten keine Kirche bilden, sondern in Sekten und Splittergruppen – »Rottengeister« in der Terminologie Luthers – zerfallen. Der Separatismus ist dem Spiritualismus von vornherein eingeschrieben. Zwischen dem Spiritualismus auf der linken und dem Katholizismus auf der rechten Seite sieht Luther sich in der Mitte stehen. Der Papst habe aus der Kirche eine bloß äußerliche Gemeinde gemacht, der »rotten geyst« der »himmlischen Propheten« wolle dagegen geistlich verstehen, »was Gott leyblich und eusserlich macht«. Er, Luther, belasse dagegen geistlich, was Gott geistlich hätte haben wollen und leiblich, was er leiblich hätte haben wollen.8 Die Katholiken haben die Kirche zu einer bloßen ›Mauerkirche‹ gemacht, die durch nichts zusammengehalten wird als äußerliche Rituale. Die Spiritualisten dagegen entwerten alles Äußere gänzlich und wollen nur noch die individuelle Geistbeseeltheit gelten lassen. Die Katholiken entwerten die Schrift, indem sie die Autorität für die Auslegung der Schrift in die kirchliche Tradition und in das Lehramt des Papstes 6 Luther, Wider die himmlischen Propheten, S. 136. 7 In diesem Fall Andreas Karlstadt. Zu Luthers Auseinandersetzung mit den Schwärmern stellvertretend Haas, Der Kampf um den Heiligen Geist; Maurer, Luther und die Schwärmer; Mühlpfordt, Luther und die ›Linken‹; sowie die unten S. 24 Anm. 42 zum Spiritualismus genannte Literatur. 8 Luther, Wider die himmlischen Propheten, S. 181.

Grundlagen der lutherischen Theologie

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verlegen, die Spiritualisten entwerten die Schrift zugunsten unmittelbarer Offenbarungen des Geistes. In der Mitte steht, so die Selbstwahrnehmung Luthers, das protestantische Schriftprinzip, das die Vermittlung des Heiligen Geistes an das äußere Wort des Evangeliums bindet: »Das wort, das wort, das wort, hörestu lugen geyst auch, das wort thuts«.9 Im Wort allein offenbart sich Christus, so dass für Luther Gott überhaupt nur durch Christus zum Menschen spricht. Sogar wenn Gott selbst mit ihm redete, wie Müntzer es von sich gerühmt habe, wolle er davon »nicht ein wort horen« und sich lieber »die ohren mit plei vergissen«: »den ich hab beschlossen: ich will nichts gleuben, auch nichts horen, den alleine Christum, das andere alles will ich fur gottes stimme nicht halten, den got hats beschlossen, Er wolle mit keinem menschen reden den alleine durch Christum.«10 Mit Christus und seinem Tod ist alle Offenbarung abgeschlossen, denn Christus ist die Einlösung aller Versprechen des Alten Testamentes. Er ist die Erfüllung der Gnade, deswegen ist darüber hinaus keine Offenbarung oder Prophetie mehr nötig. Genauer gesagt ist das Ende aller unmittelbaren und übernatürlichen Offenbarung für Luther mit dem Pfingstereignis gekommen, mit dem Auftrag an die Apostel, die Botschaft von Christi Tod in die Welt hinaus zu tragen. Indem die Apostel vom Heiligen Geist erfüllt wurden – und damit auch ihr ›lebendiges Wort‹, das Evangelium –, ist Gottes unmittelbares Wirken auf und für die Welt vollendet und vollkommen.11 Gott hat alles gesagt, was die Menschen wissen müssen.12 Wie in den Psalmen bereits prophezeit, enden mit der Offenbarung des Evangeliums alle Zeichen und Wunder.13

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Luther, Wider die himmlischen Propheten, S. 202. Luther, Wochenpredigten über Joh. 6 – 8, S. 561 f. Luther, Vorrede zu den Epistolae Iohannis Hus (1537), S. 124. Es ist allerdings wichtig, im Auge zu behalten, dass der Begriff der divinatio, der auch die Prophetie umfasst, neben dieser unmittelbaren Offenbarung Gottes auch zahlreiche andere Formen der Vorhersage umfaßt, darunter vor allem die Vorhersage aufgrund natürlicher Zeichen, wie die Wettervorhersage, die Astrologie und etwa die Deutung von Missgeburten, Kometen und anderen außergewöhnlichen Naturerscheinungen. Indem sich diese Offenbarungen jedoch »natürlicher Ursachen«, das heißt physischer Mittel bedienen, handelt es sich nicht um unmittelbare Offenbarungen. Zu diesem Punkt vgl. unten das dritte Kapitel. 13 Luther, Praelectiones in prophetas minores (1524 – 26) unterscheidet S. 109 zwischen zwei Arten der Ausgießung des Heiligen Geistes, einer »manifesta visio seu revelatio« und einer »occulta inspiratio«. Die erste ist die Offenbarung durch göttliche Zeichen, die zweite die Gegenwart des Heiligen Geistes in den Gläubigen. Die Offenbarung durch göttliche Zeichen habe mit dem Pfingstereignis, der Ausgießung des Heiligen Geistes an die Apostel, geendet, deswegen sei es Unsinn, wenn sich heute noch einige für Propheten hielten.

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Die Lutherische Theologie und ihre spiritualistische Herausforderung

Die Berufung Luthers Der Heilige Geist äußert sich in der protestantischen Kirche nicht mehr in Form einer Weiterführung der göttlichen Offenbarung, sondern nur in der Auslegung der Heiligen Schrift. Dies richtet sich gleichermaßen gegen die Spiritualisten wie gegen die mit den Aposteln legitimierte Lehrautorität des Papstes und der Konzilien, denen Luther mit diesem Argument jeden priviligierten Zugang oder gar die Unfehlbarkeit bestreitet. Keine Autorität kommt der Autorität der Apostel gleich, der Papst und die Konzilien können eine Autorität nur als Nachfolger der Apostel beanspruchen, diese Nachfolge müssen sie jedoch immer wieder erneut beweisen, wie jeder andere Christ. Einzige Instanz, an der sich jede Nachfolge Christi beweisen muss, ist die Heilige Schrift. Wenn der Papst und die Konzilien von dieser abirren, stehen sie nicht mehr auf dem Fundament der Kirche.14 In der Konsequenz bestreitet Luther auch für sich selbst jede persönliche Offenbarung und beruft sich allein auf die Schrift. Auf sie allein sollten wir uns verlassen, denn wir »bedürffen weiter keiner sonderlichen offenbarung«. Eine solche wäre, genauso wie etwa Christus-Visionen, gar nicht zu wünschen.15 Hinter jeder Christus-Vision könnte auch der Teufel stehen, allein das Zeugnis der Schrift ist durch seine Bindung an das »innere Wort« und damit an die Präsenz des Heiligen Geistes vor solchen Anwürfen sicher. Das Wort handelt durch Luther, und alles, was er getan habe, sei, diese Wort zu predigen. Dieses Wort Gottes habe durch ihn dafür gesorgt, dass das Papsttum derartig geschwächt worden sei, wie es in seiner Geschichte »keyn Fürst noch Keyser« vermocht habe. »Ich hab nichts gethan, das wort hatt es alles gehandelt und außgericht.«16 Luther beansprucht deshalb auch nicht, gelehrter zu sein als irgendein anderer. Die Schrift allein soll herrschen. Sie soll weder durch den Geist Luthers noch überhaupt durch den Geist eines Menschen ausgelegt werden, sondern allein durch sich selbst, aus ihrem eigenen Geist.17 Indem Christus das Zentrum aller Verkündigung ist, ist auch allein Christus »der Prophet, den man hören soll«.18 Wer sich der Offenbarung des Geistes rühmt, ist ein »Schwärmer« und »Rottengeist«, denn »die da den Geist rühmen und suchen sonderliche Offenbarung und Träume, die sind ungläubig und Verächter Gottes; denn sie lassen sich an Gottes Wort nicht begnügen«. Er dagegen begehre »keine Offenbarung noch Träume« und bleibe allein bei dem Wort, wie auch schon Paulus gelehrt habe, man solle sich allein daran hängen, »wenn 14 15 16 17 18

Luther, De potestate concilii, S. 184 f. Luther, Wochenpredigten über Joh. 16 – 20 (1528/29), S. 436. Luther, Predigten des Jahres 1522, S. 18 f. Luther, Assertio omnium articulorum, S. 98 f. Luther, Tischreden Bd. 5, Nr. 6409, S. 649.

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gleich auch ein Engel vom Himmel anders lehrete.«19 Selbst die Prophezeiungen, die auf Luthers eigene Person gedeutet wurden, wie die Johann Lichtenbergers, lehnt Luther ausdrücklich ab und führt sie, wie alle anderen Prophezeiungen, auf den Teufel zurück.20 »Ich will keine Vision haben und ich lasse keine Wunder geschehen«, heißt es 1531 in den Tischreden, »und ich glaube auch nicht an einen Engel, der mich etwas vom Wort Abweichendes lehrt.« Das Wort stehe von Anfang an fest, »und ich erfahre in meinem Sinn und Geist, daß es also geht, wie es das Wort sagt, und wir sehen in der Geschichte, daß die Werke Gottes damit übereinstimmen. Wie nämlich vor tausend Jahren, so wirkt Gott auch heute. Ich will das Wort, ich will kein Wunder.«21 Auch die Bezeichnung eines »dritten Elias«, die Luther bis 1520 wenigstens geduldet hatte, lehnt er 1522 grundsätzlich ab, obwohl sie ihm entgegengekommen wäre. Ihre Legitimation ergab sich aus Luthers Identifikation des Papsttums mit dem in der Apokalypse angekündigten Antichrist. Dieser sollte seinerseits nach Apk. 11,3 – 7 von zwei Propheten bekämpft werden, wobei einer von diesen beiden Propheten mit dem Mal. 4,5 angekündigten »dritten Elias« identifiziert wurde, der andere mit Henoch. Unter dem Druck der Auseinandersetzung mit den »Schwärmern« – bei denen sich diese Identifikation mit Henoch und Elias an prominenter Stelle findet – bestreitet Luther jedoch 1528 nicht nur das Kommen eines »dritten Elias«, sondern überhaupt grundsätzlich, dass Gott vor dem Jüngsten Tag noch mit irgend jemandem unmittelbar sprechen wird: »Es wird kein mensch vor dem Jüngsten tage komen, der da sagen wird dürffen, Gott habe mit yhm selbs geredt und yhm yrgend einen sonderlichen befehl gethan, one was sich unsere Schwermer ytzt mit yhrem geiste die leutte zu bereden unterstehen, Das Euangelion ist die letzte predigt, die wird wehren bis an den Jüngsten tag, wer auff eine andere wartet, der wartet umbsonst und vergebens, ja er lestert und schmehet Gott drümb, das er sein wort nicht warhafftig helt und yhn gleich lügen straffet.«22

Was Luther in seinen Augen zum Aufstand gegen die Kirche legitimierte, waren keine Visionen und Offenbarungen, sondern seine Berufung in ein kirchliches 19 Luther, Tischreden Bd. 5, Nr. 6211, S. 542. 20 Luther, Tischreden Bd. 1, Nr. 251, S. 105. 21 Luther, Tischreden Bd. 2, Nr. 2138, S. 334 (1531): »Visionem habere nolo, non admitto miraculum neque credam Angelo diversum me docenti a verbo; cui et operibus Dei ideo credo, quod haec duo sibi et in omnibus suis partibus consentiunt inde a principio mundi. Constat enim verbum a principio, et ego in sensu et mente mea experior, daß es also geht, quemadmodum verbum dicit, et in omnibus historiis videmus opera Dei consentire. Sicut enim ante mille annos, sic hodie operatur Deus. Verbum volo, miraculum nolo.« 22 Luther, Winterpostille (1528), S. 40. Zu Luther als drittem Elias Volz, Lutherpredigten, S. 63 – 68 sowie Hofmann, Luther und die Johannes-Apokalypse, Exkurs I, S. 656 – 661, der zeigt, wie sich Luther sukzessive von der Identifikation mit Elias distanziert.

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Lehramt, das heißt seine Promotion und seine Berufung auf eine Professur.23 Darin unterscheidet sich Luther grundlegend von seinen Vorgängern, wie etwa Savonarola, oder seinen radikalen Nachfolgern, wie Thomas Müntzer, die ihre Legitimation ausdrücklich aus prophetischen Offenbarungen bezogen. Luthers Reformation ist das Werk eines Professors, nicht eines Propheten.24 Die Berufung in ein kirchliches Lehramt legitimiert Luther deshalb auch qua Amt, nicht qua Person, zur Predigt und damit zur Vermittlung des Geistes. Während er als Person auch bisweilen von einem »bösen Geist« geritten werde und von Gott abfalle, sei der Heilige Geist immer bei ihm, wenn er qua Amt das Evangelium predige oder die Sakramente reiche.25 Die »Winkelprediger« und »Rottengeister« haben dagegen eine solche »ordentliche Berufung« in das Predigeramt nicht vorzuweisen. Wie die Apostel auf Befehl Christi in ihr Predigtamt gezwungen und genötigt worden seien, so werde dies auch heute »ein jglicher rechtschaffener Lerer und Prediger«. Dieser könne noch so voll des Heiligen Geistes sein, er dürfe doch nicht einfach anfangen zu predigen und zu lehren, »er sey denn ordentlicher Weise beruffen und gesand, Auff das er in seinem Ampt könne gewis sein, als der durch Göttlichen Befehl darein gesetzt sey und sölches thun müsse.«26 Konsequent fordert Luther, »den Luther fahren zu lassen«, »er sey eyn bub odder heylig«, wenn er nur irgendwo vom Wort der Schrift abweiche.27 Durch die Berufung in ein kirchliches Amt steht Luther in der Tradition der Apostel, nicht in der Tradition der Propheten. Der Geist, der den Aposteln im Pfingstereignis zuteil wurde und der sie ermächtigt, das Evangelium zu verkündigen, ist der Geist, den auch Luther für sich in Anspruch nimmt. Im Unterschied zu den Aposteln und Propheten ist Luther allerdings von Gott nicht unmittelbar berufen worden. Dieser Unterschied ist entscheidend, weil die unmittelbare Berufung die Befähigung zu Wundern impliziere. Wo deshalb jemand behaupte, durch unmittelbare Offenbarungen zum Propheten berufen worden zu sein, wie etwa Thomas Müntzer, lässt sich dieser Anspruch leicht auf die Probe stellen: »Wann sie denn sagen, Gott und jr Geist hab sie gesand wie die Apostel, so lasst sie dasselbige beweisen mit Zeichen und Wunder. Denn wo Gott die ordentliche Weise endern will, So thut Er allwege Wunderzeichen dabey.«28 23 Luther, Predigten des Jahres 1526. Predigt vom 6.1. 1526, S. 222 f. 24 Zu diesem Selbstverständnis Luthers stellvertretend Walter Moster, Art. »Luther III: Wirkungsgeschichte.« In: Theologische Realenzyklopädie Bd. 21, S. 567 – 594, bes. S. 568. In seiner Genesis-Vorlesung schließt Luther allerdings nicht grundsätzlich aus, dass Gott auch außerhalb der Schrift etwas durch Träume, Gesichte oder Engel offenbart, vgl. Luther, Vorlesungen über 1. Mose von 1535 – 45, hier S. 246, worauf sich am Ende des 17. Jahrhunderts die Pietisten berufen werden, vgl. Wallmann, Geisterfahrung und Kirche S. 140. 25 Luther, Wochenpredigten über Joh. 16 – 20 (1528/29), S. 468. 26 Luther, Wochenpredigten über Joh. 16 – 20 (1528/29), S. 472. 27 Luther, Ein Missive an Hartmut v. Cronberg, S. 42 – 60, hier S. 58. 28 Luther, Wochenpredigten über Joh. 16 – 20 (1528/29), S. 473. Vgl. auch Tischreden Bd. 1,

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Auseinandersetzung mit den »Wiedertäufern« Ab 1522 – der »Bauernkrieg« zeichnet sich ab – reagiert Luther auf die Spiritualisten und Täufer mit einer Schärfe, die seiner Aburteilung des Papsttums in nichts nachsteht. Der Begriff, dessen er sich dabei mit Vorzug bedient – gegenüber den Begriffen »neue«, »falsche« oder »himmlische Propheten«, »Geister« oder »Rottengeister« –, ist der der »Schwärmerei«.29 Der Begriff ist abgeleitet vom scheinbar ziellosen Schwärmen der Bienen, das für Luther als theologische Verworrenheit das gemeinsame Kennzeichen all jener ist, die sich vom äußeren Wort der Bibel gelöst haben. Oft verwendet Luther auch den Begriff der »Wiedertäufer« als Oberbegriff für die spiritualistischen Strömungen, wobei sich dieser Begriff aus der Ablehnung der Kindertaufe herleitet.30 Die äußerliche Taufe gilt nur als Symbol für die bewusste Absage an das frühere, sündhafte Leben, und als solches kann sie nur von einem Erwachsenen vollzogen werden. Entscheidend ist nicht das Sakrament, sondern allein die Ernsthaftigkeit der christlichen Überzeugungen. Der Taufe kommt keinerlei heilsvermittelnde Bedeutung zu, sie wird als bloße ›Wassertaufe‹ gegenüber der ›Geisttaufe‹ herabgesetzt. Enttäuscht von der lutherischen Predigt des Wortes, der keine echte sittliche Erneuerung gefolgt ist, streben die Täufer nach Absonderung von der Welt. Der Rückzug in kleine Gemeinschaften von echten Christen soll ein Leben in der Heiligung ermöglichen, in dem sich die Früchte des Glaubens in der Lebensführung tatsächlich zeigen. Von Anfang an sind unter diesen Täufern deshalb auch private Offenbarungen und prophetische Berufungen allgegenwärtig, zumeist in enger Verbindung mit einem stark eschatologischen Bewusstsein.31 Um nur einige berühmte Beispiele zu nennen, bei denen sich die von Luther abgelehnte Identifikation mit Elias oder Henoch findet: Melchior Hoffman behauptete, die Träume der Ursula Jost seien vom Heiligen Geist eingegeben und besäßen dieselbe Autorität wie Jesaja und Jeremia. Sich selbst hielt er für den in der Apokalypse angekündigten Elias und Straßburg für das neue Jerusalem.32 David Joris erlebte 1536 eine mit Visionen verbundene Ekstase, die er als Berufung zu einem neuen David be-

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Nr. 1170, S. 577 f., wo es heißt, Propheten und Apostel könnten Teufel austreiben, weil sie von Gott »immediate«, ohne Mittel, berufen worden seien, alle anderen dagegen nur das Gebet und den Glauben hätten. Zu Luthers Begriffsbildungen vgl. Mühlpfordt, Luther und die ›Linken‹. Selbst dieses Merkmal trifft aber nicht durchgängig zu, vgl. stellvertretend den Artikel »Täufer/ Täuferische Gemeinschaften« von James M. Stayer in der Theologischen Realenzyklopädie Bd. 32, S. 597 – 617. Zu dieser Verbindung von Prophetie und eschatologischem Bewusstsein Barnes, Prophecy and Gnosis. Deppermann, Melchior Hoffmann, bes. S. 178 – 186.

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trachtete.33 Jan Matthijs, der 1533 Apostel entsandte, die in seinem Namen tauften, hielt sich für den neuen Henoch und erklärte Münster für das neue Jerusalem, was unmittelbar zur Proklamation des »Täuferreiches« führte.34 Der Augsburger Weber Augustin Bader, selbst durch die prophetischen Visionen Hans Huts erweckt, hielt aufgrund göttlich inspirierter Träume seinen halbjährigen Sohn für einen kabbalistischen Messias und König.35 Ganze Gruppen von Täufern, wie etwa die »Uttenreuther Träumer«, regelten ihr weltliches und geistliches Leben durch die Auslegung göttlicher Träume.36 In allen diesen Fällen waren kirchliche Verfolgung und gewaltsame Niederschlagung durch die weltlichen Obrigkeiten das Schicksal dieser »Inspirierten«. Neben die Begriffe »Schwärmer« und »Wiedertäufer« tritt ab 1531 Melanchthons kirchengeschichtlich begründete Bezeichnung der Spiritualisten als »Enthusiasten«. So heißt es in der Apologie der Confessio Augustana in dem Artikel über die Sakramente, das Predigtamt als das »Amt des Wortes« sei »mit jeder Art von Lob zu ehren, gegen die Fanatiker, die träumen, daß der Heilige Geist nicht durch das Wort gegeben werde, sondern aufgrund ihrer eigenen Vorbereitungen, wenn sie sich müßig und stumm in eine dunkle Ecke setzen und auf Erleuchtung warten, wie es einst die Enthusiasten lehrten und heute die Wiedertäufer.«37 Die Ketzerbezeichnung »Enthusiasten«, der sich Melanchthon hier bedient, geht auf die Kirchenväter zurück.38 Diese hatten den Begriff verwendet, um Sektierer und umherziehende Propheten, die sich auf private Offenbarungen beriefen und die Wirksamkeit der Sakramente bezweifelten, zu kennzeichnen. Das »Amt des Wortes« ist die Verkündigung des Evangeliums in der Predigt, wie sie dem Pfarrer obliegt, dem damit in der protestantischen Gemeinde eine große Bedeutung zukommt. Der Pfarrer vermittelt in der Predigt das Wort und damit den Heiligen Geist. Der Kirchgang und das öffentliche, gemeinsame Hören des 33 34 35 36 37

Deppermann, Melchior Hoffmann, S. 315 – 324. Deppermann, Melchior Hoffmann, S. 288 – 293. Schubert, Täufertum und Kabbalah. Schubert, Der Traum vom Tag des Herrn. Bekenntnisschriften der evanglisch-lutherischen Kirche S. 294: »Ac prodest, quantum fieri potest, ornare ministerium verbi omni genere laudis adversus fanaticos homines, qui somniant spiritum sanctum dari non per verbum, sed propter suas quasdam praeparationes, si sedeant otiosi, taciti, in locis obscuris, expectantes illuminationem quemadmodum olim 1mhusiasta¸ docebant et nunc docent Anabaptistae.« Die »eigenen Vorbereitungen« und das müßige »In-der-Ecke-Sitzen« sind eine Polemik gegen spiritualistische Versuche, durch Formen von Askese oder Meditation (wie sie etwa der Begriff der »Gelassenheit« impliziert) göttliche Offenbarungen zu erhalten, das heißt die Vermittlung des Heiligen Geistes durch menschliche Vorkehrungen beeinflußen zu wollen. Zur Rückführung des Begriffes auf Melanchthon vgl. auch die Angaben Bekenntnisschriften der evanglisch-lutherischen Kirche, S. 454 Anm. 1. 38 Zur Herkunft des Begriffs Kaufmann, Nahe Fremde, S. 186 Anm. 24.

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Wortes wird der Gegensatz zum Separatismus der Enthusiasten, die glauben, durch ein bestimmtes Verhalten (müßiges In-der-Ecke-Sitzen, also mystische Praktiken der Selbstaufgabe, wie etwa Karlstadt mit seiner »Gelassenheit«) die Übertragung des Geistes erzwingen zu können. Erst mit Luthers Schmalkaldischen Artikeln (1537) wird der Begriff »Enthusiasten« als Ketzerbezeichnung auch im Deutschen zum Allgemeingut, wobei Luther den Begriffsumfang erheblich erweitert, indem er ihn auf die Katholiken ausdehnt. Alle, die sich auf Wahrheiten berufen, die nicht auf die Schrift zurückgehen, wie Müntzer, der sich auf innere Offenbarungen, oder wie der Papst, der sich auf die Tradition der Kirche beruft, sogar wie Eva im Paradies, die – gegen das ›äußere‹ Wort, gegen das klare Verbot Gottes – auf die Stimme des Teufels hörte, verfallen jetzt dem Verdikt des Enthusiasmus. Gott gebe niemandem seinen Geist oder seine Gnade, »ohn durch oder mit dem vorgehend äußerlichem Wort, damit wir uns bewahren fur den Enthusiasten, das ist Geistern, so sich rühmen, ohn und vor dem Wort den Geist zu haben«, wie Müntzer und die Schwärmer, aber auch wie das Papsttum, das sich anmaße, Dogmen gegen den Wortlaut der Bibel festlegen zu können.39 Wie der Papst als Antichrist eine Inkarnation des Teufels ist, so sind auch Luthers spiritualistische Gegner alle von Dämonen und Teufeln besessen. Schon 1524 fordert Luther in seinem Brief an die Fürsten von Sachsen diese dazu auf, den Satan, der in Müntzer gefahren ist, mit dem Schwert zu bekämpfen, ein Jahr später ist es Andreas Karlstadt, der vom Teufel besessen ist, und auch Sebastian Franck ergeht es nicht anders.40 Zusammenfassend heißt es in den Schmalkaldischen Artikeln, jetzt auch noch unter Einbeziehung des Islam: »Summa: der Enthusiasmus sticket in Adam und seinen Kindern von Anfang bis zum Ende der Welt, von dem alten Trachen in sie gestiftet und gegiftet, und ist aller Ketzerei, auch des Bapsttums und Mahomets Ursprung, Kraft und Macht.« Gott handle allein »durch sein äußerlich Wort und Sakrament« mit uns. »Alles aber, was ohn solch Wort und Sakrament vom Geist gerühmet wird, das ist der Teufel.«41

39 Bekenntnisschriften der evanglisch-lutherischen Kirche, S. 453 f. 40 Über Müntzer vgl. Luther, Werke Bd. 15, S. 211, über Karlstadt Luther, Werke Bd. 18, S. 139 und über Franck Luther, Werke Bd. 54, S. 172. 41 Bekenntnisschriften der evanglisch-lutherischen Kirche, S. 455 f.

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Thomas Müntzer Während Luther sich in der Mitte zwischen Spiritualisten auf der linken und Papisten auf der rechten Seite stehen sieht, sehen die Spiritualisten selbst sich als Vollender einer Reformation, die Luther auf halber Strecke aufgegeben hat.42 Thomas Müntzer ist hier an erster Stelle zu nennen.43 Im Gegensatz zu Luther ist er der Überzeugung, dass der Heilige Geist überall in den Herzen der Menschen lebendig sei und auch ohne die Schrift zum wahren Glauben führen könne. Selbst wer sein Leben lang die Bibel weder gehört noch gesehen hätte, könne »für sich durch die gerechten lere des geystes eynen unbetrieglichen christenglauben haben« und dabei versichert sein, dass dieser Glauben von Gott und nicht vom Teufel oder aus eigener Einbildung stamme.44 Das göttliche Wort könne nichts Kreatürliches, Geschaffenes sein, denn alles, was geschaffen ist, müsse auch wieder vergehen, das Wort Gottes aber ist ewig. Deswegen sei es in die Herzen geschrieben, und nicht auf Papier. Die Schriftgelehrten – das richtet sich gegen Luther –, die behaupteten, dass Gott nicht mit dem Menschen unmittelbar reden würde, versperrten den Weg zum echten Glauben. Gott schreibe jedoch mit seinem »lebendigen finger« in die Herzen der gottesfürchtigen Menschen und es gebe kein gewisseres Zeugnis als »dye lebendige rede Gots, do der vater den szon anspricht im hertzen des menschen.«45 Der Geist der Schrift ist identisch mit dem Heiligen Geist, der die Auserwählten unmittelbar ergreift und ihnen dann seinerseits den Geist des Buchstabens erschließt. Wo bei Luther die Schrift die Geisterfahrung auslöst, da bestätigt bei Müntzer die Schrift die Geisterfahrung des Auserwählten nur im Nachhinein. Nicht der Geist ist an das Wort gebunden, wie bei Luther, sondern die Schrift ist an den Geist gebunden. Gegen Luthers Berufung auf das Wort heißt es bei Müntzer : »Ab du auch schon die biblien gefressen hets, hilfft dich 42 Allg. zum Spiritualismus und ›Schwärmertum‹ Benrath, Die Lehre der Spiritualisten; Hamm, Geistbegabte gegen Geistlose; Kaufmann, Nahe Fremde; Hauschild, Geist/ Heiliger Geist/ Geistesgaben IV.5; sowie die Artikel »Spiritualismus« von Robert Emmet McLaughlin in der Theologischen Realenzyklopädie Bd. 31, S. 701 – 708 und »Verzückung, Enthusiasmus, Schwärmerei« von Karl Thieme in der Realenzyklopädie für protestantische Theologie und Kirche. Begr. v. J. J. Herzog, hg. v. A. Hauck, Leipzig 31896 – 1913, Bd. 20, S. 586 – 593. Gilly, Das Sprichwort ›Die Gelehrten die Verkehrten‹ versammelt viel Material zum Spiritualismus, insofern dieser als Gelehrtenkritik und damit als Kritik der akademischen Theologie auftrat. 43 Für eine differenziertere Darstellung von Müntzers Geistverständnis Goertz, Innere und Äußere Ordnung, v. a. S. 64 – 79 u. S. 89 – 91; Goertz, Müntzers Geistverständnis; Goertz, Lebendiges Wort; zur Mühlen, Heiliger Geist. 44 Müntzer, Ausgedrückte Entblößung, S. 277 f. 45 Müntzer, Prager Manifest, S. 498.

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nit, du must den scharffen plugschar leiden. Hastu doch keinen glauben, Got gebe dir dann ynen selbern und lere dich den selbern.«46 Anders als bei Luther und Melanchthon ist bei Müntzer offensichtlich kein theologischer Bedarf an der Entwicklung einer Hermeneutik als Lehre vom Verständnis der Schrift. Die Geisterfahrung wird immer schon vorausgesetzt. Nur wer den Geist hat, kann die Schrift verstehen. Wenn Luther Müntzer als »aufrührerischen Geist« bezeichnet, dann ist dies keine Metapher, sondern bezeichnet wörtlich einen Dämon oder teuflischen Geist, der durch Müntzer spricht. Müntzer bestreitet die Anwesenheit eines anderen Geistes in seinem Körper nicht, behauptet aber, dass es sich um den Heiligen Geist handelt. In seiner Schutzrede […] wider das Gaistloße Sanfftlebende fleysch zu Wittenberg (1524) wendet Müntzer den Vorwurf auf Luther zurück, indem er diesem gerade die »Geistlosigkeit« vorwirft. Auch das ist keine Metapher, sondern Luther ist geistloses, ›sanftlebendes‹ Fleisch, weil er nicht vom Heiligen Geist getrieben und ›aufgerührt‹ ist, wie Müntzer. Nicht durch den »stinckenden athem teufflischer schrifftgelerten« komme der Geist Gottes, sondern »durchs ewige, krefftig wort des vatters im sun mit erleutherung des heyligen geysts«.47

Andreas Karlstadt Eine andere Form des Spiritualismus begegnet in Andreas Bodenstein von Karlstadt.48 Wo Müntzer sich als apokalyptischen, gottgesandten Propheten begreift, da steht Karlstadt in der Tradition der Mystik und der Theologia deutsch. Im Unterschied zu Müntzer ist für ihn, wie für Luther, die Offenbarung mit der Bibel abgeschlossen. Aber im Unterschied zu Luther ist für ihn die Vermittlung des Geistes nicht an das Wort gebunden, sondern das Wort tritt lediglich als äußere Bestätigung und Vergewisserung zur inneren Offenbarung des Geistes hinzu. Deshalb nennt Luther ihn spöttisch einen »neuen Propheten«. In Karlstadts Dialogus oder ein gesprechbüchlin Von dem grewlichen vnnd abgöttischen mißbrauch/ des hochwirdigsten sacraments Jesu Christi (1524) überzeugt ein Laie, der der lateinischen und griechischen Sprache nicht mächtig ist, einen Priester von seiner Auslegung der Einsetzungsformel des Abendmahls, und antwortet dann, als der Priester diese Auslegung in einer grammatischen Analyse bestätigt hat, auf die Frage nach der Herkunft seiner Interpretation, er 46 Müntzer, Protestation oder Erbietung, S. 234. 47 Müntzer, Ausgedrückte Entblößung, S. 298. 48 Zu Karlstadt Haas, Kampf um den Heiligen Geist; Hasse, Karlstadt und Tauler, v. a. S. 117 – 129; Kriechbaum, Grundzüge der Theologie Karlstadts, v. a. S. 14 – 37; Völker, Gelassenheit, S. 294 – 296.

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bedürfe des »äußerlichen Zeugnisses« der Schrift nicht: »Ich will meyn zeugnüß vom geyst/ in meyner inwendigkeyt haben/ das Christus verheyssen hat.« Der Geist allein führe zur Erkenntnis Schrift, »drumb folget/ das die ihene gottes reden nit verstehend/ die gottes geyst nit hören reden.« Ein Christ sei, wer den Geist Christi habe. »Derhalben gybt gottes geist allein gezeugnüß vnd versicherung.«49 Das Zeugnis des Geistes, das innere Wort ist vorgängig, das äußere Wort, die Bibel, ist bloß eine nachträgliche Versicherung des inneren Wortes. Im Geist der Schrift vereinige sich der geschöpfliche, kreatürliche Mensch mit dem ungeschaffenen Geist Gottes. Deswegen müsse der »Geist des Buchstabens« ergründet werden, nicht seine »Rinde« oder »Schale«.50 Die bloße Schriftgelehrsamkeit könne sogar schädlich werden, weil sie intellektuelle Eitelkeit wecke und dadurch den Weg zur wahren Erkenntnis versperre. Der Mensch müsse »gelassen« sein, das heißt sich von allem Irdischen freigemacht haben – und dazu gehört auch der Buchstabe der Schrift –, um frei zu sein für Christus. Karlstadt beschreibt in Was gesagt ist: sich gelassen (1523) seine eigene Entwicklung als eine solche Abwendung vom Buchstaben im Zeichen der Gelassenheit. Erst als er sich vom »geschaffenen Buchstaben«, der bloß menschlichen Weisheit abgewandt habe, als er sein »ich vnnd ichait« »zu boden vnd grund gelassen« habe, sei ihm die »recht erkantnuß vnd lieb gottes« zuteilgeworden. Christus wolle, »das wir alles gelassen sollen das wir besitzen/ vnd das wir kain creaturisch ding in vnser seele lassen eingeen«.51 Die wahre Erkenntnis des Geistes führt deshalb nicht über den Verstand, sondern über mystische Praktiken der Selbstaufgabe. Erst in der ›Gelassenheit‹, das heißt der Freiheit von allen sinnlichen Vorstellungsinhalten und in der Aufgabe aller Willensregungen, ist der Mensch frei für den Geist Gottes.52 Im Gegensatz zu Müntzer, dessen prophetisches Selbstverständnis ihn in den Krieg geführt hat, führt Karlstadts Selbstverständnis deshalb in die Innerlichkeit des Mystikers. Karlstadt verzichtet auf seine geistlichen Ämter und zieht sich zeitweise auf einen Bauernhof zurück. Zur Gelassenheit als dem Verzicht auf alle Äußerlichkeit und Selbstmächtigkeit gehört auch der Verzicht auf die Vernunft. Die Schrift kann man nicht aus eigenem Antrieb heraus verstehen, sondern sie öffnet sich demjenigen, der in der Gelassenheit steht. Diese Erkenntnis der Schrift muss dann im Nachhinein

49 Bodenstein, Dialogus, S. 18 f. 50 Kriechbaum, Grundzüge der Theologie Karlstadts S. 32, der dort Karlstadt, Uon manigfeltigkeit des eynfeltigen eynigen willen Gottes (1523), f. Gij zitiert. 51 Karlstadt, Was gesagt ist: Sich gelassen (1523), f. b ff., zitiert nach Kriechbaum, Grundzüge der Theologie Karlstadts, S. 31 f., Anm. 26. 52 Völker, Gelassenheit, S. 295.

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mit dem Zeugnis der Schrift gerechtfertigt werden.53 Nur dem Menschen, der in der Gelassenheit steht und auf die eigene Vernunft verzichtet, wird die Offenbarung des Geistes zuteil, und erst um diese Offenbarung dann vor der Welt zu rechtfertigen, sind Vernunft und Schriftauslegung nötig. Der Geist ist also nicht an das Wort gebunden, aber was er offenbart, kann immer durch die Schrift bestätigt werden.54

Caspar von Schwenckfeld Eine weitere Variante des Spiritualismus vertritt Caspar von Schwenckfeld, wie Müntzer und Karlstadt ebenfalls ein früher Verfechter der Reformation, von dem Luther sich später abwendet.55 In einem Brief an den Lutheraner Conrad Cordatus Von dem lauff des worts Gottes (De cursu verbi Dei, Latein 1527, deutsch 1538), der ihn angegriffen hatte, fasst Schwenckfeld die inzwischen dogmatisch verfestigte, lutherische Schrifttheologie kurz zusammen. Gott rechtfertige ihr zufolge den Sünder allein »durchs gepredigt eüsserlich wort«, so dass die Predigt notwendigerweise dem Glauben an die Gnade vorhergehen müsse. (S. 274) Damit wäre die Gnade Gottes an den Buchstaben und die »Element dieser welt« gebunden. (S. 276) Dagegen spricht für Schwenckfeld schon die Tatsache, dass etwa Jacob, Noah, Moses oder Jesaia das äußere Wort des Evangeliums nicht gekannt haben, obwohl ihnen in der Bibel der Glaube zugesprochen wird. (S. 281) Die wahre christliche Kirche sei durch den Geist verbunden, und sie ist älter als das Christentum. Altes und Neues Testament seien Ausdruck ein- und desselben Glaubens, die Kirche Christi sei so alt wie die Schöpfung.56 Die lutherische Schriftreligion stehe auch in Widerspruch zum Neuen Testament, denn dort heiße es Joh. 3.6, was aus dem Fleisch geboren sei, sei Fleisch, was aus dem Geist geboren sei, Geist. Also könne der Glaube und der Geist nicht aus dem Buchstaben kommen. Der Glaube sei stattdessen eine »himmlische Gabe«, die, vermittelt durch das »lebendige Gottes wort« und den mit ihm verbundenen Heiligen Geist, im Sinne des Wortes »entzuckt«.57 Inneres und 53 Hasse, Karlstadt und Tauler, S. 182. 54 Bodenstein, De spiritu et litera, S. 27. 55 Für eine differenziertere Darstellung Schwenckfelds vgl. Maron, Individualismus und Gemeinschaft; McLaughlin, Franck and Schwenckfeld; McLaughlin, Spiritualism and the Bible; Seebaß, Zum Verständnis des Alten Testaments bei Schwenckfeld; Steiger, Das verbum externum. 56 Maron, Individualismus und Gemeinschaft, S. 129. 57 Schwenckfeld, Von dem lauff des worts Gottes, S. 277 f. Die Terminologie des lateinischen Textes zeigt die enthusiastische Denkfigur noch deutlicher, vgl. Schwenckfeld, De cursu verbi Dei, S. 594: »rapitur extra se in verbum dei«.

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äußeres Wort, Geist und Buchstabe, geistige und fleischliche Welt sind streng getrennt. Es könne deshalb nur einen Glauben geben, »welcher auch nur eynerley weiße vnd ordnung von Gott erlangt würt/ Nemlich/ durch das jnnerlich anblaßen oder anwehen vnd einsprechen des Geysts gottes/ im herrn Jesu Christo.« (S. 281) Wie bei Karlstadt ist dieses »Einsprechen des Geistes« an die Selbstaufgabe in der »gelassenhait« gebunden.58 Schwenckfeld wirft Luther vor, den fleischlichen Menschen mit seiner natürlichen Vernunft nicht wirklich abgeworfen zu haben. Seine Theologie sei nur »auß des buchstabens maisterschafft«, und weil Luther meine, die Schrift könne »one gebet/ vnd one den gaist Gottes« verstanden werden, sei der lutherische Glaube »jedermans ding«, er bestehe im bloß äußerlichen Hören des Evangeliums.59 Die lutherische Religion beschränke sich auf eine äußerliche Mitgliedschaft. Wer nur diese »leere unnd Evangelium will annemen«, der gehöre dazu, ob er den Glauben wirklich habe oder nicht. Die Lutheraner haben die katholische Mauerkirche und die Sakramentsfrömmigkeit durch eine protestantische Mauerkirche und die Schriftfrömmigkeit ersetzt. Ansonsten aber hat sich aus der Perspektive Schwenckfelds nichts geändert. Der Beweis dafür ist die in den späten zwanziger Jahren längst offensichtlich gewordene Tatsache, dass die Reform des christlichen Lebens, die doch mit der lutherischen Reformation hätte einsetzen müssen – mit der deutschsprachigen Predigt und dem Hören des Wortes –, keinerlei Änderungen im alltäglichen Leben und Verhalten der Menschen zur Folge gehabt hat. Der wahre, gerechtmachende Glaube kann also gar nicht »jedermans ding« sein, denn wäre er dies, dann müsste sich das Leben der protestantischen Gemeinden fundamental geändert haben. Es müsste tatsächlich eine Reformation stattgefunden haben.

Sebastian Franck Schwenckfelds Enttäuschung über die ausgebliebene Reformation teilt auch Sebastian Franck, der sich ebenfalls unter dem Eindruck der gescheiterten Obrigkeitsreformation lutherischer Prägung dem Spiritualismus zuwandte.60 58 Crautwald, Von der gnaden Gottes (1528), S. 86. Der ganze Traktat Crautwalds ist eine Polemik gegen den lutherischen Schrift- und Sakramentsbegriff, vgl. den vollständigen Titel, Von der gnaden Gottes/ jhrem ordentlichen gang/ vnd schnellen lauff/ Daß sie an die Sacrament nicht gebunden/ noch an etwas eusserliches gehäfftet sey/ Auch durch sie weder gebracht/ noch mit jhn gegeben werde/ grundliche anzeigung. 59 Schwenckfeld, Von der hailigen Schrift, S. 493. Auch dieser Traktat ist gegen den lutherischen Schriftbegriff gerichtet. 60 Zu Franck vgl. Bauer, Philosophie des Sprichworts; Hegler, Geist und Schrift; Langer, Inneres Wort; McLaughlin, Franck and Schwenckfeld; Quast, Francks Kriegbüchlin; Weigelt, Franck und die Reformation; und Wollgast, Pantheismus. Zu einem mögli-

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Noch weitaus radikaler als Schwenckfeld erklärt Franck in seiner Chronica alle Konfessionen, insofern sie behaupten, den rechten Glauben zu besitzen, zu Sekten. Über den »Lutherisch/ Zwinglisch/ und Teufferische[n] glaub« heißt es: »Welche parthei aber recht habe/ gepürt nicht mir noch einem menschen zu urtheyln/ sonder den geistlichen/ vnd der christlichen Kirchen.« Diese christliche Kirche ist keine weitere Sekte, sondern die Gemeinschaft der »Geistlichen«, der im Geist versammelten Gläubigen. Aus den äußeren Ritualen einer Kirche und dem äußeren Wort der Schrift könne keine Heilsgewissheit erwachsen, diese könne nur der Einzelne in Furcht und Zittern, in der »Gelassenheit« alles Äußerlichen, von Gott erflehen.61 Die Bibel ist für die Frage nach dem Heil nur bedingt von Hilfe, denn ohne den Geist ist sie nichts wert. Seinen Paradoxa stellt Franck das programmatische Diktum voran: »Die Schrifft ist ohne das Licht, Leben und Auslegung des Geistes ein toter Buchstabe und finstere Laterne.«62 Die Paradoxa kreisen um den Gedanken, dass die Schrift dem Verständnis verschlossen bleiben muss, wenn dieses vom Buchstaben ausgeht und auf die Kraft der menschlichen Vernunft vertraut. Das Wort ist »keine Schrift, kein Buchstabe, sondern der Heilige Geist, eine lebendige, wesentliche Kraft Gottes, die den Menschen erneuert, in sich zieht. Ihre Kraft steht in keinem äußerlichen, vorgeschriebenen, hergesagten Wort oder Dienst, sondern in der unsichtbaren Kraft des lebendigen Wortes Gottes, das in uns empfunden wird und den Heiligen Geist mit sich bringt, ja, er selbst ist.«63

Paradox ist die Schrift, weil Gott sie dem gewöhnlichen Verständnis verschlossen hat, um zu verhindern, dass die Menschen einen Abgott aus ihr machen. Das aber hätten die Lutherischen mit ihrer Buchstabengläubigkeit getan.64 Das Wort Gottes ist kein geschriebenes Buch, sondern es ist »mit dem Finger Gottes in die Tafeln des Herzens«65 geschrieben. Dieses Wort ist unendlich, unsichtbar und unaussprechlich. Es ist »in aller gelassenen menschen hertz/ als ain siegel getruckt/ das in allen Creaturn weset/ in allen glaubigen prediget/ in allen gottlosen kifet/ küplet/ hadert/ vnnd die Welt vmb die sünd strafft«. Als solches hat es von Anfang der Welt an alle frommen Menschen erleuchtet, einschließlich der Heiden.66 Nicht nur die alttestamentarischen Väter sind also bereits von dem inneren Wort Gottes erfüllt gewesen, wie es schon Schwenckfeld gemeint hatte,

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cherweise prophetischen Selbstverständnis Francks vgl. Niewöhner, Moses Ben Jacob aus Coucy. Franck, Chronica, f. 134 f. Franck, Paradoxa, S. 3. Franck, Paradoxa Nr. 171 – 174, S. 274. Franck, Paradoxa, S. 6. Vgl. auch Weigelt, Reformation im Spiegel, S. 46, Anm. 28. So der Titel des Paradoxon Nr. 173, vgl. Franck, Paradoxa, S. 271. Franck, Die vier Kronbüchlein, S. 244.

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sondern auch die Philosophen der heidnischen Antike. Indem Franck auch den Poimander in diese Tradition einordnet, verbindet er die neuplatonische Tradition der prisca sapientia mit der mittelalterlichern Logosmystik.67 Jeder Seele ist dieses Wissen um das innere Wort angeboren.68 Alle äußeren Konfessionen und Glaubensbekenntnisse sind als solche schon falsch, denn die Wahrheit kann im geschriebenen Wort nicht erfasst werden. Das wahre Christentum besteht im Heiligen Geist. Wo dieser Geist ist, da muss Freiheit sein und es darf sich niemand erkühnen, »die Seinen zu lehren, zu regieren und zu führen«. Schon die Apostel und die ersten Bischöfe sind nach Franck von dieser Erkenntnis abgefallen.69 Sie haben dem Fleisch nachgegeben, das mit dem Geist in beständigem Streit liegt. Im Menschen muss das Wort Gottes auferstehen, um dessen geistliche Wiedergeburt zu bewirken. Das aber bewirkt das »lebendige Gotteswort« nur, wenn wir uns vorher »aller Dinge gelassen« haben: »Sobald uns das Wort ledig und leer findet, nimmt es uns in Besitz und legt sich wie der Seele Speise an unsere Natur, ja verkocht und reißt unsere Natur in sich.«70

Valentin Weigel Bereits zur zweiten Generation von Spiritualisten gehört Valentin Weigel, der sich gelegentlich auf Müntzer, Schwenckfeld und Franck und in größerem Maßstab bereits auf Paracelsus beruft.71 Auch Weigel, dessen Schriften zu seinen Lebzeiten (1533 – 1588) nur als Handschriften kursierten und erst ab 1609 im Druck erschienen, wendet sich enttäuscht von der Obrigkeitsreformation, der keine echte Erneuerung des christlichen Lebens gefolgt ist, ab. Trotz dem Wort Gottes, das nun schon »30 oder 40 Jahr« gepredigt werde, »ist doch kein Leben noch Erleuchtung zu mercken oder zu spüren mit dem geringsten, ja die Weldt wirdt immer ärger«.72 Gerade das »Maulpredigen« sei es, das allen Jammer in der Welt anrichte, denn es verleugne das »innere Gehöre oder Wortt«.73 Diese innere Erleuchtung durch das Wort, die »übernatürliche Weisheit« liege, wie es im Güldenen Griff (entstanden 1578) heißt, durch geistige Geburt in jedem Menschen, welcher Religion oder welchem Volk auch immer er angehört. 67 68 69 70 71

Hannak, Pymander als inneres Wort. Franck, Die vier Kronbüchlein, S. 244. Franck, Paradoxa Nr. 232, S. 348. Franck, Paradoxa Nr. 255, S. 378, das vorhergehende Zitat dort S. 377. Zu Weigel stellvertretend Pfefferl, Weigel und Paracelsus; Wollgast, Weigel in der Philosophiegeschichte; Zeller, Naturmystik und spiritualistische Theologie. Ausführliche Literaturangaben in den Einleitungen von Pfefferl zu den einzelnen Bänden der WeigelAusgabe. Zur Rezeption Meier-Oeser, Weigel-Rezeption. 72 Weigel, Dialogus de Christianismo (1584), S. 49. 73 Weigel, Dialogus de Christianismo, S. 80.

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(S. 53 f.) Wolle der Mensch Gott erkennen, dürfe er nicht auf sein eigenes Wirken vertrauen, sondern er müsse »Sabath halten«, still stehen, und in dieser Gelassenheit werde sich ihm Gott offenbaren. Christus werde in ihm wiedergeboren. (S. 55) Wer solcherart wiedergeboren sei, wisse mehr als alle äußerlichen Bücher, denn alle äußerlichen Bücher seien nur Zeugnisse des »rechten inwendigen Buches«. (S. 67 f.) Ein echter Theologe sei dabei überhaupt nur, wer dieser Art »aus dem Geist« rede. Insbesondere Melanchthon, der »Schriftgelehrte« par excellence, wird zum Feindbild dieser enthusiastischen Theologie und gegen Luther – »sonderlich in seinen ersten Schrifften« – ausgespielt.74 Wie für Franck sind auch für Weigel alle äußerlichen Kirchen und Konfessionen, der Protestantismus und Katholizismus genauso wie der Islam und das antike Heidentum, nur Sekten, denen die wahre christliche Kirche als eine unsichtbare Kirche der im Geist Erleuchteten gegenübersteht.75 In Weigels Dialogus de Christianismo (entstanden 1584) ist es der »Concionator«, der lutherische Prediger, der dem »Auditor«, dem Laien, seine Verachtung der Predigt zum Vorwurf macht. Nicht der Heilige Geist werde vom Himmel kommen, wie bei den Propheten, sondern ein Mensch solle den andern belehren. Wer das Predigamt verachte, sei ein Enthusiast und Schwärmer und werde vom Teufel betrogen. (S. 40 f.) Dem hält der Auditor entgegen, alles wachse von innen heraus. Das innere Wort werde äußerlich, wie das Wort Fleisch werde. Aus dem Geist fließe der Buchstabe, und die eigentliche Taufe sei die Taufe des Geistes. (S. 46 f.) Selbst wer bis an den Jüngsten Tag Predigten höre, werde den Glauben nicht finden, wenn ihn der Heilige Geist nicht von innen erleuchte. (S. 43) Wer von beiden – Concionator oder Auditor – recht hat, zeigt Christus, der in Gestalt des Todes den Concionator in die Hölle verweist.

Jacob Böhme Jacob Böhme war von prophetischem Selbstverständnis durchdrungen. Anders als Schwenckfeld, Weigel oder Arndt vermittelt sich ihm die Inspiration nicht über das »innere Wort« der Bibel, sondern als Entrückung oder Vision, vergleichbar den alttestamentarischen Propheten.76 Nach seinem Biographen Abraham von Franckenberg ereignete sich die zweite der Erleuchtungen Böhmes, der noch weitere folgen sollten, im Jahr 1600, ausgelöst durch den Glanz eines zinnernen Gefäßes. Böhme sei »vom göttlichen Licht« ergriffen und »zu 74 Weigel, Dialogus de Christianismo, S. 47. 75 Weigel, Dialogus de Christianismo, S. 100. 76 Zu Böhme allgemein vgl. Rusterholz, Böhme. Zu Böhmes Selbstverständnis als Prophet Benz, Der Prophet Böhme. Zu Böhmes Verständnis der Natur als Offenbarung Rusterholz, Liber naturae. Zur Analyse von Böhmes Entrückungserlebnis Haas, Erfahrung und Sprache.

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dem innersten Grunde oder Centro der geheimen Natur eingeführet« worden, so dass er »vermittelst der angebildeten Signaturen oder Figuren, Lineamenten und Farben, allen Geschöpfen gleichsam in das Herz und in die innerste Natur hineinsehen« könne.77 In der Viertelstunde, die nach Böhmes späteren Worten diese Vision anhielt, erfuhr und lernte er mehr, »als wann ich wäre viel Jahr auf hohen Schulen gewesen«.78 Die »Pforte« sei ihm eröffnet worden und Gott habe ihm die Geheimnisse der Schöpfung offenbart. Als Erleuchteter schreibt Böhme nicht aus der eigenen Vernunft, »nicht von Menschen-Lehre oder Wissenschaft aus Bücher-Lernen, sondern aus meinem eigenen Buche, das in mir eröffnet ward: Als die edle Gleichnis GOttes«.79 In und durch Böhme spricht Gott: »GOtt hat mir das Wissen gegeben. Nicht ich/ der ich der Ich bin/ weiß es/ sondern GOtt weiß es in mir.«80 Als »Blitz« und »Platzregen« beschreibt Böhme den Geist Gottes, der ihn durchdringt, oder als einen »Trieb«, der ihn nicht losläßt und ihm als Zwang auferlegt ist. Als »Knecht in Gehorsam« steht er im »Rosen-Garten« Gottes »und mir ward gegeben, alles auf magische Art aufs Papier zu entwerfen.«81 An anderer Stelle beschreibt Böhme diese »magische Art« als Diktat Gottes82 oder seine Schriften als »Gewächs in Gottes Macht«, nicht ein »Werk meiner Vernunft«, sondern eine Offenbarung.83 Seine Schriften seien deshalb, wie die Bibel, nicht nach dem »toten Buchstaben« zu verstehen, sondern nur im »lebendigen Geist« Gottes.84 Immer und überall steht diese Offenbarung Gottes in Gegensatz zur Theologie der »hohen Schulen«, zum akademischen Schulwissen und zur bloß menschlichen Vernunftlehre. Böhmes Wissen ist nicht von dieser Welt, er hat es auch nicht gelernt, sondern es ist ihm von Gott geschenkt worden. Es verhält sich zum bloß menschlichen Wissen seiner gelehrten Kritiker wie die Sonne zum Mond.85 Zwar leugnet Böhme nicht, »viel hoher Meister Schriften« gelesen zu haben, doch betont er, dort nichts gefunden zu haben »als einen halb-todten Geist, der sich ängstet zur Gesundheit, und kann doch um seiner grossen Schwachheit

77 Franckenberg, Bericht § 11, S. 25 f. 78 Böhme, Theosophische Send-Briefe 12.7, S. 44. 79 Böhme, Theosophische Send-Briefe 12.14, S. 46. Vgl. auch Theosophische Send-Briefe 50.1, S. 207 f. 80 Böhme, Rechenschaft des Schreibers § 1, S. 19. 81 Böhme, Erste Schutz-Schrift wieder Tilken 28 – 30, S. 6. 82 Böhme, Theosophische Send-Briefe 2.10, S. 8. 83 Böhme, Theosophische Send-Briefe 7.6, S. 24. Vgl. auch Böhme, Beschreibung der Drey Principien Göttlichen Wesens 25.58, S. 446. 84 Böhme, Rechenschaft des Schreibers § 6, S. 21. 85 Böhme, Erste Schutz-Schrift wieder Tilken 93, S. 16.

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willen nicht zur vollkommenen Kraft kommen.«86 Wie Paulus rühmt Böhme sich seiner »Schwachheit«, die ihn, als ungelehrten Schuster, für die Erkenntnis Gottes prädestinierte. Enoch, Noah, Abraham, Isaac, Jacob, Moses, die Propheten, Christus und seine Apostel seien alle »gemeine und geringe Leutlein« gewesen. Die Schriftgelehrten dagegen, die »Hohen«, waren Christi »Henkersknechte«. Während das »arme und verachtete Völcklein« sein Blut für Christi gelassen habe, hätten »Schriftgelehrte, Päbste, Cardinäle, Bischöfe und grosse Hansen« allezeit nur »die rechte reine christliche Lehre verfälschet«.87 Die Praxis des gelebten Glaubens wird der leeren akademischen Streitsucht gegenübergestellt. Den »Schlüssel zum Buch« finde man nicht durch gelehrte Zankerei, sondern in seinem »eigen Lebens-Buch«. Jeder habe den Schlüssel in sich, in seinem eigenen »Centrum«, und dorthin müsse sich deshalb auch begeben, wer den Weg zu Gott finden wolle.88 Mit der Ablehnung der theologischen Disputiersucht einher geht die Ablehnung der theologischen Hermeneutik. Nicht mit der Vernunft sei der »äußere Buchstabe« der Schrift zu erklären, sondern nur durch die Wiedergeburt in Christo, die den »lebendigen Buchstaben« im Leser eröffne.89 Der »buchstabische« Glaube, der immer bloß ein historisches Wissen um den Erlösungstod Christi sei, müsse im Prozeß der Wiedergeburt dazu führen, dass Christus im Menschen Gestalt gewinne und dieser damit zu einem Tempel des Geistes werde.90 Diesen Prozess der innerlichen Wiedergeburt Christi beschreibt Böhme auch als »Ausgehen aus der Selbheit in die Gelassenheit«91 und als Selbsterkenntnis in der Erkenntnis Gottes. Diese ›Selbsterkenntnis‹ ist dabei wiederum identisch mit der Erkenntnis der Natur, die für Böhme, wie für Paracelsus, als Offenbarung Gottes zu verstehen ist.92 Wie viele Visionäre und Ekstatiker der Frühen Neuzeit sieht Böhme seine prophetische Gabe in einem eschatologischen Zusammenhang. In seinen Schriften kündige sich die »Zeit der Durchbrechung« und »der grosse Tag des HErren« an.93 Das Heilswirken Gottes vollziehe sich durch seine Schriften. Ihr voller Sinn werde sich erst mit dem heranbrechenden Ende der Welt eröffnen.94 Erst dann würden die Erwählten in der »Theosophischen Pfingst-Schule« des Geistes »von solchem Erkentniß hören, schmecken, riechen, fühlen und

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Böhme, Aurora 10.27, S. 119. Böhme, Aurora 9.3 – 6, S. 104 f. Böhme, Zweyte Schutz-Schrift wieder Tilken 306, S. 160. Böhme, De signatura rerum, Vorrede § 4, S. 2. Böhme, De incarnatione verbi, z. B. zweiter Teil 5.16, S. 146 ff. oder Zweyte Schutzschrift wieder Tilken 305, S. 159 f. Böhme, De signatura rerum Kap. 15. Böhme, Aurora 1.1, S. 24. Böhme, Aurora 19.78, S. 277 und Böhme, Aurora 23.84 – 85, S. 350. Böhme, Theosophische Send-Briefe 7.7, S. 24 f.

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sehen.«95 Böhme bezeichnet sich als die »Lilie der mitternächtigen Länder«, die nicht durch den »Sectirischen Zancke der Gelehrten« zerstört werden dürfe, damit seine Schriften zum »Signat-Stern« werden könnten, wenn ihre Zeit gekommen ist.96 Aufgrund dieses eschatologischen Bewusstseins misst Böhme sogar der Veröffentlichung seiner Schriften keinen Wert bei. Sie sollen von seinen Jüngern nur an die weitergegeben werden, »die Gott lieb haben«, für alle anderen hätten sie vor dem Anbruch der Endzeit sowieso keine Bedeutung.97 Unglücklicherweise gelangte jedoch schon 1613 eine Abschrift der Aurora in die Hände des Görlitzer Primarius Georg Richter. Böhme wurde daraufhin als Enthusiast und falscher Prophet angeklagt und musste vor dem Görlitzer Magistrat geloben, mit seiner Schriftstellerei aufzuhören. Fünf Jahre gelang ihm dies, dann war der Geist Gottes wieder stärker. Aber erst 1643, nach seinem Tod, wurden seine Schriften in einer niederländischen Übersetzung in Amsterdam gedruckt. 1662 erschien eine englische Übersetzung98 und 1682 die erste deutschsprachige Ausgabe, herausgegeben von dem Radikalpietisten Johann Georg Gichtel. Böhmes göttliche Inspiration und Sendung gehört bei seinen Jüngern von vornherein zu den grundlegenden Überzeugungen.99 Johann Theodor von Tschesch verteidigt den »hocherleuchteten« Böhme in zwei Schriften gegen die endzeitlichen Listen des Satans. Während sich dieser in den Gegnern Böhmes inkarniere, stehe Böhme als Werkzeug Gottes in der Tradition der biblischen Propheten und Apostel. Seine Schriften seien voll des »gnadenreiches Liechts (welches Gott in diesen letzten verderbten Zeiten/ durch dieses geringe Instrument/ Jacob Böhmen/ uns dermassen reichlich anweisen läst).«100 Der Überzeugung, die Offenbarung sei mit der Heiligen Schrift abgeschlossen, widerspricht Tschesch mit einem Verweis auf Böhme.101 Wenn Böhme ein Enthusiast gewesen sei, dann waren auch Christus und »die Apostel am PfingstTage/ und alle die im Geiste und nicht nach dem Fleische wandelen« Enthusiasten.102

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Böhme, Theosophische Send-Briefe 55.8, S. 218. Böhme, Theosophische Send-Briefe 55.13 – 15, S. 219. Böhme, Theosophische Send-Briefe 7.8 – 9, S. 25. Zur Wirkung Böhmes in England vgl. Halls, Böhme-Rezeption. Insbesondere über Jane Lead und ihre »philadelphischen Gemeinden« wirkte die Böhme-Rezeption wieder auf die deutschen Spiritualisten zurück, vgl. Schneider, Der radikale Pietismus im 17. Jahrhundert, S. 405 f. Zur Rezeption und Wirkungsgeschichte Böhmes Benz, Der Prophet Böhme S. 78 – 118; Rusterholz, Böhme und seine Anhänger ; Brecht, Die deutschen Spiritualisten des 17. Jahrhunderts, S. 205 – 218. Tschesch, Apologia I.2, S. 12. Tschesch, Apologia III.22, S. 71. Tschesch, Apologia I.13, S. 23.

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Ähnlich hagiographisch angelegt ist die Lebensbeschreibung Abrahams von Franckenberg, die später in allen Böhme-Ausgaben mit abgedruckt wird.103 Böhme, der »hochbegnadete Zeuge und deutsche Wundermann«104 erscheint als göttlich auserwählt, angefangen von der Entdeckung eines Schatzes in einer Höhle durch den Knaben, die Franckenberg als »eine Vorbedeutung auf seinen geistlichen Eingang in die verborgene Schatzkammer der göttlichen und natürlichen Weisheit und Geheimnisse« deutet, bis hin zu Böhmes Auseinandersetzung mit der lutherischen Geistlichkeit, dem »Fürst der Finsternis, als ein abgesagter Erbfeind des wahren göttlichen Lichts«, das sich in Böhme offenbart habe.105 Von einer Abgeschlossenheit der göttlichen Offenbarung könne keine Rede sein, weil Gott »nach seiner ewigen Weisheit, nicht alles so bald zugleich und auf einmal offenbart, sondern von Zeit zu Zeit sein heiliges Licht und Erkenntnis gibt und verklärt.«106

Quirinus Kuhlmann und das Licht in der Finsternis Der radikalste Leser Böhmes war Quirinus Kuhlmann, dessen erste Veröffentlichung 1674 – nach der Erleuchtung in seiner »Wunderwoche« – ein Neubegeisterter Böhme war.107 Schon mit diesem Titel bekennt sich Kuhlmann gleichermaßen zu Böhmes wie zu seiner eigenen, göttlichen Inspiration. Kuhlmann wendet sich mit dieser Schrift an das gesamte Luthertum, das er aus Babel herausführen will, aus dem »falschen Leben« in ein »heiliges Leben«, »aus eurem Zancken und streiten in di Sanfftmut und Gelassenheit Gottes/ aus euer eigen geförmten Lehre in di würckliche Geist- und Wahrheitslehre/ in das ewige Evangelium/ wo ihr nicht wollt mit Babel anbrennen/ und sonder verbrennen ewigst verbrennen.« (S. 14) Die »Schultheologia und Philosophia« ist ihm »das andere Thir« der Apokalypse, (S. 23) die »Heidnischchristliche und PäbstischLuthrischCalvinische Theologi, Jurisprudentz/ Medizin, Philosophi, Philologi« ist ihm Gotteslästerung und Teufelswerk. (S. 25 ff.) Wie der Papst einst für Luther der Antichrist war, so ist jetzt Luther mit seinem »Grammaticalischen Evangelium«, (S. 34) seiner Lehre vom »äußeren Wort«, für Kuhlmann der Antichrist: »Er [Luther] vergnügte sich an der Schrifft euseren Schalen/ di in103 Zu Franckenbergs Böhme-Biographie Benz, Der Prophet Böhme, S. 137 – 141. Zu Franckenberg selbst unten S. 42 und S. 179. 104 Franckenberg, Leben Böhmes § 1, S. 20. 105 Franckenberg, Leben Böhmes § 4, S. 20 f (Höhle) und § 14, S. 28 (Fürst der Finsternis). 106 Franckenberg, Leben Böhmes § 51, S. 48. 107 Kuhlmann, Der neubegeisterte Böhme, S. 37. Alle Seitenangaben beziehen sich auf diesen Text. Grundlegend ist Dietze, Kuhlmann. Zu Kuhlmanns messianischem Bewusstsein Schmidt-Biggemann, Erlösung durch Philologie.

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neren Kern verlohr er/ und erklährete in der Schrifft/ was er nicht zuerklähren vermochte/ dadurch er ein neuer Antichrist in Schafswoll ward.« (S. 26) Das »Wortchristentum«, das Luther mit seiner gescheiterten Reformation heraufgeführt hat, müsse durch ein »Thatchristentum« ersetzt werden. (S. 16) Während 1674 noch Böhme als der Entdecker des »ewigen Evangeliums« (S. 30) gilt, ändert sich dies mit dem Erstarken von Kuhlmanns messianischem Sendungsbewußtsein. Nur wenige Jahre später weiß Kuhlmann bereits, dass er weder Prophet noch Apostel ist, sondern der Messias selbst, der »Kühlmann«, der »refrigerator«, der eine »Kühlungszeit«, eine »fünfte Monarchie« heraufbringt, die dem Ende der Welt vorhergeht. Im Amsterdamer Umfeld von Kuhlmann begegnet eine ganze Reihe von Propheten, angefangen von Johannes Rothe, dessen Prophezeiung eines Messias Kuhlmann auf sich bezieht. Rothe hat er dagegen ›nur‹ die Rolle Johannes des Täufers zugedacht, womit sich dieser allerdings nicht abfinden wollte, was zum Abbruch der Beziehungen zwischen beiden führte. Ähnlich überwirft Kuhlmann sich mit Breckling und einigen anderen Propheten seiner Bekanntschaft. Sogar seine Ehe mit einer älteren Witwe geht Kuhlmann nur aufgrund eines prophetischen Auftrags ein. Kuhlmanns spätere Missionsreisen gehen wiederum teilweise auf Visionen seiner beiden Frauen zurück. Auch Antoinette de Bourignon begegnete er in Amsterdam, die sich, ähnlich wie später Eva von Buttlar, eine »neue Eva« oder »Braut Christi« nannte und sich zeitweilig als vierte Person der Gottheit verehren ließ. In ihren Schriften sah sie den »Weibessamen«, mit dessen Hilfe die apokalyptische Schlange vernichtet werden würde. Mit dem »Kühlpsalter« schreibt sich Kuhlmann seine eigene Verkündigung. Sie übertrifft alle Offenbarungen, die der Menschheit bisher zuteil geworden sind: »Wir tuncken ein unseren Kil in di Ewikeit, ein ewiger Kilman, mit unserer Kronzahl der Engelswelt umleuchtet, und übertreffen so weit aller offenbahrungen, als di macht eines absoluten Printzens di macht aller seiner Unterthanen übertriffet.«108 Die Gesänge des »Kühlpsalters« sind deshalb nicht »mit blossem lesen oder betrachten« zu verstehen, sondern können »alleine in dem stande völlig verstanden werden, darinnen si geschriben. Denn si sind aus lebendiger Erfahrung hervorgeflossen, und wirstdu erst wissen, was hir geschriben, wann du es erst wirst wissen.«109 Bei den drei Missionsreisen, die Kuhlmann in leiblicher oder geistiger Form unternahm, waren es jedoch nicht die Schriften Böhmes, die er mit sich führte und dem Sultan, dem Patriarchen von Jerusalem und dem Zar überreichen wollte, sondern es war eine Sammlung von Prophetien, die Johann Amos Comenius 1657 ins Lateinische übersetzt und unter dem Titel Lux in tenebris 108 Kuhlmann, Kühlpsalter Bd. 2, Vorrede zum achten Buch, S. 271 f. 109 Kuhlmann, Kühlpsalter Bd. 1, Vorrede zum ersten Buch, S. 3.

Johann Arndt und die Integration des Spiritualismus in die lutherischer Theologie

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herausgegeben hatte.110 Dieses Licht in der Finsternis hatte für Kuhlmann genauso viel Bedeutung wie die Bibel. Seine Prophezeiungen sind im Kühlpsalter allgegenwärtig. Es handelt sich dabei um die in den Wirren des Dreißigjährigen Krieges erhaltenen Offenbarungen des Schlesiers Christoph Kotter, der Polin Christina Poniatovska und des Mähren Nikolaus Drabik. Bei allen drei Propheten handelte es sich um völlig ungebildete Leute, wie Comenius in seiner Vorrede hervorhebt, die nicht einmal der lateinischen Sprache mächtig sind, im Falle Kotters sogar um einen Analphabeten – was keinen Zweifel daran lässt, daß ihre Prophetien auf göttlichen Einfluß zurückgehen.111 In einem eigenen Abschnitt des Vorwortes wendet Comenius sich an die Theologen, die die Unmöglichkeit nachpfingstlicher Offenbarungen behaupten.112 Ein Kapitel im Anhang zu den Offenbarungen der Poniatovska setzt sich ausführlich mit der Unterscheidung von wahren und falschen Propheten auseinander.113 Dennoch wurde dem Lux in tenebris die offizielle Anerkennung der theologischen Fakultäten verweigert. Das große Interesse an den Offenbarungen, aber auch die aufkommende Kritik beantwortete Comenius schon zwei Jahre später, 1659, mit einer Historia revelationum, in der er die Entstehung der Prophetien sowie ihre Erfüllung, soweit bereits eingetreten, ausführlich schilderte, um dadurch noch einmal ihre göttliche Unmittelbarkeit zu belegen.114

3.

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Frömmigkeit versus Theologie Die entscheidende Wende in der Geschichte des Luthertums hatte sich jedoch schon um 1600 mit dem Werk Johann Arndts vollzogen. Diese Wende wurde zurecht als »zweite« oder (wo der Begriff der »zweiten Reformation« dem Cal110 Mehrfach neu aufgelegt. Ins Englische übersetzte Auszüge finden sich in Comenius, Generall Table. Mir war die zweite, erweiterte Auflage Amsterdam 1665 unter dem Titel Lux e tenebris zugänglich. Zum politischen und chiliastischen Kontext Schmidt-Biggemann, Politische Apokalyptik. Zur Bedeutung für Kuhlmann Dietze, Kuhlmann, S. 144 – 151. 111 Comenius, Lux e tenebris, Informatio ad lectores § 6, S. 46. 112 Comenius, Ad theologos. In: Lux e tenebris S. 19 – 34, hier S. 28 – 31. 113 Comenius, De veris et falsis prophetis. In: Lux e tenebris, Kap. 66, S. 131 – 164. Der kleine Traktat wird noch 1711 – offensichtlich im Zuge der Verteidigung der Radikalpietisten – in deutscher Fassung selbständig publiziert, vgl. Comenius, Tractat von denen wahren und falschen Propheten. 114 Auch hier wieder eine ausführliche Auseinandersetzung mit den theologischen Gegenargumenten, vgl. Comenius, Historia revelationum Kap. 34 ff.

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vinismus vorbehalten wird) »dritte Reformation« bezeichnet. Der Begriff entspricht durchaus dem Selbstbewusstsein Arndts, der Luthers Reformation der Theologie als der »Theorie« des Glaubens durch eine Reformation der gelebten Frömmigkeit als der »Praxis« des Glaubens ergänzen wollte.115 Dieser Selbsteinschätzung entsprach die spätere Wahrnehmung Arndts. Mitte des 18. Jahrhunderts ist der Pietist Friedrich Christoph Oetinger der Überzeugung, dass der Engel der Apokalypse, der das Ewige Evangelium offenbart habe, entweder Jacob Böhme oder Johann Arndt erschienen sei, oder beiden zugleich.116 Was Arndt allerdings von Böhme unterscheidet – und mit diesem auch von den älteren Protagonisten des Spiritualismus wie Müntzer, Karlstadt, Franck, Schwenckfeld und Weigel – ist die Tatsache, dass Arndt zwar ein Spiritualist ist, aber kein Separatist. Dieser Unterschied ist entscheidend. Anders als die elitäre und mehr oder wenig individualistische – und damit auch separatistische – Frömmigkeit dieser Spiritualisten drängt Arndt auf eine spiritualistische Reform der lutherischen Kirche. Arndt stand zu keinem Zeitpunkt seiner Laufbahn außerhalb dieser Kirche. 1611 wird er zum Generalsuperintendenten des Fürstentums von Braunschweig-Lüneburg berufen. Arndt gelingt es, den Spiritualismus in das Luthertum zu integrieren und damit dieses Luthertum in seinem Kern zu verändern. Der Pietismus ist, am Ende dieses Jahrhunderts, das Ergebnis. Arndts Vier Bücher vom wahren Christentum, das meistgedruckte Erbauungsbuch und damit wahrscheinlich das meistgedruckte Buch des 17. Jahrhunderts überhaupt, beginnen 1605 zu erscheinen.117 Ohne seine Quellen kenntlich zu machen, integriert Arndt nicht nur spiritualistisches Gedankengut des Mittelalters (Theologia deutsch, Tauler, Thomas von Kempen, Angela da Foligno, Raimund von Sabunde), sondern mit Weigel und Paracelsus auch den Spiritualismus des 16. Jahrhunderts. Das erste Buch behandelt die Offenbarung Gottes in der Heiligen Schrift, das zweite die Offenbarung »in dem lebendigen Buch oder lebendigen Exempel« Christi, das 115 Zu Arndt vgl. Geyer, Verborgene Weisheit. Wichtige Ergebnisse hat Geyer in zwei Aufsätzen herausgestellt, vgl. Geyer, die pur lautere Essenz und Geyer, Libri Dei. Der Sammelband: »Frömmigkeit oder Theologie« resümiert den Stand der Forschung, vgl. besonders Gilly, Hermes oder Luther sowie die rezeptionsgeschichtlich wichtigen Arbeiten von Brecht, Die Aufnahme von Arndt und Steiger : Arndts Wahres Christentum. Die wichtigen Arbeiten von Schneider zusammengefasst in Schneider, Der fremde Arndt. Zu Arndt und dem Prinzip der »Meditation« in der Erbauungsliteratur als Ausdruck einer »Frömmigkeitskrise« ist grundlegend Sträter, Meditation und Kirchenreform. Wichtig für die hier behandelten Aspekte außerdem Neumann, Natura sagax und Hamm, Arndts Wortverständnis. Überblick bei Brecht, Das Aufkommen der neuen Frömmigkeitsbewegung. 116 Benz, Der Prophet Böhme S. 114. 117 Die Erstausgabe und die erste Gesamtausgabe liegen in neuen Ausgaben vor, vgl. Arndt, Von wahrem Christenthumb (1605) und Arndt, Vier Bücher von wahrem Christenthumb (1610).

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dritte die Offenbarung im Menschen, in seinem »Herzen« und »Gewissen«, das vierte die Offenbarung in der Natur. Schon dieser Grundgedanke einer vierfachen Offenbarung steht zumindest in einem bedingten Widerspruch zum lutherischen Prinzip des sola scriptura. In der Tat ist es nicht schwer, im Wahren Christentum – das sowieso über weite Strecken aus Weigel-Exzerpten besteht – Belege für eine spiritualistische Lehre vom »inneren Wort« zu finden. Immer wieder wird das »Einsprechen des heiligen Geistes« als eine »viel edlere« Gabe allem dem gegenübergestellt, was »von Menschen Verstande durch große Arbeit erlernet wird.«118 Alles Äußerliche – und dazu gehört auch der Buchstabe der Heiligen Schrift – »sind nur mittel/ die man nit verachten soll/ aber sie sind nicht der schatz selber/ sondern Christus vnd Gott/ der kan auch ohne mittel kommen/ wann wir die nicht können haben.«119 Die Berufung auf das »innere Wort« ist einmal mehr mit einer scharfen Ablehnung der akademischen Theologie verbunden. Frömmigkeit als gelebter Glauben und Theologie als »blosse Wissenschaft« stehen sich scharf gegenüber. Programmatisch heißt es in den ersten Sätzen des Wahren Christentums: »Viel meinen/ die Theologia sey nur eine blosse Wissenschaft vnd Wortkunst/ da sie doch eine lebendige Erfahrung vnd Vbung ist. Jederman studiret jetzt/ wie er hoch vnd berümbt in der Welt werden möge/ aber from seyn will niemand lernen.«120 Insbesondere über Philologie und Logik als Instrumente der Theologie entrüstet sich Arndt.121 Ungeachtet der Tatsache, dass Arndt mit dem Wahren Christentum ein äußerst umfangreiches Buch geschrieben hat, polemisiert er im Namen des »inneren Wortes« gegen die theologische Bücherflut seiner Kollegen. Sie sei »wider die art des newen Testaments, welches nicht in auswendigen Buchstaben bestehet, sondern im Geist.« Der Geist aber sei »in der wahren Christen Hertz geschrieben«.122 Wie die echte innerliche Frömmigkeit von der bloß äußerlichen Theologie, so sei der Heilige, der »aus dem Geist gehet vnnd im Geist bestehet«, vom bloßen Gelehrten zu unterscheiden, der am äußerlichen Buchstaben klebe. 118 Arndt, Wahres Christentum (1610) I.36, S. 371. 119 Arndt, Wahres Christentum (1610) II.34.11, S. 392. Die Stelle ist aus Weigels Gebetbüchlein. 120 Arndt, Wahres Christentum (1610), Vorrede S. 7 (Paginierung des Neudrucks). 121 Geyer, Verborgene Weisheit Bd. 3, S. 108 und Gilly, Hermes oder Luther, S. 175. Weitere Stellungnahmen gegen die Schultheologie bei Geyer, Verborgene Weisheit Bd. 1, S. 79 – 139. Vgl. auch Arndt, Dissertatio §3, S. 190: »Improbandum igitur studium theologicum est, quod in nuda saltem theoria versatur et in artem disputatricem prorsus abit.«, zitiert nach der Edition in Schneider, Arndts ›verschollene‹ Frühschriften, S. 190 – 192 (es handelt sich bei der Schrift allerdings nicht um De antiqua philosophia, wie Schneider meint). 122 Arndt, Vorrede zur Theologia Deutsch, zit. nach Geyer, Verborgene Weisheit Bd. 1, S. 102.

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»[D]er Heilige lernet auß Gott: Jnwendig/ aus dem H. Geist/ aus der Salbung die vns alles lehret/ der Gelehrte hat seine Kunst in Worten/ der Heilige in der Krafft.«123 Die neuere theologische Forschung bestreitet deshalb, dass Arndt sich tatsächlich noch im Rahmen der lutherischen Theologie bewege. Das äußere Wort sei bei Arndt nur noch ein »Verweis auf Gottes inneres Sprechen im Herzen«, die wörtliche Auslegung der Bibel werde »von mystisch-existentieller Allegorie zurückgedrängt«, so dass der Leser Arndts »auf Wort und Sakrament der Kirche eigentlich nicht mehr angewiesen« sei.124 Berndt Hamm fasst seine Studie zu Arndts Wortverständnis mit den Sätzen zusammen: »Der bedeutendste Erbauungsschriftsteller des Luthertums, ja sein meistgelesener Theologe überhaupt [nämlich Johann Arndt], vertritt keine lutherische Theologie. Dafür sind die theologischen Gegensätze, die wir am Wortverständnis beobachten konnten, zu fundamental. Preisgegeben ist die zentrale hermeneutische Entdeckung Luthers, daß der sensus litterae der Schrift die letztgültige Weise ist, mit der sie uns anredet. Preisgegeben ist die Mitte seiner reformatorischen Botschaft: daß diese Anrede und kein anderes Wort sonst als Freispruch von der Sünde und Zusage der Gerechtigkeit lebendiges und lebensspendendes Wort des Heiligen Geistes ist.«125

Ganz ähnlich hat schon die akademische Theologie der Zeit über Arndt geurteilt. In einer Repetitio apologetica (1620) verteidigt sich Arndt dagegen: »Sehet zu jhr Calumnianten ob das Enthusiasterey sey? Jhr elenden Leute wenn wolt jhr lernen/ das die Theologia nit eine Menschliche wortkunst sey/ sondern eine Himmlische Göttliche Weißheit vnd erleuchtigung/ durch den heiligen Geist vnd Wort Gottes angezündet […]«126 – Johannes 14.21 wird gegen die Schultheologie ins Feld geführt: »Der Herr spricht wer mich lieb hat/ dem wil ich mich offenbahren. Hie ist die Schule der Himlischen Weißheit gezeiget/ wo sol die Offenbahrung geschehen? Ohne zweiffel im Hertzen/ wodurch? Durch die Liebe Christi: Was sol denn die Offenbahrung seyn? Göttliche Weißheit vnd Erkenntniß.«127 Der Höhepunkt der Repetitio apologetica ist sicherlich erreicht, wenn der lutherische Theologe Arndt sich ausgerechnet auf die Liebeskunst Ovids (Ars amatoria 3.549) beruft, um seine göttliche Inspiration zu beglaubigen. Während Ovid nämlich anerkenne, dass ein Gott in uns sei, durch den wir entzündet würden (»Est Deus in nobis, agitante calescimus illo«), wäre es eine Schande, dass »solche tröstliche Lehr« heute verlästert und verketzert werde.128 123 124 125 126 127 128

Arndt, Wahres Christentum (1610) III.1, S. 6. Brecht, Das Aufkommen der neuen Frömmigkeitsbewegung, S. 139. Hamm, Wortverständnis, S. 72 f. Arndt, Repetitio apologetica I.36, S. 48. Vgl. auch dort S. 49 f. Arndt, Repetitio apologetica III.1, S. 87 f. Arndt, Repetitio apologetica II, S. 69.

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Arndt hat auch keine Probleme mit der Annahme einer neuplatonischen prisca theologia, einer vormosaischen Offenbarung Gottes bei den Ägyptern, den persischen Magiern, Hermes Trismegistus und in der Kabbala.129 In einer frühen Rede über die Frage, Welcher gestalt die uhralte Philosophia, und Göttliche Weißheit der alten weysen wiederumb zu erlangen (1580) beruft sich Arndt auf die klassisch hermetische Überzeugung, dass alle Weisheit am Anfang eine gewesen sei, deren Zerfall erst die philosophischen und religiösen Sekten hervorgebracht habe. Selbst wenn man vielleicht nicht davon sprechen kann, dass Arndt diese radikal spiritualistische, frühe Schrift unterdrückt hat, ist es sicherlich kein Zufall, dass sie nie gedruckt worden ist.130 Arndt – der wahrscheinlich nie Theologie studiert hat – dürfte über sein Medizin-Studium in Basel bei Theodor Zwinger mit den paracelsischen und hermetischen Schriften bekannt geworden. Das vierte Buch des Wahren Christentums, das »Buch der Natur«, ist eine Kompilation aus Schriften des Paracelsus und der Theologia naturalis des Raimund von Sabunde. Grundgedanke ist die Deutung der Natur als eine Offenbarung Gottes. In den Signaturen der göttlich geschaffenen Dinge offenbare sich das »innere Wort der Schöpfung«, der lebendige Buchstabe des Buches der Natur. Wie das spiritualistische »innere Wort« der Schrift unmittelbar in der Seele des Erleuchteten wirke, so wirke das »innere Wort« der Natur mittelbar durch den Kosmos als Schöpfung Gottes. Weil der Mensch als Mikrokosmos den in ihm zusammenlaufenden Influenzen des Makrokosmos ausgesetzt sei, stehe der Mensch im »Licht der Natur«, das ihm die Erkenntnis der verborgenen Kräfte der Natur ermögliche. Das »innere Licht« der Kreaturen konvergiere mit dem »Licht der Natur«.131 Dieses Amalgam von spiritualistischer Theologie und paracelsistischer Naturphilosophie gehört zu den wirkungsmächtigsten Prägungen des 17. Jahrhunderts.

Radikale und gemäßigte Arndt-Rezeption Ausgehend von Arndt ist ein radikaler Spiritualismus, der in den Separatismus führt, von einem gemäßigten Spiritualismus zu unterscheiden, der sich innerhalb der lutherischen Kirche entfaltet. In den Separatismus führt das Wahre Christentum Arndts dort, wo er sich mit einem prophetischen Bewusstsein 129 Gilly, Hermes oder Luther. 130 Zu dieser Rede unten S. 176 ff. 131 Ich paraphrasiere Geyer, die pur lautere Essenz, S. 91 und S. 94.

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verbindet, wie etwa bei Ludwig Friedrich Gifftheil, Joachim Betke, Friedrich Breckling oder Christian Hoburg.132 In Hoburgs Theologia mystica (1655), die sich in ihrem Untertitel Geheimde Krafft-Gottes-Lehre nennt, nimmt die Verachtung der akademischen Schrifttheologie die Form einer fast tausendseitigen Schrift an. Von den ersten Sätzen der Vorrede an polemisiert Hoburg gegen die »heut in allen Secten [also den Konfessionen] regirende Wort- und Wind-Theologie«, die nichts »als ein falsch Wort- und Wind-Licht« ist und deshalb ein »falsch- und gottloß Leben nach sich zeucht/ darüber endlich das gerechte Zorn-Gerichte deß gerechten Richters« folgen müsse.133 Durch die bloß »historisch äusserliche Theologie« ist »als auß einem grossen Trojanischen Pferde alles Unglück und Unheil« gekommen.134 Bei seiner eigenen Theologie handle es sich dagegen um eine »verborgene«, mystische Theologie, weil sie im Gegensatz zur bloß äußerlichen, akademischen und toten Schultheologie zeige, wie »der verborgene Grund deß Hertzens/ in der Krafft Gottes von der Selbheit gereiniget/ und von dem Liecht Gottes erleuchtet/ inwendig der verborgene Mensch deß Hertzens wieder auß Gott geboren/ mit Gott vereiniget/ in Gott lebe/ zeitlich und ewiglich!«135 Eine Reform der Kirche hält Hoburg für unmöglich. Wie für Luther einst die römische Kirche, so ist für Hoburg die lutherische Kirche das eigentliche Babel. Bei Abraham von Franckenberg äußert sich das »innere Wort« nicht als prophetisches Bewusstsein, sondern als Wiedergeburtserfahrung, die Franckenberg im Jahre 1617 erlebt hatte.136 Durch »stätiges wachen und beten« sei er »in einen stillen Sabbath gezogen worden« und habe »in selbigem Principio unaussprechliche worte der krafft/ und ein licht über alle lichter gehöret und gesehen.« In dieser »gar anderen«, »verborgenen« »Welt und Schule« habe er »den ersten und ewigen Grundt der wahren, allein seeligmachenden Theologiae […] neben dero sonnenklaren Zeugnußen und andern unaußsprechlichen Geheimnußen des Luminis gloriae, gratiae ac naturae« gefunden. In der Lektüre von Paulus, der Theologia Deutsch, Tauler, Thomas a Kempis, Weigel, Schwenckfeld und Arndt habe sich ihm diese Erfahrung später bestätigt.137 Was aus dieser Wiedergeburtserfahrung folgt, ist an erster Stelle eine Ablehnung des protestantischen »Maulchristentums«, das der lutherischen Lehre 132 Vgl. den Überblick bei Brecht, Die deutschen Spiritualisten des 17. Jahrhunderts, hier bes. S. 221 – 233. 133 Hoburg, Theologia mystica, Vorrede § 1, f. )( ij r. Zu Hoburg Schmidt, Hoburgs Begriff der mystischen Theologie und ders., Die spiritualistische Kritik Hoburgs. 134 Hoburg, Theologia mystica, Vorrede § 2, f. )( ij v. 135 Hoburg, Theologia mystica, Vorrede § 20, f. )( vj r. 136 Grundlegend zu Franckenberg ist die Einleitung von Telle in Franckenberg, Briefwechsel. Einen Überblick vermittelt Rusterholz, Franckenberg. 137 Zitate nach den Briefen, in denen Franckenberg sein Wiedergeburtserlebnis beschrieben hat, vgl. Franckenberg, Briefwechsel Nr 49/12/21, S. 242 ff. und Nr. 00/00/00, S. 300 f.

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vom »äußeren Wort« anhängt und deshalb glaubt, in der Predigt die alleinige Vermittlungsinstanz des Heiligen Geistes zu besitzen.138 Insbesondere Melanchthon erfährt schärfsten Tadel für seine Hermeneutik.139 Der Sinn der Schrift erschließe sich nicht durch logische Erörterungen, sondern durch Gebet und göttliche Erleuchtung.140 Die Arndt-Lektüre konnte auch zurück in den Katholizismus führen. Christoph Besold – neben Andreae einer der Verfasser der frühen RosenkreutzerManifeste – begründete seine 1635 erfolgte Konversion zum katholischen Glauben unter anderem mit dem Spiritualismus, in dem Theologen wie Johann Arndt und Johann Gerhard zurecht das Wesen der Religion überhaupt erkannt hätten.141 »Die ganze Religion der Lutherischen besteht nur im Predigen, das heißt, in einer bloßen Wissenschaft, wovon die Zuhörer wenig geniessen; und wenn man einen fragen sollte, was er denn sein Lebenlang aus den Predigten gelernt habe, so würde er gewißlich sehr in Verlegenheit kommen.«142 Die von Luther als »äußerlich« abgetanen Zeremonien der katholischen Kirche (»das Knien, Fasten, Wachen, Säcke anziehen«) werden von Besold wieder als Mittel der Erbauung und Andacht erkannt.143 Die lutherische Theologie biete dem mystischen Spiritualismus mit ihrer akademischen und geistfeindlichen Ausrichtung keine Heimstatt, sondern verketzere diesen sogar noch als »Enthusiasterey«. Mit dieser Begründung konvertierte einige Jahrzehnte später auch Johannes Scheffler zum katholischen Glauben, um dann unter seinem neuen Namen Angelus Silesius die mystische Vereinigung mit Gott zu verkünden, unbelästigt von der protestantischen Geistfeindlichkeit. Als neunten Punkt für seine Konversion nennt er die »freventliche Verwerffung« der »geheimen mit Gott gemeinschafft-Kunst (Theologiae Mysticae) welche doch der Christen höchste Weißheit ist«, von den Lutheranern aber als Schwärmerei verworfen werde.144 Die »geistreichen Sinn- und Schlußreime« seines Cherubinischen Wandersmanns (1656) seien ihm »meisten theils ohne Vorbedacht und mühsames 138 Franckenberg, Theologische Sendschreiben. 139 Franckenberg, Leben Böhmes § 52, S. 48 f. 140 Franckenberg, Gespräche mit Seidenbecher, S. 358 und S. 367. Franckenberg, Leben Böhmes § 52, S. 49. Vgl. auch unten S. 179 f. 141 Mir war nur eine Ausgabe des 19. Jahrhunderts zugänglich, vgl. Besold, Motive seiner Rückkehr zur römisch-katholischen Kirche Kap. 7, S. 158 f. Zu Besold Brecht, Das Aufkommen der neuen Frömmigkeitsbewegung S. 154. 142 Besold, Motive, S. 159. 143 Besold, Motive, S. 160. 144 Scheffler, Vrsachen vnd Motiven, S. 240, Punkt XI. In der Verteidigungsschrift gegen Schertzer nennt Scheffler die Böhme-Lektüre als Anlass seiner Konversion, vgl. Scheffler, Werke Bd. 1, S. 121, Anm. 26. Schefflers persönliche Betroffenheit über den EnthusiasmusVorwurf dokumentiert etwa der Brief an Betke, Scheffler, Werke Bd. 1, S. 230 f.

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Nachsinnen in kurtzer Zeit von dem Ursprung alles guten einig und allein gegeben worden aufzusetzten«.145 Sie dokumentieren das Einsprechen des Geistes im Inneren (z. B. I.237), die Überflüssigkeit des toten Buchstabens (z. B. II.137), die Gelassenheit (z. B. II.135), die Natur als Offenbarung Gottes (z. B. I.270 und V.86) oder die Notwendigkeit einer Wiedergeburt (z. B. II.107). Bei den gemäßigten Arndtianern steht dagegen nicht die unmittelbare göttliche Erleuchtung im Zentrum, sondern die »praxis pietatis«, die gelebte Praxis des Glaubens, die Frömmigkeit. Insbesondere über die einflussreichen Theologen Johann Gerhard und Johann Valentin Andreae übt dieses Frömmigkeitsideal einen kaum zu überschätzenden Einfluss auf die protestantische Theologie des 17. Jahrhunderts aus. Gerhard greift dabei allerdings nicht auf paracelsisches Gedankengut zurück und verzichtet bewusst auf Begriffe wie »Gelassenheit«, um dem Vorwurf der »Enthusiasterey« zu entgehen.146 Über die Schüler Gerhards – zu denen etwa Johann Saubert und Johann Michael Dilherr in Nürnberg gehören – verbreitet sich die Frömmigkeitsbewegung innerhalb der lutherischen Kirche. Die drei großen lutherischen Erbauungsschriftsteller des 17. Jahrhunderts – Joachim Lütkemann, Heinrich Müller und Christian Scriver – sind alle in die Schule Arndts und Gerhards gegangen. Der enorme Aufschwung, den die Erbauungs- oder Andachtsliteratur um 1620 verzeichnet, ist überhaupt nur als Wirkung des Arndtschen Frömmigkeitsideals zu fassen. Neben der Erbauungsliteratur ist es vor allem die Dichtung, die durch das neue Frömmigkeitsideal geprägt wird. Die religiöse Lyrik und Kirchenlieddichtung, von Andreas Gryphius über Johann Rist, Catharina Regina von Greiffenberg, Johann Heermann und Martin Rinckart bis hin zu Paul Gerhardt ist nachweislich in die Schule Arndts gegangen.147 Das »innere Wort« bedient sich von nun an bevorzugt poetischer und bildlicher Formen. Dieser Prozess hatte sich schon bei Arndt in der ›poetischen‹, bildlichen Sprache des Wahren Christentums, seinen zahlreichen Gleichnissen und Metaphern, aber auch in den emblematischen Illustrationen angekündigt. Johann Valentin Andreae beschreibt in seiner Autobiographie die Wirkung, die Arndt auf ihn hatte, mit den Worten: »Denn ihm verdanke ich es tatsächlich, daß ich aus jener oberflächlichen Betrachtung [theoria] unserer Religion und der ausschweifenden Lebensweise, die verbunden war mit der Ansicht, der Glaube sei unfruchtbar, durch die Güte Gottes zu einer wahrhaftigen Ausübung

145 Scheffler, Vorwort zum Cherubinischen Wandersmann. In ders., Werke Bd. 1, S. 307 – 314, hier S. 314. 146 Steiger, Johann Gerhard, S. 79. 147 Brecht, Das Aufkommen der neuen Frömmigkeitsbewegung, S. 166 – 194. Zu Arndts Wirkung auf Paul Gerhardt vgl. Axmacher, Arndt und Gerhardt. Zur gesamten Entwicklung Steiger, Fünf Zentralthemen.

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[praxis] und einem tätigen Glauben emporgetaucht bin.«148 Seine Christianopolis (1619) widmet er Arndt, dem »ehrwürdigen Vater« der Frömmigkeit, auf dessen Wahres Christentum, das er den »Sophisten« (das heißt den akademischen Theologen) abgetrotzt habe, alles zurückgeführt werden müsse.149 Für Andreae impliziert das Bekenntnis zu Arndt den unbedingten Willen zu einer Reform der lutherischen Kirche von innen heraus und ist mit einer scharfen Ablehnung jedes Separatismus verbunden. Mit Andreaes 1642 erfolgter Berufung zum Hofprediger und Konsistorialrat hat sich dieser gemäßigte Spiritualismus in der lutherischen Kirche fest etabliert. Von hier aus führt ein direkter Weg zum kirchlichen Pietismus Speners.

Philipp Jacob Spener 1675 erscheint mit Philipp Jacob Speners Pia desideria – ursprünglich als Vorrede zu Arndts Evangelienpostille gedacht – die Programmschrift des Pietismus.150 Grundgedanke ist einmal mehr die Reform der Kirche von innen heraus, aus der gelebten Frömmigkeit. Hertzliches Verlangen/ Nach Gottgefälliger besserung der wahren Evangelischen Kirchen heißen die Pia desideria im Untertitel. Beklagt wird die Überfremdung der Theologie durch aristotelische Philosophie und scholastische Subtilitäten. An die Stelle einer bloß äußerlichen Moralität solle die »geistreiche Kraft und höchste Einfalt« des wahren Christentums treten. Entscheidendes Merkmal des Pietismus ist damit von vornherein das Streben nach einer Erfahrung des Geistes: »Seit Speners Pia desideria von 1675 ist allen Formen des frühen Pietismus – dem von August Hermann Francke geprägten Halleschen Pietismus, dem württembergischen Pietismus eines Bengel und Oetinger, dem von der Schweiz über den Niederrhein bis nach Bremen reichenden reformierten Pietismus, der Herrnhuter Brüdergemeine usw. – gemeinsam die Klage über die Geistesarmut der Amtskirche und ihres Predigerstandes, über das geistlose Gewohnheitschristentum der Kirchgänger, über die Geistlosigkeit einer in buchstäblicher Gelehrsamkeit und konfessioneller Polemik sich erschöpfenden Theologie. Gemeinsam ist allen Formen des frühen Pietismus das Drängen und Warten auf ein neues, reicheres, individuell oder in Gruppen erfahrbares Wirken des Heiligen Geistes.«151

148 Andreae, Autobiographie Bd. I, S. 21 f., Übersetzung Hintzen. Zu Andreaes Frömmigkeit unten Kap. VI.3. 149 Andreae, Christianopolis (Übersetzung Biesterfeld), S. 6. 150 Grundlegend ist Brecht, Spener und Wallmann, Pietismus. 151 Wallmann, Geisterfahrung, S. 132. Der Aufsatz ist grundlegend für die folgenden Ausführungen.

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Der erste Verbesserungsvorschlag Speners in den Pia desideria lautet, »daß man dahin bedacht wäre/ das Wort Gottes reichlicher unter uns zu bringen«, wobei sich Spener durchaus zur lutherischen Theologie des »äußeren Wortes« bekennt.152 Neben der Predigt als die Verkündigung des Wortes wird zur Ergänzung eine Lektüre der Bibel in privaten Zirkeln unter Leitung des Pfarrers vorgeschlagen. Der zweite Vorschlag fordert das allgemeine, »geistliche Priestertum«, das nicht nur in guten Werken und Almosen, sondern im Studium des Wortes Gottes und in der Belehrung, Ermahnung und Erbauung der Mitmenschen bestehe. Der dritte Vorschlag fordert die Reform des Christentums nicht aus dem Wissen, sondern aus der Praxis des Glaubens, nämlich der Liebe. Der vierte Vorschlag fordert ein Ende der interkonfessionellen Streitigkeiten, von denen keine Einigung zu erwarten sei. Durch Disputationen werde niemand zu einem wahren Christen, denn dabei gehe es nicht um intellektuelle Überzeugung, sondern um Bekehrung, und diese vollziehe sich an erster Stelle durch den Geist und die Kraft des göttlichen Wortes. Den ersten dieser Vorschläge, die Einrichtung privater Lektüre-Zirkel, hatte Spener schon seit 1670 mit den Collegia pietatis in die Tat umgesetzt.153 Die öffentliche Predigt und Verkündigung des »äußeren Wortes« wird durch eine private und persönliche Aussprache über die Bibellektüre ergänzt. Nicht Separation von der Kirche, sondern die Sammlung der Gläubigen in einer »ecclesiola in ecclesia«, einer »Kirche in der Kirche« ist Speners Hoffnung. Nicht logischrational durch Kenntnis der biblischen Sprachen und philologische Gelehrsamkeit wird das Wort der Bibel in diesen Collegia erschlossen, sondern durch lebendige Lektüre-Erfahrung. Dieser Nachdruck auf der persönlichen Erbauung durch das äußere Wort, dem Lauschen auf die Ansprache des Heiligen Geistes, steht einem Offenbarungserlebnis höchst nahe. Sehr schnell kam es in den ersten pietistischen Collegia oder ihnen ähnlich aufgebauten Konventikeln zu Entrückungserlebnissen, Visionen und Ekstasen.154 Spener hat die Möglichkeit außerordentlicher, das heißt über die Vermittlung durch das Wort hinausgehender Geisterfahrungen nicht bestritten. Immer wieder beklagt er sich darüber, dass jeder, der von der Notwendigkeit der Erleuchtung durch den Heiligen Geist rede, des Enthusiasmus verdächtigt werde.155 Speners Glaube an Geistoffenbarungen hängt insbesondere mit seiner Erwartung des Tausendjährigen Reiches zusammen. Nach den prophetischen Verheißungen des Alten Testaments (Joel 3.1) wird Gott in den letzten Zeiten seinen

152 153 154 155

Spener, Pia Desideria, S 108. Brecht, Spener, S. 295 – 299. Brecht, Spener, S. 316 – 319. Wallmann, Geisterfahrung, S. 136.

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Geist ausgießen über alles Fleisch und damit die Gabe der Weissagung, der Träume und der Gesichte verbreiten.156 Mit diesen Geistoffenbarungen rechnen Spener und Francke. Die Schwierigkeit besteht darin, die echten Propheten von den falschen zu unterscheiden, vor deren Auftreten in den letzten Zeiten in der Bibel ebenfalls gewarnt wird. Nicht nur Gott und der Teufel können für solche Offenbarungen verantwortlich sein, sondern auch Betrug oder psychische Krankheiten.157 Spener war deshalb mit seinem Urteil vorsichtig und zurückhaltend. Nach Johannes Wallmann hat er Zeit seines Lebens keine einzige Geisterfahrung – mit der er doch bei den radikalen Pietisten, den Böhme-Anhängern oder in der Person Kuhlmanns ständig konfrontiert war – für gottgewirkt erklärt.158 Francke und später Zinzendorf waren anfänglich in der Bestätigung der Geisterfahrungen etwas freizügiger als Spener, haben sich dann aber, nach den Erfahrungen im Umgang mit den »Inspirierten« – wie sie jetzt, Anfang des 18. Jahrhunderts, genannt werden –, ebenfalls scharf von diesen abgegrenzt.159 Zu diesem Zeitpunkt aber war der Pietismus als Bewegung schon demselben Schicksal erlegen, das die lutherische Kirche von Anfang an bedroht hatte, nämlich der Abspaltung von radikalen Gruppen und Einzelgängern.

Radikale Pietisten und Inspirationsgemeinden Spener hatte schon 1676 mit Gerüchten zu kämpfen, dass in seinen Collegia pietatis weissagende Mägde aufträten.160 1677 kommt es zur Abspaltung einer radikalpietistischen Gruppe, zu der auch das Ehepaar Petersen gehört. Johanna Eleonore von Merlau, seit früher Jugend von Traumbildern und Visionen heimgesucht, hatte Johann Wilhelm Petersen, den sie 1680 heiratete, in den Collegia kennengelernt. 1685 machen beide Eheleute zeitgleich, aber unabhängig voneinander (wie sie betonten), beim Studium der Apokalypse die Entdeckung des Chiliasmus, nachdem Eleonore schon 1662 in einer Vision einen Mann gesehen hatte, der auf die mit großen goldenen Ziffern geschriebene Zahl

156 157 158 159

Wallmann, Geisterfahrung, S. 141. Wallmann, Geisterfahrung, S. 142. Wallmann, Geisterfahrung, S. 143. Wallmann, Geisterfahrung, S. 142. Zu Franckes Verhältnis zu den radikalen Pietisten (insbesondere zu den »begeisterten Mägden«) Brecht, Francke und der Hallische Pietismus, S. 458. Zu Zinzendorfs Verhältnis zu Rock vgl. Meyer, Zinzendorf und Herrnhut, S. 32. 160 Brecht, Spener, S. 317.

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1685 gedeutet und gesagt hatte: »Zu dieser Zeit werden anfangen große Dinge zu geschehen und dir soll etwas eröffnet werden.«161 1691 nahmen sie die Prophetin Rosamunde Juliane von der Asseburg, die seit ihrer Jugend Christusvisionen und -auditionen hatte, in ihr Pfarrhaus auf. Petersen veröffentlichte ihre Offenbarungen in einem Send-Schreiben an einige Theologos und GOttes-Gelehrte/ Betreffend die Frage Ob Gott nach der Auffahrt Christi nicht mehr heutiges Tages durch göttliche Erscheinung den menschenkindern sich offenbahren wolle und sich dessen gantz begeben habe? Sampt einer erzehlten specie Facti Von einem Adelichen Fräulein/ was ihr vom siebenden Jahr ihres Alters biß hierher von GOTT gegeben ist (1691). Es kam einmal mehr zum Streit um die Möglichkeit solcher Offenbarungen, was von der »Orthodoxie« weiterhin klar verneint wurde. Die Offenbarungen Julianes von der Asseburg wurden als Teufelswerk verketzert. 1692 wurde Petersen seines Pfarramtes enthoben. Spener griff im selben Jahr mit einem Theologischen Bedencken über einige Puncten, nahmentlich die gerühmte Offenbarung eines Adelichen Fräuleins in die Auseinandersetzung ein. Vier Möglichkeiten macht Spener dort für die Herkunft der Visionen aus: Gott, Teufel, psychische Krankheit oder Betrug.162 Während Spener sich bei Juliane von der Asseburg kein Urteil erlaubt, ist er sich bei dem Quedlinburger Goldschmied und Brantweinhersteller Heinrich Kratzenstein sicher, dass es sich um melancholisch verursachte Wahnvorstellungen handelt.163 Kratzenstein hatte sich für den letzten Elia gehalten und das unmittelbare Bevorstehen des Tausendjährigen Reiches gepredigt. Die Bibel hatte er zum toten Buchstaben und alle Kirchenzeremonien für Götzendienst erklärt. Unter Berufung auf eine Offenbarung hatte er außerdem verlangt, ein Kammerfräulein der Äbtissin des Quedlinburger Stifts zu heiraten. Derartige Vorkommnisse sind um 1690 in mittel- und nordeuropäischen Städten nicht allzu selten.164 Meist handelte es sich um Frauen aus einfachen Verhältnissen, die als »begeisterte Mägde« ekstatische, prophetische und visionäre Erscheinungen hatten, wie Katharina Reinecke und Anna Margaretha Jahn in Halberstadt, Anna Maria Schuchhardt und Maria Graf in Erfurt, Magdalena Elrich und die »Blutschwitzerin« Anna Eva Jakobs in Quedlinburg, die Fräulein Wolff und Rinckhammer in Halle, Adelheit Sibylla Schwartz in Lü-

161 Zit. nach Schneider, Der radikale Pietismus im 17. Jahrhundert, S. 404 und Schering, Johann Wilhelm und Johanna Eleonore Petersen, S. 232. 162 Wallmann, Geisterfahrung, S. 140 ff. 163 Schneider, Der radikale Pietismus im 17. Jahrhundert, S. 402. 164 Eine Zusammenstellung der historischen Ereignisse bei Föller, Pietismus und Enthusiasmus.

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beck.165 Letztere war aufgrund eines Ratsmandats Wider die Schwärmer und neuen Propheten aus Lübeck ausgewiesen worden, konnte aber 1693 dank der Fürsprache Speners wieder zurückkehren.166 »Gemeinsam waren diesen Ekstatikerinnen außer den Erscheinungsformen ihrer Verzückungen und der mystischen Sprache auch die Inhalte ihrer prophetischen Verkündigung: Bußrufe und Strafandrohungen an das unbußfertige Kirchenvolk und Verheißung der Rettung der Frommen stehen in einem apokalyptischen, oft chiliastisch geprägten Rahmen. Die Pietisten sorgten dafür, daß die Frauen sich untereinander kennenlernten und in pietistischen Kreisen bekannt wurden. Sie besuchten sich und gerieten gemeinsam in ekstatische Zustände – bestaunt von Gesinnungsfreunden und Neugierigen. Ärzte wurden bemüht, um ihre seelische Gesundheit und damit den übernatürlichen Charakter der Vorgänge zu bestätigen.«167

Die Verbindung von Endzeiterwartung und Prophetie bestimmt auch das Auftreten prophetischer Einzelgänger zu Beginn des 18. Jahrhunderts, wie etwa Balthasar Christoph Klopfer, der durch die Tauler-Lektüre erweckt worden war. Er prophezeite den nahe bevorstehenden Anbruch des Gottesreiches und den Untergang der Konfessionskirchen, die er mit dem endzeitlichen Babel identifizierte.168 Johann Tennhardt, ein Nürnberger Perückenmacher, erlebte 1704 in einer Vision seine Berufung zum »Kanzlisten des großen Gottes« und griff daraufhin in seinen Bußrufen das »Maulchristentum« und die etablierte Kirche an. Ähnlich die als Erweckungsprediger durch Deutschland ziehenden Johann Georg Rosenbach, Johann Maximilian Daut und Christian Anton Römeling, die immer wieder in Konflikt mit der Obrigkeit kamen.169 Der Separatismus ist auch hier die notwendige Begleiterscheinung des Bewußtseins einer göttlichen Inspiration. Um 1715 kommt es zur Bildung der sogenannten Inspirationsgemeinden, in denen sich eine ganze Gemeindestrukturen um das prophetische Wirken einzelner formieren.170 Als »Werkzeuge« Gottes leiten diese die Gemeinde durch ihre in der Ekstase empfangenen Prophezeiungen, die »Aussprachen«. Ihren Ursprung haben diese Gemeinden im Aufstand der französischen »Camisarden«, der 1685 durch die Aufhebung des Ediktes von Nantes (das den Protes165 Schneider, Der radikale Pietismus im 17. Jahrhundert, S. 401 und Brecht, Francke und der Hallische Pietismus, S. 458. 166 Brecht, Spener, S. 364. 167 Schneider, Der radikale Pietismus im 17. Jahrhundert, S. 401. 168 Schneider, Der radikale Pietismus im 17. Jahrhundert, S. 407. 169 Zu allen genannten Autoren Schneider, Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert, S. 139 – 145. 170 Zu den Inspirationsgemeinden der Überblick bei Schneider, Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert S. 145 – 152; sowie Grossmann, Gruber über wahre und falsche Inspiration; Krauß, Rock; Schneider, Propheten der Goethezeit und bes. Noth, Ekstatischer Pietismus.

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Die Lutherische Theologie und ihre spiritualistische Herausforderung

tanten freie Religionsausübung gestattet hatte) ausgelöst wurde. Während der darauf folgenden, grausamen Verfolgungen kam es zum massenhaften Auftreten ekstatischer Phänomene. Die Aufständischen, ihrer Pfarrer beraubt, ließen sich in ihrem Guerillakrieg (bis in die strategischen Entscheidungen hinein) von göttlichen Weisungen leiten, die ihnen durch Ekstasen zuteil geworden waren. Über einige der exilierten Ekstatiker, die in Missionsreisen die Botschaft von der angebrochenen Endzeit und vom Gericht Gottes bekanntmachen sollten, breitete sich die Bewegung von London über Holland nach Deutschland aus. 1713 tauchten die französischen Propheten in Halle bei August Hermann Francke auf, wo in einem Konventikel die drei Brüder Pott die Gabe der Inspiration erhielten. Nach deren Ausweisung aus Halle reisten diese auf Weisung des Geistes durch Deutschland. 1714 erweckten sie in Hanau ein achtzehnjähriges Mädchen, das daraufhin selbst Inspirationserlebnisse hatte. Von hier aus breitete sich die Gabe schnell in der Wetterau aus. Als einer der ersten wurde der Sattlermeister Johann Friedrich Rock, der bereits eine pietistische Vorgeschichte hatte, als »Werkzeug« berufen. Insgesamt waren es zwölf solcher prophetischen »Werkzeuge«, die von den Inspirationsgemeinden anerkannt und in Listen aufgeführt wurden. Die »Aussprache« der Ekstatiker vollzog sich in denselben Erscheinungsformen, wie sie aus der Antike oder von den sogenannten ›Naturvölkern‹ bekannt sind, nämlich unter Bewegungen, die »in einem ungewöhnlichen, und der bloßen Natur meist unmöglichen Schüttlen des Kopfes, Schlappern des Mundes, Zuckung der Achseln, Schlottern der Knie, Zittern der Beine, Erschütterung und Aufhüpfen des ganzen Leibes« bestanden.171 Die Ekstase konnte jederzeit und an jedem Ort auftreten, ereignete sich jedoch zumeist bei den Gebetsversammlungen. Während der Ekstase konnten die Inspirierten einzelne Zuhörer direkt ansprechen oder mit anderen Inspirierten in einen Austausch treten. Inhaltlich waren die »Aussprachen« von Bußrufen, Mahnungen, Ankündigung göttlicher Strafgerichte, Zurechtweisungen, Geißelung von sündigem Verhalten einzelner und der Weissagung zukünftigen Geschehens erfüllt. Die »Aussprachen« konnten sich auch an staatliche oder kirchliche Würdenträger richten, denen sie dann in schriftlicher Form zugestellt wurden. Wie ihre französischen Vorgänger begaben sich diese Propheten auf Missionsreisen, deren Routen und Ziele ihnen vom Geist eingegeben wurden. Auf diesen Reisen wurden sie von Schreibern begleitet, die die Offenbarungen schriftlich festhielten, an die Gemeinden weitergaben und für die Veröffentli171 Eberhard Ludwig Gruber, Nöthiges und Nutzliches Gespräch, Von der Wahren und Falschen Inspiration, 1716, S. 34, zitiert nach Grossmann, Gruber über wahre und falsche Inspiration, S. 65 und Schneider, Propheten der Goethezeit, S. 60. Vgl. auch die Beschreibungen bei Krauß, Rock S. 95.

»Häresie« und »Orthodoxie«

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chung vorbereiteten. Um die echten von den bald auftretenden falschen Propheten zu unterscheiden, erhielt Eberhard Ludwig Gruber, der selbst kein »Werkzeug« war, vom Geist die Gabe der »Unterscheidung«, was durch eine »Aussprache« Rocks verkündet und von Gruber in ein Nöthiges und Nutzliches Gespräch, Von der Wahren und Falschen Inspiration (1716) gebracht wurde. Sittliche Integrität, »Wahrheit und Rechtschaffenheit des Herzens«, wie sie der hyperskrupulöse und beständig von Anfechtungen geplagte Rock sein Leben über praktiziert hat, bildet dabei die notwendige Voraussetzung. Daneben ist es das »innere Wort« – auch Gruber gehört zu den Lesern Schwenckfelds, Weigels und Arndts und war bereits zuvor mit einer Schrift Von dem inneren Wort hervorgetreten –, dem sich der Prophet »in kindlicher Demut und Gelassenheit« ergeben muss, um sich ganz dem Willen Gottes auszuliefern.172

4.

»Häresie« und »Orthodoxie«

Kritik und Verketzerung der Enthusiasten Von den Polemiken Luthers und Melanchthons ausgehend reicht die Kritik der Enthusiasten und Schwärmer bis in die Auseinandersetzungen um den Pietismus. Allgegenwärtig ist der Vorwurf, durch die Verabsolutierung des »inneren Wortes« werde der willkürlichen Berufung auf Inspiration und damit der Abkehr von kirchlichen und akademischen Institutionen Tür und Tor geöffnet. Zu nennen sind etwa Johann Wiegand (De Schwenckfeldismo, 1586), Conrad Schlüsselburg (Catalogus haereticorum, 1597 – 1601), Nikolaus Hunnius (Principia theologiae fanaticae, quam Theophrastus Paracelsus genuit, Weigelius interpolavit, 1619 und Christliche Betrachtung der Newen Paracelsischen und Weigelianischen Theology, 1622), Johann Schelhammer (Widerlegung der vermeynten Postill Valentini Weigelii: In welcher der Satan/ in diesem letzten Seculo, seine Hellische Gift vnd Grundsuppe aller Lesterung vnd Lügen/ wider Christum/ sein Wort/ Sacramenta/ vnd Diener/ gar stoltz/ frech vnd vbermütig außgeschüttet hat, 1621), Georg Rostius (Heldenbuch vom Rosengarten. Oder Gründlicher und Apologetischer Bericht von den Newen Himmlischen Propheten/ Chiliasten und Enthusiasten, 1622) und Theodor Thumm (Impietas Wigeliana, 1622). Allgegenwärtig ist der Enthusiasmus-Vorwurf in der Auseinandersetzung um Arndts Wahres Christentum, insoweit dieses im polemischen Schrifttum nicht sowieso unter dem Begriff des Weigelianismus und Paracelsismus abgehandelt wird. Bereits 1617 bricht in Danzig der Rahtmannsche Streit aus, in dessen 172 Grossmann, Gruber über wahre und falsche Inspiration, S. 62.

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Die Lutherische Theologie und ihre spiritualistische Herausforderung

Zentrum die Lehre von der Geistwirkung des Wortes steht.173 Der schärfste Kontrahent Arndts ist jedoch Lukas Osiander, der in seinem Theologischen Bedenken Vnd Christliche Treuhertzige Erinnerung, welcher Gestalt Johann Arndten genandtes Wahres Christenthumb nach Anleitung des H. Wortes Gottes vnd der reinen Evangelischen Lehr vnd Bekandtnussen anzusehen vnd zu achten seye (1623) meint, das Wahre Christentum müsste eigentlich heißen: »Wie ein Mensch ohne das geschribne und gepredigte Wort Gottes zu innerlichen, ungemittelten Erleuchtungen vnd Schwenckfeldischen, enthusiastischen und Wigelianischen Einsprechungen kommen möchte«.174 Unter den Kritikern Böhmes ragt Abraham Calov mit seinem Anti-Böhmius (1684) heraus, und auch hier steht die Berufung auf unmittelbare Offenbarungen von Anfang an im Zentrum, wenn das erste Argument von Calov lautet, dass diese Sekte, die sich auf unmittelbare Geistesoffenbarungen berufe, nicht aus dem Heiligen Geist, sondern vom Teufel inspiriert sei. In einem angehängten ›Ketzerkatolog› werden die Anhänger Böhmes, zu denen Kuhlmann, Franckenberg, Tschesch, Rothe, Betke, Breckling, Hoburg oder Gifftheil gehören, namentlich aufgelistet.175 Eine zweite antienthusiastische Publikationswelle hebt um 1690 mit der Auseinandersetzung um den Pietismus an. Drei Fronten zeichnen sich jetzt ab: die radikalen und separatistischen Pietisten, die kirchlichen und gemäßigten Pietisten (nach ihrem Zentrum der »Hallesche Pietismus« genannt) und die die kirchliche und akademische lutherische Theologie. Auch hier steht die unmittelbare göttliche Inspiration, die der kirchliche Pietismus nicht kennt, an erster Stelle. Joachim Lange, der Schüler und Nachfolger Franckes, wendet sich mit seinem Nöthigen Unterricht von unmittelbaren Offenbarungen (1715) gegen die Inspirierten, gleichzeitig befindet er sich in einer lebenslangen Fehde mit Valentin Ernst Löscher, der ihm seinerseits den Vorwurf des Schwärmertums macht. Das bekannteste Werk dieser Polemik ist Daniel Ehregott Colbergs Platonisch-hermetisches Christentum (1690/91). Ihm zufolge sind alle »Weigelianer, Rosenkreutzer, neue Propheten, Stifelianer, Methisten, Hoburgianer, Bömisten, Wiedertauffer, Quäcker, Bourignisten, Quietisten, Septenisten, und wie das Geschmeis sonst immer mehr Namen haben mag« aus der Theologia mystica als einem »platonischen Ey« hervorgekrochen. Der erste Teil des Platonisch-hermetischen Christentums ist diesen einzelnen Sekten gewidmet, die allesamt bis auf die antiken Pythagoräer, die Hermetik und die Gnosis zurückgeführt wer173 Vgl. die detaillierte Darstellung von Halverscheid, Rahtmanns Kritik. Zur Bedeutung der Auseinandersetzung Steiger, Das Wort sie sollen lassen stahn. 174 Osiander, Theologisches Bedenken, S. 137 f. 175 Zu Calov vgl. Kaufmann, Nahe Fremde, S. 220 – 239.

»Häresie« und »Orthodoxie«

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den. Der zweite Teil ist den einzelnen Punkten gewidmet, in denen diese »fanatische Theologie« vom geoffenbarten Wort Gottes abweicht. Der erste Punkt ist dort die Berufung auf eine »innere unmittelbare Offenbarung/ Erleuchtung/ Einsprechen/ die innere Stimme/ Einblasen/ Antreiben/ Angiessen/ inwendige Erkäntniß«, aus der »alle Wissenschafft und Erkäntniß« stammen solle.176 Die Frage, ob Gott sich in gegenwärtiger Zeit noch offenbare, wird mit einem Verweis auf das Neue Testament, in dem alle Glaubensartikel enthalten seien, klar verneint.177 Ähnlich argumentiert Friedrich Christian Bücher in seinem Plato mysticus in Pietista redivivus. Das ist: Pietistische Übereinstimmung Mit der Heydnischen Philosophia Platonis Und seiner Nachfolger/ Besonders in der Lehre von denen so genandten Himmlischen Entzuckungen/ Alle und jede/ Welche die wahre Gottseligkeit lieben/ Für der Tieffe des Sathans zu warnen/ In einem Augenscheinlichen Parallelismo Richtig gezeiget/ Schrifftmäßig erörtert/ und dem Urtheil der Evangelischen Kirchen übergeben (1699). Wie damit schon angekündigt, erkennt auch Bücher im Enthusiasmus ein platonisches Erbe, das sich insbesondere über Plotin, Ficino, Pico, Reuchlin und Agrippa bis auf die Pietisten übertragen habe.178 Nicht um eine »himmlische Entzuckung« handelt es sich bei den Visionen der Pietisten, sondern um eine »unordentliche Liebes-Regung«, die das Blut und die Lebensgeister stark erhitze, »welche plötzliche Veränderung in der Fantasie so wunderliche Vorstellungen machet/ daß der Mensch nicht weiß/ wie ihm geschiehet«. Kein Wunder, dass der »Knabenschänder« Platon, Simon Magus in seinem »Huren-Winkel«, die Gnostiker, Begarden, Beguinen und Wiedertäufer, Karlstadt, Franck und »Männer-sieche Closter-Nonnen« zu solcherart Entrückungen geneigt waren.179 1692 erscheint Augustus Pfeiffers Antienthusiasmus, oder Schrifftmäßige Offenbarung/ Was von denen Enthusiasten/ neuen Propheten und Visionisten/ und ihren Offenbarungen insgemein […] zu halten sey, 1694 Albrecht Christian Rotths Unterricht von Prophetischen Weissagungen, 1708 Valentin Ernst Löschers Praenotiones theologicae contra Naturalistarum et Fanaticorum omne genus, in denen Löscher wiederum eine Linie von Schwenckfeld bis zum Pietismus zieht. Obwohl Löschers Praenotiones noch 1752 ein fünftes Mal aufgelegt werden, ist der innerlutherische Kampf gegen den Pietismus verloren. Der Pietismus hat den Begriff der Religion neu als praktizierte Frömmigkeit bestimmt. Die Theologie hat das Recht verloren, das zu bestimmen, was den 176 Colberg, Des Platonisch-hermetischen Christentums Ander Theil 1.2, S. 5. Dazu Lehmann-Brauns, Weisheit in der Weltgeschichte, S. 112 – 186. 177 Colberg, Des Platonisch-hermetisches Christentum Ander Theil, S. 34. 178 Bücher, Plato mysticus, S. 9. Zu Bücher Lehmann-Brauns, Weisheit in der Weltgeschichte, S. 187 – 222. 179 Alle Zitate Bücher, Plato mysticus, S. 94 und 95.

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Die Lutherische Theologie und ihre spiritualistische Herausforderung

wahren Glauben ausmacht. Umgekehrt gilt, dass, wer solches versucht, selbst schon Verrat am wahren Glauben begeht. Der Gegensatz von Frömmigkeit und Theologie, das Feindbild von der »toten Schriftgelehrsamkeit«, der »Orthodoxie«, hat sich durchgesetzt.

Gottfried Arnold und die Verketzerung der »Orthodoxie« Wesentlich dafür verantwortlich ist Gottfried Arnolds radikalpietistische Unpartheyische Kirchen- und Ketzerhistorie (1699/1700), in der das Feindbild von der »toten Orthodoxie« systematisch entwickelt wird.180 In dieser Geschichte der Kirche sind nicht mehr die Separatisten und Spiritualisten die Ketzer, sondern die offizielle Kirche, die »Orthodoxie«. Die wahre Kirche dagegen ist die kleine Gemeinde der wenigen echten, geistbeseelten Christen. Alle institutionalisierten Kirchen sind, von der Konstantinischen Schenkung an, die eigentlichen Sekten, das eigentliche Babel, während die wahre Kirche sich in einer unsichtbaren Kirche des Geistes manifestiert und jeder Institutionalisierung widerstreitet. Weil das Reich Gottes »allezeit inwendig« und »denen leiblichen augen unkänntlich« sei, sei auch »die wahre kirche Christi unter allen partheyen, völckern und sprachen unsichtbar, verborgen, unterdruckt und in der wüsten«. Die »wenigen verachteten außwürfflingen«, die diese wahre Kirche bildeten, hätten sich an der »innern verbindung und verwandtschafft des Geistes gekannt, nicht aber an äusseren formen, ceremonien, satzungen, arten, zeiten, und andern umständen«.181 Die »innerliche Frömmigkeit« des Pietisten geht schon bei Arnold ihre Verbindung mit dem Toleranzideal der Aufklärung ein. Weil die Frömmigkeit von nun an Privatsache ist, fordert Arnold die Trennung von Kirche und Staat. Der Staat soll sicherstellen, »daß niemand wider sein eigen hertz und gewissen zu dem gemeinen kirchen-wesen und andern satzungen gezwungen, oder deswegen übel angesehen werde.«182 Das eigentliche Übel seien nicht die separatistischen Bestrebungen der »stillen im lande«, die ein frommes und gottgefälliges Leben führten, sondern die etablierte Kirche mit ihrem »verderbten hauffen der offenbahren gottlosen und heuchler«.183 Jede Art von dogmatischer Verfestigung und kultischer oder 180 Zu Arnold vgl. Schneider, Der radikale Pietismus im 17. Jahrhundert, S. 410 – 416 sowie die Beiträge in dem Sammelband: Gottfried Arnold (1666 – 1714). Zur Konvergenz von radikalem Pietismus und Aufklärung dort Pott, Thomasius und Arnold. 181 Arnold, Kirchen- und Ketzerhistorie § 13, S. 1178. 182 Arnold, Kirchen- und Ketzerhistorie, »Beschluß des IV. theils«, § 20, S. 1179. 183 Arnold, Kirchen- und Ketzerhistorie, »Beschluß des IV. theils und der gantzen kirchenhistorie«, § 20, S. 1179 (»stillen im lande«) und § 21, S. 1180 (»verderbten hauffen«).

Zusammenfassung

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kirchenrechtlicher Verfassung ist für Arnold schon Verrat an der wahren Kirche und Zeichen des Verfalls. Der Enthusiasmus ist das Kennzeichen des wahren Christen: »Das ganze Leben eines Christen ist in dem Wort Enthusiasmus enthalten. Vor welchen die verkehrten Lutheraner aus Haß wider die wahre und lebendige Gottes-Gelahrtheit so einen abscheu haben.«184 Die wahre Frömmigkeit, die »theologia mystica« ließe sich deshalb auch nicht »durch Worte/ die durch menschliche Weißheit zusammen gesetzt sind/ entweder nach der Zierlichkeit der Rede/ oder nach subtilen Schlüssen« beweisen.185 Diese sind sogar »mehr schädlich als nützlich«, »alldieweil das vereinte Gedencken an göttliche Dinge alle die Umschweiffe und Bewegungen des Verstandes meidet und fleucht«, je näher es der »gemeinen Schul- und disputir-Art« kommt.186 Die wahre Theologie ist eine »geheime Gottesgelehrtheit/ als eine Gabe des H. Geistes«.187 Wie die anderen radikalen Pietisten ist dabei auch Arnold von einer fundamentalistischen Frömmigkeit und der Sehnsucht nach einem »heiligen Leben« beseelt. 1698 gab er seine Professur in Gießen auf, weil er die »Greuel der Verwüstung«, wie er sie an der Universität vorfand, nicht mehr ertragen konnte. Der »Auszug aus Babel« stellte sich ihm als die einzig mögliche Konsequenz dar.

5.

Zusammenfassung

Inspiration, Offenbarung und Enthusiasmus sind im 16. und 17. Jahrhundert keine Metaphern. Die Frühe Neuzeit ist voll von Einzelgängern und Gruppen, die sich auf eine unmittelbare göttliche Offenbarung berufen. Wer dies tut, muss – wenn er den Separatismus sowieso nicht schon freiwillig gewählt hat – damit rechnen, in diesen gedrängt zu werden. Die Behauptung einer unmittelbaren Offenbarung Gottes führt, wo es sich um kirchliche Amtsträger handelt, zum Schreibverbot und zur Amtsenthebung. Wer innerhalb der lutherischen Kirche bleiben will, muss sich auf die lutherische Theologie des »äußeren Wortes« beschränken, das heißt, die Geistoffenbarung an den Buchstaben der Bibel binden. Die Grenze zwischen einem innerkirchlichen und einem separatistischen Spiritualismus ist dabei nicht immer leicht zu erkennen und war in ihrem genauen Verlauf schon in der Zeit selbst umstritten. Vor allem verschiebt sich diese Grenze im Laufe der Frühen Neuzeit. Während Weigel seinen Spiritualismus 184 Arnold, Kirchen- und Ketzerhistorie, Theil II, Buch 16, cap. 19, S. 691, der dort vermutlich Melchior Brelers Vindiciae pro mysterio iniquitatis zitiert. 185 Arnold, Mystische Theologie VIII.15, S. 193 f. 186 Arnold, Mystische Theologie VIII.16, S. 194 f. 187 Arnold, Mystische Theologie I.8, S. 5.

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Die Lutherische Theologie und ihre spiritualistische Herausforderung

noch im Verborgenen vertreten muss, etabliert sich mit Arndt ein gemäßigter Spiritualismus innerhalb des Luthertums. Was sich bei Sebastian Franck noch in Opposition zum kirchlichen Luthertum befindet – die Bestimmung der wahren Kirche als einer Geistkirche – erhebt im Pietismus eines Gottfried Arnold Anspruch auf allgemeine Gültigkeit. Aus dem äußeren Buchstaben der Bibel ist zwar eine legitime »Inspiration« zu beziehen, allerdings ist diese an den grammatisch-philologisch zu eruierenden Sinn der Schrift gebunden, mithin an die menschliche Vernunft und eine begrifflich, argumentativ fortschreitende Theologie. Die zunehmende akademische Institutionalisierung dieser Theologie lässt auf der anderen Seite ein zunehmend größeres Bedürfnis nach einer »gelebten Frömmigkeit« entstehen, die der begrifflichen Vernunft das »Herz« und die lebendige, nicht an den Buchstaben gebundene Anrede Gottes entgegenstellt. Das lutherische und vor allem melanchthonische Ideal der Schriftgelehrsamkeit verliert damit in religiösen Fragen zunehmend an Überzeugungskraft. Spätestens mit dem Beginn des 18. Jahrhunderts und dem Pietismus setzt sich der neue Religionsbegriff der »Enthusiasten« durch. Religion wird mit gelebter Frömmigkeit identifiziert.

