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German Pages 655 [656] Year 2022
Teresa Baier Germania-Allegorien in Heroiden und heroidenähnlicher Dichtung der Frühen Neuzeit (1529–ca. 1700)
Frühe Neuzeit
Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext Herausgegeben von Achim Aurnhammer, Joachim Hamm, Martin Mulsow, Wilhelm Kühlmann und Friedrich Vollhardt
Band 248
Teresa Baier
Germania-Allegorien in Heroiden und heroidenähnlicher Dichtung der Frühen Neuzeit (1529–ca. 1700)
Gedruckt mit Unterstützung der FONTE Stiftung zur Förderung des geisteswissenschaftlichen Nachwuchses.
Gefördert durch ein Herzog-Ernst-Stipendium der Fritz Thyssen Stiftung. D.30
ISBN 978-3-11-078865-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-078875-4 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-078879-2 ISSN 0934-5531 Library of Congress Control Number: 2022941354 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Integra Software Services Pvt. Ltd. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Vorbemerkung Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um eine überarbeitete und erweiterte Fassung meiner im Wintersemester 2018/2019 von der Philosophischen Fakultät der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main angenommenen Dissertation. Diese ist nun im Laufe der Jahre zu einem volumen longissimum angewachsen, das dennoch keine allzu harte Kost darstellen möge. Mein Dank gilt zunächst meinem Doktorvater Prof. Dr. Robert Seidel, einem vorzüglichen praeceptor litterarum renatarum, der mich immer gut beraten und motiviert und der zudem auch bei Bedarf Geduld bewiesen hat. Seine stets umgängliche Art und seine Fähigkeit, konstruktive Kritik immer klar und dabei freundlich zu äußern, kamen meinem Naturell auch in weniger guten Phasen entgegen. Ebenso danke ich Prof. Dr. Hans Bernsdorff, einem mir ebenfalls seit vielen Jahren vertrauten Dozenten, der als ausgewiesener arbiter elegiarum im latinistisch-gräzistischen Bereich das Zweitgutachten übernommen und die Arbeit mit gewohnt unbestechlichem Blick einer philologisch detaillierten Lektüre unterzogen hat. Beide Professoren haben mein Studium maßgeblich geprägt, und besonders gern denke ich an so manches von ihnen gemeinsam gehaltene interdisziplinäre Seminar zurück. Mein Dank gilt auch Prof. Dr. Stefan Tilg (Freiburg) für das Drittgutachten und Prof. Dr. Achim Aurnhammer (Freiburg), der mir äußerst zuvorkommend durch Rat und Tat den Weg geebnet hat, damit die vorliegende Arbeit in der Verlagsreihe Frühe Neuzeit erscheinen kann. Dies wäre freilich nicht möglich gewesen ohne das Placet von Prof. Dr. Wilhelm Kühlmann (Heidelberg). Gedankt sei auch Dr. Eva Locher, Dr. Dominika Herbst, Herrn Robert Forke, Herrn David Jüngst sowie dem gesamten Gremium der Herausgeber und Verlagsmitarbeiter. Einen anregenden Forschungsaufenthalt im Forschungszentrum Gotha ermöglichte mir das Herzog-Ernst-Stipendium der Fritz Thyssen-Stiftung. Die alten Drucke in der Bibliothek, die zahlreichen Vorträge, mehrere Tagungen sowie der tägliche Umgang mit anderen (Nachwuchs-)Wissenschaftlern boten ideale Bedingungen zum Arbeiten. Für einen Druckkostenzuschuss danken möchte ich Prof. Dr. Renate Kroll, Dr. Astrid Dröse und dem gesamten Gremium der Fonte-Stiftung. Einen diskret im Hintergrund wirkenden guten Geist hatte ich mit Oberstudienrat i. R. Georg Burkard (Homburg/Mandelbachtal), einem ebenso erfahrenen wie experimentierfreudigen Latinisten, der sich auf die heute eher seltene Kunst verstand, lateinische Poeme in deutsche Verse zu übertragen. In dieser Weise hatte er sich schon an Projekten von Prof. Dr. Robert Seidel und Prof. Dr. Wilhelm Kühlmann beteiligt. Auch mir kam diese seine Leidenschaft zugute. Zu einigen meiner besonders langen Texte hat er handschriftlich https://doi.org/10.1515/9783110788754-202
VI
Vorbemerkung
metrische Übertragungen verfasst, die m. E. den poetischen Ton sehr gut treffen, und sie mir zur Verfügung gestellt. In der vorliegenden Fassung sind diese durch eigene Prosa-Übertragungen ersetzt, dennoch haben sie mir angesichts der schieren Textmassen den Zugang erleichtert. Leider ist Herr Burkard mittlerweile verstorben. Eine dankbare Erwähnung verdient hier noch ein weiterer guter Geist aus früheren Jahren. So war es PD Dr. Freyr Roland Varwig, der Betreuer meiner Magisterarbeit, der mich erstmals mit Texten ganz abseits des akademischen Mainstreams vertraut gemacht und mich zum Betreten neuer, ja auch frühneuzeitlicher Pfade angeregt hat. Er nahm sich immer Zeit zur Diskussion von heute eher weniger bekannten Aspekten der Germanistik und ließ mich von seinen enormen philosophischen, literarhistorischen und – ich möchte fast sagen: ‚pan-philologischen‘– Kenntnissen profitieren. Einen nicht unwesentlichen Anteil am Gelingen des Projekts hat auch mein nun leider verstorbener bibliophiler Onkel Franz-Richard Cremer, der die Entstehung meiner Arbeit immer mit Interesse verfolgte und mir auch außer mehreren Goethe-Ausgaben so manches Buch schenkte, das mir in frühneuzeitlicher Hinsicht gute Dienste leistete. Meine Eltern haben meine Interessen und Neigungen immer in wunderbarer Weise unterstützt. Ich denke hier besonders an meinen Vater, der sich gefreut hätte, noch länger unter uns zu sein und die Früchte dieser jahrelangen Arbeit auch materialiter in Empfang nehmen zu können. Ohne Anregungen vonseiten meiner Mutter wäre mir bei dem einen oder anderen Thema vielleicht so manches Detail entgangen. So bleibt noch der technische Aspekt der Arbeit, dessen Herausforderungen oder Tücken keineswegs unterschätzt werden sollten. Hier haben mir Dr. Doris Baier und Dr. Gregor Baier in manchen lucubrationes Beistand contra diabolos electronicos geleistet. Quomodo eis recte gratias agam, nescio. Ähnlich wie so manche Heroinen der ovidischen oder humanistischen Poesie habe auch ich – unter ungleich komfortableren Bedingungen (Zephyro electro nico iuvante) – Briefe über den Ozean (Atlantik) geschickt und erhalten. Anders als bei jenen waren aber nicht querela und adhortatio die vorherrschenden Elemente, vielmehr war mir die Korrespondenz mit meinem Freund, dem gerade mit neulateinischer Literatur bestens vertrauten Dr. Miller Krause in Amerika eine Quelle der Inspiration und Freude. Zum Abschluss gilt mein Dank allen Freunden, Kommilitonen und Bekannten, die mir in Gesprächen Anregungen geliefert oder in irgendeiner Weise Anteil an meiner Arbeit genommen haben.
Inhalt Vorbemerkung
V 1
1
Einleitung
2 2.1
8 Voraussetzungen zur Entstehung der Germania-Heroide Genese eines nationalen Bewusstseins in Spätmittelalter und Humanismus 8 Deutschland als kompensatorisches ideelles Konstrukt 8 Translatio Imperii 11 Herausbildung des frühneuzeitlichen Nationsbegriffs 14 Herausbildung eines humanistischen Deutschlandbegriffs 19 Interessensgegensätze Habsburg-Frankreich-Reformation 24 Städte- und Landesallegorie, Romallegorie 28 Stadt- und Landesallegorie generell 28 Romallegorie: Beispiele aus Antike und Spätantike 31 Romallegorie: Beispiele aus dem Mittelalter 52 Romallegorie: Frühhumanismus, tagespolitische Anliegen 58 Roma/Italia-Konzepte als Wegbereiter der Germania-Heroide 62 Germania als allegorische Gestalt bis zum 17. Jahrhundert 64 Germanen und Germania aus römischer Perspektive 64 Germania und die Herrscher bis zu Maximilian I. 69 Humanismus: Aufträge von Mutter Germania 76 Germania und der Dreißigjährige Krieg 93 Der heroische Brief: ovidische und allegorische Heroidendichtung 101 Die Heroide als Textgattung 101 Weiterentwicklung der Heroide im Humanismus 109 Roma/Italia-Heroide 115
2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4 2.1.5 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.2.5 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4 2.4 2.4.1 2.4.2 2.4.3 3 3.1 3.1.1
3.1.2
Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen 16. Jahrhundert. Lateinische Texte 136 Georg Sabinus (1508–1560) 136 Germania ad Caesarem Ferdinandum (1529) 136 Ad Germaniam (1531) 168 Johannes Stigelius (1515–1562) 184 Germania ad Carolum (1541) 184 Germania ad Fridericum (1537) 222 Germania ad Philippum (1534) 250
136
VIII 3.1.3 3.1.4 3.1.5
3.1.6
3.1.7 3.1.8
3.1.9 3.1.10 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4
Inhalt
Michael Helding (Sidonius) (1506–1561) 278 Epistola Germaniae (1530) 278 Eustachius (Eustathius) von Knobelsdorff (1519–1571) 300 De bello Turcico elegia (1539) 300 Caspar Ursinus Velius (ca. 1490/1493–1539) 321 Querela Austriae, sive Epistola ad reliquam Germaniam (1531) 321 Paulus Rubigallus (ca. 1520–1577) 347 Querela Pannoniae ad Germaniam (1537) 347 Epistola Pannoniae ad Germaniam recens scripta (1545) 372 Sebastian Glaser (1520–1577) 393 Epistola Ecclesiae (1545) 393 Nikolaus Kistner (1529–1583) 413 Querela Germaniae Ad Principes et Status Imperij (nicht datiert) 413 Caspar Bruschius (1518–1557) 426 Querela afflictae Germaniae (1541) 426 Nikolaus Reusner (1545–1602) 445 Germania ad Maximilianum et Principes (1566) 445 17. Jahrhundert. Deutsche Texte 476 Paul Fleming (1609–1640) 476 Schreiben vertriebener Frau Germanien (1631) 476 Justus Georg Schottelius (1612–1676) 518 Lamentatio Germaniae Exspirantis (1640) 518 Hans Aßmann von Abschatz (1646–1699) 559 Alrunens Warnung an Deutschland (nicht datiert) 559 Christoph Friedrich Kiene (1655–nach 1721) 580 Die klagende Germanie (1680/1681) 580 592
4
Resümee
5
Nachbemerkung
601
Abkürzungsverzeichnis Literaturverzeichnis Personenregister
598
603 637
1 Einleitung Germania, ursprünglich eine aus dem Lateinischen stammende geographische Bezeichnung, hat im kulturellen Gedächtnis durch die Jahrhunderte hindurch einen Siegeszug angetreten als Allegorie. Das ästhetische Mittel der Allegorie, hier im Sinne von Prosopopoiie oder Personifikation gebraucht, basiert auf antiken und biblischen Traditionen der Veranschaulichung abstrakter Gegebenheiten.1 Das personifizierte Deutschland in weiblicher Gestalt, als triumphierende, mahnende oder bitterlich klagende Mutter und Königin, als selbst sprechende und handelnde oder apostrophierte Figur, begegnet gerade in Krisenzeiten häufig in der bildenden Kunst sowie in Literatur und Publizistik. Neben einer politisch-militärisch agitierenden Germania, die mit allen Mitteln der zeittypischen Rhetorik bedingungslose Loyalität einfordert und zur Abwehr gegen einen auswärtigen Aggressor aufruft – ein markantes Beispiel wäre Heinrich von Kleists 1811 gegen die napoleonische Besatzung verfasste Ode Germania an ihre Kinder –, begegnet auch eine passive, im doppelten Wortsinne leidende Heldin, welche von einer anderen Instanz Lob oder Tadel, Anklagen und/oder tröstlichen Zuspruch erfährt. Oftmals erscheint eine solche Deutschland/Germania-Gestalt als Büßerin, die zwar äußerlich durch fremde Gewalt zu Fall gebracht wurde, aber nur aufgrund ihrer eigenen Schwächen, Laster und Sünden überhaupt bezwungen werden konnte. Sie erleidet somit eine durchaus verdiente, aber auch derart harte Strafe, dass sie sowohl Abscheu als auch Mitleid erregt. Diese Darstellung basiert unverkennbar auf dem biblischen Modell eines von Gott verstoßenen Zion/Jerusalem, wie es insbesondere in den Klageliedern des Jeremia zum Ausdruck kommt, die mit folgendem Lamento einsetzen: Weh, wie einsam sitzt da/ die einst so volkreiche Stadt. Einer Witwe wurde gleich/ die Große unter den Völkern. Die Fürstin über die Länder/ ist zur Fron erniedrigt.2
Diese Trauerpsalmen, die in der evangelischen Kirchenmusik fortleben,3 inspirierten noch bis ins 20. Jahrhundert hinein namhafte deutsche Autoren, in ähnlicher Weise mit dem großen Sündenfall Deutschlands angesichts der beiden Weltkriege abzurechnen. So geht der vom Ersten Weltkrieg desillusionierte Publizist,
1 Zur Begriffsbestimmung vgl. das Kapitel dieser Arbeit 2.2.1. 2 Klgl 1, 1. 3 1663 vertonte sie Matthias Weck, ein Schüler von Heinrich Schütz, in seiner Kantate Wie liegt die Stadt so wüst. Am 31. März 1945, einem Karfreitag, verfasste der Dresdner Kreuzkantor Rudolf Mauersberger unter Rückgriff auf einzelne Verse seine Motette Wie liegt die Stadt so wüst als Klage über die kurz zurückliegende Zerstörung Dresdens. https://doi.org/10.1515/9783110788754-001
2
1 Einleitung
Pazifist und nachmalige Friedensnobelpreisträger Carl von Ossietzky in seinem Artikel Das werdende Deutschland. Ein Wort an alle Schwachmütigen (Dezember 1918) mit dem eklatanten Versagen von Politik und Gesellschaft ins Gericht und beschließt seinen flammenden Appell an die Leser mit einer Prosopopoiie: Heute ist Deutschland so sehr gedemütigt, daß ein anderer besserer Zustand beinahe wie eine Utopie erscheint. Deutschland, du darfst nicht mit Trauern in jüngste Vergangenheit blicken und einem Zustand schmerzlich nachwinken, der nichts war als gleißende und geschminkte Lüge. Stehst du auch heute im Reigen der Völker einsam und von allen verhöhnt, fast wie die Gattin ARMINS im Triumphzuge des römischen Siegers, glaube, daß du dich selbst erlösen kannst. Blicke nicht zurück. Die Gegenwart ist dein Kampffeld. Du brauchst nicht mit jämmerlich bußfertiger Miene einherzulaufen; nicht beten lehre dich die Not, sondern Denken und Handeln. Nicht trübe Gäste auf der dunklen Erde dürfen wir sein, sondern GOETHES „Stirb und werde“ wollen wir als freudiges Losungswort aufnehmen. Die große Not schafft große Abwehr. Die leidende, die mißhandelte und geknebelte Germania ist noch immer die Mutter der besten Generation gewesen!4
Die biblischen Tugenden der Bußfertigkeit und des Gottvertrauens will der Sozialist Ossietzky, prominentes Mitglied des atheistisch-progressiven Monistenbundes, durch kompromisslose Selbstbestimmung, Eigeninitiative und menschliche Tatkraft ersetzt sehen. Etwas pointiert gesagt: Goethes Wort verdrängt Gottes Wort. Im Rückgriff auf das Stilmittel der Prosopopoiie, hier der Anrede des personifizierten Landes, referiert der Autor auf das alttestamentarische Ethos und unterfüttert diese appellative Bezugnahme, indem er an patriotische Traditionen erinnert. Seine nur stichwortartigen Allusionen (Arminius-Mythos, Goethes Gedicht Selige Sehnsucht) zeigen, dass er die Vertrautheit seiner Leser mit den Inhalten klassischer (Schul-)Bildung voraussetzen konnte. Das Phänomen der unter Schuld und (Selbst-)Zerstörung leidenden Heimat beschäftigte mehrfach auch Bertolt Brecht. In Deutschland, du Blondes, Bleiches (1920) findet er drastische Bilder für Hungersnot, Massensterben und Profitgier, welche um ihre Zukunft besorgte junge Menschen zur Flucht nach Amerika veranlassen. Die größte Resonanz bezüglich der Deutschland-Thematik erzielte Brecht wohl mit O Deutschland, bleiche Mutter! von 1933.5 Zusammen mit anderen
4 Carl von Ossietzky: Das werdende Deutschland. Ein Wort an alle Schwachmütigen. In: Monatsblätter des Deutschen Monistenbundes. Ortsgruppe Hamburg. Februar 1919. Nachdruck in: Carl von Ossietzky: Der Anmarsch der neuen Reformation. Flugschriften des Deutschen Monistenbundes. Neue Folge 2. Hamburg 1919, S. 21–27, hier S. 27. 5 Vgl. dazu Christel Hartinger: Deutschland [O Deutschland, bleiche Mutter]. In: Jan Knopf (Hrsg.): Brecht-Handbuch. Bd. 2: Gedichte. Stuttgart / Weimar 2001, S. 237–239; Simon Karcher: Sachlichkeit und elegische Form. Die späte Lyrik von Gottfried Benn und Bertolt Brecht – ein Vergleich. Würzburg 2006 (Der neue Brecht 2), S. 64 ff., bes. S. 69–71.
1 Einleitung
3
Gedichten bildet es die Textgrundlage zu dem von Paul Dessau vertonten Oratorium Miserere (1947) und lieferte noch 1980 den Titel zu einem vielbeachteten Kriegsfilm von Helma Sanders-Brahms. O Deutschland, bleiche Mutter! Wie sitzest du besudelt Unter den Völkern. Unter den Befleckten Fällst du auf. […] O Deutschland, bleiche Mutter! Wie haben deine Söhne dich zugerichtet Daß du unter den Völkern sitzest Ein Gespött oder eine Furcht!6
In einem psalmähnlichen Text mit Anklängen an das erste Klagelied des Jeremia und an die Passion Christi beklagt und beschuldigt der Sprecher eine nicht näher charakterisierte „bleiche Mutter“, die ihre Söhne durch Hungersnot zum Brudermord veranlasse und durch ein unmenschliches Wirtschaftssystem zwar die Anerkennung brutaler Machthaber finde, sich jedoch den Spott und Hass der Nachbarvölker zuziehe. Brecht fasst hier in der Metapher vom Mord an dem nicht näher bezeichneten „Bruder“, Faschismus und Kapitalismus zu einem einzigen nationalen wie globalen Übel zusammen.7 Treffend charakterisiert Simon Karcher Brechts Darstellung der Beziehung zwischen Opfern und Tätern: Ausgehend von dieser Bezeichnung [Mutter] wird der nationalsozialistische Terror hier als „Familienkonflikt“ geschildert, in dem einige Söhne einen Brudermord an dem „ärmsten“, aber zugleich „besten“ Sohn begangen und dadurch der Mutter große Schande bereitet, sie „besudelt“ haben.8
Wie die Beispiele von Ossietzky und Brecht zeigen, lässt sich das Modell der Germania-Allegorie in unterschiedlichen historisch-politischen Kontexten als rhetorische Argumentationsfigur effektvoll einsetzen. Gerade die Nationalbewegungen des 19. Jahrhunderts führten zu einem äußerst produktiven Umgang mit (oftmals triumphal inszenierten) Landesallegorien – wie zahlreiche Denkmäler und bildhauerische Repräsentationen augenfällig zeigen. Die moderne Nationenund Nationalismus-Forschung berücksichtigt auch solche Länderallegorien der
6 Bertolt Brecht: Gesammelte Werke. Bd. 9: Gedichte 2. Frankfurt am Main 1967, S. 487 f. 7 Karcher, S. 70 f. 8 Ebd., S. 71.
4
1 Einleitung
Frühen Neuzeit, deutet sie jedoch lediglich als eine Art Vorgeschichte oder Vorstufe in einem kontinuierlichen Prozess. Dezidiert frühneuzeitliche Studien haben mittlerweile die patriotischen Konzepte dieser Länderallegorien bestimmt und sie mit der jeweiligen ästhetischen Repräsentation, Schreibart oder Gattung in Verbindung gebracht. Dieses Verdienst gebührt insbesondere Wilhelm Kühlmann, Georg Schmidt, Herfried Münkler, Caspar Hirschi und Alexander Schmidt. Wilhelm Kühlmann führt dem Leser anhand zahlreicher Beispiele die Vielfalt humanistischer Textgattungen vor Augen. Indem er einzelne Autoren in eigenen Abhandlungen eingehend würdigt, aber auch generell das Selbstverständnis und die didaktisch-moralischen Wirkungsabsichten der Humanisten herausstellt, kommt er u. a. auch auf das Phänomen einer Germania-Personifikation zu sprechen und erläutert es in seiner jeweiligen zeittypischen Repräsentationsform.9 Georg Schmidt,10 Herfried Münkler,11 Caspar Hirschi12 und Alexander Schmidt13 illustrieren aus historischer Perspektive ihre Ausführungen zur Genese eines deutschen „Nations“-Bewusstseins durch zahlreiche Beispiele derartiger Länderallegorien. Die Auseinandersetzung der Humanisten mit der Germania des Tacitus und deren daraus resultierende Germanenbegeisterung hat 2019 Robert Seidel anhand mehrerer prominenter Exempel demonstriert.14 Wie er zu Recht bemerkt, steht jedoch eine speziell der 9 Wilhelm Kühlmann: Reichspatriotismus und humanistische Dichtung. In: Wilhelm Kühlmann: Vom Humanismus zur Spätaufklärung. Ästhetische und kulturgeschichtliche Dimensionen der frühneuzeitlichen Lyrik und Verspublizistik in Deutschland. Hrsg. von Joachim Telle u. a. Tübingen 2006, S. 84–103, hier S. 101–103; Wilhelm Kühlmann: Lyrik im Zeitalter des Humanismus und der Reformation. In: Wilhelm Kühlmann: Vom Humanismus zur Spätaufklärung. Ästhetische und kulturgeschichtliche Dimensionen der frühneuzeitlichen Lyrik und Verspublizistik in Deutschland. Hrsg. von Joachim Telle u. a. Tübingen 2006, S. 1–30, hier S. 15. 10 Georg Schmidt: Geschichte des Alten Reiches. Staat und Nation in der Frühen Neuzeit 1495–1806. München 1999. 11 Herfried Münkler: Nation als politische Idee im frühneuzeitlichen Europa. In: Nation und Literatur im Europa der Frühen Neuzeit. Akten des ersten Internationalen Osnabrücker Kongresses der Frühen Neuzeit. Tübingen 1989 (Frühe Neuzeit 1), S. 56–86; Herfried Münkler: Die Nation als Modell politischer Ordnung. Vorüberlegungen zu einer wissenssoziologisch-ideengeschichtlich fundierten Theorie der Nation. In: Staatswissenschaften und Staatspraxis 5, Heft 3 (1994), S. 367–392. 12 Caspar Hirschi: Wettkampf der Nationen. Konstruktionen einer deutschen Ehrgemeinschaft an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit. Göttingen 2005. 13 Alexander Schmidt: Vaterlandsliebe und Religionskonflikt. Politische Diskurse im Alten Reich (1555–1648). Leiden / Boston 2007 (Studies in medieval and Reformation traditions 126). 14 Robert Seidel: Germania: Nationale Identität und transnationale Konstruktionen in lateinischen Texten deutscher Humanisten. In: Doerte Bischoff und Susanne Komfort-Hein (Hrsg.): Handbuch Literatur & Transnationalität. Berlin / Boston 2019 (Handbücher zur kulturwissenschaftlichen Philologie 7), S. 245–258.
1 Einleitung
5
Germania-Allegorie gewidmete systematische längere Untersuchung noch aus, wobei er in Flugblatt und Heroide die Medien mit dem ergiebigsten Material erkennt.15 An diesem Punkt soll die vorliegende Arbeit ansetzen. Gegenstand der Untersuchung ist die Interpretation von Germania-Allegorien in Heroidenbriefen und heroidenähnlicher Dichtung der Frühen Neuzeit.16 Der aus der Geschichtswissenschaft entlehnte Terminus Frühe Neuzeit umfasst nach aktueller Übereinkunft die Zeit vom Ende des 15. Jahrhunderts bis etwa 1750, formal gesprochen: Humanismus, Barock und Frühaufklärung. Das literarische Signum dieser Großepoche, die durch einschneidende Ereignisse wie die Erfindung des Buchdrucks, die Entdeckung Amerikas und den Beginn der Reformation das mittelalterliche Weltbild erschüttert und Mitte des 18. Jahrhunderts allmählich vom Gefühls- und Geniekult abgelöst wird, ist die Orientierung an den antiken produktionsästhetischen Kriterien imitatio und aemulatio.17 Die in der vorliegenden Arbeit zu behandelnden Texte umfassen den Zeitraum von ca. 1530 bis zum Ende des 17. Jahrhunderts. Unter einer Heroide versteht man einen versifizierten, fiktiven (Liebes- und Klage-)Brief aus der Feder einer mythischen, historischen oder allegorischen (Frauen-)Figur, in welchem ein dringliches Anliegen vorgetragen und sogar meist der Vorgang des Schreibens selbst in irgendeiner Weise thematisiert wird.18 Diese von Ovid begründete, von Humanisten und Barockdichtern ausgiebig bediente Textgattung stellt hohe Ansprüche an die klassische Bildung des Lesers, bietet ein intellektuelles Spiel mit bereits vertrauten literarischen Stoffen und kann daher als vorzügliches Beispiel für gelehrte Dichtung gelten. Seit den 1960er Jahren bis in die Gegenwart sind ihr herausragende Monographien und Aufsätze
15 Ebd., S. 254. 16 Erste als Handreichung für Studenten aufbereitete, eher knappe Einführungen in die Literatur dieser Epoche sind seit 2008 verfügbar: Kai Bremer: Literatur der Frühen Neuzeit. Reformation – Späthumanismus – Barock. Paderborn 2008; Andreas Keller: Frühe Neuzeit. Das rhetorische Zeitalter. Berlin 2008. Eine umfassendere Würdigung der Literatur dieser Epoche war bislang ein Desiderat. Eine solche bietet nun mit ausgewählten lateinischen und deutschenTexten, unterfüttert mit informativen Illustrationen, Achim Aurnhammer / Nicolas Detering: Deutsche Literatur der Frühen Neuzeit. Humanismus, Barock, Frühaufklärung. Tübingen 2019. 17 Aurnhammer / Detering, S. 17 f. 18 Eine ausführlichere Erläuterung erfolgt im Kapitel im Kapitel 2.4.1 dieser Arbeit.
6
1 Einleitung
gewidmet worden, zuerst von Heinrich Dörrie,19 innerhalb der letzten zehn Jahre von Carolin Ritter20 und Jost Eickmeyer.21 Unter Germania-Heroide – bislang kein gängiger Terminus – werden in dieser Arbeit solche von einer Germania-Figur verfasste Klagebriefe an einen oder mehrere Herrscher verstanden sowie ähnliche Briefe von einer historischen oder anderen allegorischen Gestalt (Austria, Pannonia, Ecclesia) an Germania. Zudem wurden in das Corpus für diese Arbeit Texte aufgenommen, die zwar nicht als Briefe gestaltet, solchen aber inhaltlich, meist auch metrisch, verwandt sind und eine ähnliche Klage- und Appellfunktion erfüllen. Diese oftmals in elegischer Form abgefassten Mahnrufe an Germania bzw. Deutschland/Teutschland – meist im Kontext von Ereignissen wie Türkenkrieg oder Reformation – werden hier daher als heroidenähnliche Dichtung bezeichnet. Die ausgewählten Texte stammen von deutschen Autoren der bürgerlichen Gelehrtenelite; diejenigen aus dem 16. Jahrhundert sind in lateinischer, diejenigen aus dem 17. Jahrhundert in deutscher Sprache abgefasst, so dass sich rein germanistische und latinistische Aufgaben überschneiden. Einige dieser Gedichte sind bereits durch Übersetzung und Kommentar erschlossen und liegen in modernen Editionen vor, andere hingegen sind bislang nur beiläufig oder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen worden. Manche wurden nachweislich als Einzeldrucke veröffentlicht und brachten ihrem Verfasser öffentliche Anerkennung und Ehrungen von hochgestellten Persönlichkeiten ein, einige nehmen schon im Titel deutlich Bezug auf bestimmte Ereignisse, andere begegnen dem Leser eher zufällig in Anthologien oder Gesamtausgaben bestimmter Autoren und lassen sich daher nicht immer exakt datieren oder kontextualisieren. Jedem Gedicht wird jeweils ein Kapitel gewidmet, welches mit einem Überblick über Biographie und Gesamtwerk des Autors und, falls möglich, über den Anlass seiner Entstehung beginnt. Das Ziel der Untersuchung besteht darin, die argumentative Funktion der Germania-Figur zu bestimmen und ihren Wandel vom 16. bis zum 17. Jahrhundert nachzuzeichnen. Dabei muss stets beachtet werden, dass der Deutschland19 Heinrich Dörrie: Der heroische Brief. Bestandsaufnahme, Geschichte, Kritik einer humanistisch-barocken Literaturgattung. Berlin 1968. 20 Carolin Ritter: Ovidius redivivus. Die „Epistulae Heroidum“ des Mark Alexander Boyd. Edition, Übersetzung und Kommentar der Briefe „Atalanta Meleagro“ (1), „Eurydice Orpheo“ (6), „Philomela Tereo“ (9), „Venus Adoni“ (15). Hildesheim u. a. 2010 (Noctes Neolatinae 13). 21 Jost Eickmeyer: Der jesuitische Heroidenbrief. Zur Christianisierung und Kontextualisierung einer antiken Gattung in der Frühen Neuzeit. Berlin u. a. 2012 (Frühe Neuzeit 162); Jost Eickmeyer: Domini iure venire iube! Das Modell der Ovidischen Heroides in der deutschen Literatur. In: Melanie Möller (Hrsg.): Gegen / Gewalt / Schreiben. De-Konstruktionen von Geschlechts- und Rollenbildern in der Ovid-Rezeption. Berlin / Boston 2021 (Philologus. Supplemente 13), S. 53–82.
1 Einleitung
7
Begriff zu jener Zeit kein ausschließlich politischer Terminus ist, dass er sich nur partiell mit dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation deckt und vielmehr ein Solidaritätsgefühl beschwört, das mehr ideell-präskriptiv als realistisch-deskriptiv ist. Die großen Herausforderungen für dieses Reich sowie für die gesamte europäische Christianitas bestehen in der Bedrohung durch die Osmanen, in der Reformation und nicht zuletzt in den daraus resultierenden, stets wechselnden Bündnissen und Allianzen interessengeleiteter Parteien. Immer wieder steht das Verhältnis der Reichsfürsten untereinander und zum Kaiser auf dem Prüfstand. In der Regel ist die kohäsive Absicht der Germania-Allegorie offenkundig: Die Heroine mahnt die jeweils adressierten politischen Entscheidungsträger zur Eintracht im Inneren und zur geschlossenen Abwehr des äußeren Feindes, also zum Türkenkrieg. Im 17. Jahrhundert wird die Osmanengefahr zeitweilig durch andere Schrecknisse abgelöst, nämlich durch den Dreißigjährigen Krieg und wenige Jahrzehnte später durch die aggressive Expansionspolitik Frankreichs unter Ludwig XIV. In dieser Arbeit sollen eingangs Beschaffenheit und die Entstehung des humanistischen Patria- und Germania-Konzeptes (Kapitel 2.1) untersucht werden, dann die Frage, was zunächst die Allegorisierung eines Landes (2.2–2.3), und zwar insbesondere die Heroidenform (2.4) zur Vermittlung bestimmter moralischer und (religions-)politischer Anliegen leisten kann. Daraus ergibt sich die Aufgabe, zunächst die Entstehung der Germania-Heroide über verschiedene Stationen nachzuvollziehen, danach in Einzelinterpretationen ihre argumentative Funktion herauszustellen.