II.

Magie, Kabbala und Mystik in den Anfängen der Reformation

Der Spiritualismus bildet bereits in den Anfängen der Reformation einen beherrschenden Einfluss, und zwar erstens in Form der von dem frühen Luther hochgeschätzten, mittelalterlichen Mystik, und zweitens in Form des philosophischen, spekulativen Spiritualismus, wie er in Gestalt der neuplatonischen Magie und der christlichen Kabbala auftritt.1 Während die theologische Auseinandersetzung um den innerlutherischen Spiritualismus wesentlich als eine Debatte um den Status des »inneren Wortes« geführt wird, steht in der Auseinandersetzung um Paracelsismus, neuplatonische Magie und christliche Kabbala die Reichweite der Vernunft zur Debatte. Es geht um die Frage, welcher Status der Vernunft und ihrer methodischen Form, der Logik oder Dialektik, gegenüber dem göttlichen Wort der Offenbarung zukommt. Unter dem Eindruck insbesondere der Theologia deutsch, die eine grundsätzliche Insuffiziens der Vernunft in Glaubensfragen behauptet, ist der frühe Luther ein scharfer Gegner dieser Vernunft. Melanchthon dagegen ist bei seiner Ankunft in Wittenberg ein Protagonist des dialektischen, rationalistischen Humanismus, wie er durch Rudolf Agricola und Erasmus seine entscheidende Prägung erfahren hat. Dieser dialektische, rationalistische Humanismus steht in einer massiven Opposition zum Paracelsismus und in einem zumindest unterschwellig oppositionellen Verhältnis zu dem Humanismus, der durch den italienischen Neuplatonismus geprägt ist, namentlich zu Agrippa von Nettesheim und Johannes Reuchlin. Paracelsus, Reuchlin und der frühe Luther haben zumindest darin eine Gemeinsamkeit, dass sie den Verstand und die Logik gegenüber der Offenbarung Gottes abwerten, im Gegensatz zu Erasmus und Melanchthon. Während Luther 1 Ich danke David Price für seine Kritik dieses Kapitels. Nachdrücklich sei auf dessen eigene Arbeit: Johannes Reuchlin and the Campaign to Destroy Jewish Books (Oxford, New York 2011) verwiesen, die mit ihrem Bild des Humanisten und Juristen Reuchlin ein Bild entwirft, das sich komplementär zu dem Spiritualisten Reuchlin verhält, wie ihn dieses Kapitel zeichnet.

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Magie, Kabbala und Mystik in den Anfängen der Reformation

unter Melanchthons Einfluss seine frühe, ablehnende Einstellung zur Logik ändert, sind nicht alle seine Mitstreiter und Nachfolger zu diesem Richtungswechsel bereit. Von Karlstadt über Weigel und Arndt bis zu den Pietisten berufen sich die spiritualistischen Kräfte insbesondere auf den frühen Luther und werfen Melanchthon dagegen Verrat an den Ideen der Reformation vor.

1.

Die spiritualistische Herausforderung durch Magie und Kabbala

Agrippa von Nettesheim: Neuplatonische Magie Der italienische Neuplatonismus erfährt, neben der Kabbala, seine prominenteste Rezeption in der Naturphilosophie und Theologie der Magie, wie sie Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim in seinen De occulta philosophia libri tres (1510/33) systematisiert und expliziert hat. Agrippas Quellen sind spätantike, wie das Corpus Hermeticum oder Jamblich, mittelalterliche, wie der im 13. Jahrhundert aus dem Arabischen übersetzte Picatrix, sowie die Rezeption, die dieses Material bereits zuvor bei Ficino, Pico und Reuchlin gefunden hat.2 Die drei Bücher von De occulta philosophia sind den drei Welten gewidmet, die Agrippa in Anlehnung an den Picatrix unterscheidet: die elementare, sublunare Welt, die himmlische Welt der Planeten und die intellektuelle Welt. Jede dieser Welten wird von der jeweils höheren beeinflusst, so dass der Einfluss Gottes über die Engel in der intellektuellen und die Sterne in der himmlischen bis in die Elemente der sublunaren Welt hinabreicht. Aufgabe der Magie ist es, den umgekehrten Weg zu lehren, nämlich über die Kräfte der elementaren Welt durch Medizin und Naturphilosophie, über die Kräfte der Sterne durch Astrologie und über religiöse Rituale und Zeremonien auf die Welt der Engel Einfluss zu nehmen. Ein zentrales Element der magischen Theorie ist dabei, wie bei Ficino, die Theorie der »spiritus«, von denen der Kosmos erfüllt ist und die das Element sind, über das sich die magische Einflussnahme vollzieht.3 Agrippas Magie ist deutlicher als die Magie Ficinos auch eine dämonische. Die Wirkung von Talismanen, Beschwörungen, Ritualen und Gebeten wird analog zu Ficinos De vita libri tres (1489) erläutert, nur dass Agrippa – im Unterschied zu Ficino – deren Wirkung explizit auf Dämonen bezieht. Ziel der verschiedenen Techniken, wie 2 Zu Agrippa stellvertretend Lehrich, Language of Demons; Yates, Bruno, S. 130 – 143; Zambelli, Agrippa. 3 Grundlegend Walker, Spiritual Magic und Copenhaver : How to Do Magic.

Die spiritualistische Herausforderung durch Magie und Kabbala

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sie das zweite Buch von De occulta philosophia erläutert, ist der Aufstieg des Magiers in die höhere Welt und damit seine Teilhabe an der Macht der Engel oder Dämonen. Das dritte Buch entwickelt schließlich die höchste Form der Magie, die zeremonielle oder religiöse. Gleich in den ersten Kapiteln stellt Agrippa heraus, dass das Christentum zwar alle antiken Religionen überrage und abgelöst habe, die Substanz der christlichen Lehre aber in ihrem Kern mit den antiken Religionen identisch sei. Die Orphischen Hymnen, Hermes Trismegistos oder Jamblich haben die Dreieinigkeit und damit das zentrale Dogma einer spezifisch christlichen Theologie schon gekannt. (Kap. III.8) Die antike Mythologie ist für Agrippa, wie für Ficino, eine verschleierte Theologie im christlichen Sinne, die Kabbalisten, die Pythagoräer und die Engelslehre des Dionysius sind Ausdruck derselben prisca theologia. Auf der anderen Seite wird damit implizit auch das Christentum zu einer Religion unter anderen. Sein Wahrheitsgehalt steht auf einer Stufe mit den antiken Mysterienreligionen. Der Begriff der prisca theologia, wie ihn vor allem Ficino etabliert hat, ist dabei ein, wenn nicht das zentrale Element dieses neuplatonischen Spiritualismus. Er bezeichnet den Glauben an eine Uroffenbarung, die älter oder zumindest genauso alt wie die biblische Offenbarung und allen Völkern gleichermaßen zuteil geworden ist.4 Indem der Prozess der Offenbarung nicht abgeschlossen ist, vollzieht er sich in ausgewählten Individuen immer noch. Mit dieser Annahme einer außerbiblischen Offenbarung tritt der Neuplatonismus in einen fundamentalen und nicht zu überbrückenden Gegensatz zur lutherischen Theologie des »sola scriptura« und der durch sie erzwungenen Entwicklung einer Hermeneutik. Die Bibel wird zu einer Offenbarung unter anderen, deren Bedeutung nicht in einem rationalen Akt entschlüsselt werden muss, sondern selbst die Erfahrung des Geistes voraussetzt. Eine wichtige Rolle in diesem neuplatonisch gedachten Offenbarungsprozess spielt die Theorie der göttlichen Entrückung (furor divinus, enthusiasmus, raptus, extasis), in der sich die Offenbarung vollzieht. Agrippa behandelt sie im Anschluss an Ficino und Platon als »zeremonielle Magie«. (Kap. III.45 – 50) Im Sinne der prisca theologia liegt der Nachdruck auf der Identität von antikheidnischer, jüdischer, christlicher und hermetischer Tradition. Ziel der Entrückung oder Ekstase ist die Lösung der Seele von ihrem Körper und ihre Erhebung zu Gott, wo sie der Offenbarung teilhaftig wird. Die Mitteilung dieser Offenbarung kann als Dichtung, Prophetie, Zukunftsvorhersage oder Orakel erfolgen. In schärfstem Gegensatz zum lutherischen Prinzip des »sola gratia«, das jede menschliche Selbsttätigkeit in spirituellen Dingen bestreitet, widmet sich Agrippa ausführlich den Möglichkeiten, durch Kontemplation, kultische 4 Grundlegend Walker, Ancient Theology.

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Magie, Kabbala und Mystik in den Anfängen der Reformation

Reinheit, Fasten, Keuschheit, Gebet oder Einsamkeit, aber auch durch spezifisch christliche Rituale wie die Sakramente eine göttliche Entrückung herbeizuführen. Wie bei Paracelsus erscheint in Agrippas De occulta philosophia der Kosmos als spirituelles Lebewesen, das der Magier durch seine Kenntnisse der verborgenen Zusammenhänge zwischen irdischen und himmlischen Dingen beherrscht. Indem der Magier die Kräfte der Gestirne durch Symbole, Klänge, Zahlen oder etwa Räucherwerk in die irdische Welt herabzwingen kann, gelingt es ihm, Dinge zu vollbringen, die als Wunder erscheinen müssen. Wo genau die Grenze verläuft zwischen einer magia naturalis, die als höchster Teil der Naturphilosophie auftritt, und einer dämonischen Magie, deren Wirkung sich durch die Hilfe übernatürlicher Kräfte – Dämonen oder Engel – vollzieht, ist dabei schwer zu bestimmen,5 insofern diese Unterscheidung eng mit der jeweiligen naturphilosophischen Konzeption verknüpft ist. Allein der Status der spiritus kann zwischen ›Geistern‹ als überirdischen Intelligentien (wie bei Paracelsus und Agrippa) und durchaus materiell gedachten, kleinsten Partikeln changieren. Ein Phänomen wie der Magnetismus etwa kann damit, als unleugbar ›spirituelles‹ Phänomen, gleichermaßen magisch-dämonische wie materialistische Erklärungen finden, je nach dem Status der spiritus. Im Laufe des 16. Jahrhunderts gehen die Wege in der Entwicklung dieser Magie zunehmend auseinander. Auf der einen Seite stehen Traktate wie die extrem erfolgreichen Magiae naturalis sive de miraculis rerum naturalium libri Giambattista della Portas (zuerst 1569), die eine Sammlung natürlicher Phänomene aus der »Wunderkammer« der Natur darstellen. Magia naturalis bezeichnet hier die Erforschung der Geheimnisse der Natur, wie etwa der Zeugung, der Optik, der Metallverarbeitung oder des Magnetismus. In diesem Sinne definiert der Zedler zu Beginn des 18. Jahrhunderts »magia naturalis« als die Fähigkeit, »vermittelst natürlicher, aber dabey verborgener Kräffte und Ursachen seltsame und ungewöhnliche Würckungen hervor zu bringen.«6 Die Betonung liegt dabei auf der »Natürlichkeit« der »verborgenen Kräffte und Ursachen«, wobei die »Verborgenheit« dieser Ursachen also keinen Okkultismus impliziert, sondern nur die Unerkennbarkeit dieser Ursachen bezeichnet. Auf der anderen Seite etabliert sich eine ›spirituelle‹ Magie, die sich an Engel und Dämonen wendet. Symptomatisch für diese Magie ist das anonyme Arbatel de Magia Veterum (zuerst Basel 1575), dessen erster Nachdruck innerhalb einer Ausgabe der Werke Agrippas (1579) stattfand. In diesem in der Folge berühmt5 Vgl. zuletzt Lehrich, Language of Demons; Clark, Thinking with Demons; Walker, Spiritual Magic. 6 Johann Heinrich Zedler, Grosses vollständiges Universal-Lexikon. Halle, Leipzig 1739. Ndr. Graz 1961. Bd. 19, Sp. 300 f.

Die spiritualistische Herausforderung durch Magie und Kabbala

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berüchtigten Werk fanden sich die Namen der sieben Engel, »die vor den Herren stehen/ durch welche Gott die Welt regieret«,7 die Zeichen, durch welche diese Engel zu beschwören, sowie die Gaben, die von ihnen jeweils zu erhalten waren. Carlos Gilly hat gezeigt, dass die acht Arten der Magie, die das Arbatel beschreibt, zumindest teilweise mit den Arten der Magie aus der Philosophia sagax des Paracelsus identisch sind.8 Auch das Arbatel illustriert damit das für die Zeit um 1600 charakteristische Gemisch aus Paracelsismus, Hermetismus und Magie, wie es das Werk Khunraths, Figulus’, Haslmayrs oder später, im Gefolge der Rosenkreuzer-Manifeste, etwa Sperbers Echo (1615) bestimmt.9 Wie in all diesen Werken ist die spirituelle Magie unauflöslich mit einer Theorie der Inspiration eines göttlichen Wissens verbunden, indem das magische Wissen inspiriertes Wissen ist. Wer über das geheime Wissen Gottes verfügt, dem sind die Engel und Geister untertan. (Arbatel S. 22, Aphorismus 25) Vom Standpunkt der lutherischen Theologie aus war hier nichts mehr zu retten. Wer sich auf solche Beschwörungen einließ, war von vornherein dem Teufel verfallen. Das bekannteste Beispiel für diese lutherische Verdammung der Magie ist die Historia von D. Johann Fausten (1587), in der vorgeführt wird, wie es jemandem ergeht, der das »sola gratia« nicht beachtet und das Wissen über den Glauben stellt.

Johannes Reuchlin: Kabbala Vieles von dem kabbalistischen Material, das Agrippa in De occulta philosophia übernommen hat, stammt von Johannes Reuchlin, der seine Konzeption einer christlichen Kabbala in De verbo mirifico (1494) und De arte cabalistica (1517) seinerseits in engem Anschluss an die Conclusiones (1486) und die Apologia (1487) Giovanni Picos della Mirandola entwickelt hatte. In der Widmung von De arte cabalistica stellt er sein eigenes Unternehmen in die neuplatonische Tradition der Florentiner Akademie.10

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Arbatel (ed. 1686), Rückseite des Titelblatts. Vgl. Gilly, The First Book of White Magic. Zu diesen Autoren unten die Kapitel IV. und VI. Zu Reuchlins christlicher Kabbala Roling, Aristotelische Naturphilosophie und christliche Kabbalah, Schmidt-Biggemann, Reuchlin und die Anfänge der christlichen Kabbala, sowie Grözinger, Reuchlin und die Kabbala. Zum magischen Kontext Roling, Complete Nature of Christ, Zika, Reuchlin und die okkulte Tradition und Zika, Reuchlin’s De verbo mirifico; aufgenommen bei Rhein, Der jüdische Anfang, weitergeführt bei Béhar, Von der Mystik zur Magie und Grafton, Jüdische Ursprünge. Leinkauf, Reuchlin und der Neuplatonismus arbeitet grundlegende Übereinstimmungen heraus. Zu Picos kabbalistischer Magie Copenhaver, Number, Shape and Meaning. Zu Reuchlins Verteidigung der jüdischen

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Magie, Kabbala und Mystik in den Anfängen der Reformation

Der Begriff der Kabbala bezeichnet für Reuchlin den Empfang und die Weitergabe einer Offenbarung, die Moses und den Propheten zuteil geworden ist, und deren Inhalt das Kommen Christi und die Erlösung des Menschen ist. »Nulla est scientia, que nos magis certificet de divinitate Cristi, quam magia et cabala.« Das ist, in den Worten Picos della Mirandola,11 das Motiv hinter Reuchlins Interesse an Magie und Kabbala. Diese Offenbarung ist als Geheimlehre in allegorischer Form tradiert und von den Juden über die Ägypter und die persischen ›magi‹ zu den Griechen gelangt, wo sie von Orpheus über Pythagoras, Hermes Trismegistos und Hesiod bis hin zu Platon weitergegeben wurde (S. 313). Die kabbalistische Überlieferung ist als eine prisca theologia damit in ihrem Wesen identisch mit der orphischen, pythagoräischen und platonischen Lehre. Diesen Nachweis zu führen ist eines der Hauptanliegen von De arte cabalistica. Das Prinzip des platonischen Enthusiasmus spielt dabei als göttliche Entrückung des Kabbalisten eine wichtige Rolle. Im ersten Buch von De arte cabalistica beschreibt Reuchlin diese Entrückung als einen von Engeln geleiteten Aufstieg, bei dem der Geist des Kabbalisten von unsagbarer innerer Freude und Erregung erfasst werde, in das »Mysterium tiefer Schweigsamkeit versunken die Niederungen des Irdischen« verlasse und »zum Überhimmlischen und Unsichtbaren« hinübergetragen werde. (S. 162 f.) Unter Leitung der Engel besuche der Kabbalist die Seele des Messias und erkenne den Rang und das Vermögen der verschiedenen himmlischen und natürlichen Mächte, wodurch er das Wissen um die heiligen Namen erlange und Wunder zu vollbringen lerne. Wie Ficino zieht Reuchlin eine scharfe Grenze zwischen dieser Engelmagie als einer Form des »Wunderwirkens« durch die Einflussnahme auf himmlische Mächte und der Verderben bringenden Beschwörung böser Dämonen. Im dritten Buch von De arte cabalistica erläutert Reuchlin detailliert, wie der Kabbalist durch Engelmagie seine Erleuchtung bewirkt. Der Aufstieg vollziehe sich über die fünfzig Tore der Erkenntnis und die zweiunddreißig Pfade der Weisheit, wobei die Tore der Erkenntnis, die Mose auf dem Berg Sinai offenbart wurden, das Wesen aller Dinge enthüllten, angefangen vom ersten Tor, das das Wesen Gottes, bis zum letzten Tor, das das Wesen des Menschen enthülle (S. 371 ff.). Die Pfade der Weisheit seien dagegen Adam im Paradies offenbart worden und führten den Menschen zum Licht der Weisheit. Der Aufstieg über diese Etappen vollziehe sich mit Hilfe der zweiundsiebzig Engel, deren Namen sich auf komplizierte Art aus dem göttlichen Tetragramm (dem unaussprechlichen Namen Gottes im Hebräischen) und den zehn Sefiroth (Hypostasen der Kräfte Gottes) herleiten. Durch die Anrufung dieser Engel, die sich aufgrund der Schriften Price, Reuchlin. Alle Seitenangaben im Text beziehen sich auf De arte cabalistica in der Ausgabe und Übersetzung von Ehlers und Felgentreu. 11 Pico, Conclusiones magicae 9, S. 79.

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Unaussprechbarkeit ihrer Namen als kontemplatives Erinnern und Hingabe an die Liebe vollziehe, würden die Sinne, die Vorstellungskraft, der Verstand, die Vernunft und schließlich der Geist erregt, der endlich die Verbindung zu den Engeln herstelle. Engelmagie ist damit, wie später bei Agrippa und im Arbatel, ein wesentlicher Bestandteil von Reuchlins Kabbala. Im Gegensatz zur astrologischen Magie Ficinos, die auf den Sympathie- und Antipathieketten des Picatrix beruht, vollzieht sich Reuchlins Magie durch die Kenntnis der Namen Gottes. Diese wunderwirkende, magische Kraft des Wortes war schon der titelgebende Gegenstand von Reuchlins erstem kabbalistischen Werk De verbo mirifico. Den Prozess der kabbalistischen Erkenntnis dieser magischen Kräfte beschreibt Reuchlin in De arte cabalistica in deutlicher Anlehnung an die furorTheorie Ficinos als ›Vergöttlichung‹ (deificatio) oder Illumination durch den göttlichen Geist (divino spiritu afflata mentis illuminatio). (S. 49) Der Kabbalist, von der Schönheit eines Gegenstandes erregt, erhebt sich von der äußerlichen Sinneswahrnehmung über die innere Sinne, das Vorstellungsvermögen, das Urteil, den Verstand, die Vernunft und den Geist (mens) bis zum göttlichen Licht, von dem dieser Prozess ausging und das ihn nun erleuchtet. In dieser Form der inneren Anrufung besteht nach Reuchlin (und den Conclusiones Picos) das Prinzip aller Gebete, Sakramente, Riten und Zeremonien. Sie dienen vor allem dazu, eine »brennende Liebe und ekstatische Bewunderung« (ardentissimus amor et extatica adoratio, S. 401) zu erwecken. Wie bei Ficinos astrologischer Magie erzeugen die Worte und Rituale einen meditativen Zustand, der den Kabbalisten auf den Kontakt mit den Engeln und letztlich Gott vorbereitet. Erst aus dieser Übereinstimmung des Kabbalisten mit dem Universum erwachsen seine magischen Fähigkeiten. Reuchlin schließt die ganze Passage mit einem Psalm, dessen zweiundsiebzig Verse jeweils das Tetragramm und den Namen eines Engels enthalten, und dessen Rezitation dem Zweck dienen soll, die Seele des Kabbalisten zu Gott zu erheben (S. 417 ff.). Reuchlin konfrontiert diese Form der kabbalistischen Erkenntnis explizit mit den logisch-argumentativen Techniken des Wissens. Die Magie als uralte, wunderwirkende Technik – so ist der Begriff der »ars« cabalistica zu verstehen – tritt in einen scharfen Gegensatz zu dem wirkungslosen Gerede, wie es Logik und Rhetorik hervorbringen. Das geheime, dunkle und magische Wissen des hebräischen Morgenlandes wird gegen das rationale, banale und oberflächliche Wissen eines von griechisch-römischer Rationalität bestimmten Abendlandes ausgespielt. Spätestens wenn Reuchlin die Rhetorik dieser Rationalität subsumiert, wird deutlich, dass mit dieser Polemik nicht nur die Schultheologie (›Scholastik‹) der Zeit gemeint ist, sondern ebenso der Humanismus. (S. 58 – 65, S. 72 – 75) Auch in diesem Punkt steht Reuchlin in der Nachfolge Giovanni Picos della

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Mirandola, der sich seinerseits 1485 in einem berühmten Brief an Hermolao Barbaro scharf von der Rhetorik – und explizit auch der humanistischen Philologie – distanziert hatte.12 Wenn Reuchlin in De verbo mirifico das Hebräische als eine »barbarische« Sprache lobt, schließt er damit an die Rhetorik-Verachtung Picos an. Das ›dunkle‹, archaische Hebräisch steht als »barbarische« Sprache näher an der Wahrheit der prisca sapientia als das klare, deutliche, rhetorisch geformte Griechisch oder gar Römisch der späteren Zeit. Immer wieder kommt Reuchlin im zweiten Buch von De arte cabalistica auf seine Polemik gegenüber der syllogistisch verfahrenden Schultheologie zurück. Göttliche Dinge überstiegen die Fassungskraft des menschlichen Verstandes, deswegen könnten sie nicht argumentativ bewiesen werden, heißt es mit einem Zitat aus Platons Timaeus. Diese Überzeugung sei die Grundlage der Kabbala. (S. 183) Der schärfste Feind der göttlichen Erkenntnis, die in reinem und nacktem Glauben bestehe, sei der logische Syllogismus, dessen Anwendung von Seiten der sophistischen Theologen Gott, die Engel, die überweltlichen Kräfte und das, was zum Reich der Ewigkeit gehöre, der menschlichen Sterblichkeit unterwerfe. (S. 182) In ihrer maßlosen Selbstüberschätzung seien diese Theologen den Völkern vergleichbar, die mit dem Turmbau von Babel den Himmel zu erreichen suchten. Argumente und Beweise hätten ihren Ort in menschlichen und natürlichen Dingen, nicht in göttlichen. Das Göttliche sei jenseits des Syllogismus und damit der Rationalität, weil das, was seinen Ursprung nicht in den Sinnen hätte, vom menschlichen Verstand nicht begriffen werden könne, sondern ausschließlich vom Glauben abhänge. Aus Liebe zum offenbarten Wissen und wegen der menschlichen Glückseligkeit werde es geglaubt, nicht wegen seiner argumentativen Überzeugungskraft. (S. 189) Damit noch nicht genug, will Reuchlin sogar den Syllogismus als Methode, um aus der Bibel Glaubensüberzeugungen mit formallogischer Konsequenz abzuleiten, nicht gelten lassen. (S. 196) »Glauben« und »Wissen« sind für Reuchlin in religiösen Fragen konträre Gegensätze. Wo die Offenbarung betroffen sei, müssten logische und argumentative Prozesse ausgeschlossen bleiben. Nur die Kuh, die sich von Syllogismen ernähre, könne anderer Meinung sein. Der Glaube gehöre zum höheren Bereich der mens, Wissen nur zum Bereich der ratio. Quelle des Glaubens sei göttliche Erleuchtung, Quelle des Wissens seien die Sinne. Was im Bereich des mens notwendig sei, könne im Bereich der ratio unmöglich sein. Was sich der ratio als Gegensätze darstellt, könne in der mens zusammenfallen (S. 197 f.).

12 Zika, Reuchlin and Erasmus, S. 245 sowie Rhein, Der jüdische Anfang, S. 170.

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In diesem Bereich jenseits der ratio ist die Kabbala verortet, die deshalb auch nicht von den Sinnen und von logischen Argumenten erschlossen werden kann. Das kabbalistische Wissen sei edler und werde weniger vom Menschen errungen, als dass es ihm von Gott eingegossen werde (S. 62). Das göttliche Licht der mens falle in den intellectus und erleuchte diesen, was wiederum den freien Willen zum Glauben bewege (S. 75). So nähere sich der Kabbalist der Offenbarung nicht mit logischen und rationalen Techniken, sondern gläubig. Frage man ihn, warum etwas so oder so ist, antworte er nur, »die Weisen haben es so gesagt«. Genauso hätten die Schüler des Pythagoras sich auf dessen Gebot hin nicht in argumentative Auseinandersetzungen verstricken lassen dürfen, sondern auf alle Nachfragen nur zu antworten gehabt: Weil er es gesagt hat. Und genauso schließlich begegne auch der Christ allen rationalen Einwänden gegen die Offenbarung nur mit dem Imperativ des Glaubens. (S. 203)

Die Rezeption der Kabbala Reuchlins Mit diesen Vorgaben war eine positive Rezeption der Kabbala innerhalb des kirchlichen Protestantismus des 16. und 17. Jahrhunderts ausgeschlossen, angefangen mit dem 1530 hingerichteten Augsburger Weber Augustin Bader, der aufgrund göttlicher Offenbarungen seinen halbjährigen Sohn zu dem von Reuchlin beschriebenen, kabbalistischen Messias erklärt hatte.13 Richtungsweisend für die weitere Rezeption von Reuchlins kabbalistischen Schriften ist Heinrich Khunraths Amphitheatrum (1595), das schon in seinem vollen Titel Kabbala, Magie und Alchemie identifiziert – Amphitheatrum sapientiae aeternae solius verae, christiano-kabalisticum, divino-magicum, nec non physico-chymicum, tertriunum, catholicon – und seine kabbalistischen Bestandteile von Reuchlin übernimmt. Auch Franz Kiesers Cabala chymica (1606) und Stephan Michelspachers Cabala, Spiegel der Kunst vnnd Natur : in Alchymia (1615) verrechnen die Kabbala mit spiritualistischer Alchemie, wobei das spezifisch kabbalistische Element die Berufung auf eine göttliche Offenbarung darstellt. Arndt identifiziert die Kabbala in der Oratio de antiqua philosophia (1580) wie Reuchlin als die »Kunst der Weisen aus Morgenlande«, das heißt als Magie, die gegen die griechische Philosophie als sinnlose Spekulation in Stellung gebracht wird.14 Croll parallelisiert in seiner Basilica chymica (1609) die Alchemie

13 Schubert, Täufertum und Kabbalah, S. 277 – 284. 14 Zu dieser Rede unten Kapitel IV.4.

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mit »Cabala theologica« und »Magia astronomica«,15 ähnlich synkretistisch erscheint die Kabbala bei Franckenberg16 und Czepko.17 Ihren zumindest quantitativen Höhepunkt findet diese Rezeption der Kabbala in den Rosenkreuzerschriften. In der Fama selbst ist nur davon die Rede, dass Rosenkreuz von den Weisen in Fez in Magie und Kabbala eingeführt worden sei, wobei die Kabbala offensichtlich eine Form der prisca theologia im Sinne Reuchlins darstellt, wenn es im selben Kontext heißt, der »Grund« von Rosenkreuz’ Glauben »concordiere« »mit der gantzen Welt Harmonia« und sei »allen periodis seculorum wunderbarlichen imprimiert«. (Fama S. 142) Kritisch heißt es dort allerdings von dieser Kabbala, sie sei »nicht aller rein« und mit der Religion der Fessaner »befleckt«. (Fama S. 142) Diese vorsichtige Zurückhaltung Andreaes nimmt in der späteren Rezeption der Rosenkreuzer-Manifeste niemand mehr wahr.18 So fungiert schon in Julius Sperbers Echo Der von Gott hocherleuchten Fraternitet (1615) die Kabbala als Synonym für göttliche Offenbarung und »mystica theologia«, die auf magische Weise das Verstehen fremder Sprachen, die Vorhersage der Zukunft oder die Kenntnis des Jenseits ermögliche.19 In ähnlichem Sinne gilt die Kabbala im Pegasus firmamenti (1618) von Christoph Hirsch, einem engen Vertrauten Arndts, als Synonym für Magie und göttliche Offenbarung. Reuchlin wird hier als Autorität neben Hermes Trismegistus, Paracelsus und Basilius Valentinus gestellt.20 Bei den Gegnern des Spiritualismus wird die Kabbala aus denselben Gründen abgelehnt. Für Libavius ist in seinem Wolmeinendes Bedencken/ Von der Fama, vnd Confession der Brüderschafft deß RosenCreutzes (1616) die Kabbala zu einem Aspekt des Paracelsismus herabgesunken, in dem er den Kern allen Übels ausmacht.21 Schon Andreae hatte sich in seinem Menippus (1617) gleichermaßen von Alchemie, Kabbala, Magie und Hermetik distanziert, die er als fruchtlose Spekulation einer auf Praxis und zwischenmenschlichen Nutzen konzentrierten Wissenschaft gegenüberstellt.22 Matthias Bernegger warnt in einer Rede Über ungesetzliche Arten des Wissenserwerbes (De parandae doctrinae modis illegitimis, 1619) vor der Kabbala, dem Lullismus und dem Rosenkreuz als illegitimen Modi des Wissenserwerbs 15 In diesem Sinne schon das Titelblatt der Basilica chymica, vgl. Abbildung 11 unten S. 208. 16 Vgl. Rusterholz, Kabbala bei Franckenberg. 17 Vgl. die Parentatio auf Herzogin Louise (erweiterte Fassung) und die Vorrede zu den Semita amoris divini, S. 392 mit Berufung auf Reuchlin. Auf ein Reuchlin-Exzerpt hat Mundt, Czepko als Reuchlin-Leser hingewiesen. 18 Nicht überzeugend deshalb der Versuch von Edighoffer, Philosophia Moysaica, die Rosenkreuzer-Manifeste kabbalistisch zu interpretieren. 19 Zu Sperber unten S. 255. 20 Zu Hirsch unten S. 258 ff. 21 Libavius, Bedencken Cap. 15, S. 119 ff., zu diesem Text unten Kapitel VI.1. 22 Andreae, Institutio magica pro curiosis, vgl. unten Kapitel VI.3.

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und registriert mit äußerstem Befremden, dass ausgerechnet Reuchlin, der sich doch als Philologe um die griechische und hebräische Sprache so verdient gemacht hätte, ein Anhänger der Kabbala gewesen sei. (S. 61) In dieser kann Bernegger nur eine »reine Rhapsodie des schädlichsten Aberglaubens« (»meram superstitionis perniciosissimae rhapsodiam«) erblicken, ein Spiel mit Allegorien, von Menschen erdacht, die nichts anderes zu tun hatten, als sich um Buchstaben, Zahlen und Punkte (die Vokalzeichen der hebräischen Schrift) zu kümmern. (S. 60) Solche Gelehrten setzten mit ihren unheiligen Praktiken ihr Seelenheil aufs Spiel und wie diejenigen, die auf Reisen schlechten Führern folgten, in die Irre gleitet würden, so werde es auch diesen Gelehrten gehen. Sie folgten dem Teufel und ihr Weg führe in die Hölle. 1690 macht Colberg in seinem Platonisch-Hermetischen Christentum die »Vermengung« der »Heydnischen Philosophis« mit der »Jüdischen Cabala« für die grassierende Schwärmerei verantwortlich, deren neueste Form jetzt der Pietismus ist. Mit ihren »eingebildeten Offenbahrungen« und »Platonischen Träumen« zögen diese (die platonische Philosophie und jüdische Kabbala) »den Menschen vom Wort Gottes und dem äußerlichen Gottesdienst« ab, förderten Irrlehren wie die vom »inwendigen Licht und Wort/ wesentlicher Gelassenheit/ Einkehrung/ Verenderung und Ergreiffung der völligen Heiligkeit«. (S. 4) Wie Reuchlin in De arte cabalistica benennt dabei auch Colberg den Pythagoräismus als Wurzel der »Heydnischen Philosophie«. Den Begriff der Kabala identifiziert Colberg mit dem Begriff der »inneren Offenbarung« (S. 136) und versteht ihn komplementär zum Begriff der Magie. Was die Kabbala in der Theorie lehre, lehre die Magie in der Praxis. (S. 149 ff.) Reuchlin erscheint in einer Reihe mit Agrippa, Tauler, Ficino, Postel, Aegidius Gutman, Fludd und diversen Rosenkreuzern. (S. 160) Friedrich Christian Bücher macht in seinem Plato mysticus (1699) Ficino und Pico als Ursprung des Übels aus, die die »Platonicam philosophiam und Magiam über die massen recommendiret und vertheidiget« und damit ihrerseits »in Teutschland den Johannem Capnionem oder Reuchlin erwecket/ der die platonisirende und zauberische Cabalam der Juden herfür gesuchet«. Sie alle seien für die »jämmerliche Zerrüttung« der evangelischen Kirche verantwortlich. (S. 9) Kurz darauf, mit dem Beginn der »Aufklärung«, vollzieht sich der entscheidende Bruch in der Rezeption Reuchlins. Während Agrippa und Paracelsus weiterhin als Symbolfiguren des Obskurantismus und Okkultismus figurieren, wird Reuchlin aufgrund seines Eintretens für die »jüdischen Bücher« und als Opfer der »Dunkelmänner« zum Heros des Humanismus. Seine kabbalistischen Werke und deren offensiver Spiritualismus werden mit Schweigen übergangen,

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Magie, Kabbala und Mystik in den Anfängen der Reformation

symptomatisch etwa schon in dem Reuchlin-Artikel in Zedlers Universal-Lexikon (1742).23 Initiiert haben dieses Bild Reuchlins Erasmus und Melanchthon.

2.

Logik und Hermeneutik bei Erasmus und Melanchthon

Erasmus über die Kabbala Welches die Punkte sind, an denen die christliche Kabbala Reuchlins in Gegensatz zur scholastischen Theologie gerät, illustriert Jacob Hoogstraetens Zerstörung der Kabbala (Destructio Cabale seu cabalistice perfidie, 1519).24 Hoogstraeten greift vor allem zwei Punkte an: die Behauptung des Offenbarungscharakters der Kabbala und die Leugnung der Gültigkeit logischer Techniken in der Theologie. Was den ersten Punkt betrifft, so bestreitet Hoogstraeten – wie später Luther – generell jedem Text außer der Bibel den Offenbarungscharakter. Dem zweiten Punkt ist fast das ganze vierte Buch der Destructio gewidmet. Hoogstraeten zeigt, dass die Apostel und Paulus sich logischer Techniken bedient haben, dass Hieronymus und Augustinus die Gültigkeit der Logik als theologischer Erkenntnisform behaupten, dass Reuchlin sich für die gegenteilige Behauptung fälschlich auf die aristotelische Logik beruft, und dass Glaubenssätze sich durchaus in logisch-argumentativer Weise aus der Bibel folgern lassen. Die Behauptung, dass das, was logisch aus der Bibel gefolgert worden wäre, als menschliche Erfindung bezeichnet werden könne, sei falsch. In all diesen Punkten vertritt Hoogstraeten die Überzeugungen von Erasmus und Melanchthon, was insofern erstaunlich anmuten könnte, als Erasmus und Melanchthon im Streit um die »jüdischen Bücher« auf Seiten von Reuchlin stehen, Hoogstraeten aber zu den Gegnern Reuchlins gehört. Erasmus war spätestens mit seiner kritischen Ausgabe des Neuen Testaments (1516) zur Gallionsfigur einer Philologie geworden, deren Nachdruck auf der Rekonstruktion des literalen, historischen Schriftsinns lag. Insbesondere Erasmus’ Vorrede zu dieser Ausgabe – die »Ratio seu methodus compendio perveniendi ad veram theologiam« – propagiert eine »wahre Theologie«, die in einem Verzicht auf alle Spekulation und in einer Konzentration auf das Neue Testament besteht. Die Allegorese – deren sich Reuchlin als grundlegendes Exegeseinstrument bedient – lehnt Erasmus als exegetische Methode ab. An ihrer Stelle propagiert er den schlichten Glauben an die Lehren Christi. 23 Zedler, Universal-Lexikon Bd. 31, Sp. 872 – 876. 24 Vgl. die Analyse bei Peterse, Hoogstraeten und Price, Reuchlin, S. 185 – 191. Zu Riccis Verteidigung Reuchlins gegenüber den Vorwürfen Hoogstraetens Roling, Aristotelische Naturphilosophie und christliche Kabbalah, S. 473 – 477, dort S. 362 – 371 zum ExegesePrinzip als Gegenstand der Auseinandersetzung.

Logik und Hermeneutik bei Erasmus und Melanchthon

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Die »devotio moderna«, in der die Quellen dieser erasmianischen simplicitas liegen, sind der spekulativen Vermischung von jüdischen, christlichen und – in Form des Pythagoräismus – heidnisch-antiken Elementen in der Kabbala Reuchlins entgegengesetzt. Die ethische Deutung des Christentums im Sinne einer ›philosophia Christi‹, die man Erasmus später von lutherischer Seite zum Vorwurf gemacht hat, steht konträr zu Reuchlins Emphase auf rituellen und zeremoniellen Elementen. Für Erasmus fallen Rituale tendenziell unter die Kategorie des Aberglaubens. Jede Art von theologischen Spekulationen wird man im Werk des Erasmus vergeblich suchen, genauso wie irgendwelche Formen von Mystik. Erasmus’ Ideal der simplicitas fordert einen schlichten Glauben, der sich in der imitatio Christi, in der tätigen Nächstenliebe und in der Praxis bewährt, nicht in der Theorie und schon gar nicht in der Spekulation. Wenn Erasmus im Gegensatz zu Luther dem Menschen einen freien Willen und damit Verantwortlichkeit für sein Handeln zugesteht, ist auch dies Ausdruck seines ethischen Christentums. Wo Erasmus deshalb mit dem Alten Testament und seiner jüdischen Religiosität wenig bis gar nichts anfangen kann, da stellt die Kabbala Reuchlins eine Extremform dieser Religiosität dar. Wenn Erasmus 1519 in einem Brief von sich sagt, er wäre kein Reuchlinist, ist das deshalb Ausdruck einer grundsätzlichen Ablehnung der kabbalistischen Spekulationen Reuchlins zu verstehen. Mit Reuchlin verbinde ihn eine persönliche Freundschaft, sonst nichts, schreibt Erasmus an dieser Stelle.25 In einem Brief aus dem Jahr 1518 (nachdem Reuchlin ihm 1517 De arte cabalistica unmittelbar nach der Veröffentlichung hatte zukommen lassen) zieht Erasmus sogar ausdrücklich die von ihm zutiefst verabscheute, mittelalterliche ›Scholastik‹ der Kabbala vor, wenn er schreibt, er sähe Christus lieber von Duns Scotus eingefärbt als von den Zauberformeln der Kabbala. Talmud, Kabbala, das Tetragrammaton und die Porta lucis seien »leere Worte« (»inania nomina«). Wenn Erasmus weiter schreibt, die »frostigen Geschichten« oder »Märchen« (»frigidissimis fabulis«) der Juden vernebelten bloß alles,26 so ist dieses »frostig« so zu verstehen, dass diese allegorischen »Märchen« nichts zur Erbauung und zur religiösen Praxis beitragen, sondern Ausdruck einer selbstbezüglichen intellektuellen Spielerei und Spekulation sind. Am deutlichsten wird Erasmus in seinem Brief an Hoogstraeten, in dem er sich bitter darüber beschwert, von 25 Erasmus, Opus epistolarum Bd. 4, Nr. 1041 (1519, Vorrede zu den Colloquia), S. 120 – 122, hier S. 121. Vgl. Zika, Reuchlin und Erasmus, S. 69, außerdem Bietenholz, Erasmus und die letzten Lebensjahre Reuchlins. 26 Erasmus, Opus epistolarum Nr. 798, S. 252 f., hier S. 253: »Video gentem eam [gemeint ist das jüdische Volk] frigidissimis fabulis plenam nihil fere nisi fumos quosdam obiicere; Talmud, Cabalam, Tetragrammaton, Portas Lucis, inania nomina. Scoto malim infectum Christum quam istis neniis.« Auf die Stelle hingewiesen haben Bietenholz, Erasmus und die letzten Lebensjahre Reuchlins S. 56 f. und Price, Reuchlin, S. 179.

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diesem mit der ihm »zutiefst verhassten« (»odiosissimum«) Kabbala, die ihm »äußert fremd« (»alienissimus«) wäre, vermischt worden zu sein. Christus möge ihm so hold sein, wie er der Kabbala abhold wäre.27 Obwohl Erasmus von vielen Seiten gedrängt wird, sich im Streit um die »Judenbücher« öffentlich zu Reuchlin zu bekennen, tut er dies nicht. Erst nach dem Tod Reuchlins verfasst er mit der Apotheosis Capnionis dieses Bekenntnis zu Reuchlin. Von den kabbalistischen Werken Reuchlins ist darin nicht mit einem einzigen Wort die Rede. Wo Erasmus Reuchlin bewundert, betrifft dies ausschließlich dessen philologische Leistungen als Hebraist. An dem Befund von Charles Zika, der die erasmianische Frömmigkeit in einen strikten Gegensatz zur Kabbala Reuchlins gebracht hat, kann deshalb kaum ein Zweifel bestehen.28 Aus diesem Gegensatz dürfte es auch zu erklären sein, dass die Humanisten sich zwar im Streit um die »Judenbücher« hinter Reuchlin versammeln, Reuchlins kabbalistische Werke aber mit Schweigen übergehen.

Melanchthon über Logik, Hermeneutik und Kabbala Noch schärfer als der Gegensatz von Reuchlin und Erasmus ist der Gegensatz von Reuchlin und Melanchthon.29 Durch seinen Lehrer Jacob Wimpfeling war Melanchthon bereits sehr früh Zeuge einer Auseinandersetzung geworden, in der es ebenfalls um den Neuplatonismus ging. Jacob Locher hatte in seiner Vitiosa sterilis mule/ ad Musam […] comparatio (1506) den Neuplatonismus Ficinos in seiner spezifisch poetologischen Variante vertreten. Die göttlich inspirierte Dichtung stand gegen die syllogistisch verfahrende Schultheologie, die Locher mit dem Gebrüll des Maulesels verglich. Wie Ficino hatte Locher die Dichtung als prisca theologia der akademischen Theologie übergeordnet. Wimpfeling hatte darauf mit einer Verteidigung der scholastischen Theologie (Contra turpem libellum Philomusi defensio theologiae scholasticae et neotericorum, 1510) geantwortet, in der er, wie später die Protestanten, jede Anrufung der Musen als Dämonenbeschwörung verurteilte.30 Nicht eine prisca theologia sei die Dichtung, sondern eine spezifische Form von grammatischem, dialektischem und rhetorischem Wissen, das als solches der akademischen Theologie 27 Erasmus, Opus epistolarum Bd. 4, Nr. 1006 (1519), S. 42 – 51, hier S. 47 Z. 160 – 162. 28 Zika, Reuchlin and Erasmus, S. 91. 29 Zum Verhältnis von Reuchlin und Melanchthon Scheible, Reuchlins Einfluß, der gegen die ältere Forschung einen prägenden Eindruck Reuchlins bestreitet, wie schon angedeutet bei Wiedenhofer, Formalstrukturen Bd. 1 S. 414 f. Rhein, Reuchlin, Melanchthon und die Theologie blendet die Kabbala aus. 30 Als Dichter bezeichnet Wimpfeling, Defensio 6, f. Bv Reuchlin (neben Ortwin Gratius) als unbedenklich.

Logik und Hermeneutik bei Erasmus und Melanchthon

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nicht übergeordnet, sondern ihr untergeordnet sei, genauso wie das Studium der Grammatik, Logik und Rhetorik dem Studium der Theologie vorhergehen müsse.31 Gerade weil die Dichtung keine logisch fortschreitende Argumentation entwickeln könne, sei sie für den christlichen Glauben nicht notwendig.32 Vor dem Hintergrund einer solchen Bemerkung dürfte Wimpfeling für die Kabbala Reuchlins nicht viel übrig gehabt haben. Melanchthons erste Veröffentlichung ist ein Widmungsgedicht in Wimpfelings Verteidigung der scholastischen Theologie.33 Melanchthon mag schon 1514 für Reuchlin redaktionelle Tätigkeiten bei der Ausgabe der Epistolae clarorum virorum übernommen haben, signifikanter für seine intellektuellen Interessen ist der Plan einer Aristoteles-Ausgabe aus dieser Zeit. In der Tradition Agricolas, Erasmus’ und Wimpfelings stehen auch die ersten selbständigen Arbeiten Melanchthons, ein Lehrbuch der Rhetorik (De rhetorica libri tres, 1519) und der Dialektik (Compendiaria dialectices ratio, 1520). Melanchthons Antrittsvorlesung in Wittenberg (De corrigendis adolescentiae studiis) ist der Notwendigkeit einer Reform vor allem des universitären Unterrichts von Grammatik, Dialektik und Rhetorik gewidmet. Als sein intellektuelles Schlüsselerlebnis beschreibt Melanchthon, bis in seine letzten Jahre, die Lektüre von Rudolf Agricolas De inventione dialectica (1479), dessen editio princeps Erasmus 1515 besorgt hatte.34 Als Melanchthon in der Folge der Reformation gezwungen ist, in Wittenberg Theologie zu unterrichten, ist das erste, was er tut, den Römerbrief nach den Methode Agricolas in seine dialektisch-rhetorischen Argumentationsschritte zu zergliedern. Er macht damit genau das, was Reuchlin als unmöglich bezeichnet hatte. Daraus entwickelt sich das erste protestantische Lehrbuch der Theologie, die Loci communes theologici (1521). Ihnen liegt selbstverständlich der Anspruch zugrunde, dass die Wahrheiten der Offenbarung in logisch-rationaler Form erschlossen werden können und müssen. Melanchthon begründet die protestantische Theologie geradezu als logisch fundiertes und aus der Bibel abgeleitetes System von Glaubenssätzen. Damit bringt er diese Theologie von vornherein in einen grundsätzlichen Gegensatz zu Neuplatonismus und Spiritualismus jeglicher Form.35 31 Wimpfeling hat diese gängige Argumentation zuerst in seinem Confessionale entwickelt, vgl. die Edition in Schlecht, Wimphelings Fehden, S. 240 – 243 und Lefebvre, Fols, S. 427 – 429. Die Defensio ist auszugsweise abgedruckt in Lefebvre, Fols, S. 413 – 429. Dazu Heidloff, Untersuchungen, S. 295 – 301. 32 Wimpfeling, Defensio, Widmungsbrief f. Aijr und 3. Kap., f. Aiijr. 33 Wimpfeling, Defensio, f. d 4r. 34 Melanchthon, Epistola de seipso, Sp. 716. 35 Zu Melanchthons Theologiebegriff vgl. Bayer, Melanchthons Theologiebegriff und Köpf, Melanchthon als systematischer Theologe, beide mit wichtigen Beobachtungen zur »loci«-

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Für die Vermischung von Platonismus und biblischer Offenbarung, wie sie der Vorstellung einer prisca theologia zugrundeliegt, hat Melanchthon nicht das geringste Verständnis. Zugrunde gerichtet worden sei die christliche Lehre gleich in den Anfängen der Kirche durch die platonische Philosophie, heißt es auf den ersten Seiten der Loci communes von 1521.36 Das richtet sich gegen die spekulative, platonisierende Theologie etwa eines Origenes. »Dummköpfe« (»inepti«) nennt Melanchthon 1538 diejenigen, die die Wahrheit des Evangeliums zerstören, indem sie es in platonische Philosophie verwandeln.37 Die Lehre von den angeborenen Prinzipien des Wissens, die »notitiae naturales«, wie Melanchthon sie an Schlüsselstellen seiner Lehrbücher vertritt,38 hat zum Zweck die Aufhebung genau der scharfen Trennung von Glauben und Wissen, von Offenbarung und Vernunft, wie Reuchlin sie in De arte cabalistica behauptet.39 Als solche »notitiae naturales« bestimmt Melanchthon die angeborenen Prinzipien, durch die aus der sinnlichen Erfahrung oder aus der biblischen Offenbarung die Wissenschaften und Künste abgeleitet werden können, wie zum Beispiel die Fähigkeit zu zählen, Größenverhältnisse zu erkennen oder Schlussfolgerungen zu ziehen. In seiner Dialektik entwickelt Melanchthon eine Technik, die es erlaubt, zu jedem beliebigen Sachverhalt die entscheidenden Fragen zu beantworten und auf diesem Weg systematisches Wissen zu sammeln.40 »Methode« nennt Melanchthon diese Technik, und er ist damit derjenige, der diesen Begriff in die europäische Wissenschaftstheorie einführt. Als Prinzip steht diese Methode dort, wo bei Reuchlin und im Neuplatonismus Allegorese, Spekulation und Enthusiasmus stehen. Wie hundert Jahre später im Discours de la m¦thode pour bien conduire sa raison, et chercher la v¦rit¦ dans les sciences (1637) des Ren¦ Descartes ist die Methode ein vernunftgeleitetes, logisch fortschreitendes Verfahren, dem sich tendenziell alle Wissenschaften zu unterwerfen haben. Deutlich heißt es bei Melanchthon, dass die Wahrheiten der biblischen Offenbarung denselben Grad der Sicherheit haben wie die Behauptung, dass zwei plus zwei gleich vier ist.41 Aus diesen Wahrheiten der Offenbarung lassen sich die weiteren Sätze des Glaubens mit derselben Sicherheit ableiten. Glaube und lo-

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Methode. Gesamtwürdigung der Philosophie und Theologie bei Frank, Die theologische Philosophie Melanchthons. Melanchthon, Loci communes, 1521, S. 26 f. Melanchthon, Oratio de Platone, Sp. 425. Melanchthon, De anima, Sp. 143 f. und Melanchthon, Erotemata dialectices, Sp. 647 ff. Zu den »notitiae naturales« Roling, Exemplarische Erkenntnis, S. 292 – 308. Frank, Die theologische Philosophie Melanchthons, S. 112 – 126 sowie Frank, Vernunft des Gottesgedankens, S. 58 – 68 hat dagegen von den »notitiae naturales« auf eine »neuplatonische Geistphilosophie« Melanchthons geschlossen. Zur anthropologischen Dimension der »notitiae naturales« unten S. 94 f. Melanchton, Erotemata dialectices Sp. 573 – 578. Melanchthon, Loci praecipui theologici, Praefatio S. 190.

Logik und Hermeneutik bei Erasmus und Melanchthon

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gische Technik sind für Melanchthon kein Widerspruch. Die Dialektik ist als universal anwendbare Methodik des Wissens das Instrument der Theologie wie jeder anderen Wissenschaft, die diesen Namen verdient. Im Gegensatz zu anderen Wissenschaften, wie der Mathematik, können theologische Sätze zwar keine demonstrativen, also absolut notwendigen Beweise ergeben. Indem sie aus der Bibel abgeleitet werden, folgen sie aber dennoch den Gesetzen der Methode, wie Melanchthon im Vorwort zu den Loci theologici schreibt.42 In den Elementa rhetorices erklärt Melanchthon dieses Prinzip – die logische Ableitung von Glaubenssätzen aus der Offenbarung – zur Grundlage der theologischen Hermeneutik.43 Dementsprechend schränkt Melanchthon die Allegorese, die in ihrem spekulativen Charakter einer solchen Methode spottet, noch weit über Erasmus hinaus in die allerengsten Grenzen ein.44 Melanchthon fordert eine ausschließlich vom literalen Schriftsinn ausgehende, rational-logische Ableitung von Glaubenswahrheiten: »Wir dagegen möchten daran erinnern, daß man überall eine einzige, feste und einfache Bedeutung suchen muß, nach den Regeln der Grammatik, Dialektik und Rhetorik.«45 Damit wird die Theologie nicht auf Spekulation begründet – zu der für Melanchthon neben der Kabbala auch die scholastische Logik mit ihrer ›spekulativen‹ Begrifflichkeit gehört, die nur Unsinn und sinnlose Streitereien hervorgebracht habe46 –, sondern auf hermeneutischer und philologischer Methode. Damit ist nicht gesagt, dass Melanchthon die gesamte Theologie der Vernunft unterwirft, wie es später die Schüler des Descartes tun werden. Gleich in den ersten Sätzen der Loci theologici heißt es 1521, dass es in der Theologie »mysteria divinitatis« gebe, die der Vernunft nicht zugänglich seien. Zu diesen »mysteria« gehören für Melanchthon die Kernbereiche der spekulativen, ›scholastischen‹ Theologie genauso wie der Kabbala, nämlich das Wesen Gottes, die Trinität, die Fleischwerdung Christi und der Ablauf der Schöpfung. Aber anders als für die scholastischen Theologen, die Neuplatoniker und die Kabbalisten bricht für Melanchthon mit diesem Jenseits der Vernunft nicht das Reich der Spekulation und der Inspiration an, sondern hört die Theologie als Wissenschaft auf. Diese »mysteria divinitatis«, schreibt Melanchthon, könne man nur bewundern, aber nicht erforschen.47 42 Melanchthon, Loci praecipui theologici, Praefatio S. 190. 43 Melanchthon, Elementa rhetorices, S. 208 ff. 44 Melanchthon, Elementa rhetorices, S. 183 – 207. Zur Ablehnung der Allegorese auch Melanchthon, Loci communes rerum theologicarum, S. 18. Zur Bedeutung der Allegorese in der Kabbala Roling, Aristotelische Naturphilosophie und christliche Kabbalah, S. 183 – 239. 45 Melanchthon, Elementa rhetorices, S. 196 f. Zu Melanchthons rhetorischer Begründung der Hermeneutik Classen, Bedeutung der Rhetorik, mit Hinweisen auf die ältere Forschung. 46 Melanchthon, Loci communes rerum theologicarum, S. 20. 47 Melanchthon, Loci communes rerum theologicarum, S. 19. Vgl. dagegen Pöhlmann in

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Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen. Melanchthon ist ein Logiker, der seine Aufgabe darin sieht, die Grenzen der Sprache, die er mit den Grenzen der Vernunft identifiziert, zu bestimmen.48 Worüber man sprechen kann und muss, das sind die »Loci« der christlichen Theologie, die für das Leben des Christen von entscheidender Bedeutung und deswegen von Gott in der Bibel offenbart worden sind: die Macht der Sünde, das Gesetz, die Gnade. Darauf gründet sich die dogmatische Theologie. Über den spekulativen Rest, wie die Trinität, kann man nicht sprechen. Damit unterscheidet Melanchthon einen Bereich der göttlichen Mysterien, über den man nicht sinnvoll sprechen kann, von einem Bereich der menschlichen Wahrheiten, die entweder aus der Bibel abgeleitet sind oder aus der Natur und Geschichte. Für diesen zweiten Bereich gelten die Gesetze der argumentativlogisch verfahrenden Methode und der rhetorischen Gestaltung als die Gesetze vernünftigen Sprechens. Wenn Walter Sparn schreibt, dass Melanchthon eine Theorie der doppelten Wahrheit vertrete und das »Konfliktpotential« zwischen »der Philosophie, die aus der Natur, und der Theologie, die aus der Heiligen Schrift argumentiert«, »stillgestellt« habe, ist das sicherlich richtig.49 Der Zweck von Melanchthons Dialektik ist aber nicht diese »Stillstellung«, sondern die methodische Absicherung aller Wissenschaften, einschließlich der Theologie. Um Glaubenswahrheiten zu formulieren, bedarf es keiner weiteren Offenbarungen Gottes, keiner Kabbala und keines Enthusiasmus, sondern philologischer Kenntnisse und methodischen Bewusstseins. Die zentralen Inhalte des Glaubens – die »loci praecipui theologici« – lassen sich in methodischer Form aus der Bibel ableiten und dogmatisch formulieren. Dieses Ideal einer Bestimmung von Glaubenswahrheiten mit gleichsam mathematischer, nämlich philologischer und logischer Präzision steht nicht nur bedingt quer zur lutherischen Lehre vom »inneren Wort«, es steht vor allem als Prinzip dort, wo bei Ficino, Paracelsus, Agrippa und Reuchlin die enthusiastische Entrückung und beim frühen Luther die ›Glaubensmystik‹ steht. Was man sagen kann, das kann man in klarer und deutlicher Form sagen. Melanchthons Ideal eines präzisen und korrekten sprachlichen Ausdrucks, dem seine gesamte Rhetorik von vornherein und von der ersten bis zur letzten Zeile seiner Übersetzung der Loci, der Melanchthon, Loci communes, 1521 S. 18 ff., hier Anm. 19 einen »mystisch neuplatonischen Hintergrund« ausmacht. Zum theologiehistorischen Kontext Grosse, Melanchthons Wendung. 48 Der Vergleich der humanistischen Sprachphilosophie mit der »ordinary language philosophy« Wittgensteins geistert bereits lange durch die Forschung. Ich verwende diesen Vergleich in dem Sinn, den Nauta, Defense of Common Sense, S. 269 – 291 ihm gegeben hat. Als Gemeinsamkeit benennt Nauta dort S. 288 »the basic conviction that philosophical problems are rooted in a misunderstandig of language«. 49 Sparn, Doppelte Wahrheit, S. 60. Ähnlich schon Troeltsch, Vernunft und Offenbarung, S. 77.

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gewidmet ist, ist deshalb – wie die »Methode« der Dialektik – sowohl gegen die Scholastik wie gegen Kabbala und Neuplatonismus gerichtet. Alle drei sündigen gegen den natürlichen Sprachgebrauch, weil sie glauben, durch eine künstliche Sprache über die Grenzen der natürlichen Sprache hinauskommen und damit Sachverhalte erfassen zu können, die der natürlichen Vernunft genauso wie der natürlichen Sprache unzugänglich sind. »Alle bekannten Sachverhalte können mit bekannten und bezeichnenden Wörtern dargestellt werden«, und deshalb müsse man »eine ungebräuchliche Art von Sprache sorgsam vermeiden.«50 Schon aus sprachlogischen Gründen sind die Spekulationen der Scholastik genauso wie die der Kabbala »reiner Unsinn« (mera nuga).51 Die gewöhnliche Sprache und der natürliche Sprachgebrauch sind die Grenzen der Philosophie wie der Theologie. Wer gegen den natürlichen Sprachgebrauch verstößt, verliert sich in Träumereien. Mit diesem Argument wendet sich Melanchthon in seiner Rhetorik gegen die Scholastik, die Platoniker, die Neuplatoniker (explizit gegen Dionysius Areopagita), die Kabbalisten, die Gnostiker, die Stoiker und die Wiedertäufer.52 Während Melanchthon damit einen dezidiert aristotelischen Sprachbegriff vertritt, indem die Wörter beliebige Zeichen für die Dinge sind, vertritt Reuchlin in De arte cabalistica eine Sprachtheorie, in der analog dem platonischen Kratylos die Wörter substantiell mit den Dingen verbunden sind. Nur mit dieser platonischen Sprachtheorie kann Reuchlin seine Kabbala als Buchstaben- und Wortmagie begründen. Im Anhang der Elementa rhetorices beantwortet Melanchthon (in den Worten seines Schülers Franz Burchard) jenen berühmten Brief Giovanni Picos della Mirandola, in dem dieser sich von der humanistischen Philologie Barbaros abgegrenzt hatte. Wo Reuchlin die Argumentation dieses Briefes zustimmend aufgenommen hatte, indem er in der dunklen Sprache der Kabbala den Ausdruck einer uralten östlichen Weisheit sehen wollte, da heißt es in der Antwort Melanchthons, in ihrem Rationalismus kaum zu überbieten, falsch sei, was unverständlich ist.53

50 Melanchthon, Elementa rhetorices, S. 177 f. 51 Melanchthon, Elementa rhetorices, S. 177 f., zur Scholastik auch Loci communes rerum theologicarum, S. 18, wo von »nuga scholastica« die Rede ist. 52 Melanchthon, Elementa rhetorices, S. 179. 53 Melanchthon, Elementa rhetorices, S. 397. Auch Ortwin Gratius, der spätere Gegner von Reuchlin auf Seiten der Kölner »Dunkelmänner«, hatte sich 1508 in diesem Punkt bereits gegen Pico gewandt, vgl. Mehl, Gratius’ Orationes Quodlibeticae, S. 65. Zu Gratius’ humanistischen Tendenzen auch Ludwig, Ortwin Gratius.

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Magie, Kabbala und Mystik in den Anfängen der Reformation

Gegensätze zwischen Reuchlin und Melanchthon Die Gegensätze zwischen Reuchlin und Melanchthon gehen noch weiter. Wie das nächste Kapitel zeigt, ist das grundliegende Anliegen von Melanchthons Naturphilosophie in all ihren Ausformungen – Astronomie, Physik, Anthropologie, Medizin – natürliche Ursachen für natürliche Phänomene zu benennen, und das heißt: übernatürliche Ursachen auszuschließen. Wenn Melanchthon keinen spiritus mundi kennt, der den Kosmos als pneuma durchflutet und die magischen, übernatürlichen Wirkungen Paracelsus’, Agrippas und Reuchlins überhaupt erst möglich macht, dann ist dies Ausdruck dieser Reduktion übernatürlicher Ursachen. Wenn Melanchthon in seiner Astronomie keine beseelten Sphären oder astralen Intelligenzen kennt, sondern von einem mechanistischen Universum ausgeht, gibt es auch keine Möglichkeit, über diese Sphären zu Gott aufzusteigen. Dem Enthusiasmus Ficinos, Agrippas und Reuchlins ist damit die Bedingung der Möglichkeit bestritten.54 Die einzige Form einer göttlichen Inspiration, die Melanchthon erlaubt, ist die Ergießung des spiritus sanctus in die menschlichen spiritus animales beim Hören des »äußeren« Wortes. In der Konsequenz von Melanchthons Ausschluss übernatürlicher Ursachen wird alles zu Magie, was sich solcher übernatürlicher Ursachen zu bedienen versucht, und zwar zu einer Magie, die in die Fänge des Teufels führt – falls denn derjenige, der an übernatürliche Ursachen glaubt, nicht einfach nur psychisch krank ist, wie die »alten Weiblein«, die glauben, hexen zu können. Wenn Reuchlin in De verbo mirifico die Existenz eines wunderwirkenden Wortes behauptet, dann kann aus Melanchthons Perspektive am magischen Charakter der Reuchlinschen Kabbala kein Zweifel bestehen. Wunderwirkende Worte sind magische Worte, auch wenn es sich um den Namen Christi oder das Tetragramm handelt. Genauso kann es keinen Zweifel daran geben, dass die enthusiastische Erkenntnis als ein über Engel vermittelter Aufstieg zu Gott, wie ihn Reuchlin in De arte cabalistica beschreibt, dem entspricht, was Melanchthon in der Confessio Augustana als Schwärmerei verurteilt. In ihren grundsätzlichen theologischen und philosophischen Überzeugungen stehen Reuchlin und Melanchthon auf gegensätzlichen Seiten. Wenn Melanchthon – dessen Berufung nach Wittenberg Reuchlin vermittelt hat – sich trotzdem niemals unmittelbar gegen Reuchlin geäußert hat, ist das Ausdruck 54 Dass dieser Gegensatz tatsächlich so empfunden wurde, belegt der Streit zwischen dem Kabbalisten und Reuchlin-Anhänger Paulus Ritius (Ricci) und dem Luther-Gegner Johannes Eck, in dem es um die Belebtheit der Sphären ging. Dazu Roling, Ricius und Eck sowie Roling, Aristotelische Naturphilosophie, S. 445 – 471. Neben dieser naturphilosophischen Prämisse teilen Melanchthon und Eck auch zahlreiche andere Überzeugungen, allen voran den grundlegenden methodischen Charakter, den sie der aristotelischen Logik zuerkennen.

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einer Pietät gegenüber der Person Reuchlins, die die kabbalistischen Werke von dessen philologischen Verdiensten abkoppelt.55 Melanchthons Reuchlin-Vita (1552) ist Ausdruck davon, indem dort – ganz wie in Erasmus’ Apotheosis Capnionis – die kabbalistischen Schriften Reuchlins mit Schweigen übergangen werden.56 Wenn Erasmus und Melanchthon im Streit um die »Judenbücher« mehr oder weniger auf der Seite Reuchlins standen – obwohl sie die Kabbala abgelehnt haben –, muss man daraus folgern, dass die Fraktionen in diesem Streit nur zum Teil durch gemeinsame Überzeugungen gebildet wurden. Entscheidender als Sachfragen waren Parteizugehörigkeiten. Nicht zuletzt waren es die Gegner von Reuchlin, die bei ihm, Erasmus, Luther und Melanchthon dieselben kirchenzersetzenden Kräfte am Werke sahen, ohne dabei irgendwelche Differenzen wahrnehmen zu wollen.57 Reuchlin, Erasmus, Melanchthon und Luther selbst haben diese Differenzen dagegen sehr scharf wahrgenommen. Aus dem Schweigen von Erasmus und Melanchthon darf man nicht auf gemeinsame Überzeugungen zurückschließen. Aussagekräftiger, weil nicht von Pietät oder politischen Rücksichtnahmen beeinflusst, ist das Urteil, das Melanchthon auf Anfrage Spalatins über die hebräischen Schriften aus Reuchlins Bibliothek nach dessen Tod gefällt hat: »Nichts ist darunter, das ich anerkenne, außer der Bibel, und die gibt es auch sonst. Das andere taugt für den Ofen.«58

3.

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Mystik und Logik bei Luther Melanchthon steht nicht nur in einem scharfen Gegensatz zu Reuchlin, sondern zu Beginn seiner Tätigkeit in Wittenberg auch zu Luther. Im Unterschied zu Reuchlin aber ändert Luther seine Meinung, was den Status von Logik und Rhetorik in theologischen Fragen betrifft. Der frühe Luther war scharf gegen die formallogische, syllogistische Argumentationstechnik als Mittel der theologischen Erkenntnis, wie es der Praxis der scholastischen Theologie entsprach. In einer von Luthers ersten Veröffentlichungen, der Disputatio contra scholasticam theologiam (1517), heißt es 55 Price, Reuchlin, S. 191. 56 Melanchthon, De Capnione Phorcensi. Sp. 1010 wird die Kabbala in Zusammenhang mit Pico della Mirandola erwähnt, ohne einen Bezug zu Reuchlins Werken herzustellen. 57 Vgl. Tewes, Zwei Fälle – ein Kläger. 58 Melanchthon, Briefwechsel. Texte Bd. 2, Nr. 294. Brief an Spalatin vom 3. 10. 1523, S. 93. Übersetzung Scheible, Reuchlins Einfluß auf Melanchthon, S. 129.

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in der fünfundvierzigsten These: »Die Behauptung, dass der Theologe, der kein Logiker ist, ein ungeheuerlicher Häretiker sei, ist eine ungeheuerliche und häretische Behauptung.«59 Keine syllogistische Form könne theologische Begriffe erfassen, lautet die 47. These, denn sonst würde die Trinität Gottes gewusst und nicht geglaubt (49. These). Aufgrund dieser Untauglichkeit der Logik als Erkenntnisform heißt es dann in der fünfzigsten These zusammenfassend: »Kurz, der ganze Aristoteles verhält sich zur Theologie wie die Dunkelheit zum Licht.«60 Auch wenn diese scharfe Entgegensetzung von Glauben und Wissen, von Logik und Offenbarung bei Luther nicht auf neuplatonische oder kabbalistische Überzeugungen zurückgeht, ist Luther sich doch bewusst, dass Reuchlin in dem gerade erschienenen De arte cabalistica dieselbe Position vertritt. 1518 schreibt er in einem Brief, Reuchlin habe gezeigt, dass in theologischen Schriften dialektische Winkelzüge wie der Syllogismus keinen Platz hätten und der reine Glaube im Zentrum stehen müsse.61 Wo man höhere Erleuchtung erwarte, müsse eine formallogische Argumentation ausgeschlossen bleiben. Zumindest zu diesem Zeitpunkt und aus dieser Perspektive stehen Luther und Reuchlin auf derselben Seite, gegenüber Melanchthon, Erasmus, Hoogstraeten und Eck auf der anderen Seite. Diesen Befund bestätigt die Tatsache, dass Karlstadt, zu dieser Zeit noch einer der engsten Vertrauten Luthers, 1517 in Wittenberg diejenigen dreizehn der 900 Thesen Giovanni Picos della Mirandola, die 1487 in Rom verurteilt worden waren, erneut zur Disputation gestellt hat. Auch über Reuchlins Kabbala soll Karlstadt bereits zu diesem frühen Zeitpunkt gelesen haben.62 Damit würde Karlstadt nicht nur ein Bindeglied zwischen dem innerprotestantischen Spiritualismus und dem Neuplatonismus bilden, sondern auch dokumentieren, welche Weichenstellung die 1518 erfolgte Berufung Melanchthons nach Wittenberg für die Reformation bedeutet hat. Mystischer Spiritualismus (Karlstadt) und

59 Luther, Disputatio contra scholasticam theologiam, S. 226: Theologus non logicus est monstrosus haereticus, est monstrosa et haeretica oratio. Nach der Ausgabe des Textes in Luther, Studienausgabe, S. 169 handelt es sich hier um die Thesen 47, 49 und 51. Grundlegend ist Dieter, Luther und Aristoteles, S. 378 – 430, mit Hinweisen zur älteren Forschung, aus der Lohse, ratio und fides hervorzuheben ist. Zu Luthers Philosophiekritik Frank, Die Vernunft des Gottesgedankens, S. 25 – 51. 60 Luther, Disputatio contra scholasticam theologiam, S. 226: Breviter, totus Aristoteles ad theologiam est tenebrae ad lucem. 61 Luther, Briefwechsel Bd. 1, S. 149 f. Zu dieser Stelle Raeder, Grammatica Theologica, S. 62. Dort S. 59 – 80 auch grundsätzlich zu Luthers Stellung zur Kabbala und seiner Kenntnis von Reuchlins De verbo mirifico. Eine historisch und biographisch orientierte Darstellung bei Mahlmann-Bauer, Reuchlin und die Reformation. 62 Ulrich Bubenheimer, Art. »Karlstadt«. In: Theologische Realenzyklopädie Bd. 17, S. 649 – 657, hier S. 650; Raeder, Grammatica Theologica, S. 61, Anm. 296, Schubert, Täufertum und Kabbalah, S. 315 f.

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dialektischer Humanismus (Melanchthon) sind dem weiteren Verlauf der Reformation als Alternativen eingeschrieben. Hätte Luther seine frühen Positionen beibehalten, wäre Melanchthon ein »ungeheuerlicher Häretiker«. Man muss dabei im Auge behalten, dass die Disputatio Luthers, wie es ihr Titel sagt, contra scholasticam theologiam gerichtet ist, sich also gegen das wendet, wogegen sich auch die Argumentationstechnik richtet, die Melanchthon in seiner Dialektik entwickelt. Gemeint ist damit eine Theologie, die mit abstrakten, das heißt bibelfernen Begrifflichkeiten rein logische Probleme erörtert, wie sie sich weniger aus der Bibel als aus einer philosophisch orientierten Theologie ergeben – allen voran die Frage, wie Gott zugleich einer und drei sein kann. Wenn Luther bestreitet, dass die Trinität logisch zu fassen sei, behauptet er dasselbe wie Melanchthon später in seinen Loci theologici. Im Gegensatz zu Melanchthon geht Luther zu diesem frühen Zeitpunkt aber noch ein ganzes Stück weiter, wenn er »den ganzen Aristoteles«, und das heißt die Logik überhaupt verwirft. Diese Äußerung Luthers steht zumindest in einer großen Nähe zu ›mystischen‹ Überzeugungen. Der Einfluss der Mystik auf den frühen Luther ist eine in der Theologie schwer umkämpfte Frage.63 An erster Stelle ist die Einschränkung von Berndt Hamm zu nennen, der die Mystik Luthers auf eine spezifische Form der »Glaubensmystik« beschränkt, im Gegensatz zu einer spekulativen, »elitären« Mystik. Luther habe sich nicht »auf besondere mystische Entrückungen, ekstatische Erlebnisse, Erleuchtungen, Visionen und Auditionen« berufen, noch dazu Anleitung geben wollen. Genauso habe er sich gegen eine spekulative Mystik im Gefolge des Pseudo-Dionysius Areopagita gewandt mit ihrer Annahme eines Aufstiegs des erkennenden Geistes in das geheimnisvolle Dunkel des göttlichen Wesens.64 Im Zentrum von Luthers ›Mystik‹ stehe vielmehr die Begegnung mit dem gekreuzigten Christus, die sich »nicht in bloßer Betrachtung und moralischer Nachfolge [vollzieht], sondern als seinshafte Gemeinschaft in der Tiefenschicht der menschlichen Person, die dem Vermögen, Verstand und Willen vorgeordnet und dem Bewußtsein nicht zugänglich ist«.65 Die reformatorische Glaubensmystik entstehe aus der mittelalterlichen Liebesmystik, vor allem indem Luther die »mystische Unmittelbarkeit und Direktheit« in eine »Unmittelbarkeit zum Wort« übertrage.66

63 Die zwei grundlegenden Arbeiten sind Oberman, Simul gemitus et raptus und Iserloh, Luther und die Mystik. Stellvertretend für die neuere Forschung vgl. die in dem Band Gottes Nähe unmittelbar erfahren versammelten Arbeiten von Leppin, Grosse und Hamm sowie Steiger, Fünf Zentralthemen. 64 Hamm, Wie mystisch war der Glaube Luthers, S. 245. 65 Iserloh, Luther und Mystik, S. 68. 66 Hamm, Wie mystisch war der Glaube Luthers, S. 264 und S. 266.

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Volker Leppin hat in diesem Sinne für drei zentrale Elemente der lutherischen Theologie – den Gegensatz von Gesetz und Evangelium, die Rechtfertigungslehre und das allgemeine Priestertum aller Gläubigen – mystische Wurzeln aufgezeigt, ohne dabei die grundlegende Transformation dieser Wurzeln zu bestreiten.67 Diesen Befunden entspricht der niedrige Rang, den der frühe Luther vor allem in den Dictata super Psalterium (1513 – 1516) der menschlichen Vernunft zubilligt. 1514 heißt es dort, der Glaube an Christus könne nur in denjenigen sein, die »supra rationem contemplativi sint«.68 An derselben Stelle heißt es, dies könne nicht in einer argumentativen Erörterung (disputatio) oder durch vieles Reden (multiloquium) behandelt werden, sondern nur »in summo mentis ocio et silentio, velut in raptu et extasi« erfahren werden. Diese ›enthusiastische‹ Erfahrung mache den wahren Theologen aus. Sogar Dionysius Areopagita, vor dem Luther später in den schärfsten Tönen warnen und dessen spekulative Mystik Melanchthon zusammen mit der Kabbala für »reinen Unsinn« erklären sollte, wird mehrfach zustimmend mit dem Konzept seiner negativen Theologie zitiert, die darin bestehe, Gott als »super omnem cogitatum« erfahrbar zu machen, indem man »in die Finsternis eintrete«. Luther nennt das hier die »wahre Kabbala«.69 Dreimal (1516, 1518 und 1520) hat Luther die Theologia deutsch herausgegeben, deren unbezweifelbar mystische Frömmigkeit seine Zustimmung findet. »Diß lernet sich nit mit Worten. Es muß versucht werden«, notiert Luther in einer Glosse, »Hie muß untergehen aller menschen vornunfft und vorstandt« in einer anderen. Wie Karlstadt verwendet Luther für diese Aufgabe der Vernunft den Ausdruck »Gelassenheit«.70 In der Vorrede polemisiert er gegen Prediger, die mit »prechtigen« Worten prunken und lobt dafür das »schlechte deutsch« und die »ungefrenßeten ungekrentzten worte« des »armen« und »ungeschmuckten« Büchleins. Diese Rhetorikverachtung richtet sich gegen die Universität, an der das Wort Gottes »under der bangk gelegen« habe.71 Hier spricht ein Mönch, der gar nicht promovieren wollte und mit der Frömmigkeit, die er an der Universität antrifft, nicht glücklich ist. Damit präformiert der frühe Luther den späteren Antiakademismus eines Johann Arndt (dessen Ausgabe der Theologia deutsch von 1597 mit den Randbemerkungen Luthers im 17. Jahrhundert über 60 Ausgaben erreicht)72 und Gottfried Arnold. 67 68 69 70 71 72

Vgl. Leppin, Transformationen, außerdem Leppin, Omnem vitam fidelium. Luther, Dictata super Psalterium Bd. 3, S. 607. Luther, Dictata super Psalterium Bd. 3, S. 372. Ähnlich dort auch S. 124. Luther, Gedruckte Randbemerkungen, S. 7 und S. 11. Luther, Vorrede zur »deutschen Theologie«, S. 378 und 379. Vorbericht der Herausgeber in Luther, Werke Bd. 59, S. 3.

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Gegen wen sich dieser Antiakademismus auch richtet, erfährt man aus dem Begleitbrief, mit dem Luther 1517 ein Exemplar der Theologia deutsch Spalatin übersendet: Erasmus könne mit seinem vielgelobten Hieronymus nichts leisten, was der Wirkung der Theologia deutsch vergleichbar wäre, schreibt Luther dort. In den Predigten Taulers könne man sehen, wie die ganze humanistische Gelehrsamkeit mit ihren Griechisch-, Latein- und Hebräisch-Kenntnissen an der wahren Frömmigkeit (»pietas«) dieses Mannes, also Taulers, zuschanden werde.73 Wie sich eine solche Verachtung von Sprachkenntnissen mit der späteren Übersetzung der Bibel verträgt, ist schwer zu erkennen. Den vierfachen Schriftsinn, den Luther später zurückweisen wird, vor allem aber die Allegorese praktiziert er in den Dictata super Psalterium (1513 – 1516) noch in der selbstverständlichsten Weise. Von der engen Bindung des »inneren Wortes« an das »äußere« ist zu diesem Zeitpunkt nicht viel zu spüren. Der »fleischliche Mensch« (»carnalis homo«) könne das Wort Gottes nicht hören, heißt es dort vielmehr.74 Nur in sich könne man dieses Wort hören, und deswegen müsse man sich nach innen kehren, in sein Herz. Alles, was außerhalb sei, alles Sichtbare und Zeitliche, müsse man vergessen, um das Unsichtbare und Innerliche erkennen zu können.75 Auch wenn Luther es nicht eingestanden hat, dürfte die philologische Meisterleistung des von ihm verteufelten Erasmus, die Ausgabe des Neuen Testaments (1516), einigen Einfluß auf die »sola scriptura«-Doktrin und den Plan einer Bibel-Übersetzung gehabt haben. Nicht nur hatte Erasmus in seiner Vorrede, der »Ratio seu methodus compendio perveniendi ad veram theologiam«, den vierfachen Schriftsinn zu einem Zeitpunkt abgelehnt, zu dem ihn Luther noch praktiziert hat. Sondern vor allem musste die erstmalige, philologische Absicherung des Neuen Testaments einen Gedanken wie den der »sola scriptura« überhaupt erst möglich erscheinen lassen. Die Doktrin von »innerem« und »äußerem« Wort bildet aus dieser Perspektive geradezu den Mittelweg zwischen dem Spiritualismus des frühen Luther und der Philologie eines Erasmus und Melanchthon. Insofern der Heilige Geist sich des »äußeren« Wortes – also der grammatisch und philologisch zu erschließenden Lautgestalt des Wortes – bedient, ordnet Luther diesen Heiligen Geist der menschlichen Vernunft vor, ohne dabei dieser menschlichen Vernunft alle Rechte zu bestreiten, wie es die radikalen Spiritualisten und er selbst in den Dictata noch getan hatten. Die konsequente Anwendung der Philologie als Methode, wie sie Erasmus praktizierte, implizierte 73 Luther, Briefe Bd. 1, Nr. 39, S. 96. 74 Luther, Dictata super Psalterium Bd. 4, S. 10. 75 Luther, Dictata super Psalterium Bd. 4, S. 11.

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dagegen notwendigerweise die Unterwerfung der Schrift unter die menschliche Vernunft, wie sie Luther Erasmus vorgeworfen (»Erasmus urtheilt nur nach der Vernunft in Gottes Sachen«)76 und für Teufelswerk erklärt hat (»Quantum promovit grammaticam, tantum nocuit euangelio. Er ist ein schentlicher mensch gewest.«).77 Dass Luther mit seiner Diagnose eines negativ proportionalen Verhältnisses von Philologie und Evangelium im Übrigen recht behalten sollte, wird sich im 18. Jahrhundert zeigen, in dem Reimarus der Bibel aufgrund solcher philologischer Erwägungen den Offenbarungsanspruch bestreiten wird.

Melanchthons Einfluss auf Luther Melanchthon hat als der Gräzist und Philologe, als der er nach Wittenberg berufen wurde, mit den mittelalterlichen Exegesepraktiken und den mystischen Traditionen, von denen Luther sich erst mühsam distanzieren muss, von vornherein nichts zu schaffen. Als Melanchthon 1519 – gezwungenermaßen – mit seinen Vorlesungen über den Römerbrief beginnt, nähert er sich diesem Text als Philologe, und zwar ohne in der Methode irgendeine Konzession an die theologische Tradition zu machen. Am philologischen Zugriff Melanchthons können Luthers theologische Überzeugungen nichts ändern. 1531 fordert Melanchthon in seinen Elementa rhetorices sogar ausdrücklich das, was Luther bei Erasmus zu Teufelswerk erklärt hat, nämlich die Unterwerfung der Offenbarung unter die menschliche Vernunft. Denn anders kann man es nicht deuten, wenn es dort heißt, dass überall in der Bibel »eine einzige, feste und einfache Bedeutung […] nach den Regeln der Grammatik, Dialektik und Rhetorik« zu suchen sei.78 Schon die Loci theologici – die in den ersten Sätzen ihre scharfe Grenze zwischen dem Sagbaren und dem Unsagbaren ziehen – sind in ihrer philologischen Rationalität weit von Luthers Dictata super Psalterium entfernt. Mit den Loci Melanchthons beginnt das gespannte Verhältnis von ratio und fides, von Vernunft und Offenbarung, von Methode und Spiritualismus, das die protestantische Theologie des 16. und 17. Jahrhunderts bestimmen wird. Die Berufung Melanchthons nach Wittenberg ereignet sich dabei zeitgleich mit der wachsenden Herausforderung der lutherischen Theologie durch den radikalprotestantischen Spiritualismus. Luther lernt durch Melanchthon die humanistische Neuformulierung von Logik und Rhetorik als Argumentations76 Luther, Tischreden Bd. 1, Nr. 430, S. 185 f. 77 Luther, Tischreden Bd.5, Nr. 5670, S. 310. 78 Melanchthon, Elementa rhetorices S. 196 f. Vgl. auch oben S. 73.

Vernunft und Offenbarung bei Luther und Melanchthon

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theorie in der Prägung Rudolf Agricolas kennen, und zwar zu einem Zeitpunkt, zu dem er in der Auseinandersetzung mit Thomas Müntzer vorgeführt bekommt, wohin die Berufung auf den Geist und der Verzicht auf argumentative Begründungen führen kann. Spätestens mit Melanchthons Römerbrief-Vorlesungen, die Luther herausgibt, und den Loci theologici, die Agricolas Argumentationstheorie auf die Theologie anwenden, hat sich Luther von Melanchthon überzeugen lassen. In Widerspruch zu seinen früheren Äußerungen in der Disputatio contra scholasticam theologiam finden die Loci Luthers nachdrückliche Zustimmung. In den Tischreden erklärt er sie später zum wichtigsten Buch nach der Bibel.79 Was von den Loci theologici abweiche, sei ein Werk des Teufels.80 Im selben Kontext distanziert sich Luther von seinen frühen Schriften (»darin ich gantz schwach gewest bin«), die er jetzt am liebsten nicht mehr gedruckt sehen möchte.81 Damit ist nicht gesagt, dass Luther jemals die Vernunft über den Glauben gestellt hätte. Bis in seine späten Schriften hinein finden sich abwertende Äußerungen über die Vernunft als die »Braut des Satans«. Was Luther jedoch nicht mehr tut, ist die Gültigkeit der Logik für die Theologie zu bestreiten. Schon 1520 erhebt Luther die Ausbildung in der Dialektik zur ausdrücklichen Forderung, sogar explizit mit einer Empfehlung der entsprechenden aristotelischen Schriften (»Aristoteles bucher von der Logica, Rhetorica, Poetica«). Brächte man diese »in ein andere kurtz form«, das heißt verzichte auf die mittelalterlichen Kommentare, seien sie durchaus nützlich, insbesondere für die Predigt.82 Solche Passagen dürften von Melanchthon stammen.83 Genau diese Forderung einer Rückkehr zur antiken Rhetorik und Dialektik unter Verzicht auf die scholastischen Kommentare, eine Restitution der Rhetorik und Dialektik als Argumentations- und Wissenschaftstheorie erfüllt Melanchthon zeitgleich mit seinen eigenen Lehrbüchern beider Disziplinen. Diese Abhängigkeit von Melanchthon hat Luther auch später nie bestritten. »Philippus fecit, quod nullus fecit in mille annis in dialectica. Dialecticam hab ich gewust, aber Philippus hatt michs lernen appliciren ad rem.«84 heißt es 1532 in den Tischreden. Gegenstand dieser ›applicatio‹ der Dialektik ist die Theologie. Gegenüber der Disputatio contra scholasticam theologiam, in der eine solche ›applicatio‹ als »ungeheuerliche Häresie« bezeichnet worden war, hat Luther damit eine Wendung um hundertachzig Grad vollzogen. 79 80 81 82 83

Luther, Tischreden Nr. 5511, Bd. 5, S. 204. Vgl. etwa auch Nr. 5787, Bd. 5, S. 352. Luther, Tischreden Nr. 5788, Bd. 5, S. 352. Luther, Tischreden Nr. 6439, Bd. 5, S. 661. Luther, An den christlichen Adel deutscher Nation, S. 458. Dies belegt insbesondere die Nennung der aristotelischen Poetik, die zu diesem Zeitpunkt nur in den elitärsten Kreisen der Aristoteles-Philologie bekannt war. 84 Luther, Tischreden Nr. 1545 aus dem Jahr 1532.

84

4.

Magie, Kabbala und Mystik in den Anfängen der Reformation

Zusammenfassung

Melanchthonischer Humanismus und lutherische Theologie gehen in der Reformation eine Verbindung ein, die für den protestantischen Bildungsgedanken im allgemeinen und für die Reform des Schul- und Universitätswesens im besonderen von nicht zu überschätzender Bedeutung ist. Es ist die damit an den protestantischen Universitäten etablierte Verbindung von argumentativer, logisch-rhetorischer Technik auf der einen und Theologie auf der anderen Seite, die in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in eine Universitätstheologie münden wird, die von spiritualistisch geprägten Autoren als ›toter‹ Glaube und von den Pietisten als »Orthodoxie« verdammt werden wird. Die protestantische Theologie steht in einem Spannungsfeld von lutherischer Reformation des Christentums im Sinne eines Priestertums aller Gläubigen und einer philologischen Gelehrsamkeit, die schon durch ihre Voraussetzungen nur die elitäre Angelegenheit einiger hochspezialisierter Fachleute sein konnte. Der Dissens von gelebter Frömmigkeit und universitärer Theologie, von Geisterfahrung und akademischem Prüfungssystem, vom schlichten Wort der Bibel und theologischen Streitereien, deren Relevanz dem Laien nicht mehr verständlich zu machen war, kündigt sich schon zu Beginn der Reformation an. Das Arndtsche Ideal der Frömmigkeit als einer Praxis des Glaubens im Gegensatz zur Theologie als einer bloßen Theorie des Glaubens ist gegen die Universitätstheologie melanchthonischer Prägung gerichtet.85 Als Ideal speist es sich aus den Quellen, aus denen auch der frühe Luther geschöpft hatte, allen voran die Theologia deutsch, Tauler und die Imitatio Christi, die Arndt alle in sein Wahres Christentum übernimmt. Die »zweite« Reformation Arndts entspringt auch insofern einem lutherischen – aber nicht melanchthonischen – Impuls. Der Gegensatz wird sich noch einmal in den pietistischen Streitereien um 1700 wiederholen. Einem melanchthonischen Impuls entspricht es dagegen, wenn Andreas Libavius als Professor für Logik und Rhetorik und scharfer Gegner der Paracelsisten 1599 nicht nur als Kommentator von Melanchthons Dialektik auftritt (Dialectica Aristotelica a Philippo Melanchthone et Petro Ramo exposita, 1599), sondern auch noch ein Schulbuch mit Übungen zur Argumentation verfasst (Exercitiorum logicorum liber, 1595) und das Regensburger Religionsgespräch einer Argumentationsanalyse unterzieht (Analysis dialectica Colloquii Ratisbonensis, 1602). Mit einer solchen syllogistischen Analyse zeigt sich Libavius als klarer Anhänger des Philippismus, dessen Zentrum zu diesem Zeitpunkt die Universität Helmstedt ist.

85 Zu Arndts Polemik unten S. 176 ff.

Zusammenfassung

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Schon 1586 hatte Owen Günther in Helmstedt die Überzeugung geäußert, »die Philosophie sei der wahre Weg des Weisen und Gebildeten zu Gott, Glauben und Theologie dagegen den Ungebildeten angemessen.«86 In der langen Reihe von Streitigkeiten, die zu Beginn des 17. Jahrhunderts zwischen den Philippisten der Universität Helmstedt, vor allem Cornelius Martini und Georg Calixt, und den ›Gnesiolutheranern‹ der Universitäten Wittenberg und Leipzig ausbrachen, spielte der Status der Vernunft in Glaubensfragen eine wichtige Rolle. Dabei vertrat Georg Calixt die Forderung, Religionsgespräche müssten immer in der Form des Syllogismus durchgeführt werden. Das Scheitern früherer Religionsgespräche führt er auf mangelnde Befolgung der logischen Regeln zurück.87 Analog stritt Cornelius Martini mit Balthasar Meisner über die Frage, ob man theologische Fragen immer in syllogistischer Form behandeln müsse. Obwohl selbst Lutheraner, macht sich Martini über die Haltung von Jacob Andreae (der Großvater von Johann Valentin Andreae) lustig, der sich auf dem Religionsgespräch von Mömpelgardt 1586 hartnäckig der Forderung des Calvinisten Theodor Beza, die lutherische Abendmahlslehre syllogistisch zu beweisen, verweigert hatte.88 Johannes Wallmann hat darauf aufmerksam gemacht, dass sich diese Helmstedter Auseinandersetzungen gleichzeitig mit dem Entstehen der von Arndts Wahrem Christentum ausgehenden Frömmigkeitsbewegung abspielen und die These formuliert, dass sich Arndts Polemik gegen die Theologie als bloße »Wortkunst« gegen die Helmstedter Theologie richten könnte: »Die Entstehung der pietistischen Frömmigkeitsbewegung, soweit sie sich an den Namen Johann Arndts knüpft, könnte, gewissermaßen e contrario, als eine Auswirkung der Universität Helmstedt begriffen werden.«89 Der Paracelsismus des frühen Arndt ist ein starkes Argument für diese These. Wie im vierten Kapitel zu zeigen sein wird, speist der frühe Paracelsismus sich in erheblichem Maß aus einem Antiakademismus, und das heißt vor allem aus einem Widerstand gegen den geistfeindlichen Disputationsbetrieb der Universitäten. Seine Entstehung wurde Melanchthon zur Last gelegt. Was solle man von diesem schon erwarten, schreibt Weigel 1584, der bloß ein »Grammaticus Graecus« und »aristotelischer Philosophus« gewesen sei, im Gegensatz zu dem »Theologus« Luther, »sonderlich in seinen ersten Schrifften«.90

86 Dreitzel, Protestantischer Aristotelismus, S.74 f., der die Vorrede von Owen Günther, Methodorum tractatus duo, 1586 zitiert. Grundsätzlich zu diesen Auseinandersetzung Friedrich, Grenzen der Vernunft, S. 222 – 377. 87 Wallmann, Eigenart Helmstedter Theologie, S. 75. 88 Sparn, Wiederkehr der Metaphysik, S. 28 ff. 89 Wallmann, Eigenart Helmstedter Theologie, S. 69. 90 Weigel, Dialogus de Christianismo, S. 47.

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Magie, Kabbala und Mystik in den Anfängen der Reformation

Abraham von Franckenberg empfiehlt 1649 die spätantiken Gnostiker und das Corpus Hermeticum zur Lektüre, Melanchthon dagegen wirft er für seine Einführung des Aristoteles an den protestantischen Universitäten Verantwortungslosigkeit vor. Auf Dialektik und Rhetorik könne man verzichten, aber nicht auf Kabbala und Magie. Wie Luther nennt er die Vernunft eine »kleine Hure«, von der nichts zu erwarten wäre. Die Wahrheit erfahre man durch Suchen, Beten und Anklopfen, nicht durch Argumentieren.91 Gotteslästerung sei es, zu glauben, dass sich der Sinn der Heiligen Schrift »nach des gott- und geistlosen Aristoteles spitzigen Dialektika, geschwätzigen Rhetorika, und aberwitzigen Metaphysika ganz überkünstlich und überklüglich« eruieren lasse.92 Der Sinn der Schrift erschließe sich nicht durch logische Erörterungen, sondern durch Gebet und göttliche Erleuchtung.93 Auch hier wiederholt sich die Auseinandersetzung noch einmal um 1700, wenn Colberg in seinem Platonisch hermetischen Christentum (1690) den Spiritualisten ihre Missachtung der »vernünfftigen Schluß-Reden« zugunsten einer innerlichen Erleuchtung vorwirft.94 Bücher beklagt 1699 in seinem Plato mysticus, dass die Pietisten »geistliche Sachen« nicht durch »Syllogismos« behandeln wollten und sich stattdessen auf »Einbildung der geistlichen Erfahrung« beriefen.95 Auf der anderen Seite steht wiederum der Radikalpietist Gottfried Arnold mit seiner Unpartheyischen Kirchen- und Ketzerhistorie (1699/1700), in der Melanchthon der wahrscheinlich meistgeschmähte Autor ist.96 Auch für Arnold ist es insbesondere die Einführung des Aristotelismus, die Melanchthon vorgeworfen wird. Von Logik und Rhetorik in der Theologie hält Arnold gar nichts, denn Theologie ist für ihn eine »geheime Gottesgelehrtheit/ als eine Gabe des H. Geistes«,97 die als solche Gegenstand einer spirituellen Eingebung ist, nicht einer logisch und philologisch verfahrenden Erkenntnis. Mit den Differenzen zwischen Melanchthon und Luther in der Bewertung des Verhältnisses von Vernunft und Offenbarung ist im Protestantismus eine Bruchstelle angelegt, die spätestens zu Beginn des 18. Jahrhunderts in Aufklärung und Pietismus auseinanderbrechen wird. Beide erscheinen unter diesem 91 Vgl. das Gesprächsprotokoll in Franckenberg, Briefwechsel, S. 355 – 363, mit der Übersetzung von Seidel S. 363 – 371. Alle zitierten Stellen dort S. 365 – 367. Zu diesem Gespräch auch unten S. 179 ff. 92 Franckenberg, Leben Böhmes § 52, S. 48 f. 93 Franckenberg, Gespräche mit Seidenbecher, S. 358 und S. 367. Franckenberg, Leben Böhmes § 52, S. 49. 94 Vgl. z. B. Colberg, Platonisch hermetisches Christentum, S. 141, hier gegen die Kabbala gerichtet. 95 Bücher, Plato mysticus, S. 168. 96 Vgl. Wallmann, Melanchthonbild. 97 Arnold, Mystische Theologie I.8, S. 5.

Zusammenfassung

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Aspekt als zwei Seiten einer Münze. Die ›Aufklärung‹ tritt das Erbe der melanchthonischen Theologie an, indem sie der Logik einen grundlegenden Status als Wissenschaftsmethodik und Erkenntnistheorie zuerkennt. Der Deismus und die »natürliche Theologie« eines Reimarus sind die Ergebnisse einer konsequenten Anwendung der Logik auf die Theologie. Die Unvernünftigkeiten der christlichen Religion (Offenbarungscharakter der Bibel, Trinität, Erbsünde usw.) werden ausgeschlossen und was übrigbleibt, ist eine »natürliche«, nämlich vernünftige Theologie: der Deismus. Auf der anderen Seite dagegen, im Pietismus und seinen Verwandten, wird der Logik oder überhaupt der rationalen Argumentation jede Befugnis in Glaubensfragen bestritten und die Unvernunft des Glaubens zu einem Indiz seiner Überlegenheit über die durch die Erbsünde korrumpierte Vernunft. Die ›gelebte Frömmigkeit‹ (praxis pietatis), die sich von den ›sophistischen‹ Einwürfen der Vernunft nicht beeindrucken lässt, wird zum Merkmal des christlichen Glaubens.

III.

Melanchthons antispiritualistische Anthropologie und Naturphilosophie

Melanchthons grundsätzlicher Antispiritualismus spiegelt sich auch in seiner Anthropologie und Naturphilosophie. Es wiederholen sich dabei die Differenzen zwischen Melanchthon und Luther. Mit seiner spiritus-Lehre entwickelt Melanchthon eine physiologische Begründung für Luthers Rechtfertigungslehre, das heißt er entwickelt die Möglichkeit, die Vermittlung des göttlichen Geistes in der Rechtfertigung durch die Gnade mittels »natürlicher Ursachen« – also ohne die Annahme übernatürlicher Ursachen – zu erklären. Das ist eine Form der Rationalisierung und Naturalisierung der lutherischen Rechtfertigungslehre. Die Rechtfertigungslehre als zentrales Dogma der lutherischen Theologie impliziert damit keinen unmittelbaren Eingriff Gottes, sondern nur einen mittelbaren, insofern die Möglichkeit einer Übertragung der Gnade Gottes physiologisch gegeben ist. Melanchthons Nachweis natürlicher Ursachen steht wiederum in einem bedingten Widerspruch zu Luthers naturphilosophischen Überzeugungen, indem Luther von einer unmittelbaren Präsenz Gottes in der Natur und im menschlichen Körper ausgeht. Diese Differenz wird bei den medizinischen und besonders den therapeutischen Vorgaben spürbar, insofern Luther die Wirksamkeit von Medikamenten oder medizinischen Therapien grundsätzlich in Frage stellt und Heilungserfolge nur von Gebet und Glauben erwartet. Während Luther mit dieser Annahme einer unmittelbaren Wirksamkeit Gottes in der Natur zumindest tendenziell in der Nähe spiritualistischer Positionen steht, wie sie vor allem der Neuplatonismus und Paracelsismus vertreten haben, steht Melanchthon den naturalistischen, aristotelischen Positionen eines Pomponazzi näher.

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1.

Melanchthons antispiritualistische Anthropologie und Naturphilosophie

Die medizinische und theologische Bedeutung der spiritus-Lehre

spiritus animalis und spiritus sanctus Im Zentrum der lutherischen Theologie steht die Rechtfertigungslehre, das heißt die Überzeugung, dass dem Menschen allein durch den Glauben an die Gnade seine Sünden vergeben werden, und nicht etwa durch die Befolgung irgendwelcher kirchlichen Gebote oder gar Ablasspraktiken. Die Gnade Gottes offenbart sich im Tod Christi, der geglaubt werden muss, um den Sünder, der der Mensch immer ist, vor Gott zu rechtfertigen. Die alleinige heilsvermittelnde Kraft des Glaubens besagt auch, dass das »Gesetz«, wie es das Alte Testament mit den Zehn Geboten verkündet, keine heilsvermittelnde Kraft besitzt. Das Neue Testament mit seiner Botschaft vom Tod Christi hat das Alte Testament und die Herrschaft des Gesetzes abgelöst. Im Buchstaben des Evangeliums, in seinem »äußeren Wort«, ist deshalb der Heilige Geist als »inneres Wort« verborgen. Im Hören und Glauben des »äußeren Wortes« vollzieht sich die Übertragung des Heiligen Geistes, der die Rechtfertigung vor Gott bewirkt. Diese theologischen Vorgaben Luthers übersetzt Melanchthon in die Medizin, genauer : in die Physiologie.1 Der spiritus – oder, wie er später ins Deutsche übersetzt wird, der »Lebensgeist« – ist nach Galenischer Vorstellung ein »feiner Dampf«, der durch die Tätigkeit des Herzens aus dem Blut gekocht und dann als spiritus vitalis durch die Arterien in alle Teile des Körpers transportiert wird.2 Aus diesem spiritus vitalis als dem Träger aller körperlichen Empfindungen und Bewegungen entsteht durch Verfeinerung im Gehirn der spiritus animalis als Träger der Wahrnehmung, der Gefühle und des Denkens.3 1 Zu Melanchthons medizinischen Vorstellungen Bellucci, Science de la Nature, S. 321 – 480; De Angelis, Anthropologie und Gesetz; Helm, Medicinam aspernari impietas est; Kusukawa, Transformation of Natural Philosophy, bes. S. 75 – 123; sowie dies.: Aspectio divinorum operum. Ich bin diesen Arbeiten stark verpflichtet. Zum weiteren Kontext von Melanchthons medizinischen Vorstellungen Bröer und Hofheinz, Gesundheitspädagogik statt Tröstung; Eckart, Melanchthon und die Medizin; Helm, Zwischen Aristotelismus, Protestantismus und zeitgenössischer Medizin; sowie ders., Galenrezeption; Hofheinz, Melanchthon und die Medizin; Nutton, Wittenberg Anatomy. Zur Genese der frühneuzeitlichen Anthropologie überhaupt die grundlegende Studie von De Angelis, Anthropologien. Zur philosophiehistorischen Perspektive Frank, Die theologische Philosophie Melanchthons, bes. S. 86 – 158.; sowie ders., Melanchthons Liber de anima, sowie Salatowsky, De anima. 2 Melanchthon, Liber de anima Sp. 88 f. 3 Zur spiritus-Lehre Melanchthons grundlegend ist Helm, Die spiritus in der medizinischen Tradition und Walker, Medical spirits. Zur spiritus-Lehre Peucers und Melanchthons vgl. Brosseder, Im Bann der Sterne S. 190 – 199. Zum magischen Kontext Walker, Spiritual Magic. Zu medizinischen spiritus-Lehren in der italienischen Renaissance Siraisi, Avicenna in Renaissance Italy, S. 337 – 344. Einen historischen Überblick mit Schwerpunkt auf dem

Die medizinische und theologische Bedeutung der spiritus-Lehre

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Dieser spiritus animalis – das »Werkzeug der inneren Sinne«, wie er genannt wird – transportiert die äußeren Wahrnehmungen zum Vorstellungsvermögen, von dort zum Intellekt und zum Gedächtnis. Entscheidende Bedeutung hat der spiritus animalis für die Entstehung der Affekte, denn ein Affekt oder Gefühl entsteht, indem die affektauslösende Wahrnehmung vom Gehirn über die spiritus zum Herzen als dem Sitz des Gefühls weitergeleitet wird. Das Herz reagiert auf die spiritus seinerseits mit einer Bewegung, die über den spiritus vitalis auf den Körper übertragen und als emotionale Reaktion (wie z. B. Erröten oder Furcht) wahrgenommen wird. Der spiritus ist das belebende Prinzip des Körpers und kann als solcher von Galen und Melanchthon sogar mit der Seele identifiziert werden.4 Der spiritus beherrscht die Affekte und über die Affekte das Verhalten des Menschen. Die Affekte besiegen die Vernunft und bestimmen dadurch das sündhafte Handeln des Menschen. Dass der Mensch allerdings überhaupt den Affekten unterworfen ist, erklärt sich nicht physiologisch, sondern theologisch, denn dies ist eine Folge der Erbsünde. Der Mensch ist in seinen Affekten gefangen, weil er von Gott abgefallen ist.5 Allein durch das Vertrauen auf die göttliche Gnade, durch den Glauben an den heilsvermittelnden Tod Christi kann der Mensch sich aus dieser Gefangenschaft befreien. Diese befreiende Wirkung des Glaubens erklärt Melanchthon wiederum physiologisch als eine Durchmischung des menschlichen spiritus mit dem göttlichen spiritus, dem Heiligen Geist.6 Der Heilige Geist vermischt sich mit dem menschlichen Lebensgeist und durch diese Vermischung vollzieht sich auf physiologischer Ebene, was sich auf theologischer Ebene durch das Hören des Wortes vollzieht: »Und was aber noch wunderbarer ist, bei gläubigen Menschen mischt sich der göttliche spiritus mit diesen spiritus [den menschlichen] und macht sie durch das göttliche Licht noch Mittelalter gibt Putscher, Pneuma, spiritus, Geist. Zur spiritus-Lehre des Mittelalters Bono, Medical Spirits. Klier, Die drei Geister unternimmt den Versuch einer systematischen Darstellung der spiritus-Lehren der Frühen Neuzeit bis hin zu Descartes, tendiert allerdings dabei zur Aufhebung der unterschiedlichen, konkreten Ausformungen vor Descartes. Ähnlich Fuchs, Die Mechanisierung des Herzens S. 33 – 38. 4 Melanchthon, De anima, Sp. 88. Dieser Punkt ist insofern entscheidend, als die Seele damit als materiell bestimmt wird, dazu unten S. 124 ff. 5 Zu Melanchthons Affektenlehre zur Mühlen, Melanchthons Auffassung vom Affekt und Ziebritzki, Tugend und Affekt. 6 Mögliche Quelle von Melanchthon ist Servet, vgl. dazu unten S. 119 ff. Leonhart Fuchs, der enge Berater Melanchthons in medizinischen Fragen, bringt in seinem Compendium in Artem medendi introductio (1535) im Kapitel 47, das den spiritus gewidmet ist, nur ein Referat Galens. Magnus Hundt dagegen hatte in seinem Antropologium de hominis dignitate, natura et proprietatibus, Leipzig 1501, im Kapitel 58, »De spiritibus corporis humani« auf Albertus Magnus’ De anima verwiesen, der den spiritus einen »corpus divinus« genannt habe, »de natura celesti ita quod celum substantialiter ingrediatur corpora mixta«.

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Melanchthons antispiritualistische Anthropologie und Naturphilosophie

strahlender, so daß die Erkenntnis Gottes deutlicher, die Zustimmung [also der Glaube] fester und die Bewegung zu Gott hin noch drängender wird.«7 Glaube ist affektive Zustimmung zum Wort Gottes, und diese affektive Zustimmung ist auf physiologischer Ebene eine Vermischung des spiritus sanctus mit dem spiritus animalis des Menschen. Wenn Melanchthon den spiritus sanctus als durch das »göttliche Licht« (»divina luce«) vermittelt beschreibt, ist auch dies nicht metaphorisch, sondern wörtlich zu verstehen, denn die spiritus werden durch das Licht der Sonne und der Sterne übertragen.8 Die Gefangenschaft des Menschen in den Affekten wird durch die Ausgießung des Heiligen Geistes also nicht aufgehoben, aber zum Guten, das heißt zum Glauben gewendet. Der positive Affekt des Glaubens hebt die negativen Affekte auf. Im Hören des äußeren Wortes vollzieht sich die Vermischung des Heiligen Geistes mit dem menschlichen spiritus, die affektiv als freudige Zustimmung, als Glauben empfunden wird.9 Die Verheißung Gottes, nämlich die Rechtfertigung allein durch den Glauben an seine im Tod Christi offenbar gewordene Gnade, vollzieht sich auf physiologischer Ebene durch die Ausgießung des Heiligen Geistes in das menschliche Herz. Im Herzen als dem Sitz der durch die spiritus animales vermittelten Affekte bewirken diese die Annahme des äußeren Wortes vom Tod Christi im Glauben. Dadurch werden die auf den Sündenfall zurückzuführenden, negativen Affekte aufgehoben, was affektiv als Trost empfunden wird.

Fleisch und Geist, Gesetz und Gnade Theologischer Hintergrund dieser spiritus-Lehre ist der Römerbrief, in dem eine Präsenz des göttlichen Geistes im menschlichen Fleisch ausdrücklich behauptet wird. Der entscheidende Punkt ist die Entgegensetzung von »Fleisch« und »Geist« Röm. 8.5 ff., wo es heißt, dass »die da fleischlich sind, die sind fleischlich gesinnet, Die aber geistlich sind, die sind geistlich gesinnet.« In wem Gottes Geist wohne, der sei nicht fleischlich, sondern geistlich gesinnt. Wer diesen Geist habe, dessen Leib sei zwar tod »vmb der Sünde willen«, »der Geist 7 Melanchthon, De anima, Sp. 88 f.: »Et, quod mirabilius est, his ipsis spiritibus in hominibus piis miscetur ipse divinus spiritus, et efficit magis fulgentes divina luce, ut agnitio Dei sit illustrior, et adsensio firmior, et motus sint ardentiores erga Deum.« Ich bearbeite die Übersetzung Helm, Die spiritus in der medizinischen Tradition S. 220. 8 Melanchthon, Initia doctrinae physicae, Sp. 331. Dazu Brosseder, Bann der Sterne, S. 190 ff. Zur mittelalterlichen Tradition North, Celestial Influence. Zur Diskussion bei italienischen Ärzten Siraisi, Avicenna in Renaissance Italy, S. 279 – 289. 9 Helm, Die ›spiritus‹ in der medizinischen Tradition, S. 234 ff.

Die medizinische und theologische Bedeutung der spiritus-Lehre

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aber ist das leben vmb der Gerechtigkeit willen.«10 Die Rechtfertigung aus dem Glauben ist eine Rechtfertigung durch den Geist. »Vos autem in carne non estis sed in Spiritu« lautet Röm. 8.9 in der lateinischen Fassung der Vulgata, die jedem Theologen in den Ohren geklungen haben muss.11 Das Leben im Geist, im Medium des göttlichen spiritus, steht gegen das Leben im Fleisch. Röm. 8.16 schließlich werden die beiden »Geister«, der heilige und der menschliche, explizit in Verbindung gebracht: »Derselbige Geist gibt zeugnis unserm geist, das wir Gottes kinder sind.« (»Ipse Spiritus testimonium reddit spiritui nostro quod sumus filii Dei.«) Melanchthon bezieht diese zwei Geister in seinen Loci theologici auf die Unterscheidung des Heiligen Geistes als der Geist, der den Trost bewirkt, und den Trost selbst, durch den das Herz »aufgerichtet und belebt wird«.12 Auch wenn Melanchthon die medizinische Dimension dieser Begriffe hier wie sonst nicht explizit macht, darf man doch sicher sein, dass dieses »Herz« nicht metaphorisch, sondern physiologisch als Sitz der Affekte zu verstehen ist. Ebenso wörtlich ist es zu verstehen, wenn Melanchthon mehrfach davon spricht, dass der Geist in das Herz »geschickt« (mittitur) oder »ausgeschüttet« (effunditur) werde.13 Neben Röm. 8.16 führt Melanchthon in den Loci theologici 2. Kor. 3.18 als Beleg für die ›Transfusion‹ des Heiligen Geistes an, wo es heißt, »wir werden gleichsam vom Geist des Herren verwandelt«. »Denn der Herr ist der Geist. Wo aber der geist des Herrn ist, da ist freiheit. Nu aber schawen wir alle die klarheit des Herrn, wie in eim Spiegel, mit aufgedecktem angesichte, vnd wir werden verkleret in dasselbige Bilde, von einer klarheit zu der andern, als vom Herrn der der Geist ist.« Melanchthon bezieht diese »Verklärung« auf das »Licht in uns«, durch das wir wie durch eine »klare und feste Kenntnis«, einen »festen Glauben«, verwandelt werden.14 Historische Beispiele für die Sendung des Heiligen Geistes sind die Taufe Christi Mt. 3.16, wo sich der Heilige Geist als Taube herabsenkt, das Pfingsterlebnis der Apostel und die alttestamentarischen Propheten, von denen es an mehreren Stellen heißt, der »Geist Gottes« wäre in ihnen gewesen. In dem Kapitel »De spiritu et litera« bezieht Melanchthon die Unterscheidung von Geist und Fleisch auch im hermeneutischen Sinne auf die Unterscheidung von »innerem« und »äußerem Wort«, von »Geist« und »Buchstaben«, wie sie 2 Kor. 3.6 ihre berühmteste Formulierung gefunden hat: »Denn der Buchstabe tödtet, aber der Geist machet lebendig.« Es sind dieselben Bibelstellen, die Melanchthon heranzieht, um den »Buchstaben«, das heißt die bloße »doctrina« und

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Zitate hier und im Folgenden nach der Übersetzung Luthers in der Fassung von 1546. Biblia sacra iuxta vulgatam versionem, Bd. 2. Stuttgart 1983, S. 1758. Melanchthon, Loci praecipui theologici von 1559 (1. Teil), S. 231. Vgl. z. B. Melanchthon, Loci theologici von 1559 (1. Teil), S. 237. Melanchthon, Loci theologici von 1559 (1. Teil), S. 231.

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Melanchthons antispiritualistische Anthropologie und Naturphilosophie

»disciplina«, vom »Geist«, wie er im »wahren Glauben« und in der Erkenntnis Christi geschenkt wird, zu unterscheiden. Der Heilige Geist, der sich in das menschliche Herz ergießt, erzeugt dort ein »neues Licht, Weisheit, Rechtfertigung und ein ewiges Leben«, indem er dieses Herz mit Gottesfurcht, Glauben, Anbetung und Liebe ansteckt. Die Präsenz des Heiligen Geistes im menschlichen Herzen – und zwar als physiologisch gedachtes Organ – bezeichnet die »Teilhabe an der göttlichen Natur«, die dem Menschen bereits auf Erden zuteil wird.15 Auch das ist eine Umsetzung von Luthers Lehre vom »äußeren« und »inneren Wort«. Das »äußere Wort« ist der »Buchstabe«, die bloß intellektuell-rationale Kenntnis der christlichen Lehre, das »innere Wort« ist die Annahme dieser Lehre im Glauben, die eine »Teilhabe an der göttlichen Natur« bedeutet, insofern sie mit der von Melanchthon auch hier schon ganz physiologisch gedachten Ausgießung des spiritus sanctus in das menschliche Herz verknüpft ist. Das von Angst zerrüttete Herz, das die Botschaft des Evangeliums im Glauben annimmt, wird durch die Transfusion des Heiligen Geistes belebt, indem es Trost aus dem Wissen gewinnt, dass wir von Gott in Gnaden aufgenommen sind. In diesem Sinne ist das »äußere Wort« des Evangeliums eine »Verabreichung des Geistes« (»ministerium spiritus«).16 Zu dieser Bildung des positiven Affektes des Glaubens wäre der Mensch von sich aus, ohne die Hilfe des Heiligen Geistes, nicht fähig.17 Der Mensch als Körper, als »Lehmklumpen«, als »Fleisch«, wie es in der Bibel heißt, steht unter der Herrschaft des Gesetzes. Erst der Geist, der spiritus sanctus, macht ihn von dieser Herrschaft frei: »Jch sage aber, wandelt im Geist, so werdet jr die lüste des Fleisches nicht vollbringen. Denn das Fleisch gelüstet wider den Geist, vnd den Geist wider das Fleisch. Dieselbige sind widereinander, das jr nicht thut was jr wollet. Regieret euch aber der Geist, so seid jr nicht vnter dem Gesetze.« (Gal. 5.16 – 18) In der Folge zählt Paulus die »Werke des Fleisches« als die Werke der Affekte auf: »ehebruch, hurerey, vnreinigkeit, vnzucht, abgötterey, zeuberey, feindschafft, hader, neid, zorn, zanck, zwitracht, rotten, hass, mord, sauffen, fressen, vnd der gleichen«. Ihnen stehen die Werke des Geistes gegenüber : »liebe, freude, fride, langmutt, freundtlicheyt, guttickeyt, glawbe, sanfftmut, keuscheyt«. Die aber Christus folgen, »haben yhr fleiysch gecreutzigt, sampt den lusten vnd begirden.« Was sich in dem Gegensatz von Fleisch und Geist wiederholt, ist der Gegensatz von Gesetz und Gnade, wie Luther ihn aus seiner Rechtfertigungslehre entwickelt hatte. Wir leben auf dieser Welt unter dem Gesetz, aber wir werden 15 Melanchthon, Loci praecipui theologici von 1559 (2. Teil), S. 616 f. 16 Melanchthon, Loci theologici von 1559 (2. Teil), S. 619. 17 Vgl. Melanchthon, Ethicae doctrinae elementa, Sp. 192.

Die medizinische und theologische Bedeutung der spiritus-Lehre

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gerechtfertigt allein durch die Gnade, das heißt in der Sprache der Physiologie: durch die Transfusion des spiritus sanctus in die spiritus animales des menschlichen Körpers. Die Vernunft, die rationale Erkenntnismöglichkeit (die »notitiae naturales«) steht uns von Geburt an zur Verfügung, und doch hilft sie uns nichts, solange die Affekte der Umsetzung dieser Erkenntnis entgegenstehen. Aus den Werken der natürlichen Vernunft wird niemand gerechtfertigt. Sie können immer nur zur Erkenntnis des Gesetzes führen, niemals aber zu seiner Erfüllung. »Im Grunde genommen reinterpretiert Melanchthon die paulinischen Worte von dem Eingeschriebensein des natürlichen Gesetzes im Herzen aller Menschen im Horizont seiner anatomischen Kennntnisse vom Herzorgan und dessen psychophysischen Funktionen […]. Das Herz ist der Anfang des Lebens, und folglich muß das Gesetz bereits im Mutterleib in uns vorhanden sein. Melanchthons Position, aus der die theologisch und moralphilosophisch relevante Stellung der Affekte der Seele in seiner Anthropologie resultiert, präsentiert sich somit als Konsequenz aus der Einsicht in die von der Sünde hervorgebrachte Diskrepanz in der menschlichen Natur zwischen dem Gesetz, von dem wir durch die ›notitiae naturales‹ Kenntnis haben, und dem Willen bzw. den Affekten, Begierden und Trieben (›appetitiones contrariae‹), die der Mensch in seinem Leben nicht autonom zu überwinden in der Lage ist.«18

Die Überwindung der Affekte, die Rechtfertigung vor Gott, ist allein durch den Glauben an die Gnade möglich, die Gott im Evangelium verkündet hat. Nicht durch die »notitiae naturales« vollzieht sich deshalb die Rechtfertigung, sondern durch den Glauben in der Ausgießung des spiritus.19 Wie wichtig Melanchthon die Lehre von der Ausgießung des Heiligen Geistes ist, erhellt aus seiner Rede De arte medica, in der er gleich in den ersten Sätzen das paulinische Gebot 1. Kor. 6.19 – 20, den Körper in Ehre zu halten, weil er »ein Tempel des Heiligen Geistes« sei, wörtlich versteht und auf die Ausgießung des spiritus sanctus in die menschlichen spiritus bezieht. Obwohl der menschliche Körper »eine aus Lehm geformte Masse« sei, sei er als »Wohnstatt und Tempel Gottes« bestimmt, und zwar in dem Sinne, dass im Herz die spiritus vitales

18 De Angelis, Anthropologie und Gesetz, S. 889 f. 19 Der Verweis auf Paulus und die Tatsache, dass wir durch die »notitiae naturales« immer nur in der Unmöglichkeit einer Rechtfertigung gefangen gehalten werden (»in iniustitia captivas«), ist entscheidend. Hinter den »notitiae naturales« steht damit der paulinische Gegensatz von Fleisch und Geist, von Gesetz und Evangelium. Vgl. auch Melanchthon, Initia doctrinae physicae, Sp. 198. Den »notitiae naturales« steht insofern immer die in der Ausgießung des Geistes geschenkte Gnade Gottes gegenüber, vgl. Melanchthon, Initia doctrinae physicae, Sp. 348. Vgl. dagegen den Befund von Frank, Die theologische Philosophie Melanchthons, S. 105 – 158; ders., Melanchthons Liber de anima; sowie ders., Melanchthons Idee von der Unsterblichkeit. Zur methodischen Bedeutung der »notitiae naturales« oben S. 72.

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Melanchthons antispiritualistische Anthropologie und Naturphilosophie

entstünden, die von dort als »Hitzedämpfe« ins Gehirn stiegen, wo sie »milder und klarer« gemacht würden, das heißt zu spiritus animales verfeinert. Als solche sind die spiritus physiologische Träger der Gedanken und der Affekte. Mit ihnen vermische sich »wahrhaftig« – das heißt nicht nur metaphorisch, sondern faktisch – die Gottheit. Diese durch den spiritus sanctus verfeinerten spiritus animales führten im Gehirn zu klareren Vorstellungen und zu »beharrlicher Anerkenntnis« Gottes, das heißt zum Glauben als einem damit durch den Heiligen Geist hervorgerufenen Affekt. Damit ist der menschliche Körper vom Heiligen Geist durchflutet.20 Es ist dieser paulinische Kontext, aus dem heraus Melanchthon in De arte medica und De consideratione naturae et de arte medica zu einer »Heiligung« des Körpers auffordert. So ist es auch zu verstehen, wenn Melanchthon in De anima schreibt, man müsse ein »Dummkopf« (stolidus) sein, um die Verbindung eines sterblichen Körpers und einer unsterblichen Seele nicht zu bewundern, oder sie gar für zufällig zu halten. Der göttliche Geist lebt in diesem dreckigen Lehmklumpen, der der menschliche Körper ist. Aus dem Lehmklumpen ist Gott zu erkennen, denn Gott hat ihn nach seinem Bilde erschaffen,21 genauso wie aus der ganzen Natur Gott zu erkennen ist.22 Wer seinen Körper schädigt, indem er sich den Affekten überlässt, sündigt, weil er die Vermischung des spiritus sanctus mit den menschlichen spiritus verhindert.23 Indem es diese Lehre ist, die 1572 am Anfang der neuen Statuten der medizinischen Fakultät der Universität Wittenberg zitiert wird, kommt der spiritus-Lehre Melanchthons eine einzigartige Bedeutung für die Reform der Medizin zu. Wer die Gebote der Medizin verachtet, wer seinen Körper bewusst schädigt, wird das Reich Gottes nicht besitzen, denn der Geist muss in diesem Körper wohnen können: »Nicht leicht sündigen diejenigen, die ihre natürlichen Kräfte zerrütten, indem sie die Ordnung beim Essen, Trinken, Schlafen, Arbeiten, schließlich bei allen Geistes- und Körperregungen vernachlässigen oder auch schmählich verachten. Sie zerstören allmählich die Wohnstatt Gottes, sie vertreiben seine Gegenwart oder verhindern sie, wodurch er es weniger vermag, durch die Inbesitznahme von Geist und Herz Freude zu verbreiten. Sie behindern das göttliche Licht und den göttlichen, mit spiritus durchmischten Anhauch, sie behindern die Anrufung Gottes, fromme Meditationen, die Hinwendung der Seele zu bedeutenden und ernsthaften Überlegungen, die notwendigen Werke des Berufs. Eindringlich sind die Anweisungen der göttlichen Lehrer: Du

20 Melanchthon, De arte medica, Sp. 113 f. Übersetzung bei Hofheinz, Melanchthon und die Medizin, S. 199. 21 Melanchthon, De anima, Sp. 8. 22 Melanchthon, Initia doctrinae physicae, Sp. 198. 23 Melanchthon, De arte medica, Sp. 115.

Die medizinische und theologische Bedeutung der spiritus-Lehre

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sollst nicht töten. Eure Körper sollen nicht durch Rausch und Trunksucht belastet werden. Mörder, Säufer und Hurer werden das Reich Gottes nicht besitzen.«24

Besessenheit: Die dämonische Erklärung des Enthusiasmus Die spiritus-Lehre hat jedoch auch eine dämonische Dimension.25 Wo die Ausschüttung des Geistes nicht mit Trost, sondern mit Zweifel oder gar Verzweiflung verbunden ist, ist es nicht der Heilige Geist, sondern ein teuflischer Geist, der sich mit dem menschlichen spiritus vermischt. Denn auch Dämonen und Teufel können sich mit dem menschlichen spiritus vermischen und negative Affekte wie Zorn, Neid, Wut oder Verzweiflung einflößen, die das Urteil des Verstandes behindern und zu Wahnsinn führen. Melanchthons Beispiele sind Medea, die ihre Kinder umbringt, und der Selbstmord des Judas.26 Der Mensch muss deshalb die Regungen seines Körpers beobachten und kontrollieren, so dass seine spiritus »eine Wohnstätte des spiritus sanctus« sein können. Er muss darum beten, dass es der Heilige Geist ist und nicht ein Teufel, der sich mit seinen spiritus vermischt.27 24 Statuten der medizinischen Fakultät der Universität Wittenberg (1572). Zitate nach der Edition der Handschrift im Anhang von Bröer und Hofheinz, Gesundheitspädagogik statt Tröstung, S. 18 – 44, hier S. 43: »Nec leuiter peccant, qui neglecto, aut contumeliose etiam contempto ordine in cibo, potu, somno, laboribus, denique in omnibus motibus animi et corporis affligunt naturae vires, destruunt paulatim domicilium Dei, expellunt in praesentia aut arcent Deum, quo minus laetari mentis et cordis possessione queat, impediunt lucem diuinam et afflatus diuinos permixtos spiritibus, inuocationem Dei, pias meditationes, intentionem animi in cogitationes graues et serias, necessarias operas vocationis. Atroces sunt voces praeceptorum diuinorum: Non occidas, Non grauentur corpora vestra crapula et ebrietate. Homicidae, ebriosi, scortatores regnum Dei non possidebunt.« Ich übernehme die Übersetzung von Bröer/Hofheinz S. 18 f., korrigiere sie aber in zwei Punkten: die »afflatus diuinos permixtos spiritibus« sind nicht »göttliche Winde, die sich mit den spiritus mischen,« sondern der »göttliche« und als solcher und immer schon »mit spiritus durchmischte Anhauch«, der Adam belebte und die spiritus als Träger des Lebens vermittelt. »Vocatio« bezeichnet den »Beruf« des lutherischen Christen, dem gerecht zu werden seine christliche Pflicht ist. Wenn Bröer und Hofheinz ihren grundlegenden und wichtigen Aufsatz »Gesundheitspädagogik statt Tröstung« betiteln und damit das medizinische Konzept Melanchthons benennen, muss ich ihnen in diesem Punkt widersprechen: Nicht »Gesundheitspädagogik statt Tröstung« ist das medizinische Konzept Melanchthons, sondern – indem die Ausgießung des spiritus sanctus und damit die Tröstung durch eine gesunde Lebensführung mit bewirkt wird – »Gesundheitspädagogik und Tröstung«, oder vielleicht noch treffender : »Gesundheitspädagogik als Tröstung«. 25 Kusukawa, Transformation of Natural Philosophy S. 66 ff. und S. 99 f. erklärt die im Folgenden skizzierte Auseinandersetzung mit den »Schwärmern« zurecht zum Ausgangspunkt von Melanchthons De anima. 26 Melanchthon, De anima, Sp. 89. Weitere Beispiele für eine solches Wirken des Teufels und böser Geister Melanchthon, Initia doctrinae physicae, S. 322 f. 27 Melanchthon, De anima, Sp. 89.

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Welcher von beiden es ist, Gott oder der Teufel, zeigt sich allein aus der Übereinstimmung mit dem »äußeren Wort« der Bibel. Deswegen sind etwa die antiken Orakel grundsätzlich das Werk von Dämonen.28 Jeder theologische Anspruch muss sich aus der biblischen Offenbarung als dem einzigen Zeugnis von Gottes Willen begründen lassen. Das »innere Wort« muss mit dem »äußeren Wort« des Evangeliums übereinstimmen. Wo diese Übereinstimmung fehlt, handelt es sich um dämonische Besessenheit im spirituellen Sinne. Diese spirituelle Besessenheit muss von einer bloß körperlichen Besessenheit unterschieden werden. Während die körperlich Besessenen ihrer Vernunft beraubt sind und also »verrückt« oder »dement« im herkömmlichen Sinne, sind die spirituell Besessenen die gefährlichen, denn ihre Verrücktheit ist nur an ihrer Abweichung von der Schrift zu erkennen, wie etwa beim Papst oder den »Rottengeistern«. Wie Hannas, Caiphas und »alle gottlosen Juden« zur Zeit Christi sind sie vom Teufel besessen.29 Während bei den körperlich Besessenen – den »phrenetici«, wie Luther sie in der medizinischen Terminologie der Zeit nennt30 – Gebet und Fasten manchmal helfen können, ist bei den spirituell Besessenen, den Papisten und »Rottengeistern«, jede Hilfe vergeblich, denn sie haben sich gegen Gott gestellt. Ein besonders früher Fall von spiritueller Besessenheit im Sinne der »Rottengeister« ist Luther und Melanchthon 1521 mit den »Zwickauer Propheten« begegnet, einer Gruppe von einfachen Handwerkern, die aufgrund von Offenbarungserlebnissen soziale Unruhen verursacht hatten. Während Melanchthon nach einer Begegnung mit ihnen schreibt, es sei ein spiritus in ihnen, er wisse aber nicht, welcher, erkennt Luther das dämonische Wesen dieses spiritus sofort.31 Auch hier ist der Begriff des spiritus offensichtlich nicht metaphorisch zu verstehen. Beide, der Heilige Geist oder ein Teufel, können einen Menschen beseelen. Welcher von beiden es ist, zeigt, neben der Übereinstimmung mit dem »äußeren Wort« der Bibel, der affektive Zustand des Menschen. Depression und Mutlosigkeit (»melancholia«), Verzweiflung und »Trostlosigkeit« (wörtlich verstanden) sind ein Zeichen dämonischer Besessenheit. So berichtet Melanchthon 1525 in einem Brief an Camerarius von der Gefangennahme und Hinrichtung Thomas Müntzers, der unter der Folter zusammengebrochen war und – angeblich – widerrufen hatte. Er beendet den kurzen Bericht mit der Frage:

28 Melanchthon, Initia doctrinae physicae, Sp. 338. 29 Luther, Tischreden Bd. 1, Nr. 1170, S. 579. Im lateinischen Text S. 578 fehlt der letzte Satz mit dem Hinweis auf den Papst und die »Rottengeister«. 30 Vgl. unten S. 110. 31 Melanchthon, Briefwechsel Bd. 1, Nr. 192, S. 417 und Nr. 193, S. 418. Zu Luthers Reaktion Nr. 205, S. 435 f.

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»Scheinen dies Dir etwa Gaben des Heiligen Geistes pmeulatij² zu sein? Mir sieht es nämlich aus wie ein schlechtes Gewissen und Verzweiflung.«32 »Pneuma« ist der griechische Begriff, der im Lateinischen mit »spiritus« wiedergegeben wird, pmeulatij² sind deshalb die prophetischen Gaben des Heiligen Geistes. Wären Müntzer tatsächlich pmeulatij² zuteil geworden, wäre er nicht zusammengebrochen. Der negative Affekt der Verzweiflung schließt eine Präsenz des Heiligen Geistes aus. Deswegen ist der historisch nicht eindeutig belegte Widerruf Müntzers theologisch so wichtig, genauso wie auf der anderen Seite die Legende von Luthers »Hier stehe ich und kann nicht anders« auf dem Wormser Reichstag. Der Zusammenbruch Müntzers und die Standhaftigkeit Luthers haben eminente ›spirituelle‹ Bedeutung.

2.

causae naturales: naturphilosophische versus theologische Erklärung

Humoralpathologische Begründung Von »Säkularisierung« kann bei der protestantischen Medizin offensichtlich keine Rede sein. Ganz im Gegenteil: die Medizin Melanchthons steht im Dienst der Theologie. Auf der anderen Seite impliziert die Medizin durch die »natürlichen Ursachen«, die sie zur Erklärung dämonischer Erscheinungen vorschlägt, aber auch einen merklich von der Theologie unterschiedenen Zugriff. Die Dämonisierung des Enthusiasmus wird bei Melanchthon durch eine Pathologisierung oder Naturalisierung, das heißt durch eine medizinische und astrologische Begründung ergänzt. Zwischen die übernatürliche, dämonische Ursache und deren Wirkung treten die »causae naturales«, die natürlichen Ursachen. Diese Zwischenschaltung der natürlichen Ursachen, so marginal sie scheinen mag, ist wichtig, denn an ihr hängt die naturphilosophische Begründung Melanchthons, im Unterschied zu der ausschließlich theologischen Begründung Luthers. Im Fall der dämonischen Besessenheit ist die natürliche Ursache ein melancholisches Temperament. Ausgangspunkt ist die Melancholie-Theorie des (pseudo-)aristotelischen Problem 30.1, einer der wichtigsten medizinischen Texte der Frühen Neuzeit.33 32 Melanchton, Briefwechsel Bd. 2, Nr. 404, S. 317: »Haec videnturne tibi pmeulatij²? Mihi quidem misera conscientia et desperatio videtur.« Vgl. auch Melanchthon, Loci theologici (1. Teil), S. 234, Z. 18 f., wo die »Stärke, Folterungen auszuhalten«, auf die Gabe des Heiligen Geistes zurückgeführt wird, ebenso Melanchthon, Ethicae doctrinae elementa, Sp. 191. 33 Medizingeschichtlich grundlegend ist Kutzer, Anatomie des Wahnsinns, der allerdings die astrologischen und theologischen Implikationen nicht in Betracht zieht. Unersetzlich sind deshalb weiterhin die Arbeiten aus geistesgeschichtlicher Perspektive, besonders Babb, Eli-

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Der Tradition dieses Textes entsprechend unterscheidet Melanchthon zwei Formen34 der Melancholie: die auf eine ausgewogene Mischung der vier Temperamente zurückgehende, natürliche Melancholie und die unnatürliche, schädliche melancholia adusta. Die humoralpathologische Grundlage dieser Theorie besagt, dass die vier Säfte – schwarze und gelbe Galle, Blut und Phlegma – in der Leber aus dem Blut herausgekocht werden. Das mehr oder weniger ausgewogene Verhältnis, in dem die vier Säfte stehen, ist für das Temperament eines Menschen verantwortlich. Ein natürlicher Melancholiker ist in diesem Sinne ein Mensch, bei dem es ein leichtes Übergewicht der schwarzen Galle gibt, die vier Säfte aber im Gleichgewicht sind. Eine schädliche, unnatürliche Mischung ist dagegen, wenn es zu einem unausgewogenen Verhältnis der vier Säfte kommt. Im Fall der Melancholie ist die Ursache einer solchen krankhaften Melancholie eine Verbrennung der schwarzen Galle, bei der diese »die gröbere und beißendere Natur der Asche« annimmt.35 Diese melancholia adusta äußert sich als Wahnsinn, wobei die konkrete Erscheinungsform dieses Wahnsinns vom genauen Verhältnis der Säfte abhängt. Je nach Mischungsverhältnis kann sie zum besinnungslosen Wüten eines Aiax und Herkules oder zu depressiver Trägheit und Traurigkeit führen. Die besondere Geistesschärfe, die das Problem 30.1 dem Melancholiker zuspricht, geht nicht auf eine unnatürliche melancholia adusta, sondern auf ein natürliches melancholisches Temperament zurück. Dass es gerade dieses Temperament ist, das eine besondere Geistesschärfe erzeugt, hängt wiederum mit den spiritus zusammen, denn die schwarze Galle ist besonders nahrhaft und dauerhaft und erzeugt dadurch im Blut besonders viele und leicht bewegliche spiritus36 – und diese sind für Wahrnehmung und Denken verantwortlich. Der ›natürliche Melancholiker‹ zeichnet sich durch seinen ›Geist‹ aus, weil durch die Mischung seines Blutes seine spiritus besonders scharf, dauerhaft und leicht beweglich sind, und weil sein besonders kühles und ruhiges Blut das Wahrnehmungs- und Denkvermögen bestärkt.37 Diese humoralpathologische Grundlage der menschlichen Temperamente ist wiederum astrologisch begründet, denn die Sterne sind für das genaue Mischungsverhältnis der Temperamente verantwortlich. So etwa ist die Melancholie edler und vortrefflicher, wenn sie aus der Konjunktion von Saturn und Jupiter in

34 35 36 37

zabethan Malady, S. 42 – 72; Klibansky, Panofsky und Saxl, Saturn und Melancholie; Schleiner, Melancholy, Genius and Utopia, S. 56 – 72 und Schmitz, Melancholieproblem. Die bildliche Umsetzung der medizinischen Melancholie-Lehre im Umfeld Melanchthons illustriert Stolberg, Cranachs Melancholia-Darstellungen. Insgesamt drei, die dritte, die melancholia asinia, ist hier nicht von Belang. Melanchthon, De anima, Sp. 83. Melanchthon, De anima, Sp. 86. Melanchthon, De anima, Sp. 86 und Melanchthon, Initia doctrinae physicae, Sp. 340.

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der Waage hervorgeht.38 Jedem Stern entsprechen bestimmte Qualitäten, die er dem in seinem Zeichen Geborenen bei der Geburt mitgibt. Das dieserart astrologisch und humoralpathologisch bestimmte Temperament ist das, was als Naturanlage oder Begabung (ingenium, natura) – als causa secunda auf Gott zurückzuführen – für das Wesen eines Menschen, seine Handlungsweise, seine Vorlieben und Abneigungen verantwortlich ist.39 So sind zum Beispiel Musiker, Dichter und Redner besser in ihren Berufen, wenn sie unter einer glücklichen Konstellation von Sonne, Mond, Venus und Merkur geboren sind.40 Ein erfolgloser Soldat oder Dichter wird dagegen sein, wer gegen seine astrologisch induzierten Neigungen seinen Beruf wählt.41 Bezieht man diese humoralpathologische Grundlage auf Melanchthons physiologische Theorie der spiritus zurück, heißt das, dass die besondere Qualität der spiritus des Melancholikers, die einerseits sein besonders scharfes Denkvermögen garantiert, ihn auf der anderen Seite auch für die Vermischung seiner spiritus mit dem Heiligen Geist oder mit dämonischen spiritus prädestiniert. Wer durch ein unausgewogenes, melancholisches Temperament, durch eine melancholia adusta, zum Wahnsinn oder zur Depression neigt, der ist aufgrund der Qualität seiner spiritus eine leichte Beute des Teufels. »Ein melancholischer Kopf ist ein Badehaus des Teufels«, lautet ein in der Zeit weit verbreitetes Sprichwort, das Luther in den Tischreden zitiert.42 Wer dagegen durch ein ausgewogenes Temperament mit Neigung zur Melancholie über besonders feine und bewegliche spiritus verfügt, dem wird auch leichter die Ausgießung des spiritus sanctus zuteil. Auf diese Art vollzieht sich die göttliche Providenz in nachpfingstlichen Zeiten nicht durch prophetische Offenbarungen, sondern durch die Sterne und das Temperament des Menschen. Aus dem Horoskop eines Menschen lässt sich mit den Einschränkungen, die für jede medizinische Diagnose gelten, sein Schicksal in bestimmten Grenzen vorhersagen, genauso, wie sich aus den Sternen meteorologische Ereignisse vorhersagen lassen, oder aus dem Stand der Sonne die Wärme der Luft.43 In all 38 39 40 41 42 43

Melanchthon, De anima, Sp. 84. Melanchthon, Initia doctrinae physicae, Sp. 323 f. Melanchthon, Initia doctrinae physicae, Sp. 325. Melanchthon, Initia doctrinae physicae, Sp. 344. Vgl. z. B. Luther, Tischreden Bd. 1, Nr. 455, S. 198. Zur Astrologie Melanchthons vgl. Bauer, Naturphilosophie, Astronomie, Astrologie; Bauer, Gott, Welt, Mensch und Sterne; Bauer, Göttliche Ordnung in der Natur ; Bellucci, M¦lanchthon et la d¦fense de l’astrologie; Bellucci, Science de la nature, S. 277 – 320; Brosseder, Bann der Sterne; Caroti, Melanchthon’s Astrology ; Frank, Die theologische Philosophie Melanchthons, S. 301 – 314; Kusukawa, Transformation of Natural Philosophy, bes. S. 124 – 173; Maurer, Melanchthon und die Naturwissenschaften; Maurer, Der junge Melanchthon Bd. 1, S. 129 – 170; Müller-Jahncke, Melanchthon und die Astrologie. Zur medizinischen Bedeutung der Astrologie bei Melanchthon vor allem Bröer und Hofheinz,

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diesen Fällen handelt es sich – das ist entscheidend – um natürliche, ›naturwissenschaftlich‹ zu erklärende Ursachen, nicht um übernatürliche: »die astrologischen Beobachtungen sind Beobachtungen physikalischer Ursachen, wie sie von Gott eingesetzt wurden. Genauso, wie die medizinischen Vorhersagen physikalische Beobachtungen von Ursachen und Wirkungen sind«. Der Astrologe weiß, dass die Sonne erwärmt und der Mond befeuchtet, also weiß er auch, dass die Sonne trockenere und der Mond feuchtere Temperamente entstehen lässt. Das ist keine Esoterik, sondern eine Beobachtung physikalischer Ursachen (causae physicae), wie sie von Gott als Naturgesetze eingerichtet wurden.44 Melanchthon spricht von diesen physischen oder natürlichen Ursachen zusammenfassend als von einem »physischen Schicksal« (»fatum physicum«). Wie sich im Sommer gegen Mittag die Luft erwärme, weil die Sonne sich ihrem Scheitelpunkt nähere, so bewirke der Stand der Sterne in den Elementen und in den Körpern aller Lebewesen bestimmte Eigenschaften.45 Das Beispiel illustriert, wie grundlegend der Begriff des »fatum physicum« gedacht ist. Niemand würde bezweifeln, dass der Stand der Sonne Einfluss auf den menschlichen Körper hat, und ein ähnlicher Einfluss ist deshalb auch für die anderen Sterne anzunehmen. Man musste ein christlicher Fundamentalist wie Savonarola oder Luther sein und überall das unmittelbare Wirken Gottes erkennen, um die Astrologie abzulehnen. Für jemanden mit naturwissenschaftlichen Interessen aber konnten keine Zweifel daran bestehen, dass die Sterne Einfluss auf die spiritus eines Menschen und damit auf seine Veranlagungen, Neigungen und Handlungen haben, genauso, wie niemand bestreiten kann, dass die Menschen aufgrund ihrer körperlichen Veranlagung unterschiedliche Charaktere und Verhaltensweisen entwickeln. Indem die Sterne ihrerseits wiederum Zeichen Gottes sind, ist die Astrologie, wie die Medizin, ein gleichzeitig theologischer und ›naturwissenschaftlicher‹ Erklärungsansatz.46 Die Werke der Natur müssen als Zeichen der göttlichen Providenz interpretiert werden. Gesundheitspädagogik statt Tröstung; Kusukawa, Aspectio divinorum operum; und Müller-Jahncke, Astrologisch-magische Theorie und Praxis, S. 226 – 259. Zu Peucers Commentarius de praecipuis divinationum generibus (zuerst 1553), der im Wesentlichen die Positionen Melanchthons ausführt, Brosseder, Bann der Sterne; Bauer in, Melanchthon und die Marburger Professoren, S. 382 – 388; Ludwig, Zukunftsvoraussagen, S. 20 – 47; Müller-Jahncke, Peucers Stellung zur Magie; Müller-Jahncke, Paganer Protestantismus; Weidenhan, Astrologie und natürliche Mantik. Den besten Überblick bietet Garin, Astrologie in der Renaissance. Zur Astrologie in ihrem sozial- und wissenschaftsgeschichtlichen Umfeld Grafton, Cardanos Kosmos. Zur jesuitischen Astrologiekritik als möglicher Auseinandersetzung mit der Melanchthon Mahlmann-Bauer, Die Bulle contra astrologiam iudiciariam. 44 Melanchthon, Quaestio: an leges damnent praedictiones astrologicas, Sp. 714. 45 Melanchthon, Initia doctrinae physicae, Sp. 331. 46 Die Parallele zwischen astrologischer Prognose und medizinischer Diagnose stellt Me-

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Astrologische Begründung Insgesamt unterscheidet Melanchthon in den Initia doctrinae physicae sechs verschiedene Arten von Ursachen: Gott und die Engel (deus et angeli), böse Geister (mali spiritus), die Temperamente der Menschen (temperamenta), die astrologisch über das Licht induzierten Neigungen der Menschen (inclinationes a stelli ortae), ihre durch Gewohnheit und Lebensumstände erworbenen Verhaltensweisen (mores) und die Instabilität der Materie (fluxibilitas materiae). Die göttliche Providenz vollzieht sich entweder über die causae secundae, das heißt die natürlichen Ursachen wie Temperament oder Neigung, oder sie vollzieht sich durch unmittelbare Eingriffe in das Weltgeschehen, wie etwa Wunder oder die Sendung eines Engels. Ebenso gibt es göttliche Strafen, die nicht auf causae physicae zurückgeführt werden können, wie der Untergang Sodoms oder der Selbstmord, der immer auf teuflisches Wirken zurückgeht.47 In diesen Fällen durchbricht das Wirken Gottes die causae naturales.48 Ähnlich verhält es sich mit den Vorzeichen, die außerhalb der natürlichen Ordnung (praeter naturae ordinem) stehen und von Gott dazu eingesetzt sind, etwas zu bedeuten. Dazu gehören Gespenstererscheinungen (spectra), Kometen, ungewöhnliche Himmelserscheinungen ohne physikalische Ursachen und schließlich »Wundergeburten« wie etwa Kälber mit fünf Beinen. Letztere können allerdings auch auf Zufall, das heißt auf die Instabilität der Materie zurückzuführen sein.49 Selbstverständlich kann die Astrologie als wissenschaftliche Disziplin nur solche Ereignisse prognostizieren, die auf natürliche Ursachen zurückgehen, nicht anders als der Arzt, der auch nur vorhersagen kann, dass bei diesem humoralpathologischen Temperament und dieser Lebensweise der Patient wahrscheinlich an Leberversagen sterben wird. Einen Unfalltod kann der Arzt genausowenig wie der Astrologe vorhersehen. Die göttliche Providenz ist nur, insoweit sie in der Bibel offenbart ist, zugänglich. lanchthon selbst mehrfach her, vgl. Melanchthon, Quaestio: an leges damnent praedictiones astrologicas, Sp. 714; Melanchthon, Vorrede zu Sacroboscos »Liber de sphaera«, Sp. 536 oder Melanchthon, Initia doctrinae physicae, Sp. 337 und Sp. 339. Sp. 333 parallelisiert Melanchthon Astrologie und Medizin in Hinsicht auf die Art, wie sie ihre Erkenntnisse gewinnen, nämlich induktiv durch die Schlussfolgerung von einzelnen, beobachteten Ursache-Wirkungsverhältnissen auf allgemeine Gesetze, nach dem Modell: dieser Stern in dieser Konjunktion verursacht diese Wirkung. Melanchthon richtet sich dort explizit gegen Pico della Mirandola, der die Gültigkeit einer solchen Erkenntnisgewinnung im Falle der Astrologie bestritten hatte. Zurecht bemerkt Melanchthon, dass damit auch die Medizin keinen wissenschaftlichen Anspruch mehr erheben könnte. Vgl. auch Brosseder, Bann der Sterne, bes. S. 206 und S. 227 und Kusukawa, Aspectio divinorum operum. 47 Melanchthon, Initia doctrinae physicae, Sp. 322. 48 Melanchthon, Initia doctrinae physicae, Sp. 340 f. 49 Melanchthon, Initia doctrinae physicae, Sp. 350 – 352.

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Wie die Medizin die natürlichen Zeichen des Körpers deutet, um daraus die Ursachen einer Krankheit zu erkennen, so deutet die Astrologie die natürlichen Zeichen des Himmels. Wo der Astrologe über diese natürlichen Ursachen hinausgreift, öffnet er sich willentlich den teuflischen Einflüsterungen. Er steht dann auf keiner anderen Stufe als etwa die antiken Orakelpriester oder diejenigen, die aus Kristallkugeln die Zukunft vorhersagen wollen.50 Die Möglichkeit der Astrologie als Wissenschaft beruht auf der Tatsache, dass sich Gott in den Bewegungen der Sterne der causae physicae bedient, genauso, wie er sich der menschlichen Temperamente bedient, um einen Menschen zu genau diesem oder jenem zu machen. Gott offenbart sich in der Natur, und deshalb ist es kein Widerspruch, dass etwa eine Sonnenfinsternis, die immer das Zeichen großer Veränderungen ist, astronomisch vorhersehbar ist, astrologisch aber schwer zu deuten sein kann.51 Die göttliche Providenz ist, soweit sie sich der »natürlichen Ursachen« bedient, potentiell vorhersehbar, und diese Vorhersehbarkeit kommt im Lauf der Sterne und im Temperament als der Grundlage des Charakters zum Ausdruck. Es ist deshalb auch nur der Weisheit und Güte Gottes zu danken, dass er Mars und Saturn in ein solches Verhältnis zur Erde gesetzt hat, dass sie niemals gleichzeitig ihren maximalen schädlichen Einfluss auf die Erde ausüben können.52 Die potentielle Vorhersehbarkeit aller natürlich verursachten Ereignisse bedingt keine Unabwendbarkeit, sondern impliziert eine Warnung Gottes. Deswegen sind Astrologie und Medizin so wichtig: Wer sein humoralpathologisch bestimmtes Temperament und seine astrologisch induzierten Neigungen kennt, kann sich besser vor Fehlentscheidungen hüten.53 Eine Seuche, die sich in einer Sonnenfinsternis ankündigt, kann durch Gebete genauso wie durch diätetische Maßnahmen abgewendet oder zumindest gemäßigt werden. Auch hier gilt wieder, dass Gott über den causae naturales steht und selbst oder durch einen Engel jederzeit in das irdische Geschehen eingreifen kann. Dieser göttliche Eingriff, »den man sonst Glück nennt«, ist bei besonders großen Ereignissen die entscheidende Ursache.54 Melanchthons Astrologie impliziert deshalb keinen Fatalismus. Gott als die prima causa offenbart sich in den Naturgesetzen, aber er hat die causae physicae oder naturales nicht so unauflöslich mit seinem Willen verbunden, dass für den menschlichen Willen und den Zufall, die »Instabilität der Materie«, kein Platz mehr bliebe. Der Akt der Zeugung folgt den Naturgesetzen, und deshalb zeugt ein Mensch immer einen Menschen und nicht ein Pferd. Welchen Charakter 50 51 52 53 54

Melanchthon, Initia doctrinae physicae, Sp. 337 f. Melanchthon, Initia doctrinae physicae, Sp. 248 f. Melanchthon, Initia doctrinae physicae, Sp. 274. Ähnlich Sp. 290 über Venus und Merkur. Melanchthon, De dignitate astrologiae, Sp. 266. Melanchthon, Initia doctrinae physicae, Sp. 323.

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dieser Mensch aber bekommt, entscheidet sein humoralpathologisches Temperament, der Einfluss der Sterne und die »Instabilität der Materie«. Das Temperament und der astrale Einfluss generieren deshalb als causae naturales, im Gegensatz zu Gott als der causa prima, keine absolute Notwendigkeit, sondern nur eine hohe statistische Wahrscheinlichkeit, das heißt in der Sprache der Zeit, eine »Neigung«: astra inclinant, non necessitant. Innerhalb der astralen Einflüsse und den Neigungen des Charakters erweist sich die Freiheit der menschlichen Entscheidung.55 Wer im Zeichen Saturns geboren ist, neigt möglicherweise zu Depressionen, und wer mit einer schwachen Leber geboren wurde, stirbt möglicherweise an Leberversagen. Hintergrund dieser Naturphilosophie ist der lutherische Gegensatz von Gesetz und Gnade. Die Naturgesetze sind nur ein Aspekt des Gesetzes, dem der Mensch grundsätzlich unterworfen ist. Sie manifestieren sich am Sternenhimmel genauso wie im menschlichen Körper. Mit seiner Vernunft, den »angeborenen Kenntnissen« (notitiae naturales), den philosophischen Bemühungen, kann der Mensch dieses Gesetz erkennen, aber auch nicht mehr als dieses Gesetz. Über der Erkenntnis der Naturgesetze steht immer die göttliche Gnade, die allein durch das Evangelium verkündet und durch die Ausgießung des spiritus übertragen wird. Naturphilosophie, Astrologie und Medizin gehören als Erkenntnis der Naturgesetze immer zum Gesetz. Deswegen insistiert Melanchthon sowohl am Anfang der Initia doctrinae physicae wie des Liber de anima so sehr auf der Unterscheidung von Gesetz und Gnade.56 Das Studium der Natur in Astrologie und Medizin dient der Erkenntnis nicht nur der göttlichen Schöpfung, sondern auch der Erkenntnis der göttlichen Providenz. Beides ist für Melanchthon untrennbar miteinander verbunden. Als »empirische« Wissenschaften sind beide wiederum eng an die Geschichte gebunden, denn diese dokumentiert gleichsam nur rückwirkend die Providenz. »Ziel und Nutzen des Naturstudiums und der Zweck des Geschichtstudiums ergänzten sich insofern, als sich in der Naturgeschichte und der Geschichte der Staaten gleichermaßen der göttliche Heilsplan offenbarte. Melanchthon begründet das Geschichtsstudium ähnlich wie das der Himmelsbewegungen damit, daß sich Gottes Vorsehung in der Geschichte der Völker und der Gesellschaftsordnungen offenbare. Es sei Gottes Wunsch, daß sein Heilsplan in der Weltgeschichte, vor allem seine Vorsorge für die Kirche, aufgezeichnet und erforscht werde. […] Zu den Instanzen göttlicher Offenbarungen zählten vor allem Prodigien (portenta, ostenta und miracula), für deren verheerende Auswirkungen sich in der Weltgeschichte zahllose Beispiele fänden. 55 Vgl. das Ergebnis von Frank, Die theologische Philosophie Melanchthons, S. 312 – 314. 56 Melanchthon, De anima, Sp. 7. Ähnlich Melanchthon, Initia doctrinae physicae, Sp. 179 – 193, besonders Sp. 190 f. Auch hier vgl. Bellucci, Science de la Nature; Helm, Medicinam aspernari, S. 29 ff. und Kusukawa, Transformation of Natural Philosophy, S. 27 – 74.

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Durch Wunder zeige Gott, daß er über dieser ›sichtbaren Maschine‹ stehe und von ihr nicht abhängig sei. Nur wer darin geübt war, in jedem historischen exemplum die sich entfaltende Theodizee zu erkennen und Wunder, mit denen Gott die Reihe natürlicher Wirkungen durchbreche, als Ankündigungen seiner Sanktionen zu lesen, war […] in der Lage, aus der Geschichte ethische Handlungsmaximen abzuleiten.«57

Die göttliche Providenz offenbart sich im individuellen Temperament genauso wie in der Bewegung der Sterne und in der Geschichte der Staaten. Das Studium der Geschichte als der Auswirkungen der menschlichen Temperamente und der himmlischen Bewegungen ist deshalb auch als empirische Grundlage, als Erhebung eines quasi statistisch relevanten Datenmaterials, ein entscheidender Bestandteil der Astrologie und der Medizin. Es ist immer wieder wichtig, daran zu erinnern, dass sich Melanchthon gegen Picos »sophistische« Widerlegung der Astrologie auf die Erfahrung (experientia) beruft. Die Astrologie zu leugnen ist dasselbe, wie die Gültigkeit der Medizin zu bestreiten. Beide können ihre Schlüsse nur aus der Erfahrung ziehen.58 Damit wiederum stehen beide neben der Geschichte. Der lutherischen Theologie des Wortes, das sich unmittelbar an den Menschen richtet, tritt bei Melanchthon in der naturphilosophischen Praxis eine Theologie der Natur zur Seite, die Gott nicht nur aus dem Wort erkennen will, sondern auch aus seinen Werken, nämlich der Natur im weitesten Sinne, dem Sternenhimmel genauso wie der Geschichte und dem menschlichen Körper. Die Natur ist ein »Theater«, das Gott für den Menschen inszeniert, damit dieser das göttliche Wirken erkenne.59 Die Auslegung des »Theaters der Natur« ergänzt als hermeneutisches Verfahren die Auslegung des Wortes. Auch wenn eine solche natürliche Theologie alles andere als eine Erfindung Melanchthons ist, ist die Implementierung dieser natürlichen Theologie in die protestantische Tradition doch ein historisch äußerst wichtiger Vorgang. Melanchthon, nicht Luther, öffnet damit den Protestantismus für die Naturwissenschaft. Luthers Haltung gegenüber Medizin und Astrologie zeigt dagegen, dass man sich als protestantischer Theologe auch anders verhalten konnte.

Luthers Ablehnung der Astrologie und Medizin Wenn Luther der Astrologie scharf ablehnend gegenübersteht, ist dies nicht Ausweis eines ›fortschrittlicheren‹ Wissenschaftsverständnisses, das die Astro57 Bauer, Göttliche Ordnung, S. 226 f., die sich auf Peucer bezieht. Der Befund gilt auch für Melanchthon. 58 Melanchthon, Vorrede zu Sacrobosco, Sp. 533. Vgl. auch oben Anm. 46, S. 102 f. 59 Melanchthon, Initia doctrinae physicae, S. 189.

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logie bereits als Aberglauben behandelt – dieses Missverständnis begegnet immer noch, trotz der zahlreichen neueren Arbeiten zur Astrologiegeschichte –, sondern Ausdruck von Luthers grundlegender Skepsis gegenüber weltlichen Wissenschaften überhaupt, allen voran den ganzen aristotelisch dominierten Wissenschaften.60 Dazu gehört die Astrologie genauso wie die Logik und die Medizin. Von der medizinischen Erklärung, den »natürlichen Ursachen« der Ärzte, hält Luther wenig. Alle Krankheiten sind »Fesseln des Teufels« (vincula diaboli).61 Die Tatsache, dass Christus Blinde, Taube und Lahme durch Dämonenaustreibung geheilt habe, zeige den dämonischen Ursprung dieser Krankheiten an. »Deßgleichen soll man gar nicht zweifeln, daß Pestilenz, Fieber und andere große schwere Seuchen und Plagen des Teufels Werk seien«. Wenn die »natürliche Arznei« in solchen Fällen etwas helfe, so nur, weil es Gott »wohlgefällt und er sich uber uns erbarmet«, nicht aber, weil das Medikament von sich aus – das heißt: qua causae naturales – irgendetwas bewirken könnte.62 »Gott ist in der creatur, die wirckt und schafft er. Aber wir achtens nicht vnd suchen dieweyl secundas vnd philosophicas causas«.63 Das Medikament wirkt, weil das göttliche Wort in ihm wirkt.64 Luther weiß dabei durchaus um die Bedeutung der astrologischen Medizin. Bei einer sehr plötzlichen Erkrankung führt er diese auf die »mutatio aÚris«, die »Veränderung der Luft« zurück, wie sie sich durch einen Wetterumschwung ankündigt, der seinerseits auf die astrologischen Veränderungen zurückgeht. Allerdings wendet Luther diese natürliche Erklärung sofort ins Theologische, wenn er weiter sagt, der Teufel richte solche Krankheiten an, denn alle Krankheiten seien nur »vincula Diaboli«. Obwohl Gott viele Arzneien gegen die Krankheiten geschaffen habe, würden diese doch nichts bewirken, denn der Teufel sei so mächtig, dass er die Wirkung aller Arzneimittel aufheben könne. In letzter Instanz helfe deshalb nur die Zuflucht zu Christus.65 Damit ist ein wichtiger Unterschied zwischen Melanchthon und Luther benannt. Melanchthons Zwischenschaltung der »natürlichen Ursachen« macht eine Naturphilosophie, das heißt insbesondere eine Astrologie und Medizin überhaupt erst möglich. Luthers Insistenz auf der Alleingültigkeit des Wortes

60 Den Textbefund zusammengestellt hat Lämmel, Luthers Verhältnis zu Astronomie und Astrologie. 61 Grundlegend zu Luthers Verständnis der Medizin (leider ohne Melanchthon zu berücksichtigen) ist Steiger, Medizinische Theologie. 62 Luther, Tischreden, Bd. 2, Nr. 2267b, S. 387. 63 Luther, Tischreden, Bd. 5, Nr. 5227, S. 17. 64 Luther, Vorlesung über Jesaia S. 245. 65 Luther, Tischreden, Bd. 3, Nr. 3580, S. 428 f.

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weist dagegen eine Naturphilosophie, die sich als Erforschung der causae naturales versteht, in enge Schranken.66 Seinen schärfsten Ausdruck findet dieser Unterschied in der Bewertung der Astrologie. Wörtlich genommen bezichtigen Luther und Melanchthon sich in diesem Punkt gegenseitig des Aberglaubens und der Gottlosigkeit. Für Luther ist die ganze Astrologie eine »Götzenanbetung« (idolatria) und damit ein Verstoß gegen das erste Gebot,67 für Melanchthon dagegen ist es wahlweise »Aberglaube«, »Dummheit«, »Unfrömmigkeit«, »Wahnsinn« und »Gottlosigkeit«, die Astrologie und Medizin zu verachten.68 Was die Astrologie betrifft, steht Luther nicht mit Melanchthon, sondern mit Savonarola und Calvin in einer Linie.69 Luthers ungleich stärkere Bereitschaft, den Teufel überall zu vermuten, ist die Kehrseite seiner Ablehnung von Astrologie und Medizin. Wo Melanchthon die natürliche Erklärung der Krankheit wenn nicht bevorzugt, so doch auf jeden Fall der übernatürlichen Erklärung als causa naturalis vorordnet, da tendiert Luther zur unvermittelten Dämonisierung. Luthers Bezeichnung aller Krankheiten als »Fesseln des Teufels« (vincula diaboli) wird sich bei Melanchthon schwerlich etwas an die Seite setzen lassen. Wenn Medikamente einmal helfen und einmal nicht, belegt dies für Luther nur, wie mächtig der Teufel ist, der »alle ertznei vnd apotecken wandeln« und nutzlos machen kann. Gebet und Glaube sind deshalb das wichtigste Heilmittel und Christus der einzige, »wahrhaftige Arzt«.70 Es verwundert vor diesem Hintergrund nicht, dass Luther der akademischen Medizin kein Interesse entgegenbringt.71

66 So auch der Befund von Maaser, Luther und die Naturwissenschaften, der an zwei Beispielen zeigt, dass Luther die Astrologie und Medizin auf Wahrscheinlichkeitsschlüsse festlegt und sie damit von der notwendigen Wahrheit des Glaubens abgrenzt. Absolute Gewissheit gibt nur das Wort, die Natur dagegen kann immer nur der Gegenstand von Wahrscheinlichkeitsschlüssen sein. Dass Luther damit den Naturwissenschaften allerdings einen »größeren Spielraum« zubilligen wolle, ist eine sehr optimistische Deutung. 67 Luther, Tischreden Bd. 1, Nr. 1026, S. 519. 68 Melanchthon, Briefwechsel Nr. 1176; Melanchthon, Encomium medicinae, Sp. 199; Melanchthon, Vorrede zu Sacrobosco, Sp. 533 und Melanchthon, De dignitate astrologiae, Sp. 265. 69 Wie Luther bestreitet Calvin zwar nicht die Einflüsse der Sterne, sieht in der Astrologie aber die Gefahr, die eigene Sündhaftigkeit genauso wie die Providenz Gottes durch die Annahme »natürlicher Ursachen« zu relativieren. Vgl. die Nachweise bei Kusukawa, Melanchthon and Astrology, S. 42 f. Savonarolas Ablehnung der Astrologie hat ihren schärfsten Ausdruck in Giovanni Picos della Mirandola Adversus astrologos gefunden. Thomas Erastus übersetzte Savonarolas Abhandlung 1557 ins Deutsche und zog sich damit den Unwillen Melanchthons zu, vgl. Gunnoe, German Protestantism and Astrology. 70 Luther, Tischreden Bd. 3, Nr. 3580, S. 428 f. 71 So der Befund von Toellner, Die medizinischen Fakultäten unter dem Einfluss der Reformation. Der Befund gilt allerdings nur für Luther, nicht für Melanchthon.

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»Die Schwäche bzw. Begrenztheit aller menschlichen Arzneikunst liegt nach Luther darin begründet, daß sie nur Krankheiten des Leibes (wenngleich nicht alle) zu diagnostizieren und zu heilen im Stande ist, nichts aber tun kann gegen die schlimmste Krankheit überhaupt: die Sünde. Da aber Tod und Krankheit nichts anderes sind als Epiphänomene der Sündhaftigkeit des Menschen, also seiner auf ihn fortgeerbten inneren Krankheit, kuriert die Medizin ständig nur an den Symptomen der Ursache aller Krankheit herum, ohne wirkliche, d. h. endgültige Heilung bewerkstelligen zu können.«72

Dennoch hat bei Luther die Medizin eine wichtige Funktion und darf nicht vernachlässigt werden. Als Karlstadt dem Wittenberger Bürgermeister Hohndorf davon abrät, mit Medikamenten gegen eine Krankheit vorzugehen, weil jede Krankheit nur ›spirituell‹ bedingt und deshalb durch Glaube und Gebet zu heilen sei, widerspricht Luther ihm. Wie kein göttliches Gebot die Aufnahme von Nahrungsmitteln verbiete, so gebe es auch kein göttliches Gebot, das die Einnahme von Medikamenten verbiete.73 Alles, was Gott geschaffen habe, habe er für den Menschen geschaffen, und deshalb solle der Mensch es auch zu seinem Nutzen gebrauchen.

Luther contra Melanchthon Die Positionen von Melanchthon, Luther und Karlstadt sind keine Gegensätze, sondern liegen auf einer Skala, die von einer rein spirituellen Medizin, die »natürliche Ursachen« gar nicht gelten lässt (Karlstadt), über eine Identifikation von »natürlichen« und spirituellen Ursachen (Luther) zu einer gewissen, wenn auch sehr bedingten Unabhängigkeit der »natürlichen Ursachen« (Melanchthon) reicht. Auf die Gefahr hin, diese Differenzen zu überfordern: Während in der Fluchtlinie von Karlstadts und Luthers Unmittelbarkeit des göttlichen Wortes eher die Signaturenlehre eines Paracelsus oder Arndt liegt (denn in den Signaturen drückt sich der Geist in der Natur unmittelbar aus), liegt in der Fluchtlinie von Melanchthons Vorstellung der Natur als einem »Theater Gottes« die Astronomie eines Johannes Kepler, die Gott in den Gesetzen des Universums wiederfindet, das heißt vermittelt über die – empirisch und mathematisch zu 72 Steiger, Medizinische Theologie, S. 7. 73 Luther, Tischreden Bd. 1, Nr. 360, S. 150 – 152; sowie die Interpretation von Steiger, Medizinische Theologie S. 8 ff. Vgl. auch dort S. 137 Steigers wichtigen Hinweis auf die lutherische Abendmahlslehre als »Ausgangspunkt und Grundlage der lutherischen Naturtheologie«. Die Ubiquitätslehre dürfte auch einen wichtigen Hintergrund von Melanchthons spiritus-Theorie darstellen.

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erfassenden – causae naturales.74 Die Gegenposition zu Karlstadt, das andere Ende der Skala, würde dabei Pomponazzi einnehmen, auf den noch zurückzukommen ist. Pomponazzi nämlich lässt gar keine übernatürlichen Ursachen gelten und begründet alles aus »natürlichen Ursachen«, so dass sich Gott in der Natur überhaupt nicht wiederfindet.75 Besonders deutlich wird Luthers und Melanchthons unterschiedliche Begründung medizinischer Phänomene wiederum bei der Bewertung der Melancholie. Während es für Melanchthon der berechenbare Einfluss der Sterne ist, der die causa efficiens der menschlichen Temperamente darstellt, und ein schlechter astrologischer Einfluss auch eine Krankheit verursachen kann, ist es für Luther auch hier allein der Teufel, der die menschlichen Säfte durch sein »Anblasen« (afflatu – die durch den Atem übertragenen spiritus sind auch hier wieder das Verbindungsglied)76 so »verdirbt«, dass die Melancholie entsteht.77 Gerade in diesem Punkt lehnt Luther die »natürlichen Ursachen« der Ärzte explizit und schärftens ab. Wer von Geburt an dement ist (»alle Thoren und die der Vernunft beraubet sind«, also die körperlich Besessenen, die phrenetici, nicht die spirituell Besessenen, deren Besessenheit sowieso allein teuflisch zu erklären ist), ist nicht krank, sondern vom Teufel besessen. Wenn die Ärzte glaubten, dass solche Besessenheit auf »natürliche Ursachen« zurückginge und sie heilen wollten, so deshalb, weil sie nicht wüssten, »wie mächtig und gewaltig der Teufel ist«: »Denn daß die Aerzte viel der Art Krankheiten den natürlichen Ursachen zumessen und zuschreiben, auch bisweilen dieselbe mit Arznei lindern, dasselbe geschicht daher, daß sie nicht wissen, wie mächtig und gewaltig der Teufel ist.«78 Das richtet sich nicht nur gegen Melanchthon, sondern gegen die gesamte Ärzteschaft, die zu diesem Zeitpunkt schon lange über Erklärungsmodelle verfügte, die ohne die Annahme eines teuflischen Wirkens auskamen.79 74 Vgl. Keplers Beschreibung seines Zieles in ders., Gesammelte Werke, Bd. 15, S. 146. Zu dieser Stelle Greyerz, Gottesbild und die Mechanisierung, S. 387 f. Grundsätzlich zu Keplers »Rationalisierung« der Astrologie Krafft, Tertius interveniens. 75 Cassirer, Individuum und Kosmos hat für die Philosophie Pomponazzis den Begriff des »Naturalismus« geprägt und ihn dem »Spiritualismus« eines Ficino entgegengestellt, vgl. etwa die prägnante Formulierung dort S. 150: »Für den Naturalismus bildet das Geistige eine einzelne ›Provinz‹ des Seins, die nicht als ›Staat im Staate‹ angesehen werden darf, sondern in dessen allumfassenden Gesetzen gleichsam eingebettet liegt – für den Spiritualismus ist die Natur das letzte Glied der Kette, die die Welt der ›Form‹ mit der der ›Materie‹ verknüpft.« Dies entspricht in etwa den beiden Polen meiner Skala. 76 Luther, Tischreden Bd. 1, Nr. 577, S. 265. 77 Luther, Tischreden Bd. 1, Nr. 360, S. 151 f. 78 Luther, Tischreden Bd. 2, Nr. 2267b, S. 387. 79 Kutzer, Anatomie des Wahnsinns, S. 13 – 36, der dort den medizingeschichtlichen Mythos von einer Ablösung der Dämonologie durch die Psychiatrie kritisiert, als deren Ahnherr Johann Weyer fungiert. Nach Kutzer, Anatomie des Wahnsinns, S. 28 wiesen schon in der

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»Die Melancholie ist in der Schrift nichts anderes als die inkarnierte Traurigkeit [also die ins Fleisch gesetzten spiritus der Depression] und die Anreize des Teufels, durch die wir hier gequält werden.«80 sagt Luther 1533 bei Tisch, und hält im selben Augenblick Melanchthon, der diese Depression auf astrologische Ursachen zurückführt, seinen Sternglauben vor: Unglücklich seien die Astrologen, weil sie träumten, ihre Leiden kämen nicht von Gott, und deswegen auch keine Geduld hätten.81 Melanchthon kann mit seiner Astrologie für Luther sogar in die begriffliche Nähe der »Schwärmerei« geraten, indem er als Astrologe auf nicht-biblische Zeichen und Wirkungen achtet. Als Melanchthon 1540 den an einem Steinleiden erkrankten Luther mit medico-astrologischen Begründungen – es war Neumond – dazu bringt, seine Abreise um einen Tag zu verschieben, kommentiert Luther dies mit den Worten: »Sed Philippus mit seiner heillosen vnd schwermerischen astrologia hielt mich noch ein tag auff, denn es war novilunium […]. Ich wolt aber nicht bleiben, quia nos sumus domini stellarum.« Nicht der Mensch ist den Sternen unterworfen, sondern umgekehrt, »wir sind die Herren der Sterne«. Als Luther während der Reise sogar gesundet und gefragt wird, durch welches Medikament er geheilt worden sei, antwortet er : durch das Gebet.82 Theologie und Medizin, das ist keine Frage, konkurrieren nicht erst heute um die Sorge für das Seelenheil des Menschen. Während sich für Melanchthon die göttliche Providenz durch die Natur vollzieht, das heißt genauer, durch die »natürlichen Ursachen« des humoralpathologisch begründeten Temperaments und die Wirkungen der Sterne, vollzieht sich für Luther die göttliche Providenz unmittelbar am Menschen. Mit dieser Ablehnung der »natürlichen Ursachen« steht Luther in der Tradition Giovanni Picos della Mirandola, der unter dem Einfluss Savonarolas jede astrologische Determination bestritten hatte. In den Disputationes in astrologiam sind es nicht die Sterne, die für das menschliche Temperament verantwortlich sind, sondern unmittelbar Gott.83

80 81 82 83

zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts einige ärztliche Autoren jegliche Vorstellung von Besessenheit und übernatürlich bedingter Krankheit nur noch den Klerikern und dem ›gemeinen Mann‹ zu. Zum Nebeneinander übernatürlich und natürlich begründeter Konzeptionen von Wahnsinn schon im 12. und 13. Jahrhundert vgl. Laharie, La folie au moyen –ge. Luther, Tischreden Bd. 3, Nr. 2951a, S. 114: »Melancholia nihil alius est in scriptura quam tristita incarnata et stimuli Diaboli, quibus hinc inde vexamur.« Luther, Tischreden Bd. 3, Nr. 2952b, S. 114. Luther, Tischreden Bd. 5, Nr. 5368, S. 96 f. Pico della Mirandola, Disputationes in astrologiam, vgl. etwa die knappe Zusammenfassung III.27, S. 517.

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Natürliche Ursachen der Hexerei Was mit den »natürlichen Ursachen« der Medizin und der Astrologie auf dem Spiel steht, wird unmittelbar angesichts der Diskussion um die Hexenverfolgung in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts deutlich.84 Schon der Hexenhammer (1497) hatte im fünften Kapitel des ersten Teiles ausführlich erörtert, welche Bedeutung astrologischen Einflüssen und dem humoralpathologischen Temperament der Hexen zukommen könne.85 Johann Weyer hatte dann in seinem Buch Über die Listen der Dämonen (De praestigiis daemonum, 1563) die Verfolgung und Verbrennung der Hexen unter anderem mit der medizinischen Begründung abgelehnt, dass es sich bei diesen in erster Linie nicht um Teufelsbündner, sondern um Melancholiker handle. Der angebliche Pakt mit dem Teufel, den die Hexen bekennten, sei in den meisten Fällen nur eine melancholisch induzierte Wahnvorstellung.86 Weyer hält die meisten der angeblichen »Hexen« deshalb für kranke, »arme alte Weiblein«, die nicht der Strafe, sondern der medizinischen und seelsorgerlichen Pflege bedürften. Auch wenn Weyer das teuflische Wirken keineswegs ausschließt, wie schon der Titel seines Buches zeigt, hält er solches doch für eine seltene Erscheinung. Ganz ähnlich hatte vor Weyer schon Caspar Peucer (ein Schwiegersohn und Schüler Melanchthons) in seinem Commentarius de praecipuis generibus divinationum (1553) argumentiert.87 Gegen Aristoteles (das heißt das Problem 30.1), der jede mantische Besessenheit auf das Temperament zurückgeführt habe, müsse Platon darin zugestimmt werden, dass Vorherwissen nicht bloß auf eine physiologische Konstitution, sondern auf spirituelle Kräfte zurückgehe. Gegen Platon wäre jedoch einzuwenden, dass dieses Vorherwissen niemals göttlicher, sondern immer nur dämonischer Natur sein könne. Der Teufel bediene sich dabei des melancholischen Temperaments, weil dieses aufgrund seines Überflusses an schwarzer Galle besonders anfällig sei. 84 Stellvertretend vgl. den Band Vom Unfug des Hexen-Processes, darin besonders die Beiträge Midelfort, Weyer und Clark, Glaube und Skepsis. Vgl. auch Kutzer, Anatomie des Wahnsinns, S. 13 – 36. Das Wechselspiel von medizinischer und dämonischer Erklärung im 17. Jahrhundert illustriert Kümmel, Melancholie. 85 Kramer (Institoris), Hexenhammer, Kap. I.5. S. 204 wird dort die Frage erörtert, ob das Temperament oder die Sterne mehr Einfluss ausüben, was zugunsten des Temperaments entschieden wird. 86 Auch hier sind das entscheidende Verbindungsglied wiederum die besonders anfälligen spiritus des Melancholikers, vgl. z. B. Weyer, De praestigiis daemonum Kap. I.24, S. 75 sowie die Argumentation in Kap. III.7, III.8 oder IV.1. Eine englische Übersetzung und Kommentierung von De praestigiis daemonum in: Witches, Devils, and Doctors in the Renaissance. 87 Zur Melancholie- und furor-Theorie Peucer, Commentarius, f. 113v-f. 131v. Zu Peucer vgl. die Forschungsliteratur oben Anm. 43 S. 101 f.

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Ein Entrückungserlebnis entsteht nach Peucer, indem das Gehirn und die spiritus gleichsam von der schwarzen Galle überschwemmt würden, so dass die Seele vom Körper und seinen Wahrnehmungen abgeschnitten werde. Dadurch fixiere die Seele sich auf eine bestimmte Vorstellung der Einbildungskraft und könne die körperlichen Funktionen nicht mehr kontrollieren und wahrnehmen. Der Körper bleibe wie unbelebt zurück, nur das von der schwarzen Galle besetzte Gehirn arbeite noch und erzeuge Vorstellungen, wie etwa Göttererscheinungen, Zukunftsvorhersagen, Flugphantasien oder Jenseitsreisen. Diese melancholisch induzierten Vorstellungen oder Einbildungen seien es, derer sich der Teufel bediene. Die Ursache der Vorstellungen ist – als causa naturalis – physiologischer Natur, die Inhalte aber erzeugt der Teufel. Solche medizinischen Erklärungen führen qua »natürlichen Ursachen« zur ärztlichen Therapie, denn nur an diesen »natürlichen Ursachen« kann die Medizin ansetzen. Wirkt der Teufel dagegen unmittelbar, hilft nur der Hexenprozess. Wobei dies schon wieder vereinfacht formuliert ist, denn es handelt sich nicht um eine Alternative, sondern um dieselbe Skala möglicher Haltungen, wie sie bei der Bedeutung »natürlicher Ursachen« in der Medizin deutlich wurde. Luther – der in Wittenberg selbst Hexen exkommuniziert und der Verbrennung überantwortet hat88 – steht dabei eher am äußeren Rand dieser Skala. Luthers Ablehnung der Astrologie und der Medizin ist die Kehrseite seines Teufel- und Hexenglaubens. Das andere Extrem markiert wieder Pomponazzi, dessen Annahme einer Alleingültigkeit natürlicher Ursachen selbstverständlich auch jedes dämonische Wirken ausschließt. Für das breite Mittelfeld, zu dem Melanchthon und Weyer gehören, gibt es keine monokausalen Erklärungen. Weil ein unausgeglichenes Temperament mit Neigung zur Melancholie den Teufel und die Dämonen anzieht, müssen medizinische und theologische Erklärung immer in Beziehung gesetzt werden. Vorsorge gegen die Melancholie mittels leiblicher (Musik, Gesellschaft, Gespräch) und geistlicher Mittel (das Wort Gottes) wird deshalb zu einer medizinischen und religiösen Pflicht.89 Wo genau humoralpathologische und dämonische, natürliche und übernatürliche Ursache aufhören und anfangen, ist im Einzelfall schwer zu diagnostizieren. Deshalb empfahl es sich bei einem Exorzismus immer, den melancholisch Erkrankten sicherheitshalber zuerst durch ein Purgiermittel von schwarzer Galle zu befreien.90

88 Zu Luthers Hexenglauben Frank, Zauberei und Hexenwerk. S. 297. Ausführliche Diskussion bei Haustein, Luthers Stellung zum Zauber- und Hexenwesen. 89 Vgl. in diesem Sinne etwa Musäus, Nützlicher Bericht wider den melancholischen Teuffel, sowie die grundlegende Darstellung von Steiger, Melancholie, Diätetik und Trost. 90 So die Empfehlung von Wecker, De secretis, S. 752. Dieselbe Empfehlung findet sich auch

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3.

Melanchthons antispiritualistische Anthropologie und Naturphilosophie

Spirituelle versus naturalistische Naturphilosophie

Die spirituelle Medizin Marsilio Ficinos Damit stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Melanchthons spiritus- und Enthusiasmus-Lehre zu den naturphilosophischen Theorien der Zeit. Insbesondere zwei Traditionen sind von besonderer Bedeutung, nämlich erstens der Neuplatonismus Marsilio Ficinos und zweitens die aristotelische Naturphilosophie paduanischer Prägung, wie sie vor allem mit dem Namen Pietro Pomponazzis verknüpft ist.91 Innerhalb des Neuplatonismus Ficinos spielt die spiritus-Lehre eine herausragende Rolle, insofern Ficino diese als Fundament seiner Theorie der natürlichen Magie benutzt. Ficino zufolge ist der ganze Kosmos von einem spiritus durchwirkt, der als Medium für die Übertragung der magischen Wirkungen funktioniert. Ficino spricht deshalb von diesem spiritus auch als von einer »Weltseele«, einer anima mundi.92 Der menschliche Körper ist durch die spiritus in die allgemeine Harmonie der Weltseele, in die harmonischen und analogischen Verhältnisse des Kosmos eingebunden, genauso wie die Planeten und ihre jeweiligen Sphären. Durch die spiritus steht alles miteinander in Verbindung: Den Planeten entsprechen bestimmte psychologische Qualitäten, bestimmte Berufe und Begabungen, bestimmte innere Organe des Menschen, bestimmte Lebensmittel, Tiere, Pflanzen, Metalle, Edelsteine, Farben, geometrische Formen usw., vor allem aber Tages- und Jahreszeiten, die ihrerseits von der Konstellation der Planeten bestimmt werden. Der ganze Kosmos gliedert sich, als beseelter, in eine spirituelle Hierarchie. Wie menschliche Körper werden auch die Planeten von Seelen bewegt, wobei an oberster Stelle die Weltseele steht, gefolgt von den zwölf Sphärenseele und den Seelen der auf die Sphären verteilten Einzelwesen. Zu diesen gehören die Gestirnseelen, die Menschenseelen und die Dämonen und Heroen.93 Die menschliche Seele ist göttlich, materieunabhängig und unsterblich, wie es die Theologia platonica Ficinos schon in ihrem Untertitel – Über die Unsterblichkeit der Seelen – ankündigt. bei Weyer, De praestigiis daemonum Kap. V.28, S. 373, der sich dafür interessanterweise auf Pomponazzi beruft. 91 Zur spiritus- und Seelenlehre Ficinos grundlegend sind Walker, Spiritual and Demonic Magic S. 3 – 58 und Copenhaver, How to Do Magic. Kessler, Naturverständnisse kontrastiert Ficino und Pomponazzi, Boenke, Körper, Spiritus, Geist stellt S. 21 – 61 Ficinos und Pomponazzis Seelenlehre einander gegenüber. 92 Vgl. (stellvertretend) J. Zachhuber, Art. »Weltseele«. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 12. Darmstadt 2004, Sp. 516 – 521. 93 Kristeller, Die Philosophie des Marsilio Ficino, S. 370.

Spirituelle versus naturalistische Naturphilosophie

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Jedem Planeten entspricht eine bestimmte Art der spiritus, und indem man zum Beispiel seinen Körper in Kontakt mit solaren Gegenständen bringt, solare Bewegungen ausführt, solare Speisen zu sich nimmt, und dies besonders zu solaren Tageszeiten tut, kann man solare spiritus in seinen Körper herabziehen und sich dadurch die solaren Kräfte zu eigen machen. Die spiritus sind das Medium der kosmischen Analogien, so dass Daniel Walker in seinem Standardwerk zu diesem Thema zurecht von einer »spirituellen Magie« spricht. Der entscheidende Aspekt dieser spirituellen Magie ist der medizinische, wie schon daran zu erkennen ist, dass Ficino diese Theorie in einem medizinischen Werk entwickelt, den De vita libri tres, genauer in dessen drittem Buch, das den sprechenden Titel trägt: Wie man sich Leben von den Himmeln erwirbt.94 Der Zweck von Ficinos »spiritueller Magie« ist eine Art astrologische Medizin. Agrippa von Nettesheim, einer der wichtigsten Vermittler von Ficinos Neuplatonismus, hat dies in den ersten Sätzen seiner »Occulta philosophia« prägnant formuliert, wenn dort eine elementarische, himmlische und geistige Welt unterschieden wird, wobei die jeweils niedrigere von der höheren beeinflusst wird. Auf diese Art ströme die Kraft Gottes über die Engel, die Himmel, die Sterne, die Elemente, die Tiere, Pflanzen, Metalle und Steine herab. Der Magier dagegen steigt umgekehrt über diese Stufen zu Gott hinauf, indem er sich dieser Kräfte bediene.95 Das Medium dieser göttlichen Kräfte ist der spiritus, der auf diese Art die Welt gleichsam durchtränkt und in den Pflanzen, Steinen, Metallen und Lebewesen die »verborgenen Qualitäten« (proprietates occultae) erzeugt, deren sich die Magie bedient.96 Durch die spiritus ist der Kosmos ein beseeltes Lebewesen: »Die Welt lebt also und besitzt Seele und Gefühl.«97

Ficinos Animismus versus Melanchthons Mechanismus Die Unterschiede zu Melanchthon sind offensichtlich.98 Die grundsätzliche Vorstellung der spiritus als des belebenden Prinzips ist dieselbe, anders als Ficino und Agrippa aber errichtet Melanchthon auf dieser Vorstellung keine Theorie der natürlichen Magie, sondern bleibt ganz im Rahmen der galenischen 94 95 96 97

Vgl. Ficino, Three Books on Life. Agrippa, De occulta philosophia I.1, S. 85. Agrippa, De occulta philosophia I.14, S. 113. Agrippa, De occulta philosophia II. 56, S. 385. Das ganze Kapitel II.56 ist diesem Nachweis der Belebtheit des Kosmos und der Planeten gewidmet. 98 Vgl. dagegen den Befund von Frank, Melanchthon and the Tradition of Neoplatonism, sowie ders., Die theologische Philosophie Melanchthons, bes. S. 25 – 29. Einen neoplatonischen Einfluss auf Melanchthon hatte – mit anderer Begründung – auch Maurer, Melanchthon und die Naturwissenschaften; sowie ders., Der junge Melanchthon, bes. Bd. 1, S. 84 – 98 behauptet. Maurer widersprochen hatte Scheible, Reuchlins Einfluß.

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Melanchthons antispiritualistische Anthropologie und Naturphilosophie

Medizin. Von einem geisterfüllten, spirituellen Kosmos oder von einer anima mundi ist bei Melanchthon nirgendwo die Rede, genauso wenig wie von einem universalen System der Analogien und Sympathien. Okkulte Qualitäten gibt es in der Naturphilosophie Melanchthons nicht. Die Himmelskörper sind keine beseelten Lebewesen oder Intelligentien, sondern anorganische Körper, die blind dem göttlichen Gesetz gehorchen.99 Neben dem theologischen Argument (beseelte Wesen können nicht zugrundegehen, der Untergang der Sterne wird aber in der Bibel angekündigt) beansprucht Melanchthon für diese Behauptung auch die Autorität des Aristoteles.100 Melanchthon vertritt damit die Position, die auch der Luther-Gegner Johannes Eck gegen den Neuplatoniker, Kabbalisten und Reuchlin-Unterstützer Paulus Ricius vertreten hatte.101 Die Position Melanchthons ist insofern konservativ, als der Glaube an eine Beseeltheit der Himmel schon in dem Pariser Edikt von 1277 ausdrücklich als Irrlehre verurteilt worden war. Die Annahme eines beseelten, geistdurchwirkten Kosmos dürfte Melanchthon auch im Visier haben, wenn er in den Loci theologici so ausdrücklich auf der Personhaftigkeit des Heiligen Geistes insistiert, der auf keinen Fall als mit dem menschlichen spiritus identisch vorgestellt werden dürfe.102 Dieses Insistieren ist sicherlich damit motiviert, dass die Annahme einer Identität zur Leugnung der Dreieinigkeit führen würde (diese Konsequenz hatte Michel Servet aus ganz ähnlichen Prämissen wie Melanchthon gezogen, vgl. unten), oder aber Tür und Tor zu jeder Form von magischen Praktiken öffnen würde, wie es der Neuplatonismus vorgeführt hatte. Schon indem Melanchthon auf der Unterscheidung von menschlichem und göttlichem spiritus insistiert, stellt er sich gegen Allbeseeltheitsvorstellungen und magische Konzeptionen gleichermaßen. Nicht als eine »anima mundi« bezeichnet Melanchthon denn auch den Kosmos, sondern als eine »machina mundi«, genauso wie er vom menschlichen Körper als einer »machina« spricht.103 Anders als der ideale Arzt Ficinos ist der Arzt Melanchthons kein

99 Müller-Jahncke, Astrologisch-magische Theorie, S. 237 ist zurecht der Überzeugung, dass sich dies gegen den Neuplatonismus richtet. 100 Melanchthon, Initia doctrinae physicae, Sp. 228. Aristoteles hat allerdings keine eindeutige Position vertreten, was die Beseeltheit der Sphären anging. 101 Vgl. Roling, Ricius und Eck, der dort auch die Implikationen und die Bedeutung dieser Debatte darstellt. 102 Melanchthon, Loci theologici (1. Teil), den Abschnitt »De spiritu sancto«, S. 228 – 240. 103 In der neuplatonischen Tradition muss die anima-Metapher dabei die machina-Metapher nicht ausschließen, das heißt ein Mechanismus kann als beseelt gedacht werden. Vgl. Eusterschulte, Organismus versus Mechanismus, die dies an Cusanus, Agrippa, Ficino und Bruno zeigt. Gleiches gilt offensichtlich aber weder für Melanchthon, noch für Kepler, noch für Descartes.

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Magier, sondern ein Mechaniker. Dieser grundsätzliche Gegensatz konkretisiert sich in der Enthusiasmus-Theorie. Seit den ersten Schriften Ficinos gehört die Enthusiasmus-Theorie zu den Kernelementen des Neuplatonismus.104 Durch die beschriebenen Praktiken der magischen spiritus-Beeinflussung kann es dem Magier gelingen, seine Seele über die Welt und durch die Sphären hinauf zu Gott zu erheben, wo sie einer Offenbarung teilhaftig wird. Wichtigste Voraussetzung ist auch für Ficino ein melancholisches Temperament, denn es sind wieder die besonders feinen spiritus des Melancholikers, die es diesem erlauben, sich geistig, ›spirituell‹ von der Erde und aus seinem Körper heraus zu Gott zu erheben. Ficino verschmilzt also die Melancholie-Theorie des Problem 30.1 mit der Enthusiasmus-Theorie Platons und gelangt so zu einer medizinisch-naturphilosophisch, im Kern aber magisch begründeten Theorie der Entrückung. Der Gegensatz zu Melanchthon könnte nicht schärfer sein, denn genau diese Verbindung von Melancholie und Enthusiasmus findet sich bei Melanchthon nicht. Bei Melanchthon ist der Melancholiker nur besonders begabt, wobei diese Begabung ausschließlich natürlich zu erklären ist, nämlich durch die besonders beweglichen spiritus des Melancholikers. Jeden Anspruch auf göttliche Entrückung würde Melanchthon dagegen als melancholia adusta, mithin als Wahnsinn diagnostiziert haben. Wer Stimmen hört, ist für Melanchthon nicht inspiriert, sondern verrückt und/oder teuflisch besessen. Was Melanchthon von den magischen Praktiken Ficinos gehalten hat, erhellt zur Genüge die Tatsache, dass er ausgerechnet den Begriff des Enthusiasmus wählt, um die spiritualistischen Ketzereien Karlstadts, Müntzers, Schwenckfelds und der Wiedertäufer zu bezeichnen. Selbst wenn Melanchthon den Begriff des Enthusiasmus nicht von Platon oder Ficino, sondern aus der häresiologischen Literatur der Alten Kirche (der Historia tripartita Cassiodors) übernimmt, muss ihm die Analogie zwischen dem magischen Enthusiasmus Ficinos und dem Spiritualismus eines Müntzer bewusst gewesen sein. Das »In-der-Ecke-Sitzen«, wie es die Apologie der Confessio Augustana nennt, und der Analogiezauber des neuplatonischen Magiers sind nur zwei Seiten derselben Münze. Ihre Gemeinsamkeit ist der Glaube an eine Selbstmächtigkeit des Menschen, die sich darin manifestiert, sich aus eigener Kraft aus dieser Welt und aus dem eigenen Körper erheben zu können. Melanchthon dagegen pathologisiert und naturalisiert den Enthusiasmus mit seiner spiritus-Lehre, er unterwirft ihn dem humoralpathologischen Temperament und den Affekten des Körpers. Nicht der menschliche Geist befreit sich durch seine spirituelle Identität mit dem Kosmos aus der Materie, sondern der göttliche Geist ergießt sich in die Materie des menschlichen Körpers, und zwar 104 Stellvertretend für die ältere Forschung Brann, Debate over the Origin of Genius.

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Melanchthons antispiritualistische Anthropologie und Naturphilosophie

vermittelt nur durch das Hören des »äußeren Wortes«. Für Melanchthon bleibt der Mensch damit auf diese Welt und seinen Körper verwiesen. Wie man bei Ficino davon sprechen könnte, dass die Medizin und die Natur metaphysisch aufgeladen werden, so könnte man bei Melanchthon davon sprechen, dass die Metaphysik naturalisiert wird. Wie aus Ficinos naturphilosophischen Vorstellungen eine »spirituelle Magie« folgt, so aus denen Melanchthons eine »natürliche«, das heißt auf natürliche Ursachen rekurrierende Medizin. Wenn auch aus völlig unterschiedlichen Gründen, so ist für Ficino und die protestantischen Spiritualisten doch eine unmittelbare Offenbarung Gottes in der Welt möglich. Der Magier Ficinos erhebt sich zu Gott, um diese Offenbarung zu erhalten, die Spiritualisten erzwingen sie durch ihr »In-der-Ecke-Sitzen«, ihr Fasten, ihre Selbstkasteiungen oder ihr Versinken in der »Gelassenheit«. Für Melanchthon dagegen gibt es keine unmittelbaren Offenbarungen Gottes mehr. In unmittelbarer Form spricht Gott allein durch die Bibel. In der Natur, dem Kosmos, offenbart sich Gott dagegen nicht unmittelbar, sondern nur mittelbar durch »natürliche Ursachen«. Caspar Peucer rechnet in seinem Commentarius den platonischen Enthusiasmus sogar explizit zu den dämonischen Erscheinungen, wenn er insgesamt vier Formen der Besessenheit unterscheidet: die »obsessi« oder »pythones«, die von einsitzenden Dämonen regiert werden, wie die antiken Pythia-Priesterinnen; die »afflati« oder »Enthusiasten«, die durch Anhauch dämonisch erfüllt werden (dazu gehören die antiken Dichter wie etwa Orpheus, Amphion, Musaeus, Tiresias oder die Sibyllen); die »Ekstatiker«, deren Seelen scheinbar aus ihrem Körper entführt werden, so dass sie mehrere Tage wie tot zurückbleiben und die dann nach ihrer Rückkehr von Reisen ins Jenseits berichten; und viertens schließlich diejenigen, die glauben, sich in andere Lebewesen verwandeln zu können, wie etwa die Werwölfe.105 Alle vier Formen sind für Peucer physiologisch bedingter Wahnsinn, indem sie auf ein melancholisches Temperament zurückzuführen sind. Angesichts dieser fundamentalen Opposition der melanchthonischen und der neuplatonischen Naturphilosophie sollte man sich auch davor hüten, bei Melanchthons spiritus-Lehre neuplatonische Einflüsse ausmachen zu wollen.106 Der Hintergrund von Melanchthons spiritus-Theorie ist die Rechtfertigungslehre Luthers mit ihrer Begründung in der paulinischen Theologie. Was sich in Melanchthons Entgegensetzung von menschlichem Körper und göttlichem Geist wiederholt, ist der paulinische Gegensatz von Fleisch und Geist.

105 Peucer, Commentarius, f. 116r-f. 131r. 106 Die Entgegensetzung von Brosseder, Im Bann der Sterne, S. 194 ist deshalb noch nicht scharf genug.

Spirituelle versus naturalistische Naturphilosophie

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Michel Servet Auf der anderen Seite muss man im Auge behalten, dass Melanchthon sich mit seiner medizinischen Deutung der spiritus-Lehre auf einem Gelände bewegt, dessen neuplatonische Kontamination im 16. Jahrhundert außer Frage stand. Eine interessante Parallele zu Melanchthons spiritus-Lehre ist Jean Fernel, der 1542 in seinem ansonsten streng rationalistischen Lehrbuch De naturali parte medicinae ganz wie Melanchthon anlässlich der spiritus-Lehre zu einem ungewöhnlichen Exkurs über den neuplatonischen Astralleib ausholt, den er mit den medizinischen spiritus identifiziert. Auch hier geht es darum, zu erklären, wie sich die unsterbliche Seele mit dem sterblichen Körper verbinden kann.107 Auf solche Spekulationen lässt sich Melanchthon gar nicht erst ein. Wie nah häretische Folgerungen aus der spiritus-Lehre liegen konnten, illustriert – um von Paracelsus ganz zu schweigen – Michel Servet, der 1553 für seine Leugnung der Trinität Gottes in Genf verbrannt worden war, und zwar mit der ausdrücklichen Billigung Melanchthons. Ein Argument für diese Leugnung war die spiritus-Lehre, wobei Servet von demselben Punkt ausgeht wie Melanchthon, nämlich von dem Versuch, biblische Behauptungen medizinisch zu belegen.108 Im Gegensatz zu Melanchthon benennt Servet diese biblischen Vorgaben aber genauer. Wenn es in der Bibel heißt, dass der Sitz der Seele das menschliche Blut sei (»Alleyne esset das fleysch mit dem blut nicht darynn die seele ist«, übersetzt 1523 Luther Gen. 9.4)109 und gleichzeitig, dass Gott den menschlichen Körper belebt habe, indem er ihm Atem einblies (Gen. 2.7: »Vnd Gott der Herre machet den menschen aus staub von der erden, vnd blies ynn seyn angesicht eyn lebendigen odem, vnd also wart der mensch eyn lebendige seele.«), dann muss es einen Ort im menschlichen Körper geben, an dem der beseelende Atem, die spiritus, mit dem Blut in Berührung kommt.

107 Zur spiritus-Lehre Fernels Walker, Astral Body (in den Grundzügen übernommen von Sonntag, Gefährte der Seele) sowie die ausführliche Studie von Bono, Languages of Life. 108 Meine Ausführungen zu Servet beruhen auf Pagel, Harvey’s Biological Ideas, der dort S. 137 – 144 den entsprechenden Abschnitt der Christianismi restitutio abdruckt, und Bröer, Blutkreislauf und Dreieinigkeit. Bröer weist in diesem und einem folgenden Aufsatz – vgl. Bröer, Antiparacelsismus und Dreieinigkeit – nach, dass in der Rezeptionsgeschichte Servets die neuplatonischen Elemente keine Rolle mehr spielten und der Antitrinitarismus vielmehr eine enge Bindung mit dem medizinischen Rationalismus paduanischer Prägung einging. Cunningham, The Anatomical Renaissance, S. 247 – 255 arbeitet den spiritualistischen Hintergrund von Servets Entdeckung heraus. 109 Luther, Die deutsche Bibel Bd. 8, S. 58. 1545 korrigiert Luther zu einer Fassung, wie sie ähnlich auch in den modernen Übersetzungen zu finden ist, vgl. ebendort S. 59: »Alleine esset das Fleisch nicht, das noch lebt in seinem Blut«. Die folgende Übersetzung von Gen. 2.7 dort S. 40.

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Melanchthons antispiritualistische Anthropologie und Naturphilosophie

Indem Servet nicht nur als Theologe, sondern auch als Anatom und Pathologe auf der Suche nach einem Ort war, an dem der spiritus ins Blut gelangen konnte, führte dies zu seiner Entdeckung des »kleinen Blutkreislaufes«, das heißt der Passage des Blutes vom rechten Herz über die Lungen in das linke Herz. Nur in der Lunge kam es, wie der anatomische Befund zeigte, zu ausreichendem Kontakt zwischen dem Blut und den mit der Atemluft transportierten, göttlichen spiritus. Diese Passage des Blutes über die Lunge beschrieb Servet zum ersten Mal in seiner Wiederherstellung des Christentums (Christianismi Restitutio, Druck erst 1553) und widerlegte damit die Ansicht Galens, dass das Blut durch kleine Poren in der Herzscheidewand von der rechten in die linke Herzhälfte »geschwitzt« werde. Der göttliche Geist beseelt den menschlichen Körper, indem sich die göttlichen spiritus mit den menschlichen spiritus animales vermischen. Anders als bei Melanchthon – und deswegen ist der Vergleich so interessant – bleibt für Servet diese Verbindung zwischen Gott und Mensch aber nicht auf diesen einen Punkt beschränkt. Wie für die Neuplatoniker – Servet beruft sich für die Transfusion des göttlichen spiritus explizit auf Zoroaster, Hermes Trismegistos110 und Pythagoras111 – wird die spiritus-Lehre zum entscheidenden Element, indem nicht nur Gott den Menschen beseelt, sondern auch der Mensch sich durch die Atemluft zunehmend vergöttlichen kann. Nicht nur vermittelt über das »äußere Wort«, wie es Luther wollte, sondern mit jedem Atemzug nimmt der Christ Gott in sich auf und macht dadurch auf Erden im Laufe seines Lebens einen wörtlich verstandenen, physiologischen Vergöttlichungsprozess durch.112 Angesichts der Tatsache, dass Servet 1546 Melanchthon ein handschriftliches Exemplar seiner Christianismi restitutio geschickt hatte,113 ist es nicht auszuschließen, dass er Melanchthon (der an der anatomischen Entdeckung der Lungenpassage des Blutes sicherlich höchst interessiert war) damit sogar die Vorlage für die spiritus-Lehre des 1552 erschienen Liber de anima lieferte.114 In 110 Zur spiritus-Lehre des Corpus Hermeticum unten Kapitel IV.1, S. 151 ff. 111 Servet, Christianismi Restitutio, nach Pagel, Harvey’s Biological Ideas, S. 141. 112 Schon Reuchlin hatte 1517 in De arte cabalistica einen ähnlichen Vergöttlichungsprozess (deificatio, illuminatio) beschrieben, ausgelöst durch ein »Anblasen« des göttlichen spiritus, vgl. Reuchlin, De arte cabalistica, S. 49, der daraufhin die menschlichen spiritus zu den Engeln und Gott erhebt, vgl. dort S. 162 f., wo der Begriff des spiritus in der Übersetzung leider ausgefallen ist. 113 Bröer, Blutkreislauf und Dreieinigkeit, S. 26, mit einem Verweis auf Giuseppe Ongaro, La scoperta della circolazione polmonare e la diffusione della Christianismi Restitutio di Michele Serveto nel XVI secolo in Italia e nel Veneto. In: Episteme 5 (1971), S. 3 – 44, hier S. 14. 114 Servet hat Melanchthon bewundert und früh den Kontakt gesucht. Dass Melanchthon die Schriften Servets mit größter Aufmerksamkeit gelesen hat, kann angesichts der zahlreichen Bezüge, etwa in den späteren Ausgaben der Loci theologici, nicht in Frage stehen. Das letzte Kapitel der Christianismi Restitutio ist eine an Melanchthon gerichtete Apologie.

Spirituelle versus naturalistische Naturphilosophie

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der ersten Fassung von Melanchthons De anima-Traktat, dem Commentarius de anima (1540), war die Theorie von der Transfusion des göttlichen spiritus jedenfalls noch nicht enthalten gewesen.

Pomponazzi und die paduanische Naturphilosophie Weitaus mehr Ähnlichkeiten als mit dem Neuplatonismus hat Melanchthons Naturalisierung der Seele mit der aristotelischen Naturphilosophie paduanischer Prägung, wie sie vor allem mit dem Namen Pietro Pomponazzis verknüpft ist. Pomponazzi hatte in seiner Abhandlung Über die Ursachen natürlicher Wirkungen, oder : Über Zauberei (De naturalium effectuum causis sive de incantationibus)115 den Versuch gemacht, für alle Arten von Phänomenen, die herkömmlicherweise dem Wirken von Engeln und Dämonen zugeschrieben wurden, naturphilosophische Erklärungen zu finden. Der astrologische Einfluss gilt dabei auch Pomponazzi als natürliche Ursache. Ohne die komplexe Argumentation Pomponazzis auch nur ansatzweise darstellen zu können, sei gleich auf den entscheidenden Punkt verwiesen. Zu den scheinbar übernatürlichen Erscheinungen, die Pomponazzi natürlich zu erklären versucht, gehört auch der Enthusiasmus, oder ganz allgemein: die Vorhersage zukünftiger oder verborgener Dinge. Und wie Melanchthon hatte schon Pomponazzi solche Erscheinungen nicht auf eine unmittelbare Offenbarung Gottes oder auf das Wirken von Dämonen zurückgeführt, sondern auf ein astrologisch verursachtes Temperament. Wie man Menschen finde, die sich ihr Wissen durch mühseliges Studium angeeignet hätten, so gebe es auch Menschen, die ein solches Wissen »als Geschenk der Götter«, nämlich als eine astrologisch induzierte Begabung in die Wiege gelegt bekommen hätten. Nur »gewöhnliche Leute und solche, die die Ursachen der Dinge nicht kennen«, glaubten, dass diese Menschen Heilige oder von Dämonen besessen seien.116 Mit anderen Worten, enthusiastisch inspirierte Offenbarungen müssen nicht auf göttliches oder dämonisches Wirken zurückzuführen sein, sondern können auch genauso gut auf eine besondere, astrologisch induzierte Begabung zu115 Vgl. Pomponazzi, De incantationibus. In nuce hatte Pomponazzi das Argument bereits in seiner Abhandlung über die Unsterblichkeit der Seele entwickelt, vgl. Pomponazzi, Abhandlung über die Unsterblichkeit der Seele Kap. 14, Widerlegung des fünften Einwandes S. 200 – 215, mit explizitem Verweis auf das Problem 30.1. Zu Pomponazzis vgl. (außer der im Folgenden genannten Literatur, insbesondere den Arbeiten von Kessler, Kristeller, Pine und Zanier) vor allem De Angelis, Anthropologien, S. 64 – 92; Lohr, 16th Century Transformation und Randall, Place of Pomponazzi. Zu Pomponazzis Naturalisierung des Enthusiasmus Brann, Debate over the Origin of Genius, S. 167 – 177; Walker, Spiritual Magic, S. 107 – 111. 116 Pomponazzi, De incantationibus, S. 124 f.

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Melanchthons antispiritualistische Anthropologie und Naturphilosophie

rückgeführt werden. In der scholastischen Terminologie Pomponazzis: Die Gestirne bestimmen als causa efficiens das Temperament eines Menschen, dieses Temperament bildet dann als causa materialis den Charakter und die Begabungen. Aufgrund einer solchen Begabung kann es einem Menschen möglich sein, als besonders guter »Mathematiker« zukünftige Ereignisse aus der Berechnung der himmlischen Konstellationen vorherzusagen. Ganz konkret ist es auch bei Pomponazzi wieder das melancholische Temperament des Problem 30.1, das für besondere Begabungen verantwortlich ist.117 Wie bei Melanchthon und im Gegensatz zu Ficino dient das astrologisch begründete, melancholische Temperament als Begründung für einen explizit »naturalistischen« Zugriff. Damit soll nicht gesagt sein, dass Melanchthon von Pomponazzi abhängig ist,118 sondern nur auf eine partielle Übereinstimmung oder Wahlverwandtschaft in den Prinzipien und Methoden beider hingewiesen werden, nicht aber in den Motiven und Zielen. Diese partielle Wahlverwandtschaft belegt rein äußerlich schon die Tatsache, dass De naturalium effectuum causis, das Pomponazzi selbst nie veröffentlicht hat, von einem protestantischen, italienischen Exilanten herausgegeben wurde, von der katholischen Kirche aber sofort auf den Index gesetzt wurde.119 Pomponazzis implizite – oder zumindest als implizit lesbare – Kritik am Wunderglauben und Heiligenkult musste auf den ersten Blick der protestantischen Kritik der katholischen Kirche stark entgegenkommen. Dass die Konsequenzen der paduanischen Naturphilosophie mit ihrem Ausschluss jeder Art von übernatürlichen Wirkungen jedoch auch in eine ganz andere Richtung weisen konnten, nämlich auf den Materialismus, und mithin also auch für die protestantische Theologie äußerst gefährlich waren, muss den etwas weiter blickenden protestantischen Theologen sofort bewusst gewesen sein.120 Von

117 Pomponazzi, De incantationibus, S. 140. 118 Pomponazzis Abhandlung ist 1520 entstanden, wurde aber erst 1556 aus dem Nachlass gedruckt. Die handschriftliche Fassung war allerdings weit verbreitet, vgl. Zanier, Ricerche sulla diffusione. Brosseder, Bann der Sterne, S. 174 – 183 möchte die ganzen Initia doctrinae physicae Melanchthons als implizite Auseinandersetzung mit Pomponazzi verstehen, bleibt den konkreten Nachweis aber schuldig. 119 Zu den genauen Umständen der Ausgabe und ihrem Herausgeber Doni, De Incantationibus. Wie Doni zeigen kann, stand Grataroli den antitrinitarischen Ärzten im Gefolge Servets nahe. Zu Gratarolis Auseinandersetzung mit Melanchthon Bauer in: Melanchthon und die Marburger Professoren, S. 377 – 381. 120 Es ist nach wie vor umstritten, ob Pomponazzi der Urahn des Materialismus und Atheismus ist, oder ob es sich bei seiner Philosophie um einen Aristotelismus und Empirismus handelt, der aus wissenschaftsimmanenten Gründen von theologischen Wahrheiten abstrahiert. Die erste, auf Henri Bussons Averroes et l’Averroisme zurückgehende Position vertreten Pine, Pomponazzi und Mojsisch in der Einleitung zu seiner Ausgabe von Pomponazzis De immortalitate animae. Die zweite Position vertreten Garin, Storia della filosofia

Spirituelle versus naturalistische Naturphilosophie

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einer Rezeption Pomponazzis im Protestantismus kann deshalb keine Rede sein.121 Mit diesem grundsätzlichen Vorbehalt sei auf folgende Übereinstimmungen hingewiesen. Pomponazzi geht es um den Nachweis, dass die aristotelische Naturphilosophie genügt, um für alle Erscheinungen natürliche Ursachen anzugeben, mithin die Annahme übernatürlicher Ursachen, wie Engel, Dämonen und das Wirken von Heiligen, aus naturphilosophischer Perspektive nicht notwendig ist. Daher der Titel des Werkes: Über die Ursachen natürlicher Wirkungen.122 Melanchthon dagegen geht es darum, die ganze Natur als eine Schöpfung Gottes zu erklären, in der alle natürlichen Erscheinungen aus Gesetzen zu erklären sind, die Gott mit der Schöpfung festgelegt hat. Zwar schließt Melanchthon unmittelbare Eingriffe Gottes oder das Wirken von Engeln und Teufeln nicht aus, grenzt den Spielraum solcher Eingriffe aber naturphilosophisch scharf ein: Übernatürliche Ursachen sind nur dort anzunehmen, wo übernatürliche Wirkungen zu beobachten sind. Gottes Wirken in der Welt vollzieht sich vor allem mittelbar über »natürliche Ursachen«, nicht unmittelbar über Wunder oder Engel. Im Gegensatz zu Luther, der für seine Heilung das Gebet verantwortlich macht, und im Gegensatz zu Ficino, der überall in der Natur spirituelle und okkulte Kräfte am Werke sieht, sind für Pomponazzi und Melanchthon natürliche Wirkungen immer durch natürliche Ursachen zu erklären. Die Astrologie als ›naturwissenschaftliche‹ Begründung spielt dabei für beide eine herausragende Rolle, denn sie tritt zumeist an die Stelle der übernatürlichen Ursachen. Die absolute Gesetzmäßigkeit der Natur, wie sie Melanchthon und Pomponazzi annehmen, schließt magische Wirkungen im Sinne des Neuplatonismus aus. italiana Bd. 2, S. 509 – 514; Kristeller, Le mythe de l’ath¦isme sowie ders., Acht Philosophen, S. 63 – 79, bes. S. 73 f. und Kessler, Pomponazzi. 121 Charakteristisch für den protestantischen Mittelweg im Gefolge Melanchthons ist Weyer, De praestigiis daemonum, S. 482 (»Beschluß«), der zwei mögliche Gegner seines Buches Über die Listen der Dämonen ausmacht: die Theologen, die dem »alten Wahn« (also dem Teufelsglauben) anhängen, und die »subtilen Peripatetici«, die alle Wunder »auß natürlichen gründen vnd ursachen herauß führen wöllen« und Aristoteles der christlichen Religion vorordneten, wobei diesen »Betteltanz« Pomponazzi anführe. Genauso scharf wendet sich Weyer auch gegen die »Platonici« und insbesondere Ficino, der zwar »ein außbundt von einem Philosopho gewesen« sei, sich aber der Magie schuldig gemacht habe. Vgl. Weyer, De praestigiis daemonum V.9 und V.10, das Zitat dort S. 326. Zu diesen magischen Praktiken rechnet Weyer auch den Exorzismus der Katholiken. 122 Ich vereinfache den tatsächlichen Sachverhalt und verweise stellvertretend für eine differenzierte Darstellung auf Kessler, Pomponazzi, der in diesem Nachweis natürlicher Ursache-Wirkungsverhältnisse die Einheit von Pomponazzis Lebenswerk sieht. Die Tradition, in der Pomponazzi seinerseits steht, mit besonderem Nachdruck auf dem Rationalismus der astrologischen Erklärung, zeigt Maurer, Between Reason and Faith. Zu Pomponazzis Naturalismus auch Copenhaver, Did Science have a Renaissance?

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Melanchthons antispiritualistische Anthropologie und Naturphilosophie

Diese Übereinstimmung darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Melanchthon im Gegensatz zu Pomponazzi erstens übernatürliche Ursachen nicht grundsätzlich ausschließt. Insbesondere wo es um die Disqualifikation von theologischen Abweichungen geht, wie im Falle Müntzers oder der Wiedertäufer, ist auch Melanchthon schnell mit der dämonischen Erklärung bei der Hand. Zweitens, ungleich wichtiger, ordnet Melanchthon grundsätzlich die übernatürlichen Ursachen den natürlichen vor, während Pomponazzi sich gänzlich auf die natürlichen Ursachen beschränkt. Diese »Vorordnung« der übernatürlichen Ursachen bei Melanchthon ist insofern entscheidend, weil allein sie es ist, die Melanchthons Verschmelzung von natürlicher Theologie und Naturphilosophie möglich macht. Melanchthons Deutung der Natur als einem »Theater Gottes« hat bei Pomponazzi keine Parallele. Während bei Melanchthon der seelenlose Mechanismus der Natur in seiner Perfektion das Wirken Gottes demonstriert, demonstriert dieser Mechanismus bei Pomponazzi nur seine eigene Perfektion.123 Wenn Melanchthon deshalb in den Initia doctrinae physicae so scharf gegen den stoischen Begriff des Fatums polemisiert, dürfte dies in der Tat gegen Pomponazzi gerichtet sein.124 Eingedenk dieser grundsätzlichen Unterschiede kommen die aristotelischen Voraussetzungen Pomponazzis und die lutherischen Voraussetzungen Melanchthons dennoch in einem Punkt überein, nämlich in der Alleingültigkeit natürlicher Ursachen bei natürlichen Wirkungen, mithin in dem Punkt, der einen empirischen, ›naturwissenschaftlichen‹ Erklärungsversuch überhaupt erst möglich macht. Besonders augenfällig wird diese Übereinstimmung bei der Diskussion um die Unsterblichkeit der menschlichen Seele.

Natürliche Ursachen der menschlichen Seele: Medizin statt Metaphysik Pomponazzi hatte in seinem Traktat Über die Unsterblichkeit der Seele die Seele wenn auch als »höchste materielle Form«, so doch als materiell bestimmt und in der Konsequenz nicht die Unsterblichkeit der Seele geleugnet, sondern analog zu 123 Das nur sich selbst bewegende Universum Pomponazzis beruht deshalb, im Gegensatz zu Melanchthon und entsprechend den aristotelischen Vorgaben, auf der Annahme der Beseeltheit der himmlischen Körper, vgl. Pomponazzi, Abhandlung über die Unsterblichkeit der Seele, S. 20. Diese Annahme ist notwendig, da die himmlischen »Intelligenzen« bewegen sollen, ohne selbst bewegt zu sein, was ein Körper – im Gegensatz zu einer »Intelligenz« – nicht kann. Vgl. ebd. S. 80. 124 Darauf hat bereits Bauer, Naturphilosophie, Astronomie, Astrologie, S. 380 hingewiesen. Vgl. auch Maurer, Melanchthon und die Naturwissenschaften, der allerdings aus dem Gegensatz von Melanchthon und Pomponazzi in diesem Punkt einen generellen Gegensatz beider folgert.

Spirituelle versus naturalistische Naturphilosophie

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De naturalium effectuum causis bestritten, dass sich die Unsterblichkeit der Seele aus natürlichen Ursachen, das heißt mit naturphilosophischen Gründen beweisen lasse.125 Was materiell ist, ist vergänglich, und wenn die Seele ein Teil der Materie ist, kann sie nicht unsterblich sein126 – um auch hier wieder die Sachlage extrem zu vereinfachen. Genau diese Konsequenz aber zieht auch Melanchthon. Melanchthon definiert die Seele als einen »spiritus intelligens«127 und damit als einen Teil des menschlichen Körpers, und wie Pomponazzi erklärt Melanchthon die Unsterblichkeit der Seele deshalb als für naturphilosophisch nicht beweisbar : »Die anima rationalis ist ein spiritus intelligens, der der andere Teil des menschlichen Wesens ist. Er stirbt aber nicht, wenn er sich vom Körper trennt, sondern ist unsterblich. Diese Definition hat keine naturphilosophische Begründung.« Über diese Behauptung sei zwar sehr heftig diskutiert worden, fährt Melanchthon fort (und untertreibt damit angesichts der mittelalterlichen Erörterungen dieses Punktes), da es sich jedoch hier nur um ein Lehrbuch für Studienanfänger handle, lasse er es dabei bewenden. In der Bibel werde die Unsterblichkeit der menschlichen Seele klar genug behauptet.128 Melanchthon verzichtet also von vornherein auf den Versuch, das scheinbare Dilemma, in das er sich mit der Behauptung der Materialität der Seele manövriert hat, zu lösen. Stattdessen findet sich in der Folge der behaupteten Unsterblichkeit der Seele der lapidare Satz: »Haec definitio non habet physicas rationes.« Damit aber übernimmt Melanchthon das Ergebnis Pomponazzis, das genauso gelautet hatte: Die Unsterblichkeit der Seele lässt sich mit naturphilosophischen Gründen nicht beweisen. In merklicher Differenz allerdings sowohl zu Pomponazzi, der immerhin einen umfangreichen und höchst komplexen 125 Zur materiellen Bestimmung der Seele Kessler, Intellective Soul, S. 503. Nach Kessler schließt Pomponazzi damit an Alexander von Aphrodisias an. 126 Wie es eine der wichtigsten mittelalterlichen Abhandlungen (im 16. Jh. noch mehrfach ediert) über die spiritus auf den Punkt bringt: »Dicamusque quod prima differentia haec est, videlicet, quod spiritus est corpus. Anima vero res incorporea est.« Costa Ben Luca, De animae et spiritus discrimine liber, zit. nach der Edition bei Putscher, Pneuma, Spiritus, Geist, S. 145 – 150, hier S. 150. 127 Mit dieser Bestimmung der menschlichen Seele als »spiritus intelligens« scheint Melanchthon keine Vorläufer zu haben, so jedenfalls die Einschätzung von Park, Organic Soul, S. 483. Park weist darauf hin, dass insbesondere Telesio und Campanella später ähnliche Theorien vertreten haben. Ob Servet Melanchthon nicht auch in diesem Punkt vorangegangen ist, wäre zu überprüfen. 128 Melanchthon, De anima, Sp. 16: »Anima rationalis est spiritus intelligens, qui est altera pars substantiae hominis, nec extinguitur, cum a corpore discessit, sed immortalis est. Haec definitio non habet physicas rationes. Et quanquam nonnullli contra eam multa disputant, tamen nos quidem in his initiis doctrinae eam retinebimus, quia in ecclesia propter haec dicta usitata est, videlicet quod Filius Dei inquit: Corpus possunt occidere, anima autem occidere non possunt.«

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Melanchthons antispiritualistische Anthropologie und Naturphilosophie

Traktat gebraucht hatte, um zu diesem Ergebnis zu kommen, in merklicher Differenz aber auch zu Luther, der in seinen Heidelberger Thesen aus dem Jahr 1518 zu demselben Ergebnis kam,129 lässt Melanchthon sich auf diese Diskussion überhaupt nicht ein. Mit dem einen Satz »Haec definitio non habet physicas rationes« beendet Melanchthon die Diskussion, bevor er sie überhaupt begonnen hat. Die möglichen philosophischen Beweise für die Unsterblichkeit der Seele, die Melanchthon am Ende des Liber de anima zitiert, nachdem er dort noch einmal die biblischen Beweise aufgeführt hatte, wollen denn auch nur das Ungenügen der durch den Sündenfall geschwächten, menschlichen Vernunft belegen, keinesfalls aber die Unsterblichkeit beweisen.130 Die menschliche Vernunft, die notitiae naturales, können in der Theologie immer nur bis zu dem Punkt führen, an dem ihr Ungenügen offensichtlich wird und das Reich der Gnade beginnt. Sie demonstrieren immer nur die absolute Überlegenheit der Offenbarung über jede menschliche Vernünftelei. Melanchthon, so könnte man sagen, beginnt mit seinem De anima-Traktat an der Stelle, an der Pomponazzi aufgehört hatte. Anders als dieser verwendet er auf den Nachweis, dass sich die Unsterblichkeit der Seele aus naturphilosophischen Gründen nicht beweisen lässt, keinerlei Aufmerksamkeit mehr. Stattdessen zieht er die Konsequenz aus dieser Tatsache und widmet sich in De anima den »natürlichen Ursachen« der menschlichen Seele, die für ihr innerweltliches Befinden von entscheidender Bedeutung sind: nämlich der Anatomie und Physiologie des menschlichen Körpers. Statt philosophischer Erörterungen findet sich bei Melanchthon die Funktionsweise der Leber erklärt. Die naturalisierte menschliche Seele, wie sie Melanchthon in seinem Liber de anima vorführt, ist nicht mehr Gegenstand der Philosophie, sondern der Medizin. Darin schließlich besteht die letzte große Gemeinsamkeit mit Pomponazzi, der nicht nur selbst promovierter Mediziner war, sondern mit der Universität Padua in einer Schultradition steht, in der die Medizin die wichtigste Rolle gespielt hat. Wie Melanchthons Verschmelzung von natürlicher Theologie und Naturphilosophie in eine am Menschen orientierte Medizin mündet, so mündet die paduanische Naturphilosophie in die Anatomie Vesals, des ungleich berühmteren Nachfolgers Pomponazzis.131 Dass Melanchthon einer der ersten war, 129 Luther, Die philosophischen Thesen der Heidelberger Disputation, S. 411 – 414. Luther weist die Überzeugung von der Sterblichkeit der Seele dort besonders Alexander von Aphrodisias zu, mithin der ›Schule‹, als deren wichtigster Vertreter in dieser Zeit Pomponazzi gilt. Zu den Heidelberger Thesen Dieter, Der junge Luther und Aristoteles. 130 Melanchthon, De anima, Sp. 178. Vgl. dagegen Frank, Melanchthons Idee von der Unsterblichkeit. 131 Vgl. dagegen Cunningham, Anatomical Renaissance, S. 216 – 236 und French, Natural Philosophy and Anatomy sowie ders., Anatomical Tradition, die einen protestantischen

Zusammenfassung

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der Vesals neue anatomische Befunde übernommen hat,132 ist Ausdruck derselben Suche nach den »natürlichen«, empirisch nachweisbaren Ursachen der Dinge, wie sie im Zentrum von Pomponazzis Lebenswerk stehen.133

4.

Zusammenfassung

Melanchthons Naturphilosophie ist eine Umsetzung der lutherischen Theologie. Die Natur, zu der sowohl die Sterne mit ihrem Einfluss auf das menschliche Temperament wie der menschliche Körper überhaupt gehören, sind Manifestationen des »Gesetzes«. Gott offenbart sich in der Natur als die Gesetzmäßigkeit dieser Natur. Diesem lutherischen »Gesetz« gegenüber steht die Gnade, wie sie im Evangelium verkündet wird und sich in der Natur als Ausgießung des spiritus sanctus in die spiritus animales des Menschen vollzieht. Diese Ausgießung vollzieht sich nur über das Hören des Wortes und ist mithin an die Verkündigung des Evangeliums gebunden. Die spiritus-Lehre ist der Punkt, an dem sich – in der Natur – das Wirken der göttlichen Gnade manifestiert. Wie Luthers Theologie ist auch Melanchthons Naturphilosophie nicht nur eine Auseinandersetzung mit der katholischen Kirche, sondern genauso mit den »Schwärmern« und »Enthusiasten«. Wer sich in nachpfingstlichen Zeiten göttlicher Inspiration oder übernatürlicher Offenbarungen rühmt, ist vom Teufel besessen. Melanchthons stellt mit seiner spiritus-Lehre ein naturphilosophisches Modell bereit, um das Wirken des Heiligen Geistes genauso wie teuflischer Geister zu erklären. Melanchthons Naturphilosophie geht aber als Naturphilosophie auch einen wichtigen Schritt über Luthers Theologie hinaus, insofern Melanchthon in einer Naturphilosophie »natürliche Ursachen« aller Erscheinungen angeben muss. Im Falle des »Enthusiasmus« ist diese »natürliche Ursache« ein melancholisches Temperament, das seinerseits wiederum astrologisch verursacht sein kann. Der Teufel, der den Enthusiasten reitet, bedient sich nur der »natürlichen Ursachen«. Den »causae naturales« kommt insofern eine große Bedeutung zu, als die göttliche Providenz in diesen Ursachen sichtbar wird. In der Annahme solcher »causae naturales« und damit der Möglichkeit einer Medizin und Astrologie unterscheidet sich Melanchthon von Luther, der solchen Hintergrund bei Vesal ausmachen. Helm, Religion and Medicine zeigt dagegen, dass es in der Vesalrezeption keine Unterschiede zwischen der protestantischen Universität Wittenberg und der katholischen Universität Ingolstadt gab. 132 Zur Vesalrezeption in Wittenberg Helm, Zwischen Aristotelismus, Protestantismus und zeitgenössischer Medizin; Helm, Galenrezeption; Koch, Melanchthon und die Vesalrezeption; Kusukawa, Transformation of Natural Philosophy S. 114 – 123; Nutton, Wittenberg Anatomy. 133 Vgl. Kessler, Pomponazzi.

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Melanchthons antispiritualistische Anthropologie und Naturphilosophie

»natürlichen Ursachen« nur einen sehr kleinen Spielraum zugesteht und die göttliche Providenz unmittelbar in der Welt am Werke sieht. Mit diesem Unterschied zwischen Melanchthon und Luther ist auch gesagt, dass man Melanchthons Naturphilosophie zwar aus Luthers Theologie ableiten kann, sie aber nicht notwendigerweise aus dieser folgt. Die lutherische Theologie kommt auch ohne eine Naturphilosophie aus. Melanchthons Naturphilosophie und insbesondere seine spiritus-Lehre unterscheiden sich signifikant von neuplatonischen Modellen. Weder ist der spiritus das den Kosmos beseelende Medium, noch lässt er sich in irgendeiner Form durch magische Praktiken manipulieren. Mit der Annahme »natürlicher Ursachen« bei »natürlichen Wirkungen« übernimmt Melanchthon dagegen ein wichtiges Element der aristotelischen Naturphilosophie. Besonders deutlich wird die Bedeutung dieser Übernahme bei der naturphilosophischen Begründung der Unsterblichkeit der menschlichen Seele, deren Möglichkeit Melanchthon, wie Pomponazzi, bestreitet. Die menschliche Seele ist materiell und kann als solche aus »natürlichen Ursachen« nicht unsterblich sein. Ihre Unsterblichkeit ist allein der christlichen Offenbarung zu entnehmen. Was Melanchthon dagegen von der Naturphilosophie Pomponazzis unterscheidet, ist seine Vorordnung Gottes als »prima causa« der Natur, das heißt die Verschmelzung von natürlicher Theologie und Naturphilosophie. Pomponazzi beschränkt sich dagegen auf die »natürlichen Ursachen« und entwirft damit einen rein mechanistischen Naturbegriff. Wenn die vorangehenden Überlegungen wenigstens eines bewiesen haben, so hoffentlich, dass die Sachlage kompliziert ist. Ob man die Sterne als bloß materielle Körper denkt, wie Melanchthon, oder als beseelt von Planetengeistern, wie Ficino, oder als aristotelische Intelligenzen, wie Pomponazzi, entscheidet über den Status der Astrologie als mathematischer Wissenschaft, Lektüre des Buches der Natur oder Dämonenbeschwörung. Melanchthons protestantischer Begriff der Providenz ist nicht mit dem Determinismus eines Pomponazzi und nicht mit der Freiheit eines neuplatonischen Magiers zu verrechnen. Von einem Prozess der Rationalisierung oder gar Säkularisierung kann dabei keine Rede sein. Im Naturbegriff des 16. Jahrhunderts, wie er in den Facetten Melanchthons, Pomponazzis und Ficinos diskutiert wurde, spiegelt sich der gegenwärtige Gebrauch dieses Begriffes, mit denselben religiösen und naturwissenschaftlichen Konnotationen. Wer heute von »Natur« spricht, kann damit wie im 16. Jahrhundert einen beseelten Organismus, einen seelenlosen Mechanismus oder eine Offenbarung Gottes meinen. Eine lineare Entwicklung der ›modernen Naturwissenschaften‹, in der die Zunahme empirischen Wissens die Abnahme theologischer und metaphysischer Vorstellungen impliziert, gibt es nicht.

Zusammenfassung

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Man sollte sich deshalb auch davor hüten, wechselweise in der paduanischen Naturphilosophie oder im Protestantismus den Anfang oder auch nur die Station einer Säkularisierungsbewegung zu erkennen. Keith Hutchinson hat darauf hingewiesen, dass in der Frühen Neuzeit ein radikal mechanistisches Denken mit einem radikalen Supranaturalismus einhergehen kann.134 Die allein mechanische Erklärung des weltlichen Geschehens muss nicht einen Materialismus oder Atheismus, sondern kann auch einen Gott implizieren, der die Welt als einen Mechanismus geschaffen hat, der nach seiner Schöpfung keiner weiteren göttlichen Eingriffe bedarf. Ähnliches gilt für den »Naturalismus« Melanchthons und Pomponazzis. Das Interesse an den »natürlichen Ursachen« der Dinge und insbesondere die materielle Definition der Seele impliziert noch keine theologische Stellungnahme. Selbst ein mechanistischer Naturbegriff sagt nichts über die damit verbundenen theologischen Positionen aus. Pomponazzis Mechanismus mag einen Atheismus implizieren, Melanchthons Mechanismus tut dies nicht. Die Tatsache, dass Melanchthon mit seinen naturphilosophischen Annahmen über die lutherischen Vorgaben hinausgeht, ist nicht nur in Hinsicht auf Melanchthons Selbständigkeit von großer Bedeutung. Sie ist ein wichtiges Indiz für die Tatsache, dass die protestantische Theologie von Anfang an einen weiten Deutungsspielraum für die Naturphilosophie lässt, nicht anders als die katholische Tradition. Man kann nicht einfach von »dem Protestantismus« sprechen, wenn es darum geht, spezifisch naturphilosophische Positionen herauszuarbeiten. Melanchthons Naturphilosophie folgt aus spezifisch protestantischen Überzeugungen, sie folgt aber keineswegs notwendig aus diesen. Die These muss also im Sinne von Sachiko Kusukawa und Jürgen Helm so eingeschränkt werden, dass Melanchthons neue Naturphilosophie das Ergebnis einer neuen Theologie ist.135 Die These besagt dann nicht mehr, als dass Melanchthons medizinische Vorstellungen auf den spezifisch lutherischen Vorgaben der Rechtfertigungslehre, der Lehre vom inneren Wort und dem Gegensatz von Gesetz und Gnade beruhen. Indem es das Gesetz ist, dem der Körper unterworfen ist, und indem es bei Melanchthon mehrfach ausdrücklich heißt, dass diesem Körper Aufmerksamkeit nur deshalb zu schenken sei, weil er es ist, in den sich der göttliche spiritus ergießt, steht am Anfang der frühneuzeitlichen Anthropologie der lutherische

134 Vgl. Hutchinson, Supernaturalism sowie den Befund von Greyerz, Gottesbild und Mechanisierung. 135 Helm, Medicinam aspernari; ders., Zwischen Aristotelismus, Protestantismus und zeitgenössischer Medizin, bes. S. 182 und Kusukawa, Transformation of Natural Philosophy, bes. S. 4.

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Melanchthons antispiritualistische Anthropologie und Naturphilosophie

Gegensatz von Gesetz und Gnade, wie dies Dino Bellucci, Simone De Angelis und Jürgen Helm gezeigt haben.136 Dem ist hinzufügen: Die frühneuzeitliche Anthropologie beginnt mit der Definition der Seele als materiell. Die zunehmende Aufmerksamkeit, die dem menschlichen Körper geschenkt wird, setzt die Annahme voraus, dass der Geist im Fleisch gesucht werden muss. Oder wie es die Statuten der medizinischen Fakultät der Universität Wittenberg formulieren: Wer seinen Körper schädigt, sündigt gegen Gott.

136 Bellucci, Science de la Nature et Reformation S. 650 – 645; Helm, Medicinam aspernari, bes. S. 37 f. und De Angelis, Anthropologie und Gesetz.

IV.

Paracelsistischer Spiritualismus Die Natur ist ein Licht, das vorgebrochen, Als das ewige Fiat ward gesprochen: […] Dieses Fiat, das ist das Wort und Wesen, Das Gott selbsten war, und Gott hat erlesen: Ist der Athem und Hauch, davon wir leben.1

Der eigentliche Antipode zu Melanchthon ist nicht Ficino, wie es das vorangehende Kapitel suggerieren könnte, sondern Paracelsus. In seinem Zeichen formiert sich der gewaltige spiritualistische Widerstand gegen Universität, akademische Theologie und Rationalismus, der in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts anhebt, gegen 1600 seinen Höhepunkt erlebt, um 1620 in die Rosenkreuzerschriften mündet und dann einem erneuten Höhepunkt in den pietistischen Streitereien gegen Ende des 17. Jahrhunderts zusteuert. Das folgende Kapitel gilt dem Nachweis, dass der paracelsistische Spiritualismus in seinen naturphilosophischen Grundlagen – der spiritus-Lehre – und sozialhistorischen Folgeerscheinungen – der Antiakademismus seiner Anhänger – in scharfem Gegensatz zum Rationalismus einer insbesondere melanchthonischen Theologie und Naturphilosophie steht, wie sie in den beiden vorhergehenden Kapitel skizziert wurde. Die spiritus-Lehre spielt dabei eine entscheidende Rolle, insofern im Mittelpunkt der paracelsistischen Naturphilosophie die Theorie eines den Kosmos, die Natur und den menschlichen Körper durchflutenden Lebens- und Weltgeistes (spiritus mundi, spiritus vitae) steht.2 Dieser Lebensgeist wird mit dem Geist Gottes, der bei der Schöpfung über dem primordialen Chaos schwebte, (Gen I.1 – 2) identifiziert. Nach Überzeugung der Paracelsisten hat Gott sich damit durch seinen Geist unmittelbar in der Natur offenbart. Die Natur ist als

1 Czepko, Sexcenta monodisticha sapientum, S. 535. 2 Neben den bereits genannten Forschungsbeiträgen besonders Putscher, Pneuma, spiritus, Geist, mit historischem Schwerpunkt auf dem Mittelalter. Ebenfalls zur spiritus-Lehre des Mittelalters Bono, Medical Spirits. Zur Frühen Neuzeit grundlegend ist Müller-Jahncke, Astrologisch-magische Theorie und Praxis, daneben Bono, Languages of Life; Forshaw, Alchemical Exegesis; Klier, Die drei Geister des Menschen; Siraisi, Avicenna, S. 337 – 344. Zur Transformation der paracelsischen spiritus-Lehre im 17. Jahrhundert Clericuzio, Internal Laboratory. Zum magischen und theologischen Kontext vor allem Walker, Medical ›spirits‹ und Walker, Spiritual Magic. Zu neuplatonischen spiritus mundi-Theorien Neumann, Natura sagax, S. 85 – 87 und Leinkauf, Mundus combinatus, S. 46 – 55. Wichtige Hinweise zum theologischen Kontext bei Bröer, Blutkreislauf und Dreieinigkeit.

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Paracelsistischer Spiritualismus

Manifestation des göttlichen Geistes ein Teil des göttlichen Wesens. Deshalb ist die paracelsistische Naturphilosophie von der Theologie nicht zu trennen. Bei Paracelsisten wie Suchten, Khunrath, Nolle oder Croll, aber etwa auch in der Idea medicinae philosophicae (1571) des Petrus Severinus oder in Robert Fludds Utriusque cosmi historia (1617), wird die spiritus-Lehre deshalb zum Herzstück der »theophrastia sancta«, das heißt der Interpretation des Paracelsismus als Religion.3 Diese spiritualistische Religion steht in einem äußerst schwierigen Verhältnis zur konfessionellen Theologie. Indem die Paracelsisten den spiritus mundi mit dem spiritus sanctus, dem Heiligen Geist identifizieren, geraten sie in die Nähe eines Pantheismus, der schon im 12. Jahrhundert dazu geführt hatte, dass diese Identifikation auf der Synode von Sens verurteilt worden war.4 Neben der Gefahr des Pantheismus war es insbesondere die paracelsistische Alchemie, die die protestantische Theologie provozierte. Durch die zumindest partielle Identifikation von menschlichem Lebensgeist und Geist Gottes gerät die Alchemie als ein Versuch, den in der Materie und im menschlichen Körper manifestierten Geist zu therapieren, in einen Gegensatz zum protestantischen Kerndogma des sola gratia und sola fide. Dieses Dogma besagte, dass allein durch den Glauben an die Gnade Gottes eine Erlösung möglich ist. Eine soteriologische Selbstmächtigkeit des Menschen auch in seiner Arbeit als Arzt oder Alchemiker ist damit ausgeschlossen. Der Versuch einer Lebensverlängerung durch pharmazeutische Stärkung des Lebensgeistes, wie sie zu den zentralen Überzeugungen der paracelsischen Medico-Theologie gehört, musste aus protestantischer Perspektive als verwerflicher Hochmut und Gottlosigkeit erscheinen. Es wird zu zeigen sein, dass deshalb auch hier – in der Identifikation von spiritus mundi und spiritus sanctus – ein wichtiger Unterschied zwischen der paracelsistischen Alchemie und der theologisch unauffälligen und soteriologisch unprätentiösen, traditionellen Alchemie besteht. Insofern diese ältere Alchemie – etwa in der alchemia transmutatoria oder alchemia technica – sich nicht auf spirituelle, sondern allein auf materielle Ursachen und Wirkungen bezog, war sie theologisch unproblematisch. Diese traditionelle Alchemie besteht in der Frühen Neuzeit fort, auch wenn in der öffentlichen Diskussion schon zu Beginn des 17. Jahrhunderts der Paracelsismus die Wahrnehmung der Alchemie bestimmt.Die zumindest partielle Identität von menschlichem und 3 Der Begriff stammt von Haslmayr, übernommen in der wichtigen Studie von Carlos Gilly mit dem gleichnachmigen Titel. Neben den Arbeiten von Gilly sind grundlegend zum Paracelsismus die Arbeiten von Joachim Telle und Wilhelm Kühlmann, vgl. Literaturverzeichnis. 4 Vgl. J. Zachhuber, Art. Weltseele. In, Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12 (2004), Sp. 516 – 521, sowie die präziseren Nachweise bei Deitz, Agrippa, Paracelsus, and Goethe’s Erdgeist, S. 160.

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Abbildung 1: Robert Fludd, Utriusque cosmi historia (1617). „Am anfang schuff Gott Himel vnd Erden. Vnd die Erde war wüst vnd leer/ vnd es war finster auff der Tieffe/ Vnd der Geist Gottes schwebet auff dem Wasser.“ (Gen I.1 – 2)

göttlichem spiritus hat noch eine zweite, theologisch mindestens genauso problematische Dimension, indem die Paracelsisten aus dieser Identität auf eine göttliche Inspiration des medizinischen Wissens schließen. Der Geist Gottes, der den menschlichen Körper durchströmt, ›inspiriert‹ auch das paracelsistische Wissen. Damit geraten die Paracelsisten in Konflikt mit einem zweiten lutherischen Kerndogma, nämlich der Überzeugung, dass Gott sich allein in der Bibel offenbart hat. Wenn der paracelsistische Arzt und Alchemiker sein Wissen nicht aus der Erforschung der Natur bezieht, sondern es im Verzicht auf seine Sinne und seine Vernunft in einem unmittelbaren Inspirationsakt erfährt, dann sind damit drittens auch alle akademischen Methoden der Wahrheitsfindung und -vermittlung überflüssig. Die spiritualistische ›Erkenntnistheorie‹ mit ihrer Identi-

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Abbildung 2: Robert Fludd, Utriusque cosmi historia (1617). Die Beseelung des primordialen Chaos durch den Geist Gottes.

fikation von göttlichem und menschlichem Geist macht argumentative Erörterungen und akademische Auseinandersetzungen nicht nur überflüssig, sondern lässt diese geradezu als Verirrungen erscheinen. Damit gerät der Paracelsismus in scharfen Gegensatz zu den Grundprinzipien akademischer Auseinandersetzung. Insbesondere die Logik, die als Wissenschaftsmethodik, und die Rhetorik, die als Regelwerk zur sprachlichen Vermittlung fungiert, werden zu bevorzugten Hassobjekten des Paracelsismus. Auch in diesem Punkt ist es also insbesondere die melanchthonische Tradition, die der Paracelsismus herausfordert.

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1.

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Alexander von Suchten, Paracelsus, die Apocalypsis spiritus secreti In De tribus facultatibus (entstanden vor 1590, Druck zuerst 1608) erzählt Alexander von Suchten von einem Urmenschen, wahrscheinlich der biblische Adam, der nach der Verstoßung aus dem Paradies das Wesen Gottes aus dem Buch der Natur zu erschließen versucht und damit zum ersten Alchemiker wird. Aus der Analogie von Mikro- und Makrokosmos lernt dieser Urmensch, dass aus dem Wasser die drei paracelsischen Grundsubstanzen merkurialisches Wasser, Schwefel und Salz entstehen. Auf der Suche nach Gott erforscht der Urmensch diese drei Elemente, kann Gott aber weder im Wasser, noch im Salz finden. Erst im Schwefel findet er neben Wasser und Sulphur noch eine dritte Substanz, die allerdings vor seinen Augen verschwindet – offenbar ein ›Geist‹, oder, wie es später in der Chemie heißen wird, ein Gas. Der Alchemiker war verzweifelt und schrie Tag und Nacht zu Gott: »Disrumpe Coelos et descende: Trieb es so lang/ biß er erhört wurde und das fand so er suchte/ wie aber das finden zugieng/ wer will das schreiben? oder/ wann mans gleich schrieb/ welche Ohren könten solch Mysterium anhören?«5 Wahrlich, heißt es weiter, »in diesem Stück« – also dem Verschwinden des Geistes – sei die »Weisheit aller himmlischen und menschlichen Dinge« (»Sapientia omnium Coelestium et Terrestrium rerum«) und das Mysterium der Fleischwerdung Gottes verborgen. Wem Gott dieses Geheimnis offenbare, der sehe den Sohn des Menschen zur Rechten Gottes sitzen und werde mit Paulus in den dritten Himmel entrückt. Weil es keinem erlaubt ist, das Geheimnis zu offenbaren, erfährt der Leser nicht ausdrücklich, was nach der Trennung von Wasser und Schwefel aus dem Reagenzglas verschwunden war. Die Wortwahl lässt aber keinen Zweifel daran zu, dass es diesem ersten Alchemiker gelungen war, den Geist Gottes, der vor der Schöpfung über den Wassern schwebte, dann aber im Zuge der Schöpfung in die primordiale Materie – das »Wasser«, wie es Gen. I.1 – 2 heißt – eingegangen war, wieder aus dieser Materie zu destillieren. Der Geist Gottes ist im wörtlichen Sinne ein Geist oder Gas, ein spiritus, der durch chemische Prozesse, vor allem Destillation, wieder aus der Materie gelöst werden kann. Dieses chemische Mysterium hat sich dem Urmenschen Suchtens in einem alchemischen raptus während der kontemplativen Betrachtung eines Destillationsprozesses offen5 Suchten, De tribus facultatibus, S. 363. Zu Suchten vor allem Gilly, Suchten’s De tribus facultatibus und die »Gesamtwürdigung« von Kühlmann und Telle in, Corpus Paracelsisticum Bd. 1, S. 545 – 584 mit Angaben zur älteren Literatur. Den »radikalen Antiintellektualismus« Suchtens zeigt Bröer, Friedenspolitik, S. 161 – 166.

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bart. In der stofflichen Welt als einer Verbindung der drei paracelsischen Prinzipien merkurialisches Wasser, Schwefel und Salz offenbart sich das Mysterium der Trinität. Der Fleisch gewordene Sohn Gottes ist das innerste Geheimnis der Natur. Das ist die Erkenntnis, das adamitische Wissen, das Suchten seinem Alchemiker in einer göttlichen Offenbarung zuteil werden lässt. In seinen Positiones übernimmt Suchten mit der lateinischen Sprache auch die traditionelle medizinische Terminologie und erklärt in siebzehn Thesen, »was ein Arzt ist, was die Medizin selbst und mit welchen Heilmitteln die Krankheiten aus dem menschlichen Körper vertrieben werden«.6 In der zehnten positio heißt es, das Sonnenlicht und die Wärme wären durch ein wunderbares und verborgenes artificium von Gott zur Erhaltung der menschlichen Natur aus dem spiritus mundi extrahiert. Galen, Avicenna und die übrigen Ärzte hätten von diesem spiritus keine Ahnung. (S. 463) In der elften positio wird derselbe spiritus mundi mit der platonischen und pythagoräischen mens, dem Jupiter der Orphischen Hymnen und dem intellectus divinus identifiziert, in der dreizehnten positio schließlich mit dem fünften Element (quinta essentia). (S. 463, ausführlich zum spiritus mundi dann S. 467 ff.) Ausdrücklich heißt es, der spiritus mundi wäre mit dem menschlichen Lebensgeist, dem spiritus animalis, identisch, (S. 463) womit nichts Geringeres gesagt ist, als dass der ›Weltgeist‹, seinerseits identisch mit dem Heiligen Geist, durch den menschlichen Körper pulsiert. Das Allheilmittel, das Suchten in den Positiones propagiert, ist nichts anderes als dieser spiritus mundi, das »Lebenselexir«, das über jene Kraft verfügt, deren Möglichkeit zu den zentralen Streitpunkten zwischen Paracelsisten und Galenisten gehört, nämlich die Kraft einer Verlängerung des menschlichen Lebens. Paracelsus hatte in seinem Traktat De vita longa (1526/27) schon auf den ersten Seiten gesagt: »es ist kein terminus mortis gesetzt, auf welchen Tag wir sterben sollen, sondern wir haben das in unsrer Gewalt«.7 Paracelsus unterscheidet zwischen einem »spiritualischen« Ursprung des Lebens in den Gestirnen und einem »materialischen« Ursprung im Samen. Während das materialische Leben durch Arzneimittel wie etwa Kräuter gestärkt werden könne, hänge das spiritualische Leben von der spirituellen Kraft der Gestirne ab. Diese spirituelle Kraft vergleicht Paracelsus mit der im Holz enthaltenen ›Kraft‹, verbrennen zu können. Je mehr von dieser Kraft im menschlichen Körper sei, desto mehr Leben habe dieser Körper. (S. 476) Die »spiritualischen« Kräfte (»virtutes«) der Gestirne könnten durch ein »medium«, wie etwa Symbole oder Talis6 Suchten, XVII. Positiones, quibus liquide demonstratur. Quid Medicus sit, quid Medicina ipsius, item quibus remedis aegritudines a corporibus humanis expellantur. In ders., Schrifften S. 462 – 486. 7 Paracelus, Liber de longa vita (ed. Peuckert), S. 467.

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mane, herabgezwungen werden, um dann im Menschen ihre lebensverlängernde Wirkung zu entfalten. (S. 479) Zumindest in diesem Punkt steht Paracelsus in deutlicher Parallele, wenn nicht Abhängigkeit von Ficino und Agrippa. Ficino erklärte im dritten Buch der De vita libri tres (1489), »wie man sich Leben von den Himmeln erwirbt« (De vita coelitus comparanda), indem man den spiritus mundi manipuliert. In Agrippas De occulta philosophia (1510/33) ist es Gott, der durch den spiritus mundi allen Dingen ihre verborgenen Kräfte verleiht, auch hier entsprechend der jeweiligen astralen Intelligenzen (I.12 und I.13), also der als beseelt gedachten Sterne. Im vierzehnten Kapitel erklärt Agrippa diesen spiritus als das Band, das Seele und Körper verbindet. Er sei identisch mit der »Quintessenz« und dem fünften Element. Durch ihn vermittelten sich, übertragen von den Strahlen der Sterne, dem menschlichen Körper verborgene Kräfte. Agrippa stellt dabei auch schon die Verbindung zur Alchemie her, deren Ziel eine Extraktion des spiritus mundi sei. (I.14, ed. Perrone Compagni S. 111 f.) Unmittelbar abhängig ist Suchten mit seiner spiritus-Theorie aber nicht von Paracelsus und Agrippa, sondern – und zwar bis in einzelne Formulierungen hinein – von der sogenannten Apocalypsis spiritus secreti, einer anonymen Schrift, die nach bisherigem Kenntnisstand zuerst 1566 in London erschien, herausgegeben und kommentiert von Giovanni Battista Agnello.8 Der Text, dessen ganzer Duktus eher auf den Neuplatonismus als auf den Paracelsismus verweist, wurde nichtsdestotrotz im zweiten Band der Paracelsus-Ausgabe Straßburg 1603 gedruckt. 1604 erscheint er in der Alchimia vera, 1606 in der Cabala Chymica Franz Kiesers. Benedikt Figulus stellte die Apocalypsis – jetzt als Apocalypsis Hermetis dem Hermes Trismegistus zugesprochen – in seiner Pandora magnalium naturalium (1608) seiner dortigen Ausgabe der Schriften Suchtens voran9 und schrieb die Übersetzung Paracelsus zu (Apocalypsis Des Hocherleuchten Aegyptischen Königs vnd Philosophi, Hermetis Trismegisti von vnserm Teutschen Hermete, dem Edlen/ Hochthewren Monarchen vnd Philosopho Trismegisto, A. Ph. Theophrasto Paracelso etc. Verdolmetschet). Die Zusammenstellung zeigt zumindest, dass auch Figulus die Abhängigkeit Suchtens von der Apocalypsis gesehen hat.

8 Espositione di Giovanbatista Agnello Venetiano sopra un libro intitolato Apocalypsis spiritus secreto. London 1566. Nachweis der Überlieferung bei Jantz, Goethe’s Faust, S. 175 Anm. 23 und Ebeling, Geheimnis des Hermes, S. 107. 9 Figulus, Pandora magnalium naturalium, S. 1 – 16. Ganz ähnlich wie die Apocalypsis argumentiert auch der (ebenfalls von Figulus edierte) Ps.-Suchten der Explicatio tincturae physicorum, vgl. ebenda S. 152 f., der sich auf Agrippa von Nettesheim beruft. Gilly, Vom ägyptischen Hermes, S. 87 weist darauf hin, dass der Verfasser von De tinctura auch die Apocalypsis verfasst zu haben behauptet.

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In der Teilausgabe, die der Herausgeber Ulrich Dagitza 1680 in die Schrifften Suchtens übernommen hat, wurde der Text dann gleich Apocalypsis Theophrasti betitelt und damit Paracelsus zugeschrieben.10 Im ersten Satz heißt es, Hermes, Platon, Aristoteles und andere Philosophen hätten danach gesucht, »ob ettwas vnder den Creaturen wäre zu finden/ daß de[n] Menschlichen Leib vor der Zerstörung vnnd in seinem stäten Leben erhielte«. Ihnen wäre »geantwortet worden/ es were nichts/ daß den Zerstörlichen Leib vom Todt errettete vnd erledigte: Aber Ein ding wäre wol/ daß die verderbung hinweg thete/ Die Jugendt ernewerte/ Vnd das kurtze Leben (wie in den Alten Patriarchen) erlengerte.«11 Dieses »eine Ding« sei der »spiritus vitae«, der seinerseits mit dem Himmel, dem fünften Element und dem spiritus mundi identifiziert wird. Wie er konkret zu gewinnen ist, erfährt man aus der Apocalypsis nicht, denn es handelt sich bei dem Text eher um einen Hymnus auf diese Substanz denn um konkrete alchemische Anweisungen. Als »elixir vitae« nehme dieser spiritus die »kranckheiten des Alters« hinweg (S. 8), als Stein der Weisen habe er die Kraft, alle Metalle in Gold zu verwandeln. (S. 9) Er sei identisch mit Raphael, dem reinsten der Engel, und in letzter Instanz mit dem Geist Gottes, wie er bei der Schöpfung über den Wassern schwebte. Er ist seinerseits »ohne heimliche vnd Gnedige Einsprechung deß Heyligen Geistes« nicht zu fassen. (S. 11)

Heinrich Khunrath Mit seiner Ableitung der Naturphilosophie aus dem biblischen Schöpfungsbericht steht Suchten in der Tradition der »physica mosaica«.12 Zu den Vertretern dieser »Physica mosaica« gehören im deutschsprachigen Raum Aegidius Gutman mit seiner Offenbahrung Göttlicher Majestät (um 1575 entstanden, 1619 gedruckt), einem naturphilosophischen Kommentar zum ersten Kapitel der »Genesis« in 24 Büchern und Tausenden von Seiten, oder die von Samuel Eisenmenger herausgegebene (und vielleicht auch von Gutman verfasste) Cyclopaedia paracelsica christiana (1585). Wie bei Suchten und in der Apocalypsis ist es auch bei Gutman »Ruach«, der Geist Gottes, der als spiritus mundi zu Beginn

10 Suchten, Schrifften, S. 55 – 62. 11 Zitate nach der Ausgabe und Übersetzung in Figulus, Pandora, S. 1. Die Möglichkeit einer Lebensverlängerung bestreiten dagegen Andreae (unten S. 278) Maier, (unten S. 199) und die Rosenkreuzermanifeste (unten S. 245). 12 Allg. vgl. Meier-Oeser, Hermetisch-platonische Naturphilosophie, zur paracelsistischen Variante bes. Gilly, Vom ägyptischen Hermes, S. 106 – 113. Überblick bei Walton, Alchemy, Chemistry.

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der Schöpfung über den Wassern schwebt, dann in diese eingeht, die Natur erfüllt und in allen Menschen wirkt.13 Diese Interpretation ist aus dem biblischen Schöpfungsbericht nur bedingt abzuleiten. Die Frage, warum nicht jeder das erste Buch Mose so verstehen könne, beantwortet Gutman damit, dass der »Verstand der heyligen Schrifft« und die Geheimnisse der Natur nicht durch weltliche Gelehrsamkeit zu verstehen seien, sondern durch ein »bußfertiges Leben«, durch das allein »der heylige Geist der Warheit« in den »sündigen Hertzen« Platz finde. Erst kommt der göttliche Geist, dann das richtige Verständnis der Bibel.14 Damit ist Gutmann aus lutherischer Perspektive ein Enthusiast und Schwärmer, genauso wie Heinrich Khunrath, der eine Vorgängigkeit des göttlichen Geistes beim Erfassen der Geheimnisse der Natur wie des biblischen Schöpfungsberichts gleich in der Vorrede seines Hylealischen, Das ist/ pri-materialischen catholischen oder allgemeinen natürlichen Chaos (1597) kräftig herausstreicht: »Pfuy dir/ der du Enthusiasmum vnchristlich verspottest/ vnd nur alleine nach dem misbrauch misbreuchlich darvon redest. Du solltest Gott bitten/ das er dich zu einem guten Enthusiasten machte.«15 Wie man sich diesen alchemischen Enthusiasmus vorzustellen hat, illustriert der Kupferstich des »Oratorium-Laboratorium« aus Khunraths Amphitheatrum sapientiae aeternae solius verae, christiano-kabalisticum, divino-magicum, nec non physico-chymicum, tertriunum, catholicon (1595/1609).16 Auf der rechten Seite ist ein alchemisches Laboratorium abgebildet, auf der linken Seite kniet der Alchemiker vor einer Art Altar, auf dem ein Buch mit magischen Symbolen liegt, vielleicht sogar das Amphitheatrum selbst. Die auf dem Tisch im Vordergrund liegenden Musikinstrumente sind auf die magische Wirkung der Musik zu beziehen, die die Lektüre begleitet. Bilder und Musik sind gleichgerichtete, magische Operationen, die den Alchemiker durch die Impression seiner Vorstellungskraft, mithin seiner spiritus animales, in Kontakt mit dem spiritus mundi bringen. »Sine afflatu divino, nemo unquam vir magnus« schreibt Khunrath mit Cicero: De natura deorum II.167 auf den Querbalken seines Oratorium-Laboratorium-Bildes, und auch dieser »afflatus divinus« dürfte sich auf spirituelle Weise vollziehen. Im Text zu einem weiteren Kupferstich, der »Porta Amphi13 Gutmann, Offenbarung Göttlicher Mayestat, Buch 11 und Buch 16, Kap. 82 ff. 14 Gutmann, Offenbarung Göttlicher Mayestat, unpag. Vorrede, Kap. 21. 15 Khunrath, Chaos, Vorrede A 9v. Zu Khunraths Alchemie bes. die Arbeiten von Peter Forshaw, zum philosophischen Kontext Neumann, Natura sagax. 16 Zu Khunraths Amphitheatrum Telle, Khunraths Amphitheatrum; Gilly, Amphitheatrum Sapientiae Aeternae und Neumann, Natura sagax. Töllner, Der unendliche Kommentar. bietet eine Interpretation der Kupferstiche, dort S. 197 – 222 zum »Oratorium-Laboratorium«.