2 Voraussetzungen zur Entstehung der Germania-Heroide 2.1 Genese eines nationalen Bewusstseins in Spätmittelalter und Humanismus 2.1.1 Deutschland als kompensatorisches ideelles Konstrukt Die heutige Bundesrepublik Deutschland stellt ein klar abgegrenztes mitteleuropäisches Territorium mit einheitlicher Gesetzgebung und einem zentralen Regierungssitz dar. Wie sehr aber eine solche Einheitlichkeit selbst im 18. und frühen 19. Jahrhundert noch Wunsch- (oder Schreck-)bild war, belegen nicht zuletzt zahlreiche Äußerungen Goethes.1 Die Vorstellung von einer deutschen Nation musste sich über Jahrhunderte als ideelles Konstrukt gelehrter Eliten behaupten, bevor an die politische Verwirklichung eines deutschen Staates zu denken war. Insofern haftet dem keineswegs seltenen Gebrauch des Namens „Deutschland“ in der Vormoderne mehr etwas Fakultatives als Faktisches an.2 Um Genese und Wandel des 1 Vgl. Siegfried Unseld (Hrsg.): Goethe, unser Zeitgenosse. Über Fremdes und Eigenes. Frankfurt am Main / Leipzig 1993, S. 65–82. 2 Aus der Fülle der Literatur seien hier nur einige besonders faszinierende Darstellungen hervorgehoben: in Form von Monographien Caspar Hirschi: Wettkampf der Nationen. Konstruktionen einer deutschen Ehrgemeinschaft an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit. Göttingen 2005; Christopher B. Krebs: Ein gefährliches Buch. Die „Germania“ des Tacitus und die Erfindung der Deutschen. Aus dem Englischen von Martin Pfeiffer. München 2012; Christopher B. Krebs: Negotiatio Germaniae. Tacitus’ Germania und Enea Silvio Piccolomini, Giannantonio Campano, Conrad Celtis und Heinrich Bebel. Göttingen 2005 (Hypomnemata 158); Alexander Schmidt: Vaterlandsliebe und Religionskonflikt. Politische Diskurse im Alten Reich (1555–1648). Leiden / Boston 2007; Georg Schmidt: Geschichte des Alten Reiches. Staat und Nation in der Frühen Neuzeit 1495–1806. München 1999; Barbara Stollberg-Rilinger: Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Vom Ende des Mittelalters bis 1806. München 2006; Helmut Neuhaus: Das Reich in der Frühen Neuzeit. 2. Auflage. München 2003 (Enzyklopädie deutscher Geschichte 42); in Form von Aufsätzen: Wilhelm Kühlmann: Der Poet und das Reich – Politische, kontextuelle und ästhetische Dimensionen der humanistischen Türkenlyrik in Deutschland. In: Bodo Guthmüller und Wilhelm Kühlmann (Hrsg.): Europa und die Türken in der Renaissance. Tübingen 2000 (Frühe Neuzeit 54), S. 193–227; Caspar Hirschi: Das humanistische Nationskonstrukt vor dem Hintergrund modernistischer Nationalismustheorien. In: Historisches Jahrbuch 122 (2002), S. 355–396; Ulrich Muhlack: Die Germania im deutschen Nationalbewußtsein vor dem 19. Jahrhundert. In: Herbert Jankuhn und Dieter Timpe (Hrsg.): Beiträge zum Verständnis der Germania des Tacitus. Teil I. Göttingen 1989 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen 175), S. 128–154; Max Wehrli: Der Nationalgedanke im deutschen und schweizerischen Humanismus. In: Fritz Wagner und Wolfgang Maaz (Hrsg.): Humanismus und Barock. Hildesheim 1993 (Spolia https://doi.org/10.1515/9783110788754-002
2.1.1 Deutschland als kompensatorisches ideelles Konstrukt
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Deutschland-Begriffes besser nachvollziehen zu können, empfiehlt es sich, Traditionsstränge zu isolieren und drei Phänomene zu skizzieren, welche als kollektive Solidaritätsangebote größere menschliche Gemeinschaften erfassten oder zumindest erfassen sollten: Dabei handelt es sich um Größen wie patria bzw. Vaterland, Reich bzw. imperium und natio bzw. Nation. Diese drei Kollektivbegriffe spielen im Zusammenhang mit (humanistischen) Deutschlandkonzepten durchweg eine bedeutende, bisweilen sogar dominante Rolle. Anders als man vermuten könnte, wurden patria und imperium in der Frühen Neuzeit weder synonym gebraucht noch direkt aufeinander bezogen. Patria – „ein partikularer Raumbegriff“ – konnte allerdings mit Germania oder „deutsch“ bzw. „teutsch (land)“ verknüpft werden. Um „Vaterland“ und „Reich“ miteinander zu verkoppeln, mussten sich die Humanisten des Nationsbegriffs bedienen.3 Der aus antiken Quellen gespeiste frühneuzeitliche patria-Begriff entzog sich einer eindeutigen Definition und bot vielfältige, einander nicht zwangsläufig ausschließende Deutungsmöglichkeiten.4 Er bezeichnete schon bei den Römern den individuellen Herkunftsort und die nähere regionale Umgebung (Dorf, Stadt, Provinz) eines jeden Menschen sowie die hierarchisch übergeordnete (und oftmals idealisierte) patria communis Rom. In einem räumlichen Sinne wurde er später auch angewandt auf italienische Stadtstaaten, deutsche Reichsstädte oder europäische Monarchien, in einem eher ideellen Sinne auch auf die (lateinische) Christenheit oder sogar in augustinisch-lutherischer Tradition auf die himmlische Heimat.5 Gelegentliche Befragungen von Untertanen im 16. und 17. Jahrhundert zeigen, dass gerade die einfachen Leute sich zunächst über ihre unmittelbare Umgebung, d. h. über ihren Heimat- und Herkunftsort, in Verbindung mit den dortigen Herren, definierten. Immerhin war in den meisten Gegenden „ein zumindest in Grundzügen bestehendes Wissen um die Existenz von Kaiser und Reich“ verbreitet.6 Jeder halbwegs mobile Mensch der Vormoderne (Student, Scholar, Kaufmann) verfügte hingegen über mehrere, allerdings klar hierarchisierte pat riae.7 Entscheidend ist die moralische Aufladung des Vaterlandsbegriffs, die mit Nachdruck propagierte Vorstellung von einer naturgegebenen Bindung eines Berolinensia), S. 133–151; Bettina Brandt: Germania und ihre Söhne. Repräsentationen von Nation, Geschlecht und Politik in der Moderne. Göttingen 2010 (Historische Semantik 10). 3 Hirschi: Wettkampf der Nationen, S. 43. 4 Ebd., S. 42 ff.; A. Schmidt: Vaterlandsliebe und Religionskonflikt, S. 12 ff. 5 Ebd.; Ernst Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters. Übersetzt von Walter Theimer. 2. Auflage. München 1994, S. 242 ff. 6 Ralf-Peter Fuchs: Kaiser und Reich im Spiegel von Untertanenbefragungen des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Stephan Wendehorst und Siegrid Westphal (Hrsg.): Lesebuch: Altes Reich. München 2006, S. 48–52, hier S. 49. 7 Hirschi: Wettkampf der Nationen, S. 42.
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2 Voraussetzungen zur Entstehung der Germania-Heroide
jeden an die jeweils höchstrangige patria, welche als quasi mütterliche Gestalt Dank und Ehren für sich beansprucht.8 Hier ließen sich Gewährsmänner wie Cicero, Thomas von Aquin, der in Paris wirkende Rechtsgelehrte Heinrich von Gent, Dante, aber auch generell die mit dem Römischen Recht befassten Juristen vernehmen.9 Mit Hinweis auf Cicero erläutert Alexander Schmidt: „Wichtigstes Modell für den amor patriae war aus naheliegenden Gründen immer wieder die Eltern-Kind-Beziehung. Eine der am häufigsten zitierten Umschreibungen bestimmte diese etwa mit Cicero als „ältestes und heiligstes Elternteil“.“10 Auch manche Autoritäten des Humanismus, welche die fides bzw. die pietas gegenüber den Eltern sogar am Beispiel wildlebender Tiere zum fundamentum omnium virtu tum erklärten, waren geneigt, für das Vaterland eine noch größere Loyalität als gegenüber den leiblichen Eltern zu beanspruchen.11 Die patria, so das Argument, habe jedem das Leben geschenkt, Rechtsschutz und Institutionen zur Erziehung bereitgestellt und dürfe deshalb für diesen Vorschuss an Wohltaten eine Vergeltung fordern, die im Extremfall den Einsatz des eigenen Lebens einschließe.12 In den westeuropäischen Monarchien, insbesondere in Frankreich, gelang es dem König, den Hochadel sogar realiter auf ein derartiges ideologisches Konzept zu verpflichten. In Zeiten größter Bedrängnis während des Hundertjährigen Krieges verwirklichten höfische Eliten bisweilen das Ideal der Selbstaufopferung.13 Eine Gefahr barg die Berufung auf den honor patriae insofern, als sich dadurch nahezu jegliche königliche Maßnahme legitimieren ließ.14 Neben diesem moralischen Vaterlandsdiskurs gilt der patria-Begriff für ein transnationales Gebilde, dessen (zumindest heutzutage) geläufigster Titel Disparates in sich vereint, nämlich das Heilige Römische Reich Deutscher Nation.15 Dieses Reich war ein heterogener Verband zahlreicher Territorialfürstentümer und Reichsstädte, der sich im Westen bis nach Frankreich (Lothringen und Burgund) und den Niederlanden, im Süden bis nach Ober- und Mittelitalien, im Norden bis
8 Kantorowicz: Die zwei Körper, S. 250 f. 9 Ebd., S. 251 ff. 10 A. Schmidt: Vaterlandsliebe und Religionskonflikt, S. 38. 11 Ebd., S. 39. 12 Ebd., S. 40 f. 13 Hirschi: Wettkampf der Nationen, S. 92; eine ausführliche Darstellung, beginnend mit Philipp IV. und einem besonders wirkmächtigen, anonym gebliebenen Prediger von 1302, der den französischen Königen eine schon angeborene, geblütsmäßige Heiligkeit zuerkannt wissen wollte, bei Kantorowicz: Die zwei Körper, bes. S. 257–266. 14 Hirschi: Wettkampf der Nationen, S. 88; Kantorowicz: Die zwei Körper, S. 264. 15 Eine exzellente Einführung, insbesondere, was Titel, Strukturen und (zum Teil befremdliche) Unterschiede zu modernen Staatsformen betrifft, bieten G. Schmidt: Geschichte des Alten Reiches und Stollberg-Rilinger: Das Heilige Römische Reich.
2.1.2 Translatio Imperii
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nach Ost- und Westpreußen und im Osten bis auf slawisches Gebiet erstreckte. Geographische und ethnische Grenzen waren nicht überall eindeutig festgelegt.16 Der Kaiser herrschte als Lehnsherr über Kurfürsten, Fürsten, Herzöge, Grafen, Herren und Städte, denen wiederum ein bestimmtes Territorium unterstand, das sie mit nie genau fixierter Teilsouveränität regierten. Die Herrschaft über das Reich beruhte auf einer äußerst komplexen Abstufung von persönlichen Treueverhältnissen zwischen einzelnen Herrschern und Untertanen. Eine einheitliche Verfassung gab es nicht, da die einzelnen Regionen und Bürgerschaften weitgehend an ihren traditionellen partikularen Rechten, Organisationen und Bräuchen festhielten.17 Erst im Verlaufe eines langen Prozesses formierte sich das transnationale Gebilde zu einem Reich, welches zunehmend mit dem Attribut „deutsch“ gekennzeichnet wurde. 1495 trug Maximilian I. mit einigen grundlegenden Maßnahmen zur Einheitsstiftung bei, indem er Reichsinstitutionen schuf, die bis 1806 in Kraft blieben, allerdings in der Regel nur die deutschen Reichsglieder betrafen. Gemeinsame Sprache, gemeinsame Institutionen und besonders die Verteidigung der eigenen Libertät, d. h. der ständischen Mitwirkungsrechte gegenüber einem ausländischen Kaiser, nämlich Karl V., bewirkten zu Beginn der Neuzeit die Herausbildung eines stärkeren politischen Solidaritätsgefühls.18
2.1.2 Translatio Imperii Das (angeblich) aus dem weströmischen Imperium hervorgegangene Kaisertum behauptete (ebenso wie das byzantinische) seine Legitimation durch die Pflicht zum Schutz der Kirche. Im 8. Jahrhundert gelang es den Karolingern, die den aktuellen Herausforderungen nicht mehr gewachsene Dynastie der Merowinger zu verdrängen und in Konkurrenz zu Byzanz zu treten. Durch erfolgreiche militärische Verteidigung des Papstes gegen auswärtige Feinde oder in der Nachbarschaft lebende Rivalen erwarben sich Pippin (714–768) und Karl der Große (742–814) den Anspruch auf besondere Auszeichnungen bis hin zur Salbung und Krönung durch päpstliche Hand. Indem sie sich auf die Priesterkönige des Alten Testaments bezogen, insbesondere auf David, propagierten sie eine enge Verbin-
16 Anton Schindling und Walter Ziegler: Das deutsche Kaisertum in der Neuzeit. In: Anton Schindling und Walter Ziegler (Hrsg.): Die Kaiser der Neuzeit 1519–1918. Heiliges Römisches Reich. Österreich, Deutschland. München 1990, S. 11–29, hier S. 19; Neuhaus, S. 3. 17 Stollberg-Rilinger: Das Heilige Römische Reich, S. 18, Neuhaus, S. 3 f. 18 Stollberg-Rilinger: Das Heilige Römische Reich, S. 12 f.
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2 Voraussetzungen zur Entstehung der Germania-Heroide
dung von regnum und sacerdotium.19 Die byzantinischen Kaiser, die ursprünglichen Schutzherren der römischen Kirche, büßten durch ihre unsichere Position im Kampf gegen Araber und Bulgaren sowie durch ihr Verbot der Bilderverehrung bis hin zum Ikonoklasmus zunehmend ihr Ansehen bei der Kurie ein. Hilfe erhoffte sich der Papst nun eher aus dem Westen und kündigte die traditionelle Zusammenarbeit der Kirche mit Byzanz allmählich zugunsten der Franken auf.20 795 erhielt Karl, zu diesem Zeitpunkt bereits dreifacher König, nämlich über Franken, Sachsen und Langobarden, von Papst Leo III. als Patricius Romanorum den Schlüssel zum Grab Petri wie auch das Banner Roms. Seine Krönung zum Römischen Kaiser an Weihnachten 800 schuf die endgültige Verbindung zwischen Rom und dem Frankenreich. In der Folgezeit vereinnahmte man die Person Karls vermehrt zur Konstruktion einer translatio imperii, indem man propagierte, dass Karl und die Karolinger durch päpstliche Übertragung das Reich von den Römern bzw. von den „oströmischen“ byzantinischen Griechen geerbt hätten.21 Seit im ausgehenden Mittelalter ein Interesse an nationalen Zugehörigkeiten aufgekommen war, entbrannte unter Gelehrten ein Streit, ob der fränkische Kaiser als Deutscher oder als Franzose anzusehen sei.22 Aus mehreren Gründen bot Karl eine ideale Projektionsfläche für Gründungsmythen einer deutschen Nation; durch zahlreiche missionarische und militärische Leistungen hatte er sich um die Verbreitung des christlichen Glaubens verdient gemacht und genoss selbst bei den Italienern, die ein Überlegenheitsgefühl gegenüber dem Norden zur Schau trugen, den Nimbus eines Kulturstifters und Förderers der antiken Künste.23 Fast durchweg profilierten sich die Humanisten durch ihren Stolz auf den deutschen Besitz des Imperiums und durch eine entsprechende ideologische Vereinnahmung des fränkischen Herrschers.24 Fast 200 Jahre nach Karl knüpfte Otto I. (912–973) an dessen Herrschaftskonzept an. Als er am 2. Februar 962 in Rom von
19 Hans K. Schulze: Vom Reich der Franken zum Land der Deutschen. Berlin 1987 (Das Reich und die Deutschen, Bd. 2), S. 94 ff. 20 Ebd., S. 102 ff.; Siegfried Epperlein: Karl der Große. Eine Biographie. Berlin 1972, S. 26 ff. 21 Grundsätzlich zum Gedanken der Translatio Imperii und seinen verschiedenen Ausformungen vgl. Werner Goez: Translatio Imperii. Ein Beitrag zur Geschichte des Geschichtsdenkens und der politischen Theorien im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Tübingen 1958. 22 Anhand des Beispiels des Juristen und Offizialen Lupold von Bebenburg im 14. Jahrhunderts vgl. Hirschi: Wettkampf der Nationen, S. 93 ff., bes. S. 96 ff.; anhand des Beispiels einer Auseinandersetzung zwischen Jacob Wimpfeling und Thomas Murner. 23 Hirschi: Wettkampf der Nationen, S. 315 ff. 24 „Dass das Kaisertum zu Recht und endgültig in deutschen Händen liege, wurde historischmeritokratisch bewiesen. Die translatio imperii sei den Taten Karls des Großen zu verdanken, und da Karl Deutscher sei, kämen seine Verdienste auf das deutsche Gemeinschaftskonto.“ Ebd., S. 270 f.
2.1.2 Translatio Imperii
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Papst Johannes XII. die Kaiserkrone empfing, nannte dieser Ottos Sieg über die Ungarn auf dem Lechfeld von 955 und die Bemühungen in der Slawenmission als legitimierende Gründe für die Verleihung dieser Würde. In späteren Jahrhunderten wurden die herausragenden Ereignisse der ottonischen Regierung sogar zu den angeblichen „Gründungsdaten“ des Heiligen Römischen Reiches gerechnet. Seit dem 10. und 11. Jahrhundert war das geistige Klima des Mittelalters nicht unwesentlich geprägt von den Konflikten zwischen Kaisertum und Papsttum, zwischen regnum/imperium und sacerdotium. Den päpstlichen Anspruch auf eine ihnen übergeordnete Autorität akzeptierten die Herrscher entweder als göttlichen Willen oder wiesen ihn als Anmaßung und Usurpation zurück. An der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert bekunden immerhin zwei der bedeutendsten mittelhochdeutschen Dichter etwas, was einem Nationalgefühl nahe kommt. Walther von der Vogelweide und Gottfried von Straßburg ergreifen in Konflikten zwischen Kaiser und Papst Position für ersteren. Insbesondere Walther25 bezichtigt die Kurie oder verallgemeinernd sogar die „Welschen“, die Deutschen unter dem Vorwand, einen Kreuzzug zu planen, ihres Geldes und Vermögens berauben zu wollen. Die eigenen Landsleute würden zusehends abmagern, während die Abgabeneintreiber auf ihre Kosten im Wohlstand schwelgten.26 Eine Schlüsselgestalt für die mittelalterliche Translationstheorie, insbesondere für das Konzept eines ausschließlich deutschen, von der päpstlichen Approbation unabhängigen Kaisertums ist Lupold von Bebenburg.27 Lupold (ca. 1300–1363), Jurist in den Diensten des Bischofs von Würzburg, später selbst Fürstbischof von 25 Ahî, wie kristenlîche nu der bâbest lachet,/ swanne er sînen Walhen seit „ich hânz alsô gema chet!/ daz er dâ seit, des solt er niemer hân gedâht./ er gihet, „ich hân zwêne Allamân under eine krône brâht,/ daz si daz rîche suln stoeren unde wasten./ ie dar under füllen wir die kasten./ ich hân si an mînen stoc gemennet, ir guot ist allez mîn,/ ir pfaffen, ezzent hüenr und trinkent wîn,/ unde lânt die tiutschen vasten.“ (Ei, wie christlich der Papst jetzt lacht,/ wenn er seinen Welschen sagt: „Wie hab’ ich das geschafft!“/ Was er da sagt, das hätte er nie denken dürfen./ Er sagt:“ Ich habe zwei Deutschen eine Krone gegeben,/ damit sie das Reich zerstören und verwüsten./ Indessen füllen wir die Kasten./ Ich habe sie zu meinem Opferstock getrieben, ihr ganzes Geld und Gut ist mein,/ ihr deutsches Silber wandert in meinen welschen Schatz./ Ihr Pfaffen, eßt Hühner und trinkt Wein/ und laßt die Deutschen fasten!“) Walther von der Vogelweide: Ahî, wie kristenlîche nu der bâbest lachet I: In: Deutsche Lyrik des Frühen und Hohen Mittelalters. Edition der Texte und Kommentare von Ingrid Kasten. Übersetzungen von Margherita Kuhn. Frankfurt am Main 2005 (Deutscher Klassiker Verlag 6), Nr. 204, S. 494 f. 26 Danielle Buschinger: Einige Bemerkungen zum Begriffsfeld „Nation“ im Mittelalter. Von der natio zur Nation. In: IABLIS-Jahrbuch für europäische Prozesse. Heidelberg 2005 Online-Ressource: (https://themen.iablis.de/2005/buschinger05.html), letzter Zugriff am 29. 05. 2022). 27 Hirschi: Wettkampf der Nationen, S. 93 ff.; Katharina Collberg: Art. Lupold von Bebenburg. In: Kurt Ruh u. a. (Hrsg.): Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Bd. 5. Zweite, völlig neu bearbeitete Auflage. Berlin / New York 1985, Sp. 1071–1078, hier Sp. 1075.