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Abbildung 3: Heinrich Khunrath: Amphitheatrum aeternae sapientiae. Das Laboratorium.

theatri sapientiae aeternae«, heißt es, die sieben Stufen, die zur Pforte der ewigen Weisheit führen, würden »nur durch göttliche Inspiration« (»mere 1mhusi±stijy«) den derart »göttlich Angeblasenen« (»divinitus afflatis«) vermittelt. Khunrath setzt Kabbala, Magie und Alchemie in ein enges Verhältnis, wenn es im Text der »Porta« weiter heißt, man müsse mit den Augen des Geistes »auf christlich-kabbalistische, göttlich-magische und natürlich-chemische Weise« sehen. Die im »Oratorium-Laboratorium«-Kupferstich des Amphitheatrum sinnfällig gemachte Analogie zwischen Gebet und alchemischer Arbeit bezieht Khunrath in der Vorrede zum Hylealischen Chaos ausdrücklich auf sich selbst, wenn es dort heißt, er hätte, »Gott sey lob«, »den Geist vnd Gabe des Vnderscheidens in dieser Kunst von Gott (ohne vergebnen ruhm zu reden) in Oratorio durch Beten/

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vnd Laboratorio durch Arbeiten/ gnediglich bekommen«.17 Wie bei Suchten entspricht die im Gebet erlangte, enthusiastische ›Inspiration‹ der Extraktion des göttlichen Geistes aus der Materie, wie sie der Alchemiker im Labor vollzieht. Im Gebet und in der Arbeit im alchemischen Labor sucht der Alchemiker dieselbe Sache: den Geist Gottes. Das titelgebende, »hylealische, pri-materialische Chaos« Khunraths ist die Ursubstanz, aus der Gott durch seinen bei der Schöpfung über den Wassern schwebenden Geist die Welt »animiret vnd impraegniret« hat.18 Wie für viele Paracelsisten ergibt sich daraus (im Gegensatz zum aristotelischen Dualismus von Materie und Form) eine Dreiteilung von Leib, Geist und Seele, wobei der »Universal Fewerfunck Ruach Elohim«, der Geist Gottes, »die Seel der Welt/ und Licht der Natur/ ja die Natur selbst« ist, wiederum identisch mit dem Merkur der Alchemiker.19 Es gibt deshalb auch keine ›geistlose‹ Materie, »alldieweil der Geist des Herrn erfüllet hat den gantzen Weldkreis: Vnd solches/ vermittelst spiritu mundi aethereo dem Himlischen Geist der Weld/ (als einem aller bequembsten Mittel) oder Mitler/ zwischen Materia vnd Forma/ Leib vnd Seel«.20 Als eine ›geisterfüllte‹ ist die Natur belebt, weil sie aus dem pri-materialischen Chaos durch den göttlichen Geist geformt wurde: »Freylich ist die Natur ein Höchstweises/ sich selbst bewegendes/ lebendigmachendes/ vberaus sehr mechtiges vnd wunderthetiges Licht vnd Fewer/ ja ein mechtig-krefftiger Geist/ oder Geistliche krafft/ von dem Allerweisesten/ Ewigen/ lebendigen/ Allmechtigen vnd wunderbaren dreyeinigen Gott (der ein Fewer vnd Geist ist) selbst herfliessende/ in das erst Weld-anfangs erschaffene Hylealische/ das ist/ Pri-materialische wesserige Chaos eingehende/ dasselbige seeligende vnnd auch schwengerende/ vnd das gantze daraus erbawete Gebew der grossen Weld/ bis an sein von Gott demselben angesatztes ende/ erhaltende.«21

Wie bei Suchten ist die Botschaft Khunraths eine Anleitung zur alchemischen Extraktion des göttlichen Geistes aus der Natur, sodass die paracelsische Alchemie die Wiederholung und Umkehrung des göttlichen Schöpfungsaktes darstellt. Zwar wird aus der undurchsichtigen Chaos-Schrift nicht deutlich, wie diese Extraktion des göttlichen Geistes gelingt, dass eine solche Extraktion aber das Ziel ist, steht außer Frage. Im Amphitheatrum Khunraths wird in dem Kapitel »Quid est lapis philosophorum« gleich im ersten Satz klargestellt: »Der Khunrath, Chaos, Vorrede f. 4 vjv. Khunrath, Chaos, S. 3. Khunrath, Chaos, S. 198 f. Khunrath, Chaos, S. 63 f. Auch bei Khunrath folgt Chaos S. 66 ein Verweis auf die Apocalypsis spiritus mundi secreti. S. 64 beruft sich Khunrath für seine Theorie der »anima mundi« auf Agrippa von Nettesheim. 21 Khunrath, Chaos, S. 67.

17 18 19 20

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Stein der Weisen ist der Geist Gottes, der Gen. 1 über den Wassern schwebt«.22 In der Folge wird dieser Stein der Weisen identifiziert mit der »forma rerum omnium«, der »virtus substantialis«, der »quinta essentia« der Alchemiker, der Natur usw.

Abbildung 4: Heinrich Khunrath: Amphitheatrum aeternae sapientiae. Der Rebis.

Graphisch dargestellt hat Khunrath diesen Prozess der Weltschöpfung in der Figur des »Rebis«, in der aus dem »pri-materialischen Chaos« am unteren Bildrand die konkrete Gestalt der Erde entsteht. In dem zweiköpfigen und hermaphroditischen Rebis, der sich aus ihr erhebt, ist der alchemische Prozess 22 Khunrath, Amphitheatrum II, S. 193: »Lapis Philosophorum est […] Ruach Elohim, (qui incubat aquis, Gen. 1.)«. Zu Khunraths alchemischer Schöpfungstheologie Forshaw, Subliming Spirits, Forshaw, Vitriolic Reactions und Neumann, Natura sagax, S. 139 – 154.

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(»solve et coagula«) versinnbildlicht, der seinerseits im mythischen Phoenix zum »Azoth« der Paracelsisten, zur »quinta essentia«, dem Stein der Weisen, zur »natura« und zum spiritus mundi führt, der wiederum zu Gott hinauf leitet.23 Das Selbstbewusstsein Khunraths als inspirierter Alchemiker und die Beseelung der Welt im Schöpfungsakt stehen auch hier in unmittelbarem Zusammenhang: »Ich Henricus Khunrath von Leipzig/ der göttlichen waren Weisheit Liebhaber/ und beyder Artzney Doctor/ thue hiermit kundt vor jederman/ unnd sage/ das der allein eine drey-einige Gott/ Vater/ Sohn und Heiliger Geist/ am Anfang/ durchs Wort/ auß Nichts erschaffen habe/ ein pri-materialisch unnd allererstes Welt-Anfangs Chaos, (darauß hernacher die gantze grosse Welt erbawe[t]) von Himmel/ Erde unnd Wasser Dreyeinig bestehende; unnd habe dasselbe animiret unnd impraegniret, geseeliget und geschwängert mit Ruach Elohim, dem Geist des Herrn/ so auff dem Wasser/ das ist/ von Himmel/ Erde und Wasser zusammen vermischten Wasserigem finsterem Abgrunde oder Tieffe/ damahls schwebete.«24

Wenn Khunrath den spiritus mundi mit dem »Azoth« der Paracelsisten (die diesen ihrerseits aus der traditionellen Alchemie übernommen hatten) identifiziert, dürfte dies auf das 1591 erschienene, pseudo-paracelsische Liber Azoth seu de ligno et linea vitae zurückgehen, in dem sich die Identifikation mit dem spiritus mundi bereits findet.25 Innerhalb der traditionellen genauso wie der paracelsischen Alchemie bezeichnet der spiritus Azoth das Quecksilber (mercurius philosophorum), das aufgrund seiner chemischen Eigenschaften, also vor allem seines ›lebendigen‹, zwischen flüssig und fest schwankenden Aggregatzustandes als materia prima und Geist des Lebens galt. Auf einem der berühmtesten Porträts des Paracelsus (1567) steht auf der Knaufkugel des Schwertes, das Paracelsus in Händen hält, Azoth.26 Damit zitiert der Einblattdruck die Legende, der zufolge Paracelsus im Knauf seines Schwertes ein Allheilmittel mit sich führte, bei dem es sich um einen Extrakt des kosmischen Azoth gehandelt haben soll – also das, was die Alchemie als den ›Geist des Lebens‹ aus der Materie extrahieren sollte. Dass dieser Azoth keine bloße Spekulation geblieben ist, sondern tatsächlich hergestellt und eingenommen wurde, zeigt Paracelsus selbst, der, wie eine Exhumierung ergab, an einer Quecksilbervergiftung gestorben ist.

23 Interpretation des Kupferstichs mit einer Transkription der Texte bei Töllner, Unendlicher Kommentar, S. 111 – 175. Allgemein zum alchemischen Gehalt Forshaw, Alchemy in the Amphitheatre. 24 Khunrath, Chaos, S. 1 f. 25 [Pseudo-]Paracelsus, Liber Azoth seu de ligno et linea vitae, S. 572 f. Der Text ist zuerst 1591 im Bd. 10 der Paracelsus-Ausgabe Husers erschienen. 26 Zur Deutung Gilly, Paracelsus in der Bibliotheca Philosophica Hermetica, S. 13 – 27.

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Daniel Möglings Speculum sophicum rhodo-stauroticum Die Extraktion des göttlichen Geistes aus der Materie ist das alchemische »Parergon«, die »Vorarbeit«, der die im Gebet erflehte Erleuchtung durch den göttlichen Geist im »Ergon«, dem eigentlichen Werk, folgt. Daniel Mögling hat – in deutlicher Abhängigkeit von Khunraths Amphitheatrum – diese enge Verbindung von »Ergon« und »Parergon« in seinem Speculum sophicum rhodostauroticum (1618) graphisch dargestellt. Der Kerngedanke der »pansophischen Weisheit« lautet dort, dass Gott nach der Erschaffung der Welt »allen vnd jeden Geschöpffen ein verborgene Göttliche wirckende Krafft implantiert/ vnd vereiniget/ vermittelst welcher alle Creatur jrr Wesen vnd Zunemmen möchten erhalten/ dieses wirt genant die Natur«. Alles, was geschieht, verrichte diese Natur durch die vier Elemente, was wiederum so zu verstehen wäre, dass diese »ein sperma oder Saamen gebeeren«, »welcher geworffen in das centrum der Erden/ vnd daselbst elaboriert pro adaptione diuersa diuersimode transformiert wirt/ vnd ist dieses sperma die Sonn/ das einige triunum perfectum, pretiosissima Monas triade ligata«. Dieses »Sperma« als Sonne des Makrokosmos (der Strahlenkranz im Zentrum des Kupferstichs), seinerseits eine Emanation der belebten Natur und des göttlichen Geistes (der geflügelte Strahlenkranz oben), erzeugt den Menschen als Mikrokosmos. Der Mensch als Ebenbild Gottes müsse deshalb nur sich selbst erkennen, um Gott zu erkennen. Die Physik als Physiologie eines lebendigen Kosmos (Mögling spricht von »Physiologia generalis«) ist damit nur ein Aspekt der »Theologia«.27 Selbsterkenntnis des Menschen als eines durch göttlichen Geist belebten Wesens ist deshalb notwendiger Teil des »Ergon«. Wenn Mögling mehrfach und mit großem Nachdruck die Lektüre der Imitatio Christi des Thomas von Kempen empfiehlt, so entspricht der damit avisierte Heilsweg einer »inneren Reinigung« des Menschen. Indem man »den jnnerlichen Menschen recht erkent/ seine Sünd vnd vnvermögligkeit betracht/ Gottes Gewalt vnd Barmhertzigkeit zu gemüht fürt/ alle Menschliche Gedancken hindangesetzt/ jhme allein alles befihlt/ seinem willen gehorcht/ seinen Namen heyliget/ bitt/ lobt/ anrufft vnd glorificiert ohn vnderlaß«,28 durchläuft der menschliche Geist die Reinigung, die die Materie im alchemischen »Parergon« zu durchlaufen hat. In beiden Fällen geht es um eine Reinigung des Geistes – des menschlichen spiritus animalis als ein Teil des spiritus mundi und spiritus sancti. 27 Mögling, Speculum sophicum rhodo-stauroticum, S. 17 f. Zu Mögling Neumann, Olim, da die Rosen Creutzerey noch florirt; van Dülmen, Mögling (mit einem Abdruck des Speculum S. 55 – 68) sowie Gilly, Theophrastia sancta und Gilly, Cimelia. Zu Mögling auch unten Kapitel VI.2, S. 260 ff. Mögling wird bisher nicht als Paracelsist behandelt, muss aber mit seiner spiritus-Theorie dem Paracelsismus zugerechnet werden. 28 Mögling, Speculum, S. 19.

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Abbildung 5: Daniel Mögling: Speculum sophicum rhodo-stauroticum. Mikrokosmos und Makrokosmos.

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Abbildung 6: Daniel Mögling: Speculum sophicum rhodo-stauroticum. Ergon und Parergon.

Diese Parallele zeigt der zweite Kupferstich Möglings. Gebet und »imitatio Christi«, wie sie in der oberen Hälfte dargestellt sind, entsprechen als »Ergon« dem »Parergon«, wie es auf der unteren Hälfte des Kupfers im alchemischen Werk dargestellt ist. Dort sieht man rechts den Alchemiker vor seinem Ofen, links bei der Erforschung der Natur, im Licht der aufgehenden Sonne. Wenn der Alchemiker im Wasser steht und im Hintergrund ein Waschzuber mit Leinentuch (ein traditionelles alchemisches Symbol) zu sehen ist, deuten beide auf den

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Reinigungsprozess, die die Materie analog der Seele zu durchlaufen hat. Die »Theoria« dieses »Parergon« ist die Lehre der Tabula smaragdina, wie sie Mögling in der geflügelten Figur in der Mitte des Kupfers zitiert: Sein Vater ist die Sonne, seine Mutter der Mond, der Wind hat ihn in seinem Bauch getragen. Im begleitenden Text lässt Mögling wenig Zweifel daran, dass es sich bei diesem Kind um den spiritus mundi handelt, als das »subiectum philosophiae nostrae«.29 (S. 12) Der spiritus mundi ist als spiritus sanctus das verbindende Element von »Ergon« und »Parergon«, von Alchemie und Theologie. Aus ihm stammt alle Weisheit: »hinc sapientia«, steht auf dem Sockel der Figur. Deutlicher musste man wirklich nicht werden, wie Mögling in der Erklärung des Kupferstiches schreibt: »[…] betracht meine Figur eygentlich vnnd wol/ es ist daß vornembste darinnen verborgen/ vnd ist vnmöglich/ solches deutlicher vorzuweissen. Würds auch kein Vatter seinem Sohn eygentlicher vor augen stellen/ als ich dir allhier gethan/ darumb bitt vnd ermahne ich dich […] laß dir diese Figur hoch vnd wol commendirt seyn/ besichs/ betrachts/ examinirs nicht einmal/ sondern offt/ es ist nichts darinnen vergebens gesetzt/ vnnd oculis hisce nostris gesehen worden/ das magstu mir kecklich glauben […].«30

Oswald Crolls Basilica chymica Auch in Oswald Crolls Basilica chymica (zuerst 1609), deren umfangreiche Einleitung zu einer Art Programmschrift des Paracelsismus avancierte,31 ist der spiritus mundi der »allgemeine[n] Geist welcher die gantze Last vnd alles bewegt […] alles in allem würcket/ vnd den gantzen Vmbkreiß der Welt erfüllt«. Croll identifiziert ihn mit dem »Subiectum aller Wunder« des Agrippa von Nettesheim und der »Weltseele« Avicennas, Platons, der Araber und Chaldäer.32 Zweierlei Firmament gebe es: das äußere (die Sterne) und das innere, »das Astrum oder unsichtbahre vnempfindliche Corpus in allen Gestirnen deß Firmaments«. »Dieses vnsichtbahre vnempfindliche Corpus der Astrorum ist der Geist der Welt/ oder Natur/ oder Hylech wie es Paracelsus nennet/ in alle Astra außgetheilet: oder er ist alle Astra selbst.« Dieses innerliche Astrum ist wiederum identisch mit dem »Spiritus olympicus«, dem »vnsichtbahren Menschen«, der

29 Dies entspricht der Deutung im Kommentar des Hortulanus und bei Michael Maier, vgl. unten S. 161. 30 Mögling, Speculum, S. 13. 31 Zu Croll Hannaway, Chemists; Kühlmann, Crollius sowie die Einleitung von Kühlmann und Telle in Croll, Werke. 32 Croll, Basilica chymica, S. 55. Zitate nach der deutschsprachigen Ausgabe Frankfurt 1623.

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dadurch nicht nur mit dem »Gestirn«, »sondern auch mit dem Geist der Welt gantz einerley/ gleich wie das weise in dem Schnee.« (S. 14) Alles Sichtbare kommt aus dem Unsichtbaren, alles Körperliche aus dem Geistigen, so dass die ganze Natur von dem »Syderischen Geist« durchdrungen ist. Wie bei Suchten, so ist auch bei Croll die Vorstellung von einer spirituellen Beseeltheit der Welt, einer belebten Natur, eng mit der Vorstellung einer enthusiastischen Inspiration des naturphilosophischen und theologischen Wissens verbunden,33 denn es ist derselbe Geist, der als der Geist Gottes die Welt beseelt und das Wissen des Alchemikers inspiriert. Alles, was der Mensch weiß, weiß er »auß dem Syderischen Geist deß Firmaments«. (S. 31, vgl. auch S. 24) Der Allgegenwart des göttlichen Geistes entsprechend besteht der Mensch für Croll (wie generell im Paracelsismus) aus drei Teilen, dem »Syderischen Geist« als spiritus oder Astralleib; der »verständigen Seele« (der anima rationalis), und dem Körper. Durch den Körper sei der Mensch ein Tier, durch die anima rationalis beherrsche er die Tiere, durch den Geist sei er ein Ebenbild Gottes und beherrsche das Gestirn. (S. 30) Die Erleuchtung des Menschen durch das »Licht der Natur« vollziehe sich, indem der Mensch auf die unterlegenen Kräfte seiner ratio verzichte und sich dem »Syderischen Geist« überlasse, der seinerseits nicht auf bloß rationale Verfahren, wie etwa logische Schlußfolgerungen oder grammatisch-rhetorische Verständlichkeit angewiesen ist. Die Unverständlichkeit der »theophrastia sancta« erklärt sich aus dieser Überlegenheit und Unabhängigkeit des göttlichen Geistes von den Prinzipien der ratio. Auch für die medizinische Praxis ist die spiritus-Lehre von entscheidender Bedeutung. Durch die Allgegenwart des spiritus mundi hängt der medizinische Heilungserfolg von der ›spirituellen‹ Verfassung des Patienten ab. Wer »durch Hülff der Kräuter« etwas ausrichten wolle, dürfe sich nicht auf diese verlassen, sondern müsse auf Gott vertrauen. Allein die Präsenz Gottes in den »Artzneyen« gebe diesen ihre Wirksamkeit. (S. 44) Das Wirken Gottes und seine Allgegenwart in der Natur seien allen bloß »natürlichen« Kräften überlegen. Die Arznei ist wirksam, weil der Geist Gottes in ihr wirkt, nicht weil sie diese oder jene chemischen Substanzen enthält. Auch damit erscheint die Medizin wieder weniger als Naturwissenschaft denn als eine Form der Theologie. Göttliche Erleuchtung, nicht menschliche Vernunft ist demnach das Mittel menschlicher Erkenntnis. Nicht Intelligenz, Fleiß, Anstrengung der Vernunft oder praktische Erfahrung sind für den Arzt ausschlaggebend, sondern dezidiert religiöse Tugenden wie Demut, Liebe und das Lauschen auf das Anklopfen Gottes im eigenen Herzen. Eine Wiedergeburt in Christo sei das erste, was der Arzt erstreben müsse, heißt es bei Croll, vor aller Lektüre und vor allem Studium. (S. 70) Das lässt sich schwer mit den Prüfungsordnungen der Universitäten 33 Vgl. unten Kapitel IV.3, S. 222 ff.

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vereinbaren, auch schon in der Frühen Neuzeit. Medizinische Erkenntnisse werden an ein gottgefälliges Leben des Arztes und Pharmazeuten geknüpft, genauso wie der medizinische Heilungserfolg in erster Linie von einem solchen gottgefälligen Leben des Patienten abhängig gemacht wird. Deutlich formuliert wird dies auch in Abrahams von Franckenberg Raphael oder Artzt-Engel (1639, Druck 1676),34 der ausschließlich jener lebensverlängernden Arznei gewidmet ist. Diese Arznei aber »ist eigentlich Ein von Gott gebenedeyeter in die obere Natur gesprochener/ in die untere gepflantzter/ deme auß Gott gebohrnen Artisten oder Artst und Künstler durch künstlich/ natürlich und übernatürliche Mittel geoffenbahrter/ feuriger/ Lufft- und lebendiger Wasser-Dunst, Athem und Geist des temperirten Gestirns«. (S. 21 f.) Dieser »Lufftund Wasser-Dunst« ist die »Krafft Gottes«, »Ruach Elohim«, »der rechte Himmel-Raouch«, der »im Anfang der Schöpfung über den Wassern schwebete«. (S. 24 f.) Franckenberg identifiziert ihn in der Folge (unter anderem) mit dem Geist, den Jesu bei seiner Taufe im Jordan erhielt und dem Geist, der den Aposteln im Pfingstereignis zuteil wurde. (S. 25) Grundsätzlich ist er identisch mit dem lebenden Wort Gottes, das alle Kreaturen beseelt.

Heinrich Nolles Physica hermetica Ein weiteres, besonders eindrückliches Beispiel für die paracelsistische spiritusTheorie ist Heinrich Nolle mit seiner Physica hermetica (1619).35 Mit Berufung auf Suchten identifiziert Nolle den spiritus mit dem Sonnenlicht und der uni34 Vgl. Franckenberg, Raphael. Die Identifikation des spiritus mit dem Engel Raphael übernimmt Franckenberg aus der Apocalypsis spiritus secreti, vgl. oben S. 138. 35 Grundlegend ist Meier-Oeser, Nollius, sowie ders., Hermetisch-platonische Naturphilosophie, daneben Moran, Alchemical World, S. 122 – 129 und Gilly, Bekenntnis zur Gnosis, S. 422 f., alle mit Angaben zur älteren Literatur. Meier-Oeser hat auch bereits auf Nolles Vermittlung von protestantisch-aristotelischer Schulphilosophie und Hermetik hingewiesen. Nolle beruft sich in der Physica hermetica auf Aristoteles und Scaliger, dessen Exercitationes exotericae – ein Schlüsselwerk der aristotelischen Naturphilosophie – er mehrfach zustimmend zitiert. Ähnlich wie Maier (auf dessen De circulo quadrato Nolle S. 61 verweist) fordert er als Erkenntnismethode insbesondere eine Lektüre der klassischen Autoren und erst an zweiter Stelle einen Vergleich von Mikro- und Makrokosmos (cap. IV und VI). Bekenntnisse zur Signaturenlehre (S. 42 ff.) und zu den drei Prinzipien des Paracelsus (Buch IV) stehen neben einem Verweis auf den Schulphilosophen Bartholomäus Keckermann (S. 63). Ausdrücklich lobt Nolle »jenen Autor« (es kann sich nur um Libavius handeln), der immer wieder die Paracelsisten angegriffen und deren »Unerfahrenheit« (imperitia) aufgespießt habe. Obwohl Nolle behauptet, zwar viel von Paracelsus, wenig aber von den Paracelsisten (»asseclae Paracelsi«) zu halten, werden Joseph du Chene (Physica hermetica S. 71) und Suchten (etwa Physica hermetica S. 259) lobend erwähnt. Chymische Heilmittel dürften nicht verabreicht werden, solange noch galenische zur Verfügung stünden (S. 39).

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versalen Lebenskraft.36 Zwei Dinge wären in jedem Element, das Wort Gottes und das, in dem das Wort Gottes existiert, nämlich jener »allerfeinste spiritus«. Allein aus diesem im spiritus aufgehobenen Wort Gottes schöpften alle Elemente und Geschöpfe ihre Erhaltung (conservatio). (S. 155) Im zweiten Appendix zur Physica hermetica,37 der dem »hermetischen Schweigen« gewidmet ist, wird die spiritus-Lehre zum schlechthin zentralen Bestandteil der hermetischen Philosophie, denn sie ist es, deretwillen sich die Alchemiker überhaupt einer dem Schweigen verpflichteten Arkansprache bedienen. Die »wahre hermetische Philosophie der alten Weisen« ist »das Wissen um den kosmischen Geist« (scientia spiritus universi), »den man im allgemeinen Natur nennt«. (S. 737) Dieser spiritus als die Natur sei identisch mit dem Geist Gottes, der bei der Schöpfung über den Wassern schwebte. Als allersubtilster Körper durchdringe er das gesamte Universum und sei dessen lebenserhaltende Kraft.38 Er garantiere die Existenz aller Körper, auch der menschlichen. Wenn der menschliche Körper sterblich sei, so ist das auf den Sündenfall zurückzuführen, infolgedessen diese Kraft im Menschen geschwächt wurde. Eine Verlängerung des menschlichen Lebens sei jedoch durch eine Extraktion des spiritus mundi (explizit mit dem Geist Gottes, der über den Wassern schwebte, identisch) möglich, wie es schon die Patriarchen mit ihrem hohen Alter gezeigt hätten.39 Diese lebensverlängernde Essenz des spiritus mundi sei die Universalmedizin des Paracelsus. (S. 738) Auch der Stein der Weisen sei nichts anderes als dieser Extrakt des spiritus mundi. (S. 739) Wie er die anderen Metalle »vollende«, indem er sie in ihre Perfektion überführt (zu Gold als dem edelsten Metall macht), so heile er sterbliche Körper von Krankheiten und adle den Mensch mit der Weisheit der Engel. (S. 740) Das Geheimnis des Steins sei in der von Gott inspirierten Tabula smaragdina verschlüsselt, aber auch in Nolles eigenen Traktaten enthalten, wo es der Leser durch beharrliche Lektüre, unermüdliche Meditation und schließliche Erleuchtung durch das himmlische Licht finden könne.40 36 Nollius, Physica hermetica, S. 258 f. Genauer heißt es, der spiritus werde durch das Sonnenlicht übertragen. 37 Den zweiten Appendix, De theoria philosophiae hermeticae betitelt, hatte Nolle schon 1617 veröffentlicht. Die drei zusätzlichen Traktate, die in dieser Ausgabe noch enthalten waren, sind jetzt in die Physia hermetica selbst eingearbeitet, vgl. das Nachwort Nollius, Physica hermetica, unpag. letzte Seite. 38 Nollius, Physica hermetica, S. 737. Ähnlich bestimmen Alstedt, Physica poetica harmonica, S. 226 und Khunrath, Chaos, S. 198 f. die Natur als spiritus universalis und anima mundi, die ihrerseits mit Ruach Elohim, dem Geist Gottes, der über den Wassern schwebte, identifiziert wird. 39 Der Verweis auf das hohe Alter der Patriarchen findet sich schon in der Apocalypsis, vgl. oben S. 138. 40 Nollius, Physica hermetica, S. 741. In einem vorhergehenden Appendix hatte Nolle die Tabula bereits abgedruckt und kommentiert, vgl. Physica hermetica, S. 703 ff.

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Die Auflösung der Grenze zwischen Naturphilosophie und Theologie, die der zweite Appendix mit dieser spiritus-Lehre vollzieht, hatte ähnlich schon der erste Appendix mit seiner Enthusiasmus-Lehre vollzogen. Unter dem Titel »Pansophiae fundamentum« hatte Nolle dort eine Skala entworfen, die vom »höchsten Sein« (ens summum, Gott, das Licht), bis zum »tiefsten Sein« (infimum ens, die Finsternis) reicht. Der Mensch stehe zwischen beiden, könne sich aber als ein »theodidaktos« durch den Glauben zu Gott und dem Licht erheben. (S. 691) In klassisch mystischer Tradition fordert Nolle eine Abkehr von dieser Welt (abnegatio mundi) und ihrer Weisheit. Zu dieser Abkehr von der Welt gehöre auch die Abkehr von der menschlichen Sinnlichkeit. Das Licht des Geistes sei in uns eingeschlossen und nur der Mensch, der gelernt habe, seine Sinne ins Innere zu führen, sei der wahre Kabbalist, Theosoph und Ekstatiker. (S. 692) Der Aufstieg zu Gott vollziehe sich über die Annahme des »neuen Lebens« in Christo, wie es der wahrhaft Glaubende in der »Schule des Heiligen Geistes« (schola spiritus sancti) lerne. (S. 693) Im sterblichen Körper sei das göttliche Licht verborgen, als ein »Funke des göttlichen Geistes« (scintilla mentis divini). Aus diesem Funken könne der Mensch seinen Körper so verwandeln, dass er in einer »übernatürlichen Metamorphose« (supercoelesti metamorphosi) zu einem »geheimen Gefäß Gottes« (dei secretum habitaculum) werde.41 Nolle schließt den Appendix mit einer ins Deutsche übersetzten Passage gleichen Inhalts aus dem Corpus Hermeticum. (S. 696) Damit gibt Nolle – deutlicher als Suchten, Khunrath oder Croll – einen Hinweis auf die Herkunft der spiritus-Theorie.

Die spiritus-Lehre des Corpus Hermeticum im Paracelsismus Das Corpus Hermeticum, von Marsilio Ficino 1464 erstmalig ins Lateinische übersetzt, lag um 1600 bereits in mehreren Ausgaben und Übersetzungen vor. Nach Sebastian Franck, der 1560 in seiner Guldin Arch Teile des ersten Traktats paraphrasiert und mit einer (handschriftlich erhaltenen) Übersetzung begonnen hatte, ist Nolle der zweite, der aus dem Corpus Hermeticum ins Deutsche übersetzt. Den geradezu exzessiven Gebrauch, den Nolle nicht nur in den Titeln seiner Werke und Abhandlungen von dem Begriff »hermetisch« macht, führt er allerdings nicht auf das Corpus Hermeticum zurück, sondern auf die dem Hermes zugeschriebene Tabula smaragdina.42 41 Nollius, Physica hermetica, S. 695. In der Rede vom »göttlichen Funken« wird mystisches Gedankengut aufgenommen. Insbesondere bei Weigel spielt dieser göttliche Funke eine große Rolle. 42 Nollius, Physica hermetica, S. 701.

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Wilhelm Kühlmann und Joachim Telle haben bereits darauf hingewiesen, dass Hermes in den echten Paracelsischen Schriften nur selten berufen, in den unechten Paracelsica und im späteren Paracelsismus jedoch »autoritativ aufgewertet« werde.43 Es ist in der Tat auffällig, dass gerade Paracelsisten verhältnismäßig stark aus dem Corpus Hermeticum zitieren. Neben Nolle sind es – die Liste ist vorläufig – Samuel Eisenmenger (Siderocrates) in De usu partium coeli (1563),44 der Ps.-Suchten der Explicatio tincturae physicorum,45 Khunrath,46 Arndt, Croll, Haslmayr, Hirsch, Franckenberg und der Ps.-Weigel des Lautensack-Kommentars.47 Die ältere alchemia transmutatoria bezieht sich zwar ununterbrochen auf Hermes Trismegistus als den supponierten Verfasser der Tabula smaragdina und damit den Begründer der Alchemie – Andreas Libavius stellt Hermes neben Aristoteles, Galen und Hippokrates auf dem Titelblatt seiner Alchymia von 1606 als eine der vier Autoritäten der Alchemie dar –, scheint das Corpus Hermeticum dagegen eher selten zu zitieren. Paradigmatisch ist wiederum Libavius, der in 43 Kühlmann und Telle in ihrem Kommentar zur Widmungsvorrede Adam von Bodensteins an Adolf Hermann Riedesel von Eisenbach (1562), in: Corpus Paracelsisticum Bd. 1, S. 147 – 179, hier S. 172. 44 Vgl. Gilly, Vom ägyptischen Hermes zum Trismegistus Germanus, S. 115. 45 Ps.-Suchten zitiert den Poimander in der Explicatio Tincturae Physicorum Theophrasti Paracelsi, S. 386, wobei Hermes Trismegistus ausdrücklich in nachmosaische Zeiten datiert und ihm, ähnlich wie bei Michael Maier (unten S. 209), eine göttliche Erleuchtung bestritten wird. Auch hier findet sich das Hermes-Zitat im Kontext der spiritus-Theorie. Zur Explicatio tincturae physicorum als Ps.-Suchten Kühlmann und Telle in Corpus Paracelsisticum I, S. 548. 46 Khunrath, Amphitheatrum II, S. 154 stellt Hermes Trismegistus in eine Reihe mit »BezeleÚl«, »Achaliab«, Pythagoras, Sokrates, Platon, Demokrit, Hippokrates, Geber, Calid, Haly, Morienus, Parmenides, Homer, Vergil, Ovid, Raymundus [Lullus], Arnoldus [von Villa Nova], Isaac [Hollandus], Ulmannus, Bernhardus, Paracelsus und Zacharius. Selbst wenn man jedoch deren papierene Bücher nicht besäße, könne man durch göttliche Belehrung deren Weisheit erhalten: »A Pimandro, h.e. Mente Divinae potentiae (heodidajtij_r) institueris, ut dicere possis cum Davide ex cap. 23. lib. 2. Sam. vers. 2. ›Spiritus Domini locutus est per me, et sermo eius per linguam meam.‹« Auf dem Kupferstich mit der Tabula smaragdina zitiert Khunrath den Anfang des Poimander. 47 Zu Arndt vgl. den folgenden Abschnitt. Croll, Vorrede S. 25. S. 27 f. heißt es, Hermes sei, »eher das Wort Fleisch worden/ durch den heiligen Geist erleuchtet« worden. Haslmayr setzt auf das Titelblatt seines in der Gefangenschaft entstandenen, nur handschriftlich erhaltenen Lumen novum phisices intactae (1616) geradezu ostentativ ein Zitat aus dem Poimander. Abbildung des Titelblatts bei Gilly, Haslmayr, S. 168. Hirsch, Pegasus firmamenti f. F6r. Franckenberg, Via veterum sapientum, Vorrede datiert 1639, vgl. dort den »Beschluß« mit »Zeugnüssen und Ermahnung aus den Büchern der Alten Weisen«, der S. 241 – 250 Exzerpte aus dem Corpus Hermeticum enthält, nach der Ausgabe Patrizis. Auch im Text selbst – der fast gänzlich einer ›spirituellen‹ Interpretation des Heilswegs gewidmet ist – findet sich S. 125 zumindest ein Hermes-Zitat. Auf die Exzerpte hingewiesen hat Gilly, Franckenberg und die Rosenkreuzer, S. 226. (Pseudo-)Weigel, Erklehrung […] Pauli Lautensacci S. 5 f. und öfter. Der Kontext ist kein alchemischer, aber ein spiritualistischer, insofern es um die Allgegenwart des göttlichen Geistes in der Natur geht.

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seinem Wolmeinenden Bedencken (1616) denjenigen, der die Philosophie der Rosenkreuzer verstehen wolle, auf den »Pimandro vnd Asclepio Hermetis Trismegistis« verweist.48 Michael Maier, der seine Symbola aureae mensae mit einem Gebet aus dem Poimander und einem Zitat aus dem Asclepius beschließt, ist eine Ausnahme.49 In dem ersten, Hermes Trismegistus gewidmeten Kapitel der Symbola bestreitet Maier mit Nachdruck, dass sich der Asclepius und der Poimander auf Christus beziehen könnten und es sich bei der im Asclepius beschriebenen Beseelung von Statuen um Magie handle. Vielmehr handle es sich dabei um ganz natürliche, alchemische Prozesse, die bloß gleichnishaft dargestellt würden.50 Damit markiert Maier einen deutlichen Gegensatz zu den Paracelsisten, denen – wie zu zeigen sein wird – gerade am magischen Charakter dieser Prozesse liegt. Inhaltlich manifestiert sich die Abhängigkeit des Paracelsismus vom Corpus Hermeticum in der spiritus-Theorie. Insbesondere in den Traktaten X, XI und XII des Corpus Hermeticum sind die paracelsistischen Positionen vorformuliert. So heißt es im elften Traktat, Gott sei im Geist und der Geist in der Materie.51 (XI.4, S. 125) Gott sei deshalb auch nicht unsichtbar, sondern werde als Geist in seiner Schöpfung sichtbar. (XI.22, S. 136) Im zwölften Traktat wird der Geist als feinster Teil der Luft bezeichnet, und Gott wiederum als feinster Teil des Geistes. (XII.14, S. 153) Schon im zehnten Traktat war das Blut als Träger des Geistes benannt worden und der Tod als Verlust des durch das Blut transportierten Geistes. (X.13, S. 91 – 113) Alles menschliche Wissen gehe auf die Wirkkräfte Gottes zurück, die gleichsam als Strahlen den Kosmos und den Menschen durchdrängen. (X.23, S. 112) Aufgrund der spirituellen Allgegenwart Gottes könne der Kosmos nicht tot genannt werden. Als ein Lebewesen sei er mit Gott identisch. (XII.15, S. 154) Diese Identität wird ausdrücklich auf den Menschen ausgedehnt, wenn es weiter heißt: »Von allen Lebewesen trifft das aber am meisten für den Menschen zu, der sogar die Möglichkeit hat, Gott in sich aufzunehmen und mit Gott in Verbindung zu treten.« (XII.19, S. 156) Die ›theophrastia sancta‹, wie sie Suchten, Khunrath, Croll oder Nolle formulieren, könnte damit auf das Corpus Hermeticum zurückzuführen sein, wobei– neben Patrizis Ausgabe der hermetischen Schriften in seiner Nova de universis philosophia (1591) – die Apocalypsis spiritus secreti (1566) eine wichtige Vermittlungsrolle gespielt haben könnte. Wenn diese unter anderem als Apocalypsis Hermetis zirkulierte und damit dem Hermes Trismegistus zugesprochen wurde, geschah dies nicht ganz ohne Berechtigung. 48 49 50 51

Libavius, Bedencken, S. 159. Maier, Symbola, S. 619 – 621. Maier, Symbola, S. 11 – 16. Zum poetischen Hermetismus Maiers unten Kap. V.2. Zitate nach der Übersetzung Das Corpus Hermeticum deutsch von Colpe und Holzhausen.

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Der Aufgang der Sonne Es gibt noch ein weiteres Indiz, das auf das Corpus Hermeticum hinweist. Wie in diesem, so mündet auch im Paracelsismus das Überschreiten der rationalen Fähigkeiten in ein »hermetisches Schweigen« (Nolle), ein Verstummen im Angesicht der »Offenbarung göttlicher Majestät« (Gutman). Diese Offenbarung vollzieht sich bevorzugt beim Aufgang der Sonne, wie es bei einer ›Offenbarung‹ und ›Erleuchtung‹ naheliegt. Im Corpus Hermeticum wird Hermes aufgefordert, auf dem Höhepunkt seiner Initiation schweigend unter freiem Himmel dem Aufgang der Sonne beizuwohnen. Nur so könne er erfahren, was »lehrhafte Unterweisung« – also die Fähigkeiten der ratio – übersteige. (XII.16, S. 183) Franckenberg zitiert diese Stelle, wenn er im Gespräch mit Seidenbecher bemerkt: »Der Grund der Erleuchtung liegt in der Natur, nämlich im Aufgang der Sonne« und gleichzeitig scharf gegen Logik und Vernunft polemisiert.52 Schon in Reuchlins De verbo mirifico (1494), auch hier in deutlichem Anschluss an das Corpus Hermeticum, mussten die Initianten für die letzte Stufe der Offenbarung den Aufgang der Sonne abwarten. In Arndts Oratio de antiqua philosophia heißt es, die Propheten und Apostel hätten ihre Theologie von dieser »Morgenröthe der Sonnen« gelernt, »alß noch kein geschrieben Wort Gottes vorhanden ware.«53 Deswegen erwartet auch Heinrich Khunrath in seinem Kupferstich »Kollegium der Natur« in betender Haltung den Aufgang der Sonne. »Cum numine lumen, et in lumine numen« (»Mit dem Göttlichen [kommt] das Licht, und im Licht das Göttliche«), heißt es dort in den Strahlen der Sonne. Der Aufgang der Sonne ist dabei ein im wahrsten Sinne des Wortes ›spirituelles‹ Erlebnis, insofern die Identifikation des spiritus mit Sonnenlicht und -wärme zu den physikalischen Grundüberzeugungen der Zeit gehörte. Die empirisch nicht zu bestreitende Tatsache, dass die Sonnenstrahlen Wärme transportieren, wurde durch die spiritus als Träger der Wärme erklärt. Hier lag sogar, worauf Sennert hinweist, ein verbindendes Element zwischen Hermetismus und Aristotelismus vor.54 Der Unterschied ist wiederum die hermetische Identifikation des spiritus mit dem spiritus sanctus, die aus einem ma-

52 Franckenberg, Gespräch mit Seidenbecher, S. 366. Übersetzung Seidel. Bereits zu Beginn der Gespräche, S. 355/364 hatte Franckenberg Seidenbecher »die Worte des Hermes« vorgelesen. 53 Zitate nach der Transkription der Wolfenbütteler Handschrift, f. 13 f., dazu unten Kapitel IV.4. Arndt verweist in der Oratio mehrfach auf Hermes Trismegistus, jedoch ohne dass zu identifizieren wäre, auf welche Texte er sich dabei bezieht. 54 Sennert, De consensu ac dissensu, S. 71, mit Bezug auf De generatione animalium II.3. Sennert verweist hier auch auf die Übereinstimmung mit dem zwölften Traktat des Corpus Hermeticum.

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teriell gedachten, astronomisch-physikalischen Vorgang das ›spirituelle‹ Erlebnis einer göttlichen Inspiration macht. Wenn Franckenberg und der mythische Hermes ein Jahrtausend vor ihm den Aufgang der Sonne erwarten, um von ihren Strahlen im wörtlichen und spirituellen Sinne erleuchtet zu werden, dann ist damit derselbe Punkt bezeichnet, den Khunrath und Mögling mit der Identität von Oratorium und Laboratorium bezeichnen. Gebet und Arbeit vor dem alchemischen Ofen sind zwei Aspekte desselben Prozesses, in dem der Alchemiker in mentaler und physisch-chemischer Weise um den göttlichen Geist ringt. Der Aufgang der Sonne markiert – in einem wörtlichen Sinne, wie der Kupferstich Möglings zeigt – die ›Inspiration‹ des Alchemikers. Schon in der älteren Alchemie spielte das Sonnenlicht und insbesondere der Aufgang der Sonne eine große Rolle, wie schon die Titel der Aurora consurgens und des Splendor solis zu erkennen geben. Jacob Böhme nennt seine Morgen-Röte im Aufgangk (1612) im Untertitel eine Beschreibung der Natur/ Wie Alles gewesen und im anfangk worden ist.55 Zwar solle der Titel ein »geheimnüs Mysterium« sein, nur denen verständlich, »so dieses buch in einfalt lesen mit begierde des H. Geistes«. (S. 43) Auch dem uninspirierten Leser wird aber zumindest soviel deutlich, dass göttliche Inspiration die Voraussetzung der Naturerkenntnis ist, und dass diese Inspiration identisch ist mit der göttlichen Beseeltheit der ganzen Natur : »Gleich wie der geist eines Mensch in dem gantzen leibe in allen adern herrschet und erfüllet den gantzen Menschen/ also auch der H. Geist erfüllet die gantze Natur/ und ist das hertze der Natur«, heißt es in dem Kapitel »Von der Sonnen qualität«. (S. 57) Der göttliche Geist durchweht als das Licht der Schöpfung die gesamte Natur, einschließlich des menschlichen Körpers. Die ›Erleuchtung‹ durch den göttlichen Geist ist bei Böhme, wie im Paracelsismus, keine Metapher, sondern wörtlich zu verstehen, genauso, wie auch noch 1832 bei Goethe, der mit Alchemie und Hermetismus vertraut war : »Fragt man mich, ob es in meiner Natur sei, die Sonne zu verehren? so sage ich abermals: Durchaus! Denn sie ist gleichfalls eine Offenbarung des Höchsten, und zwar die mächtigste, die uns Erdenkindern wahrzunehmen vergönnt ist. Ich anbete in ihr das Licht und die zeugende Kraft Gottes, wodurch allein wir leben, weben und sind, und alle Pflanzen und Tiere mit uns.«56 In den Worten Fausts: »Die Geisterwelt ist nicht verschlossen; […] Auf bade, Schüler, unverdrossen, j Die ird’sche Brust im Morgenrot!« (v. 443 – 446) Wenn die vielbeschworene Abhängigkeit der Romantik vom Spiritualismus der Frühen Neuzeit irgendwo nachweisbare Substanz bekommt, dann ist es in 55 Zitate nach der Ausgabe von van Ingen. 56 Eckermann, Gespräche mit Goethe, S. 747 f. Zu Goethes Vertrautheit mit der hermetischen Tradition Zimmermann, Das Weltbild des jungen Goethe und Kemper, Göttergleich.

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der Annahme der Beseeltheit der Natur. In der Ältesten Urkunde des Menschengeschlechts (1774) beschreibt Herder den mosaischen Schöpfungsbericht – die »älteste Urkunde« – als eine Bildersprache Gottes. Gott lehre nicht »durch Schlüsse und Abstraktionen«, die nur »ermatten und hindern und erblinden«, sondern »allein durch Gegenwart und Kraft«, durch »Sinne und Gefühl«.57 Die »physica mosaica« ist jetzt nicht mehr wörtlich zu verstehen, sondern als eine Bildersprache, in der sich Gott an die ersten Menschen, an ihr ursprüngliches Empfinden wandte, als ein »Unterricht unter der Morgenröthe« (so der Titel des vierten Kapitels der Ältesten Urkunde). Denn auch für Herder ist der Sonnenaufgang die eigentliche Offenbarung Gottes: »Komm’ hinaus, Jüngling, aufs freie Feld und merke. Die urälteste herrlichste Offenbarung Gottes erscheint dir jeden Morgen als Tatsache, großes Werk Gottes in der Natur.« (S. 239) – »Die ganze Welt ein dunkles Geheimnis: Aufschluß, Erste Sprache Gottes zu diesem Geheimnis – Licht! Licht das allweite, feine, schnelle, wunderbare, ewig unergründliche Organ der sich den Menschen offenbarenden Gottheit!« (S. 250) Der biblische Schöpfungsbericht wird damit zum Zeugnis einer Offenbarung Gottes, wie man sie jeden Morgen erleben kann, wenn man sich vor Sonnenaufging hinaus vor die Stadt begibt, in die Natur als den »Tempel Gottes«: »Alles lag in Nacht und Dunkel: der webende Geist [das ist Ruach Elohim] kam und bereitete was zu erharren – noch ruhen die Vögel, das Haupt unter die Flügel gesenkt: die Stadtwelt, die vielleicht niemals Morgen gesehen, liegt begraben: selbst die frühe Lerche steigt noch nicht – die Natur ein harrender dunkler Tempel Gottes – lebender Wind [wiederum Ruach Elohim] und – – Licht! ’s ward Licht! [das »Fiat lux«] still wird er eingeweiht der Tempel! Vielleicht die Blüthe des Baums, die Blume, die Knospe fühlen! Lichtstrahl! ein tönender Goldklang auf die grosse Laute der Natur – die Lerche erwacht und schwingt sich – wehe dem Fühllosen, der diese Szene gesehn und Gott nicht gefühlt hat!« (S. 240 f.)

Damit hat Herder allerdings gegenüber dem Hermetismus der Frühen Neuzeit eine entscheidende Wendung vollzogen. Nicht mehr die biblische Offenbarung bezeugt die ›Inspiration‹ als Beseelung der Natur, wie sie sich in der Schöpfung abgespielt hat, sondern der Sonnenaufgang als unmittelbares Erlebnis einer Beseeltheit der Natur bezeugt durch die im Betrachter ausgelösten Gefühle die Wahrheit des biblischen Schöpfungsberichts als einer Bildersprache Gottes: »So lehret Gott! durch Bilder! Sachen! Begebenheiten! die ganze Natur«. (S. 253) Zu dem Zeitpunkt, zu dem Herder dies schreibt – 1774 – hat sich die Schere zwischen Dichtung und Wissenschaft schon weit geöffnet. Nicht zuletzt der Fortschritt der Naturwissenschaften zwingt dazu, den biblischen Schöpfungsbericht jetzt auf Seiten der Dichtung zu verorten, denn auf der Seite der Wis57 Herder, Älteste Urkunde des Menschengeschlechts, S. 250.

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senschaft sind Chemie, Biologie und Physik dabei, diese Natur durch eine quantifizierende Analyse in ihre Bestandteile zu zerlegen. Sie bedienen sich dabei nicht mehr der Bildersprache der göttlichen Schöpfung, sondern einer zunehmend abstrakten Formelsprache. Herder nennt das die Tradition der »Fühllosen«, der unpoetischen Menschen, die einen Sonnenaufgang erleben können, ohne dabei Gott oder wenigstens die Beseeltheit der Natur, die Präsenz des Geistes zu fühlen. Auch diese Tradition der »Fühllosen« hat ihre Vorläufer in der Frühen Neuzeit.

2.

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Naturalistische spiritus-Theorien: Cesalpino, Scaliger, Fernel Die Annahme eines spiritus mundi allein stellt noch kein hinreichendes Kriterium für spiritualistische Tendenzen dar. Dieser war durchaus mit der aristotelischen Naturphilosophie zu vereinbaren.58 Der Anschlusspunkt war dabei die vielkommentierte Stelle De generatione animalium II.3, wo die Wärme mit dem spiritus als belebendem Prinzip identifiziert wurde, sowie Galens analoge Theorie einer »eingeborenen Wärme« (»calidum innatum«). Entscheidend für die Identifikation von Wärme und spiritus war die Beobachtung, dass der tote Körper mit dem belebenden Atem auch seine Wärme verliert. Ähnlich konnte man beobachten, dass im Frühjahr allein durch Sonnenlicht und steigende Wärme aus scheinbar anorganischer Materie (berühmt war der Misthaufen) in einem Prozess der ›Selbstzeugung‹ Leben in Form von Würmern und Käfern entstand. Schon in De generatione animalium hatte Aristoteles deshalb die Wärme nicht nur mit dem spiritus identifiziert, sondern auch mit dem »Samen aller Dinge«, dem zeugenden Prinzip. In der aristotelischen Naturphilosophie um 1600 spielt der spiritus oder das calidum innatum eine zentrale Rolle, und zwar nicht im Sinne eines wie auch immer gearteten ›mystischen‹ Prinzips, sondern im Sinne eines Prinzips, das die ›Selbsterhaltung‹ der Natur begründen sollte, mithin im Sinne eines naturphilosophischen Naturalismus in der Tradition Pomponazzis: Scheinbar übernatürliche Ursachen werden durch natürliche zu erklären versucht.59 Martin Mulsow hat die weit ausgreifenden Debatten um dieses Prinzip der Selbsterhaltung einer ersten Vermessung unterzogen.60 Er zitiert das Medizinlehrbuch des 58 Vgl. den Befund von Sennert, oben Anm. 54, S. 154. 59 Vgl. vorhergehendes Kapitel. 60 Mulsow, Selbsterhaltung Kap. IV, S. 201 – 250.

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Paduaner Aristotelikers Andrea Cesalpino, ein Schüler Pomponazzis, das gleich in seinen ersten Sätzen den spiritus als »das am meisten notwendige Prinzip der Medizin« einführt: »Von der eingeborenen Wärme spricht Aristoteles z. B. in De generatione Animalium II, daß im Samen aller Dinge enthalten ist, was macht, daß die Samen fruchtbar sind, was Wärme genannt wird, nicht Feuer, aber Spiritus, der in Proportion dem Element der Sterne entspricht, ein Körper nämlich, der an der Fähigkeit und dem Vermögen der ganzen Seele teilzuhaben scheint, mehr göttlich als was Elemente genannt wird, je nachdem in welcher Edelheit oder Unedelheit sich die Seelen unterscheiden […] Es genügt anzunehmen, daß dieses Prinzip das in der Medizin am meisten notwendige ist; daß die eingeborene Wärme, die den ganzen Körper regiert, in sich eine himmlische Fähigkeit enthält, die im Menschen bei weitem edler und vollkommener ist als bei den übrigen sterblichen Wesen.«61

Ein anderer Schüler Pomponazzis, Julius Cäsar Scaliger, sieht dagegen keine Notwendigkeit für die Annahme eines spiritus oder einer anima mundi im Sinne einer »Weltseele«. In seinen Exercitationes exotericae (1557) – besonders im deutschsprachigen Raum oft aufgelegt und an den Universitäten als Lehrbuch verwendet – wird gleich im sechsten Kapitel die Existenz einer Weltseele, wie sie Platon angenommen habe, grundsätzlich ausgeschlossen. Eine solche Weltseele sei neben den beiden aristotelischen Prinzipien von Materie und Form nicht möglich.62 Bei Scaliger kann man am besten studieren, was die Paracelsisten so hassen und verachten: eine philosophische Reflexion in streng logischer Beweisführung über ›natürliche‹ Dinge (wie Zeugung, Schöpfung, Seele, Leben), ohne auch nur den geringfügigsten Hinweis auf Experiment, Beobachtung oder sinnliche Erfahrung. Scaliger deduziert seine Behauptungen in streng logischer Form aus den aristotelischen Prinzipien, und was sich auf diese Weise nicht ableiten lässt, wird als »absurdum« verworfen: Eine Weltseele gibt es nicht, weil sich ihre Annahme mit dem aristotelischen Hylemorphismus nicht vereinbaren lässt. Dass Scaliger damit eine eher radikale Position einnimmt, zeigt Jean Fernel, der mit seiner Physiologia (1542) ein einflußreiches Lehrbuch der Medizin verfasst hat und sich darin in größtmöglicher Ferne zum Paracelsismus präsentiert. Im Gegensatz zu Scaliger und in Analogie zu Cesalpino sieht er sich jedoch gezwungen, ein ›geistiges Prinzip‹ anzunehmen, um bestimmte Formen

61 Andrea Cesalpino, Speculum medicinae hippocraticum (1605), zitiert nach und in der Übersetzung von Mulsow, Selbsterhaltung, S. 212. 62 Zitate nach der Ausgabe Hanau 1620, die »Exercitatio sexta: De anima mundi« hier S. 18 – 38. Zu Pomponazzi als Lehrer Scaligers dort f. † 6v.

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natürlicher Wirkungen zu erklären.63 Es war also der Ausgang von den Phänomenen, der zur Annahme irgendeiner Form der ›spirituellen‹ Wirkung führte. Die fließenden Übergänge von empirischer Medizin und Hermetismus markiert noch deutlicher Michel Servet. In seiner Christianismi restitutio (vor 1553 entstanden) hatte er aufgrund ähnlich theologischer Vorgaben, wie sie die Paracelsisten vertreten, einen konkreten, anatomisch zu lokalisierenden Ort gesucht, an dem sich der Geist Gottes, der spiritus sanctus, in den menschlichen spiritus animalis transformiert. In diesem Zusammenhang hatte Servet den sogenannten ›kleinen Blutkreislauf‹ entdeckt, indem es nur in der Lunge zu einem Kontakt zwischen der Atemluft und den von ihr transportierten spiritus mit dem Blut kommen konnte.64 Im selben Sinne versuchte sich 1619 Robert Fludd in seinem Philosophicall Key an einer chemischen Isolation des spiritus aus dem Blut. Später verfasste Fludd eine Verteidigung von William Harveys Entdeckung des Blutkreislaufs, weil dieser ihm seine theo-physikalischen Annahmen zu bestätigen schien. Ähnlich wie Fludd arbeiteten im 17. Jahrhundert Johann Baptist von Helmont und Johann Rudolph Glauber von den theosophischen Vorgaben des Paracelsismus ausgehend an einem chemischen Nachweis des spiritus sanctus in der Welt und im menschlichen Körper.65 Selbst Melanchthon hatte, wie im vorherigen Kapitel gezeigt, an dieser einen Stelle seiner Naturphilosophie eine unmittelbare göttliche ›Beatmung‹ angenommen, indem sich beim Hören des göttlichen Wortes, wie es die biblische Offenbarung verkündet, der Heilige Geist in die spiritus animales des Menschen ergieße. Wenn 1619 Johann Valentin Andreae in seiner Mythologia Christiana beschreibt, wie bei der Leichenöffnung seines Freundes Tobias Hess dessen Lunge ganz durchweht vom Heiligen Geist gefunden worden sei, »ausser daß etlich wenig kleine Geschwärlein Academischer Wissenschaft daran angesetzet hatten«, liegt dieser Vorstellung eine ähnlich physiologische Erklärung zugrunde, die als solche noch keineswegs hermetisch genannt werden muss.66

Der spiritus in der traditionellen Alchemie Auch in der traditionellen Alchemie – hier vor allem als alchemia transmutatoria – ist der spiritus als »belebendes Prinzip« allgegenwärtig, ohne dass damit ›mystische‹ Tendenzen verbunden sein müssten. Die Extraktion des ›Geistes‹ vor 63 Zur spiritus-Lehre Fernels Walker, Astral Body, außerdem Richardson, Generation of Disease sowie Müller-Jahncke, Astrologisch-magische Theorie, S. 113 – 116. 64 Vgl. oben Kap. III.3, S. 119 ff. 65 Alle Angaben nach Debus, Chemistry and the Quest for a Material Spirit of Life. 66 Andreae, Wahrheits-Mund, S. 69. Vgl. Gilly, Katalog Andreae, S. 116.

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allem durch Sublimation und Destillation gehörte zu den grundlegenden Operationen der Alchemie: »Bildete sich beim Erhitzen einer Substanz ein Dunst oder Rauch, der sich eventuell wieder zu einer Flüssigkeit oder einem Pulver kondensierte, so glaubte der Alchemist, den Geist dieses Stoffes isoliert zu haben. Unzählige Rezepte beschreiben die Abtrennung flüchtiger – in den Augen des Alchemisten lebendiger – Stoffbestandteile. Der verbleibende, nicht selten dunkel gefärbte, ›fixierte‹ Rückstand bildete den ›getöteten‹ Körper, der durch Zugabe des passenden Geistes wiederbelebt werden konnte.«67

Diese »Wiederbelebung« der Materie war der sogenannte ›caput mortuum‹Prozess, der in der bildlichen Sprache der traditionellen Alchemie als die Wiederbelebung eines geköpften Paares beschrieben wurde. In der traditionellen Alchemie um 1600 spielt der spiritus dort eine durchaus prominente Rolle, wo es nicht mehr nur um konkrete chemische Prozesse, sondern um die Prinzipien dahinter geht. Bruce T. Moran hat gezeigt, dass Andreas Libavius das von Aristoteles in De generatione animalium hypostasierte Prinzip eines spiritus oder einer ›natürlichen Wärme‹ für die Zeugungskraft des Samens genauso wie für die Kräfte des Magneten – auch diese Kraft wurde als ›geistige‹ Wirkung verstanden – verantwortlich macht.68 In seinen Tractatus duo physici (1594) bestreitet Libavius, dass chemischen Präparaten eine »stellare Kraft« (vis stellarum) innewohnen könne. Neben den üblichen paracelsistischen Verdächtigen richtet er sich gegen Ficino, Albertus Magnus, Thomas von Aquin und weitere »pontifici«, wobei also der naturphilosophische Aberglauben mit dem theologischen Aberglauben – der katholischen Religion – identifiziert werden sollte.69 In seinen Neoparacelsica aus dem gleichen Jahr richtet sich Libavius gegen die berühmte »Panacea Amwaldina«, von der behauptet wurde, dass sie als eine Extraktion des spiritus coelestis den spiritus vitae stärken könne. Eine solche Extraktion erklärt Libavius für unmöglich. In seinem Examen philosophiae novae (1615) erklärt er die Annahme einer »virtus seminaria«, die in allen Dingen wirksam wäre und von den Paracelsisten analog dem spiritus gedacht wurde, als zu den Grundlagen einer »unchristlichen Magie« (»impia magia«) gehörig, wie sie sich in den platonischen Dialogen, bei Iamblich, Proclus, Pico della Mirandola, Pistorius und Ficino finde.70 Michael Maier bietet in seiner Septimana philosophica (1620) – einem philosophischen Lehrgespräch zwischen Salomon und der Königin von Saba – eine 67 68 69 70

Heike Hild, Art. Geist. In: Lexikon. Alchemie S. 147 – 148, hier S. 148. Moran, Transformation of Alchemy, S. 251 – 257, bes. S. 256. Libavius, Tractatus duo physici, S. 37. Libavius, Prodromus vitalis philosophiae Paracelsistarum, S. 12. Ich folge einem Hinweis von Forshaw, Alchemical Exegesis, S. 35.

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durch und durch traditionelle Zusammenfassung der galenischen spiritusLehre, deren Modell Melanchthons De anima-Lehrbuch oder vergleichbare Schulbücher gewesen sein dürften. In seinen alchemischen Werken hypostasiert Maier, auch hier ganz in der aristotelischen Tradition, den spiritus als eine »verborgene Kraft« und als »belebendes Prinzip«. Nach Erik Leibenguth identifizierte Maier in seinen Cantilenae intellectuales den spiritus als eine qualitas occulta mit dem ›Mercurius‹ der Alchemie, der seinerseits für jede Substanzänderung der Materie verantwortlich sei. Maier würde dabei den spiritus mit der aristotelischen Form identifizieren, im Gegensatz zum alchemischen ›corpus‹ als der aristotelischen Materie. Damit hätte Maier die spiritus-Lehre mit dem aristotelischen Hylemorphismus vereinbart71 – gegen die Annahme etwa eines Scaliger. Wie die mittelalterliche Alchemie stünde die Alchemie Maiers auf aristotelischen Grundlagen und befände sich auch darin im Gegensatz zur paracelsistischen Alchemie. Der spiritus als »belebendes Prinzip« dürfte auch der Inhalt des ersten Emblems von Michael Maiers Atalanta fugiens sein, wenn dort die Tabula smaragdina zitiert wird, der zufolge der Vater die Sonne ist, die Mutter der Mond und der Wind »ihn« oder »es« in seinem Bauch getragen hat. (Vgl. Abbildung 7 unten S. 192) Dieses »ihn« oder »es« kann sich nur auf den spiritus beziehen kann, der das »Werck der Natur« vollbringt.72 Schon im Kommentar des Hortulanus (11./ 12. Jahrhundert) zur Tabula smaragdina konnte man lesen: »Es ist offensichtlich, dass der Wind Luft ist, und die Luft ist Leben, und Leben ist Seele.«73 Von einer solchen Deutung war es nur noch einer kleiner Schritt zur Identifikation dieses spiritus mit dem Geist Gottes, wie er im Corpus Hermeticum vollzogen wird, in dessen zwölftem Traktat der Geist als feinster Teil der Luft bezeichnet wird, und Gott wiederum als feinster Teil des Geistes.74 Diesen Schritt aber vollzieht die traditionelle Alchemie, im Gegensatz zur paracelsistischen, nicht. Ein weiteres Beispiel dafür findet sich im Kleinen Baur (1617) des Johann Grasse, einem im 17. Jahrhundert sehr erfolgreichen Traktat, in dem es heißt, die ganze Welt sei »dieses Spiritus vitalis voll«. Grasse zitiert die indische Philosophie zustimmend mit der Überzeugung, die Welt sei ein Tier, der spiritus aber, »welcher zwischen den Astris vnd dem Erdboden schwebt«, der Atem dieses Tiers.75 Nicht die spiritus-Theorie als solche bildet also das Unterscheidungs71 Leibenguth, Poesie, S. 106. 72 Maier, Cabinet S. 80, Atalanta 1, S. 14. Diese Deutung des Windes als spiritus auch bei Mögling, oben S. 147. 73 Hortulanus, Commentariolus in Tabulam Smaragdinam. Zit. nach der Ausgabe in: Alchemiae Gebri arabis libri, S. 295 – 302, hier S. 297: »Planum est, quod ventus est aer et aer est vita et vita est anima.« 74 Corpus Hermeticum XII, Kap. 14, S. 153. 75 Grasse, Der kleine Baur, S. 59 f., Ausgabe mit Commentaria Walch. Der anonym erschie-

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merkmal zwischen Paracelsisten, traditionellen Alchemikern und Aristotelikern, sondern die jeweilige konkrete Ausformung. Nicht die spiritus-Lehre als solche, sondern ihre Verquickung mit theologischen Konzepten – die Identifikation mit dem Heiligen Geist – lässt sie zum Ärgernis für die akademische Theologie werden. Ehregott Daniel Colberg erkennt am Ende des 17. Jahrhunderts darin eines der Prinzipien der paracelsischen Religion. Ihre Anhänger meinten, der mythische Stein der Weisen sei identisch mit einem »spiritus aethereus«, durch den sie glaubten, »alle natürliche Wissenschaft zu erhalten nach ihrem wahnsinnigen Principio, daß der Geist des Menschen ein Stück des vermeynten Welt-Geistes sey/ der vielfältig reflectiret werde. Jst ein ungegründetes Gedicht.«76 Wo der spiritus für die aristotelisch-galenische Naturphilosophie und für die traditionelle Alchemie eine Substanz darstellt, deren Annahme aus naturphilosophischen Gründen notwendig schien und die man im Experiment nachweisen zu können glaubte, da identifizierte der Paracelsismus dieses Prinzip mit dem Heiligen Geist. Diese Identifikation ist für die Enthusiasmus-Theorie des Paracelsismus entscheidend, denn weder aus dem aristotelisch-galenischen Prinzip des calor innatus noch aus dem Geist als Produkt der chemischen Sublimation eines bloß materiellen Stoffes war eine göttliche Inspiration zu beziehen. Während die Identifikation des spiritus mit Wärme und Licht in der Fluchtlinie einer naturalistischen Naturphilosophie liegt, führt die Identifikation von spiritus und göttlichem Geist zu einer Pansophie oder Theosophie. Auch aus dieser Perspektive ist deshalb der entscheidende Punkt, wo man die Demarkationslinie zwischen Theologie und Naturwissenschaft zu ziehen gewillt war und damit letztlich die Frage, welche Präsenz man Gott in der Natur zugestehen wollte: gar keine, wie der radikale aristotelische Naturalismus; eine mittelbare, durch die Schöpfung der Natur und der Naturgesetze, wie der Aristotelismus etwa melanchthonischer Prägung; oder eine unmittelbare, wie der Paracelsismus und Spiritualismus.

Der Paracelsismus als Magie und Religion Welche Konsequenzen die paracelsistische Auflösung der Grenze zwischen Naturphilosophie und Theologie hat, illustriert die Frage der Magie, die eng mit nene Text wird Johann Grasse oder Grasshof zugeschrieben, vgl. Lederer, Johann Grasse sowie den Artikel (sub nomine) von Joachim Telle in Literaturlexikon (Killy) Bd. 4, S. 377, mit Angaben zur Forschungsliteratur. In dem gleichnamigen Artikel in: Alchemie. Lexikon (ed. Priesner/Figalla) wird der Text ohne Begründung paracelsistisch genannt wird, S. 12 distanziert sich der kleine Bauer jedoch ausdrücklich von den drei Prinzipien des Paracelsus. Zu Grasse auch unten S. 184 f. 76 Colberg, Platonisch-hermetisches Christentum I.1, S. 99. Vgl. auch Kap. I.2, S. 120 ff.

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der spiritus-Theorie verwoben ist. D.P. Walker hat in seiner Studie zur spirituellen und dämonischen Magie diese Verbindung bereits in ihrem groben Verlauf nachgezeichnet und darauf aufmerksam gemacht, dass es dieser Punkt war, der von den Kritikern des Paracelsismus, wie etwa Thomas Erastus oder Konrad Gesner, hervorgehoben wurde.77 Durch die Identifikation des spiritus mit Gott oder dem göttlichen Geist wurde eine Manipulation des spiritus zu einer Manipulation übernatürlicher Kräfte, mithin Magie. War der spiritus dagegen ein materielles oder quasi-materielles Prinzip – wie etwa in der aristotelisch-galenischen Identifikation mit Wärme und Licht – dann war die Manipulation des spiritus nur Physik, Biologie oder Medizin. Schon in der Frühen Neuzeit wurde der Begriff der Magie sowohl im Sinne einer magia naturalis als auch im Sinne einer dämonischen Magie verwendet. Daniel Sennert beschreibt in seiner Abhandlung über die Unterschiede zwischen Chemie und Aristotelismus, auch hier in Zusammenhang mit der spiritus-Lehre, die Konsequenzen.78 Wenn unter Magie nur eine magia naturalis als die Manipulation natürlicher Ursachen durch natürliche Mittel zu verstehen ist – Sennert nennt sie eine »Vollendung (perfectio) der Naturphilosophie«, also das, was man später Technik nennen sollte –, dann hatte kein Theologe und auch kein Naturphilosoph damit ein Problem. Baptista Della Portas Magia naturalis (zuerst 1558, zahlreiche Ausgaben) mit ihren harmlosen technischen Kunststücken und ›Naturwundern‹ ist für diesen Begriff der Magie das beste Beispiel, wiederum schon von Sennert genannt. Mit Erastus fragt Sennert allerdings zurecht, warum man diese magia naturalis, wenn sie sich innerhalb der Naturgesetze bewege, überhaupt Magie nennen sollte. Wenn Magie aber die Manipulation übernatürlicher Ursachen meinte – und das implizierte die Identifikation des spiritus mit Gott oder einem göttlichen spiritus – dann war das eine theologisch und moralisch höchst prätentiöse Behauptung. An Bekenntnissen zu dieser Art von übernatürlicher Magie mangelt es bei den Anhängern der ›theophrastia sancta‹ nicht, genauso wenig wie an Selbstbewusstsein. Die Paracelsisten proklamieren offensiv eine Beherrschung übernatürlicher Magie, angefangen mit Paracelsus selbst.79 Schon Adam von Bo77 Walker, Spiritual and Demonic Magic. Hinweise auf diese Kritik auch bei Pagel, Smiling Spleen, S. 66. Zu den philosophischen Grundlagen der paracelsischen Magie Neumann, Natura sagax, S. 104 – 138. 78 Sennert, De consensu ac dissensu, S. 122 f. Zur Charakteristik der paracelsischen Magie als dämonischer S. 216 – 230. 79 Vgl. bes. Paracelsus, Astronomia Magna oder Philosophia Sagax (1537/38, Druck erst 1571). Dazu stellvertretend Gause, On Paracelsus’s Epistemology ; Goldammer, Beitrag des Paracelsus; Goldammer, Der göttliche Magier ; Müller-Jahncke, Astrologisch-magische Theorie und Praxis, S. 67 ff.; Pagel, Introduction to Philosophical Medicine, v. a. S. 56 – 58; Schipperges, Magia und scientia; Schmidt-Biggemann, Medieval and Neoplatonic Topics.

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denstein verbindet 1562 in seiner programmatischen Vorrede zu Paracelsus’ De vita longa seine schroffe Ablehnung des Aristotelismus mit einem provokanten Bekenntnis zur Magie als einer Manipulation übernatürlicher Ursachen, wie sie Paracelsus in dieser Schrift entworfen habe.80 Alexander von Suchten prahlt geradezu damit, seine Erkenntnisse einer Beherrschung der Magie zu verdanken. (»Aber ich schreib allhier […] auß der [Kunst]/ die da war/ ehe die alle da waren/ und ein Mutter ist aller andern/ id est, Magia […].«)81 Mit dieser Beherrschung der Magie dokumentiert er eine äußerst elitäre Haltung, beschreibt er doch im weiteren Verlauf von De tribus facultatibus, wie das magische Wissen ansonsten schon vor Christi Geburt verloren ging und seitdem nur einigen ausgezeichneten Individuen – wie ihm selbst – offenbart wurde. Die Theologen erklärt er dabei zu den unwürdigen Nachfolgern der antiken Magier, die allerdings im Gegensatz zu diesen den »Geistlichen Verstand«, die »erkäntnuß Gottes« aus dem »Liecht der Natur« nie empfangen hätten. Dieses magische Wissen als Besitz des spiritus sanctus erlange man nicht durch »in der Kirchen sitzen/ hören was ein ander sagt/ daheim ein Buch nach dem andern durchlesen«, sondern indem wir »uns im Schweiß unsers Angesichts in so schröckliche Händel einlassen/ mit all unserm Vermögen Leibs und guts suchen den lebendigen Geist Gottes/ so er in den Erdenkloß/ darauß er Adam erschaffen/ bliß/ welcher uns die Augen auffthut/ und die Geheimnuß […] offenbahret […].«82 Heinrich Khunrath brüstet sich schon mit dem Titel seines Amphitheatrum einer Beherrschung der Magie, Alchemie und Kabbala als einer »ewigen Weisheit« (Amphitheatrum sapientiae aeternae, solius verae: christiano-kabalisticum, divino-magicum, physico-chymicum, tertriunum-catholicon) und mit ähnlichem Selbstbewußtsein tritt Croll auf. Auch hier werden schon auf dem Titelblatt (vgl. Abbildung 11 unten S. 208) die »Cabala theologica«, »Alchymia medica« und »Magia astronomica« zu dem Wissen erklärt, auf dem die Basilica ruhe. Wie Suchten und Khunrath behauptet Croll sich im Besitz eines magischen Wissens, und auch er identifiziert dieses magische Wissen mit einem Wissen um die Beherrschung des spiritus mundi. Indem die »Syderischen Cörper vnd Geist […] die Kräffte der Astrorum« anziehen, gelingt es dem Magier, die siderischen spiritus das verrichten zu lassen, »was die Menschliche Weißheit will«. Dieses Wissen um die Instrumentalisierung des Geistes ist »ein Anfang der Jncantation«, also der Zauberei.83 Das Zitat bezieht sich dabei auf die vierte Art der Magie, 80 Bodenstein an Ludwig Wolfgang von Hapsperg. In: Corpus Paracelsisticum Bd. 1, Nr. 10, S. 203 – 265 81 Suchten, De tribus facultatibus, S. 361. 82 Suchten, De tribus facultatibus, S. 370. 83 Croll, Basilica chymica, S. 37.

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die »Gamaheu« oder talismanische Magie, die in der Frühen Neuzeit besonders geschmäht war und zu der sich etwa Ficino noch auf gar keinen Fall hatte bekennen wollen, auch wenn das dritte Buch von De vita eine solche Magie entwickelt. Sie implizierte die Belebung und ›Begeisterung‹ des Unbelebten, indem der Magier die Kräfte der Sterne in ein »Bildnuß« aus Stein und Metall herabzieht und dieses damit ›begeistet‹, das heißt belebt.84 Das ist die Art von Magie, wie sie das berühmt-berüchtigte, anonyme Arbatel de Magia Veterum (Druck 1575) proklamierte, auch hier schon in enger Verbindung mit dem Paracelsismus.85

Kritik des Paracelsismus und seiner spiritualistischen Alchemie Das paracelsistische Bekenntnis zur Magie ist kein ›Kollateralschaden‹, der von den Paracelsisten in Kauf genommen wurde, weil er von ihren naturphilosophischen Prämissen erfordert worden wäre, sondern gehört zum Kern des Paracelsismus. Die Paracelsisten sind keine Märtyrer, die wegen ihrer wissenschaftlichen Überzeugungen in eine institutionelle Außenseiterrolle gedrängt wurden, sondern diese Außenseiterrolle entsprang dem elitären Programm der paracelsistischen Religion und Frömmigkeit. Die göttliche Inspiration und Beherrschung der Magie, die Paracelsus, Suchten, Croll oder Khunrath für sich in Anspruch nehmen, ist der Kern eines elitären Selbstbewusstseins und der damit verbundenen Verachtung der ›uninspirierten‹, akademischen Wissenschaft, wie sie an den Universitäten praktiziert wird. Damit ist auch gesagt, dass die entscheidende Demarkationslinie nicht zwischen dem Paracelsismus als einer neuen, auf Naturerfahrung gegründeten Chemie auf der einen und dem akademischen Aristotelismus auf der anderen Seite verläuft, sondern zwischen dem Paracelsismus als einer magischen Religion auf der einen Seite und einem sich als konfessionell verstehenden Verständnis der christlichen Religion (oder einer indifferenten Haltung gegenüber religiösen Fragen überhaupt) auf der anderen Seite. Nicht das chemische Wissen und die Naturerfahrung machen den Unterschied, sondern die mit diesen verknüpfte Religion. Erastus, Libavius und Sennert kritisieren den Paracelsismus nicht als Chemie, sondern als eine magische Religion. Das chemische Wissen, die Labortechnik und Pharmazeutik, die der Paracelsismus transportierte, wurde dagegen schon von Libavius,86 Sennert und Boyle, aber etwa auch von Michael Maier, durchaus 84 Croll, Basilica chymica, S. 38. 85 Zum Arbatel oben S. 60 f. 86 Der konkreten Analyse paracelsischer Rezepte widmet Libavius weite Strecken der ca. 450

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ernsthaft diskutiert. Hätte Paracelsus »sich in den Schrancken seiner Medicin gehalten […] müßte man ihn/ als einen gelehrten Mann/ billig hochachten/ sintemahl seine gute Erfindungen Ruhm verdienen […]«, notiert sogar Colberg am Ende des 17. Jahrhunderts.87 Dieser Befund ist insofern von Bedeutung, als er die Bemühungen der genannten Kritiker des Paracelsismus in ein anderes Licht rückt. Es geht ihnen um die Abgrenzung der Chemie vom Paracelsismus als einer magischen Religion. Johannes Crato, der 1576 die Exercitationes exotericae Scaligers geradezu als aristotelisch-galenisches, antiparacelsistisches Gegengift herausgibt, schreibt in seiner Widmung, er wolle nicht leugnen, dass einige der paracelsischen Medikamente gut und nützlich seien, aber so, wie diese veröffentlicht würden, könne niemand etwas damit anfangen. Die Paracelsisten wollten nicht mit der Sprache heraus, als handle es sich bei ihren Medikamenten um die eleusinischen Mysterien (die bekanntlich mit einem Schweigegebot belegt waren). Sie hüllten das schon von sich aus schwer Verständliche noch absichtlich in wundersame Schleier, belustigten sich beim Aufzählen der Ursachen von Krankheiten mit Gleichnissen und erklärten dabei die Symptome zu Krankheiten und die Krankheiten zu Symptomen. Im Übrigen hätte Paracelsus nichts Neues zu sagen, sondern sein Wissen vor allem aus der arabischen Medizin übernommen, sodass es einfacher wäre, diese Quellen selbst zu Rate zu ziehen, wenn sich jemand für chemisch präparierte Medikamente interessiere.88 Andreas Libavius macht schon in den ersten Sätzen seiner Rerum chymicarum epistolica forma (1595) klar, dass er mit dem Paracelsismus nichts zu schaffen haben will. Zwar verwende er im Titel den Begriff der »Chymia«, aber seine Chemie und der Paracelsismus wären zwei völlig verschiedene Dinge. Es wäre nicht gerecht, die reine und keusche Kunst der Chemie mit dem Namen des Paracelsus als eines Verfälschers der Wahrheit zu beschmutzen. Nicht diesem, sondern den bewährten Autoritäten folge er.89 Libavius kämpft für eine Alchemie als Naturwissenschaft, die mit den theologisch überhöhten Ansprüchen der ›theophrastia sancta‹ nichts zu schaffen haben will. Die Tatsache, dass die Universität Paris in ihrer Verdammung des Paracelsismus 1603 die gesamte Alchemie mit verurteilt hatte, zeigt dabei, wie sehr schon in der Zeit selbst die

Folioseiten seines »Syntagmatis arcanorum chymicorum […] tomus secundus«, Frankfurt/ M. 1613; der ca. 300 Folioseiten seines »Appendix necessaria syntagmatis arcanorum chymicorum«, Frankfurt/M. 1615 und der ca. 300 Folioseiten des »Examen philosophiae novae«, Frankfurt/M. 1615. 87 Colberg, Platonisch-hermetisches Christentum S. 180 88 Johannes Crato, [Widmung an Joseph Justus Scaliger]. In: Scaliger, Exotericarum exercitationum liber XV., f. † 2r - † 6r, hier f. † 4r f. 89 Libavius, Rerum chymicarum epistolica forma. Liber primus, praefatio ad lectorem, f. *7r.

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Alchemie mit dem Paracelsismus identifiziert wurde.90 Der Paracelsismus hatte in der öffentlichen Wahrnehmung die Alchemie vereinnahmt. Noch 1648 wiederholt Hermann Conring in De hermetica Aegyptiorum vetere et paracelsicorum nova medicina die Argumente des Libavius. Zweck der ganzen Abhandlung ist der Nachweis, dass die Chemie keineswegs mit dem Paracelsismus identisch ist. Die ganze Wissensgenealogie, die sich der Paracelsismus konstruiert habe, sei falsch. Die angeblich in mosaische Zeiten zurückreichenden, hermetischen Schriften seien gefälscht oder hochgradig ungesichert. Die tatsächliche ägyptische Medizin sei höchst roh und mehr Aberglauben als Wissenschaft gewesen. Die eigentliche Chemie gehe dagegen überhaupt nicht auf die Antike zurück, sondern sei im 13. Jahrhundert aus dem arabischen Kulturraum importiert worden. Mit dieser Chemie habe der Paracelsismus jedoch kaum Gemeinsamkeiten. Die zentrale Bedeutung des spiritus sieht auch Conring. Gegen die Paracelsisten und mit Berufung auf den italienischen Naturalismus (Andrea Cesalpino) heißt es, der spiritus sei mit dem calor innatus identisch.91

Paracelsistische Kritik der alchemia transmutatoria »Die« Alchemie gibt es nicht, wie Joachim Telle bemerkt hat, sondern eine Vielzahl von Alchemien. Die Alchemie des Paracelsus steht in der Tradition der älteren alchemia medica, transformiert diese aber in eine ›mystisch‹-spirituelle Alchemie. Von der alchemia transmutatoria hat Paracelsus sich dagegen scharf distanziert,92 auch wenn schon kurz nach seinem Tod nicht nur die Legende vom Transmutationsalchemiker und Goldmacher Paracelsus eingesetzt hat, sondern auch im Paracelsismus sich die Front zwischen alchemia medica, alchemia transmutatoria und alchemia mystica bald verwischt.93 Zumindest frühen Paracelsisten ist die paracelsische Ablehnung der alchemia transmutatoria voll gegenwärtig, wenn es bei Alexander von Suchten von »der Alchymie mit ihren transmutationibus« heißt, wer diese »secundam literam« verstehe, »drösche leer Stroh«.94

90 Libavius’ ausführliche Rechtfertigung der Alchemie und ihre Abgrenzung gegenüber dem Paracelsismus im Vorwort der Commentariorum Alchymiae (1606), S. 1 – 68 ist gegen das Pariser Urteil gerichtet. 91 Conring, De hermetica Aegyptiorum, S. 214. 92 Telle, Paracelsus als Alchemiker, S. 159. Dort auch das Zitat zur Vielzahl der Alchemien. 93 Telle, Paracelsus als Alchemiker, S. 162 macht schon bei Bodenstein, Toxites und Figulus ein Interesse an transmutationsalchemischen Schriften aus. 94 Suchten, Antimon, S. 281

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Suchten subsumiert die alchemia transmutatoria sogar der »Sophisterey« der akademischen Gelehrsamkeit. In einem Suchten zugeschriebenen Dialogus wird dieselbe alchemia transmutatoria als »eitel Bescheisserey« und bloßes Bücherwissen bezeichnet, das nicht auf der »Experientz«, sondern nur auf »Phantasey« beruhe.95 Das ist keine Vorwegnahme einer ›aufgeklärten‹ Kritik der Alchemie als einer Pseudowissenschaft, sondern eine Kritik der alchemia transmutatoria als einer bloßen ›Materialwissenschaft‹, die nicht auf Inspiration, sondern auf Buchwissen gründet. Gerade das Unverständnis der ›spirituellen‹ Dimension wird ihr vorgeworfen. Wie Bruce Moran gezeigt hat, ist das genau die Alchemie, für die Libavius kämpft, der seinerseits mit den magischen und spiritualistischen Tendenzen des Paracelsismus nichts zu tun haben will.96 Ähnlich wie Suchten geißelt auch Nolle die Anhänger der alchemia transmutatoria als »Sophisten« und »Pseudochymici«. Erkennen könne man sie an der Fruchtlosigkeit ihrer chemischen Operationen, an der Tatsache, dass sie von den Fürsten Geld verlangten, an der Tatsache, dass sie nach schriftlich fixierten, unverschlüsselten Rezepten arbeiteten, dass sie die Goldherstellung für das eigentliche Werk hielten, dass sie Jahrzehnte vor dem Ofen verbrächten, vor allem aber daran, dass sie die Begründung ihrer Prozesse nicht aus dem »Licht der Natur« erklären könnten.97 Im Gegensatz zu den echten Hermetikern würden die bloßen Alchemiker (»vulgares Chymistae«) die wahre Materie des Steins (den spiritus mundi) nicht erkennen.98 Nolle seinerseits beklagt 1619, dass der Hermetismus zu einer Mode verkommen sei und folglich schon jeder, der auch nur Wasser oder Öl aus einem Körper extrahieren könne, als Hermetiker gelten wolle. Ärzte, die mittels chymischer Methoden ein Medikament herstellten, borgten ihren Namen von Hermes, um auf diese Art als »wahre Philosophen« und »wahre Ärzte« vom Rest unterschieden zu werden. Zurecht auf Hermes berufen dürfe sich jedoch nur der, der auch die hermetische Weisheit besäße – die nach Nolle eine in erster Linie theosophische und nicht eine alchemische ist.99 Je mächtiger der Paracelsismus als Religion wurde, desto stärker wurden die Abgrenzungsbemühungen der traditionellen Alchemie. Wenn Sennert eine Abhandlung Über die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Chymikern und Aristotelikern und Galenisten (1619) schreibt, dann sind mit »Chymikern« keineswegs die Paracelsisten gemeint, sondern die traditionellen Alchemiker. Paracelsus sind vielmehr nur einige, wenig schmeichelhafte und recht einseitige 95 (Ps.-)Suchten, Dialogus, S. 354. Nach Kühlmann und Telle in: Corpus Paracelsisticum I, S. 548 stammt der Dialog nicht von Suchten. 96 Moran, Libavius and the Transformation of Alchemy. 97 Nollius, Physica hermetica, 715 – 719. 98 Nollius, Physica hermetica, S. 705. 99 Nollius, Physica hermetica, S. 698.

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Kapitel gewidmet, in denen Sennert vor allem darauf hinweist, wie viel Paracelsus aus den Schriften der traditionellen Alchemie gelernt habe, ohne dies zu vermerken.100 Paracelsus stellt mit seinen theologischen Prätentionen, seinem unordentlichen Lebenswandel und seiner provokanten Berufung auf die Magie für Sennert eine bedauernswerte Ausnahme in der Entwicklung der (Al-) Chemie als einer seriösen Wissenschaft, nämlich als einer reinen ›Materialwissenschaft‹, dar. Worum es Sennert geht, ist die Unterschiede in der chemischen und aristotelischen Naturphilosophie darzustellen, und hier eine Lanze für die (Al-) Chemie zu brechen. Wie wenig diese entstehende Chemie mit der ›theophrastia sancta‹ zu tun hat, wird deutlich, wenn man im Auge behält, dass Sennert als einer der ersten eine korpuskulare Theorie der Materie formuliert und damit in der Ahnentafel der Atomtheorie einen wichtigen Platz einnimmt. Nicht der Paracelsismus, sondern die alchemia transmutatoria steht am Anfang der wissenschaftlichen Bewegung, die im 20. Jahrhundert mit der Quantenphysik die Verwandlung der Metalle (und damit den alten Traum der Alchemie, die Herstellung von Gold) möglich gemacht hat.

Paracelsismus: Naturforschung oder Religion Es ist deshalb nicht überzeugend, wenn Chemikern wie Libavius und Sennert nur aufgrund ihrer Feindschaft gegenüber dem Paracelsismus ihre Bedeutung innerhalb der Alchemie als »Leitwissenschaft der Zeit« streitig gemacht wird. Dies aber geschieht zumindest implizit, wenn Kühlmann und Telle in der Einleitung in das Corpus Paracelsisticum schreiben: »Der paracelsische Alchemismus wurde nicht in erster Linie attraktiv, weil er Geheimnisse kodifizierte, sondern weil er sich an einem Problemüberhang abarbeitete, an dem der naturkundliche, sinnlich blinde Aristotelismus gescheitert war. Worum es ging, war nämlich nichts anderes, als wissenschaftliches Handeln von der spekulativen Dialektik ererbter Begriffe wie ›Substanz‹ und ›Akzidens‹, ›Form‹ und ›Materie‹ zu emanzipieren und stattdessen die ›Zeugungs‹-Regeln der stofflichen Substrate in laborantischen Versuchen zu reproduzieren. In diesem Sinne wurde die Alchemie für geraume Zeit zur Leitwissenschaft der modernen Naturbeherrschung, folgte Postulaten der empirischen Überprüfung und empraktischen Vervollkommnung von Verfahren, welche die vorgebliche Substanz materieller Körper chemiatrisch aufzulösen, den Kräftezusammenhang der Wirklichkeit analytisch zu durchdringen, mithin die Vorgänge elementarer Regeneration zu erfassen und humanen Zwecken dienstbar zu machen versuchten.«101 100 Sennert, De chymicorum consensu Kap. 4, S. 28 – 51. 101 Kühlmann/Telle, Einleitung in: Corpus Paracelsisticum I, S. 17.

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So prägnant diese Charakteristik der Alchemie als »Leitwissenschaft der modernen Naturbeherrschung« ist, so wenig ist nachzuvollziehen, warum dies nur für die paracelsische Alchemie gelten soll, und nicht auch für die traditionelle Alchemie eines Libavius, oder für die neue, auf atomistischen Annahmen beruhende Naturwissenschaft eines Sennert und Boyle. »Sinnliche Blindheit« kann man Libavius, Sennert und Boyle schwerlich vorwerfen. Auch kann der Aristotelismus so pauschal nicht »sinnlich blind« genannt werden, denn die aristotelische Erkenntnistheorie behauptet gerade die Herkunft alles Wissens aus der Sinnlichkeit. Wenn etwas »sinnlich blind« ist – und zwar programmatisch –, dann umgekehrt der Paracelsismus mit seiner Berufung auf das »Licht der Natur« und der Überzeugung, dass alles Wissen aus dem eigenen Inneren entspringt. Croll etwa plädiert ausdrücklich für eine Abkehr von den »eusserlichen Sinnen« und für einen »Rücklauf« der Seele in das eigene »Gemüt«, um dort Gott sprechen zu hören. Die in sich zurückgekehrte Seele bedürfe »keiner eusserlichen Vnterrichtung«, sondern lerne wie die Engel »alles von jnnen her«. Wer sich dagegen den »eusserlichen Sinnen« zuwende, weiche von Gott ab, »gleich wie das vnreine von dem reinen«. »Dieses Geheimnuß kan der Academische Geist nicht fassen.«102 Nicht die paracelsistische ›theophrastia sancta‹, sondern die atomistische Naturphilosophie eines Sennert und Boyle war es, die – flankiert von der aus Italien herüber drängenden, naturalistischen Philosophie103 – den aristotelischen Hylemorphismus zu Fall gebracht hat. Der Paracelsismus selbst wurde, zusammen mit dem von ihm bekämpften Aristotelismus, zum Opfer der atomistischen Naturphilosophie und ihrer neuen Materie- und Raumkonzeptionen, gerade weil er sinnlich erfahrbare und experimentell nachweisbare Fakten nicht erklären konnte.104 Die Front verläuft nicht zwischen dem Paracelsismus als einer neuen, an der Erfahrung orientierten Naturphilosophie und dem Aristotelismus als einer ›toten‹ Buchgelehrsamkeit. Vielmehr konfiguriert sich der Paracelsismus mit 102 Croll, Vorrede, S. 73. 103 Lüthy, Aristotelian Watchdog zeigt, dass Scaligers Verschmelzung von Aristotelismus und Atomismus in den Exercitationes exotericae für den aristotelischen Atomismus Sennerts verantwortlich ist. Michael, Sennert’s Sea Change zeichnet detailliert die Entwicklung von Sennerts Atomismus nach und macht dafür in methodischer Hinsicht wesentlich den Aristoteliker Zabarella verantwortlich. Newman, Experimental Corpuscular Theory zeigt, wie sich Sennerts Atomismus aus einer Berufung auf Aristoteles’ Meterologica entwickelt, mithin Atomismus und Aristotelismus in der Frühen Neuzeit nicht als Gegensätze wahrgenommen werden mussten. Alle Beiträge mit Angaben zur älteren Forschungsliteratur, darunter bes. Meinel, Early Seventeenth-Century Atomism. 104 Sylla, Space and Spirit zeigt, wie die neuen Konzepte von Materie und Raum die älteren spiritus-Theorien unhaltbar werden ließen.

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seiner Annahme übernatürlicher Ursachen als eine bewusste Auflösung der Grenze zwischen Naturphilosophie und Theologie, während sich die eklektische, mehr oder weniger aristotelisch verfahrende Naturphilosophie auf die Erforschung natürlicher Ursachen beschränkt und damit die etablierte Grenze zwischen Naturphilosophie und Theologie bekräftigt. Die Annahme übernatürlicher Ursachen im Paracelsismus äußert sich dabei vor allem (und aus heutiger Sicht paradoxerweise) im Glauben an chemisch präparierte Medikamente, deren Wirkung sich aber den Paracelsisten zufolge nicht auf natürlichem (im modernen Sinne: chemisch-mechanistischem) Weg vollzieht, sondern durch spirituell oder magisch gedachte Kräfte. Mit dieser Annahme eines göttlichen Wirkens in der Materie äußert sich der Paracelsismus als eine spezifische Form der Naturfrömmigkeit, die die Grenzen der konfessionellen Religiosität bewusst und provokativ überschreitet. Diese Grenzüberschreitung manifestiert sich auch in der Tatsache, dass der Paracelsismus sich spekulativ philosophisches Gedankengut wie den Hermetismus, die Kabbala oder den apokalyptischen Glauben an einen »Elias artista« einverleibt. Als bewusst und aggressiv antiakademische Philosophie und antikonfessionelle Religiosität manifestiert sich dieser Paracelsismus außerhalb der Universitäten. Dem gegenüber konstituiert sich an den Universitäten eine Naturphilosophie, die eklektisch in dem Sinne ist, dass sie ihre philosophischen Grundlagen dem Aristotelismus entnehmen kann, genauso aber dem antiken Atomismus, der alchemia transmutatoria oder sogar dem Paracelsismus, wo er sich auf natürliche Ursachen beschränkt (etwa in der Annahme der ›drei Prinzipien‹). Wo diese Naturphilosophie spezifisch chemische Interessen entwickelt, steht sie in der Tradition der alchemia transmutatoria und alchemia technica. Im Gegensatz zur alchemia medica der Paracelsisten beruhen diese Formen der Alchemie nicht auf der Annahme übernatürlicher oder magischer Ursachen. Ihre Vertreter sind deshalb, im Gegensatz zu den Paracelsisten, theologisch indifferent oder vertreten eine konfessionell bestimmte Form von Religion, wie etwa Libavius.

3.

Der Spiritualismus als antiakademische Bewegung

Paracelsus, Dorn, Suchten, Croll, Nolle Die paracelsistisch motivierte Ablehnung der Universität beginnt mit Paracelsus, der – von seinem kurzen Gastspiel an der Universität Basel abgesehen – sich als großen Außenseiter, allein der Natur verpflichtet, stilisierte und inszenierte. »Ihr müsst mir nach, nicht ich Euch« hält Paracelsus allen Autoritäten der

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Medizin entgegen. Auf Aristoteles und Plinius könne man »scheißen«.105 Von der Ablehnung der lateinischen Sprache, des Aristotelismus, der Logik als wissenschaftstheoretischer Grundlagendisziplin bis hin zur Vermischung von Theologie und Naturphilosophie sind bei Paracelsus bereits alle Aspekte vorhanden, die in der Folge den Paracelsismus als antiakademische Philosophie und Theologie prägen werden.106 Von den ersten Herausgebern der paracelsischen Schriften an, paradigmatisch in Adam von Bodensteins Vorreden zu Paracelsus’ De vita longa (1560 und 1562), wird die Selbststilisierung des Paracelsus zu einer antiakademischen Ideologie ausgebaut. Die Ablehnung des Aristotelismus als einer toten Buchgelehrsamkeit richtet sich vor allem gegen die ›wirkungslose‹, in praktischen Belangen irrelevante Philosophie der Universitäten, der der Paracelsismus als Magie und tatsächliche Naturbeherrschung entgegengestellt wird. Das paracelsische Wissen entstammt nicht dem akademischen Hörsaal und der spitzfindigen Disputation, es ist nicht auf die menschliche Vernunft und Logik angewiesen, sondern es entstammt dem »lumen naturae« als einer göttlichen Eingebung, die per se der menschlichen Vernunft überlegen ist. Die Berufung auf eine Tradition der prisca sapientia, die von Hermes Trismegistus über Orpheus, Pythagoras, die Ägypter, Chaldäer und Assyrer führt, dann aber nach Platon in Verfall geraten sei, ist als solche, als eine ›lebende‹ Tradition schon bei Adam von Bodenstein gegen den Aristotelismus als eine ›tote‹, akademische Tradition gerichtet.107 Die »Zeit des Geschwätzes« ist vorbei, die Zeit des Wissens angebrochen, heißt es mit apokalyptischer Tönung.108 Gerhard Dorn läßt in seinen Colloquia chymica (1567) einen »Philosophen« als Gesprächsteilnehmer auftreten, der die Pforte zum »Adamantischen Schloß« bewacht und nur den durchlässt, der eine Prüfung besteht. Auf seine Frage, was er an der Universität gelernt hätte, antwortet der menschliche Geist (spiritus), er habe dort nur die aristotelische Philosophie kennengelernt. Diese bestünde vor allem darin, »pro & contra standhafftiglich [zu] argumentiren«, was nicht als Bedingung der Wahrheitsfindung verstanden wird, sondern nur als »Sophismatisch Gemüß oder Art«, »das nun zum rechten/ nun zum linken Theil/ wie 105 Paracelsus, Das Buch Paragranum (ed. Peuckert), S. 501 f. 106 Vgl. insbesondere die Astronomia Magna oder Philosophia Sagax (1537/38, Druck erst 1571). Reiches Material zur Kritik der Universitätsgelehrsamkeit bietet Gilly, Das Sprichwort Die Gelehrten die Verkehrten. Zu Suchten dort S. 344 – 346. Zur Motivation der paracelsistischen Polemik Neumann, Wissenspolitik. 107 Vgl. bes. Bodenstein an den Dogen und Magistrat von Venedig (1560) in: Corpus Paracelsisticum I, Nr. 6, S. 104 – 146 (dort S. 116 – 117 und S. 123 – 124 die Berufung auf die prisca sapientia) und Bodenstein an Ludwig Wolfgang von Hapsperg (1562) in: Corpus Paracelsisticum I, Nr. 10, S. 203 – 265 mit der Polemik gegen den Aristotelismus. 108 Bodenstein an Adolf Hermann Riedesel von Eisenbach (1562). In: Corpus Paracelsisticum I, Nr. 7, S. 147 – 179, hier S. 150, deutsche Übersetzung S. 158.

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eine wächserne Naß/ kan gebogen werden«. Je geschickter jemand in dieser Kunst der Argumentation sei, »desto geringer Wissenheit hat er.«109 Im Antimon-Traktat Suchtens heißt es, die »Alchymia« sei eine reine Jungfrau, die keinen »vernünfftigen Menschen« zu ihr kommen lasse, sondern nur einen »hominem mentalem«, der allerdings äußert selten wäre. Jeder lasse sich von seiner Vernunft »verführen«, diese aber sei immer trügerisch.110 Das wahre Wissen sei das Wissen der Magie, das aber ohne »Offenbarung deß H. Geistes/ und Eingebung Gottes« niemand bekomme, »er sey Baccalaureus, Meister/ oder Doctor«.111 Oswald Croll ist sich sicher, dass »nicht mit Syllogismis oder Schlußreden/ sondern Reipsa oder mit der That« der »Betrug der Schulen« widerlegt werde. Wo »prächtige Titul zugegen«, da sei keine Demut, kein wahrhaft christliches Leben und also auch keine Präsenz des Heiligen Geistes zu erwarten, sondern nur »tieffe Finsternuß« und der »Zanck der vnrühigen vermeinten Gelährten«.112 Der »academische Geist« steht als ein Geist der Zanksucht dem Heiligen Geist konträr entgegen.113 Immer wieder polemisiert Croll insbesondere gegen die humanistischen Künste par excellence, gegen den Betrug der Rhetorik, die logischen Spitzfindigkeit der Dialektik, die sinnlosen Disputationsübungen und die »Sprachen«,114 das heißt den forcierten Latein- und Griechischunterricht und die philologischen Exzesse des sogenannten ›Späthumanismus‹. Heinrich Nolle widmet der Polemik gegen das Gelehrtenwesen, dem er als Professor selbst angehört, einen eigenen Traktat, die Tür zur hermetischen Weisheit (Porta sapientiae hermeticae). Fünf Schlüssel seien es, die diese Tür öffnen: Gebet, Bedenken der theoretischen Grundlagen, Unterrichtung durch einen Lehrmeister, beständige Lektüre der alchemischen Klassiker und schließlich das Werk, die »operatio« als Nachahmung der Natur im alchemischen Ofen.115 Nicht das »Studium des Streitens, wie es die Sophisten an den Universitäten lehren«, also das Disputationswesen, »sondern der spiritus universi, den man allgemeine Natur nennt«, sei es, »der alles in allen bewirkt«.116 Der echte 109 Zitate nach der Übersetzung, die unter dem Namen Suchtens in dessen Schrifften erschienen ist, vgl. [Alexander von Suchten:] Colloquia chymica. In ders., Schrifften S. 161 – 228, hier S. 205 f. Das Original in Gerhard Dorn, Clavis totius philosophiae chymisticae. Lyon 1567, darin S. 200 – 222: Colloquium quo conatur Animus Animam et Corpus ad se trahere. Interlocutores sunt Spritus, Anima, Corpus et Philosophia amoris. Die zitierte Stelle S. 217. Eine erste Übersetzung war 1602 erschienen in Dorn, Schlüssel Der Chimistischen Philosophy S. 178 – 196. Die zitierte Stelle dort S. 192. 110 Suchten, Vom Antimonio, S. 247. 111 (Ps.-)Suchten, Dialogus, S. 317. 112 Croll, Vorrede, S. 59. 113 Croll, Basilica chymica, S. 73. 114 Vgl. z. B. Croll, Basilica chymica, S. 69. 115 Nollius, Physica hermetica, S. 721 – 736. 116 Nollius, Physica hermetica, S. 737.

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Hermetiker zeichne sich durch Schweigsamkeit aus und werfe, anders als der disputierende Akademiker, seine Perlen nicht vor die Säue.117 Die Offenbarung des innersten Geheimnisses habe sich Gott selbst vorbehalten.118

Physica mosaica: Gutman, Cyclopaedia, Hirsch Diese Offenbarung des innersten Geheimnisses der Natur hat sich im göttlichen Werk der Schöpfung vollzogen. Die ganze »physica mosaica« – die Auslegung des ersten Buches Mose als einer göttlich offenbarten Physik –, wie sie mit dem Paracelsismus einen solchen Aufschwung nimmt, ist gegen die akademischen Wissenschaften gerichtet. Die Grundidee der »physica mosaica« ist der Versuch, eine »Physik«, das heißt eine allgemeine Naturlehre allein auf der Grundlage der Bibel zu errichten und damit die Lektüre der ›heidnischen‹, allesamt teuflisch inspirierten Schriftsteller überflüssig zu machen. Aegidus Gutman zeigt in seiner Offenbarung Göttlicher Mayestat (entstanden um 1575, Druck erst 1619) nach Ausweis des Untertitels, Wie Gott der Herr Anfänglich/ sich allen seinen Geschöpffen/ mit Worten vnd Wercken geoffenbaret/ vnd wie Er alle seine Werck/ derselben Art/ Eygenschafft/ Krafft vnd Wirckung/ in kurtze Schrifft artlich verfaßt/ vnd solches alles dem Ersten Menschen/ den Er selbst nach seiner Bildnus geschaffen/ vberreycht/ welches dann biß daher gelangt ist. Im zwölften Kapitel seiner Vorrede gibt Gutman eine Anleitung, wie diese Offenbarung in der Natur mittels der paracelsischen Trias von Beten, Suchen und Anklopfen (Mt. 7.7) erschlossen werden kann.119 Von Gutman abhängig, wenn nicht von ihm verfasst, ist die von Samuel Siderocrates (Eisenmenger) herausgegebene Cyclopaedia paracelsica christiana (1585), die ebenfalls von einem aggressiv antiakademischen Impetus getragen wird.120 Auch hier erklärt der Titel das Programm bereits zur Genüge: Cyclopaedia Paracelsica Christiana. Drey Bücher von den wahren urspung und herkommen der freyen Künsten, auch der Physiognomia, obern Wunderwercken und Witterungen, darinn auss der heiligen Schrifft mit beständigen grund nach notturfft dargethan würt, dass alle freye Künste, als Schreiberey, Rednerey, Rechnung, Singkunst, Erdmesserey, Gestirnkunst sampt der Naturkündigkeit und Artzneykunst, nit auss menschlichen vermeinten erfindungen, sonder allein von Gott dem Allmächtigen, als vom reichen uberquellenden Bronnen herkommen, dass auch solche Künst allein 117 118 119 120

Nollius, Physica hermetica, S. 713. Ähnlich schon Nollius, Physica hermetica, S. 699. Nollius, Physica hermetica, S. 713 f. Gutmann, Offenbarung Göttlicher Mayestat, f. f 4r. Zu Eisenmenger Gilly, Vom ägyptischen Hermes zum Trismegistus Germanus, S. 115; Gilly, Die Gelehrten die Verkehrten, S. 347; Rhein, Cyclopaedia Paracelsica Christiana; Kühlmann und Telle in: Corpus Paracelsisticum II, S. 879 – 894.

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bey Gott durch den Glauben gesucht, und in den Büchern Gottes und seiner Diener bezeugt und gelehrt sollen werden.

Dasselbe gilt für die Franckenberg zugeschriebene, aber von Christoph Hirsch, einem Vertrauten Arndts, verfasste Gemma magica oder Magisches Edelgestein/ das ist/ Eine kurtze Erklärung des Buchs der Natur/ nach dessen sieben grösten Blättern/ auff welchem beydes die Göttliche und Natürliche Weißheit/ durch Gottes Finger hinein geschrieben/ zu lesen ist […]. (Druck 1688, Vorrede unterzeichnet 1641). Zugeeignet ist sie »den wahren Philosophen, Welche das Buch der Natur sonderlich erforschen/ […] Selbiges vor der falschen Philosophi[a]e Sophistischen Unrath zu beschützen und weiter außzuziehren«.121 Seiner Vorrede zufolge sei das Buch mit »vielen Wachen/ und stetem Gebet/ in dem tieffgründendem Meer der Bibel fürnehmlich gesuchet« worden, denn der Verfasser »habe zimlich viel Jahr her einen wunderbahren/ und zuweilen gefährlichen Kampff/ sampt der Sodomitischen Welt grausamste Ungewitter ertragen/ verwickelt in einem Gewirbel von mehr als tausenden Verhindernissen/ ehe und bevor mir das Vermögen gegeben wurde es zu erlangen […] biß es dem Allerhöchsten zu seiner Zeit gefallen/ meine geheime Studia, daß ich mich der Worte eines erleuchteten Magi gebrauche/ in dem geheiligsten Hertz-Punct der Wahrheit ihme zu vereinigen.« (f. A2r)

Der Leser dürfe sich deshalb auch nicht auf die Lektüre des Werkes allein verlassen, sondern müsse stattdessen sich »der reinen wahren Gottesfurcht und täglichen Erneuerung des Gemüths embsig befleissigen« (f. A3r) Diese Priorität der praxis pietatis wird auch in der Folge immer wieder betont. So heißt es im ersten Kapitel, Gott habe »die vollkömmliche Warheit aller Sachen und Wissenschaften denen Magis in der grossen Welt kündlich für[ge]stellet«, erkennen könne man dieses Geheimnis der Natur aber nicht »mit ungewaschenen Händen«, sondern nur nach einer »rechte[n] Bewehrungs-Zeit über sich selbsten in den Mitteln/ eine innige Andacht zu erlangen und zu erhalten« und dadurch »die angebohrne Blindheit abzulegen«. (S. 9) Gemma magica heiße das Werk, weil seine »Magische oder geheime Unterweisung« nicht mit dem »Sauerteig des Heydenthums« befleckt sei. (f. A2v) Diese »heilige und geheime Magie« werde »durch das grosse Geheimniß der Schöpffung« als ein »Licht der Natur« »in dem wiedergebohrnen Gemüthe« verbreitet. Hilfreich seien dabei die Schriften des Hermes Trismegistus, Paracelsus und Basilius Valentinus. (f. A3r) Später werden außerdem Khunraths Amphitheatrum und die dazu »von einem Mago gründlich geschriebene[n] Erklärung« der

121 Zur Hirsch als Verfasser der Gemma magica Franckenberg, Briefwechsel Nr. 49/08/08, S. 229 – 231. Zur Forschungsgeschichte und Attributionsproblemen dort die Einleitung von Telle, S. 33.

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Lektüre empfohlen, wobei es sich bei dieser »Erklärung eines Magi« um Arndts Gutachten zu Khunrath handeln dürfte. Das erste Kapitel ist dem »grossen Geheimbnüß der Schöpffung« selbst gewidmet, wobei dieses große Geheimnis »nichts anders sey/ als aller deren Dingen/ welche sollten erschaffen werden/ Krafft-Wesen/ Leben und Wissenschaft/ so Anfangs in dem Abgrunde der Finsternüß/ als im Mittelpunct/ beysammen eingewickelt war«. (S. 10) Wie aus diesem »Krafft-Wesen« – also dem Geist Gottes – die Schöpfung durch das göttliche »Fiat« entstanden sei, könne mit »keines Menschen Vernunfft« begriffen werden«, sondern übersteige »alle Fähigkeit auch des sinnreichsten Verstandes.« (S. 11) Die ›heidnische‹ Philosophie mit ihrer Vernunftgläubigkeit müsse vor dem Mysterium der Schöpfung als einer creatio ex nihilo versagen. Die Vernunft könne immer nur feststellen, dass aus Nichts Nichts werden könne. Gottes unermessliche Macht und Weisheit sei durch die »höchstverderbte und verfinsterte Vernunfft« nicht zu begreifen. Der Hass auf die Vernunftgläubigkeit der heidnischen Philosophie führt bei Hirsch, wie bei Arndt, zu einer regelrechten Graecophobie, wenn Hirsch die »Atheniensischen Sophisten« der »unflätige[n] Boßheit«, der »geschminckte[n] Schwatz-hafftigkeit« und der »eitele[n] Spitzfindigkeiten« bezichtigt. (S. 12 f.) Kern der vom Aristotelismus nicht begriffenen Schöpfungsgeschichte ist die »materia prima«, die auch das Geheimnis der Alchemie darstelle. Durch sie gelinge es dem »erfahrnen Künstler«, »neue Gestalten und Formen der natürlichen Cörper« hervorzubringen, sodass der Alchemiker in seinem Ofen die Schöpfung Gottes nachahmt. Hirsch identifiziert diese ›materia prima‹ mit dem »Saamen der Natur«, dem spiritus mundi und dem »Azoth« der Paracelsisten, einmal mehr mit einem Verweis auf die Offenbahrung Hermetis beym Paracelso, also die pseudo-paracelsische Apocalypsis Hermetis. (S. 13 ff.)

Johann Arndt Der spätere Superintendent der lutherischen Kirche von Braunschweig, Johann Arndt – der wahrscheinlich nicht Theologie, sondern Medizin studiert hat – integriert die »physica mosaica« in das vierte Buch seines Wahren Christentums als das Buch der Natur. Mit einer frühen, nur handschriftlich überlieferten Rede, deren Wiederentdeckung Carlos Gilly zu verdanken ist,122 liefert Arndt außer122 Vgl. Gilly, Hermes oder Luther. Schon Gilly, Zwischen Erfahrung und Spekulation hat auf Arndts Medizin-Studium in Basel und seine paracelsistische Prägung hingewiesen. Zitate nach den Blattangaben der Transkription Hanns-Peter Neumanns, dem ich herzlich für die Überlassung seiner noch nicht erschienen Edition der Rede danke. Zu Arndts Wahrem Christentum oben Kapitel I.3.

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dem das eindrücklichste Beispiel eines antiakademischen Impetus aus paracelsistischem Geist. Die Oratio. Welcher gestalt die uhralte Philosophia, und Göttliche Weißheit der alten weysen wiederumb zu erlangen. Item Von Eytelkeit der Wissenschafften und Künsten dieser itzigen Zeit (1580) ist Ausdruck der schärfsten Verachtung und eines tief empfundenen Hasses auf jede Form von humanistischer Buchgelehrsamkeit, ein Pamphlet des radikalen Antiintellektualismus im Allgemeinen und der aggressiven Graecophobie im Besonderen. Arndt polemisiert gegen die »Subtiliteten der Sprachen« (S. 2), die »worttwissenschafften, so nur mit worten, nit mit wercken ümbgehen« (S. 3), den »hauffen der bücher« (S. 4), das »unergründliche Meer der griechischen Opinionen«, den »irrsamen Irrgarten und Labyrinth der itzigen gelehrten« (S. 4) und die »pappierene Erudition« (S. 32). Indem das humanistische Wissen nicht nur nutzlos sei, sondern den Menschen auch von der wahren Praxis gelebter Frömmigkeit abhalte, gehe es insgesamt auf Verführungen des Teufels zurück. Insbesondere die aristotelischen Schriften seien nur dazu nütz, dass »die müssigen ingenia auf hohen Schulen Ihre Zeit darmit vertreiben, und mit disputiren sich abmatten, nur daß sie etwas zu thun haben.« (S. 49) Die »aufgeblasene heidnische Philosophia«, wie sie »auff hoffertigen Cathedren« triumphiere, sei der Kern und Ursprung allen Übels. Durch sie sei die Theologie »zur disputation und zanck, alß zum Wohl oder Gottseeligem leben, oder geistlichen Gottesdienst verkehrt worden«. (S. 50) Es schaudert Arndt bei dem Gedanken, wieviel geistige Energie in das Studium der griechischen Sprache gesteckt worden sei, wieviel »beschwernüß, Verborgenheit, nächtliches wachen, schwerligkeit, und wiederwillen« überwunden werden musste, »damit wir nur Grichisch reden und schreiben können« (S. 28 f.). Und damit das Alles dann nicht umsonst geschehen sei, fange man danach an, selbst Bücher zu schreiben. (S. 30) Die ganze humanistische Gelehrsamkeit ist leeres Geschwätz: »Reden haben wir gelernet, aber von den dingen selbsten wissen wir nichts.« (S. 20) Auf das Bonmot des Erasmus, er habe keine Zeit zum Sterben, weil er noch zuviel Arbeit habe, reagiert Arndt mit einem fundamentalistischen Furor, in dem er Erasmus der Eitelkeit bezichtigt und ihm den Verlust seines Seelenheils prophezeit. Der Richter, vor dem Erasmus einst stehen werde, werde nicht von ihm wissen wollen, wieviele Bücher er gelesen, wieviele Sprachen er gelernt, wieviel er geschrieben habe, sondern wie nützlich er seinem Nächsten gewesen sei und was für einen geistlichen und ewigen Schatz er sich gesammelt habe. (S. 2 f.) Neben den humanistischen Sprachkenntnissen ist es insbesondere die Logik, die Arndt zur schärfsten Polemik herausfordert. Als »unnütze Subtilitet« und »kindische künste«, die nur vom »waren brunnen« aller Erkenntnis, dem »Licht

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der Natur«, abwenden, verspottet Arndt alle akademischen Bemühungen um nachprüfbare Formen der Argumentation. Die »Logica« stecke »in den dingen« und müsse aus diesen erschlossen werden, nicht andersherum. (S. 22) Die universitäre Ausbildung der Ärzte in der Logik erzeuge nur »Schwätzhafftige Ärtzt und Quacsalber […], die doch nit ein Feber, oder Zahnweh heilen können.« (S. 30) Man halte große Bibliotheken für eine »statliche Ehr«, dabei seien sie nur »lauter betrug« des »leidigen Sathans unser Zeit«. Wenn die Bibliotheken Alexandrias, Jerusalems und Konstantinopels verbrannt und in den Bauernkriegen so viele Bibliotheken zerstört worden seien, ist dies für Arndt nur ein »augenscheinliche[s] Zeugnüß, daß das Licht selbsten wolt herfür brechen, und den schatten vertreiben«. (S. 37 f.) Die philologischen Bemühungen um eine Wiedergeburt der Antike durch Edition der antiken Textzeugnisse sind für Arndt teuflisch inspirierte Verirrungen. (S. 36). Wer dem Verfall der antiken Weisheit hinterher jammere und einen neuen Rückfall in die »Barbarei« des Mittelalters fürchte, dem hält Arndt entgegen, dass bei den Chaldäern, Ägyptern, Persern und Indern keine Barbarei zu finden gewesen wäre, obwohl sie doch die griechische Wissenschaft nicht gekannt hätten. Ganz im Gegenteil seien die Griechen (»von Natur lügenhafftig und unbestendig«) zu diesen Völkern gereist und hätten dort die »brosamlin der waren Weißheit« aufgeklaubt. Statt diese Weisheit zu bewahren, hätten sie sie aber »in fabeln verkehret […] und mit lügen durchspickt und vermenget« (S. 40). Der Verfall der wahren Philosophie der Antike begann deshalb mit der griechischen Philosophie. Diese wahre Philosophie, deren Rekonstruktion Arndts Rede gewidmet ist, ist die Kabbala und Magie (S. 6). Wie Suchten und Croll brüstet sich auch Arndt eines magischen Geheimwissens, das von den Chaldäern über Hermes Trismegistus, die Sibyllinischen Orakel und die drei Weisen aus dem Morgenland (S. 7) seinen Weg zu Paracelsus (S. 9) gefunden habe. Inhalt dieser »uhralten Philosophia der Alten« ist die Inspiration des Heiligen Geistes als »Alloquium divinum: Göttliche Anredung« (S. 12) und »Geist Jehovah« (S. 19). Gott hat diesen Geist als seine Weisheit in der Natur verborgen, so dass diese Natur als »natura sagax« eine göttliche Offenbarung darstelle. Jede menschliche Weisheit sei aus dieser durchgeisteten Natur zu beziehen. (S. 17 f.) Diese Erforschung der Natur könne sich nicht mit dem »eußerlichen Sinn« vollziehen oder gar mittels der »Vernunfft«, sondern allein durch eine »erleuchtung des h. Geistes«, durch Glaube, Liebe und Hoffnung, durch Gedult, Sanftmut und Gebet. Schon in dieser frühen Schrift Arndts sind damit klar die Weichen für sein späteres Hauptwerk, die Vier Bücher vom wahren Christentum gestellt, in denen der Antiakademismus und die Naturfrömmigkeit paracelsistischer Provenienz eine wirkmächtige, bis in den Pietismus hineinreichende

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Verbindung mit der radikalprotestantischen, ›schwärmerischen‹, insbesondere von Valentin Weigel propagierten Ablehnung einer disputatorischen, abstraktbegrifflich verfahrenden Theologie eingehen.

Abraham von Franckenberg Das Gebet als wissenschaftlichen Erkenntnisweg propagiert auch Franckenberg. Dieser begeisterte Anhänger Arndts war laut Selbstzeugnis 1617 erleuchtet worden.123 Die Unterredungen, die Franckenberg 1649 mit dem Alchemiker Georg Lorenz Seidenbecher geführt hat und die Joachim Telle in den Protokollen Seidenbechers zugänglich gemacht hat, sind ein singuläres Zeugnis für den Charakter dieser Arndtschen Frömmigkeit. Neben Arndt sind es Thomas von Kempen, Tauler und die Theologia deutsch, die Seidenbecher zur Lektüre empfohlen werden (S. 355/363), später Schwenckfeld und die Gnostiker (S. 367). Mit den beamteten Nachfolgern Arndts, die dessen Ideal einer gelebten Frömmigkeit (praxis pietatis) in die universitäre Theologie einzuführen bemüht sind, ist Franckenberg dagegen nicht zufrieden. Von Johann Gerhard heißt es, der habe die Schriften Arndts verfälscht (S. 364), die Gerhard-Schüler Saubert und Dilherr seien »mehr moralisch als gottbeseelt«, und auch Johann Valentin Andreae sei nicht mehr so glühend wie früher (S. 365). Auch mit Luther ist Franckenberg nicht zufrieden, denn dieser habe zu sehr auf die Menschen vertraut, dagegen versäumt, »in geziemender Weise die Wiedergeburt zu lehren« (S. 366). Diese Lehre von der Wiedergeburt vermisst Franckenberg auch in der Confessio Augustana. (S. 371) Stattdessen empfiehlt Franckenberg die Lektüre von Pythagoras, Jamblich und die Philostrat-Biographie des Apollonius von Tyana (S. 366), auch Francesco Patrizis Nova de universis philosophia mit ihrer hermetisch-neuplatonischen Philosophie wird genannt (S. 366 f.). Die »Worte des Hermes« liest Franckenberg Seidenbecher sogar vor (S. 355/364), später dürfte er das Corpus Hermeticum zitieren, wenn es heißt: »Der Grund der Erleuchtung liegt in der Natur, nämlich im Aufgang der Sonne.« (S. 366) Von der menschlichen Vernunft und ihren Künsten hält Franckenberg gar nichts. Göttliche Erleuchtung müsse man erflehen, die Vernunft dagegen sei töricht (S. 364) und »eine kleine Hure« (S. 365). Nicht durch die Vernunft, sondern durch Suchen, Beten und Anklopfen (Mt. 7.7) finde man die Wahrheit. Den Sinn der Schrift könne man nicht im 123 Vgl. den Bericht in Franckenberg, Briefwechsel Nr. 00/00/00, S. 300 f. Das Gesprächsprotokoll Seidenbechers dort S. 355 – 363, eine neuhochdeutsche Übersetzung von Seidel, die ich im Folgenden zitiere, dort S. 363 – 371. Grundlegend zu Franckenberg die Einleitung von Telle in Franckenberg, Briefwechsel S. 17 – 57.

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Disputieren erfassen, sondern nur durch Beten erlangen (S. 367). Der Berufung auf Kabbala und Magie folgt die Äußerung, »auf Dialektik und Rhetorik könne man verzichten«. (S. 369) Die Platoniker und Pythagoräer empfiehlt Franckenberg, weil sie von Aristoteles abwichen, der im Übrigen aber sowieso untergehen werde. Melanchthon habe bei seiner Einführung in die protestantischen Schulen verantwortungslos gehandelt (S. 367), Valentin Weigel dagegen zu Recht die Universitäten angegriffen. (S. 370) In einem Brief aus demselben Jahr 1649 wird das »Buchstabische[s] SchnitzSchwätz- Holtz- und Klipper oder Pläpper, und Schatten-Werck, darinnen kein Geist, Krafft noch Wesen oder Leben zu spüren« dem Geist Gottes, durch »Bitten, Suchen und Anklopffen« zu erlangen, entgegengestellt. Dieses »Licht der Natur« habe das wahre Wissen der »Alten Kabbalisten, Magis und Chymisten« gelehrt, es werde sich vollenden mit der Ankunft des dritten Elias. Durch unablässiges, innbrünstiges Gebet, Fasten, Wachen und »eindrüngendes Ringen mit Gott« müsse man versuchen, Gott an »Wesen und Kräfften« »gleichförmig« zu werden. Das »Ergon« allen menschlichen Strebens sei die Suche des Reiches Gottes »in sich selbst«, die Erkenntnis natürlicher Geheimnisse aus dem »Licht der Natur« bilde dagegen das »Parergon«.124 Wie Suchten und Mögling parallelisiert Franckenberg beide Prozesse, wenn er die Möglichkeit in Betracht zieht, den Geist Gottes, Ruach Elohim, der bei der Schöpfung über den Wassern schwebte, in einem alchemischen Prozess zu fassen, der analog zu jener inneren Erleuchtung durch den Geist verläuft. Je weiter die Gespräche mit Seidenbecher fortschreiten, desto schwieriger wird es für Franckenberg, seine Gefühle unter Kontrolle zu behalten. Am Vormittag des 31. August trifft Seidenbecher ihn noch im Bett an, »in Tränenmeeren aufgelöst«. (S. 369) Unter Tränen berichtet Franckenberg von seiner Bekehrung und visionären Erlebnissen und Träumen. Mit einem Zitat von 1. Kor. 13 heißt es: »Das Wissen ist sicherlich nicht zu verachten, aber die Liebe (er weinte) ist die größte, wird nicht müde, nicht aufhören. Das Stückwerk wird alsdann (im anderen Leben) gestickt von Gold sein usw. (er weinte).« (S. 369) Immer wieder muss in der Folge das Gespräch unterbrochen werden, weil Franckenberg in Tränen ausbricht. Auch Seidenbecher erlebt in diesen Tagen während der Lektüre von Franckenbergs De via veterum sapientum eine Bekehrung, die die späteren pietistischen Berichte von solchen Bekehrungserlebnissen ankündigt:

124 Franckenberg, Briefwechsel Nr. 49/08/11, S. 231 – 237.

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»Er gab mir eine Handschrift ›De via veterum sapientum/ Über den Weg der alten Weisen‹ zu lesen; als ich in deren Lektüre am nächsten Tag, dem 30. [Juli], fortgefahren war, wurde ungefähr um die elfte Vormittagsstunde meine Vermutung zur Gewißheit. Es folgten Seufzer, vermischt mit unterwürfiger Dankesbezeigung und Tränen. Gott möge es gut wenden! O Herr, hilf! O Herr, laß wohl gelingen!« (S. 364 f.)

Benedikt Figulus Benedikt Figulus, dessen Leben und Werk ebenfalls Joachim Telle erschlossen hat,125 betätigte sich vor allem als Herausgeber alchemischer Werke, darunter Schriften Alexander von Suchtens und die Apocalypsis Hermetis in der Pandora magnalium naturalium aurea et benedicta, de benedicto lapidis philosophorum Mysterio (Straßburg 1608). Die Vorrede enthält einen Lebensbericht, in dem Figulus sich als Opfer der satanisch inspirierten, akademischen Wissenschaft seiner Zeit darstellt. Glücklicherweise sei ihm diese Wissenschaft aber »für vnd für/ auß sonderlicher eingebung deß H. Geistes/ suspect vnnd verdächtig« geworden. Endlich sei ihm »vmbs Jahr/ 87.88 etc.« vor allem in den Schriften des Paracelsus eine andere Philosophie begegnet, deren Studium er sich aber aus Mangel an Geld nicht hätte widmen können. »Anno 90« nämlich sei er »vom Teufel […] in groß Elend Unfall vnd Krankheit/ gestürzet« und von seiner Familie »auß Armuth halben/ wieder meinen Willen in den Mercenariat […] gedrungen worden«, also offensichtlich in eine kaufmännische Ausbildung. Es folgt der religiöse Durchbruch als Bekenntnis zum Paracelsismus. Dieser umfasse als »ein Vhralte Wahre/ Natürliche Scientia von Adam her« die Astronomie, Alchemie, Magie und Kabbala. Die »völlige erkandtniß« Adams sei nach der Sindflut »stuckweiß in vnderschiedliche Ort vnd End außgetheilt/ vnnd spargirt worden/ auch an Kräfften weit geschwächt vnd gemindert«. In Ägypten und Chaldäa sei diese Weisheit zur Zeit von Moses noch praktiziert worden. Die entscheidende Fehlentwicklung habe sich vollzogen, als die Griechen nach Ägypten und Chaldäa gezogen wären, um diese Weisheit zu lernen, dabei sich jedoch zu viel auf »ihr Vernunfft vnd eygenen Verstand« verlassen hätten, dadurch auf die List des Teufels hereingefallen und so durch »jhr Eygener hochmut vnd praesumption […] bethört/ vnnd in Jrrthum gestürzt« worden wären. Von hier nahm das Unglück seinen Lauf, indem »angeregte vermeinte Philosophey in gantz Europam außgebreitet worden/ vast alle Academien vnnd Hohe Schulen durchloffen«. Wer gegen diese Philosophie »etwas der recht 125 Telle, Figulus. Zu Figulus’ wichtiger Rolle bei Vermittlung und Druck der Rosenkreuzermanifeste Gilly, Haslmayr, S. 95 – 105.

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wahren in Gottes wort gegründeten Philosophey gemäß vorbringt«, würde »nit allein veracht/ verspottet/ vnd verlachet/ sondern ein Singularis, Ein Ketzer vnd Haeresiarcha, wie mir selbsten von etlichen Pseudo-Leviten geschehen […] gescholten/ vnd auch verfolget werden«. Infolgedessen dürfe die »Spagyrische Philosophey« nicht bei den »Doctores vnd Praeceptores bey den Hohen Schulen« gesucht werden. Die Natur erforsche man nicht aus Büchern, sondern nur aus der Natur selbst, dem »lebendigen Buchstaben«. Die vom Heiligen Geist verfasste »Chronica« dieses Buches der Natur sei die Bibel, die als solche eine Anleitung zur Lektüre des Buches der Natur darstelle. Die Frage, wozu er selbst Bücher veröffentlicht, wenn alles Wissen doch allein aus der Natur und Bibel zu beziehen ist, stellt sich Figulus – wie so viele andere Paracelsisten – nicht. Man mag auch das als Indiz dafür werten, dass das Entscheidende an einem Werk wie der Pandora magnalium naturalium nicht das Wissen ist, das sich in ihr findet, als vielmehr die Behauptung, dass es sich dabei um göttlich inspiriertes Wissen handle.

Adam Haslmayr und Daniel Mögling Figulus gehört zu den engsten Vertrauten Adam Haslmayrs, mithin jenes Tiroler Dorfschulmeisters, der schon 1611 eine Abschrift der Fama fraternitatis in Händen gehabt und in seiner Antwort An die lobwürdige Brüderschafft der Theosophen von RosenCreutz (1612) als erster Aufnahme in die Brüderschaft begehrt hat. Mit Haslmayr beginnt damit die paracelsistische Rezeption der Rosenkreuzer-Manifeste, bevor diese überhaupt im Druck erschienen waren. Carlos Gilly hat die abenteuerlichen Lebensumstände Haslmayrs rekonstruiert und damit einen unersetzlichen Einblick in die Sozialgeschichte der ›theophrastia sancta‹ gegeben.126 Um 1594 zum Paracelsismus bekehrt, erhält der bis dahin unauffällige Haslmayr schon 1603 von der katholischen Obrigkeit eine Art Berufsverbot wegen seines Paracelsismus, indem man ihm nicht mehr die Kinder überlassen will. 1611 gerät Haslmayr in Schwierigkeiten, als er den Jesuiten Hippolyt Guarinoni wegen seiner antiparacelsistischen Äußerungen angreift. Weil Guarinoni sich jedoch höchster Protektion versichern kann, wird Haslmayr verhaftet und zu einer viereinhalb jährigen Galeerenstrafe verurteilt. Ende 1612 ist Haslmayr bereits auf einer Galeere angekettet, die als Transportschiff zwischen Genua und Messina verkehrt. Namhafte Paracelsisten, unter ihnen Fürst August von Anhalt, setzen sich erfolglos für seine Freilassung ein. Zu den wenigen Büchern, die er auf die Galeere schmuggeln konnte, gehören die Basilica chymica Oswald Crolls und die Archidoxa des Paracelsus. (Gilly 126 Vgl. Gilly, Haslmayr. Alle Seitenangaben im Text beziehen sich auf diese Arbeit.