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2 Voraussetzungen zur Entstehung der Germania-Heroide
Bamberg, verfolgt mit seinem spätestens 1339 publizierten Tractatus de iuribus regni et imperii Romanorum ein Doppelziel.28 Nicht nur das Erb-, sondern auch das Wahlkönigtum führt er (indirekt) auf Bestimmungen Karls des Großen zurück.29 Nach dem Selbstverständnis der fränkischen Dynastie konnte einem römischen König oder Kaiser nichts Höheres zuteil werden als die Ehrentitel defensor oder advocatus ecclesiae, die seine Verdienste um die Kirche zum Ausdruck brachten und seinen Vorrang in derselben legitimierten.30 Somit musste es den Deutschen zum Hauptanliegen werden, den prestigeträchtigen Besitz des Imperiums um jeden Preis zu behaupten und die französischen Ansprüche abzuwehren. Als Kampfinstrument diente die Translationstheorie: Der Papst, ließ man verlautbaren, habe das Kaisertum von den (byzantinischen) Römern, den „Griechen“, direkt auf Karl und somit auf das Geschlecht der fränkischen Karolinger übertragen. Da allerdings auch die Franzosen Karl als Stammvater für sich in Anspruch nahmen, hing für Lupold alles davon ab, dass er dessen „Deutschtum“ beweisen konnte.31 Selbst für das leidige Problem, das sich aus der unbestreitbar gemeinsamen Abstammung der Deutschen und Franzosen von den Karolingern ergab, fand er eine raffinierte Lösung: Die (adligen) Deutschen seien die rechtmäßigen Söhne und Erben der aus trojanischem Geblüt hervorgegangenen Franken; die konkurrierenden (adligen) Franzosen hingegen seien mit gallischen Frauen gezeugte fränkisch-gallische Mischlinge und somit zwar immerhin francigenae, aber eben nur Bastarde. „Gallien“ dient in diesem Zusammenhang unverkennbar als negatives Gegenkonzept zu „Franken“.32
2.1.3 Herausbildung des frühneuzeitlichen Nationsbegriffs Bei Phänomenen wie Nation, Nationalität und Nationalismus sowie bei mit Nation gebildeten Komposita handelt es sich bekanntlich um schwer bestimmbare, schillernde und bisweilen irreführende Begriffe, die so manchen Bedeutungswandel durchliefen. Mit gutem Grund warnen die Historiker vor der Gefahr des Anachronismus, der unreflektierten Anwendung von typischen Kategorien des 19. Jahrhunderts auf kulturelle oder politische Erscheinungen der Vormoderne. Georg Schmidt erläutert:
28 Hirschi: Wettkampf der Nationen, S. 94. 29 Ebd., S. 94 f. 30 Ebd., S. 96. 31 Ebd., S. 97. 32 Ebd., S. 98, 103.
2.1.3 Herausbildung des frühneuzeitlichen Nationsbegriffs
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Eine Kurzdefinition könnte folgendermaßen lauten: Eine Großgruppe, die sich als Einheit versteht, eine eigene Tradition besitzt (oder zu besitzen glaubt) und zusammenbleiben will. […] Nationen sind fiktive und historische Zuordnungen, die durch Herrschaftsbildungen ausgelöst wurden und denen sich der Einzelne verpflichtet fühlt.33
Natio bzw. Nation diente zunächst als ein äußerst dehn- und wandelbarer Begriff im Zeichen einer Fremdwahrnehmung. Wo auch immer Menschen sich in größeren Einheiten zusammenfinden, besteht seit je her das Bedürfnis, eine klare Unterscheidung vorzunehmen zwischen Zugehörigen und Fremden. Bei den Griechen stellten Begriffe wie ethnos, bei den Römern Begriffe wie gens oder natio den Versuch dar, die Nichtgriechen bzw. Nichtrömer nach Kriterien wie Abstammung, Sprache oder Sitten zu erfassen – unabhängig von deren politischen Systemen. Da die Römer von der heilbringenden Wirkung ihrer Kultur und (angestrebten) Weltherrschaft überzeugt waren und die Trennung zwischen „eigen“ und „fremd“ mithilfe der Dichotomie Zivilisation – Barbarei ideologisch aufladen konnten, musste der natio-Begriff im Gegensatz zu populus Romanus verständlicherweise negativ konnotiert sein. Pejorative Attribute wie barbara, extera oder aliena brachten dies noch schärfer zum Ausdruck.34 Seit der Bibelübersetzung des Kirchenvaters Hieronymus im 4. Jahrhundert verschob sich die Polarität von Zivilisation und Barbarei allmählich zu derjenigen von Christentum und Heidentum. Da die Christen sich nun zunehmend als populus Christianus verstanden, blieben Kategorien wie gens oder natio denjenigen Menschen vorbehalten, die noch ohne Erkenntnis des wahren Glaubens weiterhin einem irdischen Gemeinschaftsgefühl verhaftet blieben. Gens (vgl. genus) bezog sich eher auf die verwandtschaftliche Bindung, natio (vgl. nasci) eher auf die Herkunft im räumlichen Sinne. In einem langen Prozess kristallisierte sich aus dieser Teilbedeutung von natio der moderne Nationsbegriff heraus.35 Diese Entwicklung beschleunigte sich im 12. und 13. Jahrhundert. An mittelalterlichen Universitäten organisierte sich die aus ganz Europa stammende Studentenschaft zum Zweck irgendeiner Art von Rechtsschutz je nach Herkunftsgebiet in vier nationes. Eine natio konnte dabei mehrere Länder und große Teile Europas umfassen.36 Als Beispiele für dieses Verfahren dienen in der Forschung vor allem die Hochschulen von Paris, Prag und Bologna. Die Zugehörigkeit zu einer natio war lediglich für die Scholaren von Interesse, und zwar ausschließlich zu dem Zwecke, den eigenen Fremdheitsstatus am Ort der Hochschule zu kompensieren. Obgleich die Studenten durch ein gut organisiertes Gemeinschaftsle33 G. Schmidt: Geschichte des Alten Reiches, S. 29 f. 34 Hirschi: Wettkampf der Nationen, S. 124. 35 Ebd. 36 Ebd., S. 125 ff.
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2 Voraussetzungen zur Entstehung der Germania-Heroide
ben innerhalb ihrer nationes ein gewisses Zusammengehörigkeitsgefühl entwickeln konnten, wäre es zu kurz gegriffen, darin die Vorstufe eines (modernen) Nationalismus zu sehen. Dies würde eine Überbewertung der rein pragmatischen und zeitlich begrenzten Funktion der natio bedeuten. Man hat in den universitären nationes Ansätze zur Bildung (moderner) Nationen erkennen wollen, da seit dem 15. Jahrhundert zusätzlich zu den geographischen Kriterien auch die sprachlichen an Bedeutung gewannen.37 Diese Verlagerung des Schwerpunkts ist nach Caspar Hirschi jedoch eher von situationsbedingten, taktischen Erwägungen als von einem prinzipiellen Wandel traditioneller Anschauungen bestimmt. Da in akademischen Angelegenheiten jede natio stimmberechtigt war, beschlossen die auf den Vorteil ihres Landes bedachten einheimischen Lehrkräfte, die Studenten des eigenen Landes in drei verschiedene nationes, die von außerhalb kommenden hingegen in einer einzigen zu organisieren.38 So musste sich in Böhmen seit 1409 eine einzige natio Theutonica gegenüber der in allen Kommissionen mit drei Stimmen ausgestatteten Bohemica behaupten.39 Der humanistische Nationsbegriff umfasste mehr als nur eine Bedeutung. Italienische Humanisten gebrauchten ihn nach wie vor abwertend für Heiden oder für Christen außerhalb Italiens.40 Auch der Umstand, dass man ihn im Zuge der europäischen Expansion auf die Ureinwohner überseeischer Kolonien anwandte, verstärkte den ihm inhärenten Aspekt der Barbarei.41 Immerhin gab es daneben aber auch kuriale Bestrebungen, natio mit pars Christianitatis gleichzusetzen.42 Ganz anders die deutschen Humanisten. Sie gebrauchten natio zur Fremd- und Selbstbezeichnung und verliehen ihm ebenso wie Engländer und Franzosen die Bedeutung eines kollektiven Ehrbegriffs.43 Ein gewisses Deutungsangebot blieb jedoch erhalten, da man nicht nur die Sprache, sondern bald mores, bald auch sanguis oder situs zu den wesentlichen Kriterien erhob.44 In Böhmen bildete sich ein Antagonismus zwischen deutsch- und tschechischsprachiger Bevölkerung heraus, der durch die soziale Ungleichheit verschärft wurde. Die zahlenmäßig größere tschechischsprachige Gemeinschaft versuchte, ihre Unterlegenheit gegenüber einer privilegierten deutschsprachigen Minorität moralisch und ideologisch zu kompensieren. Bemerkenswerterweise ordnete sogar der Adel im Kon-
37 Ebd., S. 127. 38 Ebd., S. 127 f. 39 Ebd., S. 128. 40 Ebd., S. 129. 41 Ebd., S. 130. 42 Ebd., S. 219 f. 43 Ebd., S. 130. 44 Ebd.
2.1.3 Herausbildung des frühneuzeitlichen Nationsbegriffs
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fliktfall die ständische Hierarchie der Loyalitätspflicht innerhalb einer Sprachgemeinschaft unter.45 Diese Welle der Nationalisierung wurde nicht zuletzt vom Klerus getragen. Lingua und sanguis dienten als maßgebliche Elemente eines stolzen Konzeptes „kollektiver genealogischer Reinheit“.46 Ab 1380 verschärften sich die sprachlichen Gegensätze. Die religiöse Reformbewegung der Prediger John Wyclif (1330–1384) und Jan Hus (1369–1415) löste „nationalisierende Sekundäreffekte“47 aus. Das Selbstverständnis der Böhmen speiste sich aus der ständeübergreifenden Teilhabe an einer sakralisierten natio Boemica.48 Dem von den Deutschen für sich propagierten fränkisch-trojanischen Stammbaum hielt Böhmen das Konstrukt der eigenen Abkunft von den Griechen entgegen. Der Idee einer Erbfeindschaft verpasste kein Geringerer als Hieronymus von Prag (1379– 1416) einen theologischen Unterbau, indem er das beliebte alttestamentarische Bild vom auserwählten Volk Gottes auf die eigenen Landsleute anwandte.49 Zum ersten Mal kreierte man durch die Kombination von Sprache, Blut, Land und Herrschaft eine Nation mit sakralem Charisma. Dieses Modell erfuhr zunächst nur eine geringe Breitenwirkung. Dann jedoch traten die Hussiten auf den Plan und wurden zu Wegbereitern der Reformation.50 Anders als in der Forschung gemeinhin angenommen, sind es laut Hirschi weniger die Universitäten als die Konzilien, welche die Nationsbildung beschleunigten.51 Im Spätmittelalter boten Konzilien eine einzigartige Gelegenheit zur Versammlung kultureller und politischer Eliten an einem Ort. Dort verfuhr man nach dem bereits an Universitäten bewährten Prinzip, die Teilnehmer in nationes zu organisieren.52 Die Anwesenden traten nun nicht mehr als Vertreter von Kirchenprovinzen auf, sondern als Mitglieder der geographisch vage festgelegten natio Gallicana, Anglicana, Italiana oder Germanica.53 Auf dem Konstanzer Konzil (1414–1418) kam es zu unschönen, von Eigennutz bestimmten Kontroversen über Funktion, Bedeutung und Kompetenz der natio nes. Selbst die übereinstimmend beschlossene Unterteilung in nationes princi pales und particulares bot keine befriedigende Lösung des Konflikts. Einzelne 45 Ebd., S. 130 f. Als Beispiel verweist Hirschi auf den aus niederem Adel stammenden Verfasser einer Reimchronik, der seinen König lieber mit einer tschechischen Bauerntochter als mit einer deutschen Prinzessin verheiratet sehen möchte. 46 Ebd., S. 131. 47 Ebd., S. 132. 48 Ebd. 49 Ebd., S. 133. 50 Ebd., S. 134. 51 Ebd., S. 134 f. 52 Ebd., S. 135. 53 Ebd.
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2 Voraussetzungen zur Entstehung der Germania-Heroide
Parteien stellten immer wieder Anträge und versuchten, der Allgemeinheit ihre eigenen willkürlichen Definitionen des natio-Begriffes aufzuzwingen, um die aus rivalisierenden Gruppen bestehenden nationes für ungültig erklären und ausschalten zu können.54 Als die nationes im Verlauf des Konzils zum Streitobjekt wurden, begünstigte ihre Bedeutungsvielfalt die Agonalisierung des Diskurses. Die Frage der Repräsentation wurde zum Problem. Standen die nationes für Teile der Christenheit jenseits politischer Grenzziehungen, standen sie für Königreiche und deren Häupter, standen sie nur für die Geistlichkeit eines Gebiets oder ganze Abstammungs- und Sprachgemeinschaften? Mit all diesen Konnotationen wurde gespielt, um der eigenen Konzilsnation Geltung, Einfluss und Ehre zu verschaffen. Das Konzept kollektiver Konkurrenz konnte sich im nationes-Diskurs etablieren, indem man es ideologisch verschleierte. Man verurteilte die nationalen Rivalitäten als Schaden an der Christenheit, um sie in ihrem Namen fortzuführen.55
Die nationes konkurrierten vor allem um die Besetzung des Papststuhls.56 Die deutsche Konzilsnation umfasst das Reich, Skandinavien, Polen, Litauen, Kroatien, Ungarn und Böhmen.57 Konstanz wurde zum ersten Schauplatz, auf welchem die Interessen der deutschen Konzilsnation, des politischen Reichsverbandes und der deutschen Bevölkerung offen zur Sprache kamen.58 Der italienische Klerus fand sich mit dem Vorwurf der unrechtmäßigen Selbstbereicherung auf Kosten der Deutschen konfrontiert, der wenig später als gravamen nationis Germanicae und als bevorzugtes Klagemotiv der Reformatoren und ihrer Anhänger in die Geschichte eingehen sollte.59 Auf dem Konzil vollzog sich somit eine Politisierung der ursprünglich zu rein kirchenorganisatorischen Zwecken unterteilten Gemeinschaften. Dies wurde schon äußerlich durch die Sprache kenntlich gemacht, indem man die eigene Körperschaft mit prestigeverheißenden Attributen schmückte. Bezeichnungen wie inclitus (bzw. seine deutschen Entsprechungen) betonten den Anspruch auf besondere Ehre von der Antike über die Franken des frühen Mittelalters bis ins 15. Jahrhundert.60 Diese – untrennbar an das eigene Königs- oder Kaiserreich gebundene – Ehre mit allen verfügbaren rhetorischen Mitteln zu beschwören und zu verteidigen, wurde von nun an zur Sache der herrschaftsnahen oder gelehrten Eliten.61
54 Ebd., S. 136 ff. 55 Ebd., S. 139. 56 Ebd. 57 Ebd., S. 140. 58 Ebd. 59 Ebd., S. 142. 60 Ebd. 61 Ebd., S. 143.
2.1.4 Herausbildung eines humanistischen Deutschlandbegriffs
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Innerhalb der deutschen Kirche wuchs die Unzufriedenheit mit der päpstlichen Politik und manifestierte sich in den gravamina nationis Germanicae. Die ursprüngliche Kritik an den unbefriedigenden Ergebnissen des Basler Konzils (1431–1448) formierte sich allmählich zu einem grundsätzlichen Protest gegen den Zugriff der Kurie auf deutsche Gelder und den (zumindest unterstellten) Missbrauch derselben. Wie man kolportierte, waren in Rom Korruption, Willkür, Ämter- und Ablasshandel, Nepotismus, Simonie sowie Luxus und sexuelle Ausschweifung an der Tagesordnung. Der Papst, so der immer populärer werdende Standardvorwurf, neide den Deutschen ihre ehrlich erworbenen Schätze und lasse unter frommen Vorwänden von seinen Predigern Geld eintreiben, um es zu verprassen. Dass man mit der verletzten Ehre der eigenen Nation argumentieren konnte, war dadurch möglich geworden, dass sich der Begriff der natio Germa nica allmählich von der (provisorisch konzipierten) Konzilsnation zum politisch geprägten deutschsprachigen Reichsverband verlagert hatte. In der öffentlichen Meinung kursierten negative Kollektivstereotype und verfestigten sich zu einem topischen Schmähkatalog, der nun pauschal alle Italiener treffen sollte. Die anfangs innerkirchlichen (bis heute latent nachwirkenden) Differenzen wurden zunehmend als deutsch-römischer bzw. deutsch-italienischer Antagonismus propagiert. Somit waren die Weichen gestellt für eine romkritische Entwicklung bis hin zur Reformation.62
2.1.4 Herausbildung eines humanistischen Deutschlandbegriffs Um die Mitte des 15. Jahrhunderts trafen folglich mehrere Faktoren aufeinander, welche sich zu einem argumentativen Komplex verdichteten und kaum unabhängig voneinander zu denken sind. Sie lassen sich schlagwortartig umreißen: gravamina der deutschen Nation – Türkenkrieg – Beschwörung Europas als christliche Solidargemeinschaft – und die Verklärung der eigenen Vergangenheit zu einem deutsch-germanischen Heldenmythos. Was in den westeuropäischen Monarchien längst im Gange war, vollzog sich nun allmählich auch auf deutschsprachigem Gebiet. Es erwuchs ein nationales Selbstverständnis, welches sich aus dem Besitz des Heiligen Römischen Reiches, aus dem Konstrukt eines germanischen Ersatzaltertums analog zum römisch-griechischen Altertum und aus der privilegierten Teilhabe an einem christlichen Europa speiste. Die äußeren Mächte, gegen welche es die (neuentdeckte) eigene Wesensart und Freiheit zu