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S. 152) Selbst unter diesen widrigen Umständen setzt Haslmayr seine rege schriftstellerische Arbeit fort. Auf der Galeere verfasst er eine handschriftlich erhaltene, in Anspielung auf die gleichnamige Schrift des Paracelsus Philosophia sagax genannte Abhandlung, die nach der Zusammenfassung Gillys zu urteilen voll ist von der Berufung auf den »Gaist Gottes«. Die »Mineralischen Medicamenta«, »so aus Meiner und anderer Experientz kommen«, »gratiae Dei spiritu« enthüllt, stellt er den wirkungslosen Heilmitteln der Schulmedizin entgegen, die »sich nur auf Verborum lenocinia und logische Possen und PoÚterey¨en, Rhetoric und dergleichen begeben und Iere Patienten darmit ersettigen und curieren wollen«. (Gilly S. 153 f.) In einer anderen, handschriftlich erhaltenen Schrift aus der Gefangenschaft, dem Lumen novum phisices intactae (1616), deren Titelblatt ein Zitat aus dem Poimander ziert, hat Haslmayr seine Glaubensüberzeugungen in sieben Paragraphen zusammengefasst. Der erste Paragraph lautet, dass nicht Fleisch und Blut den Menschen ausmache, »sonder der Geist Gottes, das ist, das spiraculum vitae«. Dieser Geist Gottes sei »das verständlich Liecht in uns allen, welches alle Menschen erleucht« und bilde den Gegenstand der Alchemie. (Gilly S. 172) Haslmayr ist es auch, der den Begriff der »theophrastia sancta« prägte, den Gilly übernommen hat, um das Wesen des Paracelsismus als Religion zu bezeichnen.127 Mit ihrer Berufung auf die »drei cabalistischen Prinzipien« Bitten, Suchen und Anklopfen (Mt. 7.7) ist diese Religion auch bei Haslmayr gegen die »vermeinten Hohen Schulen« gerichtet. Hätte man in den letzten hundert Jahren, seit dem Auftreten des Paracelsus, dessen Schriften statt der heidnischen Philosophie an den Universitäten studieren lassen, wären heute schon genug Magier und Theosophen vorhanden, um die »hergelaufenen falschen Lehrer«, nämlich »den Papst, Luther, Calvin und dergleichen« zu überwinden.128 Mit Weigel und Arndt lehnt Haslmayr jede »Mauerkirche« ab und fordert eine Kirche des Geistes, die allein auf dem Wort Gottes beruhe, das mit dem ›Fiat‹ der Schöpfung (also mit dem Aufgang der Sonne) allen Kreaturen inkarniert sei. Vollends in das Rosenkreuzertum hinüber führt Daniel Mögling, der in seinem Speculum sophicum rhodo-stauroticum (1618) nicht nur, wie oben gezeigt, in kaum mehr verschlüsselter Weise den spiritus mundi mit dem spiritus sanctus identifiziert, sondern auch scharf gegen die akademische Gelehrsamkeit polemisiert.129 In der Rosa florescens (1617) bezeichnet Mögling es als »eytele imagination«, zu glauben, es werde mit Sprachkenntnissen oder »mit vnnötigen zänckischen 127 Zur theophrastia sancta Gilly, Haslmayr, S. 187 – 201, sowie die ausführliche Darstellung in Gilly, Theophrastia Sancta. 128 Gilly, Haslmayr, S. 193. Die Zitate aus Haslmayrs Pansophia illuminati cuiusdam viri, 1619. 129 Mögling, Speculum, S. 17. Zu Mögling auch oben Kapitel IV.1, S. 144 ff.

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disputirn in scientiis et artibus« (f. A iiv f.) irgendetwas ausgerichtet. Was für die Rosenkreuzer zähle, sei nicht rhetorische Eleganz (»zierlichkeit vielerhand Zungen«), sondern die »Realia naturae«. Statt sich um diese zu kümmern, sei es heute jedoch »der gelehrten gröste kunst/ von zweifelligen quaestionibus ein gantzen tag fein pure pute Logice ohne betrachtung der sachen selber zu discurirn, quo finito, idem plerunque norunt, quod ante. Sie sehen auff die Terminos vnnd lassen die res, nehmen den schatten für die Wandt/ wollen dannoch Physici, Naturkündiger vnd hochgelehrte köpff sein«. (f. A iijr)

Die Rosenkreuzer dagegen studierten keine Bücher, sondern »das Ewige Einige Waare Buch deß lebens/ darinn alle künst/ wissenschafft vnd vor Menschlicher vernunfft vnmögliche sachen verborgen«. (f. B ijr) Zurück in sich selbst müsse man kehren und den Ursprung suchen, nämlich den Geist, das »Centro der natur«. Von ihm könne man »in einem stillen Sabbath« alles lernen, was man überhaupt lernen könne. Wer in diesem dem »Buch deß Lebens/ Liber Naturae, Liber Mundi« »mit den Augen deß geistlichen verstandes« lesen könne, sei »weiser vnd gelehrter«, als wenn er »aller Philosophorum, Poetarum, Oratorum, oder Grammaticorum schrifften gelesen/ ja viel hundert Sprachen« könnte, »die so vorschüblich nicht seyn/ als ein einger solcher Sabbath«. (f. C ijr) Kern des »Magnum librum Naturae mit seinen von Gott imprimirten signaculis vnd Characteribus« ist der »spiritus mundi universalis«, (f. Bv) der auch der spiritus ist, der als ein göttlicher »mit dem finger Gottes eingeschrieben« ist »in aller Menschen hertzen.« (f. B8r)

Der bedingte Antiakademismus der traditionellen Alchemie und seine Überwindung Die Polemik gegen die akademische Vernunft und ihre Rituale (genauso wie die Berufung auf die sinnliche Erfahrung der Natur) findet sich auch bei Vertretern der traditionellen alchemia transmutatoria oder technica (Bergbau etc.), insofern diese Alchemie immer schon außerhalb der Universitäten ihre Heimat hatte. Im Kleinen Baur (1617) des Johann Grasse, der zu dieser traditionellen Alchemie gehört, ist der Protagonist deshalb ein Bauer, weil er als solcher das akademische Wissen seiner Ungültigkeit und Nutzlosigkeit überführt. Der Ich-Erzähler ist dort verwundert über das Wissen des Bauern und fragt ihn, auf welcher Universität er dieses Wissen erworben habe. Darauf antwortet der Bauer, dass »Weißheit oder Philosophia« nicht bei deren »Verächtern« zu finden seien. Zwar unterhielten die »grossen Herren vnd Potentaten« auf ihren

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Universitäten viele Philosophen »mit grosser Besoldung«, aber herauskommen sei bei ihren sinnlosen Streitereien nichts.130 Der Gegensatz zur »wahren Philosophie« der Alchemie als einer Naturerfahrung ist im Kleinen Baur aber nicht göttliche Inspiration, Magie und Kabbala, sondern ein Wissen der Natur, das als ein Erfahrungswissen aus der Arbeit mit den eigenen Händen gewonnen wurde. Der »Philosophus Chemicus« müsse ein »Contemplator vnnd aemulus naturae« sein, das aber könne er nur, wenn er auch ein »Bergkmann« sei: »Er muß sich in den Berg lassen/ durch die stollen vnd Schacht fahren/ der jnnwendigen Beschaffenheit/ der Gängen vnnd Klüfften warnemmen/ deß Ertzes anbruch besuchen/ da die Bergknappen jhr Läger haben/ allenthalben den Augenschein einnehmen/ vnd aller Nothdurfft sich erkundigen.« (Widmung, f. † 3r f.) In unmittelbarem Gegensatz zur paracelsistischen Berufung auf göttliche Inspiration und das Licht der Natur heißt es, diejenigen, die sich »ohne solche Einfahrt in das Bergwerck/ vnd Erkündigung dieses Special-wercks der Natur« auf die Alchemie verlegen wollten und also allein »durch Gottes sonderbahre Schickung vnd verliehene Gnad« am lapis philosophorum arbeiteten, hätten »auch vmb so viel Mangel vnd Verdruß ab jhrer Vnerfahrenheit/ vnd müssen sich an statt deß Augenscheins mit guter Leut Bericht sättigen lassen.« (Vorrede, f. †v f.) Das ist das Gegenteil zu den Paracelsisten, die auf sinnliche Erfahrung, nicht aber auf göttliche Gnade verzichten können. Was sich im Kleinen Baur ebenfalls nicht findet, ist die Verabsolutierung der Kritik der Universitäten zu einer grundsätzlichen Vernunftkritik, wie sie auf Seiten des Paracelsismus insbesondere die allgegenwärtige Verschmelzung der Alchemie mit Magie und Kabbala erkennen lässt. Mit dem Werk von Libavius vollzieht sich um 1600 eine Wende, insofern Libavius die (Al-) Chemie als akademische Wissenschaft etablieren will und dabei sich nicht nur scharf von der Theoalchemie des Paracelsismus abgrenzen, sondern auch das bloße Erfahrungswissen und die Arkansprache der traditionellen Alchemie in eine universitäre Disziplin überführen muss. Insbesondere wendet Libavius – der seine akademische Karriere mit Dialektik-Lehrbüchern in der Tradition Melanchthons begonnen hat – die Logik als eine Methodik des Wissens auf die Alchemie an. Der systematische Aufbau der Alchymia, der aus dieser das erste Handbuch der Chemie macht, ist das Ergebnis. Derselbe Impuls einer akademischen Etablierung der Chemie und Pharmazeutik ist bei Daniel Sennert am Werke, auch er Professor in der Schultradition Melanchthons. Sennert überkommt das schiere Grauen bei der Vorstellung einer Medizin ohne logisch korrekte Schlüsse. Die Logik allein lehre das Wahre vom Falschen unterscheiden, und von ihr sage Paracelsus, dass sie der Medizin 130 Grasse, Der kleine Baur, S. 16 f. Zu diesem Text auch oben S. 161 f.

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entgegengesetzt sei. Wenn diesem Beispiel alle Mediziner folgten, dann stünden der Barbarei alle Tore offen.131 Aber was solle man von einem Mann wie Paracelsus auch anderes erwarten, der nicht einmal die deutsche Sprache richtig beherrschte, von der lateinischen gar nicht zu reden. Dem grundsätzlichen Anliegen von Libavius und Sennert, die Chemie als wissenschaftliche, akademische Disziplin zu etablieren, musste der Paracelsismus wegen seines Spiritualismus und der in ihm begründeten Ablehnung einer wissenschaftlichen Methodik und Sprache als entscheidendes Hemmnis erscheinen.

4.

Zusammenfassung

Lebensläufe wie die von Suchten, Figulus, Haslmayr oder Franckenberg mit ihrer maximalen Entfernung vom durchschnittlichen Lebenslauf und der Karriere eines frühneuzeitlichen Akademikers sind mehr als symptomatisch für den Paracelsismus. Sie bilden seinen sozialhistorischen Kern. Der Paracelsismus ist eine Bewegung, die sich – wenigstens in ihrer Frühphase – außerhalb der Universitäten abspielt. Das Wissen des Paracelsismus ist ein aus der ›Natur‹, das heißt aus dem Geist Gottes, der die Natur beseelt, inspiriertes Wissen. Dieses Wissen erschließt sich deshalb auch nicht durch rationale Operationen, sondern durch den Verzicht auf die Vernunft, durch eine Einkehr in den Grund der Seele. Für diese Einkehr braucht man nicht nur keine universitäre Ausbildung, sondern diese Ausbildung stellt geradezu einen Irrweg dar, eine Entfremdung und Abkehr von der Inspiration der Natur, die sich vor dem Ofen des Alchemikers in der Kontemplation chemischer Prozesse abspielt, oder draußen, unter freiem Himmel, beim Aufgang der Sonne. Es gehört zur Ironie der Geschichte, dass es mit Johann Hartmann dennoch ausgerechnet ein Paracelsist war, wenn auch ein gemäßigter, der 1609 in Marburg auf den ersten Lehrstuhl für Chemiatrie berufen wurde, sehr zum Missfallen des Gegenkandidaten, Andreas Libavius.132 Die Berufung zeigt nicht nur, dass die Paracelsisten mit ihrer Propaganda Erfolg hatten, sondern auch, dass der Paracelsismus sich zwar einerseits auf ein elitäres Außenseitertum berief, andererseits aber nach akademischer Anerkennung seines Wissens strebte. Mit der Alchemie berufen sich die Paracelsisten auf eine Tradition, deren Wissen schon immer zum großen Teil außerhalb der Universitäten, in der ›Erfahrung‹ der Natur, an der Grenze zum Handwerk und zum Bergbauwesen, 131 Sennert, De consensu, S. 37. 132 Zu Hartmann vgl. Moran, Alchemical World, bes. S. 50 – 67. Eine Paraphrase seiner Antrittsrede in: Melanchthon und die Marburger Professoren Bd. 2, S. 533 – 543.

Zusammenfassung

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angesiedelt war. Mit ihrer Arkansprache bediente sich die traditionelle Alchemie zudem einer Sprachform, die dem paracelsistischen Spiritualismus und seinem elitären Programm entgegenkommen musste. Das Schlagwort, mit dem sich die Paracelsisten aber auf eine möglichst offensive Weise von der akademischen Gelehrsamkeit und ihrem ›toten‹ Bücherwissen abgrenzten, war Magie. Als Magie und Ausdruck eines uralten, in adamitische Zeiten zurückreichenden Geheimwissens (prisca sapientia) befand sich der Paracelsismus in radikaler Opposition zur akademischen Gelehrsamkeit und ihrem ›toten‹ Bücherwissen. Der Magier, der die verborgenen, nämlich spirituellen Kräfte der Natur beherrscht, ist der paracelsistische Gegenentwurf zum Akademiker, der mit seinem bloß theoretischen und rationalen Bücherwissen nichts bewirken kann.

V.

Alchemie zwischen Dichtung und Naturphilosophie in der Atalanta fugiens

Die Atalanta fugiens Michael Maiers genießt in den esoterischen Strömungen der Moderne einen ähnlichen Ruf wie die Rosenkreuzer-Manifeste. Sie gilt als Ausdruck eines hermetischen Okkultismus und ihr Verfasser als Besitzer des Steins der Weisen, der 1622 nicht gestorben ist, sondern es lediglich vorgezogen hätte, in den Untergrund zu gehen. Im Gegensatz zu diesem volkstümlichen Bild wird zu zeigen sein, dass Maier weder einen hermetischen Okkultismus vertritt, noch an die Existenz einer lebensverlängernden Medizin glaubt. Die Alchemie Maiers ist keine spiritualistische oder paracelsistische, sondern die poetische Transformation einer älteren, traditionellen und theologisch unauffälligen Alchemie. Dennoch kann Maier zurecht als Hermetiker bezeichnet werden, wenn unter »Hermetismus« die Berufung auf Hermes Trismegistus als Verfasser der Tabula smaragdina und mythischer Gründungsheros der Alchemie verstanden wird. Dieser alchemische Hermetismus ist in seinen naturphilosophischen Grundlagen allerdings aristotelisch und in seinen theologischen lutherisch. Michael Maier ist kein Paracelsist, Schwärmer oder Enthusiast, sondern ein Humanist, der mit der Atalanta in der Tradition der späthumanistischen, neulateinischen Formkultur steht. Die Atalanta ist Dichtung in dem Sinne, dass sie naturphilosophische Lehrinhalte anschaulich darstellt. Sie bedient sich der traditionellen alchemischen Arkansprache nicht mehr zum Zweck der Geheimhaltung, sondern als ein poetisches Medium. Diese Poetisierung der alchemischen Arkansprache vollzieht sich gleichzeitig mit deren Entwertung innerhalb einer Alchemie, die sich – paradigmatisch im Werk des Libavius – als Laborpraxis und experimentelle Erforschung der Natur zu verstehen beginnt.

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Alchemie und Dichtung Michael Maiers Atalanta (1617/18) besteht aus fünfzig Kapiteln, die sich jeweils aus einem Emblem, einer dreistimmigen Fuge mit lateinischem Text, einem sechszeiligen Epigramm in deutscher und lateinischer Fassung und einem zweiseitigen, lateinischen »Discursus« zusammensetzen. Neben dieser in der Geschichte der Alchemie einzigartigen Kombination von Bild, Text und Musik1 war es vor allem die Qualität der Kupferstiche (sie werden Matthias Merian d.Ä. zugeschrieben), die das Werk berühmt machten. Noch 1708 erschien unter dem Titel Chymisches Cabinet eine deutsche Übersetzung, die allerdings ihrerseits nicht auf die Atalanta zurückgeht, sondern auf die unter dem Titel Secretioris naturae secretorum scrutinium chymicum 1687 erschienene, um die Fugen gekürzte Ausgabe.2 Der Titel der Atalanta fugiens bezieht sich auf den antiken Mythos der Atalanta (Ovid: Metamorphosen X.560 – 704), die dem Freier zur Braut versprochen war, der sie im Wettlauf besiegte. Erst Hippomenes gelang dies, indem er während des Wettlaufs drei goldene Äpfel fallen ließ, die er zuvor von Venus bekommen hatte. Atalanta hebt die Äpfel auf und wird von Hippomenes besiegt. Beide vollziehen die Hochzeit ausgerechnet im Tempel der Kybele, weshalb sie von dieser zur Strafe für die Entweihung des Tempels in Löwen verwandelt werden. Der Mythos der Atalanta hat für das Werk aber keine narrative Bedeutung, sondern dient nur als Rahmen, insofern die Personen des Mythos in den drei Stimmen der Fuge wiederkehren. Die erste Stimme des Kanons bildet die »immer flüchtende« Atalanta, die »vox fugiens«, die von der zweiten Stimme, Hippomenes, der »vox sequens«, verfolgt wird. Die dritte Stimme ist der goldene Apfel, die als »vox morans« (»verzögernde Stimme«) den cantus firmus bildet. Auf der Ebene der alchemischen Allegorie, wie Maier sie im Vorwort auflöst, ist Atalanta der »flüchtige« Mercurius Philosophicus, also das Quecksilber, der von Hippomenes, dem Sulphur, auf der Flucht – nämlich in der fuga, der Flucht – 1 Zur Musik in der Alchemie Meinel, Alchemie und Musik. Den Stand der Maier-Forschung definiert Leibenguth, Hermetische Poesie des Frühbarock, dem meine Ausführung stark verpflichtet sind, außerdem Tilton, Quest, dessen historische Einordnung der Alchemie Maiers ich allerdings nicht teile. Immer noch unersetzlich für jede Beschäftigung mit der Atalanta ist de Jong, Maier’s Atalanta fugiens. 2 Vgl. die Neuausgabe, hg. v. Thomas Hofmeier. Die Übersetzung selbst, die ich in der Folge zitiere – abgekürzt als Maier, Cabinet, im Unterschied zum lateinischen Original, auf das ich mit Maier, Atalanta verweise – ist im Allgemeinen zuverlässig. Leider ist sie durch zahlreiche Druckfehler entstellt, die der Herausgeber selten erkannt hat. Ich korrigiere diese Druckfehler in eckigen Klammern.

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durch den goldenen Apfel »fixiert«, also chemisch gebunden wird.3 Schon dieses Wortspiel mit der Doppelbedeutung von fuga als »Flucht« und »Fuge«, gespiegelt in den sich verfolgenden Stimmen des Kanons, zeigt den intellektuellen Gestus Maiers. Die fünfzig Embleme der Atalanta sind nicht als fortlaufende Erzählung zu lesen, sondern bilden chemische Prozesse ab oder sind allgemein naturphilosophischen Betrachtungen gewidmet. Die Atalanta eignet sich damit weniger für eine lineare, sukzessiv fortschreitende Lektüre als für eine partiell und punktuell verfahrende. Sie impliziert schon mit ihrer Form nicht einen Leser, der sich ein bestimmtes Wissen möglichst schnell aneignen will, sondern einen Leser, der sich in Texte, Bilder und Melodien vertieft. Diese Rezeption der Atalanta in Form einer andächtigen Versenkung bestätigen die »Discursus«, die den Emblemen beigegeben sind. Sie dienen weniger einer Erklärung der Embleme als deren Auslegung, wobei »Auslegung« so zu verstehen ist, dass zuweilen mehrere Deutungsmöglichkeiten des Emblems gegeben werden, zuweilen aber auch das Emblem nur den Ausgangspunkt für eine Reihe von lose miteinander verbundenen Reflexionen abgibt. Als motivisches Material verwendet Maier in der Atalanta vor allem, wenn nicht ausschließlich, traditionelles und altbekanntes Bildgut. Symptomatisch ist die alchemische Allegorese antiker Mythen, etwa im Emblem 23 die Geburt der Pallas Athene aus dem Kopf Jupiters oder im Emblem 41 der Adonis-Mythos. Daneben findet sich tradierte alchemische Bildlichkeit, wie im dritten Emblem das Waschen des Leinens, im achten Emblem das Zerspalten des Eies, im siebzehnten Emblem die vier Arten des Feuers, oder, im letzten Emblem des Buches, der Drachen, der eine Frau tötet und sich im Grab mit ihrem Blut vermischt. Man findet aber auch die alchemische Ausdeutung biologischer Prozesse, wie im 32. Emblem die Versteinerung der Korallen, wenn sie an die Luft kommen. Gleich das erste Emblem demonstriert das mächtige Erbe der hermetischen Tradition in der Atalanta fugiens. Das Emblem zitiert schon in seinem Titel die dem Hermes Trismegistos zugeschriebene Tabula smaragdina. »Der Wind hat ihn in seinem Bauch getragen« lautet dieser Titel. Die Herkunft des Zitats findet sich in den ersten Sätzen des Discursus benannt, wenn es dort heißt: »Der fürtreffliche Natur-Kündiger Hermes in seiner ›Schmaragdinischen Tafel‹, beschreibet das Werck der Natur mit kurtzen Worten gar deutlich, wann er also hervor spricht: Der Wind hat es in seinem Bauch getragen; Will damit anzeigen, daß das jenige Ding wessen Vatter die Sonne, die Mutter aber der Mond ist, von dem windigten Rauch, als wie der Vogel von der Lufft getragen werde, ehe es ans Licht komme.«4

3 Maier, Atalanta, S. 9. Nicht in der Fassung von 1687 und ihrer deutschen Übersetzung. 4 Maier, Cabinet S. 80, Atalanta 1, S. 14.

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Abbildung 7: Michael Maier : Atalanta fugiens, erstes Emblem.

In dieser allegorischen Sprache ist der gesamte Discursus gehalten. Er gibt keine eindeutige Antwort auf die Frage, was es ist, was der Wind in seinem Bauch trägt – es dürfte sich um den spiritus mundi handeln (vgl. oben S. 161) –, sondern nennt eine ganze Reihe von Antworten. Chemisch sei dies auf den Schwefel zu beziehen, der im Quecksilber stecke, physiologisch auf die »Frucht«, also das Kind, das »behend ans Tages Licht will«, arithmetisch auf die Quadratwurzel, musikalisch auf die Quinte, geometrisch auf den »Anfangs-Punct einer fortstreichenden Linie« und astronomisch auf den »Mittel-Punct des [der] Planeten Saturni, Jovis & Martis«.5 Angesichts einer solchen Reihung von Deutungsmöglichkeiten stellt sich die Frage, was der Zweck dieses Werkes und seiner synästhetischen Kombination von Bild, Text und Musik ist.

5 Maier, Cabinet S. 80, Atalanta 1, S. 14.

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Die ›Erkenntnistheorie‹ der Atalanta Der Gedanke liegt nahe, dass Maier sich die synästhetische Wirkung der Atalanta im Sinne von Marsilio Ficinos natürlicher Magie denkt, wie dieser sie vor allem in seinen De vita libri tres (1489) entwickelte und Agrippa von Nettesheim sie in De occulta philosophia ausgeführt hatte. Hier ist es die über die kosmischen Analogien vermittelte Kraft der Sterne, die durch bestimmte Klänge, Bilder, Figuren, Bewegungen und Substanzen in die sublunare Welt herabgezogen wird. Der Arzt und Magier Ficinos manipuliert die kosmischen Kräfte und kann dadurch auf das Leben und die Gesundheit des Patienten Einfluss nehmen. Wie man sich Leben von den Himmeln erwirbt, lautet der Titel des dritten Buches. Insbesondere der Vorstellungskraft (imaginatio, phantasia) des Menschen kommt dabei eine wichtige Rolle zu, insofern sich die astralen Kräfte in der menschlichen Vorstellungskraft abbilden müssen, um ihre Wirkung im Körper entfalten zu können. Pico della Mirandola dachte sich die Orphischen Hymnen durch ihre musikalische Form und deren Wirkung auf die Seele als die wirksamste Form der Magie.6 Ein ganz ähnliches Modell, wenn auch wahrscheinlich unabhängig von Ficino entwickelt, liegt der paracelsischen Medizin mit der sogenannten Impressionstheorie zugrunde. Oswald Croll entwickelt sie in der Vorrede zu seiner Basilica chymica (1609). Auch hier kommt der imaginatio oder Vorstellungskraft des Patienten eine wichtige Rolle zu, indem die Vorstellung von Dingen mit bestimmten Eigenschaften diese Eigenschaften im Körper des Patienten aktualisiert.7 Man könnte sich demnach die supponierte Wirkung der Atalanta so vorstellen, wie es Khunraths Kupferstich des »Oratorium-Laboratorium« aus dem Amphitheatrum (1595/1609) darstellt (vgl. Abbildung 3 oben S. 140). Der Alchemiker kniet vor einer Art Altar, auf dem ein Buch mit magischen Symbolen liegt, vielleicht sogar das »Amphitheatrum« selbst.8 Die auf dem Tisch im Vordergrund liegenden Musikinstrumente wären auf die magische Wirkung der Musik zu beziehen, die die Lektüre begleitet. Bilder und Musik wären gleichgerichtete, magische Operationen, die den Alchemiker durch die Impression seiner Vorstellungskraft verändern.9 Aber diese Parallelisierung von Khunrath und Maier und die damit implizierte magische Deutung der Maierschen Fugen sind sicherlich falsch. Das ma-

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Pico, Conclusiones, S. 80. Croll, Basilica, S. 83 f. Zu Khunraths Amphitheatrum oben Kapitel IV.1, S. 138 ff. In diesem Sinne Szulakowska, Alchemy of Light, S. 158 und Gouk, Doctors and Practitioners, S. 175.

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gische, neuplatonische Modell ist nicht das Modell, nach dem sich Maier die Lektüre seiner Atalanta gedacht hat. Vielmehr heißt es im Vorwort zu dieser : »Dieses nun sind PoÚtische Gedichte, verblümte Redens-Arten, Bilder und Emblemata […], die allein nach dem Verstand ergründet […] werden wollen, und weilen ihre Wissenschafft mehr auff die Vernunfft als den blossen äusserlichen Verstand gegründet ist, so ist auch ihr Gebrauch um so viel nützlicher und angenehmer. Sollten aber selbige am Anfang auff den Verstand fallen, so ist leicht zu glauben, daß sie sich alsdann gleich als durch eine Thür auch von dem Verstand zur Vernunfft wenden werden.«

Mit der tabula-rasa-Metapher des Aristoteles (De anima III.4 – 5) heißt es weiter : »Nichts ist im Verstand zu finden, welches nicht vorhero die Sinnen durchwandert, und ist das unschuldig neugebohrne Kind einer Tafel gleich in welcher noch nichts zwar geschrieben, doch vermittelst seiner Sinnen als mit einem Griffel, alles eingegraben werden kan.«10 Das ist klassisch aristotelische Erkenntnistheorie, wie sie in unzähligen Formulierungen in der Schulphilosophie der Frühen Neuzeit zu finden ist. Sie richtet sich mit dem Bild von der »leeren Tafel« des Verstandes gegen das platonische Bild einer Erkenntnis als Wiedererinnerung. Mit dieser Erkenntnistheorie übernimmt Maier das Modell, das er als Lutheraner aus seinen Schulbüchern kannte. In Melanchthons Liber de anima, das an allen protestantischen Schulen und Universitäten zum Grundbestand der Lehre gehörte, findet sich dieses Erkenntnismodell ausführlich entwickelt. Von größter Bedeutung ist dabei, dass in dieser aristotelisch-melanchthonischen Erkenntnistheorie mit ihrer Vorstellung vom Verstand als einer »leeren Tafel« und der Herkunft allen Wissens aus der Sinnlichkeit der phantasia oder imaginatio keine größere Bedeutung zukommt. Zwar ist nach Aristoteles ein Denken ohne die Bilder der imaginatio nicht vorstellbar, auf der anderen Seite sind diese Bilder jedoch nur Supplemente des abstrakt-begrifflichen Denkens. So liest es sich auch bei Maier, wenn er die supponierte Wirkung der Embleme und der Musik so erklärt, dass diese durch die Sinne auf den Verstand wirken sollen, von wo aus sie sich dann an die Vernunft als die höchste Instanz wenden können. Die imaginatio ist dabei nur ein bildgebendes Vermögen auf dem Weg von den Sinnen zur Vernunft. Die bildliche und musikalische Darstellung hat die Aufgabe, als sinnliche die imaginatio so anzusprechen, dass Verstand und Vernunft aufmerksam werden und den verborgenen Sinn zu entdecken versuchen. Zweck der bildlichen Darstellung ist die Anregung des Lesers zur Entschlüsselung des Dargestellten. Diese Ausrichtung auf den Intellekt ist von den ersten Sätzen der Atalanta an gegenwärtig, wenn Maier bereits in einem Epigramm auf der Rückseite des 10 Maier, Cabinet S. 77, Atalanta S. 8 f.

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Titelblattes schreibt, er würde die Fugen dem Gehör und die Embleme den Augen vorlegen, die Vernunft müsse jedoch deren Geheimnisse entschlüsseln. Ein »Lockvogel« (illex) für die Sinnlichkeit sind die Embleme, aus denen der Intellekt erfassen müsse, was sie an Wertvollem verbergen.11 Wenn im Verstand nichts ist, was nicht vorher in den Sinnen war, dann haben Dichtung, Musik und Malerei, wie sie die Atalanta versammelt, in der Tat eine wichtige Aufgabe. Als ›bildliche‹, sinnliche, die imaginatio ansprechende Verfahren sind sie ein Mittel, den Verstand überhaupt erst einmal zu erreichen.

Der Antiplatonismus der Atalanta Im Discursus zum 21. Emblem zitiert Maier anlässlich des geometrischen Wissens die Anamnesis-Theorie, wie sie Platon in seinem Phaidros vorgeführt hatte. Anhand eines ungebildeten Sklaven demonstriert Sokrates dort, wie mit Hilfe der richtigen Fragen auch dieser Sklave zur ›Wiedererinnerung‹ seines angeborenen, geometrischen Wissens gebracht werden kann. Maier zitiert diese Anamnesis-Theorie allerdings nur, um sie dann mit den Worten: »Dieses alles aber ist ohne Fundament und ein blosser Traum« vollständig zu verwerfen. Vernunft und Erfahrung, ratio et experientia, pflichteten dem Aristoteles bei. (»At ultimo [Aristoteles] astipulatur ratio et experientia.«)12 Phantasia und imaginatio werden dagegen ausdrücklich mit Platon identifiziert, und zwar im negativen Sinn von »Phantasterei«. Ironisch fügt Maier hinzu, dass es im Übrigen schwer verständlich sei, warum den in der Geometrie Unkundigen der Zugang zur platonischen Akademie verwehrt gewesen sei, wenn dieses geometrische Wissen allen Menschen, ja sogar den »kleinen Knaben« angeboren sei. Diese Polemik gegen Platon richtet sich auch gegen die Paracelsisten. Dem Vorwort von Crolls Basilica chymica zufolge kommt der Mensch keineswegs als tabula rasa auf die Welt. Vielmehr trägt er von Geburt an den göttlichen Geist in sich. Er präexistiert geradezu in der göttlichen Intelligenz. (bes. S. 32 ff.) Der Mensch trägt alles Wissen in sich. Explizit bezieht Croll dies auf die platonische Theorie der Anamnesis. (S. 26 f.) Ein weiterer Beleg für den Aristotelismus Maiers findet sich im Examen fucorum, einer Schrift, in der die Schwindeleien der falschen Goldmacher aufgedeckt werden. Das Bildungsideal, das Maier in dieser Schrift von einem angehenden Alchemiker entwirft, ist stark humanistisch geprägt. Eine gründliche Ausbildung in Grammatik, Rhetorik, Poetik und Logik fordert Maier dort als 11 Maier, Atalanta S. 2. Das Epigramm wurde nicht in die Fassung von 1708 aufgenommen. 12 Maier, Cabinet S. 160, Atalanta 21 S. 94.

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notwendige Voraussetzung jeder Beschäftigung mit der Alchemie.13 Alchemie und Humanismus, Naturkunde und Buchgelehrsamkeit stehen für Maier demnach – anders als für die Paracelsisten – nicht in Widerspruch. Vielmehr findet sich die Erfahrung, die experientia, auf Seiten der humanistischen Buchgelehrsamkeit. Diese Beobachtung bestätigt das 42. Emblem, dessen Titel lautet: »Denen, die sich um die chemische Kunst bemühen, seien die Natur, die Vernunft, die Erfahrung und die Lektüre eine Führerin, ein Stab, eine Brille und eine Lampe.« Der Discursus führt aus, dass die Natur als Führerin zu verstehen ist, wobei der Blumenstrauß und die Steine, die sie in Händen trägt, das vegetabilische und das mineralische Reich symbolisieren. Der Erforscher der Natur, der im wörtlichen Sinne auf ihren Spuren wandelt, braucht einen Wanderstock, das ist die Vernunft, und er braucht eine Brille, um die Spuren der Natur erkennen zu können, das ist die Erfahrung. Die Lampe, die ihm den Weg zeigt, ist die Lektüre. Von dieser Lektüre heißt es, sie »öffnet den Verstand und giebt dem Begierigen Leser ein Liecht: dann ohne dieses sind nichts als Finsternuß und dunckle Wolcken zu sehen.«14 Wieder sind ratio und experientia (als Wanderstock und Brille) die zwei Mittel der Erkenntnis, und wenn man Maier nicht der groben Fahrlässigkeit bezichtigen will, dann wird man in Kombination der Kapitel 21 und 42 sagen müssen, dass die Lektüre, die dem Naturforscher den Weg weist, die Lektüre der aristotelischen Schriften ist. Wer die Geheimnisse der Natur erkunden will, wie es der Untertitel der Atalanta anzeigt, der muss Bücher lesen und lernen wollen, er muss studiert haben. Dass es sich auch hier wieder um eine bewusste Stellungnahme Maiers handelt, zeigt noch einmal das Amphitheatrum Khunraths. Dort heißt es unter dem Emblem der Eule: »Was helffen Fakeln Licht oder Briln, so die Leut nicht sehen wollen.« Anders als für Maier handelt es sich also für Khunrath nicht um ein Problem des Sehen-Könnens als vielmehr um eines des Sehen-Wollens.15 Maiers Berufung auf Lektüre und Studium steht damit auch in deutlichem Gegensatz zu Khunraths Berufung auf göttliche Inspiration.

13 Maier, Examen fucorum Pseudo-Chymicorum, S. 83. 14 Maier, Cabinet S. 245, Atalanta 42, S. 179. Auch im Discursus zum 27. Emblem, das einen Mann ohne Füße vor einem verschlossenen Garten zeigt, heißt es, jede Kunst brauche zwei Füße, ratio und experientia. Vgl. Maier, Atalanta 27, S. 118, Cabinet S. 184. Grundsätzlich ist die Berufung auf ratio und experientia wenig spezifisch, vgl. Schipperges, Topos von ratio et experimentum. 15 Auf die Analogie von Maiers 42. Emblem und der Eule Khunraths hat Töllner, Unendlicher Kommentar, S. 224 hingewiesen.

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Abbildung 8: Michael Maier: Atalanta fugiens, Emblem 42.

Der Antiparacelsismus der Atalanta Maiers Ablehnung des Paracelsismus ist schon daran zu erkennen, dass die DreiPrinzipien-Lehre des Paracelsus in der Atalanta keine Rolle spielt.16 Maier übernimmt stattdessen die traditionelle, aristotelische Vier-Elementen-Lehre. Diese Vier-Elementen-Lehre bildet den Ausgangspunkt einer QuecksilberSchwefel-Alchemie, wie sie schon das Mittelalter auf aristotelischer Grundlage entwickelt hatte.17 Hans Roger Stiehle hat gezeigt, dass Maiers medizinische Dissertation aus dem Jahr 1596 im Rahmen der galenischen Humoralpathologie und aristoteli-

16 McKee, Golden Medicine sowie ders., Paracelsian Kitchen, S. 295 – 297 behandelt Maier als Paracelsisten. 17 Zur Vier-Elementen-Lehre bei Maier vgl. den 7. Discursus, dazu auch Leibenguth, Poesie S. 107.

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Abbildung 9: Heinrich Khunrath: Amphitheatrum aeternae sapientiae. Die Eule.

schen Naturphilosophie zu verstehen ist.18 Ausdrücklich äußert sich Maier in seinem Verum inventum (1619) zu den medizinischen Leistungen von Paracelsus, und sein Urteil ist sehr reserviert. Zwar stellt er Paracelsus dort in eine Linie mit Luther, vor das abschließende, den Rosenkreuzern gewidmete Kapitel, betont aber ausdrücklich, er wolle damit keineswegs »dem Paracelso in seiner Artzneykunst beypflichten«. (S. 226) Im Gegenteil, dem schärfsten Gegner der Paracelsisten, Thomas Erastus, der als »hochgelehrter Medico« die paracelsische »Artzney« »weitleufftig examiniret/ vnnd in vielen stücken verworffen« habe, wird in seiner Paracelsus-Kritik ausdrücklich zugestimmt.19 1618 schreibt Maier in seiner Themis Aurea, Paracelsus sei zwar ein »vir doctissimus et singularis in medicina« gewesen, ob ihm das aber auch das Recht gegeben habe, die alte Medizin niederzutrampeln, müssten andere entscheiden. (S. 94 f.) Maier votiert für ein friedliches Nebeneinander von galenischer und paracelsischer Medizin. (S. 98) Paracelsus steht in der Themis Aurea in einer Reihe mit Christian Rosenkreuz, Rudolf Agricola, Erasmus, Luther, Melanch18 Stiehle, Maierus, S. 10. Auch die Medicina Regia (1609) richtet sich nach Stiehle S. 247 – 260 gegen paracelsistische Grundannahmen. Zu Maiers Galenismus auch Tilton, Quest, S. 48 – 54. 19 Maier, Verum inventum, S. 222. Zu Maiers Verhältnis zu Paracelsus und Erastus Leibenguth, Poesie, S. 71 und Tilton, Quest, ad ind. Zu Erastus Gunnoe, Erastus and his Circle sowie ders., Erastus and Paracelsianism.

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thon, Kopernikus und Tycho Brahe. Sie alle grenzt Maier gleichzeitig scharf von den »Enthusiasten«, »Wiedertäufern« und Chiliasten ab.20 In den Symbola aureae mensae (1617) schreibt Maier, wenn die Bücher des Paracelsus von allen Betrügereien gesäubert würden, wären sie der Lektüre »nicht unwürdig« und könnten die Ärzte und Chirurgen einiges lehren. (S. 286) Wie diese Belege zeigen, wird man Maier in der Auseinandersetzung mit dem Paracelsismus auf gemäßigt schulmedizinischer Seite verorten müssen, neben einem Mediziner wie Daniel Sennert oder einem Chemiker wie Andreas Libavius.21 Beide hatten, etwas früher als Maier, dem Paracelsismus eine gewisse Bedeutung zugestanden und sich an der Vermittlung von galenischer und paracelsischer Medizin versucht. Der Punkt, in dem sie den Paracelsismus allerdings schärfstens abgelehnt hatten, war die Annahme eines die Vernunft übersteigenden »Lichtes der Natur«, das heißt einer unmittelbaren göttlichen Offenbarung. In der Atalanta wird Paracelsus ein einziges Mal erwähnt, und zwar im Discursus zum neunten Emblem, in dem es um die Möglichkeit einer Verjüngung und Lebensverlängerung geht, mithin um einen Punkt, an dem die paracelsistische Theomedizin sich von der traditionellen Medizin unterschied. Maier zitiert Paracelsus mit der Meinung, ein alter Mann könnte sich allein durch seine Vorstellungskraft (imaginatio), nämlich durch die Vorstellung der Gesundheit und Jugend eines anderen diese Gesundheit und Jugend verschaffen, und kommentiert dies mit den Worten, eine solche Verjüngung finde nur in der Vorstellungskraft des Paracelsus statt.22 An derselben Stelle erwähnt Maier auch Ficino, der im selben Kontext mit der Überzeugung zitiert wird, »daß zu Verlängerung eines Menschen Leben, man solchen täglich an die Brüste junger Weiber legen und von deren Milch speisen und ernehren solte«. Auch diese Überzeugung zitiert Maier offensichtlich nur wegen ihres grotesken Unterhaltungswertes.23 Die Möglichkeit einer Verjüngung, wie sie in der Alchemie mit dem Stein der Weisen und der spiritus-Lehre verbunden ist, schließt Maier in der Folge grundsätzlich aus, und zwar mit einem unmittelbaren Verweis auf die christliche Eschatologie: »Der Mensch aber mag auff keine andere Art als durch seinen Todt 20 Maier, Themis aurea Kapitel 20, bes. S. 189. 21 Auf die Nähe zu Sennert hat bereits Leibenguth, Poesie, S. 73 hingewiesen. Zu Sennert vor allem Debus, Guintherius, Libavius and Sennert und Eckart, Antiparacelsismus. Zu Libavius als Schüler Melanchthons oben S. 84, als Kritiker des Paracelsismus S. 166 f. und Kapitel IV.3, S. 216; als Kritiker der Rosenkreuzer Kapitel VI.1, S. 239 f. 22 Maier, Atalanta 9, S. 47, Cabinet S. 113. 23 Maier, Examen fucorum, S. 134 wendet sich Maier scharf gegen den wichtigsten Vertreter des Neuplatonismus und einer magia naturalis im deutschsprachigen Raum, Agrippa von Nettesheim. Auch in den Versen zum ersten Emblem der Atalanta wendet sich Maier gegen Agrippa, vgl. de Jong, Maier’s Atalanta, S. 62 f.

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erneuert und verjüngert werden, als welcher nun [nur] ein Anfang des Ewigen ist.«24 Die Alchemie, wie sie in der Atalanta und in den anderen Werken Maiers begegnet, ist weder Goldmacherkunst noch überhaupt Laborpraxis. Auf eine einfache Formel gebracht: Die Alchemie Maiers ist Erkenntnis der Natur als einer Schöpfung Gottes. Über die Geheimnisse der Natur (De secretis natura) lautet der Untertitel der Atalanta. In der Vorrede wird die Chemie als die wichtigste Wissenschaft bezeichnet, wenn es darum geht, die »Geheimnisse der Natur« zu erforschen, die »Gott«, der Schöpfer der Natur, in dieser Natur verborgen habe.25 Diese »Chymische Wissenschafft« ist dabei so beschaffen, dass sie nur von den »liberaliter educatis«, also den akademisch Gebildeten, den »hocherleuchten, frommen, wohlerzogenen und zu grossen Dingen gebohrnen Menschen erkannt worden, als in welchem [welchen] lauter subtilitäten, hoher Verstand und Göttliche Weißheit ruhet«. Ausdrücklich heißt es weiter, nur »durch scharffe und tieffsinnige Betrachtung der bewehrt[e]sten Authorn«, also durch akademisches Studium und Lektüre, könne man sich der Natur annähern, weil »die Praxis ohne vorherige Theorie und Wissenschafft todt ist«. Damit bewegt sich Maier in maximaler Distanz zum Antiakademismus der Spiritualisten. Im Gegensatz zur Vernunft- und Logikfeindschaft der Spiritualisten versteht sich Maiers Atalanta als eine Heranführung an die abstrakte, unsinnliche Naturphilosophie und als Einführung in die Lektüre der klassischen Autoren. Sie dient der »Betrachtung der bewehrtesten Authorn«, indem sie die »subtilitäten«, den »hohen Verstand« und die »Göttliche Weißheit« dieser »bewehrtesten Authorn« »sinnfällig« macht, das heißt emblematisch und musikalisch illustriert. Die Embleme mit ihren »chemischen Geheimnissen« könnten allein durch den Verstand ergründet werden, schreibt Maier, und also nicht durch göttliche Inspiration, wie sie die Paracelsisten voraussetzen.26 Die Atalanta reproduziert damit gleichsam die Schöpfung Gottes, denn wo Gott die Natur so geheimnisvoll gestaltet habe, um den Intellekt des Menschen auszubilden, da entwirft Maier seine Embleme mit demselben Zweck. Ihre Betrachtung zielt nicht auf eine magische Anverwandlung und Umwandlung des Betrachters über die Kräfte der Vorstellungskraft, wie es Neuplatonismus und Paracelsismus wollen, sondern die Vorstellungskraft ist nur das Mittel, um die Vernunft anzusprechen. Wenn nichts im Intellekt ist, was nicht vorher in den

24 Maier, Cabinet S. 112, Atalanta 9, S. 46. Vgl. dagegen oben Kapitel IV.1 zu den Paracelsisten, bes. S. 136. sowie das analoge Urteil Andreaes, unten S. 278 und der Confessio, unten S. 245. 25 Maier, Cabinet S. 76 f.; Atalanta S. 6 f. 26 Maier, Cabinet S. 77, Atalanta S. 8 f.

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Sinnen war, dann ist der sinnliche Zugang, wie ihn die Atalanta bietet, schlechthin notwendig.

Das Geheimnis der Natur Deutlicher noch als in der Atalanta hat Maier das reziproke Verhältnis von »Geheimnis der Natur« und dessen allegorischer, sinnfälliger Darstellung in den ersten Sätzen seines Schweigens nach dem Geschrei (Silentium post clamores, 1616) ausgesprochen. Die Natur, die sich in den vier Elementen und im gesamten Universum ausdrücke, habe ihre Geheimnisse nicht deshalb verborgen, um sie zu verstecken, sondern um die trägen und »schläfrigen« Menschen dazu anzuregen, ihre Geheimnisse »mit desto grösserem Fleiß vnnd Ernst zuerforschen«. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse müssten dann genauso wieder als »köstlicher Schatz« verborgen werden, denn was täglich vor Augen liege, werde für wertlos gehalten, was aber verborgen sei, für wertvoll gehalten.27 Auf die entscheidende Frage, was dieses »Geheimnis der Natur« ist, gibt die Atalanta eine deutliche Antwort. Genau in der Mitte des Buches findet sich ein Emblem, das schon deshalb aus dem Rahmen fällt, weil es keine alchemische oder überhaupt allegorische Bedeutungsebene hat. Unter dem Titel »Die Frucht der menschlichen Weisheit ist das Holtz des Lebens« ist die als Frau personifizierte Weisheit mit zwei Spruchbändern abgebildet. Auf dem linken steht »Langes Leben und Gesundheit«, auf dem rechten »Ruhm und unbegrenzter Reichtum«. Damit sind die beiden Dinge genannt, die auch der Stein der Weisen verspricht. Der »Discursus« des Emblems 26 rekurriert allerdings nicht auf den Stein der Weisen, sondern auf die göttliche Weisheit, wie sie sich in der Weisheit Salomos ausspricht. Als einziges der fünfzig Embleme der Atalanta zitiert dieses zentrale Emblem die Bibel, und zwar mehrfach und durch Marginalien mit Stellennachweisen auch drucktechnisch hervorgehoben. Mit einem Zitat von Salomo (Sprüche Salomo 3.18) heißt es von dieser Weisheit: »Sie ist der Baum des Lebens allen die sie greiffen; und seelig sind die sie halten.« Allein diese Weisheit als Erkenntnis Gottes verschaffe ein langes Leben, Gesundheit und Reichtum. Ausdrücklich wird diese Weisheit als eine Tochter von ratio und experientia bezeichnet. Sie ist aber nicht, wie es am Ende des Kapitels heißt, durch menschliche Tätigkeit zu erwerben – und zu dieser Tätigkeit gehört auch die Tätigkeit im alchemischen Labor – sondern allein eine Gabe Gottes: »Diese Göttliche reine Wissenschaft theilet Gott allein seinen frommen Dienern mit, als welchen ers von Anfang der 27 Maier, Silentium S. 17 ff. Das lateinische Original der Schrift war 1616 erschienen. Zum Topos der spielenden Natur Eusterschulte, Hermetische Spiele.

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Abbildung 10: Michael Maier : Atalanta fugiens, Emblem 26.

Schöpffung zugedacht.«28 (Weisheit Salomos 8.21) Man darf hier sicherlich das »sola gratia«, das Luther dem katholischen Glauben an die Selbstmächtigkeit des Menschen in seinen Werken entgegengehalten hatte, mitklingen hören. Das Motiv des Lebensbaums und der Weisheit Salomos hat Maier, wie vieles andere, aus dem Rosarium übernommen.29 Dort schon heißt es, die »Frucht der Weisheit« sei wertvoller als alle Schätze dieser Welt. Die Länge des Lebens und die Gesundheit liegen in ihrer Rechten, Ruhm und Reichtum in ihrer Linken.30 Deutlicher als bei Maier wird im Rosarium der christologische Bezug dieser Weisheit, indem das »Geheimnis der Natur« in den letzten Sätzen des Rosarium ausdrücklich mit Christus identifiziert wird. Neben einem Holzschnitt, der

28 Maier, Cabinet S. 181, Atalanta 26, S. 115. 29 Telle, Bemerkungen zum Rosarium, S. 190 – 197. 30 Rosarium S. 71 f. Übersetzung Claren/Huber. Wie bei Maier folgt unmittelbar S. 72 das Bild des Rosengartens, in den man ohne Füße nicht gelangen kann.

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Christus als Auferstandenen über einem geöffneten Grab zeigt, heißt es, in ihm vollende sich das größte Geheimnis der Natur. (S. 160) Wenn der Erwerb dieser »Weisheit« die zentrale Botschaft der Atalanta ist, dann unterscheidet diese sich mit ihrer Botschaft nicht von den zahlreichen protestantischen Andachtsbüchern, wie sie um 1620 den Buchmarkt zu beherrschen beginnen. Die Form des Emblembuchs erfreut sich in dieser Andachtsliteratur einer großen Beliebtheit. Nicht nur mit ihren Emblemen aber steht die Atalanta in dieser Tradition der Andachtsliteratur, sondern auch und gerade mit der Ausdeutung der Natur als einer Schöpfung Gottes. Johann Arndts Vier Bücher vom wahren Christentum (ab 1606) sind wiederum an erster Stelle zu nennen. Das vierte dieser Vier Bücher ist das Buch der Natur, und auch hier wird, wie bei Maier, die Natur als Schöpfung Gottes ausgelegt. Auch hier bildet Christus den Mittelpunkt der Natur. Damit enden jedoch die Parallelen, denn im Gegensatz zu Maier ist Arndt paracelsistisch geprägt, und im Gegensatz zum spielerischen Charakter der Atalanta steht im Hintergrund des Wahren Christenthums eine Theologie des »inneren Wortes«, in dem sich tatsächlich eine unmittelbare Offenbarung Gottes vollzieht, die nur noch bedingt an das »sola scriptura« Luthers gebunden ist. Dieser Unterschied erklärt, warum Maiers Atalanta, im Gegensatz zu Arndts Wahrem Christentum, keinen theologischen Widerspruch hervorgerufen hat. Die Gemeinsamkeit von Arndt und Maier ist der Begriff der Natur als ein Weg zur Erkenntnis Gottes über und in der Schöpfung. Gott offenbart sich in der Natur, und es ist die Alchemie, die die Spuren Gottes in der Natur nachweist. Für diese Konzeption der Alchemie können sich Maier und Arndt auf Luther berufen, der in den Tischgesprächen diese Verwendung der Alchemie ausdrücklich gutgeheißen hatte. Die Alchemie sei die philosophia naturalis der »alten Weisen«, heißt es dort. Sie gefalle ihm, Luther, nicht nur wegen ihres handgreiflichen Nutzens (Metallverarbeitung und Pharmazeutik), sondern auch wegen ihrer »Allegorien und heimlichen Deutung«. Luther illustriert diese allegorische Deutung an der Auferstehung der Toten, denn so, wie das Feuer das Reine vom Unreinen trenne, werde Gott auch am Jüngsten Tag die Gerechten von den Gottlosen trennen.31 In diesem lutherischen Sinne ist die Alchemie der Atalanta zu verstehen, als eine »allegoria pulcherrima« für die Weisheit Gottes, wie sie sich in der Natur offenbart.

31 Luther, Tischreden Bd. 1, Nr. 1149, S. 566 f. Grundlegend zur lutherischen Schöpfungstheologie Steiger, Alles vol Bibel.

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2.

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Poetischer Hermetismus

Alchemie und Philologie Wenn Maier eine lutherische Naturphilosophie vertritt, dann fragt es sich, welchen Status das hermetische Wissen für ihn hat. Entscheidend für den Status des hermetischen Wissens ist erstens die Frage, ob es sich bei den hermetischen Schriften um eine göttliche Offenbarung handelt, und zweitens, welches Alter diesen Schriften zugebilligt wird. Als Marsilio Ficino das Corpus Hermeticum 1463 zum ersten Mal ins Lateinische übersetzt hatte, hatte er es in eine mosaische Zeit datiert und gleichzeitig Hermes Trismegistus zum Träger einer Uroffenbarung erklärt, einer prisca theologia. Dieser Annahme einer prisca theologia war schon im 16. Jahrhundert mehrfach widersprochen worden. Insbesondere dem protestantischen Kerndogma des »sola scriptura« musste die Annahme einer zweiten Offenbarung diametral entgegenlaufen. Die philologische Zersetzung dieses Offenbarungsanspruchs begann schon im 16. Jahrhundert, erlebte ihren Höhepunkt aber erst bei Isaac Casaubon, der 1614 in seiner Widerlegung der katholischen Kirchengeschichte des Cesare Baronius – in der die hermetischen Schriften als vormosaische zitiert worden waren – der Annahme einer vormosaischen Uroffenbarung vorläufig den Boden entzogen hatte, indem er das Corpus Hermeticum für eine spätantike Fälschung erklärt und auf das vierte nachchristliche Jahrhundert datiert hatte. Die Schriften des angeblichen Hermes Trismegistus wären dem entsprechend das Ergebnis eines frommen Betrugs, der die christliche Offenbarung mit der Patina altorientalischer Weisheit versehen sollte, um sie für die christlichen Missionsbemühungen des vierten Jahrhunderts einsetzen zu können.32 Ähnlich war es auch der Tabula smaragdina ergangen, die Erastus schon 1572 für »offensichtlich falsch und erfunden« erklärt hatte,33 darin gefolgt von Nicolas Guibert (1603).34 Für Libavius ist es 1611 fast selbstverständlich, dass die Tabula nicht ägyptischen Ursprungs sein kann. Nur beiläufig weist er darauf hin, dass »trismegistos« ein griechischer Begriff sei und »Hermes« ein griechischer Name, und fragt, ob die Ägypter wohl Griechisch gesprochen hätten.35 Das Werk Maiers ist in diesem Zusammenhang besonders interessant, weil es 32 Zu Casaubons Datierung des Corpus Hermeticum unten S. 303 ff. 33 Thomas Erastus, Explicatio quaestionis famosae illius, utrum ex metallis ignobilioribus aurum verum et naturale arte conflari possit. Basel 1572, S. 101 – 103, zitiert nach Gilly, Vom ägyptischen Hermes zum Trismegistus Germanus, S. 105, Anm. 114. 34 Nicolaus Guibert, Alchymia ratione et experientia ita demum viriliter impugnata et expugnata […]. Straßburg 1603, Buch II, cap. VI, S. 62, zitiert nach Ruska, Tabula smaragdina, S. 212. 35 Libavius, Syntagma, S. 2.

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fast zeitgleich entsteht. Maier scheint Casaubons Widerlegung des Baronius 1617 noch nicht zu kennen. Auf der anderen Seite kennt Maier die Schrift des Baronius, denn in seinem Verum Inventum polemisiert er heftig gegen sie, ganz wie Casaubon.36 Genauere Hinweise darauf, wie Maier die Figur des Hermes Trismegistus verstanden hat, finden sich in seinen Symbola aureae mensae (1617), einer Art Geschichte der Alchemie. Hermes Trismegistus, der hier sowohl als Verfasser des Pimander und Asclepius, als auch der Tabula smaragdina gilt, ist das erste Kapitel gewidmet.37 Maier bestreitet zwar nicht das vormosaische Alter des Hermes, den er etwa in der Zeit Abrahams verortet. Wörtlich heißt es jedoch, die Annahme, Moses habe bei Hermes Trismegistus abgeschrieben, sei eine »offensichtlich absurde und falsche Überzeugung«, und es ist Ficino, dem diese absurde und falsche Überzeugung zugeschrieben wird.38 Zwar hätte Hermes erkannt, dass es nur einen Gott geben könne und sich deshalb gegen den antiken Polytheismus gewandt. Auf der anderen Seite aber könne kein Zweifel daran bestehen, dass Hermes »ein Heide gewesen und als Ägypter in der Finsternis der Heiden erzogen worden sei«. Was Hermes über Gott herausgefunden habe – wie etwa, dass es nur einen Gott geben könne – habe er aus dem Begriff Gottes »erschlossen« (coniectasse).39 Dieses schon bei den Kirchenvätern bekannte Argument, eine Variante des Gottesbeweises e consensu gentium, begegnet um 1600 sehr häufig, wenn es darum geht, die Legitimität der antiken Philosophie zu verteidigen.40 Im Kern besagt dieses Argument nichts anderes, als dass man auch auf dem Weg der natürlichen Vernunft zu einem Monotheismus gelangen konnte, mithin dass es eine ›natürliche Religion‹ gab, die in einigen Punkten die christliche Offenbarung vorwegnehmen konnte. Von dem letztlich entscheidenden Punkt, der Ankunft Christi, von der Hermes nur durch göttliche Offenbarung hätte erfahren können, hatte er jedoch, wie die gesamte Antike, kein Wissen.41 Maier betont in den Symbola, was Hermes über die Schöpfung wisse, sei verzerrt und entstellt über die Chaldäer zu ihm gelangt. Moses allein dagegen hätte den göttlichen Geist, den spiritus divinus gehabt, er allein habe mit Gott von Angesicht zu Angesicht gesprochen. (S. 23) Ausdrücklich nimmt Maier die hermetischen Schriften vor dem Vorwurf, sie lehrten Magie, in Schutz. Der 36 37 38 39

Maier, Verum inventum, S. 58. Maier, Symbola, S. 10. Maier, Symbola, S. 22 f. Zur ›Datierung‹ des Hermes auch dort S. 6. Wörtlich schreibt Maier, Hermes habe »prophetico spiritu seu instinctu divino« über Gott gesprochen. Damit zitiert Maier jedoch nur die Septem tractatus seu capitula Hermetis Trismegisti, aurei (Erstdruck Straßburg 1566 in der Ars chemica, zusammen mit der Tabula Smaragdina, Zitate nach dieser Ausgabe), in deren ersten Sätzen Hermes von sich selbst sagt, er habe sein Wissen durch göttliche Inspiration. Vgl. ebendort S. 9 f. 40 Vgl. unten Kapitel VII.1, S. 298 ff. 41 Maier, Symbola, S. 14 f.

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Vorwurf der Magie wird darauf zurückgeführt, dass man die allegorische Sprache dieser Schriften wörtlich genommen habe. (S. 16)

Paracelsistischer Hermetismus Ganz anderes liest man über Hermes Trismegistus bei den Parcelsisten. In Crolls Basilica chymica heißt es, Hermes und andere, die reinen Herzens gewesen seien, hätten die Inkarnation Christi, »durch den heiligen Geist erleuchtet« (»per Spiritum Sanctum illuminati«) besser erkannt, als einige Christen, die Gott auf dem Wege der Vernunft hätten erkennen wollen, statt mit dem Herzen und durch die Liebe.42 Ähnliches ist in Arndts Oratio de antiqua philosophia zu lesen.43 In Khunraths Hylealischem Chaos (1597) heißt es, dass Christus den »uhralten Weisen« »auß Göttlicher Eingebungs Empfahung/ und sonderer Offenbarung […] von oben herab anfänglich bekant worden.« Provokant fügt Khunrath hinzu, diese »Eingebungs Empfahung« habe sich »ohne Mittel« vollzogen, also in Opposition zum lutherischen »sola scriptura«.44 Maier auf der anderen Seite lehnt dagegen nicht nur den Offenbarungscharakter der hermetischen Schriften ab, sondern auch deren christologische Ausdeutung. Mehrfach wendet sich Maier scharf gegen all diejenigen, die (wie Croll und Khunrath) die hermetischen Schriften und insbesondere den Asclepius-Dialog auf Christus bezögen. Nicht auf Christus, sondern auf die Alchemie bezöge sich dieser Dialog, wie sich nach Maier auch die ägyptischen Hieroglyphen und die griechische Mythologie vor allem auf die Alchemie, das heißt die Naturphilosophie, Physik und Chemie, bezögen.45 Das ist ein entscheidender Unterschied, denn die Deutung des Asclepius als verschleierte Naturphilosophie setzt – im Gegensatz zu einer christologischen Deutung – keine göttliche Offenbarung voraus. Hermes Trismegistus steht damit bei Maier – wie es auch die gesamte Geschichtskonstruktion der Symbola nahelegt – in einer rein menschlichen Tradition der Naturphilosophie. Diese Tradition reicht, vermittelt unter anderem 42 Croll, Basilica, S. 28 f. Dass bezüglich der Inspiration des Hermes auch unter Paracelsisten keine Einigkeit herrscht, zeigt die Alexander von Suchten zugeschriebene Explicatio tincturae physicorum, die S. 386 eine »Erleuchtung« des Hermes bestreitet und sein Wissen auf »etliche Schrifften« zurückführt, die Moses nach dem Auszug des Volkes Israel in Ägypten zurückgelassen habe. 43 Vgl. oben S. 176 ff. Vgl. auch die ausführlichen Zitate in Gilly, Hermes oder Luther, bes. S. 170 ff. 44 Khunrath, Chaos Kap. 2, S. 25. Das Hermes-Zitat dort stammt aus dem ersten Kapitel der Septem Tractatus, oben Anm. 39, S. 205. 45 Maier, Symbola, S. 14. Analog das Urteil gegen die christologische Deutung der Alchemie in Confessio fraternitatis (ed. van Dülmen) S. 41 und bei Andreae, vgl. unten S. 276.

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über Demokrit, Albertus Magnus und Thomas von Aquin bis in die Gegenwart Maiers hinein, nämlich bis zu dem polnischen Anonymus, der das letzte Glied in der Zwölfer-Kette bildet. Mit dieser Kette von zwölf Meistern, die aus zwölf verschiedenen Ländern stammen, liegt den Symbola eine literarische Konstruktion zugrunde, wie sie auch der Dialogform und dem symmetrischen, um die Weisheit Gottes gruppierten Aufbau der Atalanta entspricht. Croll dagegen beruft sich auf dem Titelblatt seiner Basilica auf eine Reihe von sechs Autoritäten, die zwar auch mit Hermes Trismegistus beginnt, dann aber mit Paracelsus endet. Geprägt wird das Titelblatt Crolls jedoch nicht von den sechs Autoritäten, sondern von den trinitarischen Spekulationen in den beiden Kreisen ober- und unterhalb des Titels. Solche Spekulationen sind, genauso wie die Identifikation der Alchemie mit »Cabala theologica« und »Magia astronomica«, Maier vollkommen fremd. Die zitierte Passage der Symbola ist jedoch nicht nur deshalb interessant, weil Maier dort bestreitet, dass es sich beim Corpus Hermeticum um eine göttliche Offenbarung handelt, sondern auch deshalb, weil Maier die Passage fast wörtlich abgeschrieben hat, und zwar aus dem Tractatus […] de divinatione et magicis praestigiis, der 1616 postum aus dem Nachlass Jean Jacques Boissards herausgegeben worden war. Wie Maiers Atalanta war auch das Tractatus de divinatione im Verlag Theodor de Brys erschienen.46 Es handelt sich bei diesem Werk nach Ausweis des Titels um eine Abhandlung über die Wahrsagung und über die magischen Betrügereien, die in der Antike im Namen von Propheten, Priestern, Sibyllen und Wahrsagern geschehen seien.47 Zu diesen Betrügern zählt auch Hermes Trismegistus. Boissards Abhandlung ist dabei kein theologisch-polemisches Werk, sondern eine Art schöngeistige Zusammenstellung antiken Aberglaubens. Sie ist getragen von antiquarischem Sammeleifer. So dürfte sich auch der aufwändig gestaltete Druck des Werkes erklären. Das Titelblatt gibt diesen unpolemischen Charakter bereits zu erkennen, wenn es dort heißt, dieses Werk wäre unter anderem »den Historikern und Dichtern besonders nützlich und erfreulich«. Als ein solcher Historiker und Dichter hat Maier dieses Werk benutzt.

46 Zu Boissard Keune, Fälschungen, S. 12 – 34. 47 Ob es sich bei den Abbildungen der Priester tatsächlich um Abzeichnungen von antiken Vorbildern handelt, wie Boissard behauptet, darf angesichts von dessen Fälschungen in seinen Antiquitates (1597 – 1602) bezweifelt werden, vgl. Keune, Fälschungen. Von Boissard, der auch mit seinem Emblematum liber ein Modell für Maier war, übernimmt Maier die ikonographische Darstellung des Hermes Trismegistus, vgl. Maier, Symbola, S. 5.

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Abbildung 11: Oswald Croll: Basilica chymica. Titelblatt.

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Maier als melanchthonischer Naturphilosoph Im letzten Absatz von Boissards Kapitel zu Hermes findet sich die Stelle, die Maier in seine Symbola übernommen hat. Dort heißt es, die Meinung Ficinos und seiner Nachfolger, der zufolge Hermes in vormosaischen Zeiten gelebt habe und unmittelbar von Gott inspiriert gewesen sei, wäre falsch und äußerst gefährlich, weil sie zum Atheismus führe. Moses habe mit Gott von Angesicht zu Angesicht gesprochen und deshalb kein anderes Zeugnis nötig gehabt. Was Hermes von der Schöpfung wisse, habe er von den Chaldäern, Juden und Ägyptern erfahren, die dieses Wissen von den ersten Vätern weitergereicht bekommen hätten, allerdings durch die List der Dämonen, den Aberglauben und die Abgötterei verfälscht und verdunkelt. Was man von der Schöpfung wissen könne, dürfe man allein aus dem biblischen Bericht beziehen, sonst wäre den »ungeheuerlichen Häresien« derjenigen, die sich nach Art der Enthusiasten auf eine unmittelbare göttliche Inspiration beriefen, Tür und Tor geöffnet. Die Neugier und Disputationssucht sei heute so groß, dass auch schon Schneider, Schuster und närrische Weiblein über Theologie, Philosophie und die tiefsten Geheimnisse der Natur disputieren wollten. Daher nehme die Zahl der »Enthusiasten«, die sich auf die dunklen Stellen der Bibel beriefen und dann die akademischen Gelehrten der Unwissenheit und Nachlässigkeit ziehen, beständig zu. Diese Enthusiasten erzählten ihre Träume, prophezeiten die Zukunft und hielten sich für beseelt vom Heiligen Geist. Andere verglichen die Aussagen der Heiligen Schrift mit denen der antiken Philosophen und entzögen dann dem göttlichen Wort den Glauben. Obwohl sie sich auf ihre Genauigkeit beriefen, täten sie doch nichts, als zur Unfrömmigkeit zu verleiten und die schlichteren Gemüter ins Verderben zu ziehen. Neugier, Schwatzsucht und intellektuelle Eitelkeit gäben nur dem Teufel die Möglichkeit, von der christlichen simplicitas, wie sie in der Kirche gepredigt würde, abzulenken.48 Diese Stelle zeigt noch einmal deutlich, wo die Fronten verlaufen. Auf der einen Seite steht eine lutherische Frömmigkeit, die sich nach dem Prinzip des »sola scriptura« allein auf das göttliche Wort beruft, auf der anderen Seite die »Enthusiasten«, die sich auf so divergente Zeugnisse wie die antike Philosophie, die Vernunft und private Offenbarungen berufen. Diese Gruppe der »Enthusiasten«, die allesamt dem Verdikt der curiositas verfallen sind, dürfte damit so unterschiedliche Gruppen wie die »Täufer«, die Paracelsisten, die vernunftgläubigen, radikalen Aristoteliker der »Paduaner Schule« und die Neuplatoniker im Gefolge Ficinos umfassen.

48 Boissard, De divinatione, S. 146 f. Ein Zitat Boissards schon im 39. Kapitel der Atalanta, S. 170.

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Wer die Geheimnisse der Natur erforschen will, darf sich weder seiner naturphilosophischen Neugier hingeben, wie der Alchemiker in seinem Labor, noch darf er die Vernunft überbewerten, wie der aristotelische Naturphilosoph, sondern er muss sich allein auf das göttliche Wort verlassen. Das ist die Botschaft Maiers, und das ist der Grund, warum im Zentrum der Atalanta (deren Untertitel lautet Über die Geheimnisse der Natur) der Baum der Weisheit steht, der allen, die ihn greifen, der Baum des Lebens ist. Nicht durch menschliche Werke sei diese Weisheit zu erlangen, sondern nur als göttliche Gabe. Das ist die christliche simplicitas, wie sie nach Maier in den Kirchen gepredigt wird. Mit ihrer Verwendung der antiken Mythologie als allegorischer Ausdruck dieser Botschaft ist die Atalanta Ausdruck eines liberalen Protestantismus im Gefolge Melanchthons. Dieser liberale, weltoffene Protestantismus hat in seiner humanistischen Prägung keine Berührungsängste mit literarischen Formen und der antiken Mythologie als allegorischer Sprache. Erst im Laufe des 17. Jahrhunderts und mit der zunehmenden Durchsetzung der spiritualistischen Tendenzen, wie sie von Arndt ausgehen, wird dieser liberale Protestantismus langsam zurückweichen und den literaturfeindlichen, bibliozentristischen und weltabgewandten Bestrebungen des Pietismus unterliegen. Die Haltung Boissards und Maiers gegenüber den hermetischen Texten unterscheidet sich damit nicht von derjenigen Casaubons, wenn Boissard und Maier auch die philologische Dimension fehlt. Die hermetischen Texte werden nicht als Offenbarung, sondern als eine etwas philosophischere Variante der christlichen Religion wahrgenommen, eine Art der ›natürlichen Theologie‹, durchaus lesenswert, aber auf keinen Fall von nur annähernd demselben Erkenntniswert wie die Bibel. Dies entspricht insofern der Haltung Casaubons, als dieser aus seiner Datierung des Corpus Hermeticum nicht etwa gefolgert hatte, dass man die hermetischen Schriften gar nicht mehr zu lesen brauche, sondern ganz im Gegenteil deren Lektüre als eine höchst erbauliche – also im Sinne einer Andachtsliteratur – sogar empfohlen hatte. Der Hermetismus – verstanden als Berufung auf die Schriften des Corpus Hermeticum und die Tabula smaragdina – ist damit vom Paracelsismus, Spiritualismus und Neuplatonismus zu unterscheiden. Die Schriften Maiers demonstrieren, dass es einen aristotelischen Hermetismus gibt, der sich innerhalb der traditionellen, akademischen Bildung verortet hat. Dieser aristotelische Hermetismus Maiers ist im Unterschied zum spiritualistischen Paracelsismus kein religionsgeschichtliches Phänomen, sondern ein literaturgeschichtliches. Es ist dabei insbesondere die Spätzeitlichkeit und der fehlende Offenbarungs-

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charakter der hermetischen Schriften, der den Unterschied zum Paracelsismus ausmacht.49

Hermes Trismegistus als Gründungsheros der Alchemie Der Unterschied zwischen einer traditionellen Alchemie, die sich als theologisch unprätentiöse Naturphilosophie verstand, und einer paracelsistischen Alchemie, die sich vor allem als ›theoprastia sancta‹ und »Theoalchemie« (so der Begriff von Joachim Telle) verstand, spiegelt sich auch im Bild des Hermes Trismegistus. Libavius, der scharfe Gegner der Paracelsisten, gleichzeitig aber streitbarer Verfechter der Alchemie, bestätigt diesen Befund, wenn er auf dem Titelblatt seiner Alchymia (1597/1606) Aristoteles und Hermes als zwei Säulen der Chemie darstellt, neben Galen und Hippokrates. Bruce Moran hat in seiner wegweisenden Studie zu Libavius gezeigt, wie dessen wichtigstes Anliegen eine Verteidigung der Alchemie gegen ihre Vereinnahmung durch den Paracelsismus war. Libavius kämpft für eine Alchemie, die nichts mit den magischen und spiritualistischen Tendenzen des Paracelsismus zu tun hat. Das Erfahrungswissen der Chemie und das Offenbarungswissen der Theologie müssen streng getrennt gehalten werden. Wer chemisch arbeitet, darf sich nicht auf das »Licht der Natur« und private Offenbarungen verlassen. Für diesen Begriff der Chemie als Erfahrungswissenschaft beruft sich Libavius auf Hermes Trismegistus, dessen Tabula smaragdina als Gründungsurkunde der Alchemie in seinen Augen in Übereinstimmung mit Aristoteles, Galen und Hippokrates steht. Libavius wirft den Paracelsisten geradezu vor, eine künstliche Trennung zwischen der aristotelisch-galenischen und der hermetisch-alchemischen Tradition eingeführt zu haben, die sich als solche in der Antike nicht finde.50 Man konnte die Tabula smaragdina als Dokument einer vorsintflutlichen Offenbarung verwerfen und dennoch an ihrem Wert als alchemische Gründungsurkunde festhalten. Zumindest in diesem Punkt würde sich Libavius nicht von Heinrich Nolle unterscheiden, der seine umfangreiche Physica hermetica (1619) nicht etwa »hermetisch« nennt, weil sie sich in irgendeiner Form auf offenbartes Wissen berufen würde, sondern weil sie in der Erklärung der naturphilosophischen Sachverhalte nach einer Methode vorgehe, wie sie zuerst in der Tabula smaragdina anzutreffen sei. Ob Hermes Trismegistus der Verfasser 49 Vgl. dagegen den Befund von Kühlmann, Der Hermetismus als literarische Formation, S. 150. 50 Alle Angaben nach Moran, Libavius and the Transformation of Alchemy. Vgl. außerdem Hannaway, Chemists und Kühlmann, Das häretische Potential des Paracelsismus.

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dieser Tafel ist, ob es überhaupt jemals eine Person dieses Namens gegeben habe und wann diese Person gelebt haben könnte, interessiert Nolle nicht, wie er mit provokanter Deutlichkeit zum Ausdruck bringt (»De Hermete quis fuerit, cum nemine litem movebo.«).51 In Nolles Theorie der hermetischen Philosophie (Theoria Philosophiae hermeticae, septem Tractatus, 1617) ist die dritte Abhandlung dem »hermetischen Schweigen« (silentium hermeticum) gewidmet, und Nolle macht hier dieses hermetische Schweigen zum Merkmal einer antiken Weisheit, die sich von den akademischen Streitereien seiner Gegenwart abhebt. (S. 49) »Hermetisch« bezeichnet also für Nolle in erster Linie einen formalen Gegensatz zur akademischscholastischen Disputationssucht, keinen inhaltlichen Gegensatz. Der syllogistisch-abstrakten Ausdrucksweise der akademischen Fakultäten steht die verschlüsselte Ausdrucksweise einer echten, an der Erforschung der Natur orientierten Erkenntnis gegenüber, wie sie in der Tabula smaragdina begegnet. Dieser ›formale‹ Gegensatz besagt aber nichts über die Inhalte der Disziplin. Nolles Bestimmung der Alchemie hat, wie bei Maier, eine nüchterne Beobachtung der Natur in ihren chemischen Zersetzungs- und Zeugungsprozessen zum Gegenstand. Die Unterschiede zwischen Maier und Nolle beginnen erst dort, wo Nolle dezidiert paracelsistische Positionen vertritt.52 Die Berufung auf Hermes Trismegistos und den Hermetismus ist demnach um 1620 noch kein Synonym für theologische Abweichungen, wie es dann im weiteren Verlauf des Jahrhunderts zunehmend der Fall sein wird – signifikant schon im Titel von Colbergs Platonisch-hermetischem Christentum (1690) – sondern bezeichnet für viele Autoren nur eine spezifische Darstellungsform, die sich in ihrer metaphorischen Sprache vom akademischen Aristotelismus abhebt, nicht aber in ihren Inhalten. Hermes wird dementsprechend nicht als Religionsstifter behandelt, sondern lediglich als – mehr oder weniger mythischer – Gründungsheros der Alchemie. Erst die Vereinnahmung der hermetischen Texte durch den Paracelsismus, gegen den Widerstand eines Libavius, lässt den ›Hermetismus‹ zu einem Synonym für theologische Heterodoxie werden. Dieser Befund gilt ähnlich für die Alchemie. Die Alchemie als solche muss keineswegs mit ›mystischen‹, okkulten, spiritualistischen Tendenzen verknüpft sein, sondern kann auch nur analytische Betrachtung der Natur in ihren Zeugungs- und Zersetzungsprozessen sein. Genauso wie die Astrologie in den Händen eines Pomponazzi oder eines Melanchthon Ausdruck eines ausgeprägten Rationalismus sein kann, indem sie dort als Erklärung eingesetzt wird, 51 Nollius, Physica hermetica, S. 86. Der Hinweis auf diese Stelle bei Ebeling, Geheimnis S. 25. Zu Nolle als Paracelsist oben Kapitel IV.1, S. 149 ff. 52 Nollius, Physica hermetica, S. 64 f.

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wo die Theologen bisher unmittelbare göttliche Eingriffe oder die Neuplatoniker okkulte Kräfte annahmen, genauso kann auch die Alchemie in der Frühen Neuzeit eine rationale Erklärung natürlicher Phänomene implizieren, die als rationale auf die Annahme okkulter Kräfte verzichtet. Alchemische Interessen allein besagen gar nichts, oder genauer : Sie bezeichnen lediglich naturphilosophische Interessen. Über die Art dieser Naturphilosophie ist damit noch nichts ausgesagt. Die angeblichen Schriften des Hermes Trismegistus, und an allererster Stelle die Tabula smaragdina, können als allegorischer Ausdruck einer antiken oder spätantiken, auf jeden Fall dem Schweigen und Verhüllen verpflichteten Naturphilosophie wahrgenommen werden und müssen damit nicht als Ausdruck einer außerbiblischen Offenbarung gelten. Hermes kann, zumindest um 1600, als naturphilosophischer Autor wahrgenommen werden, der sich nur in seiner poetischen Sprache (»Der Wind hat ihn in seinem Bauch getragen«) von den anderen Autoritäten der Antike, wie Aristoteles, Galen oder Hippokrates, unterscheidet.

3.

Die Sprache der Alchemie

Arkansprache und Schweigegebot Die Arkansprache der traditionellen Alchemie ist in ihrer Bildlichkeit und Unverständlichkeit nicht Ausdruck einer göttlichen Inspiration, wie es der Paracelsismus für sich reklamierte, sondern Ausdruck eines Schweigegebots, das im Mittelalter ganz handfesten, materiellen und ständischen Interessen diente. Es sollte verhindert werden, dass bestimmte, vor allem metallurgische Prozesse von jederman nachvollzogen werden konnten.53 Das Schweigegebot übernahm 53 Zur Arkansprache der Alchemie vgl. die zusammenfassende Darstellung bei Horchler, Alchemie, S. 19 – 54, sowie den Überblick bei Telle, Art. Alchemie II, S. 210 – 212. Präzise zusammengefasst ist der Sachverhalt in Telle, Splendor Solis, S. 421 – 423. Impulsgebend war Eis, Von der Rede und dem Schweigen der Alchemisten. Zur Transformation der Arkansprache in der Frühen Neuzeit Ebeling, Geheimnis und Geheimhaltung. Zur Entstehung der Vorstellung von einer »wissenschaftlichen Öffentlichkeit« und der mittelalterlichen Secreta-Literatur die grundlegende Darstellung von Eamon, Science, sowie die konzise Zusammenfassung der Thesen in Eamon, Secrets of Nature. Spezifisch zur Chemie Golinski, Chemistry, sowie besonders Clucas, Alchemy and Certainty. Weniger überzeugt der Versuch von Dobbs, Secrecy of Alchemy eine Linie von der – nur als ›esoterischer‹ Kunst wahrgenommenen – Alchemie über die Geheimgesellschaften zur Royal Society zu ziehen, mithin, in der Übertragung der ›Yates-These‹, eine nur ›esoterisch‹ verstandene Alchemie zur Wurzel der modernen Chemie zu erklären. Diese These ist, das demonstriert die Arbeit von Dobbs, nur um den Preis einer sehr verkürzten Wahrnehmung der frühneuzeitlichen Alchemie zu haben.

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damit eine Funktion, wie sie heute etwa das Patentrecht und die Gewerbeerlaubnis erfüllt.54 Es diente dem Schutz eines fachspezifischen Wissens und der Kontrolle seiner Ausübung. Die Arkansprache der mittelalterlichen Alchemie ist eine Fachsprache, nicht Ausdruck von Mystik oder Okkultismus. Eine klassische Formulierung dieses Schweigegebots findet sich im 16. Jahrhundert im Rosarium philosophorum, wenn es dort heißt, die Lehren der Alchemie müssten verhüllt vorgetragen werden, um sie vor »bösen, ruchlosen Menschen« zu schützen. Die verhüllende Sprache sei den »Toren« unverständlich, würde die »Klugen« aber zur Entschlüsselung anreizen.55 Wo es so aussähe, als würde unbildlich gesprochen, da handle es sich um Metaphern, und wo es sich scheinbar um Metaphern handelte, da wäre es die Wahrheit. Das Rosarium zitiert Geber, einen der mythischen Gründerväter der Alchemie, mit den Worten: »Wo immer wir offen gesprochen haben, dort haben wir (eigentlich) nichts gesagt. Aber wo wir etwas verschlüsselt […] und in Bildern niedergeschrieben haben, dort haben wir die Wahrheit verhüllt.« (S. 64) Geber wird auch mit der Äußerung zitiert, er habe die Kapitelfolge seiner Summa perfectionis absichtlich durcheinandergeworfen, um das Verständnis zu erschweren, was auch die Kapitelfolge des Rosarium selbst erklären dürfte.56 Aufgabe des Schweigegebots ist der Schutz des Wissens und der eigenen Person vor Scharlatanen und am bloßen Gewinn orientierten Goldmachern. So heißt es in dem anonymen Güldenen Traktat vom Philosophischen Steine, der Leser solle sich nicht wundern, wenn der Traktat anonym erschienen wäre, denn der Verfasser suche nicht Ehre, sondern nur den Nutzen des Lesers. Außerdem wolle er nicht sein Leben riskieren. Die Erfahrung zeige, dass Alchemiker immer wieder von »geitzigen vnnd hoffertigen Gesellen« erschlagen und der »Tinctur« beraubt worden seien, wenn sie sich öffentlich zu ihrem Wissen bekannt hätten. Das Geheimnis der Natur müsse geschützt werden, und dies geschehe am sichersten durch eine Sprache, die nicht jeder verstehe und die nur dem Würdigen in Andeutungen die Wahrheit enthülle.57 Im 17. Jahrhundert verliert das Schweigegebot zunehmend an Bedeutung. Gerhard Eis hat in seiner inauguralen Studie Von der Rede und dem Schweigen der Alchemisten (1951) die erstarkenden nationalökonomischen Triebkräfte, infolge deren der Alchemiker aufhörte »ein Weiser zu sein, um Chemiker oder wohl gar Unternehmer zu werden«, (S. 70) für diesen Traditionsbruch verant54 55 56 57

Telle, Art. Alchemie II, hier S. 211. Rosarium S. 126 f. Ergänzungen in runden Klammern bereits im zitierten Text. Rosarium S. 142 und Pseudo-Geber, Summa perfectionis S. 630. [anonym] Güldener Tractat, S. 14 f. Bei »Hermann Condeesyanus«, dem Herausgeber des Traktats, handelt es sich um ein Pseudonym von Johannes Rhenanus, der 1613 eine Clavis et manuductio in libros Theophrasti Paracelsi und 1614 ein Ad Famae Fraternitatis Authores responsum herausgegeben hatte, vgl. Gilly, Cimelia S. 73.

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wortlich gemacht. Eis hat für diesen Bruch auch bereits auf eine Anekdote mit höchst symbolischem Charakter hingewiesen. 1656 erhält der Chemiker Rudolf Glauber, der immer wieder als »Begründer der chemischen Industrie« bezeichnet wird, den Brief eines anonymen »Filius Sendivogii«, der ihn inständig bittet, damit aufzuhören, die »chymischen Perlen […] vor die Schweine« zu werfen.58 Als Glauber dem nicht nachgibt, droht der Verfasser in einem zweiten Brief ihm und seiner Familie Gewalt an. Bekannt ist dieser Vorfall, weil Glauber die Briefe veröffentlichte. In seinem Kommentar gesteht er ein, dass die Veröffentlichung der Erfindung des Schwarzpulvers – das die europäische Alchemie über Jahrhunderte hinweg tatsächlich geheimgehalten hatte – tatsächlich besser unterblieben wäre. Die zahlreichen nützlichen Erfindungen wögen allerdings die schädlichen bei weitem auf. 1656 dürfte es sich bei diesem Brief allerdings bereits um ein Curiosum gehandelt haben, denn zu diesem Zeitpunkt war die sogenannte ›scientific revolution‹, die auch eine Revolution der wissenschaftlichen Kommunikationsformen war, bereits in vollem Gange. Zu den Normen der neuen Wissenschaft gehört eine Darstellungsform, die sich um einen Stil bemüht, der durch Klarheit, Nüchternheit und Eigentlichkeit des Sprachgebrauchs ausschließlich dem Gegenstand dient. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wird die »Royal Society« in diesem Sinne einen »plain style«, einen bewusst nüchternen und schmucklosen Stil für alle Wissenschaften fordern.59 Damit ein solcher schmuckloser, eigentlicher Sprachstil aber überhaupt erst denkbar werden konnte, musste zuerst das Schweigegebot aufgehoben werden. Das Schweigegebot wird gebrochen, um eine wissenschaftliche Öffentlichkeit herzustellen und damit Erkenntniszuwachs und Fortschritt möglich zu machen. Die erste Veröffentlichung des Chemikers Robert Boyle war An Invitation to a free and generous Communication of Secrets and Receits in Physick (1655).60 Diesem Plädoyer für eine wissenschaftliche Öffentlichkeit entsprechend äußert sich Boyle 1661 in seinem Sceptical Chymist sehr abfällig über die dunkle Sprache der älteren Alchemie. Diese hätte allein dem Zweck gedient, die unscharfen Begriffe dieser Wissenschaft zu verschleiern. Die einzige Möglichkeit, in ihren chemischen Behauptungen nicht widerlegt zu werden, habe darin bestanden, nicht verstanden zu werden.61 Mit einer solchen Äußerung steht Boyle

58 Zitate nach dem Abdruck bei Eis, Von der Rede und dem Schweigen S. 70 – 72, hier S. 70. Telle, Filius Sendivogii hat den Verfasser des Briefes identifiziert. 59 Zum »plain style« vgl. stellvertretend Richard Nate, Wissenschaft und Literatur im England der Frühen Neuzeit. München 2001, S. 163 – 170, mit Angaben zur älteren Literatur. 60 Eamon, Secrets, S. 341. Auch Telle, Filius Sendivogii S. 129 hat in diesem Zusammenhang bereits auf Boyles Invitation hingewiesen. 61 Boyle, Sceptical Chymist, S. 292. Die Kritik richtet sich hier gegen die Paracelsisten. Zu

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in der Tradition von Andreas Libavius, der schon sechzig Jahre zuvor ein Ende der Geheimnistuerei gefordert hatte.

Libavius über die Sprache der Chemie Die Alchymia des Andreas Libavius, die 1597 zum ersten Mal erschienen war und dann mehrere, stark erweiterte Auflagen bis 1611 erlebte, hat sich den Bruch des Schweigegebots zum Programm gemacht.62 Der dritte Teil der Alchymia bildet mit dem Titel Zusammenstellung ausgewählter und klar vermittelter Geheimnisse der Alchemie (Syntagma selectorum undiquaque et perspicue traditorum Alchymiae Arcanorum) ein dezidiertes Bekenntnis zur Profanierung des alchemischen Geheimwissens. In der Alchymia wird die Entstehung des Schweigegebots, mithin die Entstehung einer allegorischen, bildlichen Darstellungsform, historisch begründet. Einerseits hätte man das Wissen seinen Schülern vermitteln und deshalb irgendwie schriftlich fixieren müssen, andererseits hätte man sicherstellen müssen, dass dieses Wissen nicht in die Hände von Unwürdigen falle. Die symbolische, bildliche Ausdruckweise wäre die Lösung dieser widersprüchlichen Forderungen gewesen. Diese Tradition reicht nach Libavius bis zu den ägyptischen Hieroglyphen zurück.63 Schon in der Vorrede zur Ausgabe von 1597 polemisiert Libavius gegen Alchemiker, die ihre Erkenntnisse durch eine doppeldeutige Sprache geheimzuhalten versuchten. Für ihn gebe es keine solchen Arkana.64 Auch der ganze Widmungsbrief zum dritten Teil der Alchymia ist ein ausführliches Plädoyer für die Veröffentlichung des chemischen Wissens. Die bildliche Sprache der antiken und mittelalterlichen Alchemie betrachtet Libavius als eine abgeschlossene Epoche. Für die Fortsetzung dieser Tradition hat Libavius kein Verständnis. Mit der Berufung auf das pythagoräische Schweigegelübde und den hippokratischen Eid hätte man versucht, auch ihn, Libavius, von der Veröffentlichung der chemischen Geheimnisse abzuhalten. Aber die Gegenwart unterscheide sich von der Boyle besonders Golinski, Chemistry sowie die wichtigen Einschränkungen von Principe, Boyle’s Alchemical Secrecy. 62 Grundlegend zu Libavius die Studie von Moran, Libavius and the Transformation of Alchemy. Hannaway, Chemists hat bereits Libavius und Croll miteinander konfrontiert und dabei einige der wichtigen Punkte benannt. Zu Libavius’ vermittelnder Position zwischen Galenisten und Paracelsisten Debus, Guintherus, Libavius and Sennert. Zu Libavius als Gegner der Paracelsisten Kühlmann, Der vermaledeite Prometheus. Sehr einseitig das Urteil bei Gilly, The fifth column. 63 Libavius, Commentariorum Alchymiae Pars Prima. Es handelt sich um den zweiten Teil von Libavius, Alchymia recognita […], Frankfurt/M. 1606, mit separater Seitenzählung. Vgl. hier Kap. I.1.1, S. 78. 64 Die Alchemie des Andreas Libavius, S. XI f.

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Antike wie die Epoche des Neuen von der des Alten Testaments. Wie Christus seinen Jüngern befohlen habe, seine Botschaft in die Welt hinauszutragen, so dürfe auch heute nichts verborgen werden, was von allgemeinem Nutzen wäre. Der Berufung auf Mt. 7.6 – keine Perlen vor die Säue – sei Ioh. 3.19 entgegenzuhalten, dass nur, wer Böses tue, das Licht scheue.65 Auf das pythagoräische Schweigegelübde könnten sich die Alchemiker nicht berufen, wenn sie ihr Wissen allegorisch verschleierten. Das fünfjährige Schweigen, das Pythagoras seinen Schülern auferlegt habe, sei nur den Schülern auferlegt worden, damit diese, solange sie noch nicht genug unterrichtet gewesen wären, durch ihre Unerfahrenheit und Geschwätzigkeit nicht das ganze Fach in Verruf gebracht hätten. Grundsätzlich jedoch gebühre den Interpreten und Vermittlern einer Kunst dasselbe Lob wie deren Erfindern.66 Die drei Folio-Bände der Alchymia des Libavius, die insgesamt weit über 1000 Seiten zählen, bilden eine grundlegende, klare und deutliche Darstellung der chemischen Prinzipien und Methoden. Zu Recht hat man die Alchymia das erste Handbuch der Chemie genannt. In systematischer Abfolge werden die Instrumente des Chemikers, wozu die Laborgefäße genauso wie die Öfen und das Feuer gehören, die chemischen Prozesse und schließlich die Stoffe, die chemischen Substanzen selbst behandelt. In der zweiten und dritten Auflage erweitert Libavius diese Grundlegung immer mehr. So werden dort die architektonische Anlage eines Laboratoriums skizziert,67 die Konstruktion von Pressen und Öfen oder die Gefäße und Retorten beschrieben und bildlich vorgeführt. Hier bleibt nichts mehr dem Geheimnis überlassen. Die Abbildungen in der Alchymia haben eine klar technische Funktion. Dass es sich bei der bildlichen Sprache der älteren Alchemie nicht um okkulte, mystische Geheimlehren handelt, sondern um eine Symbolsprache mit technischem Charakter, demonstriert Libavius an den Figuren Heinrich Kuhdorfers aus dem 15. Jahrhundert.68 Wie bei einer Betriebsanleitung wird mit kleinen Indexbuchstaben die bildliche Sprache aufgeschlüsselt und auf der nächsten Seite in technische Anweisungen übersetzt. Libavius illustriert damit den technischen Charakter der Bildersprache der älteren Alchemie, genauso wie er in der Folge auch die Tabula smaragdina selbst in diesem Sinne interpretiert und kommentiert.69 65 Libavius, Syntagma, Dedicatio f. (?) 3v f. 66 Libavius, Syntagma, Dedicatio f. (?) 4v f. 67 Gegen Newman, Alchemical Symbolism kann ich in Libavius’ architektonischer Skizze eines Laboratoriums kein Geheimnis entdecken. 68 Libavius, Commentariorium alchymiae pars secunda, S. 49 – 56. 69 Libavius, Commentariorium alchymiae pars secunda, S. 70 f. Vgl. auch den Befund von Forshaw, Alchemical Exegesis, der Libavius’ metallurgisch-konkrete Auslegung der Tabula smaragdina mit Khunraths spekulativ-theologischer Auslegung vergleicht. Nachdrücklich

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Abbildung 12: Andreas Libavius: Alchymia. Figur Kuhdorfers.

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Die Arkansprache der Alchemie ist für Libavius allerdings das Signum einer vergangenen Epoche. Die Zeit für einen grundsätzlichen Bruch des Schweigegebots ist gekommen. Mit einer weit vorausweisenden Metapher des Ans-LichtBringens, Erhellens und Aufklärens fordert Libavius für die Alchemie eine klare und allgemein verständliche Sprache. Wer ein nützliches Wissen habe und dieses nicht allgemein kommuniziere, heißt es in der Widmung zum dritten Teil der Alchymia, der handle weder gottgefällig noch werde er von den sachverständigen Menschen empfohlen.70 Nur, wenn man sich in offener und klarer Form über die Art und das Ergebnis seiner Laborexperimente austauschen kann, kann es so etwas wie wissenschaftlichen Fortschritt geben. Es könne nicht immer wieder jeder von vorne anfangen und sich allein auf sein eigenes Ingenium verlassen.71 So wenig Libavius mit der bildlichen Sprache der älteren Alchemie ein Problem hat, so sehr hat er dieses Problem mit dem zeitgenössischen Paracelsismus. Im achtzehnten Brief seiner Rerum chymicarum epistolica forma (1595), »Über die dunkle Sprache der Alchemie« (De obscura chymicorum locutione) erklärt Libavius die metaphorische Arkansprache für problemlos, solange man sich an die Regel halte, nur eine Metapher für eine Sache zu benutzen. Unverständlich werde diese metaphorische Sprache nur dann, wenn man es wie die Paracelsisten mache, die sich inzwischen schon selbst nicht mehr verstünden.72 Während Libavius die symbolische, gleichnishafte Sprache der Alchemie mit den Gleichnissen des Alten und Neuen Testaments vergleicht, gilt ihm die Sprache des Paracelsismus als »deliramentum« und als missverstandenes Wörtlich-Nehmen von Symbolen und Allegorien.73 Die Unverständlichkeit der Paracelsisten, die auf einen Mangel an akademischer, rhetorisch-dialektischer Schulung zurückzuführen ist, ist etwas ganz anderes als die allegorische, arkansprachliche Ausdrucksweise der älteren Alchemie.74

Die Transformation des Schweigegebots im Paracelsismus Libavius kritisiert nicht die Arkansprache der älteren Alchemie, sondern das, was die Paracelsisten daraus gemacht haben. Aus der arkansprachlichen Begründung des Schweigegebots – der Schutz eines geheimen, fachspezifischen

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sei hier auch noch einmal auf Moran, Libavius and the Transformation of Alchemy hingewiesen, der diesen Punkt in Moran, The Less Well-known Libavius auch noch einmal gesondert herausgestellt hat. Libavius, Syntagma, Dedicatio f. (?) 3r f. Vgl. die Vorrede zum ersten Teil, in: Die Alchemie des Andreas Libavius, S. X f. Libavius, Rerum chymicarum epistolica forma. Liber primus, epistola 18, S. 162 – 170, hier S. 169. Vgl. besonders Libavius, Syntagma, Dedicatio f. (?) 5r. Vgl. die Vorrede zum ersten Teil der Alchymia in: Die Alchemie des Andreas Libavius, S. X ff.

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Wissens – wird die Berufung auf ein elitäres Wissen, das aufgrund seiner göttlichen Inspiration nur denen verständlich ist, die ebenfalls inspiriert sind. Symptomatisch für dieses elitäre Bewusstsein ist die Verknüpfung mit der Forderung Mt. 7.6., keine Perlen vor die Säue zu werfen. Die Metapher wird im Paracelsismus inflationär gebraucht. Schon 1566 heißt es in der Apocalypsis spiritus secrecti, die Alchemiker würden ihr Wissen verdunkeln, »damit sie das Würdige vor dem Unwürdigen nicht zeigten/ und so ein edles Perlein nicht unter die Säue sträueten«.75 Im Arbatel (1575), auf dessen Verbindung zum Paracelsismus Gilly hingewiesen hat, findet sich gleich im ersten Aphorismus eine charakteristische Verbindung von Schweigegebot und göttlicher Offenbarung. Wer begehre, »Geheimnüsse und verborgene Dinge zu wissen«, der dürfe diese Perlen auch nicht vor die Säue werfen. Nur dann würden ihm die »Augen des Gemüths« eröffnet werden und er sehen, »daß dir von oben offenbahret wird alles/ was deine Seele begehret/ du wirst auch die Engel Gottes und der Natur dir günstig machen: mehr denn ein Menschlich Hertz je begehren kan und mag.«76 Ein Alexander von Suchten zugeschriebener Dialogus wendet sich gegen Scharlatane, die sich zu Unrecht auf Paracelsus beriefen, indem sie diesen wörtlich verstünden. Einfältig wäre es, zu glauben, dass »Aurum« Gold bezeichne oder »Tartarus« Weinstein. Und doch gebe es Ärzte, die diese ihren Patienten gäben und sich dafür auf Paracelsus beriefen: »O ihr Einfältigen! Es seynd Arcana, so nicht ein jeder wissen soll/ sondern die/ so Gott zu diesem Handel erkohren/ denen Gott den Verstand dieser Wörter von oben herab eingibt.«77 Die Unverständlichkeit des Paracelsus geht also nicht auf Verhüllung im Sinne einer Arkansprache zurück, sondern auf eine grundsätzliche Unverständlichkeit dieser Schriften für alle jene, die nicht von Gott inspiriert sind.78 1567 schreibt Adam von Bodenstein im Nachwort zu einer Paracelsus-Ausgabe, nur denjenigen seien die paracelsischen Schriften verständlich, »die eins auffrechten gemüets« wären, nicht aber »den wolgezierten linguisten«, also den humanistisch gebildeten Akademikern, »für welche seuw die perlin nicht gehören«. Nicht jeder, der schöne Augen habe, könne sehen, und nicht jeder, der 75 Zu diesem Text oben Kapitel IV.1, S. 135 ff. Zitate nach der Ausgabe in Suchten, Schrifften, S. 55 – 62, hier S. 57. 76 Arbatel (ed. 1686), Aphorismus 1, S. 8. Zum Arbatel oben S. 60 f. 77 (Ps-)Suchten, Dialogus, S. 341 f. Der Dialogus, wurde, genauso wie einige andere Schriften Suchtens, zuerst von Figulus in der Pandora magnalium naturalium (1608) herausgegeben. Nach einer Notiz des Figulus dort, die der Suchten-Herausgeber Dagitza 1680 übernimmt, hätte Suchten diesen Dialog bei seinem Tod unvollendet zurückgelassen. Nach Kühlmann und Telle in: Corpus Paracelsisticum I, S. 548 stammt der Dialog nicht von Suchten. Zu Suchten oben Anm. 5, S. 135, zu Figulus oben S. 181 f. 78 Ich folge der Argumentation von Clucas, Alchemy and Certainty. Vgl. dagegen Golinski, Chemistry und Ebeling, Geheimnis ohne Beachtung dieses Unterschieds.

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große Ohren habe, auch hören. So sei auch nur derjenige eine »gerecht artzet«, dem »die artzney« gegeben sei.79 Suchten ist sogar von einer regelrechten Aversion gegenüber Metaphern und Allegorien – mithin den Methoden der alchemischen Arkansprache – besessen. In den »magischen Büchern« seien »keine Allegoria, keine Metaphora, keine Similitudines, sondern die blosse nackete Wahrheit«. Der bloß menschlichen Sprache, die sich der Allegorien und Metaphern bedienen muss, hält er seine eigene Geistbeseeltheit (»wir seynd die Außlegung des A. und N. Testaments«) und die unmittelbare und unsinnliche Sprache der Engel entgegen.80 Nicht hermeneutische Künste, sondern allein der Geist Gottes ermögliche ein Verständnis der Schriften des Paracelsus. Dieser »Intellectus magicus« sei kein »Teuffelswerck«, wie die Galenisten meinten, sondern die »allergröste Weißheit Gottlicher Werck«. Die »hochgelehrten Dölpel« könnten die Bücher des Paracelsus nicht verstehen, weil sie »Stylo Magico« geschrieben seien. Und weil sie das nicht verstünden, hielten sie die »Magia« für »Zauberey«, wo diese doch »die allergröste Weißheit Gottlicher Werck ist/ vnd eine Erkennerin verborgener Natur.«81 Konsequent beruft sich Suchten für seine eigenen Schriften nicht auf »Menschen-Verstand« oder hermeneutische Techniken, sondern auf göttliche Inspiration, auf »Magia«.82 Die Alchemie fordert den Verzicht auf die Vernunft: »Die Alchymia ist eine reine und ewige Jungfrau/ läst keinen vernünfftigen Menschen zu ihr/ sie will hominem mentalem haben/ deren ich bey unsern Zeiten noch wenig gesehen.«83 Das »Licht der Gnade«, die unmittelbare Inspiration durch Gott und das »Licht der Natur«, nämlich die Offenbarung Gottes in der Natur, die ihrerseits durch ihr Licht den Menschen erleuchtet, sind komplementär zu denken. Die Natur selbst, »alle Kräuter und Bäume auf Erden«, sind die Bücher Gottes, der uns diese offenbart hat, »daß wir aus ihnen vnser Seeligkeit und Gesundheit finden mögen/ durch ihre Erkäntniß/ wie sie von Gott geschaffen.«84 Diese »Erkäntniß« der Natur steht in einem scharfen Gegensatz zur Buchgelehrsamkeit der Akademiker : »Höret nicht allein/ was das Maul sagt/ höret was das Wasser sagt/ was das Saltz sagt: Sie reden auch/ aber ein andere Sprach. Die solltet ihr vorgelernet haben/ und hören können/ so könten euch die Scribae und Pharisaei nicht verführen«. Wer aber den Gelehrten und Pharisäern glaube 79 Bodenstein, Nachwort an Paracelsusleser, 1567. In: Corpus Paracelsisticum Bd. 1, S. 408 – 423, hier S. 412. Nach dem Kommentar dort S. 421 steht der Nachweis für das Zitat von Mt. 7.6 bei Paracelsus selbst noch aus. 80 Suchten, De tribus facultatibus, S. 373. 81 (Ps-)Suchten, Dialogus, S. 346. 82 Suchten, De tribus facultatibus, S. 361. 83 Suchten, Vom Antimonio Oder Spießglaß, S. 247. 84 Suchten, De tribus facultatibus, S. 374 f.

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und Bücher für Heiligtümer halte, werde nur »auß einer Sect in die ander« verführt.85 Die Natur, das Wasser und das Salz, spricht zum Naturkundigen, und im Gegensatz zur menschlichen Sprache und dem Buchwissen der Akademiker ist diese Ansprache der Natur – ihr »Licht« – unmittelbar verständlich. Die Natur offenbart sich im Geist des Menschen. Diese Offenbarung ist nicht nur schweigend zu empfangen, sie darf auch nicht durch schriftliche Vermittlung profaniert werden. Die schwere Verständlichkeit der paracelsischen Sprache ist damit von der Arkansprache der traditionellen Alchemie, die letztlich in ihrer Verschlüsselung doch auf die Weitergabe eines Wissens zielt, zu unterscheiden. Der Paracelsist verschweigt seine Wahrheit, weil diese Wahrheit durch die Sprache allein nicht zu vermitteln ist. Vorgeprägt ist ein solches Verstummen im Angesicht der göttlichen Offenbarung im Corpus Hermeticum, wenn Hermes dort aufgefordert wird, auf dem Höhepunkt seiner Initiation schweigend unter freiem Himmel dem Aufgang der Sonne beizuwohnen. Nur so könne er erfahren, was »lehrhafte Unterweisung« übersteige. Es ist dieselbe Offenbarung, die Suchten aus Wasser und Salz empfangen hat. Das Schweigen der Paracelsisten resultiert aus der göttlichen Offenbarung, in der das Geheimnis empfangen worden ist, und »wehe dem Menschen/ der solch Geheimniß anders offenbahret/ dann es offenbar ist«. Darum möge man auch ihm, Suchten, verzeihen, wenn er dieses Geheimnis, das nur Gott »allen seinen Geliebten zuoffenbahren hat/ und in seinem Göttlichen Gewalt behält«, weiter verschweige.86

Inkonsequenzen des Paracelsismus: Schweigegebot und Inspiration bei Croll Auch bei Croll wird die Unverständlichkeit des Paracelsismus nicht aus der Notwendigkeit einer Arkansprache abgeleitet, sondern erscheint als Konsequenz aus der göttlichen Offenbarung des medizinischen Wissens. Schon im Untertitel seiner Basilica chymica (1609) beruft sich Croll auf das »Licht der Gnade und der Natur«, wobei mit »Licht der Gnade« die unmittelbare göttliche Inspiration gemeint ist, mit »Licht der Natur« aber das Firmament, aus dem der Geist des Menschen »alle Künste/ Wissenschaften/ Faculteten vnd Menschliche Weißheit« an sich ziehe.87 Medium dieser Erkenntnis ist der spiritus mundi, der als »Licht der Natur« 85 Suchten, De tribus facultatibus, S. 372. 86 Suchten, De tribus facultatibus, S. 364. 87 Zu Croll oben S. 147 ff. Zitate nach der deutschen Fassung von 1623, hier S. 24. Zu dem im Folgenden beschriebenen Selbstwiderspruch Neumann, Wissenspolitik.

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die verborgenen Kräfte der Mineralien und Pflanzen enthüllt. Naturkundliche Exkursionen sind überflüssig, denn wer in einer Erleuchtung Gottes den Geist erlangt habe, der habe es nicht mehr nötig, »Philosophirung halben nach Jndien oder in Americam zuschiffen«. Alle »Philosophische Difficulteten/ vnnd dunckel eingewickelte Rätzel oder Fragen« würden sich ihm »in einer feinen kürtze sehr klärlich« eröffnen. (S. 13) Noch deutlicher heißt es mit einem Verweis auf die platonische Theorie der Anamnesis, das pharmazeutische Wissen sei »nicht auß dem Fleisch vnd Bluth/ beruhet auch nit in der Mänge der Bücher/ fleissigem Lesen/ Vberfluß der Erfahrung/ hohem Alter/ Menschen Lehren oder desselbigen Vernunfft/ sondern in dem Leyden der [des] Heiligen«. (S. 25 f.) Mit Gott müssen wir in uns selbst zurückkehren, um das Wissen zu finden, heißt es an anderer Stelle (S. 26) oder der Heilige Geist sei in uns und von ihm lernten wir »alle Himmlische vnd Jrrdische Geheymnussen«. (S. 32) Croll unterscheidet eine »sensualische Schul der Anfänger« von einer Schule der ratio auf zweiter Stufe und einer »mentalischen und intellectualischen Schule der vollkommenen PfingstSchüler« auf dritter Stufe. Zu dieser dritten Schule, der die Ausgießung des Geistes zuteil geworden sei, gehörten die Propheten, Apostel »und alle gelährte Männer/ so in jhrem Leben den Fußstapfen Christi« gefolgt seien. (S. 72) Auch Croll identifiziert diese spirituelle Inspiration mit Magie und Kabbala (schon auf dem Titelblatt der Basilica, vgl. Abbildung 11 oben S. 208), und auch bei Croll wird aus dieser Inspiration die Notwendigkeit des Schweigens abgeleitet. Die »aller subtieleste Philosophi« hätten, weil sie »den Fluch Gottes vnnd der Weisen« fürchteten, »mit allem Fleiß jhre Schrifften« verdunkelt, »damit sie nicht einem jeden derselbigen Verstandt eröffneten vnnd die edle Perlen dieser Kunst den vnflätigen Säuwen vorwürffen«. Wenn überhaupt, so hätten sie ihre Geheimnisse nur den Verständigen offenbart, und zwar indem sie »nur allegorice oder durch Gleichnuß« gesprochen hätten. (S. 92) So habe sich auch Paracelsus einer dunklen Schreibart bedient, damit sein Wissen nicht in die Hände von Unwürdigen fiele. Nur die in den »magischen Schulen« Auferzogenen könnten ihn verstehen, nicht die Sophisten – die syllogistisch verfahrenden Akademiker und Schulmediziner – und nicht die Scharlatane, wie die Goldmacher der Transmutationsalchemie. (S. 79) Wenn das medizinische, pharmazeutische Wissen auf göttlicher Inspiration beruht und der Arzt, statt medizinische Fachliteratur zu lesen und auf akademische Prüfungen vorzubereiten, sich besser auf religiöse Tugenden wie Demut und Liebe besinnt, dann fragt sich, wozu Croll überhaupt seine Basilica geschrieben hat. Bei dieser handelt es sich um ein pharmazeutisches Rezeptbuch, und dieses ist in einer klaren und eigentlichen Sprache geschrieben und benötigt keinen »Intellectus Magicus« zu seinem Verständnis. Dieser Widerspruch ist Croll bewusst, denn in seiner Vorrede schreibt er, er

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fürchte, weil er sich nicht mehr an die dunkle Schreibart gehalten und die »Chymische Sigil« gebrochen habe, »die geheime Hermetische Philosophi« beleidigt und gegen sich aufgebracht zu haben. (S. 4 f.) Sogar der Verleger Crolls sieht sich in einer Vorbemerkung zur deutschen Übersetzung der Basilica gezwungen, sich gegen den Vorwurf, das Schweigegebot gebrochen zu haben, zu verteidigen. (fol. )(ijr f.) Croll formuliert damit dieselbe Befürchtung wie Libavius. Im Gegensatz zu Libavius stellt sich bei Croll allerdings die Frage, warum er diesen Bruch überhaupt vollzieht. Denn wo bei Libavius dieser Bruch mit der Notwendigkeit eines Wissensfortschritts begründet war, kommt dieses Argument bei Croll eigentlich nicht in Betracht, wenn das Wissen in erster Linie göttlich vermittelt ist und nur bedingt durch Bücher weitergegeben werden kann. Diese Inkonsequenz hat schon Libavius an Croll kritisiert. Croll legitimiert sein Vorgehen erstaunlicherweise mit der Berufung auf den allgemeinen Nutzen, denn »wolmeinende Auffrichtigkeit vnd guthertzige Begierde/ mich vmb die Rempublicam Spagyricam wol zuverdienen«, hätten ihn zur »Publication« der Basilica chymica geführt. (S. 4) Croll wendet sich sogar ausdrücklich an die gegnerische Schule, an »die auffrichtigste aber/ vnd subtieleste vnter den Galenisten«, die sich aus Furcht von »Excommunication« bisher nicht öffentlich zur Wahrheit zu bekennen trauten, (S. 6) also doch offensichtlich an eine wissenschaftliche Öffentlichkeit. Sein Buch hätte er »zum gemeinen Nutz publiciret«, heißt es an derselben Stelle. Diesen Widerspruch zwischen Schweigegebot und öffentlicher Wirksamkeit bezeugt auch Alexander von Suchten. Im Vorwort zur Antimonschrift (1570) fordert er eine Veröffentlichung der Geheimnisse und verkehrt dabei sogar die Metapher der Perlen vor den Säuen, wenn es heißt, damit das paracelsische Wissen nicht verlorengehe, müssten diejenigen, »so dise geheymnuß wissen/ vnnd erfahren haben/ von dem der da geistet wa er will/ auß pflicht/ so ein jheder der warheyt zu leisten schuldig« sich gegen die Verleumder zur Wehr setzen und »die gab Gottes verantworten/ vnnd das perlin nicht lassen den Seuen vnder den füssen ligen.«88 Das widerspricht Suchtens elitärer Berufung auf einen »Intellectus magicus«, der allein ein Verständnis der Natur versichern könnte. Die Verachtung alles Buchwissens und der Anspruch auf göttliche Inspiration als einzige Quelle der Erkenntnis steht in merkwürdiger Opposition zu der Tatsache, dass die Paracelsisten in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts eine äußerst rege Publikationstätigkeit entfalten, deren Gegenstand nicht zuletzt die Werke des Paracelsus sind. Der überwiegende Teil der paracelsischen Schriften wird dadurch überhaupt zum ersten Mal zugänglich. Im selben Zug entstehen

88 Suchten, Vorrede zur Antimonschrift. In: Corpus Paracelsisticum Bd. 1, S. 570 – 580.

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Wörterbücher, methodische Darstellungen und Systematisierungen, um diese Schriften verständlich zu machen. Selbst wenn manche Paracelsisten hinter dieser Publikationsoffensive den Heilsplan Gottes erkennen wollen, indem sich das paracelsische Wissens zum allgemeinen Nutzen zusehends offenbare, bleibt der immanente Widerspruch bestehen, dass durch den Druck paracelsistischer Werke die unmittelbare, göttliche Inspiration dieses Wissens redundant wird. Dieser immanente Widerspruch dürfte so zu erklären sein, dass sich in ihm derselbe Prozess bemerkbar macht, den das Werk des Libavius dokumentiert: den zunehmenden Rekurs auf eine wissenschaftliche Öffentlichkeit, auf Nachprüfbarkeit und Diskussion von medizinischen, pharmazeutischen und chemischen Verfahrensweisen, die ihrerseits einen klaren und verständlichen sprachlichen Ausdruck erfordert. An der Basilica Crolls ließe sich damit der Widerspruch von wissenschaftlichem, empirisch überprüfbaren Anspruch einerseits – nämlich chemiatrische Rezepte so zu formulieren, dass sie nachvollzogen und erprobt werden können, mithin die medizinische Seriosität des Paracelsismus zu erweisen – und der stark theologischen Überzeugungen verpflichteten Erkenntnistheorie des Paracelsismus andererseits ablesen. Die Basilica Crolls dokumentiert den anlaufenden Prozess der »scientific revolution« damit letztlich noch viel deutlicher als die Alchymia des Libavius. Croll übernimmt in der Praxis die Forderungen einer Wissenschaft, deren erkenntnistheoretische Grundlagen er in der Theorie weiterhin bestreitet. Das neue Ideal einer wissenschaftlichen Offenheit setzt sich selbst da durch, wo es von der Sache her gar nicht gefordert werden dürfte. Auf der anderen Seite beharrt der Paracelsismus noch bis weit ins 17. Jahrhundert hinein auf seiner Ablehnung der wissenschaftlichen Methodik, auch wo er deren Standards de facto längst akzeptiert hat. 1648 beschreibt Johann Baptist van Helmont in seinem Ortus Medicinae seinen eigenen Erkenntnisprozess als eine Abkehr von der Vernunft. Wenn Salomon den Geist des Menschen eine Leuchte nenne, so meine er damit, »daß die geheimen Wissenschaften der Dinge/ von dem Vater des Lichts/ vermittelst dieser Lampe in uns eingestrahlet werden.« »Da sahe ich nun/ daß die Seele keiner SchlußRede (Syllogismus) vonnöthen hat […] umb des willen/ daß ihre natürliche angeschaffne Erkänntnus viel edler und gewisser ist als eine jedere Art von Beweißthum; (Demonstratio.) so doch der höchste Gipffel der Vernunft ist.«89 »Daß die VernunfftKunst (Logica) nichts tauge«, ist das siebte Kapitel des Ortus Medicinae betitelt.

89 Helmont, Aufgang der Artzney-Kunst, S. 21.

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Antike Mythologie als Sprachform der Alchemie Von einer solchen Verachtung der Logik und Rhetorik kann bei Michael Maier keine Rede sein. Maier bedient sich in der Atalanta fugiens der antiken Mythologie nicht, weil er sie für den Ausdruck einer Uroffenbarung hält, sondern weil er sie als bewusste Verschlüsselungstechnik der antiken Naturphilosophen versteht, mithin für ein menschliches, rationales Konstrukt hält. Um sie zu verstehen, ist ein Studium der antiken Dichtung unerlässlich. Die starke Präsenz der antiken Mythologie in der Atalanta erklärt sich daraus, dass sie für Maier nur ein Schleier ist, hinter dem die Antike ihre naturphilosophischen Erkenntnisse, die entdeckten »Geheimnisse der Natur«, verbergen musste, um diese mitteilen zu können.90 Die Mythen um Ceres, Triptolemus, Osiris und Dionysos hätte die Antike nur erfunden, um die Regeln des Ackerbaus zu vermitteln, der im Übrigen sehr viel mit Chemie zu tun habe.91 Wörtlich genommen wäre »nichts absurderes« vorstellbar als der goldene Regen, der Koloss von Rhodos und die Geburt der Pallas aus dem Kopf Jupiters. Maier bezieht diese Geschichten deshalb auf bestimmte chemische Prozesse. Es ist allein »die tropische Ausdrucksweise«, die solche Geschichten erlaubt und entschuldigt.92 Das Rätsel der Sphinx, das Ödipus löste, bezöge sich nicht auf die drei Lebensalter – das ist viel zu einfach –, sondern sei chemisch zu deuten.93 Der ganze Discursus zum 44. Emblem dient einzig und allein dazu, die Unglaubhaftigkeit der antiken Mythologie zu demonstrieren, um dann daraus zu folgern, dass diese naturphilosophisch erklärt werden müsse.94 Auch eine ›historische‹ Deutung der antiken Mythen, die diese auf historische Ereignisse bezöge, erklärt Maier für Unsinn.95 Maier beendet seine Polemik gegen solche Deutungen mit der Bemerkung, dass die allegorische Ausdrucksweise allein den Philosophen zustünde, und zwar deshalb, weil die mit der Allegorie implizierte Doppeldeutigkeit (aequivocatio) das eigentlich Gemeinte nicht mehr klar erkennen lasse. Eine solche Doppeldeutigkeit sei den Philosophen aber nicht nur zugestanden, sondern sogar geboten.96 90 Allgemein zur alchemischen Deutung der antiken Mythologie Telle, Mythologie und Alchemie. Eine grundlegende Darstellung von Maiers Mythos-Rezeption bei Kühlmann, Sinnbilder der Transmutationskunst. Stark paraphrasierend ist Sheppard, Mythological Tradition. 91 Maier, Atalanta 6, S. 34 f., Cabinet S. 100 f. 92 Maier, Atalanta 23, S. 102, Cabinet S. 168. 93 Maier, Atalanta 39, S. 167, Cabinet S. 233. 94 Maier, Atalanta 44, S. 186 f., Cabinet S. 252 f. 95 Maier, Atalanta 39, S. 166, Cabinet S. 232. Ähnlich Maier auch in der Vorrede zu den Arcana Arcanissima, die Leibenguth, Poesie S. 452 – 463 ediert und übersetzt hat, vgl. hier S. 457. 96 Maier, Cabinet S. 233, Maier, Atalanta 39, S. 166 f.

Die Sprache der Alchemie

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Die Philosophen, das heißt die Naturforscher, Chemiker und Physiker, bedienen sich der Allegorie, um nicht klar verständlich zu sein. Damit steht Maier sicherlich nicht in derselben Tradition wie Galilei, der fast gleichzeitig behauptet hatte, das Buch der Natur sei in der Sprache der Mathematik geschrieben (Il saggiatore, 1623). Auf der anderen Seite aber steht Maier neben Francis Bacon, der nur wenig früher – es ist im übrigen nicht ausgeschlossen, dass Maier, der sich um 1614 längere Zeit in London aufhielt, die Schriften Bacons kannte – in einer Schrift über die Weisheit der Antike (De sapientia veterum, 1609) in Analogie zu Maier demonstriert hatte, wie man die antike Mythologie naturphilosophisch erklären konnte. Ganz ähnlich und gleichzeitig mit Maiers Arcana (1614) hat auch Johann Heinrich Alsted in seiner Physica poetica harmonica (1616) die antike Mythologie als alchemisches Gleichnis verstanden.97 Die antike Mythologie ist keine sinnlose Fabelei, sondern »Weisheit«, das heißt naturphilosophischer Sachverstand, der sich einer Arkansprache bedient. Maier, Alsted und Bacon rezipieren den antiken Mythos als Konsequenz des alchemischen Schweigegebots, in dessen Befolgung sich der Philosoph einer doppeldeutigen Sprache bedienen musste. Während Bacon die Notwendigkeit einer solchen Geheimsprache jedoch nur rückblickend für die Antike erkennt, für die Gegenwart aber nicht nur eine »neue Wissenschaft«, sondern auch eine möglichst eindeutige Sprache für diese Wissenschaft fordert, schreibt Maier mit der Atalanta diese Tradition fort, indem er sie poetisch transformiert. Dichtung ist für Maier die Sprachform der Alchemie. Deshalb braucht der wahre Alchemiker, im Gegensatz zum falschen Goldmacher, eine grundlegende humanistische Bildung in Rhetorik und Dichtung, um die Sprache der Alchemie verstehen zu können. Die Dichtung, schreibt Maier, handle »von überhaupt keinem anderen Gegenstand und ist ursprünglich nur wegen der chemischen Allegorien und Erfindungen (figmenta) eingeführt worden«. Wer aber diese Allegorien als Schale nicht durchdringe, werde auch nicht zu den darin verborgenen, chemischen Geheimnissen vorstoßen.98 Der Philosoph muss sein Wissen verbergen, und dafür verwendet er den Mythos als fiktionale Erzählung, jedenfalls in der griechisch-römischen Antike, oder er bedient sich der Hieroglyphen als bildlicher Darstellung, wie in der ägyptischen Antike. Schon Maiers Arcana arcanissima (1614) versprechen nichts Geringeres als den Nachweis, dass es sich bei der gesamten antiken Mythologie, von den ägyptischen Hieroglyphen angefangen bis hin zum trojanischen Krieg, um nichts anderes handelt als eine naturphilosophische Allegorie. In diesem Sinne müssen Maiers eigene literarische Werke, vom Emblembuch der Atalanta bis zum Roman der Allegoria subtilis, als Nachahmung dieser 97 Alsted, Physica poetica harmonica, S. 271 – 281. 98 Maier, Examen fucorum, S. 15 f. Übersetzung Beck, Maiers Examen fucorum, S. 83.

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antiken Tradition verstanden werden, genauso wie die Chymische Hochzeit (1616) Andreaes, das Parergi Philosophiae Speculum (1623) Heinrich Nolles,99 die Chryseidos Libri IIII (1631) des Johann Nicolaus Furichius,100 die Jäger-Lust (1635) von Thomas Rappolt, die Metamorphosis Planetarum (1663) MonteSnyders und das Conjugium Phoebi et Palladis (1677) Christian Knorrs von Rosenroth.101 Die Bildlichkeit der Atalanta und die Fiktionalität des Romans sind, wie die antike Mythologie, die ägyptische Hieroglyphik und Homers Beschreibung des trojanischen Krieges, Formen der ›anschaulichen‹, besonders »sinnreichen« Fassung der Philosophie, als welche die Dichtung erscheint. Sie haben den Zweck, ihre Betrachter und Leser zum Denken anzuregen. Es sind Köder oder »Lockvögel« für die menschlichen Sinne, wie es in der Atalanta heißt, die den Intellekt in Bewegung bringen: Denn nichts ist im Intellekt, was nicht zuvor in den Sinnen war.

4.

Zusammenfassung

In und mit derselben Bewegung, in der die Arkansprache der traditionellen Alchemie von Libavius für obsolet erklärt wird, kann sie von Maier zum poetischen Decorum transformiert und in ein poetisches Spiel überführt werden. Die naturphilosophische Redundanz der alchemischen Arkansprache macht deren Transformation in ein poetisches Stilmittel möglich. Maiers Atalanta ist deshalb kein verschlüsseltes Werk des Okkultismus, kein Ausdruck magischen Geheimwissens, sondern Ausdruck eines spielerischen Umgangs mit einer alchemischem Bildlichkeit, die ihre Funktion als Arkansprache verloren hat. Die enigmatische Bildlichkeit der Atalanta verschweigt ihr technisches Wissen nur noch im Sinne eines poetisches Spiels. Als andächtige Versenkung in die Geheimnisse der Natur hat dieses Spiel einen durchaus ernsten Zweck, nämlich die anschauliche, sinnlich vermittelte Darstellung der göttlichen Weisheit als innerstes Geheimnis der Natur. Die poetische Transformation der alchemischen Arkansprache vollzieht sich im selben Augenblick, in dem diese Arkansprache in der Alchemie – und zwar 99 Zu Nolle oben S. 149 ff. Gilly bezeichnet das Parergi Philosophi Speculum (nur in einem einzigen Exemplar überliefert) als den »schönsten rosenkreuzerischen Roman nach der ›Chymischen Hochzeit‹«. Hochhuth, Mittheilungen, S. 220 – 222 bietet eine Inhaltsangabe. Nach Katona, Utopische Literatur gibt es eine Übersetzung des Romans ins Ungarische. 100 Zu Furichius Kühlmann, Alchemie und späthumanistische Formkultur. 101 Zu Rappolt Zeller, Hermetisches Sprechen, zu Monte-Snyder und Knorr von Rosenroth vgl. Zeller, Metaphorische Verschlüsselung. Weitere Hinweise in dem grundlegenden Artikel »Alchemie« von Joachim Telle in: Theologische Realenzyklopädie Bd. 2. Berlin, New York 1978, S. 199 – 227, hier S. 214 f.

Zusammenfassung

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sowohl in der traditionellen wie in der paracelsistischen Alchemie – von einer unbildlichen und eigentlichen Sprache abgelöst wird. Die Ausdifferenzierung einer spezifisch poetischen und einer spezifisch wissenschaftlichen Sprache wären mithin zwei Seiten desselben Prozesses. Die grundsätzliche Verwandtschaft der alchemischen Arkansprache und der Dichtung wurde dabei immer schon gesehen, wie das Rosarium belegt, wenn es dort heißt, die Philosophen wüssten, dass die Geheimnisse der Alchemie nur in verdeckter Form (mystice) weitergegeben werden dürfen, genauso, wie in der Dichtung Fabeln und Parabeln verwendet würden.102 Dieses poetische Potential der alchemischen Arkansprache hat Maier für seine Atalanta benutzt. Diese These einer poetischen Transformation der alchemischen Arkansprache bestätigen insbesondere die Embleme und die Fugen. Joachim Telle hat bereits anlässlich des Rosarium philosophorum angedeutet, dass die alchemische Bildlichkeit um 1600 zunehmend ihres technischen Charakters beraubt wird, während in gleichem Zuge die Faszinationskraft ihrer Bildlichkeit zunimmt.103 Telle verweist auf den Verleger Lucas Jennis – ein Neffe Theodor de Brys, dem Verleger der Atalanta, und selbst Verleger einiger Werke Maiers – der 1624 eine Sammelausgabe alchemischer Kupferstiche vor allem aus den Werken von Daniel Mylius und Maier unter dem Titel Viridarium Chymicum veröffentlicht hat. Diese Sammelausgabe verdankt sich zumindest auch kommerziellen Gründen, insofern die wertvollen Kupferplatten mehrfach verwendet werden sollten.104 Daniel Stoltzius von Stoltzenberg, den Jennis damit beauftragt, die begleitenden Verse zu den Kupferstichen zu verfassen, gesteht dabei im Vorwort ein, im Verlauf der Arbeit gemerkt zu haben, dass »die Beschreibungen mit den Figuren nicht vberein stimmeten/ ich auch jhre Außlegungen niergend finden kunde«, was ihn »in grosse angst« versetzt und in ein »vnaufflößliche[s] Labyrinth« geführt hätte.105 Auch dies belegt, dass schon 1624 die Bedeutung der Kupferstiche als zweitrangig gegenüber ihrem enigmatischen Charakter erscheinen konnte. Man konnte anfangen, die Kupferstiche mit Versen zu versehen, ohne genau zu wissen, was sie bedeuten. Erst waren die Kupferstiche da, dann wurde jemand beauftragt, die »erklärenden« Verse zu schreiben. Der ›poetische‹, rätselhafte Charakter, nicht der alchemische Sinngehalt, ist das Argument für den Abdruck der Kupferstiche. Das dürfte auch für die Kupferstiche der Atalanta gelten. Die Kupferstiche der Atalanta transportieren alchemisches Wissen in poe102 Rosarium Philosophorum, S. 69. 103 Vgl. Telle, Bemerkungen zum Rosarium. 104 Telle, Sol und Luna, S. 65 f. und S. 118 sowie Telle, Bemerkungen zum Rosarium, S. 199. Zu Jennis Trenczak, Lucas Jennis. 105 Stoltzius von Stolzenberg, unpag. Vorrede. In: Chymisches Lustgärtlein. Zu Stoltzius Kühlmann, Poeta, Chymicus, Mathematicus.

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Alchemie zwischen Dichtung und Naturphilosophie in der Atalanta fugiens

tischer Transformation, um es einer Meditation über Gott als »Geheimnis der Natur« zugänglich zu machen. Für diese Klassifikation der Atalanta als alchemisches Andachtsbuch bilden die Fugen ein letztes und gewichtiges Argument. Helen Joy Sleeper hat nachgewiesen, dass es sich bei der Ausgangsmelodie von Maiers Fugen um ein weitverbreitetes Kirchenlied, den Cantus Cunctipotens Genitor Deus handelt.106 Paul P. Raasveldt konnte zeigen, dass Maiers Fugen nach dem Kompositionsmodell von Johannes Lippius’ Synopsis musicae novae gearbeitet sind, die 1612 zuerst erschienen war und 1615 schon in einer zweiten Ausgabe vorlag. Der lutherische Theologe Lippius entwickelt in dieser Synopsis eine Theorie des Dreiklangs als Abbild der göttlichen Dreifaltigkeit. Lippius wendet sich mit seinem Kompositionslehrbuch ausdrücklich an Philosophen und Theologen, die er dazu einlädt, mit seiner Kompositionsmethode zu experimentieren, um sich auf diese Art das Mysterium der Trinität zu vergegenwärtigen. Nichts sei besser geeignet, den dreieinigen Schöpfer zu veranschaulichen und zu feiern, als die auf dem Dreiklang basierende Harmonie.107 Diese allegorisch-erbauliche Betrachtungsweise ist der Atalanta, in deren Zentrum – dem 26. Emblem – die Weisheit Gottes steht, äußerst angemessen. Maier ist kein enthusiastischer »Schwärmer«, Neuplatoniker oder Paracelsist, sondern ein humanistisch geprägter Dichter, der sich der alchemischen Bildwelt und der Natur als einer Allegorie der Schöpfung bedient. Seine Werke sind nicht Ausdruck einer theologischen Heterodoxie, sondern Ausdruck einer liberalen, lutherischen Frömmigkeit auf der Suche nach ihr gemäßen, neuen literarischen Formen. Maiers Interessen sind keine theologischen, sondern poetische. Joachim Telle hat Maiers Schriften »ein Ringen um neue naturkundliche Einsichten, die Darlegung auf Experiment und eigenständiger Erfahrung beruhender Kenntnisse oder praxisnahe Unterweisungen« abgesprochen. Prägend seien vielmehr »literarisch gewandte Darbietung von Buchwissen und fachschriftstellerisch ambitionierte Aufgriffe humanistisch-rhetorischer Präsentationsideale«,108 wie sie sich in der Wahl literarischer Formen spiegeln: im Lusus serius (1616) als Streitgespräch, im Iocus severus (1617) als Prozessdichtung, in den Cantilenae intellectuales (1622) in lyrischer Form, in der Allegoria subtilis in der Form des allegorischen Romans109 und in der Septimana philosophica (1620) als naturphilosophisches Lehrgespräch. Mit der Septimana philosophica steht 106 Vgl. Sleeper, Alchemical Fugues. 107 Raasveld, Maiers Atalanta fugiens bes. das Zitat S. 366 f. Gegen Raasveld ist zu betonen, dass an der damit implizierten Andacht und Erbaulichkeit nichts »Mystisches« ist. 108 Joachim Telle, Art. Maier, Michael. In: Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Hg. v. Walther Killy. Gütersloh, München 1990, Bd. 7, S. 428 – 429, hier S. 429. 109 Die Allegoria subtilis, 1677 im Musaeum hermeticum separat abgedruckt, ist bereits im zwölften Bucher der Symbola enthalten, worauf Leibenguth hingewiesen hat.

Zusammenfassung

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Maier in einer Tradition, die nur wenig später, dann allerdings in deutscher Sprache, etwa in die Mathematischen und philosophischen Erquickstunden (1636) und die Gesprächsspiele (1644 ff.) eines Georg Philipp Harsdörffer münden wird. Wenn Caspar Dornau den Lusus serius Maiers in sein Amphitheatrum Sapientiae Socraticae Ioco-Seriae (1619) übernimmt, rezipiert er Maier in der ihm gemäßen Form.110 Auch dieses, der sapientia gewidmete Werk verspricht in seinem Untertitel eine Einführung in die Mysterien der Natur (Opus ad mysteria naturae discenda), ohne damit irgendeine Form von Mystik, Magie oder Okkultismus zu implizieren. Der Hermetismus Maiers ist eine »ernsthafte Spielerei«, insofern er ernste, wissenschaftliche Inhalte in spielerischer Form vermittelt. Er ist mithin das, was die Frühe Neuzeit als Dichtung bezeichnet hat, nämlich eine »sinnreiche faßung« (Opitz), das heißt anschauliche, in die Sinne fallende Darstellung der Lehrinhalte anderer Disziplinen. Horaz ist mit seinem »Omne tulit punctum, qui miscuit utile dulci« (Ars poetica, v. 343), das Maier seinem Lusus serius als Motto vorangestellt hat, das Paradigma dieses Dichtungsbegriffes. Martin Opitz, ein Schüler Dornaus, definiert in diesem traditionellen Sinne nur wenige Jahre später in seinem Buch von der deutschen Poeterey (1624) die Dichtung als »eine sinnreiche faßung aller sachen die wir vns einbilden können/ der Himlischen vnd jrrdischen/ die Leben haben vnd nicht haben/ welche ein Poete jhm zue beschreiben vnd herfür zue bringen vornimpt«, (S. 360) mit dem Zweck des Horazischen »prodesse et delectare« (»vberredung vnd vnterricht auch ergetzung der Leute«). (S. 351) Dichtung ist eine »erste Philosophie«, das heißt eine bildliche, anschauliche Philosophie, die vor der »zweiten«, abstrakt logisch argumentierenden Philosophie der späteren Zeiten, etwa seit Aristoteles, anzutreffen ist. Dichtung ist eine »verborgene Theologie«, »weil die erste vnd rawe Welt gröber vnd vngeschlachter war« und den Menschen deshalb die »lehren von weißheit vnd himmlischen dingen« nicht in abstrakter Form, sondern nur in der bildlichen Form der Dichtung, »in reimen vnd fabeln«, die der »gemeine pöfel zue hören geneiget ist«, näher gebracht werden konnten. (S. 344) Genauso stellt sich auch Maier mythologische Verschlüsselung alchemischer Lehren in der Antike vor. Im Kommentar zu seinem Lobgesang […] Jesu Christi aus demselben Jahr wie die Poeterey (1624) nennt Opitz ausdrücklich »Jamblichus in seinem Buch von der Egyptier/ Chaldeer vnd Aßyrier heimligkeiten/ vnd Mercurius Trismegistus 110 In Dornaus Programm passt Maier auch mit seinem Verum inventum, das, im selben Jahr wie der unter der Aegide Dornaus entstandene Aristarchus des Martin Opitz, Ausdruck eines spezifisch humanistischen Patriotismus ist. Zu Dornau vgl. Seidel, Späthumanismus. Das Amphitheatrum (im Nachdruck hg. v. Robert Seidel) ist bei Daniel Aubry erschienen, dem Schwiegervater Boissards.

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Alchemie zwischen Dichtung und Naturphilosophie in der Atalanta fugiens

in seinem Pimander« (S. 146) als Beispiele für eine derart »verborgene«, das heißt in poetischer Sprache versteckte Theologie und »erste Philosophie«. Auch Opitz liest damit das Corpus Hermeticum, zeitgleich mit Michael Maier, als Ausdruck eines philosophischen Wissens in poetischer Form. Darauf wird im siebten Kapitel zurückzukommen sein.

VI.

Das Rosenkreuz zwischen Spiritualismus und Frömmigkeitsreform

»Nun kriegen wir mit lichtscheuenden und im tunckelen mausenden Nacht-Raben zutuhn/ die sich auch scheuen ihren Namen zu setzen oder sich kund zu geben/ sondern unterm Titel der hocherleuchteten Gesellschaft des heiligen Rosencreutzes/ die Unvorsichtigen zu verführen trachtet.«

Mit diesen Worten leitet Colberg in seinem Platonisch-Hermetischen Christentum das Kapitel über die Rosenkreuzer ein, und er lässt in der Folge keinen Zweifel an der Tatsache, dass diese Rosenkreuzer im Kern eine »Paracelsistische Weigelianische Rotte« (S. 266) sind. Weitaus vorsichtiger beurteilt Carlos Gilly das Verhältnis von Rosenkreuz und Paracelsismus, wenn er schreibt, »dass ohne Paracelsus und ohne die durch seine Lehre und Schriften entstandene Bewegung die Manifeste der Rosenkreuzer nicht zu dieser Zeit und auf jeden Fall nicht in dieser Form hätten geschrieben werden können.«1 Die Tatsache, dass historisch gesehen der Paracelsismus die Bedingung der Möglichkeit des Rosenkreuzertums darstellt, impliziert nicht, dass das Rosenkreuzertum den Paracelsismus in allen Punkten übernimmt.

1 Gilly, Cimelia Rhodostaurotica, S. 7. Im selben Sinne Kühlmann, Sozietät als Tagtraum, der den Stand der Forschung zusammenfasst. Im Gegensatz zu der Vorsicht, mit der Gilly und Kühlmann Paracelsismus und Rosenkreuzertum in Verbindung bringen, steht die Ausschließlichkeit, mit der Edighoffer eine paracelsistische und spiritualistische Ausrichtung der Rosenkreuzer-Manifeste behauptet, vgl. bes. Edighoffer, Rose-Croix, zusammengefasst in ders., Andreae. Vom Rosenkreuz zur Pantopie. Dort wird S. 226 die Fama als das »Evangelium des Paracelsus« bezeichnet. Ähnlich auch Edighoffer, Manifeste der Rosenkreuzer. Nicht überzeugend ist auch der Versuch Edighoffer, Hermeticism in Early Rosicrucianism, die Rosenkreuzer-Manifeste vor dem Hintergrund des Corpus Hermeticum zu lesen. Mit ähnlicher Tendenz schon Faivre, Les manifestes et la tradition.

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1.

Das Rosenkreuz zwischen Spiritualismus und Frömmigkeitsreform

Rosenkreuz und Paracelsismus

Gemeinsamkeiten Die Punkte, in denen sich die Rosenkreuzerschriften Andreaes – vor allem die Fama fraternitatis (Druck 1614) und die Confessio fraternitatis (Druck 1615), aber auch die Chymische Hochzeit Christiani Rosenkreutz. Anno 1459 (Druck 1616)2 – an den Paracelsismus anschließen, sind vor allem drei: erstens, die enge Verbindung von religiösen und medizinischen Fragen; zweitens, das zumindest bedingte Bekenntnis zu einer alchemia medica; drittens, der Antiakademismus. Wie die Paracelsisten verknüpfen die supponierten Rosenkreuzer ihre medizinischen Interessen mit einem religiösen Programm. Die Restitution der Wissenschaften und Künste, die die Fama fraternitatis verkündet, ist in erster Linie eine Restitution medizinischen Wissens, nämlich die Erkenntnis des Menschen als mikrokosmisches Spiegelbild des Makrokosmos. Die Zeit sei gekommen, heißt es in der Fama, da Gott »das halbe theil der unbekandten und verborgenen Welt erfunden, viel wunderliche vnd zuvor nie geschehne Werck und Geschöpff der Natur uns zuführen, und dann hocherleuchte Ingenia auffstehen lassen, die zum theil die verunreinigte unvolnkommene Kunst wieder zu recht brächten, damit doch endlich der Mensch seinen Adel und Herrlichkeit verstünde/ welcher gestalt er Microcosmus, und wie weit sich sein Kunst in der Natur erstrecket.« (Fama S. 139)

Wie bei den Paracelsisten ist damit die »Harmonie« von Mikro- und Makrokosmos im »Licht der Natur« Kern und Erkenntnisprinzip des medizinischen Wissens. Das Wissen, das Rosenkreuz auf seinen Reisen nach Arabien und Afrika erfährt, ist ein medizinisches. Auch »das Buch und librum M.«, das Rosenkreuz »in gut Latein« (Fama S. 141) bringt, scheint vor allem medizinisches Wissen zu enthalten. Das wichtigste Gebot, dem die Brüder sich zu unterwerfen haben, ist das Gebot, als Ärzte zu praktizieren und diese Kunst ohne Bezahlung auszuüben. (Fama S. 148) Die Parallele von Christian Rosenkreuz und Paracelsus wird ausdrücklich benannt, wenn es in der Fama heißt, Paracelsus habe den »Librum M.« »fleissig gelesen und sein scharffes Ingenium dardurch angezündet«. (Fama S. 145) Es folgt allerdings sofort die Kritik an Paracelsus’ öffentlichem Auftreten und seinem »freyen vnachtsamen Leben«. Die typisch akademischen Untugenden der superbia und curiositas (»der Gelehrten und Naßweysen Ubert2 Nach Gilly, Cimelia kann davon ausgegangen werden, dass Andreae nicht nur die Chymische Hochzeit und die Confessio verfasst hat, sondern auch die Fama. Tobias Hess kann beteiligt gewesen sein, die Redaktion der bekannt gewordenen Fassung geht aber wohl auf Andreae zurück. Zitate nach der kritischen Ausgabe Edighoffers.

Rosenkreuz und Paracelsismus

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rang«) hätten eine seriöse Auseinandersetzung mit seinen Erkenntnissen verhindert (»daß er sein Bedencken von der Natur nimmer friedlichen mit andern conferiren«). (Fama S. 145) Die Erwähnung des Paracelsus ist der Fama so wichtig, dass sie einen Verstoß gegen die Chronologie in Kauf nimmt, wenn in der Grabkammer von Rosenkreuz ein »Vocabularium« des Paracelsus gefunden wird (Fama S. 154), obwohl diese Grabkammer nach Ausweis derselben Fama schon 1484 nach dem Tod von Rosenkreuz versiegelt worden ist, also neun Jahre vor Paracelsus’ Geburt. Dass es sich um ein »Vocabularium« handelt, dürfte so zu verstehen sein, dass die Rosenkreuzer damit im Gegensatz zu vielen anderen über einen Schlüssel zum Verständnis der bewusst unverständlich gehaltenen Werke des Paracelsus besitzen würden. Zu denken wäre an ein Werk wie Gerhard Dorns Dictionarium Theophrasti Paracelsi (1584).3 Wie für die Paracelsisten ist für die Rosenkreuzer die Bibel die »Richtschnur ihres Lebens«, die »höchste[n] Materi und Zweck ihres studirens und handirens«, ein »Manual und kurtze[r] Begriff der gantzen Welt« (Confessio X, S. 219) und damit der Schlüssel zum »Buch der Natur«. Die Bibel, so heißt es in der Confessio im Sinne einer »physica mosaica«, sei »ewer eintzige/ vornembste/ stettige und bestendige Lection«. (Confessio X, S. 219) Aus ihr allein liesen sich die »Wunderwerck der Welt« (Confessio X, S. 219) verstehen. Durch die Bibel ist den Rosenkreuzern auch die Restitution der adamitischen Ursprache gelungen, die ihrerseits eine magische Beherrschung der Natur erlaubt (»die Buchstaben von welchen wir gäntzlich unsere Magische Littern entlehnet/ unnd darauß uns ein newe Sprach zusammen getragen haben/ mit deren dadurch zugleich eines jeden Dings Natur exprimirt und außgedruckt werde«, Confessio IX, S. 218 f.) Der damit umrissene Begründungszusammenhang von Medizin und Theologie führt auch bei den Rosenkreuzern, wie bei den Paracelsisten, zur Konstitution der Medizin als einer alchemia medica. Nur die Alchemie ist gut, heißt es im elften Kapitel der Confessio, die »der Natur Erkäntnusse […] als andere unzehliche Wunder der Natur lehren thut« (Confessio XI, S. 221 f.). Das »verfluchte Goldmachen« dagegen lehnen die Rosenkreuzer-Manifeste wie die Paracelsisten schärfstens ab. Die »mutatio metallorum« sei nicht »der höchste apex vnd fastigium in der Philosophia«. (Fama S. 159) Den »wahren Philosophis« sei »Gold zu machen ein geringes vnnd nur ein parergon«. (Fama S. 160) Die auszubildenden Rosenkreuzer werden deshalb nicht eher in die »Tinctur der Metallen« eingewiesen, als bis sie »die Erkandtnuß der wahren Philosophei von uns in acht genommen«. (Confessio XI, S. 223) Wem die ganze Natur offenstünde, der freue sich nicht, Gold machen zu können, »sondern daß

3 Edighoffer, Gnos¦ologie rosicrucienne, S. 319.

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Das Rosenkreuz zwischen Spiritualismus und Frömmigkeitsreform

er siehet den Himmel offen und die Engel Gottes auff und absteigen und sein Nahmen angeschrieben im Buch des Lebens.« (Fama S. 160) Wie die Paracelsisten berufen sich die Rosenkreuzer auf die Tradition eines geheimen, seit Urzeiten weitergegebenen Wissens, das in scharfem Kontrast zum akademischen Wissen steht. Nicht auf den europäischen Universitäten studiert Rosenkreuz, sondern von den »Weysen zu Damasco in Arabia« lernt er, »wie ihnen die gantze Natur entdeckt were«. (Fama S. 140) In die Magie und Kabbala wird er dort eingeführt, und in Fez erfährt er den »grund seines Glaubens, als welcher just mit der gantzen Welt Harmonia concordiert, auch allen periodis seculorum wunderbarlichen imprimiert were«, (Fama S. 142) also eine prisca sapientia ist. Zweifellos ist dieses arabische und afrikanische Wissen, wie es dessen geographische Verortung schon nahelegt, in letzter Instanz ägyptischer Herkunft, was den Anschluss an die neuplatonischen Mythen der Weisheitsübertragung herstellt. Rosenkreuz hat allerdings mit seinem hermetischen Wissen nicht viel Erfolg. Als er sich nach mehreren Jahren auf die Rückreise nach Europa macht, in der Erwartung, es »würden sich die Gelehrtern Europae höchlich mit ihme erfrewen und numehr alle ihre Studia nach solchen gewissen fundamenten reguliren«, wie er sie aus Damascus und Fez mitbringt, sieht er sich bitter enttäuscht: »Er zeigte ihnen newe Gewächs, newe Früchte, Thiere, die sich nicht nach der alten Philosophia richteten und gab ihnen newe axiomata für die Hand, so durchauß alles salvierten, aber es war ihnen alle lächerlich und weil es noch new, besorgten sie, ihr grosser Nahme würde geschmälert, so sie erst lehrnen und ihre vieljährige irrung bekennen sollten, des ihren weren sie gewohnet und hette ihnen auch genug eingetragen […].« (Fama S. 143 f.)

Aus »Stoltz und Ehrgeitz« »bleibt man bey der alten Leyren und muß Bapst, Aristoteles, Galenus, ja was nur einem Codici gleich siehet/ wieder das helle offenbahre Liecht gelten«, wie Gott es im »Librum naturae« offenbart habe. (Fama S. 139 f.) Das Bücherwissen ist stärker als das Buch der Natur. Die Rosenkreuzer müssen erkennen, dass »das Buch der Natur zwar für jeder männiglichen Augen ausgethänet und aufgethan ist/ sehr wenig aber sein, die dessen Schrifft entweders recht lesen oder verstehen können.« (Confessio VIII, S. 215) Die Gründung der »Fraternität« ist das Ergebnis diesen Befundes, denn weil die europäischen Gelehrten nicht bereit sind, die neuen naturphilosophischen Erkenntnisse zu übernehmen, gründet Rosenkreuz die geheime Bruderschaft, um auf diese Art seine Erkenntnisse fruchtbringend anwenden und weitervermitteln zu können. Die Rosenkreuzer bilden als Geheimgesellschaft damit eine Alternative zur Universität.

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Die Ablehnung der ›doppelten Wahrheit‹: Das Feindbild der Manifeste Die Philosophie der Rosenkreuzer ist – wie es dem Status einer prisca sapientia entspricht – »nichts newes«, sondern die Philosophie, »wie sie Adam nach seinem Fall erhalten und Moses und Salomon geübet« haben. Ihre Wahrheit sei überall eine einzige, nämlich die christliche, die »eynig, kurtz und ihr selbst immerdar gleich, besonders aber mit Jesu ex omni parte und allen membris überein kömpt«, weshalb man nicht sagen könne, »dies ist philosophisch wahr, theologisch aber falsch« (»Hoc per Philosophiam Verum est, sed per Theologiam falsum«). (Fama S. 159) Die These einer »doppelten Wahrheit«, auf die die Fama damit anspielt, wurde seit dem 13. Jahrhundert und ihrer expliziten Verurteilung in dem Pariser Dekret von 1277 insbesondere mit einem naturphilosophisch geprägten Aristotelismus in Verbindung gebracht und richtet sich auch hier gegen diesen. Dieser Aristotelismus, in dessen Tradition die »Paduaner Schule« mit Pomponazzi als ihrem profiliertesten Vertreter stand, bestritt in der These von der doppelten Wahrheit, dass naturphilosophische Aussagen an demselben Begriff von Wahrheitsfähigkeit zu messen seien wie theologische, und sicherte auf diese Weise philosophische Rationalitätsansprüche gegen theologische Übergriffe.4 Der Hermetismus der Rosenkreuzer-Manifeste richtet sich mit seiner Ablehnung der ›doppelten Wahrheit‹ damit nicht gegen die Theologie, sondern gegen eine Naturphilosophie, die sich von der Theologie emanzipiert. Das Rosenkreuz tritt in den Dienst einer konservativ-restaurativen Berufung auf die Bibel. Denn was Andreae der ›doppelten Wahrheit‹ der Naturphilosophie gegenüber stellt, ist die eine Wahrheit der prisca sapientia, »worinnen es Plato, Aristoteles, Pythagoras und andere getroffen, wo Enoch, Abraham, Moses, Salomo den außschlag geben/ besonders wo das grosse Wunderbuch der Biblia concordiret«. Von dieser einen Wahrheit heißt es mit einem Zitat des dem Hermes Trismegistus zugeschriebenen Liber XXIV philosophorum weiter, sie sei »eine sphera oder globus, dessen omnes partes gleiche weite vom Centro« entfernt seien. (Fama S. 159) Das hermetische Wissen einer prisca sapientia steht damit – und das ist vielleicht die bedeutsamste Übereinstimmung mit dem Paracelsismus –, in scharfem Kontrast zum aristotelischen und galenischen Wissen. Das akademische Wissen wird nicht mit der Theologie, sondern mit einer tendenziell offenbarungskritischen Naturphilosophie in Verbindung gebracht. Diese Na4 Ich vereinfache die komplexe Problematik. Es ist in der Philosophiegeschichte umstritten, wer überhaupt die Theorie einer ›doppelten Wahrheit‹ vertreten hat. Einen Überblick vermittelt Jürgen Mittelstraß, »Wahrheit, doppelte«. In: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Hg. v. Jürgen Mittelstraß. Stuttgart, Weimar 1996, Bd. 4, S. 587 f.

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turphilosophie interpretiert die Natur nicht als unmittelbare Offenbarung Gottes im Sinne einer physica mosaica, sondern als zumindest bedingt autonome Gesetzmäßigkeit. Die Tatsache, dass dieser akademische, bibelferne Aristotelismus mit seiner Erforschung der natürlichen Ursachen immer nur Anlass zu Auseinandersetzungen gegeben hat, wird von den Rosenkreuzern in eschatologischem Horizont als Signum einer heillosen Verirrung und Verblendung interpretiert. Die gelehrten, zum Teil sehr aggressiv geführten Auseinandersetzungen, wie sie das akademische Leben in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts geprägt hatten, werden von den Rosenkreuzern nicht als notwendige Bedingung einer ergebnisoffenen Forschung wahrgenommen, deren Ergebnisse sich in einer konträr geführten Diskussion behaupten müssen, sondern als moralischer Mangel, als gefährliche curiositas, als fehlende Frömmigkeit, als Mangel an Demut. Die ›doppelte Wahrheit‹ der aristotelischen Naturphilosophie, die sich in heilloser Streiterei verliert, steht gegen die »ohnfehlbaren axiomata«, die Rosenkreuz aus der Bibel abgeleitet hat. Die biblische Wahrheit bildet das »eynige Centro«, (Fama S. 144) auf das sich alle anderen Erkenntnisse hin ausrichten. Eine selbständige Naturphilosophie, die sich argumentativ durchsetzen und sich an den Phänomenen der Natur überprüfen muss, ist damit überflüssig. Das Ziel des Rosenkreuzes ist nicht der naturphilosophische Fortschritt, sondern die Rückkehr zu einem verlorenen Ideal christlicher Demut. »Summa scientia nihil scire«, (Chymische Hochzeit VII, S. 412) lautet der Wahlspruch des Christian Rosenkreuz im Anschluß an 1. Kor. 13. Andreae steht mit seinem Angriff auf die ›doppelte Wahrheit‹ in einer lutherisch konservativen Tradition, die sich auf den frühen Luther berufen kann, der in seiner Disputatio contra scholasticam theologiam (1517) ganz im selben Sinne formuliert hatte, dass sich der ganze Aristoteles zur Theologie verhalte wie die Dunkelheit zum Licht.5 In Kontrast zu dieser Entmächtigung der Naturphilosophie steht die Position Melanchthons, wie sie sich – außerhalb der theologischen Fakultäten – an den protestantischen Universitäten durchgesetzt hatte. Mit der bedingten Autonomie, wie sie die Melanchthonische Naturphilosophie den »natürlichen Ursachen« zugestand, erlaubte sie Gelehrten wie Libavius und Sennert die Konstitution einer von der Theologie unabhängigen Chemie und Medizin. Andreaes Insistenz auf der Gültigkeit einer einzigen Wahrheit für Philosophie und Theologie stellt dagegen die relative Autonomie einer naturphilosophischen Rationalität in Frage. Wer die philosophische Wahrheit der theologischen unterordnet, gerät zumindest in die Nähe eines christlichen Fundamentalismus 5 Luther, Disputatio contra scholasticam theologiam S. 169, These Nr. 52. Vgl. oben Kapitel II.3, S. 77.

Rosenkreuz und Paracelsismus

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oder ›Fanatismus‹, der eine naturphilosophische (und später naturwissenschaftliche) Forschung nicht zuläßt. Dass dieser ›Fanatismus‹ zumindest in der Fluchtlinie der physica mosaica liegt, zeigt die spätere Entwicklung im Pietismus. Dieser wird aufgrund solcher Vorgaben, bis in die Gegenwart hinein, alle naturwissenschaftlichen Evolutionstheorien bestreiten und stattdessen einen biblisch begründeten Kreationismus vertreten.

Die Bedencken des Libavius Die Gefahr eines solchen Fundamentalismus hat schon Libavius gesehen, der Andreae in seinem Wolmeinenden Bedencken/ Von der Fama, vnd Confession der Brüderschafft deß RosenCreutzes (1616) an dieser Stelle daran erinnert, »daß in Theologia vil miracula seyn/ aber nit in Philosophia«. Dass Sonne und Mond still stehen könnten, wie beim Tod Christi, oder eine Jungfrau ein Kind empfangen könne, »glaubt kein Philosophus, vnnd ist wider die Natur«, dennoch aber »theologisch wahr«.6 Aristoteles und Platon müsse man als Philosophen lesen, die auf der Suche nach der Wahrheit seien. Man dürfe nicht alles »authentificiren«, was diese Philosophen gesagt hätten, müsse aber alles prüfen, und was sich als falsch erweise, verwerfen, wie es diese vorgeführt und gefordert hätten. Das führt zwar zu gelehrten Streitereien, aber darin besteht wissenschaftlicher Fortschritt. Libavius sorgt sich angesichts der Rosenkreuzer-Manifeste nicht um die Theologie, sondern um die Freiheit und den Fortschritt der naturphilosophischen Forschung. Wenn es in den Manifesten heißt, es würden »zur Societät auch die fratres ignorantiae beruffen«, dann sei das gut und schön. Aber was ist mit den »literati«, den »Galenisten/ Peripatetici, Plinianisten/ Physici Hermetici«? – »Da heists Nein. Man will die alte[n] Philosophiam, vnd Medicin außgemustert wissen/ neben der Ethic/ vnd eins Theils der Theologi.« (Bedencken 9, S. 67) Libavius befürchtet mit der Ablehnung der ›doppelten Wahrheit‹ eine Restriktion der »alten«, nicht theologisch imprägnierten Forschung. Nicht nur wird die Naturphilosophie von den Rosenkreuzern an die Bibel zurückgebunden, sie wird auch noch von Laien (»fratres ignorantiae«) übernommen, die über keine akademische Ausbildung verfügen, aber – so dürfte Libavius angesichts der Paracelsisten fürchten – dafür göttlich inspiriert sind. Die »literati«, die akademisch Gebildeten, zu denen die Galenisten, Aristoteliker, »Plinianisten« (also die Botaniker, Geologen, etc.) und (Al-) Chemiker (»Physici Hermetici«, also die 6 Libavius, Bedencken 25, S. 179. Auf die Stelle hingewiesen hat Moran, Libavius, S. 241 f.

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Anhänger einer traditionellen Alchemie wie er selbst) gehören, werden aus dem Geheimbund ausgeschlossen. Um den Erkenntnisfortschritt der Naturphilosophie ist es Libavius auch zu tun, wenn er den Rosenkreuzern entgegenhält, er wisse sehr wohl um die Unvollkommenheit aller Wissenschaften und wäre auch jederzeit bereit, sich mit ihnen zusammenzusetzen und an einer echten Reform zu arbeiten. Er für seinen Teil wolle gerne alles prüfen und auch die Autorität Galens und Aristoteles’ solange zurückstellen, entsprechend jenem Diktum: »Amicus Plato, amicus Aristoteles; magis amica veritas«.7 (Bedencken 13, S. 110) Dass die Wissenschaften »verunreinigt vnd vnvollkommen« seien, wisse er auch. Wenn die Rosenkreuzer ihm ihre Ergebnisse zukommen lassen wollten, würde er gerne prüfen, »wie fern man kommen sey/ oder kommen könne«. (Bedencken 13, S. 111) Die Verwirklichung einer »idea perfecta«, einer »Generalreformation der ganzen weiten Welt«, wie sie die Fama propagiere, sei aber auf dieser Welt nicht zu haben. Die Rosenkreuzer, so die Empfehlung von Libavius, sollten daran denken, dass sie auch nur Menschen seien. (Bedencken 13, S. 111) Dass Libavius auf sein Bedencken keine Antwort erhalten hat, erstaunt nicht. Seinem Aufruf zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung – der von einem jener europäischen Gelehrten kam, von denen es in der Fama heißt, dass sie nicht bereit wären, sich mit dem neuen Wissen auseinanderzusetzen –, war so einfach nichts entgegen zu setzen. Wenn Andreae sich später von den Rosenkreuzer-Manifesten distanziert hat, dann deswegen, weil die Legitimität dieser Bedenken nicht zu bestreiten war. Ganz im Gegenteil: In der paracelsistischen Rezeption der Manifeste hatten sich diese Bedenken in schlimmster Form bewahrheitet. So dürfte es auch zu erklären sein, dass Andreaes scharfer Kritik der »PseudoChymici« nirgends eine Kritik an Libavius entspricht. Libavius gehört für Andreae schlechterdings nicht zu diesen »Pseudo-Chymici«, ganz im Gegenteil zu paracelsistischen Alchemikern wie Khunrath und Figulus. Libavius wird von Andreae nur ein einziges Mal erwähnt, und dort ohne jede Polemik oder Kritik. (Mythologia VI.13, S. 290)

Der fehlende Spiritualismus der Rosenkreuzer-Manifeste Khunrath ist neben Paracelsus die einzige zeithistorische Persönlichkeit, die mehr oder weniger namentlich in den Rosenkreuzer-Manifesten erwähnt wird. 7 Damit zitiert Libavius die Secretioris philosophiae consideratio des »Philippus a Gabella«, der diesen Ausdruck dort S. 9 ebenfalls gebraucht hatte. Dies zeigt, dass Libavius mit seiner Polemik schon die spiritualistische Rezeption der Manifeste vor Augen hat.

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Khunrath taucht in der Confessio als »amphitheatralischer Gaukler« (»amphitheatralis histrio«) und »Augenblender« auf, der sich mit seinen rätselhalften Bildern und Figuren einen Spass daraus mache, mit der Neugier der Leichtgläubigen zu spielen.8 Ausdrücklich wird er den »pseudochymici« zugerechnet, den »falschen Alchimisten«. Deren »verführerische Schelmenbücher«, die »der Hochheyligen Dreyfaltigkeit zu beschönigung ihrer Lappereyen« missbrauchten und »denen nur ein Schertz ist/ wann sie die Leut mit ungehewern Figuren und Rätzeln aufsetzen und betriegen«, sollten weggeworfen werden. (Confessio XII, S. 225) Das negative Urteil über Khunrath steht dabei in Kontrast zu der Tatsache, dass das Motto der Chymischen Hochzeit – »Arcana publicata vilescunt: et gratiam prophanata amittunt. Ergo: ne margaritas obijce porcis, seu asino substerne rosas.« – aus dem Khunrathschen Chaos stammt. Während Mt. 7.6 (keine Perlen vor die Säue) in der alchemischen Literatur allgegenwärtig ist (vgl. oben S. 161), scheint der erste Teil des Mottos (»Arcana publicata vilescunt«) kein Zitat zu sein, begegnet aber als Marginalie im ersten Kapitel des Khunrathschen Chaos an der Stelle, an der im Text Mt. 7.6 zitiert wird.9 Eine weitere Parallele ist die Verwendung des Deeschen »Monas«-Zeichens, das Khunrath auf zwei Kupferstichen des Amphitheatrum verwendet, nämlich im Eingangsbereich der »alchemischen Festung« und innerhalb des »Steins der Weisen« (im Körper des Phoenix wie im Rebis, vgl. Abbildung 4 oben S. 142), das ansonsten aber zu diesem Zeitpunkt weitestgehend unbekannt ist.10 In dem Einladungsbrief (Chymische Hochzeit S. 5), den Rosenkreuz erhält, taucht ebenfalls dieses Zeichen auf,11 wobei dieser Einladungsbrief mit der konstantinischen Formel »In hoc signo vinces« (Chymische Hochzeit I, S. 257) versiegelt ist, die wiederum im Zentrum von Khunraths Kupferstich der »Kosmischen Rose« steht. Wahrscheinlich ist das Verhältnis Andreaes zu Khunrath ähnlich dem zu Figulus, den Andreae in seiner Autobiographie als »Betrüger und Herumtreiber« bezeichnet, dem er, Andreae, zwar Zugang zu seinem Tisch, aber nicht zu seinem Herzen gewährt habe. (Autobiographie Bd. I, S. 174) 8 Der Verweis auf Khunrath wurde in den späteren Ausgaben der Confessio gestrichen, was im Sinne einer Annäherung von Rosenkreuz und Paracelsismus zu deuten ist. Schon die Fama hatte gegen die »Bücher und Figuren« polemisiert, die »unter den Chymischen Nahmen« »in Contumeliam gloriae Dei« herausgekommen seien, vgl. Fama S. 160, was sich gegen Khunrath richten dürfte. 9 Khunrath, Chaos 1. Kap, S. 32. Der Hinweis bei Montgomery, Cross and Crucible Bd. 2, S. 285. 10 Zum Bekanntheitsgrad Dees vgl. Telle, Dee in Prag. Zum Monas-Zeichen in Khunraths Amphitheatrum Töllner, Der unendliche Kommentar S. 97, S. 155, S. 165. Töllner S. 167 und Telle S. 274 ziehen in Betracht, dass es sich auch um ein Mercurius-Zeichen handeln könnte. 11 Das Zeichen fehlt in der Ausgabe Edighoffers.

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Ungleich wichtiger als diese biographischen Details ist ein grundsätzlicher Unterschied. Im Gegensatz zum Paracelsismus, in dem die göttliche Inspiration das erkenntnistheoretische Fundament bildet, findet sich in den RosenkreuzerManifesten nirgendwo ein Bekenntnis zu irgendeiner Form der unmittelbaren Offenbarung Gottes. Stattdessen findet sich in der Fama ein klares Bekenntnis zum Luthertum, einschließlich einer Ablehnung aller »Schwermer/ Ketzer und falschen Propheten«: »Damit aber auch ein jeder Christ wisse, was Glaubens und Vertrawens wir Leut seyen/ so bekennen wihr uns zur Erkantnuß Jesu Christi/ wie dieselbige zu dieser letzten zeit/ besonders in Teutschland hell vnnd klahr außgangen und hoch heut zu Tag (außgeschlossen aller Schwermer, Ketzern und falschen Propheten) von gewissen und aufgezeichneten Ländern erhalten/ bestritten und propagiert wird, geniessen auch zweyer Sacramenten, wie die angesetzt mit allen Phrasibus und Ceremoniis der ersten renovirten Kirchen: In der Policey erkennen wir das Römische Reich und Quartam Monarchiam für unser und der Christen Haupt […].« (Fama S. 158)

Dieses emphatische Bekenntnis zum Luthertum, in Abgrenzung von »Schwärmern, Ketzern und falschen Propheten«, steht in Opposition zum spiritualistischen Selbstbewusstsein eines Croll, Figulus oder Khunrath. Diesen galt die Reformation als eine halbe, nicht zu Ende gebrachte Sache, die zudem nach Luthers Tod verwässert oder von Menschen wie Melanchthon verraten wurde. Ausgerechnet die lutherische Sakramentsfrömmigkeit (»geniessen auch zweyer Sacramenten, wie die angesetzt mit allen Phrasibus und Ceremoniis der ersten renovirten Kirchen«) und das lutherische Obrigkeitsverständnis (»In der Policey erkennen wir das Römische Reich und Quartam Monarchiam für unser und der Christen Haupt«), mithin also zwei Punkte, an denen sich die Spiritualisten (aber etwa auch die Calvinisten) scharf von der lutherischen Theologie abgrenzen, nennt Andreae explizit. Von einer überkonfessionellen Frömmigkeit kann deshalb nicht die Rede sein. Andreae integriert in den Rosenkreuzer-Manifesten den Spiritualismus und Paracelsismus nicht nur ins Luthertum, er subordiniert sie diesem geradezu. Was vom Paracelsismus übrig bleibt, ist ein gemäßigter Spiritualismus, der als solcher auf den kirchlichen Pietismus vorausweist. Er ist zwar theologisch nicht ganz harmlos, wie die späteren Diskussionen um diesen Pietismus zeigen, aber auf keinen Fall mit der ›Schwärmerei‹ eines Weigel, Paracelsus oder Khunrath zu vergleichen. Dem entspricht eine weitere Beobachtung. Die Rosenkreuzer-Manifeste vertreten keinen Separatismus, so erstaunlich dies für einen Geheimbund ist. Sie unterscheiden sich darin grundlegend vom Paracelsismus, aber auch von spiritualistischen Bewegungen wie den Böhmianern, Weigelianern oder Schwenckfeldern. Wie der Johann Arndt des Wahren Christentums, dem Andreae seine

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»Erweckung« zu verdanken hat, lässt Andreae keinen Zweifel an seinem Bekenntnis zur lutherischen Kirche, wenn er auch, wiederum wie Arndt, an einer stärker spiritualistischen Orientierung dieser Kirche arbeitet. Diesem gemäßigten Spiritualismus entspricht die Tatsache, dass in den Rosenkreuzer-Manifesten vom Geist gar nicht oder zumindest sehr wenig die Rede ist. Weder behaupten die Rosenkreuzer-Manifeste eine göttliche Inspiration oder unmittelbare Offenbarung, noch ist von einer alchemischen Extraktion des spiritus sanctus die Rede. Zwar nennt Rosenkreuz den Versammlungsort der Brüder das »Gebäw Sancti Spiritus« (Fama S. 146) und das Ende des »Büchleins T.« lautet: »Per Deo nascimur, in Iesu morimur, per Spiritum reviviscimus«, aber das ist auch gut lutherisch zu verstehen. Zwar heißt es in den letzten Sätzen des »Büchleins T.«, wie sie in der Fama zitiert werden, dass Rosenkreuz »divinis revelationibus, subtilissimis imaginationibus, indefessis laboribus, ad coelestia atque humana mysteria, arcanave admissus«, also »durch göttliche Offenbarungen, allergenaueste Vorstellungen [oder Visionen]12 und unermüdliche Arbeit zu den himmlischen und menschlichen Mysterien und Geheimnissen zugelassen« und deshalb auch 106 Jahre alt geworden sei. (Confessio VI, S. 209) Aber dass diese göttlichen Offenbarungen unmittelbare gewesen seien, ist daraus nicht zu entnehmen. Vermittelte Offenbarungen jedoch werden nach protestantischer Überzeugung jedem gläubigen Christen zuteil, wo immer er das Wort der Bibel hört. Angesichts des Bibliozentrismus der Rosenkreuzer-Manifeste und des offensiv lutherischen Bekenntnisses liegt diese theologisch harmlose Deutung nahe. Für die Prahlerei der Paracelsisten, die sich damit brüsten, göttlich inspiriert zu sein, eine übernatürliche Magie zu beherrschen und das Geheimnis der Natur zu kennen, hat der Erzähler der Chymischen Hochzeit keine Sympathie. Ihm gefiel am besten, »daß alle die Jenige/ auff die ich etwas gehalten/ in ihrem thun fein still waren/ und nicht laut dazu schrien/ sondern erkandten sich für unverstendige Menschen/ denen der Natur geheimnuß zu hoch/ sie aber viel zu gering waren.« (Chymische Hochzeit II, S. 285) Solche Demut ist bei Paracelsisten wie Suchten, Khunrath, Haslmayr oder Croll nicht zu finden. Von dem messianischen Selbstbewusstsein, das deren Schriften beseelt, ist der distanzierte, kühle Tonfall der Rosenkreuzer-Manifeste weit entfernt. Dass Andreae Khunrath als »Gaukler« bezeichnet und Paracelsus nicht in die Bruderschaft eingetreten ist, erstaunt deshalb nicht. Die Rosen12 Die meisten Handschriften der Zeit haben »indagationibus«, also »Erforschungen«, was an dieser Stelle sinnvoller scheint als »imaginationibus«, für das sich Edighoffer entscheidet. Edighoffer übersetzt Fama S. 155, Anm. 13 »subtilissimis« mit »erhabenste«, was auf einer Verwechslung mit »sublimis« beruht.

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kreuzer erscheinen als eine Art Elite oder Avantgarde innerhalb der lutherischen Kirche (eine »ecclesiola in ecclesia«, wie es später bei Spener heißen wird), nicht als Radikalisierung oder Fortführung des Luthertums mit anderen Mitteln und außerhalb der Kirche, wie es dem Selbstbewusstsein der radikalen Paracelsisten, aber etwa auch Böhmes und seiner Anhänger entspricht. Wo diese aufgrund ihrer göttlichen Inspiration zum Separatismus tendieren, als Gruppe zusammengehalten allein vom Geist, mithin sich von der ›Mauerkirche‹ abwenden, da findet sich bei Andreae ein klares Bekenntnis zu dieser Kirche. Es findet sich zudem mit der Fama an einer Stelle, an der ein solches Bekenntnis keineswegs nötig gewesen wäre, also auch nicht als blosses Lippenbekenntnis erklärt werden kann. Mehrfach wird Christus als der »einige Mittler« (Confessio VII S. 215), das heißt der einzige Vermittler zwischen Mensch und Gott bezeichnet. Auch dieses Bekenntnis ist lutherisch, insofern damit andere Vermittlungsinstanzen zwischen Mensch und Gott – wie unmittelbare Offenbarungen Gottes bei den Spiritualisten oder das Amt des Papstes mit der darin institutionalisierten Gnadenvermittlung in der katholischen Kirche – ausgeschlossen werden. Der Geist Gottes vermittelt sich allein über Christus, wie er im Evangelium verkündigt und im Glauben angenommen werden muss. Luthers »sola fide«, »sola scriptura« und »solo Christo« ist deutlich zu vernehmen. Wenn es am Ende der Confessio heißt, es sei nicht »irgent ein Kützel der überflüssigen Wollust«, sondern »der Geist Gottes«, der die Rosenkreuzer dazu »zwinge«, den Menschen zu helfen, (Confessio XII, S. 227) dann entspricht dies der lutherischen Theologie, der zufolge sich die Präsenz des Geistes in einem wahrhaft christlichen Leben zeigt. Auch die anschließende Verfluchung des Papstes atmet lutherischen Geist, frei von irgendwelchen irenischen Anwandlungen, wie sie um 1600 von calvinistischer oder philippistischer Seite zu vernehmen waren.

Der fehlende Paracelsismus der Rosenkreuzer-Manifeste Dass der Spiritualist Paracelsus in einen derart offensiv lutherischen Geheimbund nicht eintreten wollte – oder vielleicht auch nicht durfte (die Formulierung »der gleichwohl in unsere Fraternitet nicht getretten« lässt diese Interpretation durchaus zu) –, verwundert nicht. Auch der historische Paracelsus wollte nicht zum Luthertum konvertieren und zog sein »freyes unachtsames Leben« (Fama S. 145) im Katholizismus den protestantischen Restriktionen vor. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass die Theologie des Paracelsus eine zutiefst magische war. Diese Vermischung von Theologie und Magie kritisiert Rosenkreuz an den Einwohnern von Fez: »Von diesen Fessanern bekendt er offt, daß

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ihr Magia nicht aller rein, auch die Cabal mit ihrer Religion befleckt were« (Fama S. 142). Bei der Magie, die Rosenkreuz beherrscht, handelt es sich also – im Gegensatz zur paracelsistischen und fessanischen Magie – um eine theologisch harmlose magia naturalis. Ebenfalls als Kritik am theologischen Anspruch des Paracelsus muss es aufgefasst werden, wenn die Fama behauptet, Paracelsus habe sein Wissen aus dem »Librum M.«, das er »fleissig gelesen und sein scharffes ingenium dardurch angezündet«. (Fama S. 145) Damit wird nahegelegt, dass Paracelsus sein medizinisches Wissen aus dem von Rosenkreuz aus Damascus mitgebrachten Buch – und der in ihm vermittelten prisca sapientia – übernommen hat. Dies widerspricht aber sowohl der Tatsache, dass Paracelsus nicht müde wird, die unmittelbare göttliche Inspiration seines Wissens zu behaupten, als auch ununterbrochen gegen die bloße Buchgelehrsamkeit polemisiert. Im Gegensatz zur Fama behauptet Paracelsus, sein Wissen allein aus dem Studium der Natur erlangt zu haben. Dem »Alterius non sit qui suus esse potest« und dem »mir nach!« der Paracelsus-Legende halten die Rosenkreuzer-Manifeste das Bild eines Paracelsus entgegen, der sein Wissen nicht nur abgeschrieben, sondern dann auch noch seine Quellen verleugnet hat, um sich einer göttlichen Inspiration brüsten zu können. Dem entspricht schließlich die Tatsache, dass von einem spezifisch paracelsischen Wissen in den Rosenkreuzer-Manifesten wenig bis gar nichts zu spüren ist. Es bleibt bei dem allgemeinen Bekenntnis zu einer alchemia medica und der Harmonie von Mikro- und Makrokosmos als Schlüssel der Naturerkenntnis. Das aber ist nicht spezifisch paracelsistisch, sondern nur dem ersten Satz der Tabula smaragdina und dem Credo aller Alchemiker. Der einzige Punkt, von dem man auf den ersten Blick behaupten könnte, dass er eine spezifisch paracelsische Behauptung darstellt, ist die Existenz einer lebensverlängernden Medizin, eines elixir oder spiritus vitae. Die Existenz eines solchen Elixirs spielt im Paracelsismus eine große Rolle. Das Bekenntnis zu einer solchen magischen Medizin wäre als paracelsistisches Bekenntnis zu werten. Die Rosenkreuzer-Manifeste vertreten jedoch in dieser Frage eine lutherische Position. Im vierten Kapitel der Confessio sagen die Brüder von sich: »War nicht das für uns geneug/ hinfürters weder Hunger/ noch Armut/ noch Kranckheit/ noch unvermögliches Alter zu fürchten haben?« (Confessio IV, S. 201 f.) und legen damit nahe, dass sie über eine Medizin verfügen, die ihnen Krankheit und Altersschwäche erspart. Im letzten Kapitel der Confessio, gerichtet an die der curiositas, voluptas, luxuria und anderen Laster Verfallenen, heißt es allerdings, »[o]b schon ein solche Medicin in der Welt ist/ die zugleich alle Kranckheiten vertreibt«, wiederfahre »die gelegenheit zu deroselben zukommen/ denenjenigen/ so Gott mit Kranckheit und Leibeschwachheiten üben/ züchtigen und straffen will«, nicht. (Confessio XIII, S. 231) Das Entscheidende ist also nicht die

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Medizin, sondern ein gottesfürchtiges Leben, denn nur dieses kann verhindern, dass Gott mit Krankheit straft.13 Diese Interpretation bestätigt der Kontext der Confessio in diesem letzten Kapitel. Eröffnet wird das Kapitel mit dem in jeder Hinsicht lutherischen Glaubensbekenntnis der Brüder, »daß wir Christum den Sohn Gottes und einigen Mittler zwischen Gott und Menschen in lauterkeit und Warheit bekennen und lieb haben/ den Papst verfluchen/ ein reine ungefelschte Christliche Philosophiam halten und üben/ ein Leben und Wandel/ wie es einem Menschen eignet und gebührt/ führen […].« (Confessio XIII, S. 227 f.) Das Kapitel ist ein abschließender Appell, sich den Brüdern vom Rosenkreuz als solcherart wahrhaften Lutheranern anzuschließen, und zwar mit dem Argument, dass nur ein solches gottgefälliges Leben zu Gesundheit und Reichtum führen kann. Diejenigen dagegen, die »nur allein ihre curiositet und eitelwitz zu büssen begehren«, die »nuhr deß roten Goldes glantz herzu locket« und die sich »in ein zart/ müssiges/ geyles und prächtiges Leben zubegeben gemeint weren«, (Confessio XIII, S. 231) werden in die Bruderschaft nicht aufgenommen. Für Glückseligkeit, Reichtum und Gesundheit sei allein der Wille Gottes entscheidend, selbst wenn die Brüder »von Gottes wegen vermöchten die gantze Welt reich zu machen/ zu unterrichten/ und von unzehlichem unheil zubefreyen«. Dieses Elixir, das also reich macht und von Krankheiten befreit (die Eigenschaften, die dem Stein der Weisen zugeschrieben wurden), helfe allerdings nur denjenigen, bei denen »es Gott zulesset«. Sollte jemand »wieder den Willen Gottes« dieser »Medicin« teilhaftig werden, würde es ihm nichts nützen. (Confessio XIII, S. 231) Die Brüder vom Rosenkreuz können also nur tun, was sowieso Gottes Wille ist. Entscheidend ist in jedem Fall das gottgefällige Leben, das der einzige Weg »zur verhofften Glückseligkeit« ist. Auch bei dieser »Medizin« handelt es sich nicht um ein Medikament im physischen und medizinischen Sinne, sondern um den Glauben an Christus als eine medicina spiritualis. Das ist eine prononciert lutherische Überzeugung, denn insofern jede Krankheit für Luther nur ein »Epiphänomen«14 menschlicher Sündhaftigkeit ist, ist nach Luthers Überzeugung das einzige, was gegen Krankheit hilft, ein gottgefälliges Leben. Eine solche lutherische Interpretation der Confessio entspräche der Tatsache, dass es unter den Gesetzen, zu denen sich in der Chymischen Hochzeit die »Ritter vom goldenen Stein« verpflichten, heißt: »Daß ihr nit wöllet lenger leben/ dann es Gott haben will.« (Chymische Hochzeit VII, S. 412) und damit der Suche nach 13 Die Stelle findet sich auch in Andreae, Theca gladii spiritus, Sentenz Nr. 201. Der lateinische Text dort bestätigt diese Interpretation. Vgl. die analogen Urteile Andreaes (unten S. 278) und Maiers (oben S. 199), im Gegensatz zu den Paracelsisten (oben S. 136). 14 Steiger, Medizinische Theologie, S. 7. Zu Luthers medizinischen Vorstellung oben das Kapitel III.

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übernatürlichen, lebensverlängernden Medikamenten im Sinne des Paracelsismus eine klare Absage erteilt wird. Wenn Rosenkreuz über hundert Jahre alt geworden ist und starb, ohne von einer Krankheit gezwungen worden zu sein, (Fama S. 155) dann ist das nicht auf übernatürliche Magie oder eine Universalmedizin zurückzuführen, sondern auf sein frommes, gottgefälliges Leben.

Der fehlende Chiliasmus der Rosenkreuzer-Manifeste Lutherisch ist auch das eschatologische Bewusstsein, das die RosenkreuzerManifeste prägt. Indem das Bewusstsein vom unmittelbar bevorstehenden Ende der Welt schon für Luther eine fundamentale Bedeutung hatte, stehen die Rosenkreuzer-Manifeste auch in diesem Punkt in einer lutherischen Tradition. Ein wichtiger Unterschied zur lutherischen Eschatologie ergäbe sich nur, wenn das Endzeitbewusstsein eine spezifisch chiliastische Form annehmen würde. Chiliasmus bezeichnet den auf Apk. 20 beruhenden Glauben an eine tausendjährige Heilszeit unter der Weltherrschaft des erhöhten Christus vor dem Ende der Welt. Die Betonung liegt dabei auf der Annahme einer weltlichen – und nicht bloß geistigen – Herrschaft Christi.15 Der Glaube an eine weltliche Herrschaft Christi war in der Confessio Augustana Art. 17 klar verurteilt worden. Diese Verurteilung des Chiliasmus geht zumindest teilweise auf die Erfahrung des Bauernkrieges zurück, der mit den chiliastischen Erwartungen eines Thomas Müntzer und Hans Hut verknüpft werden konnte. Insbesondere aber das Täuferreich von Münster und sein blutiges Ende brachten den Chiliasmus unter Lutheranern in Verruf. Wo der Chiliasmus als Aufforderung zum Handeln verstanden wurde, im Sinne etwa einer Bekehrung der Heiden und Juden, oder gar einer »Säuberung« und »Ausrottung« der Gottlosen, wie sie der Herrschaft Christi vorangehen sollte, fiel er deshalb unter das Verdikt des »fanatismi«. Der in der Confessio Augustana verurteilte Chiliasmus, später als »chiliasmus grassus« bezeichnet, identifizierte das Reich Christi ausdrücklich als ein weltliches Reich. Von ihm unterschieden wurde ein »chiliasmus subtilis«, demzufolge das Reich Christi und seine Segnungen allein geistiger Natur sein würden. In dieser Variante des »chiliasmus subtilis« handelt es sich um eine einflussreiche, das gesamte Luthertum des 17. Jahrhunderts durchziehende Strömung. 15 Allg. Richard Bauckham, Art. Chiliasmus IV. In: Theologische Realenzyklopädie Bd. 7 (1981), S. 737 – 745. Zum 16. Jahrhundert Seifert, Reformation und Chiliasmus; zum 17. Jahrhundert Wallmann, Reich Gottes; zum Tübinger Umfeld Andreaes bes. Brecht, Chiliasmus.

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Dabei stand gerade ein Johann Arndt dem Chiliasmus eher ablehnend gegenüber, während ein Daniel Cramer (Freund von Johann Gerhard, Verfasser des ersten Lehrbuchs der aristotelischen Metaphysik im Luthertum) den Chiliasmus in seiner Abhandlung De regno Christi (1614, zeitgleich mit den RosenkreuzerManifesten) übernimmt. Cramer zufolge ist das chiliastische »regnum Christi« allerdings kein zukünftiges mehr, sondern hat mit der Reformation bereits begonnen. Diese Auffassung Cramers fand ihren Weg sogar in die kommentierten Ausgaben der Lutherbibel.16 Selbst wenn ein direkter Einfluß Cramers auf die Rosenkreuzer-Manifeste unwahrscheinlich ist, zeigt das Beispiel, dass man die Manifeste nicht aufgrund eines undifferenzierten Chiliasmus-Vorwurfs ›häretischen‹ Strömungen zurechnen kann. Wenn überhaupt in den Manifesten von einem Chiliasmus die Rede sein kann, dann handelt es sich um einen höchst subtilen, der mit den chiliastischen Erwartungen der protestantischen Spiritualisten nichts gemein hat. Von einem Reich Christi ist nicht die Rede, sondern nur von »allgemeiner reformation divini et humani«, die dem Sonnenaufgang als Dämmerung vorausgehen könnte. (Fama S. 158) Der erste Satz der Fama jedoch versteht diese »reformation«, ganz wie Cramer, bereits als gegenwärtige, dürfte mithin die lutherische Reformation und die gleichzeitige ›Wiedergeburt‹ der Wissenschaften und Künste im Auge haben, wie sie als ›Renaissance‹ erlebt wurde. Gott habe seine Gnade »in den letzten Tagen« über das menschlichen Geschlecht ausgegossen, heißt es dort, und dadurch »die Erkantnuß beydes seines Sohns und der Natur« erweitert. Während die »Erkenntnis des Sohnes« sich auf die reformatorischen Erkenntnisse Luthers beziehen dürfte, bezieht sich die »Erkenntnis der Natur« auf die Entdeckung der neuen Kontinente (»das halbe theil der unbekandten und verborgenen Welt«), wodurch »viel wunderliche und zuvor nie geschehene Werck und Geschöpff der Natur« bekannt geworden wären. Weiter heißt es, Gott habe »dann hocherleuchte Ingenia auffstehen lassen, die zum theil die verunreinigte unvolnkommene Kunst wieder zu recht brächten, damit doch endlich der Mensch seinen Adel und Herrlichkeit verstünde, welcher gestalt er Microcosmus, und wie weit sich sein Kunst in der Natur erstrecket.« (Fama S. 139) Dies dürfte sich auf den Fortschritt der Wissenschaften und Künste in der ›Renaissance‹ beziehen. Die beiden Stellen in der Confessio, die man chiliastisch verstehen könnte, sprechen dagegen nicht von einem weltlichen Reich Christi, nicht einmal von einem geistigen, sondern nur von einer »restitutio ad integrum« der Wissenschaften und Künste. So heißt es im ersten Satz der Confessio, in dieser Zeit, »da die Welt zu krachen und zu fallen beginnet/ und mit ihrem nuhn fast voll16 Vgl. Wallmann, Reich Gottes.

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brachtem/ periodo und umblauff gegen dem Anfange zueilet«, habe Gott »die Ordnung der Natur« umgekehrt und alles das, was man so lange »mit saurer Mühe und unverdrossener Arbeit/ aber doch vergeblich« gesucht habe, wie von selbst eröffnet und angeboten. (Confessio I, S. 193) Im selben Sinne heißt es im siebten Kapitel, Gott habe beschlossen, »der Welt/ so nicht lange danach vergehen soll«, »die Warheit/ das Liecht und alte würdigkeit wieder zugeben«, die mit Adams Austreibung aus dem Paradies verloren gegangen wären. »Lügen/ Finsternuß und Dienstbarkeit«, die alle Wissenschaften, Künste und Gewerbe, alle Stände und Regierungen zunehmend »verdunckelt« hätten, würden deshalb wieder vergehen. (Confessio VII, S. 213, ähnlich auch Confessio XIII, S. 229, wo es heißt, es gebe »ein remedium für die verdorbenen Künste und Wissenschaften«.) Von einer weltlichen Herrschaft Christi ist nicht die Rede. Wenn überhaupt, so klingen diese Sätze nicht nach der Apk. 20 angekündigten Herrschaft Christi, sondern nach jenem dritten Zeitalter des Geistes, das Joachim von Fiore prophezeit hatte. Hier stand nicht die Errichtung eines Gottesreiches auf Erden im Mittelpunkt, sondern eine solche Wiederherstellung aller Wissenschaften und Künste, wie sie in der Confessio versprochen wurde. Die Prophezeiungen Joachims waren im 16. Jahrhundert intensiv rezipiert worden, etwa bei Guillaume Postel oder Tommaso Campanella. Insbesondere der italienische Protestant Jacopo Brocardo war mit seiner Mystica et prophetica libri Geneseos interpretatio (Bremen 1585) im Tübinger Kreis um Andreae (Tobias Heß und Christoph Besold) nachweislich stark präsent.17 Auch Brocardo rechnet mit einer Endzeit, die bereits angebrochen ist, wenn er Luther mit dem von Joachim prophezeiten »Engelspapst« identifiziert. Diese Berechnungen hat Andreae aber ausdrücklich abgelehnt. (Menippus 78, S. 190) Statt chiliastischen und apokalyptischen Berechnungen empfiehlt Andreae, sich auf die klaren Offenbarungen der Bibel zu beschränken und einzugestehen, dass man einige göttliche Mysterien, wie die Apokalypse, nicht verstehen könne. (Menippus 28, S. 66) Wenn Brocardo in der Mythologia christiana III.23 unter diejenigen zählt, die die Sprache der aus der Fama bekannten Städte von Fez und Damcar beherrschten, ist das nicht positiv zu verstehen, wie die Tatsache zeigt, dass Andreae Brocardo an anderer Stelle zu den Autoren von fremdartiger, unverständlicher Bildung rechnet. (Mythologia III.23, S. 137) Ein wichtiges Argument für die Präsenz joachitischen Vorstellungen in den Manifesten ist die viel umrätselte Inschrift auf dem Grab von Rosenkreuz, wie Carlos Gilly sie interpretiert hat. Ihm zufolge bezöge sich das »1. Nequaquam vacuum, 2. legis jugum, 3. libertas evangelii, 4. dei gloria intacta.« (Fama S. 153) auf die Abfolge dreier Zeitalter, wobei das »Nequaquam vacuum« nur besagen 17 Brecht, Chiliasmus, S. 31, Gilly, Andreae Katalog, S. 25 – 28; Gilly, Cimelia ad. ind.

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würde, dass es »keine Leere« gibt, also kein Zeitalter vor diesen drei.18 Das erste, alttestamentarische Zeitalter stünde unter dem Joch des Gesetzes (»legis jugum«), das zweite in der Freiheit des Evangeliums (»libertas evangelii«), das dritte aber stelle den Ruhm Gottes wieder her (»dei gloria intacta«). Gilly sieht in diesem dritten Spruch einen Verweis »auf die abschließende Phase des letzten Millenariums […], nämlich auf das durch die Ankunft des Löwen bald anzubrechende Goldene Zeitalter der allgemeinen Reformation« und scheint damit eine chiliastische Deutung nahezulegen, analog zu den von ihm genannten Paul Felgenhauer und Abraham von Franckenberg. Das »dei gloria intacta« könnte allerdings auch einfach nur auf die Wiederkunft Christi bezogen sein und würde dann nur eine Epocheneinteilung übernehmen, wie sie in der Theologie allenthalben zu finden ist. Gilly verweist in diesem Kontext auf Luthers Supputatio annorum mundi (1541). Gillys Interpretation bestätigen die eschatologischen Berechnungen von Tobias Heß, dem engen Freund von Andreae, der nach wie vor als Mitverfasser der Manifeste in Betracht kommt, auf jeden Fall aber Andreae stark beeinflusst hat. An seinem chiliastischen Glauben kann kein Zweifel bestehen.19 Zumindest indirekt hat Andreae zugestanden, an die Berechnungen von Heß geglaubt zu haben, denn in der Immortalitas schreibt er später mit deutlicher Distanz, er habe »an den paradoxen Geist von Hess und an ein wer weiß was für ein erdichtetes Goldenes Zeitalter und an eine wie auch immer geartete Berechnung vom Gericht Gottes« geglaubt.20 Wieviel daraus für die Interpretation der Rosenkreuzer-Manifeste folgt, ist die Frage. Das einzige, was feststeht, ist, dass die Jahresangaben von Heß mit denen der Manifeste übereinstimmen. Wie Gilly dargestellt hat, rechnete Heß im Anschluss an Brocardo mit einem »Zeitalter der Buße«, das mit der Geburt Luthers 1483 beginnt und 120 Jahre dauern soll, also bis 1603. Die Manifeste übernehmen diese Spekulation, wenn Rosenkreuz 1378 geboren sein soll, 106 alt wird (Confessio VI, S. 209) und also 1484 gestorben ist, ein Jahr nach Luthers Geburt. Wenn die Tür zu Rosenkreuz’ Grab sich 120 Jahre nach dessen Tod öffnet, (Fama S. 152) öffnet sie sich im Jahr 1604 ungefähr zum selben Zeitpunkt, zu dem das von Heß behauptete »Zeitalter der Buße« vorüber ist.21 18 Detaillierte Nachweise bei Gilly, Franckenberg, S. 230 f., Anm. 37, damit Gilly, Cimelia, S. 72 und Gilly, Katalog Andreae, S. 58 korrigierend. Vgl. dagegen die Deutung von Edighoffer in Andreae, Rosenkreuzerschriften, S. 500 f. 19 Brecht, Chiliasmus, S. 25 – 30. 20 Andreae, Hessi Immortalitas, S. 318 f. Vgl. auch Gilly, Katalog Andreae, S. 28. Zu Heß Gilly, Rosenkreuz als europäisches Phänomen, S. 43 – 52 und Andreae, Fama (ed. van der Kooij), S. 17 – 26. 21 Gilly, Katalog Andreae, S. 28; Gilly, Iter, S. 70. Eher willkürlich dagegen die von Edighoffer in seiner Edition S. 498 genannten Zahlen.

Rosenkreuz und Paracelsismus

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Diese Übereinstimmungen beweisen keinen Chiliasmus, illustrieren aber nachdrücklich die Tendenz, den Anbruch der neuen Zeit nicht als einen zukünftigen zu betrachten, sondern mit der Reformation Luthers zu verrechnen. Endzeitbewusstsein ist das erst in zweiter Linie, nämlich vermittelt über das Selbstbewusstsein Luthers. In erster Linie ist es eine Form, wenn auch vielleicht etwas kompliziert, sich zu der epochalen Zeitenwende zu bekennen, die mit Luther eingesetzt hat. Diese Tendenz bestätigen die astrologischen Verweise der Manifeste. Es ist dasselbe Jahr 1604, das sich durch das Erscheinen eines neuen Sterns, einer Supernova, in den Sternbildern des Schlangenträgers und des Schwans auszeichnete, was nicht nur von Johann Kepler und anderen Astrologen, sondern auch von den Manifesten als »Vorbote« des göttlichen Willens verstanden wurde, »als gewaltige[s] Zeichen eines großwichtigen gewaltigen Rathschlags«. (Confessio VIII, S. 215) Worauf dieses Zeichen deutet, erklärt die Fama, wenn sie das »feurige Dreieck« (»trigonus igneus«), das der neue Stern bildete, als astrologischen Hinweis auf die »Spitze« jener ›großen Bewegung‹ (»Commotion«) und »Geburt« erklärte, die zur Erneuerung der Künste und Wissenschaften geführt habe. Indem diese Bewegung »so unverdrossene rühmliche Helden herfür gebracht, die mit aller Gewalt durch die Finsternuß und Barbarien hin durch gebrochen« (Fama S. 144) sind, ist die damit bezeichnete Renaissance und Reformation als Ausgang aus der »Finsternis« und »Barbarei« des Mittelalters ein Zeichen für das bevorstehende Ende der Welt.22 So ist es zu verstehen, wenn es in der Fama heißt, der »trigonus igneus« werde »gewißlichen der Welt den letzten Brand antzünden«. (Fama S. 145) Von einem »dritten Zeitalter«, das diesem Brand der Welt vorherginge, ist allerdings auch hier nicht die Rede, genauso wenig wie von einer weltlichen Herrschaft Christi. Die politische Dimension dieses letzten Brandes ist der endgültige Untergang der »Tyranney« des Papstes. Zwar sei dieser von »Gottseligen Leuthen« – also den Reformatoren – »mit grosser Krafft und gewaltigem ansprengen ab seinem Stul gestossen/ und dapffer mit Füssen getretten«, sein vollständiger »untergang und garauß« aber »biß uff unsere Zeiten gesparet« worden. (Confessio V, S. 209) Was diesen endgültigen Untergang des Papsttums bisher verhindert habe, seien »etliche Adlersfedern« (Confessio X, S. 219) gewesen, was sich, wie Gilly gezeigt hat, auf das katholische Haus Habsburg beziehen muss, dessen Wappentier der Adler ist. Der Löwe dagegen, der laut Confessio (V, S. 209) diesen Adler zerreissen wird, ist der biblische Löwe, von dem es in Apk. 5.5 heißt, dass er das Buch mit den sieben Siegeln öffnen und das neue Zeitalter einleiten werde. Zu den »nit wenigen Gelehrten Teutschen Männern«, denen dieser Löwe bereits 22 Zum astrologischen Hintergrund die Nachweise bei Gilly, Cimelia, S. 23 f.

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Das Rosenkreuz zwischen Spiritualismus und Frömmigkeitsreform

erschienen ist, gehört wiederum Tobias Heß, der von ihm seine Offenbarungen vom Anbruch der Endzeit empfangen hatte.23 Während all diese Äußerungen klar eschatologisch sind, wird ein Chiliasmus darin »eher angedeutet als entfaltet«, wie Martin Brecht es ausgedrückt hat.24 Die Metapher einer der Welt bevorstehenden »GeneralReformatio« (Fama S. 140), wie die der Geburt eines »starken Kindes«, mit dem Europa schwanger ginge (Fama S. 150) mag man als Ankündigung eines dritten Zeitalters im Sinne Joachims von Fiore verstehen. Man kann sie aber auch nur auf eine Vollendung der lutherischen Reformation beziehen. Von einem deutlichen Chiliasmus, wie ihn Brocardo oder Borrhaus-Cellarius vertreten hatten und wie ihn später Alsted oder noch später die Pietisten vertreten werden, kann in den Manifesten keine Rede sein. Was sich in ihnen unzweifelhaft findet, ist ein Endzeitbewusstsein, das sich auf Luther und seine Reformation beruft. Wichtig ist dieser Befund insofern, als die Rezeption der Rosenkreuzer-Manifeste im Gegensatz zu diesen von vornherein stark chiliastisch – und paracelsistisch – geprägt ist.

2.

Die frühe Rezeption der Manifeste

Spiritualistische Rezeption: Haslmayr Die ersten Leser der Rosenkreuzer-Manifeste waren an einer detailgenauen Lektüre alles andere als interessiert.25 Insbesondere Adam Haslmayrs Antwort: An die lobwürdige Bruderschafft der Theosophen/ vom RosenCreutz, die 1612 noch vor der ersten Ausgabe der Fama 1614 erfolgt war, schlug einen Ton an, der den Rosenkreuzer-Manifesten fremd war. Schon die anonyme Vorrede fabelt von einem »rechte[n] Königliche[n] Rubin«, »von welchem man etwa gelehret/ daß er ein fewrigen glantz vnd Licht im Finsternuß gebe/ ein vollkommene Medicin sey auff alle Corpora/ vnuollkommene Metallen/ dieselben in das beste Golt zuuerwandeln/ vnd alle Kranckheit/ Angst/ Noth vnnd Trübseligkeit von den Menschen hinweg zunehmen«.26 23 Gilly, Cimelia, S. 75 f. 24 Brecht, Chiliasmus, S. 25. 25 Detaillierte Studien zur Rezeption der Rosenkreuzer-Manifeste – Gilly zählt an die 600 Veröffentlichungen – sind ein Desiderat. Zu den Ausnahmen gehören Åkerman, Rose Cross over the Baltic und Schlögl, Von der Weisheit zur Esoterik, sowie die in dem Band Rosenkreuz als europäisches Phänomen im 17. Jahrhundert versammelten Studien, bes. Gilly, Iter und Gilly, Rosenkreuz als europäisches Phänomen S. 19 – 28. Grundlegender Überblick bei Gilly, Cimelia. 26 Vorrede. In: Fama Fraternitatis, Frankfurt/M. 1615, f. A 6r (S. 11). Grundlegend zu Haslmayr ist Gilly, Haslmayr.

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Haslmayr attestiert den Brüdern vom Rosenkreuz in den ersten Sätzen seiner Antwort eine »Theophrastia«, mithin eine paracelsistische Religion.27 Gott wolle, »daß wir alle erleuchtet/ wie seine Propheten/ Vates und Aposteln/ Sibyllen/ Philosophi oder Magi sancti, sollen ersterben/ als Feinde deß Teuffels/ vnnd erleuchte Kinder Gottes/ von Anfang biß an das End«. (Antwort S. 85) In Haslmayrs Antwort werden die Brüder zu Heilsbringern, denen »das Licht Gottes/ wie den Magis der Stern vorgeleuchtet«, mit der Aufgabe, »den wahren Weg der ewigen Philosophey/ als der Erkandtnuß Messiae« (Antwort S. 87) zu offenbaren. Wie »der hochselige Eremita & sophorum Monarcha, Theophrastus Paracelsus Magus« verkünden die Rosenkreuzer die anbrechende Endzeit eines Elias Artista, (Antwort S. 89) und wie Paracelsus haben die Rosenkreuzer »tausentmal höher Magnalia […] auß Gott/ vnd der Natur Liecht«, um damit alle Krankheiten zu kurieren. (Antwort S. 92) Haslmayr schreibt sich in einen wahren Furor, der über mehrere Octavseiten anhält und in eine Anrufung der »Priester vom RosenCreutz« (Antwort S. 100) mündet. In einer weder syntaktisch noch inhaltlich ganz nachvollziehbaren Weise heißt es: »Zum Anfang der Schmertzen/ so kompt/ mit dem pacifico verbo sophorum Coelestium simplicitate et maiestate, kompt mit der Theologischen Nectrometia, vnd Beatorum Nectromantia, kompt mit der Philosophischen Bethleemitica sancta Magia vnd Astronomia gratiae, Angelo boni consilii, vnd sequestro sanctae stellae signatae, kompt mit Necrolischem Medicament/ Archidoxischen mysteriis, vnnd verordneten Cabalistischen christfreyen Künsten vnd Magnalien Sophiae aeternae incontemeratae et intactae Theophrastiae et purae Dei viae, Dem Leoni von Mitternacht/ der voller Christlicher Lehr ist/ vorzuleuchten/ im Liecht Christi/ vnnd der Natur Heiligthumb/ auff daß das impurum, imperfectum, Diabolicum der Heydnischen Meister gantz reveliret vnd confundiret werde/ 1. Cor. 1. vnd die regenerati verbo, 1. Petr. 1 & Iacob. 1 den Sentenz ex Coelo novo, et terra nova, verstehen/ daß wir alle allein/ ex novae creaturae Creatore misso in hunc Mundum, & per spiritum sanctum edocti fideles, vnsere Schulen und Schüler sollen edocirt haben/ vnnd deren Abgöttischen Heyden Schrifften/ von jhrem vergeblichen summo bono vnd falschen Philosophia, falschen Medicina, falschen Sacrificien, dem Vulturno zugericht […]« (Antwort S. 97 – 99)

Das ist gegen die »thörichten Weltweisen Christen der hohen Schulen geredet/ die da vermeynen/ es könne kein besser Philosophia gefunden werden/ als Aristotelis, also auch kein gewissere Medicin, als Galeni oder Auicennae«. Die Lehre dieser »Abgötter« bewunderten die Akademiker, »die Lehr sapientiae aeternae […] der Egyptischen Schätz vnd Arcanen Theophrasti« dagegen werde »verketzert vnd verdampt«. (Antwort S. 99 f.) Jetzt aber komme »der Allmächtige Gott« »mit seinen Priestern vom RosenCreutz«, »auff daß die Welt sehe/ daß 27 Adam Haslmayr, Anwort: An die lobwürdige Bruderschaft der Theosophen/ von RosenCreutz […]. In: Fama 1615, S. 83 – 101, hier S. 84.

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Das Rosenkreuz zwischen Spiritualismus und Frömmigkeitsreform

aller Weißheit bißhero nichts vor Gott sey gewest/ als ein Thorheit/ vnnd Theophrasti doctrina gerecht vnd ohne Mackel floriren muß in Ewigkeit mit den Weisen Gottes«. (Antwort S. 100) Als Prophet versteht sich Haslmayr dabei ausdrücklich nicht, doch immerhin ist ihm »der Geist gegeben«, »als ein einfältig Thierlein« die »Propheten« – also die Rosenkreuzer – um Antwort zu bitten. (Antwort S. 101) Von der Zurückhaltung, die die Rosenkreuzer-Manifeste in den entscheidenden Punkten – prophetisches Selbstbewusstsein, Bekenntnis zu Paracelsus, Existenz einer Universalmedizin, Chiliasmus, übernatürliche Magie – bestimmt, ist bei Haslmayr nichts übriggeblieben. Aus den Brüdern vom Rosenkreuz ist eine paracelsistische Sekte geworden, die als Bote der Endzeit auftritt und mit übernatürlichen Kräften begabt ist.

Die Secretioris philosophiae consideratio brevis, Rodtbarts Elucidarius, Sperbers Echo und der Sendbrieff des »Iulianus de Campis«

Ähnlich wie der Erstdruck der Fama zusammen mit der Antwort Haslmayrs erscheint, erscheint der Erstdruck der Confessio zusammen mit der Secretioris philosophiae consideratio brevis (1616) des bisher nicht identifizierten »Philippus a Gabella«. Der äußerst schwer verständliche Traktat verbindet Zahlenspekulationen nach dem Muster von John Dee mit Lehren der Transmutationsalchemie und scheint damit, wie Nicolas Clulee herausgearbeitet hat, eine Art alchemische Magie zu skizzieren.28 Ähnlich wie bei Khunrath wird diese alchemische Magie mit theologischen Vorstellungen verbunden, ist mithin keine magia naturalis und fällt damit unter das Verdikt der Fama. Obwohl eine Verbindung zur Confessio nicht zu erkennen ist und die einzige Gemeinsamkeit die Nennung der Rosenkreuzer in der Vorrede darstellt, rückt die Zusammenstellung beider Traktate die nachfolgende Confessio in den Kontext magischer Vorstellungen. Ebenfalls zur frühesten Rezeption der Rosenkreuzerschriften gehört Ratichs Brotoffers (Anagramm für Christoffer Rodtbart) Elucidarius Chymicus oder Erleuchterung und deutliche Erklerung, was die Fama fraternitatis vom Rosencreutz für Chymische Secreta de lapide Philosophorum, in ihrer Reformation der Welt mit verblümbten Worten versteckt haben (1616). Diesen Stein der Weisen, dessen verschlüsseltes Rezept in der Fama zu finden sein soll, identifiziert Rodtbart mit der Universalmedizin. Die in den Rosenkreuzer-Manifesten wie28 Clulee, Astronomia inferior, S. 197 – 224. Gilly, Cimelia, S. 73 f. erwägt Johannes Rhenanus als Verfasser, Moran, Alchemical World, S. 92 – 101 Raphael Eglin. Vgl. auch Gilly, Katalog Andreae, S. 63 – 67.

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derholt und nachdrücklich vorgebrachte Beteuerung, die transmutatio metallorum sei nur ein »Parergon« und es gebe keine Möglichkeit, das menschliche Leben durch eine Universalmedizin zu verlängern, wird nicht zur Kenntnis genommen. Brotoffer sieht die Fama als arkansprachlichen Traktat und liest sie vor dem Hintergrund der alchemischen Tradition. In der erweiterten Fassung des Elucidarius maior (1617) bezieht Brotoffer auch die Chymische Hochzeit mit ein und ist damit einer der ersten, der eine Zusammengehörigkeit der Schriften behauptet. Wenn er die Chymische Hochzeit auf die sieben Phasen des alchemischen Werkes bezieht, beeinflußt er damit die esoterischen Interpretationen dieses Romans bis in die Gegenwart hinein. Zu den frühesten Rezeptionszeugnissen gehört auch Julius Sperbers Echo Der von Gott hocherleuchten Fraternitet (1615), das beweisen soll, dass das, »was jetzt in der Fama vnnd Confession der Fraternitet R.C. ausgebotten/ müglich vnd war sey«.29 Das aber ist für Sperber vor allem Magie und Alchemie. Die Vorrede zitiert ausführlich Suchtens Erzählung von jenem Uralchemiker in De tribus facultatibus, dem es gelungen war, den Geist Gottes aus der Materie zu destillieren (vgl. oben S. 220), gefolgt von einer langen Abhandlung über die Magie, deren Tradition als prisca sapientia von Zoroaster bis in die Gegenwart verfolgt wird. Sperber ist außerdem ein großer Bewunderer von Gutmanns Offenbarung Göttlicher Majestät (vgl. oben S. 174) und empfiehlt die Einrichtung von Kollegien, die dem Studium der dort avisierten Magie gewidmet sind. Als ein solches Kollegium versteht er auch die Rosenkreuzer. Sollte die Finanzierung dieser Kollegien scheitern, erklärt er sich bereit, denjenigen, die genug Mittel für ein solches Studium hätten, privat Unterricht zu erteilen. Interessierte sollten sich beim Verleger melden. (S. 39) Das Büchlein versteht sich als eine Kritik der weltlichen Wissenschaften, die alle eitel und leer seien, im Vergleich zur göttlichen Weisheit, wie sie aus dem Heiligen Geist gelehrt werde. Diese könne wahlweise Kabbala, mystica theologia, philosophia perennis, ars spiritualis usw. heißen. (S. 79) Wer sie besitze, verfüge über vierundzwanzig Vorzüge, die Sperber einzeln auflistet. Zu ihnen gehören unter anderem göttliche Offenbarungen (S. 131), Engelsvisionen oder etwa die Erkenntnis des mystischen Sinnes der Schrift (S. 138). In derselben bürokratischen Manier listet Sperber im folgenden Kapitel das auf, was er bereits aufgrund seiner eigenen Erleuchtung erreicht habe. Dazu gehört die Kunst des Abwehrens böser Pläne, die Vorhersage von Hochzeiten oder des Erlangens von Ämtern (S. 151), die Beherrschung von Geheimschriften, die Erfindung einer universalen Kompositionstechnik (S. 154) und das 29 Zu Sperber vgl. Gilly, Andreae Katalog, S. 31 f., Gilly, Cimelia ad. ind.

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Erfinden und schnellstmögliche Beherrschen neuer Sprachen (S. 160). Außerdem seien ihm göttliche Geheimnisse offenbart worden, wie etwa das Wesen der Seele, die Dreieinigkeit Gottes und die Menschwerdung Christi, die Natur und Eigenschaften der Geister (S. 163 ff.), das Wesen der »dritten und letzten Welt«, die Auferstehung der Toten, das neue Jerusalem usw. (S. 172 ff.) Wie die Antwort Haslmayrs und die Secretioris philosophiae consideratio brevis findet sich auch der Sendbrieff oder Bericht An alle/ welche von der newen Bruderschafft deß Ordens vom RosenCreutz genannt/ etwas gelesen des »Iulianus de Campis« (vielleicht ein Pseudonym von Cornelius Drebbel)30 in einer der ersten Ausgaben der Fama und Confessio (Frankfurt 1617). Iulianus de Campis verwahrt sich dagegen, in der Bruderschaft bloß eine »Schelmerei« sehen zu wollen, denn – das ist sein Argument – »die mittheilung/ Erfindung/ vnd Erhöhung aller Weißheit/ wie sie nur immer auff einen Menschen durch den Mittelband/ per Spiritum mundanum agitatum fallen mag/ vnd dadurch der Schöpffer aller Dinge herrlich gemacht/ das Wort so von Anfang gewesen/ offenbaret/ vnnd der Geist superexaltiret vnd gepreiset wirt«, (S. 62) könne keine Schelmerei sein. Das lutherische Bekenntnis der Fama hat Iulianus de Campis nicht zur Kenntnis genommen, denn für ihn ist klar, dass die Brüder eine »mysticam theosophiam« vertreten (S. 67) und insofern auch von den Theologen unbelästigt bleiben sollten. Im selben Sinne erörtert de Campis auch die Frage, ob es sich bei den Rosenkreuzern um Propheten handelt. Der zweite Teil des Sendbriefs ist der mutatio metallorum gewidmet, die zwar der Fama zufolge nur ein »Parergon« ist, für de Campis aber das eigentlich Interessante, denn wie die Brüder, so habe auch er den Stein der Weisen gefunden. (S. 78) Veröffentlichen möchte er dieses Geheimnis nicht, auf brieflichprivate Anfrage hin wäre er aber gerne bereit, mitzuteilen, was er wisse. (S. 80)

Die Gründliche Relation Molthers In derselben Ausgabe der Fama und Confessio wie der Sendbrieff de Campis (Frankfurt 1617) findet sich auch die Gründliche Relation Georg Molthers, Stadtarzt in Wetzlar, die in lateinischer Fassung schon ein Jahr vorher erschienen war.31 Molther berichtet vom Auftreten eines Rosenkreuzers in Wetzlar, der eine todkranke Frau durch Auflegen von Kräutern vor dem Tod bewahrte. Getreu den Manifesten war dieser Rosenkreuzer an seiner Kleidung nicht zu erkennen, wollte keine Bezahlung für seine Dienste in Anspruch nehmen und war genauso geheimnisvoll wieder verschwunden, wie er aufgetaucht war. 30 Gilly, Iter, S. 78. 31 Zu Molthers Bericht Tilton, Quest, S. 151 – 154.

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In Molthers Bericht ist nicht von übernatürlicher Magie und Medizin die Rede, sondern von einem bescheidenen Mann, der ein gottgefälliges Leben führt und sich durch besondere medizinische (und zwar eher traditionell galenistische denn paracelsistische) Kenntnisse auszeichnet. Er betont, ganz im Sinne der Confessio, dass er nur mit der Hilfe Gottes heilen könne. Der Mann ist zwar 81 Jahre alt, hat aber kein weißes Haar, makellose Zähne und erfreut sich bester Gesundheit. Neben allen Sprachen beherrscht er magische Techniken, die aber als Techniken einer magia naturalis zu erkennen sind (Blitzableitung und Mäusevertreibung). Wenn Hereward Tilton deshalb den Bericht Molthers neben die Rosenkreuzerschriften Michael Maiers rückt und als Teil von dessen ›ernstem Scherz‹ (jocus severus) interpretiert, spricht einiges für diese These, nicht zuletzt die Datierung der Widmung auf den 1. April.32 Es ist in der Tat schwer zu verstehen, warum der unbekannte Rosenkreuzer dem Stadtarzt gegenüber so leicht bereit sein sollte, diesem den Versammlungsort der Brüder zu benennen – über den es zu diesem Zeitpunkt viel Rätselraten gab –, wenn nicht aus ironischem Spiel mit dem ganzen Mythos. Widersprüchlich ist allerdings die Haltung Maiers, der den Wetzlarer Rosenkreuzer zwar in seinen Symbola aureae mensae in die Ränge der Bruderschaft aufnimmt33 – was für die These Tiltons spricht –, die Werke des unbekannten Rosenkreuzers andererseits aber für Gaukel- und Zauberwerk hält, also von den Rosenkreuzern, wie Maier sie konzipiert, absetzt.34 Falls es sich bei der »gründlichen Relation« tatsächlich um einen ironischen Scherz handeln sollte, hätte man allerdings schon 1616 diesen ironischen Charakter nicht mehr erkannt. Bei dem Sendbrieff de Campis nämlich kann von Ironie keine Rede sein, der Bericht Molthers wird aber in seiner deutschen Fassung aus diesem Jahr zusammen mit ihm gedruckt. Diese Tatsache wäre ihrerseits ein desto nachdrücklicheres Beispiel für die Spiritualisierung der Rosenkreuzer in den Jahren nach der Veröffentlichung der Manifeste, in der diese feinen Differenzen nicht mehr wahrzunehmen waren. Es ist außerdem im Auge zu behalten, dass in diesen Jahren mehrfach selbsternannte Rosenkreuzer auftreten, so etwa 1619 in Nürnberg Philipp Ziegler, Hauslehrer aus Würzburg, der sich für einen ›von Gottes Gnaden gekrönten König zu Jerusalem, der Brueder deß Rosen Kreutz Obrister Haupt und Teutschen Michel, Monarchen und Renovator der gantzen Welt‹ ausgab.35 Auch das war sicherlich keine Ironie.

32 33 34 35

Tilton, Quest, S. 155. Maier, Symbola aureae mensae, S. 306, vgl. Tilton, Quest, S. 151. Maier, Silentium, S. 151. Gilly, Der Löwe von Mitternacht, S. 261 f. und Gilly, Iter, S. 82, der Arnold, KetzerGeschichte (Ausgabe Schaffhausen 1741), Bd. 2, S. 414 f. zitiert.

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Der Pegasus firmamenti des Christoph Hirsch Die intellektuell gewichtigste, paracelsistische Vereinnahmung der Rosenkreuzer ist der Pegasus firmamenti (1618) von Christoph Hirsch, einem engen Vertrauten Johann Arndts.36 Wie der Untertitel sagt, handelt es sich um eine kurze Einführung in die antike Weisheit, die von den Ägyptern und Persern früher Magie, heute aber von der ehrenwerten Bruderschaft vom Rosenkreuz zurecht Pansophie genannt wird. Entgegen der Ankündigung ist allerdings von Ägyptern und Persern nicht viel die Rede. Was Hirsch als Magie bezeichnet und umstandslos mit den Rosenkreuzern verrechnet, ist eine paracelsistische Naturphilosophie und eine auf dem Licht der Gnade und der Natur beruhende Inspirationstheorie. Das erste Kapitel ist einer Kritik der Universitätsausbildung gewidmet. Hirsch bedauert, dass die Universitäten ganz mit der Auslegung der heidnischen Philosophien beschäftigt sind. Statt zu einem wahrhaft frommen Leben und zur Bibellektüre ermahnt, werde die Jugend mit sinnlosen Disputationen hingehalten. Als Vorbild werden dagegen die Paracelsisten und Rosenkreuzer angeführt, die sich mit der Chemie einer Erforschung der Natur zugewendet hätten. (f. A5r ff.) Das zweite Kapitel benennt als einzig wahre Quelle der Philosophie Gott, woraus folge, dass alle heidnischen Philosophen mit Blindheit geschlagen seien. (f. Br) Lektüre der Bibel, Gebet und Studium des Menschen als mikrokosmisches Abbild des Makrokosmos seien die drei Wege zur Pansophie als echter Weisheit. (f. B3r) Das dritte Kapitel ist der Bibel als einem Schlüssel zum Buch der Natur gewidmet. Hirsch nimmt eine sehr gemäßigte Position ein, denn um die Bibel lesen zu können, müsse man die Sprachen beherrschen, in denen sie geschrieben sei. Nachdrücklich wird deshalb ein humanistisches Studium der Sprachen empfohlen, sogar eine Lektüre der antiken Dichter, um die Sprachkenntnisse zu verbessern. (f. B5v) Zumindest in diesem Punkt unterscheidet sich Hirsch von radikalen Paracelsisten, die jede humanistische Bildung für überflüssig erklärten. Das vierte Kapitel ist dem Buch der Natur gewidmet, aus dem alle wahren Magier ihr Wissen gelernt hätten. (f. B7r) Die Elemente der Natur sind dabei als Signaturen die Blätter dieses Buches. (f. B7v) Die wahrhaften Interpreten des Buches der Natur seien Hermes Trismegistus, Paracelsus und die Rosenkreuzer als seine Nachfolger und Basilius Valentinus. (f. B8v-C2r) Wie der Makrokosmos, so bestehe der Mensch als Mikrokosmos aus drei Teilen, nämlich Körper, Seele 36 Zum Pegasus firmamenti vgl. Geyer, Verborgene Weisheit III, S. 423 – 439. Die stark spiritualistische Gemma magica, unter dem Namen Franckenbergs erschienen, stammt ebenfalls von Hirsch, vgl. Geyer, Verborgene Weisheit III, S. 140 – 144.

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und Geist. Die Seele sei dabei mit dem göttlich inspirierten spiritus coelestis identisch, in dem das Licht der Gnade leuchte. Der Geist dagegen sei der spiritus vitalis, der aus den Sternen und den Elementen stamme und in dem das Licht der Natur leutet. Er sei als Vernunft der Sitz der Wissenschaften und Künste und operiere durch die Tätigkeit der Sinne. Mit Berufung auf Luther und Reuchlin heißt es, diese Vernunft müsse jedoch immer vom Licht der Gnade geleitet werden. (f. C3v) Die beiden letzten Kapitel sind den Offenbarungen aus dem Licht der Gnade und dem Licht der Natur gewidmet. Hirsch eröffnet das sechste Kapitel mit der Ankündigung, all diejenigen zum Schweigen bringen zu wollen, die unterschiedslos alle prophetischen Offenbarungen des wiedertäuferischen Enthusiasmus bezichtigten. (f. E4v) Die später auch für die Pietisten wichtige Stelle Joel 2.28 – »Und nach diesem, will ich meinen Geist ausgiessen uber alles Fleisch, Und ewre Söne und Töchter sollen weissagen, Ewr Eltesten sollen Trewme haben, und ewre Jünglinge sollen Gesichte sehen.« – wird auf das Licht der Gnade bezogen, das als spiritus sanctus eine »renovatio et illuminatio« des menschlichen Geistes bewirken werde. (f. E5v) Hirsch unterscheidet drei Grade. Erster Grad ist der »instinctus dei«, durch den die Frommen von Gott geführt und erleuchtet werden. (f. E6r) Zweiter Grad sind göttlich inspirierte Träume, durch die den Propheten die Zukunft enthüllt werde. (f. E6v) Dritter Grad ist die prophetische Vision, zu der auch Engelserscheinungen gehörten. (f. E7r) Wenn Hirsch gleichzeitig fordert, alle Prophetien kritisch an der analogia fidei, also der Übereinstimmung mit den Glaubenssätzen, zu überprüfen, (f. E5v) ist zumindest dies eine Absicherung gegenüber extremen Formen des Spiritualismus. Ausdrücklich werden die Rosenkreuzer als eine visionär begabte Gemeinschaft bezeichnet. (f. E8v) Obwohl in den Manifesten weder vom »Licht der Gnade«, noch von Kabbala, noch von einem Elias Artista die Rede ist, heißt es im Pegasus weiter, dass aus dem lumen gratiae auch die wahre Kabbala stamme, wie aus ihm auch auf die Ankunft eines Elias Artista zu schließen sei. (f. Fr) Fast gänzlich Paracelsus-Exegese ist das siebte Kapitel, das den Manifestationen des Lichtes der Natur gewidmet ist. Sein Ursprung ist die »secreta influentia, inclinatio, impressio« der Sterne, aus denen alle Künste und Wissenschaften stammten. (f. Fv) Wie die sichtbare Sonne den Makrokosmos erleuchte, so das lumen naturae den menschlichen Mikrokosmos. (f. Fv) Das sei keine schwarze Magie oder Zauberei, sondern natürliche Magie, ihrerseits identisch mit der Pansophie der Rosenkreuzer. (f. F2r) Alle Weisheit Gottes sei in der Natur verborgen, durch die Engel würden diese Geheimnisse den Frommen offenbart. Dies entspreche nicht nur den Überzeugungen des Paracelsus, sondern auch denen Luthers und – wie ein abschließendes Zitat aus dem Corpus Hermeticum belegen soll – denen des Hermes Trismegistus. (f. F6r)

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Das Rosenkreuz zwischen Spiritualismus und Frömmigkeitsreform

Das Erstaunliche am Pegasus firmamenti ist nicht die paracelsistische Erkenntnistheorie, sondern der Versuch, diese Erkenntnistheorie in die Tradition Luthers zu stellen. Luther, nach Paracelsus der am meisten zitierte Autor des Pegasus, erscheint in einer Reihe mit Hermes Trismegistus, Tauler, Paracelsus, Reuchlin und den als Visionäre begriffenen Rosenkreuzern. Nicht die sich verselbständigende Naturphilosophie der Universitäten und die Geistfeindlichkeit der akademischen Theologie, sondern die physica mosaica und die ›inspirierte‹, spiritualistische Frömmigkeit des Paracelsismus erscheinen als legitime Form lutherischer Naturphilosophie. Obwohl Arndt namentlich nicht genannt wird, ist es seine Frömmigkeitsreform und deren naturphilosophische Ausdeutung im vierten Buch des Wahren Christentums, die den Hintergrund des Pegasus bildet.

Die Rosenkreuzerschriften Möglings Kritischer gegenüber dem Paracelsismus, dafür aber stärker von Weigel beeinflusst37 ist Daniel Mögling mit der Rosa florescens (1617, unter dem Pseudonym »Florentinus de Valentia«) und dem Speculum sophicum rhodo-stauroticum (1618, unter dem Pseudonym »Theophil Schweighart«). Das Wesen der Pansophie ist für ihn nicht die »theophrastia sancta«, wie für Haslmayr, sondern eine nüchterne Kritik aller Autoritäten, auch der des Paracelsus. Alle Autoritäten müssten »mit dem Liecht der natur vermittelst Göttlicher Hilff« korrigiert werden. (Speculum S. 17, ähnlich auch S. 11) Im Anschluß an die Rosenkreuzer-Manifeste werden die Bibel und der Glaube zum eigentlichen Ergon erklärt, dem alles andere, die Universalmedizin wie die transmutatio metallorum, als Parergon nachgeordnet sei. Die erste Sorge müsse der Seele gelten, sonst sei alle Sorge um den Körper umsonst. Nur auf der Grundlage der Bibel könne man über das sprechen, was der Erhaltung des Lebens diene. Auch das richtet sich gegen den Paracelsismus. (Speculum S. 12) Die Imitatio Christi des Thomas von Kempen, die Mögling mehrfach und nachdrücklich zur Lektüre empfiehlt, sei einer solchen Sorge um das Seelenheil gewidmet. Der Geheimbund der Rosenkreuzer wird zu einem Bund aller »Christliebenden Menschen«, was nah am Textbefund der Manifeste ist. Der »Seelen Perfection« nähere man sich durch Erkenntnis seiner Sündhaftigkeit, Demut, Gehorsam und Gebet. Darin bestünde das »Ergon« als »Vorwerck« und »gröste Kunst« sowohl der Rosenkreuzer wie aller wahren Christen. (Speculum S. 18) Wie in den Manifesten ist der wahre Rosenkreuzer der gläubige Christ, der sich nicht um akademische Streitereien kümmert, sondern ein gottgefälliges 37 Zu Möglings spiritus-Lehre oben Kapitel IV.1, S. 144 mit Angaben zur Forschungsliteratur.

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Leben in der Nachahmung Christi führt. Dass die Imitatio Christi des Thomas von Kempen, die Mögling so nachdrücklich empfiehlt, Arndt gerade für sein Wahres Christentum ausgeschrieben hatte, ist dabei sicherlich kein Zufall. Auch Mögling ist, wie Hirsch und Andreae, ein Anhänger der neuen Frömmigkeit. Allerdings ist die Frömmigkeit bei ihm stärker weigelianisch konnotiert als bei Andreae, wenn es heißt, man müsse den »Ursprung« suchen, aus dem die Schrift geflossen sei, »nemlich vom Geist müssen wir es hören vnd lernen in einem stillen Sabbath«. Alle Bücher der Welt könne man »ohn sonderbahre mühe auß einem einigen Buch« lernen, »vnd dies Buch ist in dir/ vnd in allen Menschen«. Gerade die Gelehrten aber verleugneten dieses Buch und klebten »am todten Buchstaben/ der da ausser jhnen ist/ vnd verlassen das Buch des Lebens/ das doch mit dem finger Gottes eingeschrieben ist in aller Menschen hertzen.« (Rosa florescens f. B 8r) Derartigen Formulierungen ist bei Andreae nichts an die Seite zu stellen. Weitere Spiritualisten und Paracelsisten, die die Rosenkreuzer für sich vereinnahmten, waren Raphael Eglin,38 der Schwede Johannes Bureus (der das Rosenkreuz mit der dämonischen Magie des Arbatel in Verbindung bringt),39 der Chiliast Helisaeus Roeslin40 oder später der Spiritualist Abraham von Franckenberg.41 Für die Spiritualisierung des Rosenkreuzes waren aber nicht nur seine spiritualistischen Anhänger verantwortlich, sondern auch seine Gegner, darunter an erster Stelle Libavius. Seine Schriften sind eine an Schärfe kaum zu überbietende Auseinandersetzung mit den Rosenkreuzern als einer paracelsistischen, chiliastischen und spiritualistischen Sekte.42 Damit gibt Libavius den Grundtenor der Gegner bis hin zu Colberg vor und dürfte dazu beigetragen haben, dass aus der lutherischen Avantgarde, als die Andreae die Rosenkreuzer konzipierte, ein separatistischer, paracelsistischer Geheimbund wurde.

Die Rosenkreuzerschriften Michael Maiers Weder mit der paracelsistischen Vereinnahmung der Rosenkreuzer-Manifeste noch mit der scharfen Opposition des Libavius sind die Rosenkreuzerschriften 38 39 40 41 42

Vgl. Moran, Alchemy, Prophecy, and the Rosicrucians; Tilton, Quest, S. 155 – 160. Vgl. Åkerman, Alruna Rediviva. Vgl. Åkerman, Roeslin. Vgl. Gilly, Franckenberg. Der Vorwurf des Paracelsismus ist allgegenwärtig, vgl. bes. Libavius, Bedencken Kap. 9: »Was die Fraternität vom Paracelso hält«, S. 67 – 86. Der Vorwurf des Chiliasmus und der dämonischen Magie schon im Titel einer disputatio erhoben, die Gilly, Haslmayr, S. 28 zitiert.

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Michael Maiers zu verrechnen. Maier vertritt in der Themis aurea und dem Silentium post clamores eine höchst gemäßigte, dem Paracelsus und Spiritualismus gegenüber kritische Haltung, sehr weit weg von allen magischen und enthusiastischen Prätentionen. Schon von ihrer humanistischen Form her könnte der Kontrast zu den Abhandlungen eines Haslmayr, Sperber oder »Philippus a Gabella« nicht größer sein.43 Maier eröffnet seine Themis aurea, hoc est, de legibus fraternitatis R.C. (1618) mit einer kleinen Abhandlung über die mythologische Herkunft der antiken Themis, der Göttin des Rechts.44 Nachdem Maier schon in seinen Arcana arcanissima systematisch dargestellt hatte, dass die gesamte antike Mythologie nur allegorisch zu verstehen sei (vgl. oben S. 226 ff.), erklärt er auch hier im ersten Kapitel die Gestalt der Themis zu einer Erfindung der antiken Dichter. Diese Themis personifiziere die Gerechtigkeit als eine universale Idee, an deren Existenz niemand zweifeln könne. Aus ihr entsprängen alle Gesetze, die allein das Leben in einer Gesellschaft möglich machten. (Themis 1, S. 17) Hintergrund dieser Themis-Allegorese – auf die Maier in der Folge des Traktats nicht mehr zurückkommt – ist der Analogieschluss, dass genauso wie die Göttin Themis auch die Rosenkreuzer eine poetische Fiktion sind. Wie Themis die Idee der Gerechtigkeit personifiziert, so personifizieren die Rosenkreuzer die Idee einer durch vernünftige Gesetze geregelten Gesellschaft, und zwar auch dann, wenn es sie als real existierende Gesellschaft gar nicht gibt. Ähnlich behauptet Maier später (Themis 14, S. 143 f.), die Versammlungshäuser der Brüder gelegentlich in der Nähe von Flüssen gesehen zu haben, um dann mit einigen mythologischen Verweisen – wo Pegasus eine Quelle durch Hufschlag sprudeln ließ, Diana sich an einer Quelle wusch – dem »intelligenten Leser« genugsam Hinweise zu geben, wo diese Versammlungsorte der Brüder tatsächlich zu finden seien.45 Nirgends nämlich sind sie zu finden, denn Pegasus ließ die Quelle auf dem Helikon sprudeln, im Reich der Dichtung, zu der die ganze antike Mythologie gehört. Die Rosenkreuzer sind eine poetische Fiktion wie Pegasus und Diana. Damit ist nicht gesagt, dass diese Fiktion nicht ernst zu nehmen wäre. Es handelt sich bei den Rosenkreuzern um einen Scherz, aber um einen ernsten, einen »jocus severus«, denn das Ideal einer christlichen Gemeinschaft, das die 43 Zu Maiers Version des Rosenkreuzermythos Tilton, Quest, S. 113 – 180. Grundlegend die vorsichtige Bewertung von Leibenguth, Hermetische Poesie. Zu Maiers Atalanta fugiens und seiner Konzeption der Alchemie vgl. oben Kapitel V.1, S. 197 ff. 44 Die englische Übersetzung Maier, Themis aurea. The Laws of the Fraternity. London 1656 lässt einzelne Passagen aus, verzerrt bisweilen den Sinn und ist gelegentlich nicht mehr auf dem Stand der Dinge, wenn etwa der Verweis auf Boccalinis Generalreformation nicht mehr verstanden wird. 45 Vgl. dagegen die alchemische Deutung der Stelle bei Tilton, Quest, S. 170 f.

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Rosenkreuzer-Manifeste entwickeln, ist durchaus ernst gemeint. Ganz im selben Sinne hatte Maier in seinem Jocus severus (1617) die Gerichtsverhandlung dargestellt, in der sich die Eule als Personifikation der Alchemie gegen die Anklagen der anderen Vögel verteidigen muss. Auch hier – die Schrift ist den Rosenkreuzern gewidmet – kann es keine Frage sein, dass die Form der Abhandlung das scherzhafte, spielerische Element darstellt, während die Verteidigung der Alchemie ernst gemeint ist.46 Die Rosenkreuzer sind für Maier als literarische Fiktion das Ideal einer wahrhaft christlichen Gemeinschaft. Ganz ähnlich wie Andreae ein Jahr später in der Christianopolis die »Utopie einer christlichen Gesellschaft« (van Dülmen) entworfen hat, um aus dem Kontrast heraus deutlich werden zu lassen, wie weit die real existierende Gesellschaft von diesem Ideal entfernt ist, so interpretiert Maier die Rosenkreuzer als die Idee einer christlichen Bruderschaft, die sich vor allem der kostenlosen Krankenfürsorge widmet. Mehr als die Hälfte der Themis aurea ist der Medizin gewidmet. Zurecht identifiziert Maier diese Medizin nicht als eine paracelsistische. Das vierte Kapitel führt die Erfindung der Medizin, wie die Erfindung aller Künste, auf die Notwendigkeit zurück, und damit nicht auf göttliche Inspiration, wie die Paracelsisten meinten. Zwar befolgten die Rosenkreuzer bei ihren Verschreibungen die galenische Lehre, gleichzeitig aber werden die Galenisten für ihre ärztliche Praxis scharf kritisiert. Nicht nur wäre die Länge ihrer Rezepte oft nur darauf zurückzuführen, dass sie damit mehr verdienten, sie würden diese Rezepte auch deduktiv aus den behaupteten Qualitäten der Arzneipflanzen ableiten, ohne die empirischen Befunde oder die konkrete Konstitution des Patienten zu beachten. (Themis 5, S. 44 – 49) Der kaiserliche Leibarzt Johannes Crato, ein dezidierter Gegner der Paracelsisten, wird deshalb für seine Umsicht in der Verschreibung von Arzneimitteln gelobt. (Themis 7, S. 64) Ausdrücklich bestätigt Maier, dass die Rosenkreuzer Arzneimittel mit »verborgenen« (occultae) Qualitäten verwendeten, ausdrücklich aber heißt es auch, dass diese Eigenschaften nichtsdestotrotz natürliche seien. Als verborgene, aber natürliche sind sie durch die siderischen Einflüsse der Gestirne verursacht, die damit ebenfalls (wie bei Melanchthon und Peucer)47 als natürliche gedacht werden. (Themis 5, S. 46) Im neunten Kapitel heißt es zu diesen okkulten Qualitäten noch deutlicher, dass es sich dabei um besonders subtile, nur durch genaueste Beobachtung nachzuweisende Eigenschaften handelte. Maier beruft sich dafür auf Fernels De abditis rerum causis, ein etabliertes schulmedizinisches Lehrbuch. In diesen subtilen Qualitäten bestünde auch der Nutzen der Chem-

46 Die Parallele zum Jocus severus hergestellt hat Tilton, Quest, S. 131 – 139. 47 Vgl. oben Kapitel III.2, S. 103.

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iatrie, indem es dieser gelinge, manche dieser Eigenschaften etwa durch Destillation medizinisch nutzbar zu machen. (Themis 9, S. 86 – 89) Das neunte Kapitel verkündet schon in seinem Titel, dass sowohl die galenischen wie die chemischen Medikamente von Nutzen sein könnten, je nach der zu behandelnden Krankheit. Weder dürfe man die galenische Medizin, noch die chemisch präparierten Arzneimittel gänzlich verwerfen. Wer grundsätzlich gegen alle Neuheit sei, mache denselben Fehler wie das alte Rom, das die ersten Chirurgen, die Wunden mit Feuer ausgebrannt hätten, verfolgt habe. (Themis 9, S. 90 f.) Maiers Urteil über Paracelsus lautet, dass er zweifellos ein Mann von herausragendem und bewunderswertem Wissen gewesen sei, (Themis 9, S. 94) deshalb aber nicht die ganze alte Medizin über den Haufen geworfen werden dürfe. Er wünsche sich, dass die Anhänger des Paracelsus nicht so sehr dessen Lastern nachhingen, zu denen an erster Stelle eine gewollt unverständliche Ausdrucksweise gehöre. (Themis 9, S. 96 f.) Die rosenkreuzerischen Ärzte vereinigten das Beste aus Galenismus und Paracelsismus in sich. (Themis 10, S. 99) Sie zeichneten sich insbesondere durch ihre Demut und Frömmigkeit aus. Krankheiten würden als Strafe Gottes betrachtet, deren Heilung deshalb auch in erster Linie vom Willen Gottes abhänge. Deshalb könnten die Rosenkreuzer auch keine unheilbaren Krankheiten kurieren. (Themis 11, S. 111) Eine Universalmedizin oder ein lebensverlängerndes Elixir gibt es für Maier nicht. Damit ist allerdings nicht gesagt, dass eine solche Universalmedizin nicht theoretisch möglich wäre, und auch dies entspricht dem Wortlaut der Confessio (vgl. oben S. 245). So ist es zu verstehen, dass im Silentium post clamores, der zweiten Rosenkreuzer-Schrift Maiers, ausdrücklich eine Universalmedizin zu den Geheimnissen der Rosenkreuzer zählt.48 Diese Geheimnisse seien allerdings keine »Magische/ Negromantische/ Teuffelische/ vnnd durch eygene Träume der Menschen erdachte Werke«, sondern nur »verborgene heimliche Wercke der naturae potentialis, welche durch natürliche Mittel in actum produciret«. (Silentium 3, S. 32) In syllogistischer Form beweist Maier, dass diese »herrliche Medicin« als »quinta essentia« und »Goldtmachende Tinctur« theoretisch möglich ist. (Silentium, 4. Kapitel) Später heißt es, wie in der Fama und Confessio grundsätzlich nichts zu finden sei, »so der Vernunfft/ der Natur vnnd der Erfahrung zuwider/ oder auch sonsten nicht köndte zuwegen gerichtet werden«, sei die Möglichkeit einer »UniversalMedicin« nicht in Zweifel zu ziehen. Dies würden weder Galenisten noch die »Empyrici« bestreiten. (Silentium 9, S. 98) 48 So dürfte es auch zu verstehen sein, wenn Maier in De medicina regina schreibt, dass die Universalmedizin nur in der imaginatio zu erfassen wäre, Tilton, Quest, S. 104. Auch in der Atalanta bestreitet Maier, analog zu Andreae, die Existenz einer solchen Medizin, vgl. oben S. 199.

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Sehr viel Wert legt Maier darauf, dass die Rosenkreuzer nur natürliche Medikamente benutzen. (Themis 12, S. 118) Zwar beherrschen sie die Magie, aber diese Magie ist eine magia naturalis als eine Kenntnis der Geheimnisse der Natur und damit jener verborgenen Eigenschaften der Dinge. Die magia naturalis ist die höchste Form der Naturphilosophie und damit nichts substanziell anderes als diese. Weil die Magier die Natur besser erforscht hätten als alle anderen, könnten sie Dinge erreichen, die anderen wunderbar schienen, obwohl sie doch nur Werke der Natur seien. (Themis 12, S. 124 f.) Das Wissen der Rosenkreuzer sei ein natürlich erworbenes und gehe nicht auf göttliche Offenbarung zurück. (Themis 12, S. 123) Mit der diabolischen Magie hätten die Rosenkreuzer nichts zu schaffen. (Themis 12, S. 126 f.) Auch im Silentium post clamores hatte Maier auf diesem Punkt nachdrücklich insistiert und neben Cardanos De subtilitate, Weckers Secreta und Fallopius’ Secreta insbesondere auf della Portas Magia naturalis als Sammlungen von »dergleichen Kunst vnd Secretstücklein« (Silentium 16, S. 155) hingewiesen. Wie die Indianer des neu entdeckten Amerika die moderne Technik der Spanier für Zauberei gehalten hätten, so würde man auch diese Magie nur solange für Zauberei halten, wie man sie nicht verstanden hätte. (Silentium 16, S. 157) Als Magier stünden die Rosenkreuzer in der Tradition der Pythagoräer, der äthiopischen Gymnosophisten, der indischen Brachmanen, der persischen Magier und der ägyptischen Priester. Die empirische Erforschung der Natur unterscheide diese älteren Geheimbünde und damit auch die Rosenkreuzer von den Aristotelikern, die sich der deduktiven Logik als Methode bedienen. Diese führe nur zu sinnlosen Wortstreitereien. (Themis 14, S. 138 f.) Maier stellt sich als einziger zeitgenössischer Leser die Frage, warum die Rosenkreuzer überhaupt an die Öffentlichkeit getreten wären. Indem diese gleichzeitig ihr Wissen gar nicht veröffentlicht hätten, könne von einem Fortschritt der Wissenschaften keine Rede sein. (Themis 18, S. 172 f.) Eine allzu hohe Meinung hat Maier von dem rosenkreuzerischen Geheimwissen aber sowieso nicht, denn er wirft selbst ein, dass die Wissenschaften und insbesondere die Medizin in den letzten hundert Jahren solche Fortschritte gemacht hätten, dass sie schon fast das höchstmögliche Maß an Vollkommenheit erreicht hätten. (Themis 18, S. 173) Damit ist gesagt, dass Maier – wie Libavius, der 1615 dasselbe Argument vorgebracht hat – sich nicht vorstellen kann, dass das Geheimwissen der Rosenkreuzer (das nach Bekunden der Manifeste 1617 schon an die zweihundert Jahre alt ist) noch viel Neues bringt oder überhaupt noch auf dem zeitgenössischen Stand des Wissens ist. Man könnte den Rosenkreuzern sogar entgegenhalten, meint Maier, dass es besser gewesen wäre, sie hätten sich gar nicht offenbart. Ihre Manifeste hätten große Hoffnungen und Erwartungen geschürt, die die Menschen zur curiositas verleiten würden. (Themis 18, S. 173 f.) Die Brüder hätten ihre segensreiche

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Tätigkeit im Geheimen weit besser ausführen können. Freilich, antwortet Maier selbst, dürfe man solche Einwände nicht ernst nehmen, denn wer hätte Amerika oder die Erfindung des Buchdrucks vermisst, bevor man sie entdeckt hätte, und doch wolle man diese Entdeckungen jetzt nicht mehr missen. (Themis 18, S. 175) Wie Andreae zieht auch Maier eine scharfe Grenze zwischen den lutherischen Rosenkreuzern und den Schwärmer und Enthusiasten. Weder erträumten, noch erhofften, noch wünschten die Rosenkreuzer eine Reformation der Welt durch die Religion, wie es einige Enthusiasten suggerierten. Diese Enthusiasten handelten aufgrund leerer Träume, verstießen gegen Gesetz und Ordnung und verachteten Religion und Wissenschaft. (Themis 20, S. 186 f.) Kaum hätten sie von der Bruderschaft gehört (das richtet sich gegen Haslmayr), hätten sie diese mit ihren Erwartungen überschüttet, ohne zu bemerken, dass in den Manifesten nirgendwo von einer »Generalreformation der ganzen Welt« die Rede wäre. Nirgendwo würde dort eine Befriedung der Welt im Sinne eines Chiliasmus, eine Konversion der Juden (eine Vorstellung, die oft im Zusammenhang eines Chiliasmus auftritt),49 ein einheitliches Reich und eine einheitliche Religion (das richtet sich gegen utopische politische Hoffnungen) versprochen. Vielmehr handle es sich bei der »Generalreformation« um einen satirischen Traktat, der den Rosenkreuzer-Manifesten nur beigebunden worden sei. Damit ist Maier einer der ersten, der erkennt, dass die Allgemeine Reformation der gantzen Welt von Trajano Boccalini, die den ersten Ausgaben der Manifeste beigebunden war, mit diesen nichts zu tun hat. Maier weiß 1617 auch schon, dass es sich bei diesem Traktat um eine Übersetzung aus dem Italienischen handelt. (Themis 20, S. 189)50 Alles, was man aus den Manifesten ableiten könne, sei, dass es eine Reform der Wissenschaften und Künste gegeben habe, die Maier mit der Reform identifiziert, die mit den Namen von Rudolf Agricola, Erasmus, Luther, Melanchthon, Paracelsus, Regiomontan und Kopernikus verbunden sei. (Themis 20, S. 189) Die angekündigte »Generalreformation« hat also nach Maier längst stattgefunden, denn es handelt sich um die als »Renaissance« bezeichnete Epoche mit ihrer Wiedererweckung der Wissenschaften und Künste und um die Reformation als eine Wiedererweckung des ursprünglichen Christentums. Eine darüber hinausgehende Reform der Religion, wie es die Enthusiasten wollten, werde es nicht geben. Die römische Kirche werde weiter die Fürsten des Heiligen Römischen Reiches und die wahre Kirche Christi unterjochen, daran 49 Vgl. Seifert, Reformation und Chiliasmus. Raphael Eglin, der auch mit einer Rosenkreuzerschrift hervorgetreten ist, hat im Aphorismus theologicus de mysterio prophetico, super conversione gentis iudaicae universali, ad usum Christianorum (1606) ebenfalls eine Konversion der Juden als Ankündigung der Endzeit behauptet. 50 Christoph Besold hatte bereits auf das italienische Original hingewiesen und 1618 Boccalini als Verfasser benannt, vgl. Gilly, Cimelia, S. 68.

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könne man nichts ändern. Die Reform der Religion sei nicht Sache der Menschen, sondern Sache Gottes. Wie alle guten Menschen würden die Rosenkreuzer eine solche Reform ersehnen, vorarbeiten könnten sie ihr aber nur durch Aufklärung des Verstandes, nicht durch Änderung des Willens. Wer wie die Enthusiasten von solchen Dingen träume, müsse eher mit Medikamenten als mit Dokumenten widerlegt werden. (Themis 20, S. 190) Wenn der Herausgeber von Maiers letztem, postumen Traktat, dem Ulysses (1624), im Vorwort das »R.C.« der Rosenkreuzer als Abkürzung von »Religio christiana« oder »Regnum Christi« deutet, indem er schreibt, dass Maier zwar vielleicht nicht in die Bruderschaft der Rosenkreuzer aufgenommen, sicher jedoch ein »Bruder der christlichen Religion« oder des »Reiches Christi« gewesen sei, dann dürfte er mit dieser Interpretation des Rosenkreuzes sehr nah an dem »ernsten Scherz« sein, als den Maier die Bruderschaft verstanden hat.51

3.

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Protopietismus: Frömmigkeit statt Theologie Erst die frühe, schnelle und starke Rezeption der Rosenkreuzer-Manifeste vor allem durch Paracelsisten machte das Rosenkreuz zu einer spiritualistischen Sekte. Wenn die Rosenkreuzer-Manifeste keinen Spiritualismus vertreten, gibt es auch keinen Grund, zwischen einem ›frühen‹, spiritualistischen und einem ›späten‹, konservativen Andreae zu unterscheiden. Die Rosenkreuzer-Manifeste sind neben und mit den fast zeitgleichen, anderen Schriften Andreaes ein Zeugnis von dessen protopietistischer, aber nicht spiritualistischer und separatistischer Frömmigkeit.52 Das Selbstbild, das Andreae in seiner Autobiographie entwirft, ist beim Wort zu nehmen. In deren Widmung bekennt Andreae, der Theologie Luthers, wie sie in der Confessio Augustana und in der Konkordienformel kodifiziert worden sei, immer treu gewesen zu sein. (Autobiographie Bd. I S. 20) Gleichzeitig beklagt er sich bitter darüber, sein ganzes Leben lang mit dem Vorwurf fehlender Rechtgläubigkeit verfolgt worden zu sein. Entscheidender Punkt ist dabei das Bekenntnis zu Arndts Wahrem Christentum, dessen Lektüre Andreae als Erweckungserlebnis beschreibt: 51 Maier, Tractatus posthumus sive Ulysses, S. 8. Der Hinweis auf die Stelle bei Gilly, Katalog Andreae, S. 90 und Tilton, Quest, S. 180. 52 Zu Andreaes Frömmigkeit vor allem Brecht, Andreae Weg und Programm; Brecht, Kritik und Reform, sowie Brecht, Andreae Biographie, dazu Brecht, Geschichte des Pietismus, S. 151 – 166. Nach wie vor auch van Dülmen, Utopie einer christlichen Gesellschaft. Detailliert zur Theologie Scholtz, Evangelischer Utopismus.

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»Die unverzeihliche Hauptsache meines Verbrechens besteht darin, daß ich über Johannes Arndt, einen unvergleichlichen Künder des wahren Christentums, ebenso wie über Johann Gerhard, einen in jeder Hinsicht ziemlich bedeutenden Theologen, billiger und milder urteilte als manche der Unsrigen und dies privat und öffentlich äußerte. Denn ihm verdanke ich es tatsächlich, daß ich aus jener oberflächlichen Betrachtung [theoria] unserer Religion und der ausschweifenden Lebensweise, die verbunden war mit der Ansicht, der Glaube sei unfruchtbar, durch die Güte Gottes zu einer wahrhaftigen Ausübung [praxis] und einem tätigen Glauben emporgetaucht bin. Später habe ich auch andere, die, wie ich sah, in der gleichen Lethargie befangen waren, aufgerüttelt und nach Möglichkeit versucht, sie durch diejenigen Betätigungen und Pflichtausübungen herauszureißen, die allgemein bekannt sind, allerdings um den Preis, daß ich mit so viel Unrecht, Spott und Hohn einen großen Teil meines Lebens verbringe.«53

»Wahre Praxis« und »tätiger Glaube« sind die Schlüsselbegriffe, die im Sinne Arndts eine ›lebendige‹, sich im Leben zeigende Frömmigkeit bezeichnen, im Gegensatz zu einer ›toten‹, sich auf die rationale Erkenntnis von Glaubensinhalten beschränkenden Theologie ohne Folgen für das tägliche Leben. Die Theologie als »Theorie der Religion« und begrifflich abstrakte Vernunfterkenntnis steht gegen die »Frömmigkeit« als ein sich im Leben zeigender, »tätiger Glaube«, eine Nachfolge Christi im alltäglichen Leben. Was später als ›Andachtsliteratur‹ bezeichnet wird, wie Arndts Wahres Christentum, ist als Hilfestellung für ein solch tätiges, frommes Leben gedacht, und in diesem Sinne veröffentlicht Andreae einen Christianismus genuinus (1615) aus Arndts Schriften und 1621 eine Sammlung von »Similia« aus dem Wahrem Christentum. Die Christianopolis (1619) ist Arndt gewidmet, weil sie sich aus dem »großen Jerusalem« herleite, das Arndt den Sophisten zum Trotz mit überragendem Geist errichtet habe.54 In der Vorrede beruft sich Andreae neben Arndt auf Johann Gerhard und Martin Moller, die dem Verfall der lutherischen Kirche entgegengetreten wären. Die Errungenschaften Luthers wären bedroht, in den Kirchen, an Höfen und Universitäten herrschte das Laster. Arndt, Gerhard und Moller dagegen würden die Frömmigkeit mit der Gelehrsamkeit verbinden und hätten sich nicht bloß zum lutherischen Glauben bekannt, sondern ihn auch gelebt.55 Wie die Rosenkreuzer bekennen sich auch die Bewohner von Christianopolis zum Luthertum.56 In den Predigten dort höre man nichts, was der Confessio Augustana widerspräche.57 Die Theologie als akademische Disziplin sei allein 53 Andreae, Autobiographie Bd. I S. 20 ff., Übersetzung Hintzen. 54 Andreae, Widmung der Christianopolis, Übersetzung Biesterfeld S. 6. In der Ausgabe van Dülmens ist die Widmung nicht abgedruckt. 55 Andreae, Christianopolis, Vorrede, ed. Dülmen S. 24 f., Übersetzung Biesterfeld S. 9. 56 Andreae, Christianopolis Kap. 76, ed. Dülmen S. 174, Übersetzung Biesterfeld S. 107. 57 Andreae, Christianopolis Kap. 84, ed. Dülmen S. 188, Übersetzung Biesterfeld S. 117.

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der Auslegung des göttlichen Wortes gewidmet, und also nicht mit der syllogistischen Erörterung dogmatischer Spitzfindigkeiten beschäftigt. Diesen Spitzfindigkeiten, deren Vater der Teufel ist, wird die christliche Einfalt entgegengehalten. Christus seien die Frommen lieber als die Gelehrten und die Gehorchenden lieber als die Disputierenden.58 Dem Kapitel über die Theologie als akademische Disziplin folgt deshalb ein Kapitel über die »theologische Praxis«, die gelebte Frömmigkeit, deren Wesen Andacht, Gebet und Meditation ist. Sie besteht nicht in abstrakten Regeln, sondern ist Einübung in die imitatio Christi.59 Eine Offenbarung jenseits der Bibel gibt es nicht, »denn wir bedürfen keiner Offenbarung oder eines Engels, der uns etwas Anderes predigte«. Die Möglichkeit, mit Paulus in den dritten Himmel entrückt zu werden, schließt Andreae aus.60 Um in dieser entscheidenden Frage keine Zweifel aufkommen zu lassen, ist das nächste Kapitel den Weissagungen (»De prophetiis«) gewidmet. Bei diesen »Prophetien« handelt es sich nicht um enthusiastische Inspirationen, sondern um Erleuchtung durch das Wort der Bibel, deren Zentrum Christus ist.61 Der Geist Gottes vermittle sich allein über das äußere Wort der Bibel. In der Predigt wird mit der Auslegung dieses äußeren Wortes der Geist an die Gemeinde vermittelt. (Kap. 84) Spiritualisten (»fanatici«) ohne eine derart »gesicherte Frömmigkeit« (»certa pietas«) dürfen Christianopolis deshalb gar nicht betreten, genausowenig wie Rosenkreuzer und falsche Alchemiker.62 Auch in seinem Civis christianus (1619) beschreibt Andreae diese Mitteilung des göttlichen Geistes über das äußere Wort der Bibel.63 Im 51. Kapitel werden grundsätzlich alle, die von Gott Offenbarungen forderten und »die Augen an der Betrachtung der Gottheit weiden wollen«, verurteilt, denn nichts sei der christlichen Einfalt und Demut stärker entgegengesetzt. Während der »christliche Bürger« den Weg in eine wahrhaft lutherische Gemeinschaft bereits geschafft hat, irrt der »Fremde« der Peregrini in patria errores (1618) umher. Ihm steht das Erlebnis seiner Wandlung zum »civis christianus« noch bevor, die er schließlich in einem genuin lutherischen Akt der Umkehr und Einkehr erlebt, vermittelt durch das Wort und den Glauben. Andreaes Utopie einer nicht nur christlichen, sondern wahrhaft lutherischen Gesellschaft – um den Titel von van Dülmens wichtiger Studie ein wenig zu korrigieren –, bleibt eine Utopie, solange sie niemand in die Realität, in die 58 59 60 61 62 63

Andreae, Christianopolis Kap. 76, ed. Dülmen S. 174, Übersetzung Biesterfeld S. 108. Andreae, Christianopolis Kap. 77, ed. Dülmen S. 174 f., Übersetzung Biesterfeld S. 108 f. Andreae, Christianopolis Kap. 77, ed. Dülmen S. 176. Andreae, Christianopolis Kap. 78, ed. Dülmen S. 178, Übersetzung Biesterfeld S. 110. Andreae, Christianopolis Kap. 4, ed. Dülmen S. 40, Übersetzung Biesterfeld S. 22. Andreae, Civis christianus Kap. 23. Vgl. dagegen Frey-Jaun, Berufung des Türhüters, S. 140, die auf ›Spezialoffenbarungen‹ schließt.

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Praxis eines tätigen Lebens im Glauben umsetzt, in wie kleinen und wie geheimen Gesellschaften auch immer. Die Bruderschaft der Rosenkreuzer ist deshalb nicht Andreaes einziger Versuch geblieben, eine wahrhaft lutherische Gemeinschaft zu gründen. Aus den radikalen Reaktionen auf die Rosenkreuzer-Manifeste hat Andreae allerdings gelernt, auf die literarische Einkleidung und die romanhafte Form zu verzichten. Die Invitatio fraternitatis Christi (1617/18), die Christianae societatis imago (1619), die Christiani amoris dextera porrecta (1620) und schließlich das Verae unionis in Christo Jesu specimen (1628) zielen auf den Versuch, Gleichgesinnte zu einem gemeinschaftlichen Leben in der imitatio Christi anzuregen.64 Zweck dieser Gesellschaftsentwürfe ist, in den Worten van Dülmens, »die Reformierung der Welt aus dem Geist eines wahren praktischen Christentums auf der Grundlage christlichen Glaubens und christlicher Gelehrsamkeit.«65 In den Worten Martin Brechts: »Es ist ein konsequentes Kirchenideal, das Andreae […] ausgehend von der Liebe Gottes und ihrer Verwirklichung in der Bruderschaft, entworfen hat. Es richtet sich kritisch gegen die Weltkirche und die Gesellschaft, ist aber nicht eigentlich separatistisch, obwohl es ein Ideal der kleinen Schar ist. […] Die Bindung der Bruderschaft an die Bibel schiebt dem Spiritualismus einen Riegel vor.«66

Die Gesellschaftsentwürfe Andreaes stehen als solche in scharfem Kontrast zu den individuellen Erlösungsvorstellungen, wie sie die Enthusiasten propagieren. In der Fluchtlinie von Andreaes Gesellschaftsentwürfen, einschließlich der Rosenkreuzer, liegt die Einführung von Kirchenkonventen, wie sie Andreae nach seiner Ernennung zum Hofprediger in Württemberg durchgesetzt hat. Ziel dieser Kirchenkonvente war die Einführung einer Kirchenzucht, mithin die Durchsetzung eines wahrhaft christlichen Lebenswandels an der Basis der Gesellschaft, nämlich in den Gemeinden.67 Auch damit ist Andreae ein unmittelbarer Vorläufer des Pietismus. Spener, der 1670 seine ersten »Collegia pietatis« in Frankfurt ins Leben ruft – deren Zweck ist, »das Wort Gottes reichlicher unter uns zu bringen«68 –, war ein großer Bewunderer Andreaes. 64 Alle Schriften in Andreae, Schriften zur christlichen Reform. Zu Andreaes Gesellschaftsentwürfen van Dülmen, Utopie einer christlichen Gesellschaft, S. 143 – 163, Dickson, Tessera of Antilia; Schmidt-Biggemann, Von Damcar nach Christianopolis. 65 van Dülmen, Utopie, S. 143. 66 Brecht, Andreae Weg und Programm, S. 317. 67 Zur Einführung der Kirchenkonvente Schnabel-Schüle, Calvinistische Kirchenzucht. 68 Spener, Pia Desideria, S. 108. Über Andreaes Neffen, Johann Jacob Schütz, besteht sogar eine unmittelbare Verbindung zu den ersten pietistischen Konventikeln in Frankfurt. Die Schriften Arndts befanden sich in der Bibliothek Speners, vgl. die Nachweise bei Brecht, Weg und Programm, S. 317 sowie die Darstellung in ders., Geschichte des Pietismus.

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Andreaes Kritik der Weigelianer und Enthusiasten, insbesondere Khunraths In seiner Abhandlung über die Vernichtungskraft der Neugier, an die nach Einzigartigkeit Strebenden gerichtet (De curiositatis pernicie syntagma ad singularitatis studiosos, 1621)69 findet sich eine Kritik des »vielgestaltigen Polypen« der Weigelianischen Frömmigkeit, mit der Andreae zu diesem Zeitpunkt – 1621 – sogar noch schneller ist als die universitäre Tübinger Theologie, denn Thumms Impietas Wigeliana erscheint erst ein Jahr später. Andreae dürfte sogar der erste sein, der den Begriff »Weigelianer« als Bezeichnung einer Glaubensabweichung benutzt, jedenfalls legt seine eigene Formulierung dies nahe (»religio […] quam Weigelianam appellare possemus, quod sub hoc nomine cui iniuriam non fecerim circumferatur« S. 33). Andreaes Kritik ist allerdings maßvoller als diejenige Thumms. Vor allem möchte Andreae einen scharfen Trennstrich zwischen Weigel und der ›neuen Frömmigkeit‹, der »praxis pietatis« Arndts und seiner Nachfolger ziehen. Diese jedenfalls dürfte gemeint sein, wenn Andreae schreibt, die Frömmigkeit Weigels habe anfangs viel Gutes gebracht, den inneren Menschen gebildet und etwas Frommes und Himmlisches an sich gehabt. (S. 33) Andreae stellt einen präzisen Katalog von Glaubensabweichungen auf, wenn er schreibt, die Weigelianer würden die Verdienste Luthers nicht erkennen, indem sie die Verkündigung des äußeren Wortes (»ministerium verbi«) geringschätzten und sich statt dessen eines »himmlischen Lichts« (aetereo lumine) brüsteten, die Sakramente herabsetzten, nur den Geist als Interpreten der Schrift anerkennten, Ketzereien vom Fleisch Christi, Maria, dem Zustand der Verdammten lehrten und der Erfindung von einer »imputatio« des Glaubens anhingen. (S. 33) In der lutherischen Kirche und ihren Organen sei der Geist Christi, und wer von ihr abweiche und seinem eigenen Geist folge, verfalle wie Weigel dem Teufel. (S. 34 f.) In der Veri Christianismi solidaeque philosophiae libertas (1618) führt Andreae Schwenckfeldianismus und Wiedertäufertum, zusammen mit Atheismus, Calvinismus und Epikuräismus auf teuflisches Wirken zurück. (S. 121) In dem Verae unionis in Christo Jesu specimen (1628) bekennt sich Andreae »aufrichtig und feierlich zu der einzig wahren evangelischen Religion, die den Beinamen unseres unvergleichlichen Helden Luther trägt, Calvins Hochmut, Schwenckfelds Wirbel, der Wiedertäufer Wahn, Weigels Frevel und die anderen Abspaltungen verabscheut und in der ehrwürdigen Konkordienformel dem vielgestaltigen Antichristen öffentlich abschwört.«70 Insbesondere das Bekenntnis zur 69 Nachdrücklich hingewiesen auf diesen Text hat bereits van Dülmen, Utopie, S. 107 – 111. 70 Andreae, Verae unionis specimen, S. 287. Ähnliche Formulierungen in Andreae, Selbstbiographie, S. V f.