62 Ebd., S. 143 ff.; Krebs: Negotiatio Germaniae, S. 111 f.; August Franzen: Kleine Kirchengeschichte, S. 244 ff.
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2 Voraussetzungen zur Entstehung der Germania-Heroide
behaupten galt, waren die römische Kurie und Italien, Spanien, Frankreich und die immer weiter nach Europa vordringenden Osmanen. Auf der einen Seite also die ständige Konkurrenz um eine politisch-kulturelle Vorrangstellung innerhalb der Christenheit nach dem Prinzip der Ehre, auf der anderen Seite der grundsätzliche Antagonismus mit dem fremden äußeren Feind, wo sich das Kreuz gegen den Halbmond, Christus gegen Mohammed positionierte. Eine revolutionäre Wirkung auf das Selbstverständnis der deutschen Humanisten hatte ein einziges Buch, nämlich die über Jahrhunderte vergessene kleine Monographie eines römischen Schriftstellers von 98 n. Chr. Die nahezu kriminalistisch anmutende Geschichte über die Wiederentdeckung, (Wieder-)Beschaffung und ideologische Verwertung der Germania (De origine, situ, moribus ac populis Germanorum) des Tacitus (ca. 55–ca. 120 n. Chr.) hat Christopher B. Krebs mit scharfem Blick für ihre positiven, negativen und bisweilen auch komischen Aspekte einem größeren Publikum nahegebracht,63 zahlreiche Aspekte der ideologischen Verwertung beleuchtet auch die exzellente Studie von Dieter Mertens.64 Seit 1425 standen an der Kurie beschäftigte italienische Humanisten mit deutschen Mönchen in Korrespondenz und verhandelten über einen von diesen in der Bibliothek des Klosters Hersfeld (oder in derjenigen des benachbarten Fulda) aufgefundenen Codex, der die sogenannten kleineren Schriften des Tacitus, d. h. Germania, Agricola, Dialogus de oratoribus enthielt. Nach vergeblichen Bemühungen seiner Vorgänger gelang es schließlich dem päpstlichen Sekretär Enoch von Ascoli, das Manuskript nach Rom zu holen, wo es seit 1455 dokumentarisch belegt ist. Wesentlicher Initiator der öffentlichen Auseinandersetzungen um Kurie und gravamina, Osmanengefahr, christliches Europa und germanisch-deutsche Nationsentwürfe war ein einziger Mann, dessen Name gleichwohl weder in den Germania-Heroiden noch in deren unmittelbarem Kontext jemals begegnet: der vielseitig ambitionierte italienische Humanist Enea Silvio Piccolomini (1405–1464), der nach einer glänzenden weltlichen Karriere als Sekretär und Diplomat am Kaiserhof erst spät in den Kirchendienst wechselte und 1458 unter dem Namen Pius II. sogar den Papststuhl bestieg. Seine Bedeutung sowohl für die Erfindung bzw. systematische Ausformulierung als auch für die breitenwirksame Proklamation wesentlicher christlich-humanistischer Ideen in Zeiten kriegerischer und
63 Krebs: Ein gefährliches Buch; Krebs: Negotiatio Germaniae. 64 Dieter Mertens: Die Instrumentalisierung der „Germania“ des Tacitus durch die deutschen Humanisten. In: Heinrich Beck u. a. (Hrsg.): Zur Geschichte der Gleichung „germanisch-deutsch“. Sprache und Namen, Geschichte und Institutionen. Berlin / New York (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 34), S. 37–101.
2.1.4 Herausbildung eines humanistischen Deutschlandbegriffs
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weltanschaulicher Umwälzungen Europas kann kaum überschätzt werden.65 Er beschwor als erster vor weltlichen und geistlichen Eliten das Ideal eines geeinten (vorrangig) christlichen Europas, er forderte am eindringlichsten eine große antiosmanische Allianz und ließ den alten Kreuzzugsgedanken wieder aufleben, er prägte in Bezug auf die territorial von außen bedrängte Christenheit die Formulierung vom angulus-Syndrom und in Bezug auf die besonders gefährdeten ost – bzw. ostmitteleuropäischen Länder vom antemurale-Syndrom. Ebenso erwies er sich wenige Jahre später vielleicht als erster Rezipient überhaupt, auf jeden Fall aber als erster produktiver ideologischer Rezipient der seit 1455 nachweislich in Rom verfügbaren Germania des Tacitus. Indem er als erster die Deutschen seiner Zeit zu direkten Abkömmlingen der von Tacitus beschriebenen Germanen erklärte und somit den Mythos einer ethnischen Kontinuität66 in die Welt setzte, für welchen Max Wehrli die zutreffende Formel vom „proton pseudos“67 geprägt hat, lieferte er den deutschen Humanisten das Fundament für ihre oftmals äußerst phantastischen Vaterlandskonstrukte. In all ihren (teils kuriosen) Facetten präsentiert werden diese in den faszinierenden Gesamtdarstellungen bei Caspar Hirschi68 und Christopher B. Krebs,69 letzterer bezeichnet diese als imagi nes Germaniae70 und liefert somit der Forschung einen ansprechenden Terminus. Die Eroberung Konstantinopels durch Mehmed II. am 29. Mai 1453 bedeutete den endgültigen Untergang des oströmischen Reiches und erschütterte die ganze Christenheit. Auf diese Schreckensnachricht reagierte Enea Silvio auf dem Frankfurter Reichstag am 15. Oktober 1454 mit einer formal an Ciceros Pro lege Manilia/ De imperio Cn. Pompei orientierten, gewöhnlich nach ihrem Incipit benannten Rede De Constantinopolitana clade, einem leidenschaftlichen programmatischen
65 Piccolominis Osmanenprojekt behandeln die exzellenten Aufsätze von Johannes Helmrath: Pius II. und die Türken. In: Bodo Guthmüller und Wilhelm Kühlmann (Hrsg.): Europa und die Türken in der Renaissance. Tübingen 2000 (Frühe Neuzeit 54), S. 79–137; Dieter Mertens: „Europa id est patria, domus propria, sedes nostra […]“. Funktionen und Überlieferungen lateinischer Türkenreden im 15. Jahrhundert. In: Franz Reiner Erkens (Hrsg.): Europa und die osmanische Expansion im ausgehenden Mittelalter. Berlin 1997 (Zeitschrift für historische Forschung 20), S. 39–58; ansonsten eingehende Würdigungen der Gestalt bei Krebs: Negotiatio Germaniae, S. 111–156; Krebs: Ein gefährliches Buch, S. 84 ff.; Hirschi: Wettkampf der Nationen, S. 145 ff., passim; Ulrich Muhlack: Die Germania, S. 140 f.; Wilhelm Kühlmann: Der Poet und das Reich, S. 194 f., 210. 66 Muhlack: Die Germania, S. 139; Stollberg-Rilinger: Das Heilige Römische Reich, S. 47; Bettina Brandt: Germania und ihre Söhne, S. 41. 67 Max Wehrli: Der Nationalgedanke, S. 136. 68 Hirschi: Wettkampf der Nationen. 69 Krebs: Negotiatio Germaniae; Krebs: Ein gefährliches Buch. 70 Krebs: Ebd., passim.
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2 Voraussetzungen zur Entstehung der Germania-Heroide
Aufruf zum Feldzug gegen die Osmanen im Auftrag des Kaisers Friedrich III.71 Aufgrund der innovativen rhetorischen Methode, welche antike und aktualisierte mittelalterliche Kriegslegitimationen kombiniert und in Form des von Cicero so virtuos gehandhabten genus deliberativum darbietet, darf der nachmalige Papst, damals noch kaiserlicher Gesandter und Bischof von Siena, als (Mit-)Begründer der humanistischen Türkenrede gelten. Unter akribischer Befolgung der drei maßgeblichen rhetorischen Kriterien iustitia/honestas, utilitas und facilitas, also Rechtmäßigkeit, Nützlichkeit und (leichte) Durchführbarkeit, propagierte er im naturrechtlichen Sinne das bellum iustum bzw. die Vaterlandsverteidigung sowie in theologischem Sinne den Kreuzzug, welcher den Gläubigen entweder die Rückeroberung heiliger Stätten oder den Märtyrertod und himmlischen Lohn garantiere.72 Vor allem bei den Deutschen warb er um rege Teilnahme. Als Inhaber des Kaisertums und Abkömmlinge großer Helden seien sie moralisch verpflichtet, aber auch würdig und fähig, im Kampf für die Christenheit eine führende Rolle einzunehmen. In diesem Zusammenhang ist sein zum System erhobenes enthusiastisches Lob der Tapferkeit deutscher Krieger zu verstehen. Diese das Frankfurter Publikum in den Bann schlagende Rede vermochte zwar nicht, die (stets untereinander rivalisierenden) europäischen Herrscher langfristig zu effizienteren politischen und militärischen Maßnahmen zu bewegen – der Autor, der auch später als Papst sein Türkenkriegsprojekt mit allen Kräften vorantrieb, verstarb 1464 in Ancona, als er bereits vom Alter geschwächt und hinfällig die Kreuzzugsflotte erwartete –, aber sie wurde als literarisches Meisterwerk bewundert, vielfach kopiert und gedruckt und avancierte sogar zur Schullektüre.73 Einen anderen Anlass, sich mit Deutschland und den Deutschen zu beschäftigen, lieferten dem wortgewaltigen Italiener wenige Jahre später die grava mina. Enea Silvio, der in kaiserlichen und päpstlichen Diensten insgesamt über zwanzig Jahre auf deutschsprachigem Boden verbrachte, wurde als Kardinal 1457 mit einem Beschwerdebrief aus der Kanzlei des Mainzer Erzbischofs konfrontiert. Seine Entgegnung auf die Klagen über die Kurie, welche Deutschland ungerechte Tribute und Abgaben auferlege, arbeitete er nachträglich zu einem langen, für die Öffentlichkeit bestimmten Traktat De ritu situ moribus et condicione Germaniae
71 Jetzt greifbar in einer textkritischen, kommentierten Edition von Johannes Helmrath in RTA 19, 2. Ältere Reihe. Nr. 16, S. 463–565. Eine ausführliche Analyse der Rede bei Mertens: Europa id est patria sowie bei Krebs: Negotiatio Germaniae, S. 127 ff. 72 Vgl. bes. die Einleitung zur Rede. RTA 19, 2. Nr. 16, S. 463 ff., 474 ff.; Helmrath: Pius II. und die Türken, S. 93 f. 73 Helmrath: Pius II. und die Türken, S. 94; Mertens: Europa, id est patria, S. 51: „Die lateinisch Gebildeten des späteren 15. und des früheren 16. Jahrhunderts mußten nicht, aber konnten Eneas Frankfurter Rede ohne Schwierigkeit kennen.“
2.1.4 Herausbildung eines humanistischen Deutschlandbegriffs
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aus, der meist ebenfalls unter dem Titel Germania geführt wird. Dieser enthält eine systematische, moralisch wertende Gegenüberstellung von einer barbarischen Germania vetus und einer durch die römische Kirche zivilisierten, herrlich erblühten Germania nova. Das Bemerkenswerte daran ist, dass Enea Silvio mit der negativen Zeichnung des einstigen Germaniens die wahrscheinlich früheste Kenntnis der taciteischen Schrift bekundet, wenn auch eine selektive und tendenziöse. Antike Autoritäten wie Caesar, Strabo und Tacitus sollen das Verhaftetsein der Germanen in finsterer Barbarei dokumentieren; mit diesem Schreckbild konstrastiert Enea Silvios positive Diagnose für das gegenwärtige Deutschland. Auch andere italienische Humanisten griffen nun zu ähnlichen Zwecken das Deutschlandthema auf. 1471 auf dem Großen Christentag in Regensburg, wo man wiederum um deutsche Hilfe für einen Türkenfeldzug warb, brillierte Giannantonio Campano, ein Vorzugsschüler Enea Silvios, mit seiner Rede In conventu Ratisponensi […]. Diese bekundete ebenfalls eine produktive ideologische Rezeption der taciteischen Germania, diesmal zugunsten der antiken Germanen, und hatte den größten Einfluss auf deutsche Humanisten der zweiten Generation; die laudes Germaniae waren aber wie auch bei Enea Silvio lediglich politischen Zwecken geschuldet; in empörendem Gegensatz dazu standen seine postum publizierten Briefe mit äußerst drastischen Schmähungen der Deutschen. So glaubte man, den Italiener der Doppelzüngigkeit und arglistigen Heuchelei überführt zu haben. In der Rede fokussiert dieser auf die notorische Uneinigkeit der deutschen Fürsten, die in scharfem Gegensatz zur vorbildlichen concordia der Germanen stehe.74 Mit Campano setzt die positive Rezeption der Germania ein.75 Christopher B. Krebs urteilt: Schließlich bietet Campano durch seine der piccolomineischen diametral entgegengesetzte Rezeption der taciteischen „Germania“ eine Alternative; viele der positiven Eigenschaften werden den deutschen Humanisten erst durch Campano vermittelt.76
Diese positiven, von den Italienern allerdings nur aus politischem Kalkül entworfenen imagines Germaniae wurden von den älteren deutschen Humanisten begeistert aufgegriffen und in ihrem Sinne weiterentwickelt. Die auf einer eher beiläufigen (und, wie mittlerweile erwiesen, topischen) Behauptung des Tacitus basierende Indigenitätstheorie77 löste zunehmend das Konstrukt von der trojanisch-fränkischen Abstammung der (adligen) Deutschen ab. Eine allmähliche 74 Krebs: Negotiatio Germaniae, S. 181 ff. 75 Ebd., S. 187. 76 Ebd., S. 189. 77 Vgl. Tac. Germ. 2: Ipsos Germanos indigenas crediderim minimeque aliarum gentium adventibus et hospitiis mixtos, […].
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Politisierung des Humanismus zeigt sich z. B. bei Konrad Celtis, Jakob Wimpfeling und Heinrich Bebel. 1515 erschienen die ersten Bücher der Annalen des Tacitus, welche von Arminius und seinen Unternehmungen handeln, zum ersten Mal auf dem Markt, 1520 publizierte Beatus Rhenanus den bis dahin unbekannten Velleius Paterculus. Selbst vertraut scheinende Autoren wie Caesar oder Florus wurden nun einer neuen, ideologisch motivierten Lektüre unterzogen, und zwar als ein auf die taciteische Germania zentriertes Textcorpus.78 Die daraus entnommenen, teils (willkürlich) miteinander verquickten und mit kühner Imagination weiterentwickelten Vorstellungen vom heroisch anmutenden Leben der (vermeintlichen) Vorfahren verdichteten sich zu einem Komplex,79 welchen Caspar Hirschi treffend als „germanisches Ersatzaltertum“80 charakterisiert.
2.1.5 Interessensgegensätze Habsburg-Frankreich-Reformation Einen weiteren Schub erhielt die Nationalisierung zum einen bekanntlich durch die Reformation, zum anderen aber durch ein mit deren Anfängen zeitlich koinzidierendes Ereignis, nämlich den Kampf um den vakanten Kaiserthron nach dem Tod Maximilians I. 1519. Karl (1500–1558), der bereits über Burgund und die Niederlande herrschende, gerade zum König von Spanien erhobene 19-jährige Enkel Maximilians, und der einige Jahre ältere Franz I. von Frankreich (1494–1547) traten als Wahlkandidaten gegeneinander an. Die Frage der Nationalität gewann dadurch, dass sie zum Wahlkriterium erhoben wurde, eine ungeahnte Brisanz. Der europäische Hochadel wurde zum ersten Mal mit der Forderung konfrontiert, seine eigene Abstammung nach nationalen statt wie bisher nach geblütsdynastischen (transnationalen) Kriterien zu definieren.81 So mussten sich der spanische und der französische König einen Wettkampf aufzwingen lassen, wer von ihnen der „Deutschere“ sei. Die Humanisten erkannten ihre große Chance auf politische Einflussnahme und taten sich auf diesem Gebiet als Rechtsberater und -gutachter, aber auch als Verfasser teils fiktionaler Textgattungen hervor.82 Im Rahmen einer großangelegten habsburgischen Wahlkampagne schreckte man vor keinem Mittel zurück, um Karls „Deutschtum“ zu beweisen.83 Als Kampfinstrument war schon
78 Muhlack: Die Germania, S. 136. 79 Ebd., S. 136. 80 HIrschi: Wettkampf der Nationen, S. 291. 81 Hirschi: Wettkampf der Nationen, S. 393; G. Schmidt: Geschichte des Alten Reiches, S. 53. 82 Hirschi: Wettkampf der Nationen, S. 393; G. Schmidt: Geschichte des Alten Reiches, S. 53. 83 Hirschi: Wettkampf der Nationen, S. 394; Alfred Kohler: Karl V. In: Anton Schindling und Walter Ziegler (Hrsg.): Die Kaiser der Neuzeit 1519–1918. Heiliges Römisches Reich, Österreich, Deutsch-
2.1.5 Interessensgegensätze Habsburg-Frankreich-Reformation
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zuvor der Begriff der „deutschen Freiheit“ oder „Libertät“ gebraucht worden. Als Garant dieser (stets von außen bedrohten) „deutschen Freiheit“ hatte bisher, unterstützt von humanistischer Propaganda, der Kaiser, nämlich Maximilian I., ein besonderes Prestige für sich beanspruchen können. Geschickt hatte er die Ängste vor dem Verlust derselben durch einen französischen König auf dem Kaiserthron geschürt und im Gegenzug versichert, seinem Enkel Karl als „Erzherzog von Österreich“ liege der Fortbestand eines Reiches deutscher Nation am Herzen.84 Die Verteidigung des (habsburgischen) Anspruchs auf den Kaiserthron gegen den französischen Erbfeind wurde zur Sache der nationalen Ehre erklärt und gewann derart an Bedeutung, dass sich selbst die nähere Umgebung Karls von dieser Eigendynamik überrascht zeigte.85 Maximilians aufwendige Selbstinszenierung und die von den Humanisten im habsburgischen Interesse mit Bildern und Flugschriften betriebene Propaganda entfalteten nicht nur auf den Reichsadel, sondern selbst auf die (reichs-) städtische Bevölkerung bis hinunter zum „gemeinen Mann“ eine derartige Wirkung, dass die Kurfürsten für den Fall, dass ein Ausländer siege, einen Aufruhr befürchten mussten.86 Dieses Unheil aber blieb Land und Leuten erspart, denn der Wettkampf endete zugunsten des Habsburgers, der am 23. Oktober 1520 im Dom zu Aachen zum Römischen König (und somit de facto zum Kaiser) gekrönt wurde.87 Kurz nach dessen Wahl richteten sich alle Hoffnungen im Reich auf den persönlich noch unbekannten Karl, doch folgte bald die Desillusionierung.88 Karl bekundete zum einen demonstrativ seine Treue zur römischen Kirche, zum anderen zeigte er wenig Interesse, den Reichsverband kennenzulernen, und blieb nach dem Reichstag von Worms 1521 für mehrere Jahre abwesend. Wer erwartet hatte, der junge Kaiser werde die deutsche Nation zu neuem Glanz erheben, musste früher oder später erkennen, dass dieser ein vollkommen anderes und viel ehrgeizigeres Ziel verfolgte, nämlich nichts Geringeres als die Errichtung einer Monarchia univer salis, der kaiserlichen Oberherrschaft über alle christlichen Territorien, selbst über die europäischen Könige und den Papst.89 Der darauf folgende Dauerkonflikt zwischen Karl und seinen deutschen Eliten wurde ausgetragen im Zeichen mehrerer Gegensätze: von altem (römischem) versus neuen („gereinigten“) Glauben,
land. München 1990, S. 33–54, hier S. 35 f. Karl, damals der deutschen Sprache nur bedingt mächtig, musste eigenhändig deutsche Schreiben an die Kurfürsten abmalen und versenden. 84 Ebd., S. 390 f. 85 Ebd., S. 396. 86 Ebd., S. 399 f.; selbst ein englischer Gesandter soll für diesen Fall die Kriegsbereitschaft seines eigenen Volkes in Aussicht gestellt haben. G. Schmidt: Geschichte des Alten Reiches, S. 53. 87 Kohler: Karl V., S. 37. 88 Hirschi: Wettkampf der Nationen, S. 399; Kohler: Karl V., S. 36. 89 Hirschi: Wettkampf der Nationen., S. 402 f.