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Konkordienformel verdient Aufmerksamkeit, denn diese stellte eine Verschärfung der von Melanchthon ausgehandelten und den ›Gnesiolutheranern‹ zu liberalen Confessio Augustana dar und führte zu schweren Spaltungen innerhalb des Luthertums. Sie wurde keineswegs von allen Lutheranern akzeptiert. Ausdrücklich will Andreae 1628 sogar von dem konfessionellen Irenismus, wie er von Teilen des Calvinismus – allen voran Hugo Grotius71 – praktiziert wurde, nichts wissen, genauso wenig wie von den »weigelianischen, rosenkreuzerischen und pseudo-alchemistischen Betrügereien«. (Verae unionis specimen S. 288) Als sein Freund Christoph Besold 1635 zur katholischen Kirche konvertiert, abgestoßen von der lutherischen Geistfeindlichkeit und angezogen von der spiritualistischen Tradition der katholischen Mystik, hat Andreae dafür kein Verständnis. Besolds Abkehr von der lutherischen Kirche ist für ihn eine Verirrung. (Autobiographie Bd. I S. 360) 1622 erklärt Andreae in seinem Theophilus, Weigel habe sich »unter dem Scheine der Frömmigkeit bei verschiedenen Leuten eingeschmeichelt«, zu denen dann wohl auch Arndt gehört, der in seinem Wahren Christentum längere Partien von Weigel übernommen hatte. Das emphatische Bekenntnis zu Arndt schließt für Andreae jedoch keinesfalls das Bekenntnis zu Weigel ein. Weigels Frömmigkeit sei »getränkt mit Gift«, und das »heilige Leben«, dass er geführt habe, nur Heuchelei, um die Unschuldigen zu verführen. Weigels Lehre sei die »Pest des Jahrhunderts«. Vorangegangen war auch hier ein Bekenntnis zu Luther und zur »evangelischen Lehre, wie sie unsere Väter und ihre Meister gelehrt haben«, konfrontiert mit der »Gewaltherrschaft des Papstes«, den »schlüpfrigen Wegen Calvins«, dem »Schwindel der Wiedertäufer«, den »Wirren der Schwenkfelder« und einmal mehr den »Prahlereien Weigels«. (Theophilus S. 129 f.) Klarer als im ersten Dialog des Theophilus kann man die Grundpositionen der lutherischen Theologie und insbesondere der Rechtfertigungslehre nicht zusammenfassen. Auf der anderen Seite wird im zweiten Dialog des Theophilus auch klar, dass Andreae ernsthafte Zweifel daran hegt, dass die lutherische Kirche Anfang des 17. Jahrhunderts noch tatsächlich der lutherischen Überzeugung gemäß lebt. Wenn Andreae schreibt, das sei »das wahre und wirkliche Luthertum, welches ein unversehrtes und vollständiges Bild der Reformation darstellt«, (Theophilus S. 155) dann lautet seine Diagnose, dass ein solches Bild das zeitgenössische Luthertum nicht mehr darstellt.

71 Zumindest dieses Urteil scheint Andreae später, 1641, vielleicht unter dem Eindruck des 30jährigen Krieges, revidiert zu haben, denn in seinen Rei Christianae et literariae subsidia (1641/42) nimmt er Grotius’ De veritate christianae in bearbeiteter Form auf, vgl. Brecht, Kritik und Reform, S. 147.

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Es sei gut, dass die Rechtgläubigkeit in Büchern, Disputationen und Predigten verteidigt werde. Viel zu wenig werde aber berücksichtigt, dass das Leben dem christlichen Bekenntnis entsprechen und auf die Worte Taten folgen müssten. Vielen, die Theologie studierten, bleibe ein christlicher Lebenswandel gleichgültig. Viele ängstigten sich um die Richtigkeit der Lehre, wenige aber um die Richtigkeit des Lebens. (Theophilus S. 148) Auch hier sind es wieder Arndt und Gerhard, deren gelebte Frömmigkeit sowohl gegen die abstrakt bleibende Theologie der Universitäten auf der einen wie gegen die »abenteuerlichen Glaubenslehren« der »Interni« (der »Innerlichen« und »Inspirierten«) auf der anderen Seite ausgespielt wird. (Theophilus S. 209) In seiner Promotionsrede aus dem Jahr 1641 beschuldigt Andreae die »weigelianische Pest des Jahrhunderts«, an der Verfolgung Arndts schuld zu sein, indem sie dessen legitimes Anliegen verfälscht habe. Er beruft sich dabei, wie schon im Theophilus und später in der Vita,72 auf Johann Gerhard, der die Unbescholtenheit Arndts bestätigt habe. Diese Berufung auf Gerhard ist insofern bezeichnend, als derselbe Gerhard von Franckenberg – an dessen spiritualistischer Prägung keinerlei Zweifel bestehen können – angeklagt wird, das Anliegen Arndts verwässert und verraten zu haben. Entsprechend zurückhaltend ist Franckenberg denn auch in seinem Urteil über Andreae, den er zu den »zögernden Geistern« rechnet.73 Selten wird an einer Stelle so deutlich, welche Bandbreite die Rezeption Arndts umfassen kann. Andreaes Rezeption ist genauso selektiv wie die eines Franckenberg. Hätte Andreae die unveröffentlichten, klar paracelsistischen und spiritualistischen Schriften Arndts gekannt – die Oratio de antiqua philosophia, das Judicium zu Khunraths Amphitheatrum –, hätte er sein Urteil revidieren müssen. Dies erhellt auch, wie wichtig es für Arndt war, den Spiritualismus des Wahren Christentums gemäßigt zu halten, sollte die Frömmigkeitsreform nicht in den Separatismus abgedrängt werden. Die Zustimmung eines Andreae und wahrscheinlich auch eines Gerhard – und damit zweier der einflußreichsten Propagatoren der neuen Frömmigkeit – hätte Arndt sicherlich verloren, wenn die Oratio de antiqua philosophia veröffentlicht worden wäre.74 Im Übrigen ist das Missverständnis, wenn es denn eines gewesen ist, ein gegenseitiges. Ausgerechnet Arndt gehört zu denjenigen, die die RosenkreuzerManifeste paracelsistisch und spiritualistisch verstanden haben. In einem Brief an Hirsch aus den Jahren 1616/17 erwartet Arndt mit der Ankunft der Rosen-

72 Andreae, Theophilus, S. 213; Andreae, Selbstbiographie, S. III f. und S. 115 f. Vgl. van Dülmen, Utopie, S. 123. 73 Franckenberg, Briefwechsel, S. 364. 74 Vgl. dagegen das Urteil von Gilly, Katalog Andreae, S. 40.

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kreuzer auch die Ankunft eines Elias Artista.75 Wenn die Nachricht Brecklings, Arndt habe bei Andreae brieflich angefragt, ob er wisse, wie man mit den Rosenkreuzern in Verbindung treten könne – worauf Andreae geantwortet habe, er solle sich nicht bemühen, die Rosenkreuzer zu suchen, »weil es ein pure Figmentum Amicorum im Wurtenbergischen Lande war« –, wenn diese Nachricht stimmt, dann hatte Andreae gute Gründe, sich Arndt nicht als Verfasser der Manifeste zu offenbaren.76 Ausgerechnet den von Andreae als »Pseudochymicus« und »Gaukler« geschmähten Khunrath bewundert Arndt in seinem Judicium. Andreae dagegen hatte sich schon 1616 in der Theca gladii spiritus (Nr. 354, S. 130 f.) scharf gegen Khunrath gewandt, wenn es dort heißt, die »verbrecherischen Embleme« (»scelestas figuras«) flößten den Anhängern der Alchemie die Verachtung Gottes ein, was sich nur auf die Kupferstiche des Amphitheatrum beziehen kann. Wie Libavius und Erastus fordert Andreae hier sogar den Strang für diese Alchemiker. Der Sentenz 196 (Theca S. 86 f.) zufolge gehören die Bücher der Pseudochymicorum weggeworfen. Im Menippus werden diejenigen, die sich von den »figuras mysticas« Khunraths hätten faszinieren lassen, der Leichtgläubigkeit geziehen. (Menippus 85, S. 108) In der Mythologia christiana findet sich unter dem Titel »Prahler« (Thraso) eine Satire auf die »Pseudochymici«. Diese priesen unter lautem Geschrei auf dem Marktplatz unter den merkwürdigsten Bezeichnungen Büchsen an, die eine wunderbare Medizin enthalten sollten. Diese Bezeichnungen (Christiano-Cabalicum, Divino-Magicum, Tertriunum Catholicon, Chaos Magnesiae, Porta Sapientiae, Oratoriolaboratorium usw.) sind dabei vor allem Khunrathscher Provenienz. Als die Leute die Büchsen zu Hause öffneten, sind sie alle leer. Auf ihre Beschwerde antwortet der »Prahler« jedoch nur, dies sei das »allergeheimste Geheimnis«, dass seine Mittel nur den Eingeweihten (»filiis disciplinae«) sichtbar wären, greifbar »unter Tausenden kaum Einem« (»ex millibus vix uni«). (Mythologia V.45, S. 271 f.) Auch mit diesem »ex millibus vix uni« zitiert Andreae Khunraths Amphitheatrum, wobei Arndt seinerseits diese Formulierung in seinem Judicium zustimmend zitiert hatte.77 In einem »Fremdartiges« (»Insolita«) betitelten Kapitel nennt Andreae Khunrath in einer Reihe mit Jacopo Brocardo, Paul Lautensack, Julius Sperber, Valentin Weigel, Aegidius Gutman, Sebastian Franck, Guillaume Postel, Martin Cellarius und Simon Studion. (Mythologia III.23, S. 137) Sie alle seien im Gefolge jenes »Azoth« und »monarcha orbis« aufgetreten, in dem unschwer Paracelsus 75 Gilly, Arndt und die dritte Reformation, S. 65. Zu Arndt und Andreae auch Gilly, Rosenkreuz als europäisches Phänomen, S. 28 – 34. 76 Andreae, Fama (ed. van der Kooij), S. 30. 77 Arndt, Judicium, S. 107. Auf die Stelle hingewiesen hat Gilly, Katalog Andreae, S. 40.

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zu erkennen ist. Damit distanziert sich Andreae gleichermaßen von Paracelsisten, Chiliasten, Spiritualisten und Anhängern einer ›physica mosaica‹. Diese könnten uns nicht verstehen, genauso wie wir sie nicht verstehen könnten. Ihre persische, chaldäische, brachmahnische, druidische, fessanische und damcarische Sprache, ihre mystischen Bilder, Dreierreihungen und Paradoxa zielten nicht auf eine Reform des Lebens – also nicht auf die neue Frömmigkeit –, sondern blieben an einer Reform der Sprache hängen. Nicht nur war sich Andreae, wie Martin Brecht geschrieben hat, keiner Differenz zur Kirchenlehre bewußt, sondern ihm war auch klar, dass die aufkommende Erneuerungsbewegung der »praxis pietatis« nicht identisch mit dem Spiritualismus war.78 Die ›neue Frömmigkeit‹ bildet den Schnittpunkt der Bemühungen von Arndt und Andreae, die Einstellung zu Spiritualismus, Paracelsismus, Alchemie, Naturforschung und akademischer Bildung den Unterschied. Beide, der Protopietismus und der Spiritualismus, sehen sich dabei in der Nachfolge Luthers. Was zur Debatte stand, war die weitere Entwicklung, die die von Luther eingeleitete Reformation nehmen sollte.

Andreaes Kritik der Alchemie, des Paracelsismus und der Naturforschung Andreae war zweifellos kein Paracelsist, aber er hat den Paracelsismus, wo er als neue, ›chemische‹ Philosophie und Medizin auftrat – und nicht als Spiritualismus – begrüßt. Damit steht Andreae neben Michael Maier, Daniel Sennert und Andreas Libavius. In Andreaes Nachruf auf seinen Freund Tobias Heß heißt es, dieser hätte am liebsten Galen, Hippokrates und Paracelsus vereint, wie dies auch Petrus Severinus getan hätte. Was Paracelsus Galen und Hippokrates vorausgehabt hätte, sei, nach Meinung von Heß, gewesen, dass er »sich weniger leicht ekelte, schneller mißtrauisch wurde, wo der Natur der Einklang zu fehlen schien, bei den mühevollen Experimenten ausdauernder blieb, allerdings auch beim Aufspüren des Mischungsverhältnisses der Dinge eine unzeitige Neugier an den Tag legte.« (Hessi Immortalitas S. 309) Wenn dies das Urteil von Heß war, dann war auch Heß ein gemäßigter Paracelsist. Noch deutlicher sind in diesem Punkt Andreaes Äußerungen über die Alchemie. In dem Nova reperta betitelten Dialog des Menippus wird die Alchemie als die Kunst eingeführt, die »zur Untersuchung und Zergliederung der Natur erfunden wurde«, (Menippus 79, S. 192) was dem nüchternen Bild des (al-) chemischen Laboratorium der Christianopolis entspricht. Die Alchemie, die dort praktiziert wird, ist keine paracelsistische. Nicht auf Christus oder überhaupt auf theologische Dinge bezieht sich die Alchemie dort – was Andreae (De 78 Brecht, Weg und Programm, S. 300; vgl. auch Gilly, Katalog Andreae, S. 33 – 37.

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curiositatis pernicie S. 32) schärfstens ablehnt, ganz wie Maier und Libavius –, sondern auf eine Nachahmung der Natur in ihren fundamentalen physikalischen und chemischen Prozessen. Wenn Sennert, der in seinem De chymicorum cum Aristotelicis et Galenicis consensu ac dissensu versucht hatte, die paracelsische Chemie mit der aristotelischen Philosophie zu versöhnen, seinen Widmungsbrief mit einem Verweis auf Andreaes Peregrini in patria errores eröffnet, zeigt auch dies, auf welcher Seite Andreae wahrgenommen wurde. In dem Büchlein über die Vernichtungskraft der Neugier (De curiositatis pernicie) macht Andreae die curiositas zur Hauptverantwortlichen für eine lange Reihe von Verfehlungen, denen insbesondere die »edleren Geister«, die Gebildeten zuneigten. Gerade diejenigen, die sich durch logischen Scharfsinn, Gedächtnis oder Fleiß auszeichneten, seien besonders anfällig, sich von der Neugier angestachelt auf abseitige Dinge zu werfen, sich in der Vielfalt der Welt zu verlieren und damit von der Einfalt der christlichen Lehre abzuweichen. (S. 1 – 9) Zu diesen potentiellen Opfern der curiositas gehören Handwerker und Künstler, aber auch Mechaniker, die ihr Leben damit verschwendeten, an einem perpetuum mobile zu basteln, genauso wie Mathematiker, denen die Quadratur des Zirkels zur fixen Idee geworden sei. (S. 12) Zu den bevorzugten Verführungen der Neugier gehört auch die Chemie, wobei Andreae ausdrücklich nicht jene Chemie meint, die sich nur als eine »Nachahmerin der Natur« (S. 15) versteht und – so wird man ergänzen dürfen – in der Apotheke und der Metallverarbeitung zum Einsatz kommt. Gemeint ist die Chemie der »obskuren Brüderchen« (obscurorum fraterculorum, S. 15), die überall nur noch Allegorien und Hieroglyphen sähen, sich der Allwissenheit brüsteten und doch ihr Wissen in einer unverständlichen Terminologie versteckten. (S. 15 f.) Niemand glaube, was in einem solchen Brüderchen an Scheinheiligkeit, Treulosigkeit und Unglauben stecke. Weil sie Barbaren seien, wagten sie, Aristoteles und Galen anzugreifen, die sie doch weder gelesen noch verstanden hätten. (S. 17) Neben diesen »Pseudo-Chymikern« stehen diejenigen, die sich in »paradoxen und geheimen Büchern« (S. 19) gefielen, die mit Stöhnen und Seufzen eine allgemeine Reformation der Wissenschaften ankündigten (das richtet sich gegen Haslmayr) und inzwischen die tiefe Finsternis beklagten. (S. 20) Daneben stünden die der Magie Verfallenen, die die Grenzen menschlichen Wissens überschreiten wollten, Dämonen beschwörten, Visionen, Erscheinungen, Offenbarungen und Träume hätten, die Stimmen hörten und die Zukunft voraussähen. (S. 22) Noch schlimmer wird es, wenn diese Vorhersagen als göttlich inspirierte Prophetien ausgegeben würden, wobei Andreae ausdrücklich hinzufügt, dass er damit nicht jene Prognostiken meint, die man dem Volk verkaufe. Es geht um diejenigen, die tatsächlich glaubten, dass ihre Mutmaßungen von Gott inspiriert seien. In dieselbe Kategorie gehören diejenigen, die durch Be-

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rechnungen, Anagramme oder Zahlensymbolik zukünftige Ereignisse oder gar das Weltende vorhersagen wollten. (S. 24) Zu den der curiositas Verfallenen gehören jedoch auch diejenigen, die sich aus Ekel vor dem weltlichen Treiben in die Einsamkeit zurückziehen wollten, die nichts mehr lernen wollten, die ihre familiären Verpflichtungen aufkündigten und keiner Arbeit mehr nachgehen wollten. (S. 26 f.) Auch diese Nachahmung mönchischer Ideale ist aus lutherischer Perspektive Sünde. Wer aus »Zagheit des Gewissens« (S. 28) die Künste und Wissenschaften ablehne und sich allein um sein »inneres Heil« kümmern zu müssen glaube, verkenne die göttliche Berufung, die für den überzeugten Lutheraner immer eine Berufung in dieser Welt ist. Die »Einheit mit Gott« schließe keine menschliche Beschäftigung aus und könne von keiner gesellschaftlichen Verpflichtung befreien. Das Vaterland schützen, Recht sprechen, Kranke behandeln, als Lehrer unterrichten oder die Erde bebauen, sei alles als Berufung Gottes zu verstehen. (S. 29) Wer von dieser »lutherischen Einfachheit« (»simplicitatem Lutheranam« S. 31) – oder, wie man mit demselben Recht sagen könne: dieser »lutherischen Strenge« (»rigiditatem«) – abweiche, verfalle dem Irrglauben. Dazu rechnet Andreae die Calvinisten, Wiedertäufer, Schwenckfelder, Katholiken, Juden, Heiden, Türken, Arrianer und Atheisten, sowie, eigens hervorgehoben, die »ganz spezifische Frömmigkeit« der »Pseudo-Chymiker«. (S. 31 f.) Diese glaubten sich von einem inneren Licht erleuchtet, vermischten Theologie und Philosophie und lehrten unter Missachtung des göttlichen Wortes absurde Dinge von einem Reich der Glückseligen, von den Engeln, den Wundern, dem Glauben, der Sünde, den Sakramenten, der Kirche und der Auferstehung. (S. 32) Die Liste deckt sich mit den Glaubensabweichungen, die den Paracelsisten gleichzeitig von Universitätstheologen wie Thumm und Osiander, Andreaes akademischen Gegenspielern in Tübingen, vorgeworfen wurden. In Analogie zum 42. Emblem der Atalanta Maiers (vgl. die Abbildung 10 oben S. 202) heißt es in der Christianopolis, dass es Aufgabe der Chemie sei, den Geheimnissen der Natur in der mineralischen, vegetabilischen und animalischen Welt zum Wohl des Menschen nachzuforschen.79 Ihr natürliches Komplement findet diese Chemie deshalb einerseits in der Pharmazie, der in der Christianopolis das folgende Kapitel gewidmet ist, andererseits aber in den Werkstätten der Handwerker, die mit Metallen und Erzen zu tun haben. Hier finde sich »die wahre und eigentliche Chemie«.80 Es entspricht diesem Befund,

79 Andreae, Christianopolis Kap. 44, ed. Dülmen S. 112 f., Übersetzung Biesterfeld S. 69 f. 80 Andreae, Christianopolis Kap. 11, ed. Dülmen S. 52, Übersetzung Biesterfeld S. 30.

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dass Andreae gesteht, von der Alchemie nicht viel zu verstehen. Er habe die Alchemie selbst nie ausgeübt, sondern sich nur theoretisch mit ihr beschäftigt.81 Ebenfalls in Analogie zu Maier und den Rosenkreuzer-Manifesten ist die Medizin, wie sie in Christianopolis praktiziert wird, frei von allen magischen Prätentionen und der Frömmigkeit untergeordnet. Sie wird in Ehren gehalten, »nicht weil sie uns ein ungewöhnlich langes Leben beschert oder sich dem Tode wiedersetzt, sondern weil der beste Schöpfer gewollt hat, daß wir durch die Geschöpfe und den Gebrauch der Geschöpfe Wohltaten empfangen.«82 Das Geheimnis des hohen Alters, das weder Hippokrates und Galen, noch Paracelsus hätten herausfinden können, bestehe in Mässigkeit und körperlicher Bewegung, vor allem aber im »Vertrauen zu Gott«. (Mythologia III.27) Die einzige »Universalmedizin«, die es für Andreae gibt, ist das »allerheiligste Leben und Leiden Christi«. (Mythologia III.35) Wie die Alchemie, so steht auch die Naturforschung in der wahrhaft lutherischen Gesellschaft von Christianopolis ausschließlich im Dienst eines praktischen Christentums. Sie ist auf das Wohl des Nächsten ausgerichtet und jeder theosophischen Spekulation abhold, genauso wie dem praxisfernen Bücherwissen etwa aristotelischer Provenienz. Als eine praktische Naturforschung ist sie vollständig der Religion untergeordnet, die den Lebenskern der Gesellschaft bildet. Die Auslegung der Bibel ist das Richtmaß naturphilosophischen Wissens. Zwar gibt es in Christianopolis eine umfangreiche Bibliothek, diese werde von den Einwohnern aber nur wenig benutzt. Bücher gelten vor allem als »Erzeugnisse menschlicher Geschwätzigkeit«. Wie für Rosenkreuz ist für die Bewohner von Christianopolis die höchste Weisheit, zu wissen, »wieviel wir doch nicht wissen«. Alles, was man wissen muss, könne man aus Christus als dem »Buch des Lebens« lernen.83 Eine ergebnisoffene Erforschung der Natur kann es in einer so fundamental christlichen Gesellschaft, wie sie Christianopolis darstellt, nicht geben.84 Andreae hielt damit, in den Worten von Jirˇ† Benesˇ, »die anderen Wissensbereiche für mit dem praktischen Christentum vereinbar, sofern sie dem Zentrum zugeordnet blieben, und fordert gegen das Eindringen eines unchristlichen Humanismus ein neues Bildungswesen. Mit der radikalen Verchristlichung der Bildung wendet sich Andreae gegen die durch den Humanismus geforderte

81 Andreae, Christianopolis Kap. 44, ed. Dülmen S. 114: »non exercuisse hanc artem, sed inspexisse«. 82 Andreae, Christianopolis Kap. 79, ed. Dülmen S. 181, Übersetzung Biesterfeld S. 112. 83 Andreae, Christianopolis Kap. 39, ed. Dülmen S. 106, Übersetzung Biesterfeld S. 64. 84 Vgl. in diesem Sinn Werle, Ordnungsmodell, S. 44, gegen Braungart, Kunst der Utopie, der dort S. 47 einen »säkularen Impuls« und S. 59 eine Emanzipation von theologischen Bindungen ausmacht.

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säkularisierte Gelehrsamkeit und versucht, die emanzipierten Wissenschaften mit dem Christentum neu zu versöhnen.«85

In der ›Studienberatung‹ (Mora philologica), die Andreae sich selbst schon 1609 erteilt, werden alle Wissenschaften – »Zeitmessung, Geographie, Baukunst, Musik, Physik, Arithmetik, Geometrie, Astronomie usw.« – aus der Bibel abgeleitet. (S. 255) Die Frömmigkeit (pietas) sei keine Erscheinungsform der Unwissenheit, sondern der Gipfel der Wissenschaft: »die Weisheit des ganzen Erdkreises ist die Magd der Frömmigkeit«. (S. 257) Das ist die Position, die Andreae in der Fama mit der Ablehnung der »doppelten Wahrheit« zusammengefasst hat. (vgl. oben S. 237)

Andreaes Kritik der Magie Andreaes Ablehnung einer ›übernatürlichen‹, das heißt spekulativen, paracelsistischen Alchemie findet ihr Komplement in der Ablehnung der Magie. Auch diese Ablehnung muss sich um 1620 vor allem gegen die Paracelsisten richten. In den Peregrini in patria errores (1618) – eine Art Kompendium der Irrtümer, denen man auf dieser Welt verfallen kann – ist das 33. Kapitel »Zoroaster oder über die Verlockungen und Lügen der Magie, durch welche die menschliche Neugier zu unvermeidlichem Schaden geführt wird« betitelt. Es beschreibt eine finstere Höhle, in der ein Dämon oder »höllischer Gymnosophist« wohnen soll, der jedoch zum Glück für das Seelenheil des Erzählers, der sich aus Neugier zu dieser Höhle aufgemacht hat, nicht erscheint. In dieser Höhle verkehrten Pythagoras und Apollonius von Tyana, außerdem Ophiten, Gnostiker, Montanisten, Rabbiner und Brahmanen, die aus der Höhle mit immer neuen Wundererzählungen zurückkehrten. Dort würden mit seltsamen Zeichen und Lauten Ungeheuer beschworen, der Mond vom Himmel herabgezwungen, Tote müssten Antwort geben, Menschen sich in Wölfe verwandeln. Wer in der Höhle war, berichte von einer Bühne, auf der alles zu erblicken war, was auf der Welt zu sehen ist, und von einer Bibliothek mit Büchern geheimen Wissens, die Anleitungen zur Herstellung wunderhafter Werkzeuge enthielten, mit denen den tiefsten Tiefen des Meeres und der Erde ihre Schätze entrissen werden konnten. Der Ich-Erzähler versichert jedoch, das Innere der Höhle genausowenig betreten zu haben, wie er mit den wundersamen Kombinationen der Kabbalisten, den verwickelten Berechnung der Chiliasten, den magnetischen punctationes der Steganographen, den Visionen der Zukunftsschauer, den 85 Jirˇí Benesˇ, Einleitung. In: Andreae: Theophilus, S. 7 – 39, hier S. 25. Ähnlich van Dülmen, Utopie S. 177.

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Zaubersprüchen der alten Weiblein und dem ganzen Chor der Neugierigen irgendetwas zu tun habe. (Peregrini errores 33, S. 89 – 92) In der Institutio magica pro curiosis (im Anhang des Menippus 1617 gedruckt, wahrscheinlich schon zwischen 1609 und 1611 entstanden, also zur selben Zeit wie die Rosenkreuzer-Manifeste), weist Andreae jeden Begriff einer übernatürlichen Magie schärfstens zurück. Es handelt sich um den Dialog zwischen dem Christen und dem Neugierigen (»Curiosus«). Der Neugierige kommt zum Christen und möchte von ihm, der aufgrund seines umfassenden Wissens im Ruf eines Magiers steht, in die arcana eingeweiht werden. Der Christ jedoch versichert, er habe sein Wissen in beharrlichem Studium erworben, nicht durch irgendwelche magischen Künste. Der Neugierige glaubt ihm nicht, bis der Christ scheinbar nachgibt und eine Einweihung in die Geheimnisse seiner ›Magie‹ verspricht. Deren erste Regel lautet, dass das beste und sicherste Fundament aller menschlichen Dinge Gott ist, sodass am Anfang aller Unternehmung das Gebet stehen müsse. Die zweite Regel betrifft die Notwendigkeit von Begabung und Fleiß, die dritte Regel den Verzicht auf Fluchen, unzüchtige Liebe, Alkohol und schlechte Gesellschaft, die vierte Regel schließlich das frühe Aufstehen. (S. 326 – 333) Nicht die Bücher, sondern die Beobachtung der Natur ist die Quelle allen Wissens über die Natur. Gott habe uns die Natur als sein Buch vor Augen gestellt. Aus der Geschichte lernten wir, die providentia Gottes zu bewundern. Alle Studien müssten dem Gemeinwohl nützlich sein. Nicht die akademische Buchgelehrsamkeit, sondern das mechanische Wissen der Handwerker verdiene Bewunderung, wie es etwa in der Straßburger Uhr zum Ausdruck käme, der Erfindung der Bruchdruckerkunst oder des Schießpulvers, aber auch in den Entdeckungen von Columbus. Die Lektüre von Catull, Tibull oder Properz sei dagegen nutzlos. Der Christ bedauert die Jahre, die er damit verschwendet habe, Latein und Griechisch zu lernen. Alle Sprachen seien gleich bedeutend. (S. 336 – 348) Regiomontan habe einen erzenen Adler konstruiert, der dem Kaiser hoch in der Luft entgegengeflogen wäre. Dem Einwurf des Neugierigen, hier müsse es sich um schwarze Magie handeln, antwortet der Christ: So seid ihr, die ihr gelehrt sein wollt, aber keine Ahnung von der Anwendung der Mathematik habt und nicht einmal die Konstruktion einer Sonnenuhr oder eines Automaten versteht. Wie das niederste Volk glaubt ihr sofort an schwarze Magie, statt euch mit Mechanik, Mathematik und Ingenieurwissenschaften zu beschäftigen. (S. 344) Der Neugierige will endlich Zaubersprüche und Beschwörungsformeln hören, aber der Christ antwortet ihm, dass seine Magie viel einfacher sei. Sie bestehe vor allem in der Notwendigkeit, sich Grundkenntnisse in allen Wissensgebieten anzueignen. Alles müsse man kennen: Physik, Mathematik, Astronomie, Musik, Geographie, Geschichte, Biologie, Landwirtschaft, Bergbau,

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Chemie. Wie eine kurze Prüfung zeigt, hat der Neugierige von all dem kaum eine Ahnung. Auf einer Weltkarte kann er nicht einmal Italien identifizieren, ohne die Namen zu lesen. (S. 354 – 369) Die akademische Bildung des Neugierigen dagegen – eingangs hatte es bereits geheißen, er hätte Petrus Fonseca und die Conimbricenser gelesen (S. 320), der Einwand richtet sich also gegen die aristotelische Metaphysik – ist völlig nutzlos. Alles Wissen müsse immer auf das Gemeinwohl zurückbezogen werden, auch das theologische, juristische und historische, genauso wie das medizinische. Deswegen sei es auch absurd, galenische und paracelsische Medizin trennen zu wollen, denn entscheidend sei doch nur, dass dem Patienten geholfen würde. Andreae nennt den französischen Arzt Josephe Du Chesne (Quercetanus) als Vorbild einer solchen Vermischung von galenischer und paracelsischer Medizin. Ebenso sei es egal, ob sich die Erde um die Sonne oder die Sonne um die Erde drehe. Entscheidend sei, dass man die Zeit exakt messen könne. (S. 370 – 373) Das ist als bedingtes Bekenntnis zu Kopernikus zu werten, dessen neues Erdbewegungsmodell eine genauere mathematische Grundlage für die Zeitmessung bot und sich als mathematische Hypothese im Sinne Andreaes durchgesetzt hatte. Der Christ führt den Universalgelehrten Julius Cäsar Scaliger als ein Vorbild wahrer Gelehrsamkeit an, der vielleicht seines gleichen nicht hätte. Damit dürfte sich Andreae auf das naturphilosophische Standardwerk Scaligers, die Exercitationes exotericae beziehen. Sofort wittert der Neugierige auch in ihm einen Magier, doch der Christ antwortet: Immer das alte Lied. Alles was albern, dumm und niedrig ist, werde Gott zugesprochen, alles Ingeniöse, Seltene und Bewundernswerte aber dämonisch genannt. (S. 363) Bei der heiligen Dreifaltigkeit schwört der Christ, es gebe keine »ars notoria«, »mit deren Hilfe man in kürzester Zeit alle Dinge erlernen könne«. Fleiß und Beharrlichkeit seien die einzigen Möglichkeiten, die Künste und Wissenschaften zu erlernen. (S. 375 – 380) Ganz ähnlich – und vielleicht abhängig von der Institutio magica – polemisiert Matthias Bernegger (ein enger Freund Andreaes, mögliches Mitglied eines frühen Gesellschaftsentwurfes Andreaes)86 am 29. April 1619 bei einer Promotionsfeier Über ungesetzliche Arten des Wissenserwerbs (De parandae doctrinae modis illegitimis). Wenn Bernegger dort neben Lullismus und Kabbala insbesondere das Rosenkreuzertum nennt (S. 61), dann ist das eine Kritik ganz im Sinne Andreaes. Ganz im Sinne Andreaes dürften auch die mathematischen, astronomischen und technischen Interessen Berneggers, des ersten Übersetzers Galileis, gewesen sein. Andreaes Kritik der Magie verhält sich damit komplementär zu seiner Kritik der tradionellen, auf Buchwissen fußenden Wissenschaften. Diese werden im 86 Vgl. die Nachweise bei van Dülmen, Utopie S. 151.

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Menippus kritisiert, weil sie sich bloß auf Theorie und Autorität gründeten, mithin sich genauso wie die Magie dem beschwerlichen Weg einer Empirie und Ursachenforschung verweigerten. Wenn im Menippus die Bemühungen um eine Quadratur des Zirkels, um das perpetuum mobile, die Alchemie, die Kabbala und die Hermetik gegen das Wissen des Bauern ausgespielt werden, der mit seinem praktischen Wissen über ein viel wichtigeres Wissen verfüge, dann werden die scheinbar so gegensätzlichen Wissensformen der Magie und der humanistische Buchgelehrsamkeit im selben Zeichen einer auf die Praxis konzentrierten Wissenschaft kritisiert. Von einer grundsätzlichen Ablehnung der aristotelischen Wissenschaft kann dabei keine Rede sein, wie schon das überschwängliche Lob Scaligers zeigt. Den Aristotelismus kritisiert Andreae nur dort, wo er sich von der Praxis und dem Gemeinwohl entfernt, wie die Nennung Fonsecas und der Conimbricenser zeigt, aber etwa auch die Kritik der aristotelischen Logik und Rhetorik. Diese werden nicht grundsätzlich in Frage gestellt, wie bei den Spiritualisten, sondern nur dort, wo sie – wie in den akademischen Disputationen – zu einem Selbstzweck geworden sind oder einen Zugang zu den Phänomenen der Natur verhindern. (Menippus 25, S. 58 – 60)

Andreaes Kritik der Rosenkreuzer Der Polemiker Friedrich Grick – der Andreae gedroht hatte, ihn als Autor der Manifeste zu entlarven, und den Andreae offensichtlich brieflich gebeten hatte, ihm das zu ersparen – weiß zu berichten, dass der »Author Famae vnd Confessionis« diese nur »zur Kurtzweil und vexation« geschrieben habe,87 was mit Andreaes eigener Charakteristik der Rosenkreuzer-Manifeste als »ludicrum«, »ludibrium«, »comoedia« und »fabula« – mithin als Spiel, Spielerei, Scherz, Märchen und literarische Fiktion – übereinkommt. Diese Charakteristik entspricht dem »ernsten Scherz«, als den Maier das Rosenkreuz behandelt. In der Mythologia christiana (1619) lässt Andreae keinen Zweifel daran, dass es die Reaktionen auf die Rosenkreuzer-Manifeste waren, die es verhindert hatten, sich weiter auf sie einzulassen. »Überhaupt nichts« hätte er mit den Rosenkreuzern zu tun, antwortet einer der Gesprächspartner dort. Jetzt, nachdem das »Spiel« (lusus) von den »Gauklern« (histriones – der Begriff, mit dem Khunrath in der Confessio bezeichnet wurde) übernommen worden sei, müsse 87 Friedrich Grick [Agnostus], Liber I oder Portus Tranquillitatis, S. 42, zit. nach Dülmen, Mögling, S. 48, das Zitat auch bei Gilly, Rosenkreuz als europäisches Phänomen, S. 55 und Andreae, Fama (ed. van der Kooij), S. 29. Zu Andreaes Abgrenzung gegen Weigel und ›Schwärmertum‹ van Dülmen, Utopie, S. 124 – 135.

Andreaes Frömmigkeit

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sich der wahre Christ auf den »einfachen Glauben an Gott« zurückbesinnen. (Mythologia, »Alethea exsul«, S. 329) In der Turris Babel sive iudiciorum de fraternitate rosaceae crucis chaos (1619) entlarvt das »Gerücht« (fama), das die Fama fraternitatis in die Welt hinaustrug, diese Bruderschaft vom Rosenkreuz nicht nur als bloße Fabel und Komödie, sondern Andreae distanziert sich hier auch scharf von den Weigelianern, die vom Wort Gottes abwichen, Entrückungen träumten, sich im Zentrum aller Wissenschaften wähnten und mit ihrem ungewöhnlichen Sprachgebrauch die Glaubenssätze durcheinander brächten. (Turris Babel S. 57 f.) Das richtet sich gegen einen Haslmayr, Sperber oder »Philippus a Gabella«. Der »Resipiscens« – wie der Gesprächspartner in der »Turris« heißt: also derjenige, der zur Besinnung kommt – wendet sich, in Analogie zu Andreae, von den Rosenkreuzern ab und der Idee einer wahrhaft christlichen Gemeinschaft zu. (Turris Babel S. 70 f.) Wenn Andreae schließlich in De curiositatis pernicie (1621) seiner Kritik der Paracelsisten und Weigelianer die Kritik der Rosenkreuzer folgen lässt, dann weist er mit dieser Abfolge sogar auf die großen Ketzerkataloge bis hin zu Colberg voraus. Der »Scherz« (ludibrium) oder das »Märchen« (fabula) der Rosenkreuzer, so Andreae, sei der »Köder und Anstoß« (»viscus et offendiculum«) der Neugierigen dieser Zeit. Von einigen wenigen Guten abgesehen sei die ganze Bewegung mit ihren Zukunftsdeutern, Zahlenmystikern, Ekstatikern, Kabbalisten und Magiern zum Lachen gewesen. (S. 35) Wie der Turmbau zu Babel durch die Vielfalt der Sprachen unmöglich geworden sei, so sei die Bruderschaft der Rosenkreuzer durch das Chaos der Urteile und Reaktionen – also durch die Rezeption der Manifeste, nicht durch diese selbst – unmöglich geworden. Die wenigsten seien so hartnäckig, dass sie an diesem unsichtbaren Werk noch weiter bauen wollten. Die meisten wollten nur noch ein »Schweigen nach dem Geschrei« (»silentium post clamores«, damit zitiert Andreae Maiers gleichnamige Schrift) und die »Verspottung der Besessenen« (»ludibrium larvatorum«). (S. 36) Nicht an diese »Besessenen« vom Schlage eines Haslmayr wendet sich Andreae, sondern an die Besonneneren, »die wenigen Guten«, »die die große Verderbnis der Zustände schmerzt«, mit der Aufforderung, eine wahre »Bruderschaft Christi« (fraternitas Christi) zu gründen, damit eine Ordnung wechselseitiger Liebe und ein Austausch der göttlich verliehenen Gaben zu Ehren der himmlischen Kirche ermöglicht werde. (S. 37) Wenn diese fraternitas Christi nicht identisch ist mit dem, was Luther sich unter einer wahren Kirche vorgestellt hat, dann ist es zumindest nicht sehr weit weg davon. Wenn Peuckert Andreae als »bibelfesten, dogmenstarren Gegner« pansophischer Kreise bezeichnet und von den Rosenkreuzer-Manifesten behauptet hat, sie stünden einem »bibelstarren Dogmatiker näher als einem

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Das Rosenkreuz zwischen Spiritualismus und Frömmigkeitsreform

Schwärmer Khunrathscher Färbung«, dann hat er damit den Befund präzise zusammengefasst.88 Wenigstens für Andreae ist die lutherische Kirche der wahrhafte Orden der Rosenkreuzer.

4.

Der Roman der Rosenkreuzer

Apollonius von Tyana als Modell von Christian Rosenkreuz Es gibt keine Indizien dafür, dass Andreae in den wenigen Jahren, die zwischen der Entstehung der Rosenkreuzer-Manifeste und seinen anderen Schriften gelegen haben, irgendeine Form von Glaubensänderung vollzogen hat, mithin ein früher, rosenkreuzerisch-radikaler Andreae von einem späten, lutherisch-›orthodoxen‹ Andreae zu unterscheiden wäre. Andreae hat in seiner Vita nichts dergleichen behauptet, sich auch nicht von den Rosenkreuzer-Manifesten distanziert, sondern darauf insistiert, dass er missverstanden worden sei. Den einzigen Unterschied, den Andreae zwischen den Rosenkreuzer-Manifesten und seinen anderen Schriften macht, ist, dass er diese als »nicht so ganz geschmacklos«,89 mithin literarisch anspruchsvoll beschreibt, was sich komplemetär zur Charakteristik der Rosenkreuzer-Manifeste als »ludicrum«, »ludus« oder »fabula« verhält. Gemeint ist dabei, dass es sich um Dichtung im Sinne der Frühen Neuzeit handelt, das heißt um gleichnishafte Fiktion, um ein »ernsthaftes Spiel«, bei dem in spielerischer, nämlich literarisch-fiktionaler Form ernsthafte Inhalte vermittelt werden. Wie es sich bei der Chymischen Hochzeit um einen Roman handelt, so operieren auch schon die Fama und Confessio mit fiktionalen Elementen. Die komplizierte Herausgeberfiktion der Fama – geheime Bruderschaft, Öffnung eines Grabes, Bücherfund – ist für ihre Zeit neuartig, weist aber voraus auf den Geheimbundroman des 18. Jahrhunderts, auf Jean Paul oder Jan Potockis Handschrift von Saragossa. Aber nicht nur mit der Herausgeberfiktion bedient die Fama literarische Modelle, sondern auch mit der fiktiven Biographie des Christian Rosenkreuz. Diese Biographie erinnert an das Leben des spätantiken Heilers und Wundertäters Apollonius von Tyana, wie es Philostrat in seiner romanhaften Biographie beschrieben hatte. Diese Biographie erfreute sich im 16. Jahrhundert einer großen Beliebtheit und war 1599, ausführlich kommentiert noch einmal 1611, 88 Peuckert, Pansophie, S. 370. 89 Andreae, Selbstbiographie, S. II.

Der Roman der Rosenkreuzer

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ins Französische übersetzt worden. 1616 hatte Jean Jacques Boissard eine kurze Zusammenfassung des Romans gegeben.90 Schon 1473, vor der editio princeps des griechischen Originals durch Aldus Manutius 1501 – 1504, war die Apollonius-Vita von Alamanno Rinuccini ins Lateinische übersetzt worden. Diese Übersetzung hatte in dem griechisch-lateinischen Paralleldruck Paris 1608 bereits ihre zehnte Ausgabe erfahren. 1549 waren zeitgleich drei italienische Übersetzungen erschienen. Matthias Dall’Asta hat in seiner Studie zur Rezeption von Philostrats Vita Apollonii gezeigt, dass Apollonius um 1600 die paradigmatischen Qualitäten eines Weisen und Magiers besaß.91 Mit Giovanni Mercurio da Corregio, der 1501 in Lyon in leinene Gewänder gehüllt aufgetreten war und sich magischer, alchemischer und astrologischer Kenntnisse gerühmt hatte, hatte sich schon einmal jemand ausdrücklich als Schüler und Nachfolger des Apollonius bezeichnet. Wie bei Rosenkreuz handelt es sich bei Apollonius von Tyana um einen reisenden Heiler und Wundertäter, der ein hohes sittliches Ideal verkündet und eine asketische Lebensführung predigt. Wie Rosenkreuz muss Apollonius deshalb gegen den Vorwurf verteidigt werden, schwarze Magie zu praktizieren. Nach Philostrat erreicht Apollonius, wie Rosenkreuz, das Alter von hundert Jahren (4 v. Chr. – 96 n. Chr.). Wie Rosenkreuz führen auch Apollonius seine Reisen zu den Vermittlern der prisca sapientia, zu den Brahmanen nach Indien, den Magiern nach Persien, den Gymnosophisten nach Äthiopien und zu den ägyptischen Priestern, wenn Apollonius’ Reiseroute dabei auch vollständiger ist als die von Rosenkreuz. Indem Apollonius als Anhänger des Pythagoras eingeführt wird, bildet er selbst ein Glied in der Übertragung der prisca sapientia. Nicht nur bringt Apollonius in jungen Jahren nach siebentägigem Aufenthalt in einer Orakelhöhle des Trophonius – das ist die Höhle, die der Erzähler des 33. Kapitels von Andreaes Peregrini in patria errores nicht betreten wollte – ein Buch mit den Lehren des Pythagoras ans Licht. Als Pythagoräer ist Apollonius auch noch Mitglied eines ›Geheimbundes‹, der wie die Rosenkreuzer aus der Anonymität operiert (das heißt nicht an einer bestimmten Kleidung zu erkennen ist), dem Schweigen verpflichtet ist und sich insbesondere der Heilung und Krankenfürsorge widmet.

90 Boissard, De divinatione et magicis praestigiis, S. 335 – 348. 91 dall’Asta, Philosoph, Magier, Scharlatan und Antichrist. Dort auch alle bibliographischen Angaben.

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Apollonius als Entdecker der Tabula smaragdina Die bemerkenswerteste Übereinstimmung ist allerdings nicht die Biographie Philostrats, sondern die Tatsache, dass Apollonius über die arabische Tradition in engster Verbindung zur Alchemie steht. In dem Buch über das Geheimnis der Natur, dessen arabisches Original wahrscheinlich im sechsten Jahrhundert entstand,92 tritt Apollonius als Entdecker der Tabula smaragdina auf, die er unmittelbar aus den Händen des Hermes Trismegistus empfängt. Liber de secretis naturae et occultis rerum causis quem transtulit Apollonius de libris Hermetis Trismegisti lautet der Titel einer lateinischen Übersetzung des arabischen Originals aus der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts.93 Eingeleitet wird das Buch mit einer Fundlegende, die wie bei den Rosenkreuzern eng mit der Herausgeberfiktion verknüpft ist. Apollonius – als armes Waisenkind bezeichnet, ganz wie Rosenkreuz, der zwar adliger Abstammung ist, »armutshalber« aber in ein Kloster gegeben wird – wächst in Tyana auf, wo eine Statue des Hermes Trismegistus steht, deren Inschrift besagt, das unter ihren Füßen das Geheimnis der Schöpfung und die Darstellung der Natur verborgen liege. Während die Tyaneer diese Inschrift missverstehen und immer nur unter die Füße der Statue starren, begreift Apollonius, dass man unter der Statue graben müsse. Er entdeckt dort den Eingang zu einem finsteren Gewölbe, in dem er einen Greis auf einem goldenen Thron erblickt, der in den Händen eine smaragdene Tafel trägt mit der Aufschrift »Darstellung der Natur«. Vor ihm liegt ein Buch mit dem Titel Geheimnis der Schöpfung. Die Smaragdtafel, die hier in den Händen von Hermes Trismegistus gefunden wird, ist die Tabula smaragdina, die – je nach Übersetzung – als eine Darstellung, Nachahmung oder Herstellung der Natur in ihren Gesetzen und Grundlagen verstanden wird. Während das Geheimnis der Schöpfung, der Liber de secretis naturae eine Kosmologie entwickelt, stellt die Tabula smaragdina die Praxis zu dieser Theorie dar, indem sie die alchemischen Gesetze formuliert, denen die Materie des Kosmos gehorcht. Die Tabula wird am Ende des Liber de secretis naturae wörtlich wiedergegeben und stellt in dieser Fassung die älteste erhaltene Redaktion des Textes dar. Die Übereinstimmungen mit den Rosenkreuzer-Manifesten gehen weiter bis in die Details. Wie die Fama nur das Ende des »Büchleins T.« wiedergibt, das die 92 Alle Angaben nach Weisser, Buch über das Geheimnis der Schöpfung. Zur Tabula Smaragdina als Teil des Liber de secretis naturae dort S. 44 – 46 sowie Ruska, Tabula Smaragdina, S. 177 – 180, der S. 137 – 139 auch die Fundlegende behandelt. Vgl. auch Weisser, Hellenistische Offenbarungsmotive. 93 Vgl. die Edition von Françoise Hudry, Ps.-Apollonius von Tyana, De secretis nature. Die Fundlegende dort S. 23 f. und S. 152. Auf die Parallele hingewiesen hat Tilton, Quest, S. 130.

Der Roman der Rosenkreuzer

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Brüder im Grabmal von Rosenkreuz finden, so heißt es in der Einleitung in die Tabula smaragdina, die Tabula selbst bilde nur das Ende des Buches des Apollonius.94 Auch das Motiv der zwei Bücher begegnet bereits in dieser Fundlegende. Wie Rosenkreuz das geheime Wissen aus dem Orient in einem »Buch M.« aufgezeichnet hat, in seinen Händen aber das »Büchlein T.« gefunden wird, so findet Apollonius in den Händen der Statue die Tabula smaragdina, zu ihren Füßen aber den Liber de secretis naturae. Ganz wie die Rosenkreuzer dazu verpflichtet sind, ihr Wissen geheimzuhalten, so heißt es auch im Liber de secretis naturae mehrfach, die »secreta Hermetis« dürften nicht in die Hände von Uneingeweihten fallen und nur an enge Vertraute weitergegeben werden. So eindrücklich diese Übereinstimmungen sind, so bedauerlich ist die Tatsache, dass Andreae den Liber de secretis naturae nicht gekannt haben kann. Die lateinische Übersetzung ist nur in einer Handschrift überliefert und in der Frühen Neuzeit nicht gedruckt worden. Sollte die Fundlegende nicht noch an anderer Stelle kolportiert worden sein, muss es deshalb als sehr unwahrscheinlich gelten, dass Andreae sie kannte. Dieser negative Befund wiegt allerdings nicht ganz so schwer, denn man kann auf der anderen Seite mit Sicherheit davon ausgehen, dass Andreae die Kurzversion dieser Fundlegende kannte, wie sie im 16. Jahrhundert als Einleitung in die Ausgaben der Tabula smaragdina aufgenommen worden war. In dem anonym herausgegebenen Sammelband, der 1541 und 1545 in Nürnberg erschien und die wichtigsten Schriften Gebers, des mythischen Gründungsheros der Alchemie, zusammen mit anderen Grundlagentexten der Alchemie (darunter das Rosarium) versammelte, war auch die Tabula smaragdina enthalten.95 Deren Einleitung lautet dort: »Die Worte aus den ›Secreta‹ des Hermes, die auf der smaragdenen Tafel standen, in seinen Händen gefunden, in der dunklen Höhle, in der sein bestatteter Körper entdeckt wurde, waren die folgenden: […]«.96 Der goldene Thron und die Hermes-Statue sind also verschwunden, an ihre Stelle ist der »bestattete Körper« getreten: Genauso, wie auch die Brüder den Leichnam des Christian Rosenkreuz entdecken, in den 94 Vgl. den Abdruck des Textes bei Ruska, Tabula Smaragdina, S. 178 und in der Edition von Hudry, Ps.-Apollonius von Tyana, De secretis nature, S. 152. 95 Grundlegend zur Textgeschichte Ruska, Tabula Smaragdina. Dort S. 180 – 186 ein Abdruck der Tabula mit dem Kommentar des Hortulanus nach der Ausgabe Nürnberg 1541. Vgl. außerdem den Überblick von Telle (sub verbo) im »Verfasserlexikon«, der dort als frühesten Druck eine Ausgabe im Secreta secretorum, Bologna 1501 nennt. Nach Clulee, Astronomia inferior, S. 191 war die Tabula auch 1522 und 1536, integriert in einen Brief Johannes Trithemius’, im Druck erschienen. Zur Frühgeschichte der deutschen Übersetzungen Telle, Aristoteles an Alexander. 96 Zitate nach der zweiten Auflage, Nürnberg 1545, vgl. Alchemiae Gebri arabis, S. 294: »Verba Secretorum Hermetis, qui scripta erant in tabula Smaragdi, inter manus eius inventa, in obscuro antro, in quo humatum corpus eius repertum est.«

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Händen »ein Büchlein auff Bergament mit Gold geschrieben, so T. genandt«. (Fama S. 154 f.) Sollte das als Anregung für einen Roman noch nicht genügt haben, findet sich die Tabula smaragdina auch am Eingang einer weiteren alchemischen Textsammlung, dem Compendium Alchimiae des Johannes Garlandius, dessen editio princeps Johannes Herold 1560 herausgegeben hatte.97 Dieser Johannes Herold – der im übrigen wie Andreae später gesteht, sich nie in der alchemischen Praxis versucht zu haben, wenn er auch sehr viel alchemische Texte gelesen habe (Praefatio f. *3r) – erlaubt sich in seiner Vorrede eine weitere Variante der Fundlegende, die vielleicht nur der Versuch war, die tradierte Fassung etwas glaubhafter auszugestalten und christlich annehmbarer zu machen. Herold gibt in seiner Einleitung das Bild einer ganz und gar unmystischen, vom Paracelsismus noch unbefleckten Alchemie, die sich als kontemplative Meditation über die Grundlagen der göttlichen Schöpfung in der Natur versteht. Die Alchemie ginge demnach auf vorsintflutliche Zeiten zurück, auf die ersten Patriarchen, von denen sie mit Gottes Willen von frommen Männern bis zu diesem Tag weitergereicht wurde. Damit sie von den anderen nicht hatte verstanden werden können, sei sie nur verborgen »in Schleiern und Verdeckungen« (involucris et integumentis) weitergereicht worden, so dass sie nur denjenigen verständlich sei, die von Gott besonders begabt seien. Sie sei heiliger als die Hieroglyphen der Ägypter, die Magie der Perser, die Kabbala der Juden, die eleusinischen Mysterien der Griechen und die Heiligtümer der Römer und anderer Völker. Die Alchemie sei dem Eifer und der Sorge eines Christen würdig, denn die alchemische Praxis sei eine Betrachtung der Wunder, mit denen Gott die Natur in der Schöpfung versehen habe. (Praefatio f. *3rf.) Hermes Trismegistus wäre Herold zufolge nur ein ägyptischer Philosoph (und also kein Gott oder Prophet) gewesen, der, als er starb, die arcana der Alchemie in wenigen Sätzen niedergeschrieben habe. Diese wenigen Sätze – die Tabula smaragdina – habe er befohlen, zusammen mit seiner Leiche zu begraben. Er habe nämlich voraussehen können, dass diese Wissenschaft nach langer Zeit durch einige fromme und gelehrte Männer aus diesen Sätzen rekonstruiert werden würde. (Praefatio f. *6vf.) Selbst wenn man eine unmittelbare Verbindung dieser »frommen und gelehrten Männer«, die aus den wenigen Sätzen der Tabula smaragdina die antike Alchemie rekonstruieren, mit den Rosenkreuzern ablehnt, bleibt eine erstaunliche Parallele. Die Idee einer geheimen Gesellschaft, begründet auf der Fundlegende der Tabula smaragdina ist als literarische Idee älter als das Rosenkreuz. Zumindest Michael Maier hat diese literarische Tradition gesehen. In seinem 97 Mehrere Ausgaben bis 1600, ob allerdings mit der Vorrede Herolds, konnte ich nicht überprüfen. Vgl. Ruska, Tabula Smaragdina, S. 195 – 201.

Der Roman der Rosenkreuzer

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Silentium post clamores widmet er ein Kapitel dem Nachweis, dass die Rosenkreuzer als geheime Gesellschaft, die sich der Naturerforschung widmet, in der Nachfolge antiker Mysterienkulte stünden. Die in der Fama erwähnten Kollegien zu Damcar und Fez, in die Rosenkreuz eingeweiht worden sein soll, stünden als geheime Gesellschaften in der Nachfolge des Isis-Kultes, der eleusinischen Mysterien, des Kultes der Kabiren, der persischen Magier, der indischen Brachmanen, der äthiopischen Gymnosophisten und der Pythagoräer. Woher Maiers Wissen über diese antiken Kulte stammt, zeigen die zahlreichen Exzerpte aus Philostrats Apollonius-Vita. Maier benennt die Parallele zwischen Apollonius und Rosenkreuz sogar explizit, wenn es heißt, Rosenkreuz sei »sehr freundlich vnd ehrlich von jhnen [den geheimen Gesellschaften zu Damcar und Fez] empfangen/ auch gleich wie Apollonius von den Brachmanen mit seinen eygenen Namen genennet/ vnnd viel Heimlichkeiten seines Klosters jhm zu Gemüth geführet worden/ mit vermelten/ daß er derjenige seye/ dessen sie eine lange Zeit erwartet hätten.« (Silentium 5, S. 77) Über diese »heimlichen Kollegien«, die alle von Hermes abstammten, hätten sich, »von einem Volk zum andern gleichsam von Hand zu Hand« die Geheimnisse »fortgepflanzt«. Rosenkreuz steht also für Maier in direkter Nachfolge von Hermes und Apollonius. Wie Apollonius sein medizinisches Wissen in den antiken Mysterienkulten lernte, so Rosenkreuz in den Kollegien zu Damcar und Fez, in deren Nachahmung wiederum Rosenkreuz seine eigene Bruderschaft gründet. Wenn Maier damit demonstriert, dass er die Quellen Andreaes kennt, zeigt auch dies, dass er zu denjenigen gehört, die – im Gegensatz zu Haslmayr und den Paracelsisten – den »ernsten Scherz« von Anfang an durchschaut hatten.

Die philologische Inspiration der Rosenkreuzer-Idee Ein letztes Argument für den literarisch-fiktionalen Charakter der Rosenkreuzer-Manifeste ist die Parallele zur Datierung des Corpus Hermeticum. Rolf Christian Zimmermann hat 1969 an einem für die Rosenkreuzer-Forschung sehr abseitigen Ort, nämlich in seiner Studie Das Weltbild des jungen Goethe, eine interessante These formuliert. »Der Gedanke wäre zu erwägen«, schreibt Zimmermann dort, »wie weit gerade die Datierung Casaubons die Hermetik zur eklektischen Geheimtradition zurückverwandelte, und damit die RosenkreuzerIdee inspiriert hat. Denn nur so ließ sich dem Hauptargument Casaubons die zermalmende Wirkung nehmen.«98 Was Zimmermann andeutet, ist eine Begründung der Rosenkreuzer-Idee in den philologischen Bemühungen Isaac Casaubons, der 1614 aufgrund sprach98 Zimmermann, Das Weltbild des jungen Goethe Bd. 1, S. 317.

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licher und inhaltlicher Erwägungen das Corpus Hermeticum auf das vierte nachchristliche Jahrhundert datiert hatte. Die Tatsache, dass diese These aus chronologischen Gründen in dieser Form nicht zutreffen kann – die Rosenkreuzer-Manifeste sind bereits um 1610 entstanden, also vier Jahre vor der Veröffentlichung von Casaubons De rebus sacris ac ecclesiasticis exercitationes XVI –, nimmt ihr nichts von ihrer suggestiven Kraft. Anthony Grafton und Ralph Häfner haben auf die Vorgänger hingewiesen, die Casaubon mit seinen philologischen Bemühungen im 16. Jahrhundert gehabt hat,99 sodass die Annahme einer Inspiration durch Casaubon auch verzichtbar wäre. Entscheidend ist, dass das Corpus Hermeticum nach dieser Datierung nicht mehr als urzeitliche, vormosaische Offenbarung erscheint, sondern als spätantike Fiktion, als Fälschung römischer Christen, die ihren Glaubenswahrheiten die Patina altorientalischer Offenbarungen verleihen wollten. Um die Römer des vierten nachchristlichen Jahrhunderts von der Wahrheit der biblischen Offenbarung zu überzeugen, hätten die Christen dieser Zeit eine »uralte«, ägyptische Offenbarung erfunden, die die Wahrheit des Christentums bestätigt. Das Corpus Hermeticum wäre eine Erfindung zu missionarischen Zwecken. Casaubons Aufdeckung dieser Fälschung hat, so wäre die These Zimmermanns auszuführen, ein doppeltes Potential. Einerseits hätte diese Datierung alle Möglichkeiten einer Berufung auf vorbiblische Offenbarungen zunichte gemacht und damit eine »zermalmende Wirkung« entwickelt, indem neuplatonisch inspirierte Christen sich nicht mehr auf solche »uralten« Offenbarungen berufen konnten. Andererseits aber hätte Casaubon gleichzeitig die literarische Kreativität jener spätrömischen Christen gezeigt, die zur Bekräftigung ihrer Glaubenswahrheiten einfach eine Tradition erfunden hätten. Das Corpus Hermeticum erscheint damit nach Casaubon nicht nur als Fälschung, sondern auch als Dichtung und Fiktion. Die Geschichte des Christian Rosenkreuz, wie sie Andreae in der Fama erzählt, wäre nichts anderes als eine Nachahmung der literarischen Kreativität dieser spätrömischen Christen. Diese ›philologische‹ Inspiration der Rosenkreuzer-Idee verhielte sich komplementär zu der skizzierten Apollonius-imitatio. Beide Beobachtungen begründeten den literarischen Charakter der Rosenkreuz-Vita. Die Fama des Christian Rosenkreuz wäre auch damit, als fiktive Biographie eines umherziehenden Wundertäters, Heilers und Sektengründers, eine Art Roman. Wie Maiers Atalanta fugiens wäre sie von Anfang an Dichtung gewesen.

99 Vgl. Grafton, Defenders of the Text und Häfner, Götter im Exil. Zu Casaubons Datierung vgl. unten S. 303.

Zusammenfassung

5.

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Zusammenfassung

In den entscheidenden Punkten (prophetisches Selbstbewusstsein, Bekenntnis zu Paracelsus, Existenz einer Universalmedizin, übernatürliche Magie, Chiliasmus) vertreten die Rosenkreuzer-Manifeste keinen Spiritualismus oder radikalen Paracelsismus, sondern sind Ausdruck eines Frömmigkeitsideals, wie es insbesondere Arndt mit seinem Wahren Christentum ins Luthertum eingeführt hat. Mit dem gemäßigten Spiritualismus dieses Frömmigkeitsideals unterscheiden sich die Rosenkreuzer-Manifeste nicht von den anderen Schriften Andreaes. Was sie auszeichnet, ist, wie schon Andreae selbst nicht müde wurde zu betonen, allein ihre spielerische, literarische Form. Andreae ist nie etwas anderes gewesen als ein kirchentreuer Lutheraner, der lediglich in seinen frühen Schriften den ›Fehler‹ begangen hatte, sich zum Ausdruck seiner Bemühungen um eine wahrhafte Reformation des Christentums literarischer Formen zu bedienen. Allein das Missverständnis dieses »ernsten Scherzes«, der die Rosenkreuzer-Manifeste waren, ermöglichte die sofort einsetzende, massive Spiritualisierung der Idee eines Geheimbundes. Indem die Schriften von Haslmayr, Brotoffer, Sperber, »Philippus a Gabella« und »Julianus de Campis« gleichzeitig und zusammen mit den Erstdrucken der Manifeste erschienen, unmittelbar gefolgt von den Schriften eines Hirsch und Mögling, war eine differenzierende Wahrnehmung dieser Manifeste schwer möglich. Nicht unwesentlich bestärkt wurde diese Spiritualisierung des Rosenkreuzes durch die ebenfalls sofort einsetzende Polemik eines Libavius. Die Rosenkreuzerschriften Maiers, die den spielerischen Charakter der Manifeste Andreaes aufnahmen und fortführten, blieben dagegen eine vereinzelte und folgenlose Ausnahme. Den spielerischen, literarischen Charakter der Rosenkreuzer-Manifeste bestätigt schließlich auch die Tradition, in der die Figur des Christian Rosenkreuz steht. Sein literarisches Modell ist der antike Heiler und Wundertäter Apollonius von Tyana, der angeblich zu den Füßen einer Statue des Hermes Trismegistos die Tabula smaragdina gefunden hatte. Indem zu diesem Zeitpunkt bereits bekannt war, dass es sich bei den Schriften des Hermes um literarische Fälschungen spätrömischer Christen handelte, könnte die Vita von Rosenkreuz auch in diesem Sinne von vornherein als spielerische, literarische Erfindung und ›Fälschung‹ gemeint gewesen sein.

VII. Dichtung zwischen Spiritualismus und Frömmigkeit, insbesondere bei Martin Opitz

1624, mitten in den Auseinandersetzungen um Paracelsismus, Spiritualismus und Rosenkreuz, erscheint das Buch von der deutschen Poeterey des Martin Opitz. In seinen ersten Sätzen bestimmt es die Anfänge der Dichtung als eine »verborgene Theologie/ vnd vnterricht von Göttlichen sachen«. Diese Bestimmung hat mehrfach dazu geführt, Opitz’ Begriff der Dichtung in einen neuplatonischen Zusammenhang zu bringen. Das folgende Kapitel ist dem Versuch gewidmet, diese Interpretation zu korrigieren. An erster Stelle wird zu zeigen sein, dass der Begriff der »verborgenen Theologie« nicht auf den Neuplatonismus verweist, sondern auf den Gottesbeweis e consensu gentium, der im Calvinismus große Bedeutung hat. Er besagt, dass alle Völker – auch diejenigen, die nichts von der biblischen Offenbarung wissen – allein durch die Vernunft zu einer Erkenntnis Gottes gelangen können. Dieser Gottesbeweis ist immer wieder als Argument in den konfessionellen Auseinandersetzungen, die zu dieser Zeit in den Dreißigjährigen Krieg münden, verwendet worden, insofern eine solche natürliche Gotteserkenntnis auch die Gemeinsamkeit aller Konfessionen jenseits dogmatischer Streitereien bilden kann. In diesem irenischen Sinne verwendet ihn auch Opitz. Wenn Opitz dagegen im Kommentar zu seinem Lobgesang den Poimander erwähnt, so tut er dies weder im Sinne der Vorstellung von einer poetischen Uroffenbarung, wie sie bei Ficino begegnet, noch im Sinne einer unmittelbaren Anrede Gottes, wie sie bei Arndt begegnet. Opitz zitiert den Poimander neben den »geistreichen Lobgesängen« der Kirchenväter, mithin als erbauliche Dichtung. Opitz beruft sich damit auf Isaac Casaubon, der wenige Jahre zuvor nachgewiesen hatte, dass es sich beim Corpus Hermeticum um eine spätantike Fälschung handeln musste. Von diesem Befund ausgehend wird zweitens die religiöse Prägung von Opitz innerhalb der Religionsgeschichte des 17. Jahrhunderts verortet, wobei es vor allem um eine Abgrenzung gegenüber der geistlichen Dichtung geht, wie sie bei Gryphius, Birken oder Greiffenberg begegnet. Im Gegensatz zu diesen Dichtern, bei denen die geistliche Dichtung den Kern des gesamten Werkes bildet, zeichnet

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Dichtung zwischen Spiritualismus und Frömmigkeit

sich das Werk von Opitz durch seinen hohen Anteil weltlicher Dichtung aus. In petrarkistischen Liebesgedichten und in Trinkliedern verherrlicht Opitz sinnliche Vergnügungen. Im geistlichen Profil des Werkes von Gryphius, Birken oder Greiffenberg kommt dagegen ein spezifisch Arndtscher Spiritualismus zum Ausdruck, der durch seine asketisch-mystische Prägung für die rigide Ablehnung weltlicher Vergnügungen verantwortlich ist. Petrarkistische Liebesgedichte und Trinklieder sind mit ihm nicht zu vereinbaren. Diese Differenzierungen bestätigt die »Fruchtbringende Gesellschaft«, die in ihrem Irenismus und in ihrer Liberalität der Haltung von Opitz entspricht, deswegen aber von Andreae und Franckenberg mit Distanz behandelt wird. Eine ähnliche Konstellation bietet sich in Nürnberg, in der ein liberal philippisch gesinntes Patriziat, dem Harsdörffer angehört, in einem latent gespannten Verhältnis zu den Kirchenvertretern Saubert und Dilherr steht, die als dezidierte Anhänger der Arndtschen Frömmigkeitsbewegung gelten müssen. An dritter Stelle wird zu fragen sein, wie der Aufschwung der geistlichen Dichtung im 17. Jahrhundert religionshistorisch überhaupt zu erklären ist. Der Gegensatz von gelebter Frömmigkeit und akademischer Theologie ist auch hier von entscheidender Bedeutung. Das Frömmigkeitsideal Arndtscher Provenienz zielt auf eine Praxis des Glaubens und begründet sich damit aus der Opposition zu einer akademischen Theologie, die sich mit ihren Dogmen allein an den Verstand wendet. Den logisch-argumentativen Techniken der Theologie wird die Erbauungsliteratur und geistliche Dichtung entgegen gestellt, die sich mit ihrer bilderreichen, sinnlichen und mnemotechnisch einprägsamen Sprache an den »inneren« Menschen, an Gefühl und Herz wendet. Die Wendung der geistlichen Dichtung und der Erbauungsliteratur an den »inneren« Menschen ist dabei wörtlich zu verstehen. Durch die Vergegenwärtigung und Verinnerlichung des göttlichen Wortes vollzieht sich eine »Reinigung« des menschlichen spiritus durch den göttlichen. Die geistliche Dichtung des 17. Jahrhunderts erscheint damit als Psychagogik und Meditationstechnik. Durch die göttliche Ansprache des »inneren Wortes« zielt sie auf einen spirituellen Heilungsprozess.

1.

Das Bekenntnis des Martin Opitz

Dichtung als »verborgene Theologie« »Die Poeterey ist anfanges nichts anders gewesen als eine verborgene Theologie/ vnd vnterricht von Göttlichen sachen. Dann weil die erste vnd rawe Welt gröber vnd vngeschlachter war/ als das sie hette die lehren von weißheit vnd himmlischen dingen recht fassen vnd verstehen können/ so haben weise Männer/ was sie zue erbawung der

Das Bekenntnis des Martin Opitz

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Gottesfurcht/ gutter sitten vnd wandels erfunden/ in reime vnd fabeln/ welche sonderlich der gemeine pöfel zue hören geneiget ist/ verstecken vnd verbergen mussen. Denn das man jederzeit bey allen Völckern vor gewiß geglaubet habe/ es sey ein einiger vnd ewiger Gott/ von dem alle dinge erschaffen worden vnd erhalten werden/ haben andere/ die ich hier nicht mag außschreiben/ genungsam erwiesen. Weil aber Gott ein vnbegreiffliches wesen vnnd vber menschliche vernunfft ist/ haben sie vorgegeben/ die schönen Cörper vber vns/ Sonne/ Monde vnd Sternen/ item allerley gutte Geister des Himmels wehren Gottes Söhne vnnd Mitgesellen/ welche wir Menschen vieler grossen wolthaten halber billich ehren sollten.«1

Diese Sätze aus dem Buch von der deutschen Poeterey (1624) des Martin Opitz sind wiederholt als Beleg eines neuplatonischen Bekenntnisses in der Tradition Ficinos gewertet worden.2 Dichtung wäre dementsprechend Ausdruck einer Uroffenbarung, einer prisca theologia, die der Antike unabhängig von und eventuell sogar vor der biblischen Offenbarung zuteil geworden wäre. Die Dichter wären als Sänger und Seher – paradigmatisch die Reihe von Orpheus bis Homer – Träger dieser Uroffenbarung. Vor dem Hintergrund von Scaligers historisierender, rationalistischer Poetik (Poetices libri septem, 1561) bietet sich jedoch auch eine andere Lesart an. Während für den Neuplatonismus die Geschichte der Dichtung (wie die Geschichte überhaupt) eine Geschichte des Verfalls ist, in der das ursprüngliche, göttlich offenbarte Wissen immer mehr verlorengegangen ist, entwirft Scaliger in der aristotelischen Tradition das Bild einer fortschreitenden Geschichte, die von den primitiven Anfängen – Hirten auf der Weide singen aus Langeweile – zu den hochkomplexen Dichtungen seiner Gegenwart führt. In diesem Sinne ist es auch zu verstehen, dass Scaliger die Eleganz Vergils der archaischen Rauheit Homers vorzieht. Vergil schreibt den besseren Stil, weil er in gebildeteren Zeiten gelebt hat. Diese Geschichte eines Forschritts spiegelte sich in den Sätzen von Opitz. Weil die Anfänge der Menschheit »grob und ungeschlacht« waren, mussten die »weisen Männer«, um Gottesfurcht und zivilisiertes Verhalten (»gutte sitten vnd wandel«) durchzusetzen, ihre Lehren in »reime vnd fabeln« verstecken, um überhaupt gehört zu werden. Die ersten Formen der Dichtung waren theologische und ethische Lehrgedichte, weil dem »gemeinen pöfel« erst einmal die Grundformen eines zivilisierten Verhaltens beigebracht werden mussten. In diesem wörtlichen Sinne ist der »vnterricht von Göttlichen sachen« als eine 1 Opitz, Poeterey, S. 344. 2 Bachem, Dichtung als verborgene Theologie, S. 29; Béhar, Opitz; Wollgast, Philosophie in Deutschland S. 811; Cersowsky, Magie und Dichtung, S. 26 – 28; Quade, Literatur als hermetische Tradition, S. 33 f. Am prononciertesten hat Kemper, Religion und Poetik diese These vertreten, vgl. auch ders., Deutsche Lyrik Bd. 4.1, S. 147 – 160, übernommen von Stausberg, Faszination Zarathustra, S. 304 – 308.

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»verborgene Theologie« zu verstehen. Der Begriff des »vnterrichts« verweist dabei auf den Begriff des »docere«, mit dem traditionell die Funktion der Dichtung neben dem unterhaltenden Aspekt (»delectare«) bestimmt wurde. Nicht »göttlicher Unterricht« schreibt Opitz, sondern »vnterricht von Göttlichen sachen«. Die Dichtung ist nicht eine göttliche Offenbarung, sondern sie ist die »sinnreiche faßung« – so bestimmt Opitz aus der Tradition der Rhetorik die poetische inventio (S. 360) –, die der Dichter den Inhalten gibt, die er dem »pöfel« vermitteln will. Weil dieser »pöfel« nämlich die »lehren von weißheit vnd himmlischen dingen« in ihrer philosophischen, begrifflich-abstrakten Form nicht verstehen konnte, mussten die Dichter ihre philosophischen und theologischen Lehren in »reimen vnd fabeln« verbergen, damit sie als solche, als »verzuckerte Medizin« in einer »sinnreichen«, also sinnlich ansprechenden »faßung«, desto leichter aufgenommen werden würden. Dementsprechend wäre nicht die Rede von einer poetischen Uroffenbarung im Sinne von Ficino und Patrizi, sondern Opitz zitierte die rationalistische Vorstellung von einer verschleierten, gleichnishaften Ausdrucksform, deren sich die frühen Philosophen bedienen mussten, um ihre Weisheit unters Volk zu bringen. Diese Weisheit ist kein geheimes Wissen, das nur wenigen Erwählten offenbart wurde, wie es Ficino wollte, sondern ganz im Gegenteil ein allgemein zugängliches Wissen moral- und naturphilosophischer Natur, das allerdings in seiner Abstraktheit nur von wenigen Menschen verstanden werden kann und deshalb in der einfacher verständlichen, anschaulichen Sprache der Dichtung vermittelt werden muss. Die dichterische Form zeichnet sich also nicht durch schwere Verständlichkeit oder Dunkelheit aus, wie es der Neuplatonismus will, sondern durch leichtere Verständlichkeit. Deshalb spielt das rhetorische Konzept der Anschaulichkeit (evidentia) für Opitz eine solche Rolle, denn sie unterscheidet die Darstellung des Dichters, seine »sinnreiche faßung«, von der unsinnlichen Darstellung des Philosophen. Durch ihre anschauliche, sinnlich fassbare Form ist die Dichtung die »verzuckerte Arznei«, durch die sich das Horazische prodesse et delectare an den Leser vermittelt: »Dinet also dieses alles zue vberredung vnd vnterricht auch ergetzung der Leute; welches der Poeterey vornemster zweck ist.« (S. 351) Musaeus, Orpheus und Homer sind deshalb für Opitz nicht die mythischen Träger einer Uroffenbarung im Sinne Ficinos, sondern die ersten Pädagogen, die »Väter der Weißheit […] vnd aller gutten ordnung/ die bäurischen vnd fast viehischen Menschen zue einem höfflichern vnd bessern leben angewiesen.« (S. 345) Dabei war es die metrische Form und die Ausdruckskraft dieser Dichter, die die »einfältigen leute« zu der Überzeugung brachte, es handelte sich bei deren Dichtungen um »propheceiungen vnd geheimnisse«, sodass manche sogar »vermeineten«, »es müste etwas göttliches in jhnen stecken«. (S. 345) Der

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Konjunktiv ist als Irrealis zu verstehen, wie auch einige verwandte Formulierungen zeigen.3 Opitz ist weit davon entfernt, sich selbst zu diesen »einfältigen Leuten« zu rechnen, die sich von stilistischen und metrischen Kunststücken so beeindrucken lassen, dass sie deshalb meinen, die Dichter seien göttlich inspiriert (»es müste etwas göttliches in jhnen stecken«). (S. 345) Den Prozess, in dem aus der Dichtung als erster Form des »Unterrichts« die Philosophie entstanden ist, deutet Opitz nicht als einen Prozess der Degeneration, sondern als einen Prozess der Prosaisierung des Wissens, das vom hohen Stil der Dichtung in den niederen Stil der philosophischen Prosa herabgeführt wurde. »[J]e älter ein Scribent ist/ je näher er den Poeten zue kommen scheinet«, schreibt Opitz mit Berufung auf Casaubon, der gesagt habe, dass das Werk Herodots ihn an das Werk Homers gemahne. (S. 346) Das besagt nichts anderes, als dass der Historiker Herodot nicht wesentlich von dem Dichter Homer zu unterscheiden ist. Die Prosa des Historikers und die Verse des Dichters gehören historisch eng zusammen. Die »lehre« der Dichter hätten die Philosophen behalten, die »abmessung der wörter vnd Verse« aber aufgegeben und damit den philosophischen Stil (»die rednerische weise«) vom »hohen Stande/ in die gemeine art vnd forme herab geführet«.4 Die metrische und stilistische Form der Dichtung ist nur eine besonders archaische Form, die später von der wissenschaftlichen Prosa abgelöst wurde. Derselbe Prozess habe sich im übrigen auch in der germanischen Vorzeit abgespielt, wie es mit Berufung auf Strabo heißt, wenn dort die ersten Dichter »Bardi, Vates vnnd Druiden« gewesen wären, die »die Natur aller dinge« und die »gueten sitten« – also Natur- und Moralphilosophie – »unterrichtet« hätten.5 Im Gegensatz zur neuplatonischen Annahme der poetischen Form als einer irreduziblen, der poetischen Offenbarung wesenhaften Eigenschaft, durch die sich diese vor der abstrakten, begrifflichen Theologie der Schulen auszeichnet, ist die poetische Form für Opitz also tatsächlich bloß eine Form, deren Inhalte sich genauso gut in Prosa ausdrücken lassen. Dichtung ist nicht durch ihren Inhalt definiert, sondern durch ihre metrische und stilistische Form. Mit diesem humanistisch-pädagogischen Dichtungsbegriff ist der neuplatonischen Sakralisierung der Dichtung von vornherein das Wasser abgegraben. Der Dichter 3 Opitz, Poeterey, S. 349 heißt es, dass Ovid nur glaubte, von einem »himmlischen Anhauch« angeweht zu werden, wo es tatsächlich nur um den richtigen Zeitpunkt und die Gelegenheit geht, die die »vnbesonnenen Leute« dem Dichter manchmal nicht ließen. In der Vorrede zu den Teutschen Poemata S. 173 heißt es, »dass man die Poeten eine heimliche zusammenkunfft vnd verbüntnuß mit den Göttern zuhaben geargwohnet/ vnd jhre Schrifften als Orackel vnd Propheceyvngen gehalten hat.« Ähnlich Klaj, Lobrede, S. 4. 4 Opitz, Poeterey, S. 346. 5 Opitz, Poeterey, S. 356. Zu den Barden oder »Witdoden« als ersten deutschen Dichter auch Klaj, Lobrede.

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ist kein inspirierter Sänger, sondern ein Formkünstler mit pädagogischem Anspruch.

Der Gottesbeweis e consensu gentium Für Opitz besagt die Rede von der »verborgenen Theologie« nur, dass »man jederzeit bey allen Völckern vor gewiß geglaubet habe/ es sey ein einiger vnd ewiger Gott/ von dem alle dinge erschaffen worden vnd erhalten werden«. Dies hätten andere genugsam erwiesen, so dass er das nicht wiederholen müsse. Alle Völker verfügten über ein natürliches Wissen von Gott. Um aber deutlich zu machen, dass das Wesen Gottes unbegreiflich sei, hätten sie die Sterne für »Gottes Söhne vnnd Mitgesellen« erklärt. (S. 344) Auch bei dieser Annahme eines monotheistischen Glaubens bei allen Völkern und der Rückführung des antiken Polytheismus auf eine didaktische Strategie der »weisen Männer«, die damit dem »gemeinen pöfel« die Unbegreiflichkeit Gottes veranschaulichen wollten, handelt es sich nicht um neuplatonisches, sondern um humanistisches Gedankengut, nämlich den sogenannten Gottesbeweis »e consensu gentium« (»aus der Übereinstimmung der heidnischen Völker«). Er ist im 16. Jahrhundert so allgegenwärtig, dass Opitz ihn in der Tat nicht »außschreiben« muss. So findet er sich an prominenter Stelle in Ciceros De natura deorum (I.16.42 – 45) und De legibus (I.8.24-I.9.27), die beide im 16. Jahrhundert zur Schullektüre gehörten. An ebenso prominenter Stelle findet er sich bei Laktanz – der sich als humanistisch gebildeter Kirchenvater im 16. Jahrhundert größter Aufmerksamkeit erfreute –, wo er mit ausführlichem Bezug auf den antiken Polytheismus den Anfang der Institutiones divinae bildet. Vor allem aber findet er sich an erster Stelle des reformierten Glaubensbekenntnisses. Im Catechismus, sive Christianae religionis institutio, den Calvin 1538 »zum Gebrauch der Genfer Kirche« verfasst hatte, trägt der erste Artikel die Überschrifft »Dass alle Menschen zur Gottesverehrung geboren sind« (»Omnes homines ad religionem esse natos«). Kein Mensch sei so barbarisch und verwildert, heißt es dort, dass sich in ihm nicht irgendeine Spur der Gottesverehrung finde.6 In den späteren Ausgaben der Institutio christianae religionis (zuerst 1536) hatte Calvin diesen Gottesbeweis in aller Ausführlichkeit zur Grundlage des reformierten Bekenntnisses gemacht. Das dritte Kapitel trägt den Titel »Die Gotteserkenntnis ist dem Menschen innerlich von Natur eingepflanzt.« Als über jeden Zweifel erhaben wird es dort bezeichnet, dass der menschliche Geist eine natürliche Empfindung der Gottheit besitze. Gott habe dafür gesorgt, »damit ja 6 Calvin, Instruction et confession, S. 2.

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niemand den Vorwand der Unwissenheit als Entschuldigung anführe«. Mit Berufung auf Cicero (De natura Deorum I.16.43) heißt es, kein Volk sei so barbarisch, dass nicht auch er die Überzeugung besitze: Es ist ein Gott.7 Dies gelte besonders für den »Götzendienst« (idololatria) der Heiden mit seiner Verehrung der »schönen Cörper vber vns/ Sonne/ Monde vnd Sternen«, wie Opitz es (Poeterey S. 344) nennt. Die beherrschende Stellung, die dem Gottesbeweis e consensu gentium damit eingeräumt wird, übernimmt Calvin von Laktanz. Wo Laktanz jedoch den Anschluss an die antike Philosophie sucht und deren Ausgleich mit der christlichen Religion anstrebt – das Christentum erscheint als Vollendung der heidnischen Religion und Philosophie –, da steht dieser Gottesbeweis bei Calvin im Dienst des logischen, deduktiven Aufbaus der Institutio. Alle Menschen besitzen ein Bewusstsein Gottes, auch die Völker, denen die Offenbarung nicht zuteil wurde. Der Atheismus ist damit ausgeschlossen und Calvin kann in der rationalen Deduktion der christlichen Religion fortschreiten. Einen analogen Aufbau hat auch der Text, der als Quelle von Opitz am wahrscheinlichsten ist, nämlich Hugo Grotius’ 1622 in niederländischer Sprache erschienener Beweis der wahren Religion (Bewijs van den waren godsdienst). Auch hier eröffnet der Gottesbeweis e consensu gentium das Werk. Zusammen mit anderen Gottesbeweisen findet er sich im ersten Kapitel, dass der Existenz Gottes gewidmet ist (»Deum esse«). Gleich im Jahr seiner Veröffentlichung kam es zu einer zweiten Ausgabe, 1627 erschien die lateinische Prosafassung, die dann ab der Ausgabe 1628 den Titel De veritate religionis christianae trug. Ab 1640 erschien das Werk, das dann bis zum Ende des Jahrhunderts auf weit über hundert Ausgaben kam und in alle europäischen Sprachen übersetzt wurde, mit einem umfassenden Kommentar von Grotius selbst.8 Wie, wo und wann Opitz Kenntnis dieses Werkes erhielt, muss offen bleiben, dass er es aber sehr schnell kennenlernte, dürfte angesichts seiner engen Kontakte mit dem calvinistisch-irenisch gesinnten Heidelberger Kreis und seinen Kontakten in die Niederlande, die ihm von seiner Reise her verblieben sein mussten, außer Zweifel stehen.9 Schon 1623 hatte Matthias Bernegger brieflich Opitz allgemein die Lektüre von Grotius empfohlen.10 7 Calvin, Unterricht, S. 5. 8 Mir war nur die lateinische Fassung zugänglich, Grotius, De veritate religionis christianae, S. 4. Zu dem Werk Heering, Grotius, mit ausführlichen Nachweisen der Quellen von Grotius. 9 Ein Versuch von Gellinek, Hugo Grotius, aus handschriftlichen Notizen Opitz’ Bekanntschaft mit dem Werk von Grotius bereits auf das Jahr 1617 zu datieren, wurde von Rabbie, Opitz’ Notizen zurückgewiesen. Grundlegend für die Rekonstruktion der Verbindung von Grotius und Opitz ist Kühlmann, Opitz in Paris. Zum irenischen Kontext von Opitz’ Übersetzung van Ingen, Niederländische Leitbilder, S. 169 – 190. Allg. zu Grotius und Opitz die Arbeiten von Gellinek im Literaturverzeichnis.

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1631 hat Opitz das Werk – und zwar die niederländische Fassung, da ihm besonders an der Versform liegen musste – ins Deutsche übersetzt. In der umfangreichen Vorrede, die Opitz seiner Übersetzung voranschickt, tut er das, was er in der Poeterey 1624 noch verweigert hatte, nämlich den Gottesbeweis e consensu gentium »außzuschreiben«. In die Herzen der Menschen sei die »Erkenntnis Gottes« eingegraben, wie »die erfahrung vndt aller völcker zeugnüß« lehre. Indem die Heiden »holtz vnd steine/ thiere vndt bestien« verehrt hätten, hätten auch sie ihr angeborenes Wissen von Gott zu erkennen gegeben. Die zweckmäßige Einrichtung der Welt – hier schließt sich der teleologische Gottesbeweis an – könne nicht anders als durch die Annahme eines Schöpfers erklärt werden. Analog zum ersten Kapitel von Grotius’ De veritate fährt Opitz mit weiteren Gottesbeweisen fort, wobei diese, da sie nur »durch anleitung der natur/ vndt handreichung der weißheitlehre« zustandekommen, immer nur die Existenz Gottes, nicht aber sein Wesen begreifen könnten. Da die heidnischen Philosophen aber auf diese »jrrdische Vernunft« angewiesen waren, mussten sie sich in der »finsterniß der vnwißenheit« verlieren. Am weitesten sei noch Aristoteles gekommen. Gott könne jedoch nur erkannt werden, weil er sich den Menschen zu erkennen geben wollte, und deswegen müssten die Juden und Christen Gott für die Offenbarung danken. Von dieser Offenbarung ausgehend werden in deduktiver Form die Glaubensinhalte der christlichen Religion abgeleitet. Dies hätten jedoch in der Antike die Kirchenväter, »heutiges tages Vives/ Steuchus/ Philipp Mornay vndt andere« so überzeugend schon vorgeführt, dass »der sachen etwas zue thun weiter nicht möglich sey.«11 Mit Juan Luis Vives, Augustinus Steuchus und Philippe Duplessis-Mornay nennt Opitz drei Autoren, die einen ganz ähnlichen Versuch gemacht hatten wie Grotius, und die dieser seinerseits, zumindest was Vives und Mornay angeht, in erheblichem Maße in De veritate religionis christianae ausgeschrieben hatte.12 In Juan Luis Vives’ De veritate fidei christianae libri V (1531, zahlreiche Ausgaben bis ins 17. Jahrhundert) findet sich der Gottesbeweis e consensu gentium im ersten Kapitel des zweiten Buches.13 Neben dem Verweis auf Cicero findet sich als Beleg dort auch die Neue Welt angeführt, wo man Völker ohne Schrift, ohne

10 Briefe Lingelsheims Nr. 126, S. 170 – 172. Ich folge dem Hinweis von Kühlmann, Opitz in Paris, S. 194. 11 Opitz, Vorrede zu Grotius, f. )( )(r. 12 Ausführliche Nachweise bei Heering, Grotius, S. 93 – 162. Allgemein zur Tradition der christlichen Apologetik bei diesen Autoren Laplanche, L’Êvidence du Dieu chr¦tien und Barth, Atheismus und Orthodoxie, dort bes. S. 183 – 197 zur Präsenz des Gottesbeweises e consensu gentium in dieser Tradition. 13 In der Ausgabe Basel 1544, S. 318.

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Gesetze, ohne König, ohne Gemeinwesen und ohne Künste gefunden hätte, nicht jedoch ohne Religion. In Augustinus Steuchus’ De perenni philosophia libri X (1540) findet sich der Gottesbeweis im ersten Kapitel des dritten Buch, wenn es dort heißt, »dass alle in allen Zeitaltern aus dem Antrieb der Natur heraus sich einzig zu einem Gott bekannten« (»Quod omnes instinctu naturae deum singulariter in omni aetate nominarint.«).14 Der zweifellos bedeutendste Vorgänger von Grotius ist der französische Calvinist Philippe Duplessis-Mornay (einer der wichtigsten Führer der Hugenotten und enger Berater von Heinrich IV.), dessen De la v¦rit¦ de la religion chrestienne contre les ath¦es, epicuriens, payens, juifs, mahum¦distes, et autres infidÀles (1581, in zahlreichen Ausgaben und Übersetzungen, darunter mehrere deutsche, über Europa verbreitet; Sidney hatte vor seinem Tod begonnen, das Werk ins Englische zu übersetzen) in der Anlage seines ganzen Werkes schon das Vorbild für Grotius darstellt. Dementsprechend ist es auch hier das erste Kapitel, das den Gottesbeweis e consensu gentium entwickelt, wie bei Vives mit einem Verweis auf die neuentdeckten Völker Amerikas, gefolgt von den Dichtern und Philosophen der Antike. Angesichts dieser Allgegenwart ist es verständlich, dass Opitz sich weigert, diesen Gottesbeweis weiter »außzuschreiben«. Allein mit Mornay und Grotius sind zwei Werke genannt, die in ihren Auflagenzahlen alles übersteigen, was sonst an vielverkauften Büchern im 17. Jahrhundert genannt wird. Über die konkrete Gemeinsamkeit von Argumenten und Argumentationsstrukturen hinaus verweisen beide Werke auf einen gemeinsamen Hintergrund, der auch für Opitz von größter Bedeutung ist, nämlich den irenischen Calvinismus. Klaus Garber hat bereits in aller wünschenswerten Deutlichkeit die geistesgeschichtliche Bedeutung dieser Bewegung und die biographischen Zusammenhänge, die Opitz mit ihr verbinden, herausgearbeitet.15 Sowohl Mornay wie Grotius sind äußerst exponierte Vertreter der europaweiten Bewegung von Gelehrten und Dichtern, die an einem friedlichen Ausgleich der Konfessionen gearbeitet haben. Die Form beider Werke ist zu diesem Zweck prädestiniert. Unter dem Vorwand, die wesentlichen Inhalte des Christentums zusammenzufassen, um sie den Atheisten, Heiden, Juden und Moslems entgegenzustellen, werden die Inhalte herausgestellt, die alle christlichen Konfessionen verbinden. Grotius formuliert diesen Anspruch in Briefen an seine Freunde – darunter Lingelsheim, der Heidelberger Hausherr von Opitz16 – und ausführlich am Ende 14 Ich habe die Ausgabe im Bd. 3 der Opera Omnia, Venedig 1591 eingesehen. 15 Vgl. die beiden älteren, grundlegenden Arbeiten Garber, Opitz und ders., Zentraleuropäischer Calvinismus sowie auf eine neuere Arbeit: Späthumanistische Verheissungen, mit ausführlichen Angaben zur Forschungsliteratur. 16 Vgl. den Nachweis bei Heering, Grotius S. 67, Anm. 13.

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des Werkes, wenn sich dort der Aufruf zur praktizierten Frömmigkeit (praxis pietatis) findet und damit das Schlagwort genannt wird, unter dem sich die Koalition gegen die theoretisch spekulative, dogmatische Theologie, die für die Schismen verantwortlich gemacht wurde, versammelte. Christus habe die Seinen zur Eintracht aufgefordert, heißt es dort, (De veritate VI.11) und auf den einen Namen Jesu Christi sollten sie getauft werden, damit es keine Sekten und Parteiungen gebe. Das Heilmittel sei eine weise Beschränkung auf jene gemeinsamen Grundlagen, die Gott der Erkennntnis als Grenzen gesetzt hätte, und ein gesunder Skeptizismus gegenüber jedem Versuch, diese Grenzen auf der Suche nach dogmatischer Sicherheit zu überschreiten. Das ist die Tradition des christlichen Humanismus, wie ihn Erasmus vertreten hat. Diesen Impuls hat Opitz aufgenommen, am deutlichsten allerdings nicht im Vorwort zu Grotius, sondern im Vorwort zu einem ganz ähnlich motivierten Text, nämlich seiner Übersetzung von Heinsius’ Lobgesang Jesu Christi (1621). An diesem weiß Opitz 1621, drei Jahre vor der Poeterey, gerade zu loben, dass sich dort nichts finde, »das wir Christen nicht alle miteinander bekennen«.17 1632 widmet Opitz eine Neuausgabe dieser Übersetzung dem Herzog Georg Rudolph von Liegnitz und Brieg. In der Widmung dieser Ausgabe, auf dem Hintergrund eines nunmehr vierzehn Jahre dauernden Krieges, nimmt das irenische Bekenntnis, das in der Poeterey noch in einem Satz formuliert werden konnte, pathetische Ausmaße an. Der Kern ist derselbe geblieben, die Berufung auf die gemeinsame Grundlage aller Konfessionen. Diejenigen hätten den »unglückseligen krieg« zu verantworten, die sich »des erkändtnißes der warheit mitt vollem maule rhümen«, in ihrem Handeln aber »den weg der warheit/ welches nichts anderes als brüderliche liebe vndt eintracht ist/ so gar nicht wißen«. Obwohl die Theologie (»wißenschafft der göttlichen dinge«) sich heute der allergrößten Beliebtheit erfreue, hätte »es dennoch zue keiner zeit mehr als jetz an exemplen der waren Gottesfurcht gemangelt«. Die begrifflich arbeitende Theologie mit ihren dogmatischen Festlegungen wird gegen die »christliche liebe«, die sich im Leben zeigt, ausgespielt.18 Zumindest in diesem Punkt steht Opitz in der Tradition von Arndts Wahrem Christentum, das diese praxis pietatis als eine im Leben praktizierte Frömmigkeit gegen die bloss theoretische Theologie ins Feld geführt hatte.

17 Opitz, Daniel Heinsii Lobgesang, S. 275. Weitere Belege bei Ravicovitch, Conceptions religieuses. 18 Opitz, Lobgesang Jesu Christi, S. 280 f.

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Casaubons Datierung und ihre Vorgeschichte Die Berufung auf eine allen Völkern gemeinsame »verborgene Theologie« ist kein Verweis auf eine neuplatonische Uroffenbarung, sondern ein klares, calvinistisch-irenisches Bekenntnis. Auch sonst findet sich im Werk von Opitz, mit einer einzigen Ausnahme, kein Beleg, der eindeutig auf einen neuplatonischen Hintergrund verweisen würde. Diese einzige Ausnahme ist die bereits zitierte Erwähnung von Augustinus Steuchus’ De perenni philosophia (1540) in der Vorrede zur Grotius-Übersetzung. Steuchus macht in diesem Werk denselben Versuch wie Vives und Grotius, nämlich die Grundlagen der christlichen Religion als universale zu erweisen. Dabei beruft er sich allerdings im Gegensatz zu Vives und Grotius nicht nur auf die natürliche Vernunft und die christliche Offenbarung, sondern vor allem auf die hermetische Tradition. Wie für Ficino gelten ihm Hermes Trismegistus (das heißt die im Corpus Hermeticum versammelten Texte) und die prisci theologi, wie Orpheus, als Uroffenbarung und Quelle aller Weisheit. Diese Grundlage erlaubt es ihm, die ganze antike Tradition der Dichter und Philosophen als »philosophia perennis« in die christliche Religion einzubeziehen, oder vielmehr die christliche Offenbarung dieser »ewigen Philosophie« zu subsumieren.19 De perenni philosophia ist der Versuch, auf hermetischer Grundlage die Einheit von Christentum und Philosophie herzustellen. Dabei ist Steuchus allerdings alles andere als irenisch gesinnt oder an einem Konfessionsausgleich interessiert. De perenni philosophia ist von einer aggressiven Polemik gegen die Protestanten durchzogen. Zumindest eingeschränkt findet sich der neuplatonische Hintergrund in Mornays De la v¦rit¦ de la religion chrestienne. Auch für Mornay ist der Poimander, der gleich im ersten Kapitel angeführt wird, ein Argument für die Tatsache, dass alle Völker immer nur einen Gott gekannt haben und deshalb auch die indischen Brahmanen, die persischen Magier, Pythagoras, Platon und die »Uralten Poeten/ welche die Philosophiam, in Reimen gelehrt vnd fürgetragen/ als Orpheus, Homerus, Hesiodus, Pherecydes, Theognis« denselben Gott verehrt haben.20 Allerdings entschärft Mornay diese These – und schon darin zeigt sich der calvinistische Geist, der neben der Bibel keine Offenbarung zulässt – indem er diese Verehrung im dritten Kapitel nicht auf eine Uroffenbarung, 19 Ficino, De christiana religione, S. 31 – 105 hatte diese Annäherung vollzogen. Dort werden Platon, Pythagoras, die Orphischen Hymnen, die Sibyllen und zahlreiche weitere hermetische Autoren zur Bestätigung christlicher Glaubenswahrheiten herangezogen. Es handelt sich im Übrigen um eines der wenigen Werke Ficinos, die im protestantischen Raum gedruckt wurden, wenn auch nur ein einziges Mal (Bremen 1617). 20 Mornay, Discurss von der Christen Religion, S. 18. Zur Hermetik bei Duplessis-Mornay Harrie, Duplessis-Mornay und Walker, Prisca Theologia in France, hier S. 209 – 212.

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sondern auf die natürliche Vernunft zurückführt. »Dass auch Menschliche Weißheit nur einen einigen Gott erkennet hab« ist der Titel des dritten Kapitels. Dies ist 1622 in Grotius’ De veritate religionis christianae und 1624 in Opitzens Poeterey nicht mehr möglich. Was sich in den vierzig Jahren, die zwischen Mornay und Grotius liegen, grundlegend geändert hat, ist die Tatsache, dass Isaac Casaubon 1614 aufgrund sprachlicher und inhaltlicher Erwägungen das Corpus Hermeticum in die Spätantike datiert und damit der Annahme einer vormosaischen Uroffenbarung Grund und Boden entzogen hatte.21 Das Corpus Hermeticum war demzufolge eine fromme Fälschung, mit der spätantike Christen versucht hatten, der christlichen Offenbarung philosophische Weihen und die Patina altorientalischer Weisheit zu verleihen. So wenig an dieser Motivation auszusetzen ist, so wenig können diese Texte noch weiter als Zeugnisse einer hermetischen Uroffenbarung angeführt werden. Die Sechzehn Übungen in religiösen und kirchlichen Dingen (De rebus sacris ac ecclesiasticis exercitationes XVI), in denen Casaubon 1614 diesen Nachweis geführt hatte, waren von calvinistischem Geist durchdrungen, indem sie im Auftrag des englischen Königs gegen die Annales des Kardinals Baronius verfasst waren. Dabei steht Casaubon 1614 mit der Datierung des Corpus Hermeticum bereits in einer weiter zurückreichenden Tradition. Schon 1575 hatte der Calvinist Matthaeus Beroaldus in seinem Chronicum, Scripturae Sacrae autoritate constitutum aus der Tatsache, dass der Poimander die Sibyllen und den Bildhauer Phidias (der erst im Zeitalter des Perikles gelebt hat) erwähnt, gefolgert, dass das angeblich vormosaische Werk des Hermes Trismegistus eine Fälschung darstelle.22 Casaubon hatte die mächtige Waffe der Philologie bereits mehrfach erprobt, unter anderem in seiner Ausgabe des Diogenes Laertios (1593). Dort hatte er in einer kurzen Anmerkung einen anderen der prisci theologi entzaubert, indem er das Gedicht von Hero und Leander aus stilistischen Erwägungen dem mythischen Musaeus, angeblich einem Schüler des Orpheus, abgesprochen und einem spätantiken Grammatiker gleichen Namens zugeschrieben hatte.23

21 Zur Datierung des Corpus Hermeticum vgl. (in chronologischer Reihenfolge) Garin, Nota sull’Hermetismo; Yates, Bruno, S. 398 – 455; Purnell, Patrizi; Grafton, Protestant versus Prophet und ders., The Strange Deaths of Hermes and the Sibyls. Ein Nachdruck der entsprechenden Kapitel aus Casaubons De rebus sacris ac ecclesiasticis exercitationes XVI in dem von Mulsow herausgegebenen Band Das Ende des Hermetismus S. 381 – 396. Grundlegend zum Verhältnis von christlicher Apologetik und philologischer Kritik ist Häfner, Götter im Exil. 22 Auch bei Adrian TurnÀbe und in Gilbert G¦n¦brards Chronographia (1580) findet sich das Argument, vgl. Grafton, Protestant versus Prophet, S. 294. 23 Grafton, Protestant versus Prophet, S. 295. Ich habe die Ausgabe Paris 1593 benutzt, Diogenes Laertios, Peqi biym, S. 8 f.

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Auch hier hatte Casaubon Vorgänger. Sein eigener Schwiegervater, der Humanist und Drucker Henri Estienne (ebenfalls ein Calvinist), hatte diese Datierung handschriftlich schon 1566 vorgenommen.24 Vor allem aber hatte dieser in einer Sammlung griechischer Dichtung aus demselben Jahr mit der lakonischen Bemerkung, dass die angeblich Orpheus zugeschriebenen Hymnen stilistisch mehr mit der spätantiken Dichtung eines Nonnus gemeinsam hatten als mit der frühen Dichtung eines Hesiod und Homer, diese an das Ende seiner Sammlung gestellt, statt an den Anfang. Diese einfache editorische Entscheidung zerstörte durch ihre Historisierung mit einem Schlag die theologische Bedeutung der Orphischen Hymnen.25 Nicht anders erging es einem weiteren Schlüsseltext des Neuplatonismus, den sogenannten Sibyllinischen Orakeln.26 Die ersten Herausgeber und Übersetzer dieser Orakel, Sixt Birck (Edition der Sibyllinischen Orakel 1545) und S¦bastian Chateillon (lateinische Übersetzung 1546, Edition 1555), hatten das vormosaische Alter dieser Orakel noch gegen die Kritik, die schon Cicero vorgebracht hatte, verteidigt.27 Birck vergleicht die Sibyllen mit den Propheten des Alten Testaments. Wie den Juden durch diese, so sei auch Rom die Wahrheit durch die Sibyllen verkündigt worden. Die Heiden hätten sich zur Buße bekennen können. Ähnlich polemisiert Chateillon in seinem Vorwort gegen diejenigen, die die Sibyllinischen Orakel für allzu klar und deshalb für christliche Fälschungen hielten. Man könne jedoch Gott nicht vorschreiben, wie er sich offenbare, ob klar oder dunkel, bei den Heiden oder den Juden. Auch in der Heiligen Schrift würden sich ähnlich klare Vorhersagen Christi finden. Die Heiden hätten eine klarere Vorhersage als die Juden nötig gehabt. Gerade wenn die Orakel gefälscht seien, hätten sich die Fälscher sicher bemüht, sie dunkler und unverständlicher zu gestalten. Aber auch bei den Sibyllinischen Orakeln ist der Glaube an eine zweite Offenbarung neben der biblischen nicht lange zu halten. Schon vor Casaubon, der die Argumentation übernimmt, hatte Johannes Opsopoeus, der die Manuskripte der königlichen Bibliothek in Paris und die Vorarbeiten von Adrian TurnÀbe und Jean Dorat benutzen konnte, in seiner Edition aus dem Jahr 1599 das vormosaische Alter der Orakel bestritten.28 Auch hier handle es sich um spätantike 24 Grafton, Protestant versus Prophet, S. 295. 25 Grafton, Hermes and the Sibyls, S. 167. Die Entzauberung der Orphischen Hymnen hat Casaubon im Übrigen nicht gehindert, deren poetischen Wert anzuerkennen. An anderer Stelle empfiehlt er ausdrücklich deren Lektüre, vgl. Grafton, Hermes and the Sibyls, S. 161. 26 Vgl. Grafton, Hermes and the Sibyls. Zur Textgeschichte der Sibyllinischen Orakel das Vorwort von Geffcken zu seiner Ausgabe der Oracula Sibyllina. 27 Ich paraphrasiere die Vorworte von Birck und Chateillon nach der Ausgabe Chateillons, Basel 1555: Sibukkiajym kocoi. 28 Vgl. die Praefatio Opsopoeus, Oracula Sibyllina, S. 247 – 253.

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Fälschungen von Christen, die sich des Namens der Sibyllen bedient hatten, um ihrem Glauben mythische Autorität zu verleihen. Casaubons Datierung des Corpus Hermeticum ist mithin keine singuläre Leistung, sondern stellt den Höhepunkt und Abschluss eines längeren Prozesses dar, der vor allem von calvinistischer Seite gegen die möglichen Träger einer außerbiblischen Offenbarung geführt worden war. Mit dem Jahr 1614 war das Ende des gelehrten Hermetismus besiegelt. Wer danach das Corpus Hermeticum noch als Uroffenbarung betrachten wollte, musste dies unter Missachtung der philologischen Argumente tun. Zu widerlegen waren diese Argumente nicht, das hatten die drei katholischen Gegner, die sich gegen Casaubon erhoben hatten, uneingestanden zugegeben, indem sie in diesen Punkten nicht widersprochen hatten.29 Wenn der Philosophiehistoriker Jacob Brucker 1756 die hermetischen Schriften als »voll von den Träumen der alexandrinischen Philosophie« verspottet, ist dies alles andere als eine aufklärerische Überzeugung.30 Es drückt einen Konsens aus, der auf protestantischer Seite bereits über eineinhalb Jahrhunderte gültig ist. Aber auch schon vor 1614 ist das Corpus Hermeticum als Bestätigung christlicher Glaubenswahrheiten bei den Protestanten auf schwerste Vorbehalte gestoßen. Es war eines der wichtigsten Ziele Luthers gewesen, die Kirche zur Besinnung auf die biblischen Texte und die Einfalt und Einfachheit der Urkirche zurückzurufen. Nichts sollte Bestand haben als die Bibel. Luther hatte sicher nicht die biblischen Bücher von Tobias und Judith aus philologischen Gründen – schwersten Herzens – für apokryph erklärt, um dann so klar heidnisch beeinflusste Zeugnisse wie das Corpus Hermeticum zur Bestätigung von Glaubenswahrheiten zuzulassen. Was Lorenzo Valla mit seinen Annotationes zum Neuen Testament begonnen hatte, führten Erasmus mit seiner Ausgabe des Neuen Testaments und Luther mit seiner Übersetzung der Bibel weiter. Allein die philologische Entlarvung des »Comma Iohanneum« als später Zusatz, die Erasmus in seiner Ausgabe vermerkte, hatte schwere Erschütterungen der Trinitätslehre zur Folge. Die Philologie, wie Casaubon sie um 1614 anwandte, um das Corpus Hermeticum als Fälschung zu entlarven, war schon lange zuvor eine der schärfsten Waffen auf Seiten des Humanismus. Anfang des 17. Jahrhunderts war die Methode der philologischen Echtheitskritik bis in die Schulbücher durchgesickert. Johann von Wower, dessen De polymathia tractatio (zuerst Hamburg 1603)

29 Grafton, Protestant versus Prophet, S. 296. 30 Brucker, Institutiones historiae philosophicae, S. 73. Vgl. Grafton, Protestant versus Prophet, S. 301.

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Opitz an einigen Stellen der Poeterey zitiert,31 bietet im sechzehnten Kapitel eine ganze Reihe von Beispielen dafür. Den lutherischen Biblizismus hatte Calvin noch weiter verstärkt. Anthony Grafton hat diesen Aspekt – den Calvinismus Casaubons – zu Recht in seiner Arbeit über die Datierung des Corpus Hermeticum so stark hervorgehoben. Wenn Hermes Trismegistus bereits vor Moses eine Offenbarung zuteil geworden wäre, dann verlöre die biblische Offenbarung erheblich an Bedeutung. Die Bibel wäre nur noch ein Zeugnis unter vielen. Dies widerspräche der Bibel selbst, in der an mehreren Stellen die Einzigartigkeit der christlichen Offenbarung behauptet wird – ein Punkt, der Casaubon am meisten bewegt hat.32 Casaubons Argumente haben sich denn auf protestantischer Seite auch sofort durchgesetzt. Selbst Versuche wie den von Mornay, die hermetischen Texte zwar nicht als Offenbarung, aber philosophische Reformulierungen der christlichen Offenbarung zuzulassen, hat es – soweit sich dies angesichts der Forschungslage bisher überschauen lässt – in der protestantischen Theologie des 17. Jahrhunderts nicht mehr gegeben.33 Was nach 1614 noch möglich ist, ist ein »reaktionärer Hermetismus«, wie er sich etwa bei Athanasius Kircher oder Robert Fludd findet, das heißt ein Hermetismus, der die philologischen Argumente totzuschweigen versucht.34 Schon im 17. Jahrhundert dürfte diese Haltung wenig überzeugend gewesen sein. Auch auf katholischer Seite – die doch dem protestantischen Biblizismus die Berufung auf die Tradition entgegenstellte – gab es deshalb zunehmend Vorbehalte gegen die Annahme außerbiblischer Offenbarungen, verstärkt noch in der nachtridentischen Ära.35 Augustinus Steuchus wurde mit De perenni philosophia vor allem von den Jesuiten angegriffen, eines seiner neuplatonischen Werke wurde 1583 und 1596 sogar auf den Index gesetzt.36 31 Vgl. die Nachweise im Kommentar von Schulz-Behrend. Zu Wower Vanek, Antike Grammatik und kritische Philologie; zur Ausbildung einer philologischen Methodik Vanek, Ars corrigendi. 32 Casaubon, De rebus sacris, S. 53. 33 Vgl. die Einschätzung Grafton, Protestant versus Prophet, S. 297 ff. Dazu auch Schmitt, Perennial Philosophy. Das einzig mögliche Gegenargument – die spätere Verfälschung der Texte des Corpus Hermeticum spricht nicht grundsätzlich dagegen, dass hier teilweise weit älteres Material transportiert wird – hat zuerst der englische Neuplatoniker Ralph Cudworth in seinem True Intellectual System of the Universe (1678) vorgebracht, vgl. Yates, Bruno, S. 423 – 431 sowie Assmann, Geheimnis der Wahrheit, S. 121. 34 Der Begriff stammt von Yates, Bruno, S. 398 – 455. Vgl. auch Mulsow, Epilog, S. 307. Schmidt-Biggemann, Hermes Trismegistus diagnostiziert bei Kircher keinerlei philologisches Bewusstsein. 35 Vgl. den Befund von Mulsow, Einleitung. In: Das Ende des Hermetismus, S. 1 – 13, der die katholischen Vorbehalte gegen den Neuplatonismus zurecht bis auf Savonarola und Gianfrancesco Pico zurückführt. 36 Vgl. die Angaben bei Schmitt, Perennial Philosophy, S. 525.

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Besonders deutlich ist der Fall bei Francesco Patrizis Nova de universis philosophia, die 1591 erschien und im Anhang eine Sammlung hermetischer Texte enthielt. Obwohl Patrizi bereits die teilweise Fälschung des Corpus Hermeticum eingestehen musste, beharrte er auf der hermetischen Tradition. Nach drei Jahren wird das Buch von der Inquisition verurteilt, mit der Begründung, dass es die Einzigartigkeit der christlichen Offenbarung in Frage stelle.37 Die katholische Kirche hatte den neuen philologischen und rationalistischen Standard des Protestantismus übernommen.

Casaubon in der Poeterey Wenn Grotius 1622 im Gegensatz zu Mornay 1580 die hermetische Tradition nicht mehr erwähnt, dann bestätigt dies die Existenz der Wasserscheide, als die Frances A. Yates die Datierung des Corpus Hermeticum bezeichnet hat.38 Grotius, der mit Casaubon befreundet war und dessen Widerlegung des Baronius »mit äußerster Begier« erwartete,39 steht auf der anderen Seite, genauso wie Opitz. Gerade die Poeterey ist es, die vom Ruhm Casaubons kündet. Das ganze zweite Kapitel könnte eine calvinistisch motivierte Auflösung der neuplatonischen Mythen aus dem Geiste Casaubons genannt werden. Es sind zwei Texte Casaubons, die Opitz dort zitiert, nämlich Casaubons Ausgaben und lateinische Übersetzungen des Diogenes Laertios und des Strabo.40 Dass sich unter den zahlreichen antiken Autoren, die Casaubon herausgegeben hat, gerade diese beiden finden, ist kein Zufall. Beide Autoren liefern reichhaltiges historisches Material zur Geschichte der antiken Philosophie und Dichtung, darunter auch die prisci theologi. Casaubons Ausgaben beider Autoren stehen denn auch im Dienste einer historischen Archivierung und chronologischen Rekonstruktion. Es ist dasselbe chronographische Interesse, das auch hinter der Datierung des Corpus Hermeticum steht und diese überhaupt erst möglich gemacht hat. Es geht um die Anhäufung von historischen und philologischen Fakten, die sich an keiner Stelle besser archivieren und unterbringen lassen als in Edition und Kommentar. Hier 37 Vgl. Puliafito Bleuel, Hermetische Texte. 38 Yates, Bruno, S. 398. 39 Heering, Grotius, S. 142, der dort einen Brief von Grotius an Casaubon vom 4. Mai 1614 zitiert. 40 Das ist ungenau. Die Ausgabe von Diogenes Laertios stammt von Estienne, die Übersetzung von Aldobrandini und nur der Kommentar von Casaubon, vgl. Diogenes Laertios, Peqi biym. Die Ausgabe von Strabo, Ceycqavijym bibkoi ist von Casaubon selbst, die lateinische Übersetzung von Wilhelm Xylander.

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wird das Material bereitgestellt, das dann in der Zusammenstellung und im Vergleich die philologische Destruktion von Mythen wie dem der prisci theologi erlaubt. Insbesondere die kurze Literaturgeschichte, die der Geograph Strabo an den Anfang seiner Erdbeschreibung stellt, hat dezidiert kritischen Charakter. Die Dichter, wie Homer, werden auf ihre sachliche, geographische und historische Zuverlässigkeit hin befragt. Dies impliziert einen Zugriff auf Homer, der sich mit dessen Mythologisierung als inspirierter Sänger schwer verträgt. Strabo und mit ihm sein Kommentator Casaubon fragen konkret, inwiefern Homer tatsächlich als »Brunnenquell vnd Vrsprung aller Weißheit«41 gelten kann. An den Geographiekenntnissen ließ sich das leicht überprüfen. Es sei noch einmal daran erinnert, dass sich Casaubons Entzauberung des mythischen Musaeus als eines spätantiken Grammatikers im Kommentar zur Ausgabe des Diogenes Laertios findet, und dass es diese Ausgabe ist, die Opitz zitiert, wenn er im zweiten Kapitel der Poeterey die Dichter Linus, Eumolpus, Museus, Orpheus, Homer und Hesiod nicht zu den Trägern einer außerbiblischen Offenbarung erklärt, sondern zu den »ersten Väter[n] der Weißheit […] vnd aller gutten ordnung«, die als solche »die bäwrischen vnd fast viehischen Menschen zue einem höfflichern vnd bessern leben angewiesen.«42 Es handelt sich bei diesen Dichtern mithin nicht um eine Reihe von mythischen Sängern, sondern um eine Reihe von Pädagogen, die aufgrund ihres hohen Alters dazu tendieren, im Dunkel der Geschichte zu verschwinden. Keine Offenbarung zeichnet sie aus, sondern der ehrenwerte Versuch, dem einfachen Volk auf angenehme Weise bessere Sitten beizubringen. Weil ihre metrische und stilistische Ausdrucksweise (»die worte in gewisse reimen vnd maß verbunden/ so das sie weder zue weit außschritten/ noch zue wenig in sich hatten/ sondern wie eine gleiche Wage im reden hielten«) dabei so viel schöner war als die alltägliche Prosa und die Inhalte ihrer Lehre das gemeine Verständnis so weit überschritten, kam bei den »einfältigen Leuten« (aber nicht bei den Gebildeten) der Glaube auf, »es müste etwas göttliches in jhnen stecken«. (S. 345) Der Glaube an die göttliche Inspiration der Dichtung war eine fromme Täuschung, die die Dichter billigend in Kauf genommen haben, um das Volk für ihre moralischen Unterweisungen desto empfänglicher zu machen. Einen weiteren Beleg dafür liefert Strabo, den Opitz direkt im Anschluss mit der Bemerkung zitiert, die Dichtung sei »die erste Philosophie/ eine erzieherinn des lebens

41 Opitz, Vorrede zu den Teutschen Poemata, S. 173. 42 Opitz, Poeterey, S. 345, der Verweis auf Diogenes Laertios I.3 ff. und die Ausgabe Casaubons dort schon im Kommentar von Schulz-Behrend.

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von jugend auff/ welche die art der sitten/ der bewegungen des gemütes vnd alles thuns vnd lassens lehre«.43 Die Dichtung eines Homer oder Orpheus ist keine prisca theologia, sondern moralische, politische oder ökonomische Unterweisung in einfachster Form. Diese Lehre Casaubons gilt für alle deutschsprachigen Poetiken des 17. Jahrhunderts. Mit demselben Verweis auf Diogenes Laertios heißt es 1667 bei Georg Neumark in seinen Poetischen Tafeln: »Viel nützliche Sachen von dem Regierund Hauß-Stande können durch Poetische Lieder beygebracht werden/ saget Diogenes Laertius. Unter den Gedichten von Amphion und Orpheus, stecket nichts anders verborgen/ als dass verständige und beredte Leute ein ungeschlachtes Volck leichtlich zum Gehorsam bringen und zu guten Gesätzen gewähnen können.«44 Dichtung ist metrisch und stilistisch aufgearbeitete Moraldidaxe. Die Versform hat keine magischen Qualitäten, wie es Ficino wollte, sie ist nicht etwas fundamental anderes als Prosa, sondern lediglich eine frühe Form von dieser. Als die Menschheit reif genug für den einfachen und klaren Stil der wissenschaftlichen Prosa war, konnte die poetische Form deshalb auch aufgelöst und über das genus grande, den hohen Stil der rhetorischen elocutio, nach und nach durch Auflösung der Verse in den niederen Stil hinabgeführt werden.45 Für diese Überzeugung beruft Opitz sich auf Strabo, den er in der Edition Casaubons zitiert. Diesem Kommentar entnimmt er den Verweis auf Laktanz (Divinae Institutiones V.5.1) und dessen Metapher von der Dichtung als einer »verzuckerten Arznei«. (Poeterey S. 346) Die der Dichtung eigene »Verzuckerung« ist die metrische und stilistische Form der Dichtung im Verhältnis zu ihrem moraldidaktischen Inhalt. Diese »Verzuckerung« ist es, die mit fortschreitendem Alter der Menschheit nicht mehr nötig war. Opitz schließt das Kapitel mit einem namentlichen Verweis auf Casaubon, der diese historische Konstruktion noch einmal wiederholt, wenn es dort heißt, man könne das Alter eines »Scribenten« daran erkennen, »je näher er den Poeten zue kommen scheint«: »Wie denn Casaubonus saget/ das so offte er des Herodotus seine Historien lese/ es jhn bedüncke/ als wehre es Homerus selber.«46 Auch das ist eine klare Absage an jede Form von Sakralisierung der prisci theologi, indem der Unterschied zwischen Dichtern und Historikern, zwischen Herodot und Homer, zu einem bloß graduellen erklärt wird. Homer ist kein göttlich inspirierter Sänger, sondern eine besonders frühe Erscheinung dessen, was nachher die Philosophen und Historiker waren. Die 43 44 45 46

Opitz, Poeterey, S. 345. Vgl. Strabo, Geographika, S. 10 f. Neumark, Poetische Tafeln § 12, fol. B 2v. Vgl. oben S. 297. Opitz, Poeterey, S. 346, vgl. Casaubon in Strabo, Geographika, S. 11.

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Ilias und die Odyssee sind keine göttlichen Offenbarungen, sondern rationaltechnische Hervorbringungen menschlichen Kunstverstandes, die sich von den späteren philosophischen Werken nur durch ihre metrische und stilistische Form unterscheiden. Das historische und geographische Wissen, das Homer in seinen Werken noch poetisch verzuckert zum Ausdruck bringen musste, um gehört zu werden, konnte später in der sachlichen Prosa eines Herodot vermittelt werden.

Das Corpus Hermeticum als »verborgene Theologie« Aus dieser philologisch-historischen Perspektive betrachtet Opitz auch das Corpus Hermeticum. Es ist der Ausdruck einer spätantiken Frömmigkeit in poetischer Form. Im Kommentar zu seinem Lobgesang beruft sich Opitz als Vorbilder auf die »Geistreichen Lobgesänge und Lieder« der Kirchenväter (Tertullian, Cyprian, Laktanz, Gregor von Nazianz, Synesius), aber auch auf »etliche Gelehrte vnd verstendige Heiden«, wobei Platon, »Jamblichus in seinem Buch von der Egyptier/ Chaldeer vnd Aßyrier heimligkeiten/ vnd Mercurius Trismegistus in seinem Pimander« (Lobgesang S. 145) namentlich genannt werden. Wenn das Corpus Hermeticum damit neben die Kirchenväter gestellt wird, ist das ein Argument für die philologisch-historische Perspektive von Opitz, denn Hermes Trismegistus wird damit nicht als Träger einer Uroffenbarung gewertet, sondern als Vertreter jener »verborgenen Theologie/ vnd vnterricht von Göttlichen sachen« (Poeterey S. 344), als die Opitz in den ersten Sätzen der Poeterey die Anfänge der Dichtung bestimmt hatte. Wie das erbauliche Schrifttum der Kirchenväter, so ist auch das Corpus Hermeticum als »verborgene Theologie« vor allem eines, nämlich Erbauungsliteratur. Es ist für Opitz Teil einer spätantiken Frömmigkeitsbewegung, die in demselben Gegensatz zum dogmatischen Gezänk der akademischen Theologen steht, wie die Erbauungsliteratur seiner eigenen Zeit, angefangen mit dem Wahren Christentum Arndts. Dichtung ist als Dichtung, das heißt im Gegensatz zur dogmatischen Theologie, Ausdruck einer überkonfessionellen Frömmigkeit. Vor dem eingangs skizzierten Hintergrund des Gottesbeweises e consensu gentium besagt der Begriff der »verborgenen Theologie«, dass die »verständigen Heiden« aus Vernunftgründen auf dieselben Wahrheiten gekommen sind wie die Christen. Er besagt außerdem, dass das Corpus Hermeticum als spätantike Erbauungsliteratur eine Erscheinung ist, die den »Geistreichen Lobgesängen vnd Liedern« der Kirchenväter vergleichbar ist. Wie die Protagonisten der Frömmigkeitsbewegung haben auch diese Kirchenväter sich nicht für dogmatisches Gezänk interessiert, sondern für das Seelenheil der Menschen. Deswegen haben sie

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Lieder geschrieben, und nicht akademische Abhandlungen. Die poetische Form ihrer Lieder ist Ausdruck ihrer seelsorgerischen Bestrebungen. Nicht als prisca theologia, sondern als Dichtung empfiehlt Opitz den Poimander, und zwar als eine Dichtung, in der die Prinzipien angewandt werden, die die kurz zuvor erwähnten Kirchenväter in ihren Geistreichen Lobgesängen vnd Liedern ebenfalls angewandt hätten. Damit ist auch gesagt, dass Opitz seinen eigenen Lobgesang Vber den Frewdenreichen Geburtstag vnseres Herren vnd Heylandes Jesu Christi, in dessen Kommentar sich diese Bemerkungen befinden, ebenfalls in diese Tradition der »geistreichen Lobgesänge« stellt. Wie für Maier in der Atalanta fugiens und für Andreae in den Rosenkreuzer-Manifesten sind die hermetischen Schriften für Opitz eine spezifische Art von religiöser Dichtung, die man als solche zum Gegenstand poetischer imitatio machen kann. Opitz’ Rezeption des Corpus Hermeticum steht damit in deutlichem Kontrast zu Arndt und seiner Oratio de antiqua philosophia oder generell zur paracelsistischen Rezeption. Wo Opitz und der Calvinismus (vor allem DuplessisMornay) das Corpus Hermeticum als Ausdruck einer »natürlichen Theologie« interpretieren, die gegen die konfessionelle, dogmatische Theologie in Stellung gebracht wird, da gilt Arndt und den Paracelsisten das Corpus Hermeticum als Beleg für das »innere Wort«, mithin für eine unmittelbare Ansprache Gottes. In der Konsequenz dieser Berufung auf das »innere Wort« liegt bei Arndt kein Irenismus, sondern das aggressive Bewusstsein eigener Auserwähltheit und göttlicher Inspiration. Für Opitz dagegen zeichnet sich die »poetische Theologie« des spätantiken Hermetismus genauso wie der Lobgesänge vor der konfessionellen Streittheologie der Universitäten gerade durch ihre Liberalität und Toleranz aus. Das Corpus Hermeticum steht für eine »natürliche Theologie«, die sich durch ihre ›poetische‹ Form von der dogmatischen Theologie abhebt. Das Corpus Hermeticum zeigt, genauso wie Grotius’ De veritate christanae religionis, dass es eine allen Konfessionen gemeinsame Grundlage gibt, die man durch die Vernunft erkennen kann und auf die man sich deshalb auch vernünftigerweise beschränken sollte. Jeder Anspruch auf dogmatische Sicherheit über diese Grundlage hinaus führt dagegen zu sinnlosen Streitereien.

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Die Frömmigkeit von Opitz Die Einstellung zur weltlichen Dichtung zeigt, dass zwischen einem calvinistischen Irenismus, einem lutherischen Spiritualismus in der Tradition Arndts und einem gemäßigten, philippischen Luthertum unterschieden werden muss. Der

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protestantische Spiritualismus in der Tradition eines Franck, Schwenckfeld, Weigel und Arndt ist mystisch ausgerichtet, wobei der Begriff der Mystik im Sinne der von Arndt für das Wahre Christentum exzerpierten Texte steht: Tauler, die Theologia deutsch, Angela de Foligno, Thomas von Kempen. Diese mystischspiritualistische Ausrichtung impliziert eine asketisch motivierte Abkehr von der Welt und ihren Vergnügungen. Diese Vergnügungen bestimmen aber die weltliche Lyrik von Opitz, und zwar im Gegensatz zu Dichtern wie Rist, Dach, Gryphius, Greiffenberg, Birken oder Gerhardt, und erst recht im Gegensatz zu radikalen Spritualisten wie Johann Scheffler oder Quirinus Kuhlmann. Den eindrücklichsten Beleg für diese Differenzierung liefert eines der in seiner Zeit berühmtesten Gedichte von Opitz, nämlich die Ode Ich empfinde fast ein Grauen am Ende des fünften Kapitels der Poeterey. Ihre Lektüre sollte im Grunde jede Annahme spiritualistischer Tendenzen von vornherein verbieten. Dort nämlich sehen wir einen durchaus weltlich gesinnten Opitz, der sich mit »Grauen« von keinem anderen als Platon ab- und den irdischen Freuden zuwendet. »Ich empfinde fast47 ein grawen j Das ich/ Plato/ für vnd für j Bin gesessen vber dir ; j Es ist zeit hinauß zue schawen/j Vnd sich bey den frischen quellen j In dem grünen zue ergehn/ j Wo die schönen Blumen stehn/ j Vnd die Fischer netze stellen.« (Poeterey S. 370 f.) Opitz’ Konsequenz aus der Langeweile bei der Lektüre Platons ist eine durchaus weltliche: »Worzue dienet das studieren/ j Als zue lauter vngemach? j Vnter dessen laufft die Bach j Vnsers lebens das wir führen/ j Ehe wir es innen werden/ j Auff jhr letztes ende hin; j Dann kömpt (ohne geist vnd sinn) j Dieses alles in die erden.« Wenn der menschliche Körper wieder zu Erde wird, während »geist vnd sinn« auf ihre Wiedererweckung warten,48 dann folgert Opitz daraus nicht, dass alles Irdische und Materielle gegenüber dem Geist nichts wert sei und der Mensch also ausschließlich nach innerer Reinigung streben müsse, wie es die Spiritualisten tun. Die Konsequenz von Opitz lautet im Gegenteil, dass man die Zeit, die einem auf dieser Welt verbleibt, nicht mit »Studieren« verschwenden solle. Das Motiv des carpe diem wird in einer durch und durch weltlichen Wendung gegen alle ideelen Werte ausgespielt: »Bitte meine guete Brüder j Auff die music vnd ein glaß j Nichts schickt/ dünckt mich/ nicht sich baß j Als guet tranck vnd guete

47 »Fast« hat in der Frühen Neuzeit noch verstärkende Bedeutung, worauf dankenswerter Weise Robert Seidel hingewiesen hat (Seidel, Nachwort. In: Max Rubensohn, Studien zu Martin Opitz S. 161, Anm. 38.). Die erste Zeile der Ode ist also zu verstehen als »ich empfinde ein sehr starkes Grauen«. 48 Ich korrigiere damit meine frühere Interpretation dieser Stelle und danke Hans-Georg Kemper herzlich für seinen Hinweis nicht nur auf diesen Punkt, sondern auch allgemein für die ausführliche Auseinandersetzung mit meinen Thesen.