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2 Voraussetzungen zur Entstehung der Germania-Heroide
Monarchia universalis90 versus „Deutsche“ oder „Teutsche Libertät“ bzw. zwischen „Teutscher Libertät“ und „Spanischer Servitut“. In der Zwischenzeit hatte noch ein anderer Mann von sich reden gemacht, der zu großen religionspolitischen Hoffnungen Anlass gab, nämlich ein energisch gegen die (zumindest allerorts kolportierten) römischen Missstände streitender Augustinermönch aus Wittenberg. Bis heute erscheinen Karl V. und Martin Luther (1483–1546) in geradezu theatralischer Manier als die beiden großen Antagonisten auf dem Wormser Reichstag von 1521.91 Trotz aller Unterschiede zwischen diesen beiden Gestalten sollte man eines nicht übersehen: Jeder von beiden war mit dem gegenwärtigen Zustand der Kirche unzufrieden, jeder wollte sie auf seine Weise reinigen und erneuern, jeder wurde anfangs von interessierten Kreisen zum „Nationalhelden wider Willen“ stilisiert. Selbst Luther hegte eine Zeit lang die Illusion, Karl für die Etablierung einer deutschen Nationalkirche gewinnen zu können. In kaum zu überschätzender Weise profitierte der Reformator von den besonderen Zeitumständen als auch von produktiven Missverständnissen. Anfangs erschien er allen eher als ein Vollender denn als ein Neuerer; er vollendete – je nach Sichtweise – entweder die berechtigten Anliegen der Papstkritiker oder die häretischen Bestrebungen der Hussiten.92 Da Luther mit seinen direkten theologischen Vorstößen zunächst scheiterte (Verurteilung im Ketzerprozess, Bannandrohung, Bann), erkannte er die Notwendigkeit, seine kirchlichen Projekte unabhängig von der römischen Kurie, dann sogar im offenen Widerstand gegen diese durchzusetzen. Dabei kam ihm in selten dagewesener Weise der Zeitgeist zugute; er konnte sich den bezüglich der gravamina bestehenden Konsens in Deutschland zunutze machen und in bereits laut ertönende Klagen einstimmen.93 So ergab sich eine glückliche Wechselwirkung: Die – aus den unterschiedlichsten Motiven – kirchenkritischen Kreise begünstigten Luther, und dieser verlieh (tatsächlich oder vermeintlich) ihren Forderungen Nachdruck und theologisch begründete Legitimität. Der Reformator erkannte das Potential, das in dem vielseitig einsetzbaren Freiheits- oder Libertätsbegriff94 lag. Dies brachte er bereits 1517 – im Jahr der (heute in ihrer Historizität umstrittenen) Thesenanschläge – zum Ausdruck, als
90 Zu diesem Herrschaftskonzept vgl. Franz Bosbach: Monarchia universalis. Ein politischer Leitbegriff der frühen Neuzeit. Göttingen 1988 (Schriftenreihe der Historischen Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 32). 91 Vgl. Ferdinand Seibt: Karl V. Der Kaiser und die Reformation. Berlin 1990, S. 68–80. 92 Hirschi: Wettkampf der Nationen, S. 413. 93 Ebd.; G. Schmidt: Geschichte des Alten Reiches, S. 56 f. 94 Diesem Begriff mit all seinen Implikationen widmen jeweils G. Schmidt: Geschichte des Alten Reiches, S. 92–99 und Hirschi: Wettkampf der Nationen, S. 389–393 ein ganzes Kapitel.
2.1.5 Interessensgegensätze Habsburg-Frankreich-Reformation
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er seinen bis dato geführten Namen „Luder“ in „Luther“ änderte als lautlichen Anklang an seine humanistisch-gräzisierenden Briefunterschriften „Eleutherius“.95 1520 erschien seine Schrift An den christlichen Adel deutscher Nation. Dort fordert der bislang auf eine Bekehrung des vermeintlich irregeführten Papstes bedachte Luther erstmals den offenen Widerstand gegen Rom, z. B. die Einstellung aller Zahlungen an die Kurie sowie den Entzug aller juristischen Kompetenzen. Die explizit beschworene deutsche Nation beinhaltet in diesem Kontext Kaiser, Hochadel und den hohen Klerus. Der Verfasser erlässt einen militanten Appell an eine Adels- oder Ständenation zur Vertreibung der päpstlichen Vollstrecker aus dem Reich. Es handle sich – biblisch-allegorisch gesprochen – um die Befreiung der deutschen Nation aus der römischen Gefangenschaft.96 Somit konnte die (frühe) Reformation zum nationalen Ereignis werden.97 Der erfolgreiche Vertrieb der kirchenkritischen Schriften über städtische Humanistenzirkel sicherte dem Wittenberger Professor ein stetig wachsendes Publikum.98 Vermehrt erschienen Flugschriften statt in lateinischer nun in deutscher Sprache. Der Wunsch nach Verständlichkeit für breitere Rezipientenkreise erforderte ein sprachliches Entgegenkommen und motivierte Luther zu wirksamen Maßnahmen zur Vereinheitlichung der Sprache.99 Der Reformator schätzte die deutsche Sprache aus pragmatischen Motiven, da sie klar, eindeutig, wahrheitsfördernd und somit besonders zur Vermittlung des Evangeliums geeignet sei; die im humanistischen Denken geläufige Verklärung zu einer sakralen Sprache hingegen lag ihm fern.100 Immerhin leistete er auch durch seine Bibelübersetzung einen wesentlichen Beitrag zur Einheit der deutschen Nation.101 Von den Humanisten wurde er in verschiedener Hinsicht missverstanden: Die Bloßlegung des eigentlichen theologischen Kerns seiner Forderungen desillusionierte diejenigen seiner Anhänger, die ihn für einen temperamentvolleren Nachfolger des Erasmus gehalten hatten, und enttäuschte in anderer Weise den streitbaren jungen Reichsritter Ulrich von Hutten (1488–1523), der sich einen militärischen Feldzug aller „frommen und freien Deutschen“ gegen Rom erhofft hatte.102 Freiheit verstand Hutten, der 1520 seine antirömischen Dialoge verfasste, im physisch-staatlichen Sinne. Er verwertete als einer der ersten das literarische Konzept des germanischen Ersatzaltertums, d. h. einer
95 Hirschi: Wettkampf der Nationen, S. 414. 96 G. Schmidt: Geschichte des Alten Reiches, S. 56 f. 97 Ebd., S. 58; Hirschi: Wettkampf der Nationen, S. 413. 98 Hirschi: Wettkampf der Nationen, S. 413. 99 G. Schmidt: Geschichte des Alten Reiches, S. 58 f. 100 Hirschi: Wettkampf der Nationen, S. 425 ff. 101 G. Schmidt: Geschichte des Alten Reiches, S. 59. 102 Ebd., S. 59 ff.; Hirschi: Wettkampf der Nationen, S. 414 ff.
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germanisch kostümierten deutschen Freiheit im politischen Sinne. Die deutsche Nation sollte ihre Unabhängigkeit von dem von Rom gesteuerten Klerus behaupten.103 Als Verwirklichung derartiger Bestrebungen wurde von interessierter Seite einige Jahre später ein vom Kaiser nicht beabsichtigtes und für ihn kompromittierendes (wenn auch realpolitisch nicht ganz nachteilhaftes) Ereignis gefeiert, nämlich der Sacco di Roma.104 Im Mai 1527 – der 1523 sehr früh verstorbene Hutten erlebte es nicht mehr – gerieten auf Karls Feldzügen in Oberitalien seine schlecht versorgten, aufgrund ihres noch ausstehenden Lohnes erbitterten Landsknechte außer Kontrolle und fielen plündernd in Rom ein. Einige Tage lang verbreiteten sie Tod und Schrecken in der Stadt. Dennoch fehlte es im Reich nicht an lutherisch gesinnten Humanisten, welche diese Gräuel als Eroberung von Rom besangen, zumal der Papst in Gefangenschaft geraten war und sich einer erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sah. Karl konnte seinen unterlegenen Gegner nun zu einigen Zugeständnissen nötigen und empfing 1530 von ihm in Bologna in einer nachträglichen Zeremonie offiziell die Kaiserkrone – ein Akt von weniger machtpolitischer als symbolischer Bedeutung, wurde doch dadurch zum letzten Mal die Idee eines sakral-universalen Kaisertums beschworen. Im selben Jahr wurden auf dem Augsburger Reichstag die Bekenntnisse der Lutheraner und der Schweizer Reformatoren sowie die ablehnende Antwort der traditionellen Kirche darauf zum ersten Mal in systematisch ausgearbeiteter schriftlicher Form fixiert. Spätestens seit ca. 1530 also haben die von den Humanisten propagierten Konzepte von Kaisertum, Reich und Nation, teils mehr, teils weniger auf einen zu verteidigenden wahren Glauben bezogen, fast immer aber auf die Osmanengefahr, eine solche Bedeutung erlangt, dass sie in der lateinischen Poesie genügend Stoff zur Herausbildung einer eigenen Untergattung bieten, nämlich zu der (über Roma- und Italia-Vorbilder vermittelten) Germania-Heroide.
2.2 Städte- und Landesallegorie, Romallegorie 2.2.1 Stadt- und Landesallegorie generell Bei der allegorischen Darstellung des Vaterlandes handelt es sich um einen seit der Antike gebräuchlichen Versuch, einen abstrakten Begriff zu veranschaulichen und möglichst breitenwirksam zu inszenieren. Der vielschichtige Terminus
103 G. Schmidt: Geschichte des Alten Reiches, S. 60. 104 Vgl. dazu das Kapitel dieser Arbeit 2.4.3.
2.2.1 Stadt- und Landesallegorie generell
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Allegorie105 wird hier im modernen Sinne gebraucht und entspricht der klassischen Definition von Prosopopoiie bzw. fictio personae oder personificatio.106 Heinrich Lausberg erläutert: Die fictio personae ist die Einführung nichtpersonhafter Dinge als sprechender sowie zu sonstigem personhaftem Verhalten befähigter Personen: […] Die fictio personae durch Reden verleiht besonders gern Kollektiven (Vaterland, Städte usw.) Stimme.107
„Als „Poesie des Unsichtbaren“ macht die allegorische Dichtung das Intelligible sinnfällig.“108 Insbesondere Spätmittelalter, Renaissance und Barock, Epochen mit ausgesprochener Neigung zu aufwendiger festlicher Repräsentation, räumen der Allegorie in der bildenden Kunst und Literatur einen hohen Stellenwert ein. Die Germania-Allegorie wäre nicht denkbar ohne die bis in die Antike zurückreichende Tradition, Städte und Länder, aber auch Naturgewalten, Charaktereigenschaften und Moralbegriffe anthropomorph zu veranschaulichen. Hierbei sind zwei Traditionsstränge zu verfolgen: ein jüdisch-christlicher und ein (teils aus dem Orient adaptierter) griechisch-römischer. Im Alten Testament finden sich (meist klagende) Anreden an Jerusalem bzw. Zion als (Gottes) Tochter,109 (abtrünnige) Braut oder – wie im Falle Babylons – als Hure.110 Besonders im Zusammenhang mit Reue, Umkehr und Buße wird das Bild einer (gefallenen) Frau heraufbeschworen. Im hellenistischen Orient etablierte sich die Verehrung einer Stadtgottheit.111 Inspirierend wirkte dabei zunächst die als große Mutter der Natur gefeierte asiatische Göttin Kybele, die in der Regel mit einer Turmkrone auf dem Haupt und mit einem Löwen als Begleiter abgebildet wurde.112 Im Laufe der Zeit büßte sie allmählich ihren personalen Charakter ein und diente zunehmend als Modell für die personifizierte Tyche einer Stadt, dann als individuelle Stadtgöttin selbst. Hildebrecht Hommel bemerkt: Im Falle Himeras, der sizilischen, von den Karthagern 409 zerstörten Griechenstadt, und ihrer Nachfolgerin, der karthagischen Kolonie Thermai Himeraiai (ab 407), können wir die
105 Vgl. Max Grosse: Art. Allegorie. In: DNP. Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte. Bd. 13, Sp. 84–86; Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. 4. Auflage. Stuttgart 2008, S. 441 ff., 885. 106 Vgl. Andreas Bendlin / Alan H. Shapiro: Art. Personifikation. In: DNP. Bd. 9, Sp. 639–647. 107 Lausberg, S. 411 f. 108 Art. Allegorie (DNP), Sp. 84; Lausberg, S. 411 ff. 109 Sach 9, 9. 110 Zur Hure Babylon vgl. Offb 17, 1–5. 111 Hildebrecht Hommel: Domina Roma. In: Bernhard Kytzler (Hrsg.): Rom als Idee. Darmstadt 1993 (Wege der Forschung 656), S. 31–71, hier S. 44 f. 112 Ebd., S. 58 ff.
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2 Voraussetzungen zur Entstehung der Germania-Heroide
allmähliche Verbindung des weiblichen Stadtsymbols einer eponymen Quellnymphe mit der Tychevorstellung deutlich greifen, ja weiterhin dann auch das Zusammenwachsen der griechischen Konzeptionen mit der fremden, hier wohl aus orientalisch-punischer Einflußsphäre stammenden Stadtgöttin mit der Mauerkrone beobachten.113
Gelegentlich konnten auch Hellas selbst oder einzelne griechische Regionen wie Attika oder Theben systematisch personifiziert oder zumindest in der zweiten Person als „Mutter“ oder mütterlich liebende πάτρη / πατρίς angesprochen werden.114 Ein besonders einprägsames Beispiel bietet Aischylos in seinen Persern. Dort berichtet Atossa, die Witwe des persischen Großkönigs Dareios und Mutter des Xerxes, von einem beklemmenden Traum: Zwei prachtvoll gekleidete Frauengestalten, die Schwestern Persien und Hellas, seien in lautstarken Streit geraten und von Xerxes zwecks Bändigung vor einen Wagen gespannt worden. Persien habe sich sogleich gefügt, stolz auf den glänzenden königlichen Zaum; der freiheitsliebenden Hellas hingegen sei es gelungen auszubrechen.115 Ein prominentes Beispiel für eine leidende mütterliche Natur, die in vielem schon Züge einer Roma oder Germania vorwegnimmt, bietet Ovid in seiner Schilderung von dem durch Phaethon ausgelösten Weltenbrand.116 Die schwer leidende alma Tellus muss bei der sengenden Hitze selbst die sie umgebenden Gewässer in ihrem Inneren bergen. Mit allen Gebärden des Schmerzes klagt sie den als summe deum apostrophierten Jupiter, der all dies geschehen lässt, der Ungerechtigkeit und Grausamkeit an. Wenn sie schon alle Mühsal, die sie unter dem verletzenden Pflug zur Ernährung von Mensch und Vieh auszustehen habe, so übel vergolten bekomme, dann verdiene sie doch wenigstens die Ehre, durch Blitze aus seiner eigenen Hand zu sterben. Schließlich gebraucht sie ein gewichtiges Argument, das ihn zur Bändigung der Feuersbrunst veranlassen soll und auch tatsächlich veranlasst: Wenn schon nicht aus Erbarmen mit ihr oder dem Meer, seinem Bruder, dann solle er wenigstens auf seine eigene Wohnstätte, den Olymp Rücksicht nehmen. Sie mahnt ihn mit letzten Worten an seine Verantwortung für die Welt und zieht sich dann resigniert in sich selbst zurück. Das Leiden der Muttergestalt aufgrund menschlichen Fehlverhaltens, das flehentliche Hilfsgesuch an einen göttlichen oder gottähnlich stilisierten Herrscher und die Idee der Reziprozität in einem apokalyptischen Kontext – hier das Zurückgeworfensein auf sich selbst – wird in einer
113 Ebd., S. 64. 114 Ebd., S. 37; Knoche, S. 326. Hommel nennt hier als Beispiele aus der Literatur Platons Mene xenos, Isokrates’ Panegeyrikos, Pindars erste Isthmische Hymne und Solons in Jamben abgefassten Rechenschaftsbericht. 115 Aischyl. Pers. 176–196. 116 Ov. met. 2, 272–303.
2.2.2 Romallegorie: Beispiele aus Antike und Spätantike
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weiterentwickelten Form – so etwa im Kampf der eigenen Glieder gegeneinander – bei den Landesallegorien begegnen.
2.2.2 Romallegorie: Beispiele aus Antike und Spätantike Eine Stadt wie Rom, Haupt eines über Jahrhunderte bestehenden Weltreiches, stellte nicht nur eine topographische Größe mit Gebäuden, Mauern und Straßen dar, sondern repräsentierte auch eine die realen Gegebenheiten transzendierende (moralische, philosophische, religiöse) Idee – ähnlich wie z. B. Jerusalem, Babylon oder Troja –, galt gewissermaßen als (Wieder-) Verkörperung einer früheren Weltstadt – wie etwa von Troja, Jerusalem und Babylon – oder zumindest als glanzvoller Abschluss und Höhepunkt einer langen Kette von historischen und mythischen Exempeln aus dem (griechischen oder jüdischen) Altertum – Troja, Mykene, Athen, Korinth, Theben, Tiryns, Karthago bzw. Jerusalem, Babylon, Sodom, Samaria u. a. So konnte es nicht ausbleiben, dass die Stadt am Tiber und das nach ihr benannte Reich in allen Sparten von Kunst oder gelehrtem Schrifttum, in welchem Ausmaß auch immer, zum Gegenstand der Verherrlichung oder Schmähung wurden.117 Dabei kommt dem Einsatz der Allegorie keine geringe Bedeutung zu. So erscheint die Gestalt einer göttlichen bzw. quasi-göttlichen oder einer beklagenswerten, weil gestürzten personifizierten Roma (gelegentlich auch Italia) in der Literatur vieler Sprachen und Jahrhunderte. Den in der Spätantike in 117 Grundlegende Arbeiten dazu: Walter Rehm: Europäische Romdichtung. 2., durchgesehene Auflage. München 1960; Bernhard Kytzler (Hrsg.): Rom als Idee. Darmstadt 1993 (Wege der Forschung 656); Bernhard Kytzler: Roma Aeterna. Lateinische und griechische Romdichtung von der Antike bis in die Gegenwart. Lateinisch, griechisch und deutsch. Ausgewählt, übersetzt und erläutert von Bernhard Kytzler. Zürich / München 1984; Manfred Fuhrmann: Rom in der Spätantike. Portrait einer Epoche. 3. Auflage. Düsseldorf / Zürich 1998; Alexander Demandt: Der Fall Roms. Die Auflösung des römischen Reiches im Urteil der Nachwelt. München 1984; Richard Klein: Symmachus. Eine tragische Gestalt des ausgehenden Heidentums. Darmstadt 1971 (Impulse der Forschung 2); Ferdinand Gregorovius: Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter. Vom V. bis zum XVI. Jahrhundert [1859–1872]. Hrsg. von Waldemar Kampf. Vollständige und überarbeitete Ausgabe in sieben Bänden nach der erstmals 1953–1957 erschienenen Ausgabe. 2. Auflage. München 1988; Ulrich Knoche: Die augusteische Ausprägung der Dea Roma. In: Gymnasium 59 (1952), S. 324–349; Carl Koch: Roma aeterna. In: Gymnasium 59 (1952), S. 128–140; Francesco Stella: Roma antica nella poesia mediolatina. In: Roma antica nel medioevo. Mito, rappresentazioni, sopravvivenze nella „Respublica Christiana“ dei secoli IX–XIII. Mailand 2001, S. 277–308; Ralf Georg Czapla: Zur Topik und Faktur postantiker Romgedichte (Hildebert von Lavardin, Joachim Du Bellay, Andreas Gryphius). In: Daphnis 27 (1998), S. 141–183; Karl Christ: Geschichte der römischen Kaiserzeit. Von Augustus bis zu Konstantin. 5., durchgesehene Auflage mit erweiterter und aktualisierter Bibliographie. München 2005.
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Blüte stehenden eigentlichen offiziellen Roma-Kult begründete Augustus durch geschickte Verschmelzung zweier verschiedener Traditionsstränge, nämlich des altrömisch-republikanischen und des hellenistisch-östlichen.118 Erste Belege für die öffentliche Verehrung einer Göttin Roma finden sich in hellenisierten östlichen Regionen, wo der Brauch bestand, Herrscher (noch zu deren Lebzeiten) und – wie eben skizziert – die Bilder der Tyche einer Stadt sowie in personifizierter Gestalt die Stadt selbst zu Gottheiten zu erheben. So wurde in der angeblich auf eine Amazonengründung zurückgehenden Stadt Smyrna bereits 195 v. Chr. in einem eigens dazu errichteten Tempel die Urbs Roma verehrt – ein Exempel, dem sich bald andere kleinasiatische Gemeinden und das griechische Mutterland selbst anschlossen. Anlässlich von Priesterkollegien, Festen und Spielen trugen auch die griechischen Dichter das Ihrige zur Etablierung eines echten Kultes bei.119 Wahrscheinlich aus der Zeit nicht lange nach 168 v. Chr., dem Sieg des L. Aemilius Paulus im 3. Makedonischen Krieg, stammt ein von Stobaios überlieferter Hymnus der ansonsten unbekannten griechischen Dichterin Melinno im äolischen Dialekt, der seit Sappho und Alkaios zum Idiom der griechischen Lyriker geworden war.120 Er richtet sich in adulatorischer Weise an die „Herrin Roma“ (ἄνασσα Ῥώμη), und feiert diese als goldenen Kopfschmuck tragende Arestochter, die nach dem Willen der Parzen die ewige Weltherrschaft innehaben soll.121 Es spricht einiges dafür, dass Melinno durch diese poetische Huldigung um Gnade oder Wohlwollen für ihre nicht namentlich bekannte Vaterstadt werben wollte zu einer Zeit, wo andere Städte – auch auf Lesbos, so z. B. Antissa – wegen mangelnder Loyalität gegenüber ihren römischen Herren von diesen zerstört worden waren. Die Dichterin dürfte somit an den Vollstrecker eines solchen Strafgerichts, den nicht zuletzt für seine (auch griechische) Bildung hochangesehenen Q. Fabius Labeo, appelliert haben.122 Körperliche Kraft und kriegerische Tugenden – dieser Aspekt dominiert auch bei der nicht immer einheitlichen Abbildung einer Roma auf Münzen.123 Die bewaffnete Marstochter entlehnt ihre Attribute bevorzugt einer Amazone oder der Pallas Athene, bisweilen trägt sie auch die Mauerkrone der stadtschützenden Tyche. Mit Rückgriff auf griechische und orientalische Traditionen machten die
118 Dies ist der Gegenstand von Knoches Aufsatz. 119 Knoche., S. 324 f. 120 Ebd., S. 325; am ausführlichsten Hommel, S. 68 ff.; Ilona Opelt: Roma = Ῥώμη und Rom als Idee. In: Bernhard Kytzler (Hrsg.): Rom als Idee. Darmstadt 1993 (Wege der Forschung 656), S. 72–85, hier S. 84. 121 Übersetzung abgedruckt bei Hommel, S. 68 f. 122 Ebd., S. 70. 123 Ebd., S. 53; Knoche, S. 326.
2.2.2 Romallegorie: Beispiele aus Antike und Spätantike
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um Wohlwollen werbenden Bewohner unterworfener Provinzen Rom zur Verkörperung militärischer Macht und zum Gegenstand religiöser Verehrung.124 Dem stellt Ulrich Knoche eine parallel verlaufende Entwicklung gegenüber, nämlich die Herausbildung eines rhetorisch-pathetischen Roma-Begriffes im lateinischen Sprachgebrauch des Westens, d. h. der römischen bzw. der in Rom selbst wirkenden Schriftsteller der ausgehenden Republik sowie des augusteischen Prinzipats.125 Besonders in Ciceros Schriften beobachtet er eine allmähliche Steigerung von Roma als bloßem Stadtnamen über einen Kollektivbegriff im Sinne von res Romana bis zum – vorläufig nur äußerst sparsam gebrauchten – rhetorischen Kunstgriff der Prosopopoiie / Personifikation der Stadt an pathetisch besetzten Höhepunkten. Bei aller Liebe zu ihrer Stadt war den Römern eine anthropomorphe Darstellung oder gar eine kultisch betriebene Vergötterung derselben zunächst fremd.126 Dagegen bedient sich Cicero ausgiebig einer auch schon bei Cato Maior begegnenden Vorstellung und spricht in zahlreichen Wendungen von der res publica wie von einem menschlichen Wesen. Durchweg gebraucht er Bilder von Krankheit und körperlicher Misshandlung, wo er seinen Adressaten die bedrohte Lage des Gemeinwesens und dessen Feinde vor Augen stellen will.127 Obgleich die Römer in Bezug auf ihre res publica über ein ansehnliches Repertoire an Gleichnissen verfügten, u. a. das vom Staatsgebäude oder Staatsschiff, erlangte dasjenige der maior parens, der verehrungswürdigen Mutter, zunehmende Geltung. Diese meist defensive, wenn nicht gar schutzbedürftige – stark von urtümlichen Terra mater-Vorstellungen beeinflusste – mütterliche Idealgestalt hält Knoche für schwer vereinbar mit der äußerst leicht geschürzten amazonenartigen Kriegerin namens Ῥώμη, an welcher das sittliche Empfinden konservativer Römer hätte Anstoß nehmen müssen.128 Immerhin konnte gelegentlich in einer besonders gewählten Dichtersprache, dann auch in forensischer und privater Prosa patria als emotional gesteigertes Äquivalent zu res publica auftreten – eine Erscheinung, die offenbar durch den Bürgerkrieg Auftrieb erhielt. Im stetigen Kampf der Parteien ließ es sich allerdings nicht immer vermeiden, dass patria auch leicht zum abgegriffenen Schlagwort verkam, fühlte sich doch ein jeder als Verteidiger des Vaterlandes.129 Knoche betont mit ausdrücklichem Bezug auf eine entsprechende Anweisung in der (lange Zeit Cicero zugeschriebenen) Rhetorica ad Herennium, dass es sich bei Ciceros gelegentli124 Hommel, S. 53; Knoche, S. 328. 125 Knoche, S. 326 ff. 126 Ebd., S. 324, 326. 127 Ebd., S. 327 ff. mit zahlreichen Belegen. 128 Ebd., S. 328. 129 Ebd., S. 329.
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chen Entscheidungen, eine redende patria auftreten zu lassen, um ein wohlüberlegtes rhetorisches Kalkül, keineswegs um einen Rückgriff auf gängige Floskeln der Alltagssprache handle.130 Die bekanntesten Beispiele dürften diejenigen aus der ersten Catilinarischen Rede sein. Cicero, der den als Oberhaupt einer geplanten Verschwörung nahezu schon entlarvten Catilina endlich zum Verlassen der Hauptstadt bewegen möchte, legt seine Vorwürfe einer höheren Instanz in den Mund: Nunc te patria, quae communis est parens omnium nostrum, odit ac metuit et iam diu nihil te iudicat nisi de parricidio suo cogitare: huius tu neque auctoritatem verebere nec iudicium sequere nec vim pertimesces? Quae tecum, Catilina, sic agit et quodam modo tacita loquitur: „Nullum iam aliquot annis facinus exstitit nisi per te, nullum flagitium sine te; tibi uni multorum civium neces, tibi vexatio direptioque sociorum impunita fuit ac libera; tu non solum ad neglegendas leges et quaestiones verum etiam ad evertendas perfringendasque valuisti. Superiora illa, quamquam ferenda non fuerunt, tamen ut potui tuli; nunc vero me totam esse in metu propter unum te, quicquid increpuerit, Catilinam timeri, nullum videri contra me consilium iniri posse quod a tuo scelere abhorreat, non est ferendum. Quam ob rem discede atque hunc mihi timorem eripe; si est verus, ne opprimar, sin falsus, ut tandem aliquando timere desinam.“131 Nun aber haßt und fürchtet dich das Vaterland, der gemeinsame Ursprung von uns allen, und es befindet, daß du schon seit langem an nichts denkst als an seine Vernichtung: willst du weder seine Meinung achten noch sein Urteil befolgen noch vor seiner Macht erzittern? Das Vaterland, Catilina, spricht so zu dir und erhebt gewissermaßen schweigend seine Stimme: „Seit einigen Jahren schon ist kein Verbrechen zustande gekommen außer durch dich; allein bei dir blieb der Mord an vielen Bürgern, bleiben Mißhandlung und Plünderung der Bundesgenossen frei und ungestraft; du hast es vermocht, Gesetze und Prozesse nicht nur geringzuachten, sondern zu zerschmettern und zu vernichten. Deine früheren Taten habe ich, obwohl sie unerträglich waren, ertragen, wie ich konnte. Doch daß ich jetzt allein deinetwegen von Furcht erfüllt bin, daß man sich vor Catilina ängstigt, was immer sich regt, daß sich offenbar kein Anschlag gegen mich ersinnen läßt, bei dem dein Frevelmut nicht beteiligt wäre: das ist vollends unerträglich. Geh daher fort und nimm mir diese Furcht, wenn sie begründet ist, damit ich nicht überwältigt werde, wenn unbegründet, damit ich endlich einmal aufhören kann, mich zu fürchten.“132
130 Ebd., S. 330. 131 Cic. Catil. 1, 17–18. 132 Übersetzung nach Marcus Tullius Cicero: Sämtliche Reden. Eingeleitet, übersetzt und erläutert von Manfred Fuhrmann. Ausgabe in sieben Bänden. Bd. 2. 2., durchgesehene Auflage. Zürich 1985, S. 237.
2.2.2 Romallegorie: Beispiele aus Antike und Spätantike
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Kurz darauf schlägt Cicero innerhalb derselben Rede wesentlich schärfere Töne an: Etenim si mecum patria, quae mihi vita mea multo carior, si cuncta Italia, si omnis res publica loquatur: „M. Tulli, quid agis? Tune eum quem esse hostem comperisti, quem ducem belli futurem vides, quem exspectari imperatorem in castris hostium sentis, auctorem sceleris, principem coniurationis, evocatorem servorum et civium perditorum, exire patiere, ut abs te non emissus ex urbe, sed immissus in urbem esse videatur? Nonne hunc in vincla duci, non ad mortem rapi, non summo supplicio mactari imperabis? Quid tandem te impedit? Mosne maiorum? At persaepe etiam privati in hac re publica perniciosos civis morte multarunt. An leges quae de civium Romanorum supplicio rogatae sunt? At numquam in hac urbe qui a re publica defecerunt civium iura tenuerunt. An invidiam posteritatis times? Praeclaram vero populo Romano refers gratiam qui te, hominem per te cognitum, nulla commendatione maiorum tam mature ad summum imperium per omnis honorum gradus extulit, si propter invidiam aut alicuius periculi metum salutem civium tuorum neglegis. Sed si quis est invidiae metus, non est vehementius severitatis ac fortitudinis invidia quam inertiae ac nequitiae pertimescenda. An, cum bello vastabitur Italia, vexabuntur urbes, tecta ardebunt, tum te non existimas invidiae incendio conflagraturum?“ His ego sanctissimis rei publicae vocibus et eorum hominum qui hoc idem sentiunt mentibus pauca respondebo.133 Wenn nämlich das Vaterland, das mir weit teurer ist als mein Leben, wenn ganz Italien, wenn das gesamte Staatswesen so zu mir spräche: „M. Tullius, was tust du? Willst du zulassen, daß dieser Mann davongeht? Du hast doch zuverlässig erfahren, daß er ein Staatsfeind ist; du siehst, daß er den Krieg leiten wird; du spürst, daß ihn das Lager der Feinde als seinen Feldherrn erwartet – den Urheber des Verbrechens, das Haupt der Verschwörung, den Aufwiegler von Sklaven und heillosen Elementen der Bürgerschaft! Gewiß wird man meinen, du habest ihn nicht aus der Stadt hinaus, sondern gegen die Stadt losgeschickt! Willst du nicht befehlen, ihn ins Gefängnis zu führen, ihn zum Tode zu schleppen, ihn die äußerste Strafe erleiden zu lassen? Was hindert dich eigentlich? Der Brauch der Vorfahren? Aber in diesem Staate haben doch sehr oft Männer ohne Amtsgewalt verderbliche Bürger hingerichtet! Oder die Gesetze, die man über die Todesstrafe an römischen Bürgern erlassen hat? Aber in dieser Stadt haben doch niemals Leute, die der Verfassung untreu wurden, die Vorrechte der Bürger behalten! Oder fürchtest du die Anfeindungen der Folgezeit? Das römische Volk hat dich, der sein Ansehen nur sich selbst verdankt, ohne empfehlenden Stammbaum so frühzeitig über alle Ämterstufen hinweg zur höchsten staatlichen Gewalt erhoben; da erweisest du ihm wahrhaft einen vortrefflichen Dank, wenn du wegen der Anfeindungen oder aus Furcht vor einer Gefahr die Wohlfahrt deiner Mitbürger geringachtest. Doch wenn du irgend gehässige Vorwürfe scheust: du brauchst den Vorwurf der Strenge und Unerschrockenheit nicht stärker zu fürchten als den der Untätigkeit und Fahrlässigkeit. Oder meinst du etwa, wenn der Krieg Italien verwüstet, die Städte heimsucht, die Häuser in Brand steckt, dann werde dich nicht eine wahre Feuersbrunst des Hasses niedersengen?“ Auf diese ehrwürdige Rede des Vaterlandes und auf die Ansichten derer, die ebenso denken, will ich mit wenigen Worten antworten.134