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Lieder. j Laß ich gleich nicht viel zue erben/ j Ey so hab’ ich edlen Wein; j Will mit andern lustig sein/ j Muss ich gleich alleine sterben.« Diese Verse sind nicht mit einem wie auch immer gearteten Spiritualismus in der Tradition eines Weigel, Arndt oder Andreae zu vereinbaren. Stattdessen zeugt diese Ode von einem liberalen, humanistisch geprägten Glauben. Wenn sie topisch argumentiert und mit dem Motiv des carpe diem in eine bis in die Antike zurückreichende Tradition gehört, ist diese topische Tradition kein Argument gegen die Schlussfolgerungen, die daraus für die Frömmigkeit von Opitz zu ziehen sind. Auch der Autor eines topisch geprägten Gedichtes muss theologisch liberal genug sein, Trinklieder oder Liebesgedichte nicht grundsätzlich zu verurteilen. Das aber tun die Spiritualisten. Es ist kein Zufall, dass Heinrich Khunrath, Johannes Scheffler oder Quirinus Kuhlmann weder Trinklieder noch Liebesgedichte geschrieben haben, und dass sich selbst bei gemäßigt spiritualistischen, kirchentreuen Lutheranern wie Gryphius oder Birken keine solchen Lieder finden. Einen Beleg dafür, dass die theologische Brisanz der Ode von Opitz wahrgenommen wurde, liefern die Parodien oder präziser Kontrafakturen.49 An diesen Kontrafakturen kann man die zunehmend schärfere Kritik der Lutheraner ablesen. Harsdörffer schreibt 1650 in seinem Poetischen Trichter : »Ich empfinde fast ein Grauen/ j daß ich Eitelkeit in dir j bin verwickelt für und für ; j es ist Zeit hinauf zu schauen/ j und jetzt zu deß Heiles Quellen j In deß Herren Haus zu gehen/ j von den Sünden abzustehn/ j und sich heilig einzustellen. j […] Gute Nacht/ ihr falschen Brüder! j euer Glücke gleicht dem Glas/ j Zu der Zeit sich schicket bas j Buß/ Gebet und Kirchenlieder. j Gott macht uns zu Himmels Erben/ j durch gesegnet Brod und Wein/ j das soll meine Labung seyn/ biß ich selig werde sterben.«50 Sigmund von Birkens Rede-bind und Dicht-Kunst (1679) verkehrt den Opitzianischen Freigeist schon mit dem Titel (»Eitelkeit«) in sein Gegenteil: »Ich empfinde fast ein Grauen/ j Erde/ daß ich für und für j nichts als Nichtes find in dir.« Birkens Moral lautet: »Irdisch-seyn/ j machet null und nichtig sterben.«51 Ein weiteres deutliches Indiz für die Weltlichkeit von Opitz ist die Tatsache, dass er es war, der – neben und mit Georg Rudolf Weckherlin – den Petrarkismus in die deutsche Sprache übertragen hat. Dieser Petrarkismus ist aus protestantischer Perspektive zumindest schwierig. Hier wird eine Affekt- und Sinnenverfallenheit vorgeführt, die aus ihrer Weltlichkeit keinen Hehl macht: »Ich wancke/ wie das Gras/ so von den kühlen Winden j Vmb Vesperzeit bald hin 49 Zusammenstellung in: Gegengesänge S. 76 – 83. Ein Vergleich ohne Berücksichtigung des theologischen Kontextes bei Haberland, Opitz’ Ode. 50 Harsdörffer, Poetischer Trichter, II. Teil, S. 98 – 100. 51 Birken, Rede-bind und Dicht-Kunst, S. 122 f.

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geneiget wirdt/ bald her. j Ich walle wie ein Schiff/ daß in dem wilden Meer j Von Wellen vmbgejagt nicht kann zu rande finden. j Ich weiß nicht was ich will/ ich will nicht was ich weiß/ j Im Sommer ist mir kalt/ im Winter ist mir heiß.«52 Diese Affektverfallenheit ist das, wovor die protestantischen Prediger warnen. Sie ist das genaue Gegenteil zu jener Stillstellung des Affektes, den die Spiritualisten als Ziel ihrer geistigen Übungen praktizieren, als ›Gelassenheit‹ in Gott und als Freiheit von allen irdischen Bedingtheiten. Es ist eine lächerliche Vorstellung, dass ein Spiritualist wie Franckenberg petrarkistische Liebesgedichte oder Trinklieder schreiben könnte. Auch deswegen sind Franckenbergs Gespräche mit Seidenbecher so wichtig. Sie zeigen einen Franckenberg, der genauso tief in spiritualistisches Schrifttum versunken ist, wie er im Gebet um die göttliche Gnade ringt. »Durch das Gebet wird alles gegeben. Das Wissen ist sicherlich nicht zu verachten, aber die Liebe (er weinte) ist die größte, wird nicht müde, nicht aufhören. Das Stückwerk wird alsdann (im anderen Leben) gestickt von Gold sein usw. (er weinte). […] Ah! Ah! Jerusalem, Jerusalem! Das ist die Vision des Friedens! Frieden (weinend mit verdecktem Gesicht). Der Friede Gottes ist höher als alle Vernunft (er weinte). In Christo ist hier der Friede zu finden (er weinte). Christliche Seelenfahrt.«53

Die Vorstellung, dieser von Weinkrämpfen geschüttelte Franckenberg könnte irgendwelche Interessen an weltlichen Vergnügungen haben, führt sich selbst ad absurdum. Gleichzeitig dokumentiert dieses Gespräch die spiritualistischen Interessen Franckenbergs. Melanchthon wird Verrat an der protestantischen Kirche vorgeworfen, Hermes Trismegistus, Caspar Schwenckfeld, Tauler, die Theologia deutsch, Thomas von Kempen und die spätantiken Gnostiker dagegen zur Lektüre empfohlen. Franckenberg zeigt damit par excellence die asketischmystische Ausrichtung, die der frühneuzeitliche Spiritualismus hat, genauso wie die Eingebundenheit dieses Spiritualismus in die Tradition der christlichen Mystik. Gerade weil der Spiritualismus auf eine unmittelbare Erfahrung Gottes gerichtet ist, verbietet sich jeder Gedanke an weltliche Eitelkeiten wie erotische Gedichte. Franckenberg macht den Amtsträgern der lutherischen Kirche gerade ihre Verweltlichung und mangelnde Spiritualität zum Vorwurf, und dazu gehört für ihn auch die Tatsache, dass diese Amtsträger sich der Dichtung widmen. Selbst ein Andreae ist ihm nicht mehr »glühend« genug. (Briefwechsel S. 366) Den Nürnberger Predigern Saubert und Dilherr wirft er vor, »eher moralisch als gottbeseelt« zu sein. Die »venusinischen Früchte« – also die Liebesdichtung – der »Fruchtbringenden Gesellschaft« werden verurteilt: »Er empfahl, die Mühen auf Besseres zu richten«. (Briefwechsel S. 369) Wo Opitz im Angesicht seines 52 Petrarca, Canzoniere Sonett 88, Übersetzung Opitz, Gedichte, S. 174. 53 Franckenberg, Briefwechsel, S. 369, Übersetzung Seidel.

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Todes zu einem letzten Umtrunk aufruft, da führt das Bewusstsein des unmittelbar bevorstehenden Endes der Welt bei Franckenberg zu Bußrufen. Dieser Befund betrifft auch die Liebeskonzeption von Opitz. Sie ist weder neuplatonisch noch spiritualistisch geprägt. Die sinnliche Liebe, wie sie der Petrarkismus verherrlicht, ist im Neuplatonismus negativ besetzt. Der Grundgedanke der neuplatonischen Liebeskonzeption ist der Aufstieg der Seele zu Gott, indem sich diese Seele über alles Weltlich-Irdische und Körperliche erhebt. Den Kern der Opitzschen Bestrebungen dagegen trifft Hans-Georg Kemper mit seiner Analyse von Opitz’ Übertragung des Hoheliedes, wenn er dort Tendenzen der »Profanisierung«, mithin Verweltlichung ausmacht.54 Diese Verweltlichung spricht nicht für einen neuplatonischen Hintergrund, sondern für einen eklektischen, zu einem aristotelischen Naturalismus tendierenden Liebesbegriff, wie ihn Mario Equicola in seinem für den Petrarkismus wichtigen Libro di natura d’amore (1494, Druck 1525, bis 1626 vierzehn Ausgaben)55 beschreibt. Gerade bei der negativen Bewertung der Lust und der Sinnlichkeit übernimmt Equicola, wie Opitz, die platonische Wertung nicht.56 Jenseits aller geistesgeschichtlichen Affiliationen ist die Liebe für Opitz vor allem eines: der »wetzstein«, an dem die Dichter »jhren subtilen Verstand scherffen« (Poeterey S. 353). Das Liebesgedicht als Ergebnis dieser Schärfung dient allein dem Ausdruck dieser Schärfe – der »argutia«, wie der Fachbegriff später lauten wird. Der Dichter demonstriert sein ingenium, seinen »Witz« oder Scharfsinn als seine Fähigkeit, gute Gedichte schreiben zu können, das heißt sich eines rhetorisch bewusst geformten Stils zu bedienen, gute Metaphern zu finden und das Versmaß und die Gesetze der poetischen Gattungen zu beherrschen. Je schwieriger diese Regeln der Dichtung sind – ein Sonett muss aus zwei Quartetten und zwei Terzetten bestehen, die durch ein genau vorgegebenes, schwer einzuhaltendes Reimschema verbunden sind –, desto mehr Ehre ist es für den Dichter, diese Regeln zu beherrschen. Wenn die Liebe der »Wetzstein des Verstandes« ist, dann besagt dies nur, dass das Liebesgedicht von alters her das bevorzugte Objekt für diese Demonstration eines technischen Könnens ist. Das ist der Traditionskern des Petrarkismus, wie ihn Opitz und Weckherlin in die deutsche Sprache einführen. Im spielerischen Wettstreit, dessen Regeln die Poeterey des Opitz formuliert, muss der Dichter sich im Angesicht der Tradition behaupten. Wenn Opitz immer wieder an Gedichten der petrarkistischen Tradition (Petrarca selbst, Ronsard, Heinsius, Ve-

54 Kemper, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit Bd. 4/II, S. 67. Dieser Befund steht im Widerspruch zu Kempers Behauptung einer »platonischen Fundierung« von Opitz’ Hochzeitsgedicht für Nüßler (dort S. 55). Ähnlich Cersowsky, Magie und Dichtung, S. 27 f. 55 Kolsky, Equicola, S. 320 f. 56 Zu Equicola vgl. Ebbersmeyer, Sinnlichkeit und Vernunft, S. 163 – 170.

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ronica Gambara) sein Können vorführt, indem er diese ins Deutsche übersetzt, steht dahinter dieser agonale Gedanke des Petrarkismus. Es geht im Petrarkismus nicht um Originalität im Sinne des 18. Jahrhunderts, um Echtheit und Ausdruck des Gefühls, sondern um die Demonstration eines technischen Könnens, um die metrisch und stilistisch gelungene Formulierung. Das aber lässt sich an einer Übersetzung, die den Vergleich mit dem Original ermöglicht, besser demonstrieren als an einem eigenen Gedicht. Welches Liebeskonzept in diesem Gedicht zum Tragen kommt, ist fast so irrelevant wie die Frage, welchen konkreten Frauennamen der Dichter einsetzt. Keinesfalls irrelevant ist der Petrarkismus allerdings im frömmigkeitsgeschichtlichen Kontext. Wenn die geistliche Dichtung des 17. Jahrhunderts den weltlichen Petrarkismus eines Opitz und Weckherlin durch einen geistlichen zu ersetzen versucht, ist dies eine Kritik an der Frömmigkeit von Opitz. Die offensive Demonstration von Affektverfallenheit und Sinnlichkeit, wie sie der Petrarkismus (wenn auch nur spielerisch) mit sich bringt, steht in einem klaren Widerspruch zu den lutherischen Vorstellungen von Kirchenzucht. Es ist kein Zufall, dass die Dichter, die sich durch ihre geistliche Dichtung auszeichnen – Rist, Gryphius, Birken, Greiffenberg, Gerhardt – keine Trinklieder oder petrarkistischen, erotischen Liebesgedichte geschrieben haben.

Reformation und Kirchenzucht Die Frömmigkeit des Arndt-Anhängers Andreae findet ihren sprechendsten Ausdruck in der Einführung von Kirchenkonventen, wie sie Andreae nach seiner Ernennung zum Hofprediger in Württemberg durchgesetzt hat. Ziel dieser Kirchenkonvente war die Einführung einer Kirchenzucht, mithin die Durchsetzung eines wahrhaft christlichen Lebenswandels an der Basis der Gesellschaft, nämlich in den Gemeinden.57 Zu dieser Kirchenzucht gehörten vor allem die Eindämmung von Unzucht und »Hurerei«, von übermäßigem Alkoholkonsum und die Einschränkung von Tanzveranstaltungen, Glückspiel, Fluchen usw. Trinklieder und erotische Liebesgedichte haben in diesen protopietistischen Strukturen keinen Platz. So schreibt etwa Johann Konrad Dannhauer, der Straßburger Vertreter des Arndtschen Frömmigkeitsideals, in seiner CatechismusMilch (1642): »Hinweg mit allen Text- und Sinnlosen welschen Galliarden/ pargamasca/ Couranten vnd was dergleichen phantaseyen mehr sind/ die allein die Ohren kitzlen vnnd füllen/ kein Geistlichen verstand nicht haben/ sind nicht zu Gottes vnd seiner Majestät ruhm/ 57 Zur Einführung der Kirchenkonvente Schnabel-Schüle, Calvinistische Kirchenzucht. Zu Andreaes Einführung dieser Kirchenkonvente oben S. 270.

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sondern zur Leichtfertigkeit componirt vnd gemacht. […] Hinweg mit den garstigen/ vnzüchtigen/ vppigen Liedern/ die Venus Fewer anzünden/ vnnd die böse Lüsten deß Menschen entzünden. […] Hinweg mit den […] Sirenen-Liedern/ die nicht nach der geistlichen hertzens/ sondern vppigen Weltfrewd zielen.«58

Die strikte Reglementierung von Gesellschaftsspielen, Tanz, Gesang und des Genusses von Alkohol bildet einen festen Bestandteil der protestantischen Sittengesetzgebung. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts gibt es mit den sogenannten Teufelbüchern eine ganze Textgattung, die ausschließlich der Austreibung der Laster gewidmet ist. Saufteufel, Spielteufel, Kleiderteufel oder Buhlteufel sind die Teufel, die ausgetrieben werden müssen. Wer der Trunksucht, dem Spiel, dem Tabak oder der Sexualität verfallen ist, der ist dem Teufel verfallen. Damit unterscheiden sich diese Teufelbücher von der älteren humanistischen Polemik, indem diese Laster nicht nur moralisch, sondern theologisch verurteilt werden. Die Idee der Kirchenzucht ist ein genuin protestantischer Gedanke, insofern es die sittliche Verderbtheit des Christentums unter der Herrschaft des Papstes gewesen war, die Luther zu seiner Reformation – nämlich der Wiedereinführung eines wahrhaft christlichen Lebens – geführt hatte. »In einem weiten Sinn verstanden, ist die Reformation selbst der Versuch, Zucht und Ordnung in der Christenheit wiederherzustellen und zu erhalten.«59 Es sind dabei die radikalreformatorischen, spiritualistischen Gruppen, in denen die Forderungen nach sittlicher Reinheit auf besonders große Resonanz stoßen. Der Separatismus der Täufergemeinden, eines Schwenckfeld oder Weigel geht auf die Verderbtheit der Welt – und dazu gehört für diese »Schwärmer« auch die lutherische Amtskirche – zurück. Radikale Weigelianer geraten in Konflikt mit dieser Amtskirche, weil sie den Kirchenbesuch aufgrund der sittlichen Verderbtheit der Pfarrer und deren unwürdigen Lebens ablehnen. Dieser moralische Fundamentalismus verhält sich komplementär zur Berufung auf das »innere Wort«, das nicht an die Verkündigung des äußeren Wortes gebunden ist. »Zwischen Kleruskritik und Kirchenzucht bestand ein historisch-genetischer und systematisch-theologischer Zusammenhang. Dem liederlichen, korrupten, unaufrichtigen ›Paffen‹ wurde der ordentliche, gottesfürchtige und ehrliche Laie gegenübergestellt.«60 So ist es auch zu verstehen, wenn Arndt, im Gegensatz zu Weigels »innerer Emigration«, seinen Weg durch die kirchliche Hierarchie gesucht hat. Es ist der Versuch, die lutherische Kirche von innen heraus, durch ihre Frömmigkeit, zu verändern. Die protestantische Kirche sollte noch einmal re58 Dannhauer, CatechismusMilch Bd. 1, S. 524. 59 Hans-Jürgen Goertz, Art. Kirchenzucht/Reformationszeit. In: Theologische Realenzyklopädie Bd. 19, S. 176 – 183, hier S. 176. 60 Goertz, Kleruskritik, Kirchenzucht und Sozialdisziplinierung, S. 187.

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formiert werden, und zwar nicht in ihrer Theologie (das hatte Luther bereits geleistet), sondern in der gelebten Frömmigkeit. Es ging um eine Reformation des christlichen Lebens. Die Täufergemeinden schließen sich als Gemeinden zusammen, um sich abseits der Wirtshäuser und Bordelle der Städte in Reinheit zu sammeln. Ihr eschatologischer Glaube speist sich aus der Verderbtheit, die in der Welt wahrgenommen wird und deren nah bevorstehendes Ende ankündigt. Symptomatisch sind Andreas Karlstadt, der sich zeitweise auf einen Bauernhof zurückzieht, oder Thomas Müntzer, der Luther kritisiert, weil es diesem nicht gelungen sei, die »Reinheit der Auserwählten« wiederherzustellen.61 Ähnliches gilt für die englischen Puritaner, die 1620 in die neue Welt auswandern, um dort in weltabgeschlossenen, durch sittlichen Rigorismus ausgezeichneten Gemeinden zu leben. Alkohol und Sexualität gehören zu den Bereichen, die in diesen Gemeinschaften besonders starken Restriktionen unterworfen sind. Die Missstände in den lutherischen Gemeinden abzustellen ist Sinn und Zweck der Kirchenzucht. Sie soll dafür sorgen, dass nicht nur die Gemeinde, sondern auch die Pfarrer und die weltliche Obrigkeit ein gottesfürchtiges Leben führen. Schon Luther und Melanchthon hatten zur Aufrechterhaltung dieser Kirchenzucht regelmäßige Visitationen eingeführt. Diese Visitationen sind in der Frühen Neuzeit ein fester Bestandteil des protestantischen Gemeindelebens. Pfarrer, die ihren Amtspflichten nicht nachkamen, die zu oft im Wirtshaus gesehen oder denen gar uneheliche Kinder nachgesagt wurden, hatten Entlassung und Vertreibung zu befürchten. Schon eine harmlose Sammlung schäferlicher Liebesgedichte, angeblich gegen seinen Willen veröffentlicht, hat bei dem Pfarrer Rist zu kleineren Schwierigkeiten geführt. Auch in dieser Hinsicht ist das Wahre Christentum Arndts der Versuch, die steckengebliebene Reformation Luthers wieder auf ihre alten Gleise zurückzulenken.62 Das Werk Arndts speist sich aus dem Unbehagen, dass in weiten Teilen der protestantischen Welt eine echte Reformation nicht stattgefunden und die Wiederherstellung eines tatsächlich christlichen Lebens nicht gelungen war. Der Reformation der Theologie als der Theorie des Glaubens war keine Reformation des Lebens als der Praxis des Glaubens gefolgt. Das alltägliche Leben der Gemeindemitglieder, vor allem aber auch der Pfarrer und geistlichen Würdenträger, genügte den sittlichen Anforderungen eines Weigel oder Arndt nicht. Die Frömmigkeitsbewegung, die um 1600 mit deren Schriften anhebt, manifestiert sich in Opposition zu einem lutherischen Landeskirchentum, dessen sittlicher Zustand sich in nichts von dem der katholisch gebliebenen Gebiete unterschied. Wo sich diese Frömmigkeitsbewegung deshalb in politisch-kirch61 Goertz, Art. Kirchenzucht/Reformationszeit, S. 179. 62 Brecht, Kirchenzucht, S. 417.

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liche Praxis übersetzte, äußerte sie sich in einer Verschärfung der sittlichen Anforderungen. Johann Saubert prangerte in Nürnberg mit seinem Zuchtbüchlein (1633), darinnen mit gutem Grund erwiesen wird, daß an vielen evangelischen Orten theils die Unterlassung, theils die Verlästerung der gebürlichen und von Gott so ernstlich anbefohlenen Kirchenzucht nicht die geringste unter den Sünden gewesen, welche den gerechten Gott bißhero zu so vielfältiger Straff und Landplage reitzet (so der Untertitel), die sittlichen Zustände in der evangelischen Kirche an. Johann Gerhard verschärfte als Generalsuperintendent die Kursächsische Kirchenordnung in den Abschnitten über die Kirchenzucht.63 Andreae beklagte den sittlichen Zustand des Luthertums nicht nur in zahlreichen Schriften, sondern zeichnete mit seinen christlichen Gemeinschaftsentwürfen Utopien einer wahrhaft lutherischen Gesellschaft. Christianopolis ist auch in dieser Hinsicht, nämlich in seiner rigiden Sittengesetzgebung (kein Alkohol, Tanz oder Spiel, Trennung der Geschlechter, keine weltliche Dichtung) symptomatisch für die Reformbestrebungen Andreaes. Mit seiner Einführung von Kirchenkonventen nach seiner Berufung zum Oberhofprediger hat Andreae diese Ideale in der Württembergischen Landeskirche in die Praxis umzusetzen versucht. Spener steht mit seinen pietistischen collegia pietatis in der direkten Fluchtlinie von Andreaes Idealen. Vor diesem Hintergrund sind die petrarkistischen Sonette eines Opitz, die erotisch-schäferliche Dichtung der Leipziger Dichter (Paul Fleming) oder die weltlichen Lieder eines Kaspar Stieler zu sehen. Sie implizieren notwendigerweise ein liberales Luthertum, das mit dem sittlichen Rigorismus eines Weigel, Arndt und Andreae eher wenig Gemeinsamkeiten hat. Johann Amos Comenius, an dessen Spiritualismus, wenn auch in einer eher gemäßigten Variante, kein Zweifel bestehen kann, bittet Opitz brieflich darum, seine Übersetzung des Psalters nicht zusammen mit seinen weltlichen Gedichten zu veröffentlichen, sondern den Psalter als einen Anhang äußerlich von diesen abzutrennen.64 Auch das ist eine implizite Kritik an der weltlichen Dichtung von Opitz, die Comenius auf keinen Fall neben dem Psalter sehen will. Der Briefwechsel zwischen Opitz und Comenius ist alles andere als ein Beleg für eine Freundschaft zwischen gleichgesinnten Spiritualisten. Er ist von Respekt, aber auch Distanz gekennzeichnet, von einem vertrauten Umgang kann keine Rede sein. Er demonstriert, dass die Gemeinsamkeit beider eher auf eine »coll¦gialit¦ humaniste« als auf gemeinsame religiöse Überzeugungen zurückgeht.65

63 Brecht, Kirchenzucht, S. 418. 64 Opitz, Briefwechsel Bd. 3, Nr. 390322, S. 1548 f. 65 So der Befund von Ravicovitch, Conceptions religieuses, S. 343.

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Signifikant ist ferner Franckenberg, der in seinem Widmungsgedicht zu Czepkos Monodisticha diesen – wegen seiner »Tugend« – über Opitz erhebt: »Mein Czepko glaube mir, du wirst durch Tugend Schein j Weit über Opitz der dreymal Bekrönte seyn.«66 Czepko zeigt sich mit seinen »Semita amoris divina« und »Monodisticha« als Spiritualist sowohl im Sinne eines Strebens nach spiritueller Vereinigung mit Gott als auch im Sinne einer Ablehnung aller Weltlichkeit. In Czepkos GegenLage der Eitelkeit heißt es »An ein Kind der Welt«: »Du Kind der Welt, erkenne deine Plagen, j Die Sinnen, die dich schützen und verjagen: j Denn was du suchst, Lust, Ehre, Gut und Geld, j Dis ist ein Trost, der selbst sich quält und fällt, j Du Kind der Welt.«67 Das berühmteste Sonett des 17. Jahrhunderts, Gryphius’ Es ist alles eitel, gehört in diese Tradition. In seinen Kirchhoffs-Gedancken richtet sich Gryphius schon in der Vorrede gegen die »Welt-gesinneten«: »Daß Welt-gesinnete solcher Gedancken lachen: irret mich gantz nicht«.68 Krummacher und Steiger haben Gryphius’ Zugehörigkeit zur Frömmigkeitsbewegung, seine Abhängigkeit von Arndt und Gerhard herausgearbeitet. Steiger bezeichnet die Sonette und Oden von Gryphius als »als Predigten in dichterischer Form«.69 Die Kirchhofgedanken sind als eine »Schule des Sterbens«, als eine »meditative ars moriendi« gegen die Eitelkeit der Welt gerichtet. »Die aus der Reflexion über die Flüchtigkeit des irdischen Lebens hervorwachsende Demut will Gryphius mit den ›Kirchhofgedanken‹ einüben und den Leser zur Reflexion über seine Endlichkeit, Vergänglichkeit und Geschöpflichkeit anregen. […] Gryphius verfaßt hier nichts anderes als eine breit angelegte poetische Umsetzung des memento mori (Ps 90,12).«70 Mit seiner Übersetzung der erbaulichen Werke Richard Bakers und seiner Bearbeitung von Josua Stegmanns Ernewerten Hertzen-Seufftzern, deren Ziel die praxis pietatis als die Ermahnung zu einem frommen und zuchtvollen Leben ist, steht auch Gryphius in einer protopietistischen Tradition.71 Als eine zumindest implizite Kritik an der weltlichen Dichtung wird man es verstehen müssen, wenn Gryphius in der Vorrede zu seinen Thränen über das Leiden Jesu Christi (1652) die poetische Form seiner Andacht mit einem Verweis auf die Kirchenväter rechtfertigt und sich gleichzeitig von »etlicher Geister Unart« abgrenzt (zu denen man Opitz rechnen muss), »die der edelsten Gaben Gottes/ zu schaden ihrer Seelen und ihres Nechsten mißbrauchen«. »Mehr wäre 66 67 68 69 70 71

Franckenberg, Widmungsgedicht in: Czepko, Werke I.2, S. 543. Czepko, GegenLage der Eitelkeit. In: derselbe, Werke Bd. I.1, S. 71 – 95, Nr. 7, S. 77. Gryphius, Kirchhoffs-Gedancken, S. 4. Steiger, Poetische Christologie, S. 88; Krummacher, Gryphius und Arndt. Steiger, Schule des Sterbens, S. 31. Zu Rezeption der englischen Erbauungsliteratur Sträter, Sonthom, Bayly, Dyke und Hall. Zu Gryphius’ Übersetzung Bakers dort S. 31 – 35.

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zu wuntschen/ daß alle/ die Eytelkeit dieses Lebens recht beobachten/ vnd ihre Feder allein in dem Blutt des vnbefleckten Lammes netzen möchten. […] Was man der Welt zu Ehren schreibet/ das vergehet mit der Welt/ vnd beschärtzet offt die Finger vnd Gewissen derer/ die damit bemühet.« (S. 101) Je radikaler der Spiritualismus, desto radikaler die Ablehnung weltlicher Vergnügungen. Johannes Scheffler empfiehlt in seinem Cherubinischen Wandersmann, drei Dinge zu fliehen, nämlich »den Wein, das Weib, die Nacht«, denn »sie haben manchen Mann um Leib und Seele bracht.«72 In Schefflers Sinnlicher Betrachtung der vier letzten Dinge sagt der Teufel über die Verdammten: »Sie waren unkeusch und dem Wust j Der Unzucht ganz ergeben, j Sie führten in des Fleisches Lust j Ein ärgerliches Leben.«73 Scheffler selbst treibt sich nach seiner Konversion zum Katholizismus die Reste von Fleischeslust bei öffentlichen Selbstgeißelungen aus. Wenn er seine Lyrik Geistliche Hirtenlieder nennt, dann ist das nicht bloß eine invertierte Gattungsbezeichnung, sondern eine polemische Wendung gegen die weltliche Schäferdichtung und ihre Erotik, mithin gegen die Dichtung, die Weckherlin und Opitz im deutschsprachigen Raum etabliert haben. Die Tatsache, dass ein Dichter weltliche Lieder geschrieben hat und dabei soweit gegangen ist, zum Genuß von Alkohol aufzufordern oder die körperliche Schönheit von Frauen zu beschwören und damit, wenn auch nur spielerisch, seine eigene Affekt- und Weltverfallenheit zu demonstrieren, sagt etwas über seine Frömmigkeit aus. Die Bandbreite reicht dabei vom radikalen Spiritualismus eines Scheffler über den gemäßigten Spiritualismus, der sich im Gefolge Arndts in der Mitte des Luthertums etabliert (Andreae, Rist, Dach, Gryphius, Birken, Gerhardt), bis hin zu einem weltoffeneren Protestantismus, der mit Trink- und Liebesliedern, so lange sie sich innerhalb gewisser Grenzen bewegen, keine Schwierigkeiten hat (Weckherlin, Opitz, die Leipziger Dichter mit Fleming, Kaspar Stieler, Hoffmannswaldau, die höfische Dichtung insbesondere mit der Schäferdichtung). Es geht um ein Gleichgewicht zwischen der »Perhorreszierung des Leiblich-Irdischen«, wie sie Mystik und Spiritualismus fordern, und der »Vergötzung des Irdischen, mithin dessen baalistische Verabgötterung« in der reinen Weltlichkeit.74 Gegen Ende des 17. Jahrhunderts verändert sich diese Lage insofern, als sich mit dem Pietismus ein Spiritualismus durchsetzt, der Adiaphora (»Mitteldinge«, die an sich weder gut noch böse sind, wozu bis dahin auch die weltliche Dichtung, Spiel und Tanz gezählt werden konnten) grundsätzlich ablehnt und nur 72 Scheffler, Cherubinischer Wandersmann VI., Nr. 202. 73 Scheffler, Das jünste Gericht, Strophe 40. Aus ders., Sinnliche Beschreibung der vier letzten Dinge, S. 240. 74 Steiger, Dachs geistliche Dichtung, S. 381. Steiger beschreibt die Frömmigkeit Dachs im Sinne eines solchen Gleichgewichts.

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noch zwischen gut und böse unterscheidet.75 Die weltliche Dichtung, bei radikalen Pietisten sogar die Dichtung überhaupt, gilt als böse. Für diese sich im Laufe des 17. Jahrhunderts verstärkenden, protopietistischen Tendenzen könnte neben der Liebesdichtung vielleicht die Einstellung zur antiken Mythologie als Index dienen. Problematisch sind die antiken Götter, insofern ihre Nennung als Götzenkult und Verstoß gegen das erste Gebot ausgelegt werden konnte. Andreae lehnt deshalb in der Mora philologica (1609) die antike Mythologie strikt ab: »Mit diesen Mythen die Jugend vertraut zu machen bedeutet, eine Gott entrissene Blume dem Satan auszuliefern.« (S. 254) Breit ausgeführt hat dieses Verdikt Balthasar Gockel in seiner Heidnische[n] PoÚterey/ christlich corrigiert vnd verbessert (1647). In dem Büchlein, das Andreae gewidmet ist, werden die Kirchenväter und die Theologen aller Konfessionen aufgeboten, um ein Verbot der antiken Mythologie auf breiter Grundlage zu begründen. Ähnlich strenge Positionen vertreten Gryphius, Rist, Greiffenberg und Gerhardt. Auf der anderen Seite stehen Opitz und Harsdörffer. Opitz hat – wie seine Vorbilder Ronsard und Heinsius – mit der poetischen Verwendung der antiken Götter keine Probleme, wie sein gesamtes Werk demonstriert. Für ihn handelt es sich bei den antiken Göttern nur um »Namen«, bei denen man sich lediglich fragen kann, ob man sie in deutscher oder lateinischer Form deklinieren sollte. (Poeterey S. 373) In theologischer Hinsicht hätten sich »die stattlichsten Christlichen Poeten ohne verletzung jhrer religion« dieser Namen »jederzeit« bedient, insofern mit ihnen nur »die Allmacht Gottes« in ihren verschiedenen Erscheinungsformen bezeichnet worden sei. (Poeterey S. 351) Diese Erlaubnis gelte auch für Gedichte christlichen Inhalts. In seinem Vorwort zur Übersetzung von Heinsius’ Lobgesang Christi (1621) verteidigt Opitz die Verwendung heidnischer Götternamen in christlichem Kontext mit demselben Argument. Der Heilige Geist habe »die lehre der Heiden verworffen […]/ aber nicht die worte.« (S. 275 f.) Ähnlich liberal behandelt auch Harsdörffer die antiken Götter, wenn er in seinen Gesprächspielen (in Abhängigkeit von Francis Bacons De sapientia veterum, 1609)76 die Idee eines Spieles entwickelt, bei dem es darum geht, natur- oder moralphilosophische Deutungen für die antiken Götter zu erfinden.77 Während Birken 1645 noch der Meinung von Opitz und Harsdörffer ist und die antiken Götter als bloße Namen betrachtet,78 lehnt er 1679 diese Namen strikt ab, gegen

75 Dazu grundlegend Sdzuj, Adiaphorie und Kunst. 76 Berns, Gott und Götter. 77 Vgl. etwa Harsdörffer, Frauenzimmer Gesprächspiele. IV. Teil, S. 73 (neue Paginierung) und V. Teil, S. 149 – 150 (neue Paginierung). 78 Birken, Vorbericht. In: Fortsetzung Der Pegnitz-Schäferey, fol. )( iijv.

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Opitz gerichtet.79 Auch darin verweist Birken auf den kurz darauf einsetzenden Pietismus, für den die ganze antike Mythologie Dämonenbeschwörung ist, die, zusammen mit der weltlichen Dichtung überhaupt, geradewegs in die Hölle führt.

Opitz, Andreae und die »Fruchtbringende Gesellschaft« Dass diese Entgegensetzungen ansatzweise schon für das frühe 17. Jahrhundert gelten, zeigt wiederum Opitz. Opitz spielt mit seiner Versreform eine wichtige Rolle innerhalb der 1617 gegründeten »Fruchtbringenden Gesellschaft«. Zu deren zentralen Anliegen gehörte eine deutschsprachige Dichtung auf europäischem Niveau, die als solche über eine geregelte Verssprache verfügen musste. Indem die »Fruchtbringende Gesellschaft« die Vorschläge zur Reform der Metrik und Stilistik von Opitz übernimmt, ist sie wesentlich für die Durchsetzung dieser Reform in ihrer frühen Phase verantwortlich. Alle Veröffentlichungen von Mitgliedern der Fruchtbringer waren einer strengen Zensur unter metrischen und stilistischen Gesichtspunkten unterworfen. Frömmigkeitsgeschichtlich ist dieses Faktum insofern interessant, als ausgerechnet Andreae sich für stilistische und metrische Fragen nicht interessiert. Die Gedichte seiner Geistlichen Kurtzweil (1619) sind stilistisch auf einem veralteten Stand und metrisch nach dem silbenzählenden Prinzip der Knittelverse geregelt. Diese Metrik befindet Opitz nicht einmal mehr einer Polemik für würdig. Auf sein Desinteresse an Stilfragen und Metrik ist Andreae auch noch stolz. Auf der letzten Seite der Geistlichen Kurtzweil kann man sein poetologisches Bekenntnis lesen: » Ohn kunst/ ohn müh/ ohn fleiß ich dicht/ j Drumb nit nach deinem kopf mich richt/ j Biß du witzt/ schwitzt/ spitzt/ schnitzt im Sinn/ j Hab ich angsetzt/ vnd fahr dahin.« (S. 170) In diesem Meistersinger-Stil (über den sich das 17. Jahrhundert später lustig machen wird) sind die Gedichte Andreaes verfasst. Wer wissen will, wogegen sich die stilistischen und metrischen Reformbemühungen von Weckherlin, Schede-Melissus oder Opitz richten, bekommt mit der Geistlichen Kurtzweil Andreaes eine gute Vorstellung. Das Desinteresse an stilistischen, metrischen und gattungspoetischen Fragen offenbart sich auch in der Tatsache, dass Andreae einige Sonette Campanellas unter Missachtung der Form in vier vierzeilige (statt zwei vierzeilige und zwei dreizeilige) Strophen übersetzt. Von Alexandrinern im Sinne der frühen Versuche von Weckherlin und Opitz kann keine Rede sein: »Mein Eltern sein Geist vnd Vernunfft j Daher wars vnd recht sein ankunfft/ j Hierauff das eitel Welt Kind 79 Birken, Rede-bind- und Dicht-Kunst, S. 68, die implizite Wendung gegen Opitz S. 62 f.

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ich j Leit wider zu meiner Mutter Milch.«80 Abgesehen davon, dass diese Knittelverse ohne Kenntnis des Orginals kaum verständlich sind, wird Opitz insbesondere das apokopierte »e« in »wars« verbieten und die Verstümmelung von »mein« statt »meine« im ersten Vers, offensichtlich nur durch die Silbenzahl erzwungen. Den Reim von »ich« auf »Milch« wird Opitz ebenfalls verbieten. Hier zeigt sich, mit welchen Widerständen die Poeterey von Opitz zu rechnen hatte, und warum Opitz in ihr die Form des Sonetts so ausführlich erklären musste. Jemand wie Andreae hat sie als Form nicht wahrgenommen. Noch 1627 beherrscht Andreae das akzentuierende Prinzip nicht. Coler muss seine Übersetzung von Du Bartas auf Wunsch des Verlegers korrigieren, wie Coler brieflich gegenüber Opitz nicht ohne eine gewisse Selbstgefälligkeit vermerkt.81 Andreae muss sich jetzt immerhin den neuen Regeln beugen. Das ist ein Triumph für die Opitzianer. 1646 schreibt Andreae in dem Brief, mit dem er sich bei Herzog August d.J. von Braunschweig-Wolfenbüttel für die Aufnahme in die »Fruchtbringende Gesellschaft« bedankt, er sei in seiner Jugend zwar »auch vnder den Pritschen Meistern gewesen« und habe mit den alexandrinischen Versen in der BartasÜbersetzung einen Versuch gemacht, weil er aber »damahlen Nichts Von den Opitianischen reguln gewußt«, müsse er sich der »heilosen arbeit« mehr schämen als rühmen. (Opitz: Briefwechsel S. 551) Das ist eine höflich formulierte Bekundung von Desinteresse. Andreae hat sich schlicht und ergreifend für die Forderung, dass »jeder verß entweder ein iambicus oder trochaicus« sein solle, und zwar indem »wir aus den accenten vnnd dem thone erkennen/ welche sylbe hoch vnnd welche niedrig gesetzt soll werden«, (Poeterey S. 392) nicht interessiert. Selbst wenn diese Forderung nicht in einem Buch erhoben worden wäre, das voll war von weltlicher Lyrik, das sich in der Nachahmung des Katholiken Ronsard gefiel und mit dem Begriff der »verborgenen Theologie« seine calvinistischen Tendenzen schon in seinen ersten Sätzen zu erkennen gab, war der Nachdruck auf stilistischen und metrischen Fragen für Andreae Ausdruck einer Weltlichkeit, mit der er sich nicht identifizieren konnte. Diesen Unterschied zwischen Opitz und Andreae markiert auch ihr Umgang mit der »Fruchtbringenden Gesellschaft«. Während Opitz jahrelang darum gekämpft hat, in diese Gesellschaft aufgenommen zu werden, und dementsprechend seine Aufnahme 1629 als Triumph feiert, zeigt Andreae an der Mitgliedschaft, die er 1646 annimmt, wenig Interesse, genauso wie an dem eigentlichen

80 Andreae, Geistliche Kurtzweil, S. 95. 81 Opitz, Briefwechsel, S. 548 f. Zum genauen Kontext der Kommentar dort S. 550 f., auf dem meine Angaben beruhen.

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Anliegen der Gesellschaft, nämlich der Pflege der deutschen Sprache.82 Im Widerspruch zu den Statuten der Gesellschaft widmet sich Andreae nicht der Pflege der deutschen Sprache, sondern bedient sich weiter seines Humanistenlateins. Vor allem aber sind die Fruchtbringer als weltliche Gesellschaft von seinen eigenen, protopietistischen Gesellschaftsentwürfen weit entfernt. Ähnlich wie Franckenberg, der die »venusinischen Früchte« der Fruchtbringenden Gesellschaft verachtet, fällt Andreae ein vernichtendes Urteil über die Gesellschafter. Als »halb bis gänzlich heidnische Menschen« (genus hominum semipaganum, imo bis paganum) bezeichnet er sie, vor denen es ihm grause. »Todbringend« (mortifera), nicht »fruchtbringend« sei die Unfrömmigkeit (impietas) und das Heidentum (gentilitas) dieser Gesellschaft, deren ganze Aufmerksamkeit einer deutschsprachigen Metrik gelte.83 Auch frömmigkeitsgeschichtlich bestätigt sich hier der Befund, der für Opitz erhoben wurde. Zwar ist die »Fruchtbringende Gesellschaft« keine calvinistische Gesellschaft, sie wurde aber, wie Klaus Conermann demonstriert hat, von Calvinisten dominiert,84 und zwar von solchen irenisch gesinnten Calvinisten im Gefolge von Erasmus, Melanchthon und Grotius, zu denen sich auch Opitz mit seiner Rede von der »verborgenen Theologie« bekennt.85 Der Irenismus der »Fruchtbringenden Gesellschaft« äußert sich darin, dass die konfessionelle Zugehörigkeit bei der Aufnahme keine Rolle spielen durfte. Wie ernst diese Forderung genommen wurde, zeigt Fürst Ludwig von Anhalt, der sich 1647 in einem Brief darüber erregt, dass ihm von der Gattin seines Neffen ein pommerscher Adliger mit der Begründung, es handle sich bei diesem um einen »ehrlichen Calvinisten«, zur Aufnahme in die »Fruchtbringende Gesellschaft« empfohlen wird. Ludwig lässt sie daraufhin brieflich wissen, dass er äußerst erstaunt wäre, dass sie, 82 Zur »Fruchtbringenden Gesellschaft« vgl. Herz, Der edle Palmbaum und die kritische Mühle. 83 Andreae in einem Brief an Johannes Schmidt vom 17. 9. 1648, zitiert nach Begemann, Die Fruchtbringende Gesellschaft und Andreä, S. 56. S. 57 zitiert Begemann aus einem anderen Brief, in dem Andreae von »calvinistischem Kot«(Calvinianum lutum) spricht. Abwegig Quade, Literatur als hermetische Tradition, S. 141 ff., der die »Fruchtbringende Gesellschaft« in die Nähe der Rosenkreuzer bringt. Quade übernimmt die 1895 von Ludwig Keller formulierte Argumentation, die bereits Begemann widerlegt hat. 84 Conermann, Köthener Gesellschaftsbuch, S. 27 f. zählt für die Anfangszeit der »Fruchtbringenden Gesellschaft« 24,1 % Reformierte und 23,1 % Lutheraner. Die Katholiken waren dagegen mit 3,2 % vertreten. Auf das Verhältnis der beiden Konfessionen im deutschsprachigen Raum bezogen, bedeutet dies eine überproportional starke Präsenz der reformierten Konfession. 85 Conermann, Köthener Gesellschaftsbuch, S. 29. Vgl. auch den Nachweis Conermann, Tugendliche Gesellschaft, dass die irenische Ausrichtung der »Tugendlichen« und der »Fruchtbringenden Gesellschaft« aus calvinistischem oder zumindest philippistischem Geist gespeist wird.

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»die lange Zeit über, so sie in diesem Fürstentume gewonet so viel sich noch nicht erbauet, oder erlernet, das wir in diesem lande keine Calvinisten seind noch heißen, ob schon andere sich Lutheraner und nach [danach erst] Menschen nennen. Ja es ist bisher noch keiner mit dem nahmen eines Calvinisten, sondern als ein guter Christ in die gesellschaft auf und eingenommen worden, wird auch hinfüro mit den Rottischen Nahmen keiner eingenommenen werden.«86

Es ist diese irenisch begründete Ablehnung der »Rottischen Nahmen«, durch die sich auch die theologischen Äußerungen von Opitz auszeichnen. Sie wollen nicht auf den ersten Blick in ihrer konfessionellen Bedingtheit erkennbar sein. Wer sich selbst durch einen solchen »rottischen Namen« über andere stellt, »und die andern auch also fälschlich genennet, dadurch beschimpfen möchte«,87 ist für Ludwig kein »guter Christ«. Weder konfessionelle noch politische Streitschriften durften unter dem Namen der »Fruchtbringenden Gesellschaft« oder unter einzelnen Gesellschaftsnamen erscheinen. Mit dem Gezänk der Theologen wollte man in der höfischen Welt der »Fruchtbringenden Gesellschaft« nichts zu tun haben. Theologen waren grundsätzlich von der Aufnahme ausgeschlossen. Einzige Ausnahme waren Andreae und Rist, wobei Fürst Ludwig die Aufnahme Andreaes ausdrücklich mit den Worten begründete, dass dieser »sich bisher des streitens Zu seinem großen nachruhme enthalten« habe.88 Ein dogmatischer Lutheraner wie Arndt, der mit seiner Iconographia eine Kampfschrift gegen den Calvinismus verfasst hatte und noch in seinem Todesjahr 1621 das Vorwort zu einer antikatholischen Veröffentlichung schrieb,89 dürfte bei den Fruchtbringern auf Abneigung gestoßen sein. Auch das sollte noch einmal die Grenzen illustrieren, die den lutheranischen Spiritualismus Arndts vom irenischen Calvinismus oder einem liberalen, melanchthonischhumanistisch geprägten Luthertum unterscheiden. Am Beispiel der »Fruchtbringenden Gesellschaft« wird außerdem ein weiterer Punkt deutlich. Der irenische Calvinismus ist um 1620 insofern ein sozialhistorisch relevantes Merkmal, als er Ausdruck eines dezidiert adligen Bewusstseins sein kann. Dieses adlige Bewusstsein grenzt sich vom Gezänk der Theologen ab, deren Fanatismus für den Dreißigjährigen Krieg verantwortlich gemacht wurde. Opitz aber ist nicht nur mit seiner Biographie (Diplomat in höfischen Diensten), sondern auch mit seinen Trinkliedern, seinem Petrarkismus und seiner Ronsard-imitatio ein Dichter, der sich an eminent adligen Le86 Krause, Ertzschrein, S. 90, Brief vom 3. Wintermonat 1647. Der Brief ist auszugsweise abgedruckt in Stoll, Sprachgesellschaften, S. 40 f. 87 Krause, Ertzschrein, S. 91. 88 Brief vom 6. 11. 1646, zit. nach Begemann, Die Fruchtbringende Gesellschaft und Andreä, S. 44. 89 Scheider, Arndt als Lutheraner, S. 297, Anm. 163.

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bensformen und Idealen orientiert. Man bekennt sich zu einem überkonfessionellen Christentum, will mit den dogmatischen Streitereien der Theologen nichts zu tun haben und widmet sich ansonsten Fragen der Metrik und Stilistik. Wie sehr Opitz sich am adligen Ideal orientiert, illustriert nicht nur die Widmung der Teutschen Poemata an Fürst Ludwig mit ihrer endlosen Aufzählung von Fürsten, Kaisern und Feldherren, die sich als Dichter oder Mäzenaten betätigt haben und die damit den deutschen Fürsten ein Vorbild sein sollten, sondern insbesondere das achte und letzte Kapitel der Poeterey, wenn es dort heißt, dass es der »grösseste lohn« sei, »den die Poeten zue gewarten haben«, wenn sie »inn königlichen vnnd fürstlichen Zimmern platz finden/ von grossen vnd verständigen Männern getragen/ von schönen leuten (denn sie auch das Frawenzimmer zue lesen vnd offte in goldt zue binden pfleget) geliebet/ in die bibliothecken einverleibet/ offentlich verkauffet vnd von jederman gerhümet werden.« (S. 411) Das ist mit absoluter Sicherheit nicht das Ideal, das Rist, Gryphius oder Gerhardt für sich reklamiert haben.

Philippismus und Luthertum in Nürnberg (Saubert, Harsdörffer, Dilherr, Birken) Eine ähnliche Konstellation, wie sie das Verhältnis Andreaes zur »Fruchtbringenden Gesellschaft« bietet, zeichnet sich in Nürnberg ab. Der Rat und das Patriziat der Stadt sind philippisch gesinnt, was bis auf die engen Verbindungen der Stadt noch mit Melanchthon selbst zurückgeht, während Johann Saubert, Prediger zu St. Sebald und Antistes der Nürnberger Geistlichkeit, das lutherische Reformprogramm Arndts vertritt. Der theologische Liberalismus Nürnbergs war schon darin zu Tage getreten, dass die Stadt die Konkordienformel – die die Ausgrenzung des Calvinismus implizierte – nicht unterschrieben hatte, und sich stattdessen zu der auch von Calvinisten akzeptierten, unter Lutheranern aber umstrittenen Confessio Augustana variata bekannte. Dieses Bekenntnis zur Confessio Augustana war umso auffälliger, als Nürnberg diese gar nicht unterschrieben hatte.90 Der Vorwurf, calvinistische Tendenzen zu begünstigen, der gegen Nürnberg erhoben wurde, lag nicht zuletzt deshalb nahe, weil die Universität Altdorf theologisch liberale Positionen vertrat.91 Mit Jakob Schopper, dem Lehrer Sau-

90 Ich folge der Darstellung van Dülmen, Orthodoxie und Kirchenreform, dessen Ergebnisse im Wesentlichen bestätigt werden von Brecht, Geschichte des Pietismus, S. 177 – 180 und Sommer, Sauberts Eintreten für Arndt. 91 Zur Universität Altdorf vgl. Mährle, Academia Norica, bes. S. 486 – 515. Zu den theologischen Auseinandersetzung Mährle, Hochburg des Kryptocalvinismus. Grundsätzlich zu

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berts, wurde 1598 bewusst ein scharfer Gegner des Calvinismus und Anhänger der Konkordienformel berufen, um ein Gegengewicht zur philippischen Richtung zu schaffen und die Stadt von Vorwürfen dieser Art zu befreien. Gleichzeitig wurde Schopper jedoch die Auflage gemacht, die Konkordienformel nicht öffentlich zu vertreten und die gemäßigte, philippisch geprägte norma doctrinae Nürnbergs zu unterschreiben.92 Diese Auflage, die später auch Saubert bei seiner Berufung gemacht wurde, führte zu jahrelangen, schweren Auseinandersetzungen. Unter Berufung auf Gewissensskrupel weigerte sich Saubert, dieses Bekenntnis zu unterschreiben. Mit Georg Richter steht Saubert auf Seiten des Nürnberger Rats ein Gelehrter gegenüber, der bei dem Sozinianer Ernst Soner in Altdorf, dann an der philippistischen Hochburg Helmstedt, dann in den calvinistischen Niederlanden bei Daniel Heinsius studiert hatte. In den Niederlanden lernt er Grotius persönlich kennen und schätzen, auf der Rückreise macht er in Heidelberg Station, wo er Janus Gruter kennenlernt.93 Das ist annähernd der Bildungsweg, den auch Opitz fast zeitgleich durchlaufen hat. In Richters Vita heißt es, er habe sein Leben lang Erasmus, Melanchthon und Grotius geschätzt, da man bei diesen »maßvolle, fruchtbare und friedbringende Gesinnung und Ratschläge, die zur kirchlichen Eintracht vor allem heilsam und wahrhaft notwendig sind«, finden könne. Mäßigung und Gleichmut trügen viel mehr zur Befriedung der Kirche bei als Härte und Strenge, die mehr den Hass der Parteien als den Eifer um Einheit beförderten.94 Sein Gegner Saubert dagegen hat den klassisch lutherischen Bildungsweg über die Universitäten Tübingen, Giessen und Jena, wo er bei Johann Gerhard studierte, durchlaufen. Seit seinem Studium in Tübingen gehört er zu den engsten Freunden Andreaes, mit dem zusammen er 1628 die »Unio christiana« gründet.95 Beide sind durch die Ehe ihrer Kinder auch verwandtschaftlich eng verbunden. Von Gerhard und Andreae wird Saubert in seinem Kampf gegen den Nürnberger Philippismus unterstützt. Dabei scheint Saubert seinen Rückhalt gegen das philippische Patriziat vor allem in der Bevölkerung gehabt zu haben.96 Auf der Gegenseite steht neben dem Stadtrat die Universität Altdorf. Mit Ernst Soner lehrte in Altdorf sogar ein Sozinianer, mithin der Anhänger eines radikalisierten Rationalismus, der aus lutherischer Perspektive als extreme Form des Philippismus und Calvinismus erscheinen konnte. Soner, vom Amt her Medizi-

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den Fluchtlinien der theologischen und philosophischen Auseinandersetzungen Schmeisser und Birnstiel, Gelehrtenkultur und antitrinitarische Häresie. van Dülmen, Orthodoxie und Kirchenreform, S. 642. van Dülmen, Orthodoxie und Kirchenreform, S. 691 f. van Dülmen, Orthodoxie und Kirchenreform, S. 693. van Dülmen, Sozietätsbildungen in Nürnberg und Dickson, Saubert, Andreae and the Unio christiana. Vgl. das briefliche Zeugnis bei van Dülmen, Orthodoxie und Kirchenreform, S. 676.

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ner, hatte sich als Gegner des Paracelsismus profiliert, was einmal mehr die Fronten verdeutlicht. Als Soners Sozinianismus nach seinem Tod 1612 bekannt wurde, beteiligte sich Saubert an der ›Bekehrung‹ von dessen Schülern. Wie Arndt, dessen Anhänger Saubert zeitlebens war, ist auch Saubert kein Ireniker im engeren Sinne. Calvinisten und Katholiken werden nicht toleriert, sondern missioniert. Beide will er durch die sittliche Vorbildlichkeit des Luthertums von dessen Überlegenheit überzeugen. Wie Gerhard und Andreae verteidigt Saubert die Legitimität der Arndtschen Frömmigkeitsbewegung, indem er deren lutherischen Kern betont, nämlich die ›Reformation des Lebens‹ als Stärkung der Frömmigkeit. In der Tradition Arndts steht Saubert auch mit seinem Zuchtbüchlein (1633). Dieses Zuchtbüchlein will die »gebürliche und von Gott so ernstlich anbefohlenen Kirchenzucht« wiederherstellen und steht damit im Dienst eines wahrhaft christlichen Lebens. Im liberalen Nürnberg richtet sich dies auch an die philippisch gesinnte Obrigkeit mit ihren – aus Arndtscher Perspektive – laxen Moralvorstellungen. Auf der anderen Seite kämpft Saubert zusammen mit dieser Obrigkeit gegen den in der Stadt grassierenden Weigelianismus und den radikal spiritualistischen Flügel der Arndt-Anhänger, der ihm insbesondere mit Christian Hoburgs Spiegel der Mißbräuche beim Predigtamt begegnete.97 Hoburg und den Weigelianern – die der Predigt fernblieben, weil sie dort den göttlichen Geist nicht verspürten, stattdessen aber mit dem aus ihrer Sicht unwürdigen Leben der Pfarrer konfrontiert wurden – wirft Saubert Missbrauch der legitimen Reformbestrebungen Arndts vor. Der Teufel, dem die Weigelianer verfallen sind, habe seine Kapelle direkt neben dem Wahren Christentum Arndts errichtet. An der Verachtung des öffentlichen Predigtamtes könne man jedoch Arndts wahres Christentum von der Schwärmerei der Weigelianer, die in ihren Konventikeln auf das innere Wort lauschten, unterscheiden.98 Der sonntägliche Kirchenbesuch wird zum Unterscheidungsmerkmal zwischen radikalen »Schwärmern« und frommen Lutheranern. Zum selben Zeitpunkt, zu dem Saubert in Nürnberg predigt, gründen Georg Philipp Harsdörffer und Johann Klaj dort 1644 den »Pegnesischen Blumenorden«. In der klar lutherischen Konfessionalität seiner Mitglieder unterscheidet sich dieser Orden von seinem Vorbild, der »Fruchtbringenden Gesellschaft«. Die Frömmigkeit spielt aber zumindest in den ersten Jahren unter dem Ordenspräsidenten Harsdörffer keine große Rolle, wie schon an der programmatischen Gründungsurkunde, dem Pegnesischen Schäfergedicht, zu erkennen ist. Es handelt sich dabei nicht um »geistliche Hirtenlieder«, wie bei Scheffler, Spee oder

97 Vgl. Sommer, Sauberts Eintreten für Arndt, van Dülmen, Schwärmer in Nürnberg. 98 Sommer, Sauberts Eintreten für Arndt, S. 252, der Sauberts »Die newe Creatur« S. 7 f. zitiert.

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später Birken, sondern um durchaus weltliche Dichtung, wenn auch nicht um erotische Schäferdichtung, wie bei den Leipziger Dichtern. Von der »Unio christiana«, die Andreae und Saubert als Lutheraner verbindet, unterscheidet sich merklich der »Blumenorden« als eine Verbindung von ›Schäfern‹, die sich in ihren Liedern der Pflege der deutschen Sprache widmen »und ein letztlich unkonfessionelles, religiöses und nationales Ethos entwickeln wollten«.99 Das Literaturprogramm des Patriziers und ›Großschriftstellers‹ Harsdörffer steht klar in einer höfischen Tradition, die mit dem Luthertum der Pastoren Saubert und Andreae zwar die gemeinsamen lutherischen Überzeugungen teilt, in der sozialen Praxis aber wenig Berührungspunkte aufgewiesen haben dürfte. Wo Andreae in Christianopolis die Utopie einer wahrhaft lutherischen Gesellschaft schuf, in der sinnloser Zeitvertreib nicht geduldet wird, da schreibt Harsdörffer mit seinen Frauenzimmer Gesprächspielen ein verspieltes Werk, dessen Zweck die Propagierung eines adligen Ideals der Geselligkeit und Konversation im Sinne der Hofmannstraktate ist. Harsdörffer steht in der Tradition von Giovanni della Casas Galateo (1558), Stefano Guazzos De civili conversatione (1574) und in letzter Instanz Balthasar Castigliones Libro del Cortegiano (1528).100 Aber nicht nur mit seinen Gesprächspielen ist Harsdörffer im wahrsten Sinne des Wortes ein Unterhaltungsschriftsteller, sondern auch mit seinen Sammlungen von Kriminalgeschichten (Schauplatz jämmerlicher Mordgeschichte, 1656/64), den Mathematischen und philosophischen Erquickstunden (1636) oder seiner Übersetzung von Montemayors Schäferroman Diana (1646). Damit soll auf keinen Fall gesagt sein, dass das adlige Ideal oder die Unterhaltungsschriftstellerei in einem Gegensatz zur lutherischen Frömmigkeit stehen. Im Gegenteil – Johann Anselm Steiger hat gezeigt, dass die Melancholieprävention, zu der an erster Stelle Geselligkeit und Unterhaltung gehört, ein traditionell lutherisches Anliegen bildet, im Gegensatz zur späteren Entwicklung im Pietismus.101 Es kann deshalb nur darum gehen, eine Nuancierung der protestantischen Frömmigkeit anzudeuten, die sich in unterschiedlichen literarischen Profilen spiegelt. Saubert wird im Poetischen Trichter mehrfach lobend erwähnt. Mit seinen Sammlungen erbaulicher Geschichten (Natham und Jotham, 1650/51) und mit seinen Hertzbeweglichen Sonntagsandachten (1649/52), für die Harsdörffer die

99 van Dülmen, Sozietätsbildungen in Nürnberg, S. 180. 100 Zu Harsdörffers Konversationsideal Krebs, Harsdörffer als Vermittler des honnÞtet¦Ideals; Kühlmann, Gelehrtenrepublik, S. 382 ff.; Zeller, Spiel und Konversation. Zu Harsdörffers Frömmigkeit Krebs, Po¦tique et po¦sie, S. 329 – 342. 101 Vgl. Steiger, Melancholie, Diätetik und Trost.

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Unterstützung Andreaes gesucht und gefunden hat,102 betätigt sich Harsdörffer als Erbauungsschriftsteller im Sinne der praxis pietatis. Er steht damit auch in der direkten Nachfolge Sauberts, der mit seiner Duodekas Emblematum sacrorum (1625 – 30) eines der frühesten geistlichen Emblembücher verfasst hat. Aber die erbauliche Schriftstellerei bleibt bei Harsdörffer ein Aspekt unter anderen. Von einem Interesse an strenger Kirchenzucht, wie es Sauberts Zuchtbüchlein dokumentiert, kann bei Harsdörffer keine Rede sein. Stattdessen gehört Harsdörffer mit seinen Übersetzungen der Werke Joseph Halls zu den frühesten Vermittlern der calvinistischen Variante der Erbauungsliteratur in den deutschsprachigen Raum, erscheint mithin eher als Vertreter einer überkonfessionellen Frömmigkeit.103 In seine Sonntagsandachten integriert Harsdörffer den Katechismus von Grotius.104 Auch Dokumente katholischer Frömmigkeit, wie vor allem jesuitische Erbauungsliteratur, rezipiert Harsdörffer, wenn auch noch nicht so massiv wie sein Nachfolger Sigmund von Birken. Mit dieser überkonfessionellen Frömmigkeit ist Harsdörffer – im Gegensatz zu Andreae – ein typisches Mitglied der »Fruchtbringenden Gesellschaft«, der er seit 1642 unter dem Namen »Der Spielende« angehört. Harsdörffers Irenismus illustriert eine kleine Auseinandersetzung zwischen ihm und dem Calvinisten Dietrich von dem Werder. Harsdörffer hatte seine Sammlung erbaulicher Geschichten Nathan und Jotham (1650) mit einer Parabel Vom Heiligen Abendtmahl eröffnet, also dem zentralen theologischen Streitgegenstand zwischen beiden Konfessionen. Obwohl irenisch gemeint, beklagte sich von dem Werder bei Christian II. von Anhalt-Bernburg, dass Harsdörffer die calvinistische Abendmahlsauffassung zu schlecht dargestellt hätte. Harsdörffer entschuldigte sich daraufhin mehrfach. Er beteuerte, einen solchen Eindruck auf keinen Fall erweckt haben zu wollen, berief sich als Beleg für seine Einstellung zum Calvinismus auf seine Übersetzungen Joseph Halls und versicherte sogar – was von Christian II. in seinem Schlichterspruch eigens hervorgehoben wurde –, bei den Calvinisten, »sonderlich zue Genf«, einen solch »vnsträflichen Wandel« vorgefunden zu haben,

102 Vgl. die Briefe Harsdörffers im Anhang von van Dülmen, Sozietätsbildungen. Im zweiten Teil der Sonntagsandachten (1652) ein Widmungsgedicht Andreaes. 103 Vgl. Sträter, Sonthom, Bayly, Dyke und Hall. Zu Harsdörffers zahlreichen Übernahmen aus Halls Occasional Meditations (1630 – 33) in Nathan und Jotham vgl. Krebs, Tradition und Wandel. 104 Harsdörffer, Sonntagsandachten, f. Bb7r-Dd4r. Vgl. dort auch das Nachwort von Keppler. Zu den jesuitischen Einflüssen bes. Krebs, Harsdörffers Embleme, außerdem Fechner, Harsdörffers Trichter.

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dass er diese sogar für »gerechter« als die Lutheraner halte.105 Die Auseinandersetzung wird damit friedlich beigelegt. Dass Harsdörffer mit diesem Irenismus bei einigen Theologen seiner eigenen Konfession auf weit weniger Verständnis gestoßen wäre, belegt die Antwort Christian II. Harsdörffer hatte sich als Beleg für den Irenismus der Lutheraner auf Georg Calixt berufen, das Haupt des Helmstedter Philippismus und den einflussreichsten Kontrahenten der Gnesiolutheraner. Christian II. kommentiert dies mit der Warnung, Harsdörffer solle sich besser nicht auf Calixt berufen, denn wenn »die Geistlichen hohen Schuel: vnd Kirchenlehrer zu Wittenberg u. Leipzig« dies erführen, würde er, Harsdörffer, gleich als Calvinist verschrien und aus dem Luthertum ausgeschlossen.106 Die Anekdote belegt die Differenzierung der Frömmigkeitsformen, auch wenn im Auge zu behalten ist, dass die Grenzen sich im Laufe des 17. Jahrhunderts verschieben. Was bei Harsdörffer und Saubert noch als unterschiedliche Nuance erscheinen kann, nähert sich in der folgenden Generation mit Sauberts Nachfolger Johann Michael Dilherr einerseits und Harsdörffers Nachfolger Sigmund von Birken andererseits weiter an. Als Schüler von Johann Gerhard ist auch Dilherr ein überzeugter Anhänger des Arndtschen Frömmigkeitsideals.107 Wie Saubert vor ihm weigert er sich, die ihm bei Amtsantritt vorgelegte, philippisch orientierte norma doctrinae Nürnbergs zu unterschreiben. Aber im Gegensatz zu Saubert ist sein Verhältnis zum Rat der Stadt weit besser. Mit Harsdörffer verbinden ihn eine enge Freundschaft und die gemeinsame Betätigung als Erbauungsschriftsteller. Einige geistliche Lieder aus dem Poetischen Trichter übernimmt Dilherr sogar in seine Gesangbücher.108 Wenn er auch selbst nie Mitglied des »Pegnesischen Blumenordens« geworden ist, so kann er doch als dessen Mäzen gelten. In seinen »Friedenspredigten« zeigt er sich, wie gleichzeitig sein Hamburger Kollege Rist, als überzeugter Ireniker.109 Wenn die von ihm initierte Reform des Nürnberger Kirchenwesens als »vorpietistisch« bezeichnet wurde,110 so findet Dilherr darin sein Komplement in Sigmund von Birken. Bei Birken, der eng mit Dilherr zusammenarbeitet, werden der sittlichen und religiösen Erbauung als Ziel und Zweck der Dichtung alle anderen Aspekte untergeordnet. Seine Poetik, die Rede-bind und Dicht105 Merzbacher, Abendmahlstreit, S. 370. 106 Merzbacher, Abendmahlstreit, S. 380. 107 Zu Dilherr Brecht, Geschichte des Pietismus, S. 177 – 180; van Dülmen, Orthodoxie und Kirchenreform, S. 696 – 699, van Ingen, Dilherr ; Jürgensen, Dilherr ; Rohmer, Literatur und Theologie; Sommer, Friedenspredigten. 108 Vgl. Fechner, Harsdörffers Poetischer Trichter ; van Ingen, Dilherr. 109 Vgl. den Befund Sommer, Friedenspredigten Dilherrs. 110 Vgl. Schröttel, Dilherr und die vorpietistische Kirchenreform.

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Kunst (1679) ist über weite Strecken eine Poetik geistlicher Dichtung.111 Mit Birken wird der »Blumenorden« in den Dienst der Frömmigkeitsbewegung gestellt, was programmatisch schon die Wahl der Passionsblume als Zeichen Christi anstelle der heidnischen Panflöte zu Harsdörffers Zeiten zeigt. Die antike Mythologie hat jetzt in der Dichtung keinen Platz mehr, genauso wie die weltliche Liebesdichtung. Birken wird zum »eigentlichen Brückenbauer« »zwischen dem literarischen Anliegen des Nürnberger Dichterkreises und den Zielvorstellungen der lutherischen Reformorthodoxie«. »Für sein [Birkens] religiöses Empfinden, Denken und Schreiben waren Arndts ›Wahres Christentum‹ und ›Paradiesgärtlein‹ (1612) von einzigartiger Bedeutung. Nach Ausweis der Tagebücher hat ihn die regelmäßige Lektüre Arndtscher Schriften bis ins Alter begleitet und zutiefst geprägt. Zwischen 1662 und 1681 entwickelte sich der Blumenorden unter seiner Leitung förmlich zu einer Kaderschmiede der Frömmigkeitsbewegung […]«.112

Das Werk Birkens, genauso wie das der von ihm geförderten Greiffenberg, repräsentiert den gemäßigten Spiritualismus, der mittlerweile das Luthertum durchdrungen hat und dabei ist, den Pietismus auszubilden.

3.

Die Sprache des Herzens und die Sprache der Vernunft

Arndt und die geistliche Dichtung Man darf die Unterschiede zwischen Opitz und Andreae, zwischen Harsdörffer und Birken, zwischen liberalem Philippismus und lutheranischem Protopietismus nicht überbetonen. Der Irenismus, der vor dem Dreißigjährigen Krieg noch eher ein Merkmal des Calvinismus ist, ist nach dem Dreißigjährigen Krieg allgemein verbreitet. Die Erbauungsliteratur ist, auf protestantischer wie auf katholischer Seite, irenisch gesinnt. Was zu Beginn des 17. Jahrhunderts bei Andreae noch eine elitäre Haltung war, wird in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts zu einem breiten Strom, der schließlich in den Pietismus mündet. Die Frömmigkeit der Zeitgenossen Opitz und Andreae ist kein Gegensatz, sondern bewegt sich innerhalb einer Skala, genauso wie später die philippistische Glaubenspraxis in Helmstedt und Altdorf im Vergleich zur protopietistischen Frömmigkeit eines Dilherr oder Birken. Insbesondere über Johann Gerhard ist die Reformbewegung Arndts in den breiten Strom der lutherischen Theologie eingespeist worden, und zwar an und 111 Zu Birkens Frömmigkeit vgl. Steiger, Tauben-Fels. 112 Wölfel, Geistliche Erquickstunden, S. 367.

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über die Universitäten, auch wenn sich diese Reformbewegung ursprünglich gegen die akademische Theologie gerichtet hat. Die akademische »Orthodoxie« des 17. Jahrhunderts ist zu großen Teilen eine »Reformorthodoxie« (wie sie etwas irreführend genannt wurde), die durch die Schule Arndts und Gerhards gegangen ist. Hohe kirchliche Würdenträger wie Andreae, Dannhauer, Saubert oder Dilherr sind von Arndt und seinem Frömmigkeitsideal geprägt. Am Ende des Jahrhunderts ist es Spener, der in einem erneuten Rückgriff auf Arndt und Luther den Pietismus als »Frömmigkeitsbewegung« – und damit wiederum als innerlutherische Reformbewegung – begründet. Wenn sich Arndts Konzeption einer Frömmigkeit als gelebter Glaube, als praxis pietatis, ursprünglich gegen die akademische Theologie gerichtet hat, dann überträgt sich dieser Impuls insofern auf die Erbauungsliteratur und geistliche Dichtung, als diese durch ihre poetische Form in einem bewussten Gegensatz zum Rationalismus der akademischen Theologie steht. Der logischabstrakten, rein begrifflich verfahrenden Theologie der Universitäten steht die poetische Form der Erbauungsliteratur und geistlichen Dichtung gegenüber. Johannes Wallmann dürfte mit seiner Vermutung, dass Arndt sich mit seinem Kampf gegen die Theologie als bloße »Wortkunst« vor allem gegen den philippischen Aristotelismus der Helmstedter Theologie, gegen Cornelius Martini und Georg Calixt gerichtet habe, den Kern der Auseinandersetzung getroffen haben.113 Die logisch-syllogistische Form der Theologie, wie sie in Helmstedt praktiziert wurde,114 steht in maximaler Opposition zur lyrischen Form als Ausdruck einer »innerlichen Frömmigkeit« im Gefolge Arndts. Die Lyrik gerät damit in einen Gegensatz zur formalen Logik und zur akademischen Argumentationstechnik. Sie wird zum Medium der Frömmigkeit, zum Ausdruck eines »Subjektivismus« und »Irrationalismus«, wie er von der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts an die Lyrik überhaupt bestimmen wird. Über die enge Verbindung von Arndtscher Frömmigkeit und geistlicher Dichtung kann seit den Studien von Hans-Henrik Krummacher, Elke Axmacher und Johann Anselm Steiger kein Zweifel mehr bestehen. Weil die gelebte Frömmigkeit entscheidend ist, bekommt die Dichtung als Medium der Erbauung oder Andacht so große Bedeutung. Die poetische Form wird zum Katalysator der »inneren« Bekehrung. Der Leser soll durch die bildlich-poetische Form emotional angesprochen, er soll »erbaut« und zu einem frommen Leben bekehrt werden. Die Dichtung soll durch ihre anschauliche und bildliche Sprache, durch ihre mnemotechnische Zweckmäßigkeit als Grundlage einer »Meditation« oder

113 Wallmann, Eigenart Helmstedter Theologie. 114 Wallmann, Eigenart Helmstedter Theologie, S. 75, sowie Sparn, Wiederkehr der Metaphysik, S. 28 ff. Ausführliche Analyse bei Friedrich, Grenzen der Vernunft.

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»Andacht« dazu dienen, den Geist des Lesers auf die Betrachtung der göttlichen Dinge zu lenken. Über die Frömmigkeit treten die poetische Form auf der einen und Erbauung und Andacht auf der anderen Seite in ein enges, wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis. Der Leser Arndts »soll das Reich Gottes inwendig in sich selbst (Lk 17,21) suchen und finden. Dazu muß die Seele in allen ihren Kräften Gott gegeben werden, nicht allein der Verstand, wie es die als reine Theorie betriebene Theologie macht. Das Reich Gottes in sich zu finden, bedarf es keiner Wissenschaft und Kunst, sondern der Einkehr in sich selbst.«115 Dieser Meditation und Andacht dient die poetische Sprache mit ihrer Bildlichkeit, ihren Metaphern und Allegorien, genauso wie die emblematischen Illustrationen oder die musikalische Begleitung. Die Dichtung ist eine »Sprache des Herzens« in dem Sinne, in dem das Herz physiologisch als Sitz der Gefühle galt. Die akademische Theologie dagegen, die rationalistische Dogmatik, ist durch ihren argumentativ-begrifflichen Vollzug eine Sprache der Vernunft. Die geistliche Dichtung des 17. Jahrhunderts steht im Dienst der Frömmigkeit. Sie bildet keinen inhaltlichen Gegensatz zur Theologie, sondern stellt die rhetorische und poetische Form dar, der sich die ›neue‹ Frömmigkeit bedient, um sich von der akademischen Theologie abzugrenzen. Die Entstehung der Andachts- und Erbauungsliteratur, wie sie das 17. Jahrhundert erlebt, ist Ausdruck dieser Frömmigkeitsbewegung. Sie ist Ausdruck der Tatsache, dass der menschliche Geist durch poetische und rhetorische Strategien zur Vereinigung mit dem göttlichen Geist geführt werden muss.

Erbauung als Meditationspraxis »Viel meinen/ die Theologia sey nur eine blosse Wissenschaft vnd Wortkunst/ da sie doch eine lebendige Erfahrung vnd Vbung ist. Jederman studiret jetzt/ wie er hoch vnd berümbt in der Welt werden möge/ aber from seyn will niemand lernen.«116 Mit diesen Sätzen charakterisiert Arndt Ziel und Zweck seines Wahren Christentums als die praxis pietatis, die im alltäglichen Leben ausgeübte Frömmigkeit im Gegensatz zur abstrakt bleibenden, immer nur rational verfahrenden akademischen Theologie, die eine »bloße Wissenschaft« ist, eine »Wortkunst«, im Gegensatz zur gelebten Frömmigkeit, die zu einer spirituellen Verwandlung des Menschen führt. Arndts Wahres Christentum ist Erbauungsund Andachtsliteratur in dem Sinne, dass die Lektüre Anleitung, Hilfestellung 115 Sträter, Meditation und Kirchenreform, S. 36 f. 116 Arndt, Wahres Christentum (1610), Vorrede S. 7 (Paginierung des Neudrucks).

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und Hinführung zu dieser spirituellen Verwandlung und Wiedergeburt bildet. In den Meditationes sacrae (1606) Johann Gerhards, des einflussreichsten Schüler Arndts, wird als der »wahre Endzweck« der Theologie die »geistliche Wiedergeburt des inwendigen Menschen« bezeichnet.117 In erbaulichen Schriften wie Arndts Wahrem Christentum nach dogmatischen Lehrabweichungen zu suchen, wie es schon im frühen 17. Jahrhundert geschah, negiert im Grunde den Kern der Arndtschen Bestrebungen, die nicht auf dogmatische Auseinandersetzung zielten, sondern auf Anverwandlung des »inneren Menschen« durch Meditation des göttlichen Wortes oder Betrachtung der Natur als göttlicher Offenbarung.118 Seelenführung (Psychagogik)119 als Anleitung zu einem wahrhaft frommen Leben ist der Zweck des Wahren Christentums, nicht dogmatische Erörterung. Auf diese Meditationstechnik und Psychagogik zielt auch der in der Erbauungsliteratur oft verwendete Vergleich von Theologie und Medizin. Wie die Medizin als Diätetik auf ein gesundes Leben zielt, so die Theologie auf die Anleitung zu einem frommen Leben.120 Gerhard eröffnet seine Meditationes mit diesem Vergleich, dessen Pointe die Bestimmung der Theologie als einer »practischen Wissenschaft« ist, wie die Medizin, »daher diejenigen gar sehr irren, welche meynen, sie sey eine Wissenschaft, die auf blossen leeren Vorstellungen und Subtilitäten beruhe«.121 Das verbindende Element von Medizin und Theologie ist der Geist als göttlicher (spiritus sanctus) und menschlicher Geist (spiritus animalis). Dieser Begriff von Medizin darf dabei nicht mit dem Paracelsismus verrechnet werden. Die »Seelenmedizin« Gerhards ist keine paracelsistische, wenn der Paracelsismus wie bei Suchten, Khunrath oder Croll als radikaler Spiritualismus verstanden wird. Nicht durch Magie und spiritualistische Alchemie wird der göttliche Geist mit dem menschlichen vereinigt, sondern durch ein frommes Leben und die Meditation des biblischen Wortes. Erbauung und Andacht, Gebet und Meditation stehen damit in der kirchlichen Frömmigkeit an der Stelle, an der im radikalen Paracelsismus Magie, spiritualistische Alchemie und Kabbala stehen. Wer in der »Schule des heiligen Geistes« studieren wolle, schreibt Gerhard in seiner Schola pietatis (1623), müsse ein »ruhiges Hertz« mitbringen, sich aller »weltlichen Hendel«, »sündlichen Gedancken« und »fleischlichen Affecten« entschlagen und stattdessen »Gottes Wort vnnd Wercke« betrachten. Wem das 117 Gerhard, Meditationes sacrae Bd. 2, S. 352. 118 Zu Erbauungsliteratur als Meditationsliteratur Steiger, Nachwort. In Gerhard: Meditationes Bd. 2, S. 657 – 690; Sträter, Meditation und Kirchenreform, Wodianka, Betrachtungen des Todes, S. 20 – 63, mit Bezug auf Harsdörffer Krebs, Tradition und Wandel. 119 Vgl. Butzer, Psychagogik und Butzer, Soliloquium. 120 Vgl. ausführlich Steiger, Medizinische Theologie. Koch, Therapeutische Theologie 121 Gerhard, Meditationes sacrae Bd. 2, S. 352.

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gelinge, den werde »der heilige Geist durch solche Betrachtung des angehörten göttlichen Worts vnnd göttlicher Wolthaten […] in alle Warheit führen.« Von dieser »Betrachtung göttliches Worts vnd göttlicher Werke« habe die Andacht ihren Namen.122 Ihr Ziel sei der »innerliche« oder »geistliche Seelen-Sabbat« als eine Vereinigung mit dem Heiligen Geist. Gerhard gibt präzise Anweisungen und Empfehlungen für diese tägliche »Schule des Heiligen Geistes.« Die Erbauungsliteratur, angefangen mit dem Wahren Christentum, ist nicht für eine fortlaufende Lektüre gedacht, die einmal abgeschlossen ist und nicht wiederholt zu werden braucht, sondern impliziert eine tägliche Lektüre, die nicht linear, sondern zirkulär und iterativ verfährt, die sich in einzelne Stellen, Geschichten, Bilder und Embleme immer wieder vertieft. Ernst Koch hat darauf hingewiesen, dass Gerhards Meditationes – mindestens 220 Auflagen in 16 Sprachen – schon von dem Buchformat her, in dem sie zumeist gedruckt wurden (Kleinoktav bis halbes Sedezformat) eine solche beständige Lektüre als ›Taschenbuch‹, das man immer mit sich führen konnte, implizieren.123 Cornelius Niekus Moore hat gezeigt, wie die Lektüre von Erbauungsliteratur als Meditationspraxis das alltägliche Leben der Menschen vom Morgen bis zum Abend geprägt hat.124 Erbauungsliteratur als Anleitung zur Meditation ist eine Lebenspraxis, die ihren Ausdruck in einer Körpertechnik gefunden hat. Die protestantische Erbauungsliteratur unterscheidet sich in diesem Punkt nicht von den Geistlichen Übungen (Exercitia spiritualia, 1548), wie sie Ignatius von Loyola für den Jesuitenorden entwickelt hat und in dessen Folge auch auf katholischer Seite im 17. Jahrhundert eine Flut von Meditationsliteratur entsteht. Das Güldene Tugend-Buch (vor 1635, Druck 1649) Friedrich Spees steht in dieser Tradition.125 In dessen Vorrede gibt Spee detaillierte Anweisungen zur täglichen Meditationspraxis, die nach dem Aufstehen, während der Arbeit oder beim Essen stattfinden kann, sowohl im Stillen wie in der Gemeinschaft und im Gespräch. Statt etwa während des Essens weltliche Gespräche zu führen, könne man das Tugend-Buch nehmen, sich gegenseitig Kapitel daraus vorlesen oder sich gegenseitig vorbereitete Fragen stellen, die zum Nachdenken über geistliche Fragen anregen. Ausdrücklich ermuntert Spee den Leser dazu, das täglich zu meditierende Kapitel nach einem Losverfahren zu bestimmen, indem man mit einer Feder oder einem Messer auf ein »Täfelchen« mit den Kapitelzahlen ziele, das Spee zu diesem Zweck vorbereitet hat. (S. 17)

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Gerhard, Schola Pietatis, f. 483r. Hinweis bei Koch, Therapeutische Theologie, S. 162. Koch, Therapeutische Theologie, S. 163. Niekus Moore, Erbauungsliteratur als Gebrauchsliteratur. Vgl. Eicheldinger, Friedrich Spee und Harzer, Bilde dir für.

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Die enge Verwandtschaft – über weite Strecken Identität – von geistlicher Dichtung und Erbauungsliteratur genauso wie die Tatsache, dass sich die Erbauungsliteratur poetischer Formen und Sprache bedient, ist vor diesem Hintergrund zu verstehen. Die poetischen Formen (anschauliche Sprache, Versifizierung, Vertonung, emblematische Illustration) dienen der Meditationspraxis als einer Körpertechnik, weil sie die Aufmerksamkeit und Konzentration des Lesers in besonderem Maße fördern können. Das göttliche Wort und sein Wirken müssen affektiv verinnerlicht werden, um den Leser innerlich, spirituell verändern zu können. Weil das Herz des Leser angesprochen werden soll, und nicht der Verstand, muss die Sprache der Erbauungsliteratur eine bildliche, sinnlich fassbare, poetische Sprache sein. Allegorie und Emblem, Versifizierung und Vertonung sind die Mittel, die durch ihre Sinnlichkeit eine Meditation und Vergegenwärtigung des göttlichen Wortes ermöglichen sollen. Dichtung wird zum Instrument der Frömmigkeit. Die Entstehung der Erbauungsliteratur und der geistlichen Dichtung markiert damit auf literarhistorischer Ebene dieselbe Akzentverschiebung, die die Frömmigkeitsbewegung in der Religionsgeschichte markiert. Die Erbaulichkeit der geistlichen Dichtung hat zum Zweck die Praxis des Glaubens, die der Begriff der Frömmigkeit bezeichnet. Es ist deshalb auch nicht angemessen, in der Dichtung von Greiffenberg oder Gryphius nach Lehrabweichungen zu suchen. »Gryphius’ hermeneutisches Geschick liegt darin, zentrale Glaubensinhalte poetisch verdichtet neu zur Sprache zu bringen und zur applicatio gelangen zu lassen.«126 Gryphius bedient sich der poetischen Form, weil sie Andacht und Erbauung in besonderem Maße ermöglicht und damit dem Zweck der Theologie als einer Seelsorge besser gerecht wird als die dogmatische Erörterung. So ist es zu verstehen, wenn Gryphius in seiner geistichen Dichtung zahlreiche Motive aus Arndts Paradiesgärtlein127 übernimmt und in späteren Jahren Josua Stegmanns Hertzens-Seufftzer bearbeitet. Gerhards Meditationes erscheinen schon 1608, zwei Jahre nach ihrem Erstdruck, in einer poetischen Fassung, das heißt in Verse gebracht. 1665 erscheinen sie, wie 1678 Arndts Wahres Christentum, mit emblematischen Illustrationen. Die gewaltige Welle geistlicher Emblembücher hatte schon mit Hermann Hugos Pia desideria (1623) auf katholischer und Johann Mannichs Sacra Emblemata (1624) auf protestantischer Seite begonnen.128

126 Steiger, Poetische Christologie, S. 110. Zu Greiffenberg Thums, Topographie der memoria. 127 Vgl. Krummacher, Gryphius und Arndt sowie Krummacher, Gryphius und die Tradition. 128 Zu dieser Tradition Peil, Angewandte Emblematik und Höpel, Emblem und Sinnbild.

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Wie in der Emblematik die Kombination von bildlicher und sprachlicher Darstellung den Betrachter zur Meditation einladen und damit der Vergegenwärtigung und Verinnerlichung der göttlichen Offenbarung dient, so stehen auch die zahllosen geistlichen Lieder, von Philipp Nicolai über Johann Heermann bis zu Paul Gerhardt, im Dienst einer solchen Meditationstechnik.129 Das geistliche Lied ist als solches Frömmigkeitspropaganda. Es steht im Dienst von Mission und Bekehrung. Es wird dort eingesetzt, wo die Theologie, die sich allein auf rationale Überzeugungstechniken stützt, nichts mehr hilft. Johann Rist, quantitativ einer der mächtigsten Protagonisten des geistlichen Liedes auf protestantischer Seite (zehn Bände mit ca. 650 Liedern),130 äußert in der Vorrede zu seinem Neuen musikalischen Seelenparadis (1660) den Plan, »die gantze Theologiam, oder die Lehre von Gott/ in lauter erbaulichen Liedern zu begreiffen«. (f. a8v) Den von ihm selbst vorgebrachten Einwand, dass »nach Herfürgebung so vieler hundert Gottseliger Lieder« man vielleicht schon jetzt »keiner anderen mehr bedürfte«, begegnet er mit einem Verweis auf den Zustand »unseres leider! nunmehr so jämmerlich verwühsteten Christenthumes«, das zu seiner »Aufrichtung« noch viel mehr Lieder nötig hätte. (f. b1v) Den »rechten Glauben« hätte man »in unserer Evangelischen Kirchen« wohl, allein es fehle »am christlichen Leben und Wandel«. (f. b2v) Diese Kritik richtet sich an die akademischen Theologen, denn ein solcher, »ob er gleich noch so christlich lebet/ vnd wenn er schon in heiliger Schrift/ wie auch in den Büchern der heiligen Altvätter noch so treflich ist erfahren/ wird heut zu Tage/ fast nirgends wofür geachtet/ dafern er nicht einen strenuum Disputatorem, das ist/ einen heftigen Zänker und eifrigen Katzbalger gibet.« Er zweifle aber, dass durch die »Zänkerei« der Theologen »auch nur eine einzige Christen Seele könne zum Himmel gebracht werden«. (f. b4r) Gott habe »an solchem Verketzern und Verdammen« kein Wohlgefallen. Die Bibel bezeuge, dass man die Kinder Gottes daran erkenne, dass sie »einander hertzlich lieben/ wie davon der theure Lehrer Herr Johann Arnds/ in seinen güldnen Büchern/ sehr geistreich und ausführlich hat geschrieben«. (f. b4r f.) Echte Bekehrung geschehe viel eher durch »ein einziges geistreiches und hertzdurchdringendes Lied/ als ein gantzes Fuder bitterer Streitschriften«. (f. b5v) Seine Lehr- und trostreichen Lieder stehen deshalb im Dienst der Vergegenwärtigung, Wiederholung und mnemotechnischen Einprägung des göttlichen Wortes. Ziel der Lieder sei es, den Leser die »durchdringende Gnade« des Heiligen Geistes schmecken und empfinden zu lassen. (f. c7r) Die Werke der akaZum Emblem als Gegenstand der Meditation bei Harsdörffer Banasch, Tunkelheit der Bilder. 129 Scheitler, Das geistliche Lied und Brecht, Geschichte des Pietismus, S. 188 – 194. 130 Zu Rist vgl. Krummacher, Lehr- und trostreiche Lieder, der dort auf die Vorrede des Seelenparadises hingewiesen hat. Ich folge seiner Argumentation.

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demischen Theologen seien dem »gemeinen Mann« »verdrießlich zu lesen/ oder zu hören«, ganz zu schweigen davon, dass er diese weder recht »fassen« noch »behalten« könne. (f. b2r) Seine »andächtigen Lieder« dagegen seien »viel leichter/ auch mit grösserer Lust« zu lesen und »auszuüben« als »die ungebundene Schwehre Texte« der Theologen. (f. b2r)

Physiologie der Erbauung Ziel der protestantischen Erbauungsliteratur ist, in den Worten von Johann Gerhard, die »geistliche Wiedergeburt des inwendigen Menschen«.131 Diese Wiedergeburt durch und aus dem Geist begreift Gerhard, der einige Jahre Medizin studiert hat, physiologisch, indem er sie als eine »Reinigung« der »LebensGeister« versteht, also der spiritus animales. Wie es das Ziel der diätetischen Medizin ist, die spiritus »von den unreinen Vermischungen der Kranckheiten« zu reinigen, so sei es das Ziel der Theologie als »practischer Wissenschaft«, nämlich Frömmigkeitsübung und Meditation, eine ›spirituelle‹ Reinigung zu bewirken und auf diese Art eine »geistliche Wiedergeburt« herbeizuführen. Die damit physiologisch begründete Analogie von Medizin und Theologie, von Sorge um das leibliche und um das geistliche Wohl des Menschen hat ihr Verbindungsglied in den menschlichen spiritus, die gleichzeitig materieller und geistiger, körperlicher und geistlicher Natur sind: »Dannenhero werden zur Reinigung der Lebens-Geister von den unreinen Vermischungen der Kranckheiten, welche Reinigung gleichsam eine Wiedergeburt ist, wiedergebohrne Cörper erfodert, das ist, kräftige Spiritus, welche geistliche Cörper zu nennen sind, wegen ihrer durchdringenden und färbenden Kraft: Aber nichts destoweniger sind sie auch cörperliche Geister.«132 Wie das Medikament die spiritus materiell reinigt, so reinigt der Heilige Geist die spiritus geistlich. Was die spiritus animales zu dieser Vermittlungsinstanz der göttlichen Gnade macht, ist einerseits ihr zwischen Materie und Geist schwankender Status, wie ihn Gerhard in der zitierten Stelle vermerkt, andererseits aber die Tatsache, dass die spiritus im menschlichen Körper sowohl als Träger der Wahrnehmungen wie der Gefühle fungieren. Daniel Sennert – gelegentlich heißt es, Gerhard habe bei ihm studiert – paraphrasiert in diesem Punkt nur die gängigen, aristotelischgalenischen Überzeugungen, wenn er die spiritus in seiner Epitome naturalis scientia (1618) als die »Werkzeuge der Sinne« (instrumenta sensuum) be131 Gerhard, Meditationes sacrae Bd. 2, S. 352. 132 Gerhard, Meditationes sacrae Bd. 2, S. 352, dazu der Kommentar von Steiger zur lateinischen Fassung Bd. 1, S. 16 f., wobei es sich allerdings nicht um paracelsistische Vorstellungen handelt.

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zeichnet. Sie seien so »fein«, dass sie schon fast als immateriell gelten könnten. (S. 553) Die spiritus empfangen die species aller äußeren Erscheinungen und transportieren diese über das Blut zum Herzen als dem Sitz der Affekte und über die Nervenbahnen zum Gehirn als dem Sitz des Verstandes. Wer einen Löwen auf sich zuspringen sieht, bekommt das Bild dieses Löwen über die spiritus an das Herz vermittelt, das dieses Bild durch »Zusammenziehung« (concentratio) der spiritus in den Affekt der Furcht und des Schreckens übersetzt.133 Bevor noch das Gehirn das von den spiritus übertragene Bild als »Löwe« identifiziert hat, setzt die affektive Reaktion des Schreckens und Weglaufens ein. Im Gehirn dagegen reproduzieren die spiritus die wahrgenommenen Bilder, Klänge und Empfindungen in den drei Vermögen des sensus communis, der phantasia und der memoria. Durch die Sinneseindrücke wird der spiritus im Gehirn so verteilt und angeordnet, dass Bilder oder Eindrücke der wahrgenommenen Objekte entstehen. Wer einen Gegenstand sieht oder ein Wort, das diesen Gegenstand bezeichnet, hört, sieht ihn in seinem Vorstellungsvermögen, indem die spiritus das entsprechende Bild formen. Für die Frömmigkeitsübung und Meditationspraxis ist dieses physiologische Modell insofern von Bedeutung, als sich durch die Vergegenwärtigung und Verinnerlichung des göttlichen Wortes die von Gerhard beschriebene »Reinigung« des menschlichen spiritus durch den göttlichen vollzieht. Je mehr man über das göttliche Wort meditiert, desto mehr reinigt und ›verklärt‹ man seine Seele, und zwar im physiologischen Sinne. Rist kann deshalb durch seine »trostreichen Lieder« den Trost der göttlichen Botschaft in die Seele vermitteln. Harsdörffers Hertzbewegliche Sonntagsandachten sind »hertzbeweglich« in diesem physiologischen Sinne, indem ihre Lektüre über die spiritus im Herzen Gefühle erregt. Je mehr man dagegen sein Vorstellungsvermögen mit weltlichen Bildern beschmutzt, je mehr man sich der »Eitelkeit« der Welt und ihren Affekten (Wollust, Gier, Ehrgeiz usw.) aussetzt, desto mehr beschmutzt und verunreinigt man auch seine Seele. Indem jede Wahrnehmung in der memoria gespeichert wird, bildet die menschliche Seele ein getreues Abbild des Lebens, das man geführt hat. Meditationspraxis als Frömmigkeitsübung bewirkt im physiologischen Sinne eine Reinigung der Seele, weil der menschliche Geist (spiritus animalis) durch den göttlichen Geist (spiritus sanctus) gereinigt wird. Spee gibt in seinem Güldenen Tugend-Buch eine allgemein verständliche Darstellung dieser physiologischen Seelenlehre mit dem Zweck, die Funktionsweise der Erbauungsliteratur zu erklären, wenn er dort den Weg der äußeren Bilder zu den inneren Sinnen beschreibt. (S. 450 ff.) Die darauf aufbauenden 133 Zum Herz als Sitz der durch concentratio oder expansio der spiritus ausgelösten Affekte Sennert, Epitome, S. 682. Ähnlich Melanchthon, vgl. oben S. 91.

Die Sprache des Herzens und die Sprache der Vernunft

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Meditationsübung besteht in einer gezielten Einprägung der biblischen Heilswahrheiten, aus der Spee wiederum folgert, dass, »weil solches gemähl nicht vergehet, sondern bleibet; so vergehet auch nicht auß deiner Seelen das lob Gottes, vnd so herrliche lobsprüch: sondern bleibet dises lob vnd dieser lobspruch iederzeit alda fein schön gestalltet: vnd muß also Gott der Herr nothwendig dises sein herrliches lob, vnd lobspruch in deiner Seelen allezeit ohn vnterlaß in ewigkeit vor seinen augen sehen vnd lesen.« (S. 456)

Die menschliche Seele ist »ein schöner Saal, voller göttlichen gemähl«, in denen »weil sie allezeit vor den augen Gottes bleiben müssen, Gott allezeit seine herrlichkeit in dir abgemahlet sehe, vnd also gelobet werde.« (S. 458) Während der »böse feind ein solche Seel fliehen« werde, werde Christus »gern drin wohnen«. (S. 460 f.) Spee weist auch darauf hin, dass die memoria alle Sinneseindrücke und Affekte, die man jemals wahrgenommen und empfunden hat, speichere. Ein eigentliches Vergessen gebe es deshalb nicht. Wenn man bestimmte Eindrücke nicht wiederfinden könne, liege das nicht daran, dass sie verschwunden sind, sondern daran, dass unsere Kräfte nicht ausreichten, diese Eindrücke wiederzufinden. (S. 452) Damit ist vor allem gesagt, dass Gott immer weiß, welchen Eindrücken wir unsere Seele ausgesetzt haben. Gott liest die menschliche Seele wie ein Buch. Auch in dieser Hinsicht sollte man sich vor Liebesgedichten und Trinkliedern hüten. Wenn Opitz, Fleming oder Hoffmannswaldau das nicht getan haben, ist dies Ausdruck eines weniger rigiden Glaubensverständnisses. Das besagt auf der anderen Seite nicht, dass Opitz sich die Wirkung seiner geistlichen Dichtung anders vorgestellt hätte als Gerhardt oder Spee. Als Ziel seines Lobgesangs Jesu Christi beschreibt auch Opitz den Prozess einer Konzentration des spiritus animalis durch und in der »andacht«: »Das thut des Menschen Geist/ wann er das Fleisch verlassen/ j Vnd gantz sein selber ist/ so hebt er an zu hassen j Was Fleisch vnd Blutt gefellt; lebt in dem Leibe zwar/ j Vnd wird vor andacht doch sein gleichsam nicht gewar. j Vor allem lest er nie die Augen der gedancken/ j Gleich wie die Lieber [Liebenden] thun/ von seinem Schöpffer wancken/ j Schawt vnverwandt jhn an. Dann wann schon vnser sinn j Vom Geist entzündet wird/ so sieht er nirgends hin j Als bloß nur auff den Geist: Wie Fewer alle sachen j Die es ergreiffen kann zu Fewer pflegt zu machen.« (Opitz: Lobgesang S. 135)

Der beste Dichter ist der, dessen Verse die Aufmerksamkeit so sehr fesseln, dass der Leser seinen eigenen Körper nicht mehr wahrnimmt, weil seine spiritus in seiner Vorstellungskraft konzentriert sind. Der menschliche Geist »verlässt« das »Fleisch«, indem er »vor andacht« seiner selbst »gleichsam nicht gewar« wird. Die »Augen der gedancken« werden auf den »Schöpffer« gerichtet, bis »vnser sinn j Vom Geist entzündet wird«, das heißt sich der Heilige Geist mit dem menschlichen Geist verbindet.

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»Psychagogik« ist für diesen Prozess keine Metapher, sondern die Seele wird, durch und in den spiritus, zur Betrachtung Gottes geführt. Wenn Gerhard davon spricht, dass das Ziel der Theologie als Frömmigkeitsübung die »geistliche Wiedergeburt« des Menschen ist, dann greift Opitz auch diesen Gedanken auf. Im Kommentar zum Lobgesang beschreibt er die durch die Andacht bewirkte ›Entrückung‹ des Geistes als eine Wiedergeburt des Lesers, der »mehr in dem ist den er liebet/ als in sich selber. Stirbet also in sich selber/ weil er aus liebe gegen seinem Schöpffer/ der die ware Liebe ist/ sein selbst vergißt; wird aber in demselben wieder lebendig/ wann er sich in jhm erkennet/ vnd nicht zweifelt/ das er wieder von jhm geliebet werde.« (S. 146) Ganz ähnliche Formulierungen finden sich bei Birken, der die »Dicht-fähigkeit« als eine »Feuer-Flut des himlischen Geistes« bezeichnet. Weil sie »vom Himmel einfließet«, solle sie auch »wieder gen Himmel steigen und Gott zu Ehren verwendet werden.« Birken bemüht dafür das Bild des Springbrunnens, dessen Wasser von oben herabfällt (der göttliche Geist) und dann durch »Röhren« (die Nervenbahnen des Dichters, durch die die spiritus transportiert werden) wieder nach oben geleitet werde: »Gleichwie aber das von oben abfallende Wasser/ wann es durch Röhren in ein Brunngefäß geleitet wird/ in demselben wieder empor und hervorspringet: also soll die DichtKunst/ weil sie vom Himmel einfließet/ wieder gen Himmel steigen und Gott zu Ehren verwendet werden.«134 Die Dichter könnten deshalb »himlische SpringBrunnen« genannt werden, wobei Birken das »Hinaufleiten« des Geistes als Andacht bezeichnet. Was »ohne Geist und Andacht« geschrieben wurde, könne auch die Andacht des Lesers nicht erregen, seinen Geist nicht »anfeuern«.135 Sowohl Opitz als auch Birken interpretieren im Kontext der zitierten Stellen die platonische Theorie des Enthusiasmus im Sinne dieser spiritus-Theorie, das heißt verstehen sie nicht als eine göttliche Entrückung des Dichters, sondern als eine spirituelle ›Begeisterung‹ im Sinne der Andacht. Die spezifische Aufgabe der Dichtung als Meditationsübung ist es, dem theologischen Lehrgehalt mit rhetorischen und poetischen Mitteln solche Anschaulichkeit und Kraft zu geben, dass die Andacht des Lesers überhaupt möglich wird. Nur wenn es dem Dichter gelingt, durch seine Verse den Geist des Lesers völlig in der Betrachtung Gottes zu versenken, hat er seinen Zweck erfüllt. »Das vornemste Ampt des Menschlichen gemüttes«, schreibt Opitz im Kommentar zu seinem Lobgesang Jesu Christi, sei es, »von allen Sterblichen sachen/ sonderlich den euserlichen sinnen« weggeführt und zur Betrachtung der

134 Birken, Rede-bind und Dicht-Kunst, Vorrede § 14, f. ):( ):( vr. 135 Birken, Rede-bind und Dicht-Kunst § 148, S. 191. Vgl. auch Vorrede § 25.

Zusammenfassung

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»vnsichtbaren/ als da sind die Weißheit/ Tugend/ bevor aber Gott selber« hingeführt zu werden. (Lobgesang S. 144) Vorbild dafür sind – wiederum analog zu Gerhards Vorrede zu den Meditationes sacrae – die Kirchenväter, die in ihren Geistreichen Lobgesängen vnd Liedern diese Andacht ermöglicht hätten. Diese Andacht als »betrachtung der vnsterblichen vnd Göttlichen sachen« sei »der richtigste Weg zu der vollkommenen Glückseligkeit in diesem Leben«, weil er uns »noch hier mit vnserem Schöpfer vereinigt/ vnd ausser den verwirrungen/ welchen das grösseste theil der Menschen sonst vnterworffen/ an den Ort da es jmmer helle vnd ohne Wolcken ist leitet«, das heißt uns von unseren weltlichen Affekten befreit. Das ist die »erbawung der Gottesfurcht«, als die Opitz im zweiten Kapitel der Poeterey die Aufgabe der Dichtung als einer »verborgenen Theologie« bestimmt hatte.

4.

Zusammenfassung

Opitz’ Begriff der »verborgenen Theologie« markiert am Beginn des Dreißigjährigen Krieges eine irenische Gesinnung, insofern die »verborgene« Theologie nicht die konfessionell zersplitterte, dogmatische Theologie der Konfessionen ist. In der »Verborgenheit« der Theologie beruht ihre Einheit, im Gegensatz zu der »offen« vorgetragenen, dogmatischen Theologie, die schon durch den Zwang zur abstrakt-begrifflichen Formulierung von Glaubensinhalten die Zersplitterung provoziert. Die Sprache und die Form der Dichtung, ihre Bildlichkeit im Gegensatz zur Begrifflichkeit der akademischen, dogmatischen Theologie lässt die Dichtung als priviligierte Form einer antiakademischen, undogmatischen Frömmigkeit erscheinen, wie sie im Begriff der »verborgenen Theologie« zum Ausdruck kommt. In diesem Punkt trifft sich der irenische Calvinismus mit der von Arndt ausgehenden, lutherischen Frömmigkeitsreform. Dieser Frömmigkeitsreform ging es an erster Stelle allerdings nicht um einen Irenismus, sondern um eine »echte«, innerliche, gelebte Frömmigkeit im Gegensatz zu einer abstrakten, auf die Vernunft beschränkten, dogmatischen Theologie, wie sie an den Universitäten praktiziert wurde. In der Opposition zu dieser akademischen Theologie treffen sich irenischer Calvinismus und lutherische Frömmigkeit Arndtscher Prägung. In beiden Fällen tritt die poetische Form als spezifische Anleitung zur Meditation und als Medium einer spirituellen Psychagogik in Gegensatz zu einer abstrakt begrifflich verfahrenden Theologie. Der für die Literaturgeschichte wichtige Unterschied zwischen dem lutherischen Spiritualismus Arndtscher Prägung auf der einen und dem Calvinismus oder liberalen Philippismus auf der anderen Seite ist die Tatsache, dass letztere

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nicht notwendig eine Ablehnung weltlicher Gedichte implizieren. Dieser Unterschied kommt bei Opitz im Petrarkismus, im Trinklied oder in der Verwendung antiker Götternamen zum Ausdruck, im Gegensatz zu Gryphius, Birken oder Greiffenberg. Signifikant sind auch die Unterschiede in der Rezeption des Corpus Hermeticum. Während Arndt dieses Corpus in der Oratio de antiqua philosophia im Sinne der spiritualistischen Tradition des »inneren Wortes« als Ausdruck einer unmittelbaren Anrede Gottes versteht, beruft sich Opitz mit Casaubon auf eine philologische Tradition, die sich durch ihren rationalistischen Zugriff in maximaler Distanz zum Spiritualismus befindet. Statt die unmittelbare Anrede Gottes in ihm zu vernehmen, wird das Corpus philologisch auf seine Entstehungszeit hin befragt. Die Entlarvung des Corpus Hermeticum als spätantike Fälschung widerlegt zwar nicht die Behauptung einer göttlichen Inspiration, konterkariert aber auf jeden Fall den ahistorischen, philologisch unkritischen Zugriff eines Arndt. Wenn Opitz im Kommentar zu seinem Lobgesang Vber den Frewdenreichen Geburtstag vnseres Herren vnd Heylandes Jesu Christi den Poimander zur Lektüre empfiehlt (S. 145), dann nicht, weil dieser Ausdruck eines »inneren Wortes« wäre, sondern weil er sich durch seine poetische Form auszeichnet. Das Corpus Hermeticum ist als spätantike Erbauungsliteratur eine Erscheinung, die den »Geistreichen Lobgesängen vnd Liedern« der Kirchenväter vergleichbar ist, die Opitz im gleichen Zug nennt. Anders als die konfessionelle Streittheologie seiner eigenen Zeit haben sich diese Kirchenväter nicht für dogmatisches Gezänk interessiert, sondern für das Seelenheil der Menschen. Deswegen haben sie Dialoge und Lieder geschrieben, und nicht akademische Abhandlungen.

VIII. Ausblick

Der Spiritualismus der Frühen Neuzeit, verstanden als Überzeugung von einer unmittelbaren, ›geistigen‹, spirituellen Gegenwart Gottes in dieser Welt, sei es im »inneren Wort« der Bibel oder als chemische Substanz, die sich bei der Schöpfung mit der Materie verband, steht in einem scharfen Kontrast zu dem sich in der Frühen Neuzeit etablierenden Naturalismus und Rationalismus. Dieser Naturalismus äußert sich in den entstehenden »Naturwissenschaften« in einem mechanistischen Begriff der Natur, im Gegensatz zu den Vorstellungen von einer göttlich belebten Natur im Spiritualismus. Methodisch äußert sich der Naturalismus als Rationalismus, das heißt als Überzeugung, dass die menschliche Vernunft, diszipliniert von der Logik als wissenschaftlicher Methodik, von sich aus genügt, die Welt zu erkennen. Dem Spiritualismus auf der anderen Seite entspricht dagegen oft (aber nicht immer) eine Ablehnung der Logik und ihrer Verfahrensweisen. Der menschlichen Vernunft wird das Vermögen abgesprochen, allein aus sich heraus zu den entscheidenden Wahrheiten vorzustoßen. Göttliche Inspiration, unmittelbare Offenbarungen aus der Betrachtung der Natur, magische und kabbalistische Techniken, alchemische Verfahren, Reinigungsrituale, spirituelle Praktiken wie ›Gelassenheit‹ oder innerweltliche Askese gelten als der rationalen Erkenntnis überlegen und als priviligierter Zugang zu Gott. In der Naturphilosophie können bestimmte Formen des radikalen Aristotelismus als das Extrem auf der einen Seite, der Paracelsismus als das Extrem auf der anderen Seite gelten. In der Religion steht eine akademische Theologie, die der menschlichen Vernunft schon als Institution immer eine gewissen Bedeutung zuerkennen muss, einer Frömmigkeit gegenüber, die sich in der Lebensführung selbst als einer praxis pietatis und nicht in einem rationalen Wissen äußert. Der ›wahre‹ Glaube zeigt sich im alltäglichen Leben, nicht in der Kenntnis dogmatischer Überzeugungen. Innerhalb der lutherischen Theologie etabliert sich mit Johann Arndt ein gemäßigter Spiritualismus, der gegen Ende des 17. Jahrhunderts in den Pietismus mündet. Außerhalb der Schultheologie äußert sich der Spiritualismus als Bewusstsein göttlicher Auserwähltheit und

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Ausblick

Inspiration, bis hin zu radikalen Formen wie Quirinus Kuhlmann oder den ›Inspirationsgemeinden‹. Innerhalb des Protestantismus sind damit zwei Optionen realisiert worden, die sich in letzter Instanz bis zu dem frühen, von der mittelalterlichen Mystik beeinflussten Luther einerseits und dem Humanisten und naturphilosophischen Aristoteliker Melanchthon andererseits zurückverfolgen lassen. Dessen erste Arbeit, noch bevor er 1518 nach Wittenberg berufen wurde, war ein Lehrbuch der Logik. Um 1600 führen diese dem Luthertum inhärierenden Spannungen zu den Schultraditionen der Gnesiolutheraner und der Philippisten, zu den Auseinandersetzungen zwischen dem philippistischen Helmstedt und den gnesiolutheranischen Universitäten von Wittenberg, Jena und Tübingen, zu den Konflikten zwischen dem Rationalismus eines Calixt und dem Spiritualismus eines Arndt. Sie führen aber auch zu dem Auseinanderdriften einer Chemie als Materialwissenschaft und einer Alchemie als spiritueller Praktik, zu einer Medizin als ›Physiologie‹ und Biochemie und einer Medizin als ›Psychotherapie‹. Um 1700 münden diese Gegensätze in die Auseinandersetzungen um den Pietismus, wobei sich der Naturalismus und Rationalismus jetzt als das konfiguriert, was die sogenannte »Aufklärung« bilden wird. Die gemeinsamen Wurzeln von Pietismus und »Aufklärung« können zunehmend weniger Einigkeit herstellen. 1721 hält der Philosophieprofessor Christian Wolff eine Rede Über die praktische Philosophie der Chinesen, die zu seiner Vertreibung aus Halle, der Hochburg des Pietismus, führt. Was Wolff in dieser Rede getan hatte, war der Versuch, anhand der chinesischen Philosophie des Konfuzius zu zeigen, dass man auch ohne die christliche Offenbarung, allein aufgrund der natürlichen Vernunft, zu guten politischen und moralischen Verhaltensformen finden könne. Aus moralischen Gründen – so der Umkehrschluss – war die christliche Offenbarung nicht notwendig. Allein auf der Grundlage der natürlichen Vernunft entwickelt Wolff auch seine »theologia naturalis« in Abgrenzung von der auf göttlicher Offenbarung beruhenden, christlichen »theologia revelata«. Wie Melanchthon zweihundert Jahre vor ihm betont Wolff die Unterlegenheit der natürlichen Vernunftwahrheiten gegenüber den Wahrheiten der geoffenbarten Religion. Das hindert ihn aber nicht daran – genauso wenig wie schon Melanchthon – ein Lehrbuch der Logik zu verfassen, mit dem der Vernunftgebrauch »in Erkenntnis der Wahrheit« eingeübt werden soll (Vernünftige Gedanken von den Kräften des menschlichen Verstandes und ihrem richtigen Gebrauche in Erkenntnis der Wahrheit, 1712). 1736, hundert Jahre nach Grotius’ De veritate christianae religionis, beginnt Reimarus mit seiner später von Lessing in Fragmenten veröffentlichten Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes. In dieser Apologie ver-

Ausblick

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teidigt er den Deismus als ›vernünftige Theologie‹ gegen die Angriffe der ›unvernünftigen‹ christlichen Theologie. In seinen Vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion (1754) entwirft Reimarus allein aufgrund von Vernunftschlüssen die Lehrsätze einer solchen ›vernünftigen‹ Theologie, die, weil sie ›vernünftig‹ ist, auch eine »natürliche Theologie« darstellt, im Gegensatz zu der ›unnatürlichen‹, weil auf einer angeblichen Offenbarung beruhenden, christlichen Theologie. Wie bei Melanchthon und Wolff steht im Mittelpunkt der theologischen Methode die Logik, die bei Reimarus Vernunftlehre (1756) heißt. Wie Casaubon ist Reimarus ein Philologe, nur dass sich der Rationalismus der Philologie jetzt nicht mehr gegen die angeblichen Träger einer außerbiblischen Offenbarung richtet, wie bei Casaubon, sondern gegen die Bibel selbst. Reimarus zeigt in seiner Apologie, dass es sich bei den fünf Büchern Mose unmöglich um eine göttliche Offenbarung handeln kann, genauso wenig wie Jesus der Sohn Gottes gewesen sein kann. Im kritischen Blick der Philologie enthüllt sich die Bibel als ein Gewebe von Lüge und Betrug. Die Widervernünftigkeit der biblischen Zeugnisse wird zu einem Argument gegen die christliche Religion. Wie später Lessing und Goethe unterscheidet Reimarus dabei zwischen der christlichen Religion und der Religion Christi. Die Religion Christi ist die Religion des Menschen Christus, wie sie par excellence in der Bergpredigt und dem Gebot der Nächstenliebe zum Ausdruck kommt. Sie ist im Kern mit der Religion der Vernunft identisch. Erst die Jünger Christi hätten in ihren Streben nach weltlicher Macht aus Christus den Sohn Gottes gemacht und so die christliche Religion auf einer Lüge begründet. Nathan der Weise kündigt sich an, und zwar nicht mit der Ringparabel, sondern mit seinem Glauben an die erlösende Kraft der menschlichen Vernunft. Diese Vernunft wendet sich gegen den ›blinden‹ Glauben der Enthusiastin Daja und des fanatischen, weil von der christlichen Offenbarung überzeugten Patriarchen. Der Glaube an eine unmittelbare Offenbarung Gottes unter Ausschaltung der Vernunft wird als Ursache von Intoleranz erkannt. Das elitäre Bewusstsein göttlicher Auserwähltheit führt zu Fanatismus und Fundamentalismus. Auf der anderen Seite, bei Nathan, steht der Glaube an den vernünftigen Gott der »natürlichen« Theologie, der das Böse nicht wollen kann, weil der Begriff Gottes es ausschließt. Mit diesem Optimismus behält Nathan erstaunlicherweise Recht. Die Offenbarung ist für Lessing nicht mehr die Bibel, sondern die Geschichte der Menschheit, in der sich die Offenbarung als ein Zu-Sich-Selbst-Kommen der Vernunft vollzieht. Dieser Glaube an die Erziehung des Menschengeschlechts als der heilsgeschichtlichen Veranstaltung eines vernünftigen Gottes ist die Religion der Aufklärung. Ihr erstes Gebot ist der Glaube an die menschliche Vernunft, die aus eigener Kraft allein aufgrund logisch schlussfolgernden Denkens erkennen kann, dass es einen Gott gibt. Weil dieser Gott – im Gegensatz zum biblischen

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Ausblick

Gott – gar nichts anderes als vernünftig sein kann, kann er für den Menschen nur das Beste gewollt haben. »Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.« (Kant: Was ist Aufklärung, 1784) Dieser Glaube an die menschliche Vernunft ist der blinde Fleck der »Aufklärung«. Dass es zu den Kernüberzeugungen der lutherischen Theologie mit ihrem »sola fide« und »sola gratia« gehört hatte, die Kräfte dieser Vernunft zu bestreiten, ist vergessen, nicht widerlegt. »Der neue Geist ist seiner selbst so sicher, daß er keiner Offenbarung mehr bedarf. Die Herrschaft der Vernunft – so autoritär wie nur je die Herrschaft der Schrift gewesen war – duldete keine anderen Autoritäten mehr neben sich.«1 Die Erkenntnis der Natur, die jetzt in der »Aufklärung« als autonome ›Naturwissenschaft‹ erscheint, steht mit ihrem Nachdruck auf einer methodischen, vernunftgeleiteten Erforschung der »natürlichen Ursachen« in der Tradition der aristotelischen Naturphilosophie. Mittelbar verweisen diese »natürlichen Ursachen« auf den Willen eines planenden Gottes, unmittelbar künden sie von der zweckhaften Ordnung der Natur, die als solche ihren eigenen Gesetzen gehorcht. Zu dieser melanchthonischen Tradition gehört etwa die Ausbildung einer anorganischen Chemie bei Andreas Libavius, die ›Schulmedizin‹ eines Daniel Sennert oder die Ausbildung einer mathematischen Astronomie in der Rezeption Johannes Keplers. Mit dieser rationalistischen Naturphilosophie ist der Gottesbegriff der Physikotheologen und Deisten des 18. Jahrhunderts unschwer zu vermitteln, denn als causae naturales können diese Ursachen auf einen Gott verweisen, der die Natur als einen vollkommenen Mechanismus konstruiert hat. Die Vollkommenheit der Natur zeugt von einem göttlichen Schöpfer, aber nicht, wie die lutherische Schöpfungstheologie, von der Gnade Gottes, die sich im Tod Christi offenbart. Während die lutherische Schöpfungstheologie an den Paracelsismus und Spiritualismus anschlussfähig ist, ist diese rationalistische Naturphilosophie im 18. Jahrhundert an den Deismus und die »natürliche Theologie« eines Reimarus anschlussfähig. Als Philosophie richtet sich diese Naturphilosophie nicht an das Herz des Gläubigen, sondern an die Vernunft. Ausdruck dieser Naturphilosophie ist deshalb nicht die Lyrik oder die Erbauungsliteratur, sondern die abstrahierende, logisch schlussfolgernd verfahrende Tätigkeit des Naturforschers. Diese kann allerdings durchaus poetische Formen annehmen, wie im 18. Jahrhundert das Beispiel von Barthold Heinrich Brockes zeigt. In der alten Tradition der Lehrdichtung setzt Brockes die Ergebnisse seiner Naturbeobachtung – auch dort, wo sie als logische Schlussfolgerungen auftreten – in Verse. Unmittelbarer Ausdruck von Ergriffenheit ist von dieser rational-logisch konstruierten Dichtung nur 1 Scholder, Ursprünge der Bibelkritik, S. 170.

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bedingt zu erwarten, genauso wie eine unmittelbare Ansprache Gottes im Erlebnis der Natur. Die Bewunderung des Betrachters für die göttliche Ordnung wird beschrieben, tritt aber nicht in der lyrischen Form selbst in Erscheinung, wie später bei Klopstock oder Goethe. Während die »Aufklärung« mit ihrer »natürlichen Theologie« den christlichen Glauben auf die Lehrsätze reduziert, die sich aus der Vernunft begründen lassen, etabliert sich mit dem Pietismus die gelebte Frömmigkeit als das Wesen der Religion. Luthers Verachtung der Vernunft als »kleine Hure« und »Braut des Satans« gehört zu den Grundüberzeugungen dieses Pietismus. Je mehr die Bibel durch die rationalistische Philologie der Aufklärung als Offenbarung desavouiert wird, desto überzeugender wird die Berufung auf die ›innere Stimme‹ Gottes im Herzen der Menschen. Frömmigkeit ist keine Tätigkeit der Vernunft, sondern ein ›inneres Lauschen‹ auf die Anrede Gottes. In der Meditation des biblischen Wortes muss die Vernunft als wesentliche Schwelle menschlicher Eitelkeit gerade ausgeschaltet werden, um in einem »Bußkampf« (wie der pietistische Terminus lautet) die Bekehrung zu ermöglichen. Religion ist Frömmigkeit und Frömmigkeit ist eine ›innere‹ Überzeugung, die als gelebter, praktizierter Glaube erkennbar ist. Theologie als rational-vernünftige Veranstaltung wird dagegen zu einer an den Universitäten betriebenen Randerscheinung dieser Frömmigkeit. Während der Spiritualismus in einer gemäßigten, an der Bibel orientierten Variante wesentlich an der Entstehung dieser Frömmigkeit beteiligt ist, trennt er sich in einer radikaleren Variante von den etablierten Formen christlicher Religion und wird als ›Esoterik‹, ›Mystik‹, ›Hermetismus‹, ›Spiritismus‹ oder ›Okkultismus‹ zu einer weiteren beherrschenden Religionsform der Moderne. Wenn die Erforschung dieser Tradition deren Bedeutung noch keineswegs gerecht wird, so deshalb, weil diese Spiritualismen nach wie vor nicht als ›echte‹ Religionsformen wahrgenommen werden, sondern nur als »Aberglaube« oder Sektenwesen. Magie, Kabbala und spirituelle Alchemie, die sich in der Frühen Neuzeit als legitime Formen christlicher Religiosität verstanden haben, sind mit der neuen Bestimmung der Religion als innerliche Frömmigkeit nicht mehr zu vereinbaren und werden aus dem Begriff der Religion hinausgedrängt. Für die Literaturgeschichte sind diese Entwicklungen bedeutsam, insofern sich im Pietismus die schon bei Arndt angelegte, mystisch-asketische Tendenz weiter verschärft und die »Frömmigkeit« in einen immer deutlicher werdenden Gegensatz zur Dichtung bringt. Die weltliche Dichtung wird verteufelt und die geistliche Dichtung immer stärkeren Restriktionen unterworfen. Ein spielerischer, literarischer Umgang mit lutherischen Überzeugungen, wie er Andreaes Rosenkreuzerschriften oder die Atalanta fugiens prägte, ist im 18. Jahrhundert nicht mehr möglich. Selbst die geistliche Dichtung, die über weite Strecken das Profil des 17. Jahrhunderts bestimmt hatte, wird im 18. Jahrhundert zu einem im

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Vergleich marginalen Phänomen. Als ›gelebte Frömmigkeit‹ hat der Pietismus für die Dichtung keine Verwendung mehr. Seine literaturgeschichtlich einflussreichste Metamorphose erlebt der Spiritualismus der Frühen Neuzeit innerhalb der sogenannten »Naturlyrik« und »Erlebnisdichtung«, wie sie in Wanderers Nachtlied ihren berühmtesten Ausdruck fand: »Über allen Gipfeln j Ist Ruh, j In allen Wipfeln j Spürest du j Kaum einen Hauch; j Die Vögelein schweigen im Walde. j Warte nur, bald j Ruhest du auch.« Wenn hier das Schweigen des Waldes dem ›lyrischen Ich‹ seine Zukunft verkündet, dann impliziert diese Zukunftsvorhersage erstens eine spirituelle Verbindung von Natur und Dichter und zweitens eine göttliche Qualität der Natur. Die spirituelle Verbindung von Natur und Dichter manifestiert sich in einer emotionalen Übereinstimmung, in der der Dichter empfänglich wird für die Schönheit der Natur, die sich in ihm und durch ihn ausspricht: »Schön ist, Mutter Natur, deiner Erfindung Pracht j Auf die Fluren verstreut, schöner ein froh Gesicht, j Das den großen Gedanken j Deiner Schöpfung noch Einmal denkt.« (Klopstock: Der Zürchersee, 1750) Fünfzig Jahre später verschärft die sogenannte Romantik diesen Gedanken einer Inspiration durch die Natur noch weiter, wenn es bei Friedrich von Hardenberg heißt: »Die Natur ist eine Aeolsharfe – Sie ist ein musikalisches Instrument – dessen Töne wieder Tasten höherer Sayten in uns sind.«2 In der Musik als unmittelbarer Ansprache und Aussprache des Gefühls im Gegensatz zur ›kalten Logik‹ als der Sprache des Verstandes wird die ›innere Anrede‹ Gottes, wie sie die Erbauungsliteratur und geistliche Dichtung des 17. Jahrhunderts geprägt hatte, in die »Ästhetik« des 18. Jahrhunderts überführt. Der Gegensatz von einer Sprache der Poesie und einer Sprache der Wissenschaft, von sinnlich-konkreter und abstrakt-begrifflicher Sprache wird in der entstehenden Disziplin der Ästhetik als Unterscheidung zwischen den »unteren« und den »höheren Seelenvermögen« kodifiziert. Zum konstituierenden Gattungsmerkmal der »Lyrik« – sei es als »Naturlyrik« oder »Erlebnislyrik« – gehört es, als unmittelbarer Ausdruck des Gefühls sich an die »unteren«, die sinnlichen Vermögen zu wenden. Lehrdichtung, die einfach nur abstrakt-logische Schlüsse in metrische Form bringt, ist damit keine »Lyrik«. In dieser neu entstehenden »Lyrik« wird nicht nur die Natur als solche, sondern die Natur als Göttliche hörbar. Deswegen erfährt das »lyrische Ich« von Goethes Nachtlied im Schweigen des Waldes seine Zukunft oder erlebt im Maifest das frühlingshafte Aufblühen der Natur als »Inspiration«, die Liebe zu preisen. Die ›innere‹ Ansprache der Natur steht an der Stelle, an der bei Arndt das »innere Wort« der Bibel stand. 2 Hardenberg, Das Allgemeine Brouillon, S. 452.

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»Weltseele, komm, uns zu durchdringen« schreibt Goethe in seinem pantheistischen Glaubensbekenntnis Eins und Alles und illustriert damit diese Transformation des Spiritualismus. Die seit Lessings Gespräch mit Jacobi berühmt-berüchtigte, spinozistische Formel des »hen kai pan«, eben des »Eins und Alles« verweist auf diesen Pantheismus, der nach der Überzeugung Heinrich Heines im 18. Jahrhundert »die Religion unserer größten Denker, unserer besten Künstler« und das »öffentliche Geheimniß« Deutschlands war.3 Damit ist sowohl anerkannt, dass das 18. Jahrhundert ein zutiefst religiöses Jahrhundert war, als auch, dass seine Religion nur noch zum Teil eine christliche war. In dem Begleitbrief, mit dem Goethe sein pantheistisches Glaubensbekenntnis an Riemer schickt, erklärt er die Dichtung zur eigentlichen Form dieser pantheistischen Religion: »Ich werde selbst fast des Glaubens, daß es der Dichtkunst vielleicht allein gelingen könne, solche Geheimnisse gewissermaßen auszudrücken, die in Prosa gewöhnlich absurd erscheinen, weil sie sich nur in Widersprüchen ausdrücken lassen, welche dem Menschenverstand nicht einwollen.«4 Die Sprache der Dichtung – und nicht die logische der Wissenschaft – ist der notwendige Ausdruck des Pantheismus, weil sich dieser als lebendige Frömmigkeit, und nicht als abstrakt-begriffliche Theologie formiert. Auch wenn Goethe das Christentum vehement ablehnt (als »Scheisding« bezeichnet er es gegenüber Herder),5 steht er mit der Überzeugung, dass die poetische Sprache der genuine Ausdruck religiöser Überzeugungen ist, in der Tradition der christlichen Erbauungsliteratur. Im Unterschied zum Deismus, für den Gott als eine Art oberster Ingenieur jenseits der Welt steht, identifiziert der Pantheismus die Natur mit Gott, so dass die Natur zu einer »Gott-Natur« (Goethe) wird.6 Das unterscheidet Goethes Pantheismus auch im 18. Jahrhundert von einer lutherischen Schöpfungstheologie, der zufolge Gott sich nur in der Natur verbirgt, keinesfalls aber mit dieser identisch ist. Von Jacobis lutherischen Auffassungen distanziert sich Goethe scharf.7 Diese Unterschiede zwischen lutherischer Schöpfungstheologie, Deismus und Pantheismus sind zwar auch religionshistorisch keineswegs marginal, in literarhistorischer Hinsicht aber schlicht fundamental. Weder von dem lutherischen Schöpfergott, noch von dem obersten Ingenieur des Deismus ist eine spezifisch poetische »Inspiration« zu erwarten. Die spirituell beseelte »GottNatur« dagegen ist als solche Inspiration, insofern die Natur selbst jeden Tag aufs 3 4 5 6 7

Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, S. 61. Goethe, Zwischen Weimar und Jena, S. 215 (Goethe an Riemer, 28. 10. 1821). Goethe, Von Frankfurt nach Weimar, S. 451 (Goethe an Herder, 12. 5. 1775). Goethe, Gedichte 1800 – 1832, S. 685 (»Im ernsten Beinhaus war’s«). Vgl. die Äußerung über Jacobi, Goethe, Tag- und Jahreshefte, S. 246.

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Neue als Offenbarung Gottes – und das heißt: als unmittelbare Ansprache Gottes – erlebt werden konnte. Der Sonnenaufgang ist die »urälteste herrlichste Offenbarung Gottes«, wie Herder schreibt. Er beglaubige jeden Morgen aufs Neue das »große Werk Gottes in der Natur.«8 Der mosaische Schöpfungsbericht ist für Herder nur ein poetischer Ausdruck dieser »urältesten Offenbarung« Gottes in der Natur, die Schriften des Hermes Trismegistus ein anderer. Was könnten dessen Schriften anderes sein, fragt Herder, »als Rede von der Natur und Schöpfung der Welt?«9 Ihr »Quell« ist »ein Fleck lebendiger Wahrheit«, »den Pegasus Huf bedecken könnte«, und das heißt: sie sind Dichtung. Als Poesie sind diese Schriften »eine Verkürzung auf dem Wege zur Wahrheit«, nämlich eine poetisch verschleierte, göttliche Offenbarung, nicht anders als der mosaische Schöpfungsbericht. Moses und Hermes gelten Herder als Dichter, und als Dichter waren sie Empfänger einer göttlichen Offenbarung, nicht anders als jedes Produkt des schöpferischen »Genies« jetzt als göttliche Offenbarung gilt. Im »Genie« offenbart sich die die göttliche Natur.

8 Herder, Älteste Urkunde des Menschengeschlechts, S. 239. 9 Herder, Älteste Urkunde des Menschengeschlechts, S. 323.

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