133 Cic. Catil. 1, 27–29. 134 Marcus Tullius Cicero: Sämtliche Reden. Bd. 2, S. 241 f.
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Die Patria, die ihm nach traditionellem republikanischem Ethos teurer sein soll als das eigene Leben, erhebt diesmal in Form rhetorischer Fragen gegen ihn selbst schwere Vorwürfe für den Fall, dass er aus Trägheit, Feigheit oder Furcht vor Anfeindung einen allseits bekannten Anführer von Verbrecherbanden gewähren lasse und somit den Untergang von Stadt und Bürgern riskiere. Die Gleichsetzung der Patria mit Rom ist noch nicht so weit fortgeschritten, dass die Patria nicht in der dritten Person von der urbs, der res publica und ausführlicher noch vom populus Romanus sprechen könnte, welchem der aus dem Ritterstand bis zu den höchsten Ämtern aufgestiegene Cicero zu Dank verpflichtet sei. Nach der glücklichen Zerschlagung der coniuratio beschwört der Autor in der vierten Catilinarischen Rede wiederum das Bild der Patria herauf, allerdings ohne ihr noch einmal Sprache zu verleihen. Mit wenigen Worten evoziert er die Vorstellung einer von Fackeln und Geschossen bedrohten (offenbar als weiblich aufzufassenden) Gestalt, welche im klassischen Bittgestus flehend ihre Hände erhebt und an das fortdauernde Wohlwollen der Bürger appelliert: Obsessa facibus et telis impiae coniurationis vobis supplex manus tendit patria communis, vobis se, vobis vitam omnium civium, vobis arcem et Capitolium, vobis aras Penatium, vobis illum ignem Vestae sempiternum, vobis omnium deorum templa atque delubra, vobis muros atque urbis tecta commendat.135 Unser von den Fackeln und Geschossen einer ruchlosen Verschwörung bedrängtes gemeinsames Vaterland streckt euch bittflehend die Arme entgegen; euch vertraut es sich selber an, euch das Leben aller Bürger, euch die Burg und das Kapitol, euch die Altäre der Penaten, euch das ewige Feuer der Vesta dort, euch die Tempel und Heiligtümer aller Götter, euch die Mauern und Dächer der Stadt.136
Die Beispiele bleiben indes nicht auf die Catilinarischen Reden oder auf Cicero beschränkt. Unter dem Namen des großen republikanischen Geschichtsschreibers C. Sallustius Crispus sind zwei nach Art eines Fürstenspiegels konzipierte Briefe an Caesar überliefert. Der zweite von ihnen, schwer datierbar, in sich widersprüchlich und möglicherweise nur eine krude Sallust-Imitation,137 enthält in der Schlusspassage den im Geiste zu vergegenwärtigenden Auftritt der Patria und der Eltern bzw. Vorfahren (parentes) Caesars.138 Der Adressat wird von diesen Autoritäten in einer 135 Cic. Catil. 4, 18. 136 Marcus Tullius Cicero: Sämtliche Reden. Bd. 2, S. 286. 137 Michael von Albrecht: Geschichte der römischen Literatur. Bd. 1. Von Andronicus bis Boethius. Mit Berücksichtigung ihrer Bedeutung für die Neuzeit. Bern 1992, S. 368 f. 138 Sall. rep. 2, 13: Quodsi tecum patria atque parentes possent loqui, scilicet haec tibi dicerent: „O Caesar, nos te genuimus fortissimi viri, in optima urbe, decus praesidiumque nobis, hostibus terrorem. Quae multis laboribus et periculis ceperamus, ea tibi nascenti cum anima simul tradidimus, patriam maxumam in terris, domum familiamque in patria clarissimam, praeterea bonas
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direkten Rede daran gemahnt, dass er, von edlen Männern abstammend, gemeinsam mit seinem Leben ein in Blüte stehendes Vaterland, Rang, Reichtum und glänzende Geistesgaben zum Geschenk erhalten habe. Diese Wohltaten dürfe er nicht durch Laster oder Verbrechen vergelten, sondern er sei, ganz im Gegenteil, verpflichtet, das erschütterte Gemeinwesen wiederherzustellen. Für den Fall, dass er diesen Anforderungen gerecht wird, stellen ihm Patria und parentes ewigen Ruhm in Aussicht, dem seine Neider zu Lebzeiten nichts mehr anhaben könnten. Ebenso wie bei Cicero wird auch bei Sallust die Prosopopoiie durch eine den Irrealis markierende „als ob“-Formulierung (quodsi […] possent loqui) eingeleitet. Die Patria erhebt ihre Stimme (oder bloß ihre Hände) entweder angesichts einer konkreten Bedrohung oder zumindest im grundsätzlichen Bewusstsein ihrer Schwäche und Schutzbedürftigkeit. Cicero wagt sich in rhetorischer Hinsicht schließlich noch einen Schritt weiter. Als er in der Invektive In Lucium Calpur nium Pisonem seine glückliche Rückkehr aus der Verbannung im Jahre 55 v. Chr. schildert, will er, ohnehin kein Freund allzu großer Bescheidenheit, nicht nur von Mitbürgern und Honoratioren, nicht nur von der Patria, sondern sogar von Roma selbst (ipsa Roma) stürmisch begrüßt worden sein: Unus ille dies mihi quidem immortalitatis instar fuit, cum in patriam redii, cum senatum egressum vidi populumque universum, cum mihi ipsa Roma prope convolsa sedibus suis ad complectendum conservatorem suum progredi visa est; quae me ita accepit, ut non modo omnium generum, aetatum, ordinum omnes viri ac mulieres omnis fortunae ac loci, sed etiam moenia ipsa viderentur et tecta urbis ac templa laetari.139 Mir jedenfalls hat der eine Tag so viel bedeutet wie die Unsterblichkeit, der Tag, an dem ich ins Vaterland zurückkehrte: als ich den Senat sah, der mir entgegengekommen war, und mit ihm das gesamte Volk, als ich glaubte, die Stadt Rom selbst habe sich gleichsam von ihrem Grund und Boden losgerissen und sei aufgebrochen, ihren Retter zu umarmen. Sie hat mich nämlich so empfangen, daß man meinen mochte, nicht nur alle Männer und Frauen jeder Herkunft, jedes Alters und jedes Standes – reich und arm wie hoch und niedrig –, sondern sogar die Mauern und Dächer der Stadt und auch ihre Tempel seien erfreut.140
Cicero gestaltet hier – wenn auch äußerst knapp – eine hochemotionale herzliche persönliche Begegnung zwischen sich selbst und dem Gegenstand seiner staatsmännischen Fürsorge. Die dankbare Roma umarmt ihn als ihren Retter – diese Vorstellung ließe sich bei fortschreitender Allegorisierung weiter ausspinnen zu einem erotischen oder verwandtschaftlichen Verhältnis zwischen Mann und artis, honestas divitias, postremo omnia honestamenta pacis et praemia belli. Pro iis amplissimis beneficiis non flagitium a te neque malum facinus petimus, sed ut ei libertatem eversam restituas. […].“ 139 Cic. Pis. 52. 140 Marcus Tullius Cicero: Sämtliche Reden. Bd. 6, S. 174.
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Frau.141 Im folgenden Satz dient Rom auch zur Kulisse, wenn Cicero sich selbst gewissermaßen in der Rolle eines Orpheus feiert, der durch seinen wohltätigen Auftritt sogar Mauern und Bauwerke zum Tanzen bringt. Knoche würdigt diese Stelle als ein unübertroffenes Beispiel für ciceronisches Pathos, warnt allerdings davor, sie als Beleg für einen tatsächlichen Roma-Kult zu dieser Zeit aufzufassen.142 Die augusteischen Schriftsteller Vergil, Horaz, Livius, Ovid, Properz und Tibull gestalten keine systematische Romallegorie, prägen aber wesentliche Gedanken, Begriffe und Schlagworte. Laudes Romae und (glückliche) Prophezeiungen durchziehen ihr Gesamtwerk und tragen wesentlich dazu bei, einen (zunächst rein) optimistischen Romgedanken zu etablieren. Für Roma, den Namen der Tiberstadt und des Reiches, kommen verschiedene Attribute, Titel und Epitheta in Mode, von denen sich manche als stehende Wendungen sogar über Jahrhunderte halten.143 Von Interesse sind die vielfältigen Bezeichnungen in diesem Zusammenhang, insofern sie die Stadt in irgendeiner Weise – wenn auch nur vage – mit dem Bereich des Weiblichen, Mütterlichen und oft Herrschaftlichen assoziieren. Knoche dokumentiert exakt die zunehmende Relevanz des Begriffes Roma bei Vergil und Horaz, aber auch bei Properz und Tibull.144 In den Frühwerken der beiden Erstgenannten, also in Horaz’ Satiren und Episteln sowie in Vergils Eklogen, bezeichnet Roma lediglich die real erfahrbare Stadt. In den mittleren Werken, also in Horaz’ Epoden und Vergils Georgica, kann Roma immerhin schon an die Stelle von res Romana treten. Bei Vergil, Horaz, Properz und Tibull erscheint eine körperlich vorstellbare Roma bzw. eine direkte Anrede derselben nur an besonders pathetischen Stellen im Spätwerk, also in den Oden, in der Aeneis und in den letzten Elegienbüchern.145 Dies dürfte mit bestimmten politischen Ereignissen zusammenhängen, welche den Römern nach Zeiten von Bürgerkrieg und Unruhe ein neues Gefühl von Frieden und Sicherheit schenkten. Wie zwei heute im Wiener Kunsthistorischen Museum ausgestellte, wohl aus dem augusteischen Hofschatz stammende Gemmen zeigen, nämlich die Gemma Augustea und eine zweite Wiener Gemme, hegte der Herrscher wohl eine Vorliebe für eine (durchaus nach seinen eigenen Vorstellungen modellierte) Göttin Roma.146 Die – nicht allzu stark – vom Amazonen-Typus geprägte Roma der viel-
141 Einen derartigen Einfall wird – wenn auch ex negativo – 1528 der deutsche Humanist Helius Eobanus Hessus realisieren. Vgl. das Kapitel dieser Arbeit 2.4.3. 142 Knoche, S. 331 f. 143 Hommel passim. 144 Knoche, S. 333 ff. 145 Ebd., S. 334 f.; Hor. carm. 3, 3, 44; carm. 3, 5, 12; carm. 4, 4, 37; Verg. Aen. 6, 781 ff.; Prop. 3, 22, 17 ff.; Tib. 2, 2, 57. 146 Knoche, S. 336 f.; Hommel, S. 52 f.
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leicht aus dem Jahre 7 v. Chr. stammenden Gemma Augustea trägt einen Helm und Waffen, aber auch ein lang herabwallendes Gewand. Ihre Füße stellt sie auf einen abgelegten Rundschild. Somit vereinigt sie kriegerische und pazifistische Züge in sich, letzteres unterstrichen durch die Beifügung einer mütterlichen Göttin Tellus mit Füllhorn sowie des Meergottes Neptun.147 Vor allem aber erscheint sie als gleichberechtigte Partnerin zur Rechten des mit Jupiter-Insignien und Adler ausgestatteten Augustus. Dieser hegte zunächst Vorbehalte gegen einen offiziellen Kult seiner Person und gestattete ihn lediglich in einigen Regionen Kleinasiens, und auch dort nur im Zusammenhang mit deren Göttin Ῥώμη.148 Erst nach der für Rom glücklich endenden Schlacht bei Actium (31 v. Chr.), vielleicht sogar erst nach der den offiziellen Friedenszustand symbolisierenden Schließung des Janustempels im Jahre 29 v. Chr. wird es Augustus für angemessen erachtet haben, seine private Vorliebe für die Göttin Roma, von der er Bilder besaß, auch öffentlich zu bekunden. Der Zeitpunkt schien geeignet, die in den hellenisierten Provinzen praktizierte Verehrung der kriegerischen und ordnenden Macht des Imperiums mit der im lateinisch-westlichen Sprachraum bewahrten pietas gegenüber res publica und patria zu einem neuen, einheitsstiftenden Symbol zu vereinigen. Dieses trug den Namen Roma.149 Bei den folgenden Herrschern verlor es zunächst an Bedeutung; erst Nero ließ, ohne eine ernstzunehmende politische Konzeption zu verfolgen, nach dem Brand der Stadt durch Roma- und Vesta-Darstellungen einen Ewigkeitsanspruch markieren.150 Aus der Neronischen Zeit stammt auch ein bekanntes literarisches Beispiel für den Auftritt einer Roma bzw. eines personifizierten Vaterlandes. Im ersten Buch von Lucans Epos De bello civili (Pharsalia) gelangt einer der Protagonisten, nämlich Caesar, an den Rubikon und stößt dort auf eine unheimliche Erscheinung, die ihn vor dem Überqueren des Flusses und somit vor der Eröffnung eines Bürgerkriegs warnt. iam gelidas Caesar cursu superaverat Alpes ingentesque animo motus bellumque futurum ceperat. ut ventum est parvi Rubiconis ad undas, ingens visa duci patriae trepidantis imago clara per obscuram voltu maestissima noctem turrigero canos effundens vertice crines caesarie lacera nudisque astare lacertis
147 Abbildung bei Hommel, S. 52. 148 Knoche, S. 336. 149 Ebd., S. 337 ff. 150 Christ, S. 242.
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et gemitu permixta loqui: „quo tenditis ultra? quo fertis mea signa, viri? si iure venitis, si cives, huc usque licet.“ […]151 Schon hatte Caesar in Eilmärschen die verschneiten Alpen überstiegen und den Plan gefaßt, ungeheure Kriegswirren auszulösen. Sowie das Flüßchen Rubicon erreicht war, erschien dem Feldherrn, deutlich zu sehen in finsterer Nacht, als riesenhaftes Phantom die geängstigte Vaterstadt; tiefe Trauer lag in ihren Zügen, ihre grauen Haare waren unter der Mauerkrone aufgelöst, die Strähnen zerrauft und die Arme bloß. So stand sie vor ihm da und rief, während sich Seufzer in ihre Worte mischten: „Wohin wollt ihr noch? Wohin tragt ihr meine Standarten, Soldaten? Wenn ihr rechtens, wenn ihr als gute Bürger kommt, so darf es nur bis hierher sein!“152
Die Gestalt der – explizit so benannten – Patria wird ins Numinose erhoben; sie erscheint überlebensgroß und hilflos zugleich, sie trägt die Attribute der hellenistischen Stadtgottheit (Mauerkrone) und die Merkmale der Sterblichkeit (graue Haare), ist sowohl eine Göttin als auch eine schutzbedürftige alte Frau, welche zu Tränen und flehentlichen Bitten Zuflucht nehmen muss. Caesar wird von einem heiligen Schauder gerührt, spricht die Erscheinung ehrfürchtig als Roma an, beteuert ihren Anspruch auf höchste göttliche Würde (summique o numinis instar / Roma) – und lässt sich dennoch nicht von seinem entsetzlichen Vorhaben abhalten.153 Lucan liefert somit vielleicht das erste Exempel für eine systematische literarische Romallegorie: Es handelt sich nicht mehr bloß um ein durch einen hypothetischen Konjunktiv eingeleitetes rhetorisches Verfahren, sondern um eine leibhaftig auftretende mythische Gestalt,154 die eventuell den für das antike Epos in der Regel konstitutiven, bei Lucan aber (ansonsten) nicht mehr vorhandenen Götterapparat vertritt.155 Dem Autor dient die Allegorie offenbar dazu, Caesars besonderen Frevel und das Schwinden einer sinnvollen Weltordnung zu betonen.156 Auch ein vornehmer Römer der flavischen Zeit, Silius Italicus, bemüht in seinen 17 Bücher umfassenden Punica, einem stilistisch an Vergil und Lucan anknüpfenden Epos, welches hauptsächlich aus Livius bekannte Ereignisse der
151 Lucan. 1, 183–192. 152 Text und Übersetzung nach Lucanus: Bellum civile. Der Bürgerkrieg. Hrsg. und übersetzt von Wilhelm Ehlers. München 1973, S. 18 f. 153 Lucan. 1, 192–203. 154 Unklar bleibt zwar, ob diese nächtliche Erscheinung bloß eine Traumvision Caesars ist, allerdings kommt im Epos auch Traumgestalten eine quasi-reale Bedeutung zu. 155 Leider fehlt die Göttin Roma in dem Kapitel „Aspects of the Divine“ bei Frederick M. Ahl: Lucan. An Introduction. Ithaca / London 1976, S. 280 ff. 156 „Caesar does not use his talents to cure the ills of the sick republic. He ends the sickness by killing the patient.“ Ebd., S. 191.
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Kriege zwischen Rom und Karthago behandelt, die Mittel der Allegorie. Im 15. Buch verlässt Hasdrubal das hoch in den Alpen gelegene Lager des Hannibal und versetzt durch sein Vorrücken auf Rom die Einwohner in Schrecken. Da stimmt das italische Land (Oenotria Tellus) selbst eine Klage an. His super infrendens sic secum Oenotria Tellus: tantone, heu superi! Spernor contempta furore Sidoniae gentis, quae quondam sceptra timentem nati Saturnum nostris considere in oris et regnare dedi? decima haec iam vertitur aestas, ex quo proterimur; iuvenis, cui sola supersunt in superos bella, extremo de litore rapta intulit arma mihi temeratisque Alpibus ardens in nostros descendit agros. Quot corpora texi caesorum, stratis totiens deformis alumnis! nulla mihi floret bacis felicibus arbor; immatura seges rapido succiditur ense; culmina villarum nostrum delapsa feruntur in gremium foedantque suis mea regna ruinis. hunc etiam, vastis qui nunc sese intulit oris, perpetiar, miseras quaerentem exurere belli reliquias? tum me scindat vagus Afer aratro, et Libys Ausoniis commendet semina sulcis, ni cuncta, exultant quae latis agmina campis, uno condiderim tumulo.157 Darüber erbittert knirschte das italische Land mit den Zähnen und sprach bei sich: „Ach Götter! Werde ich durch eine derartige Raserei der Karthager so verächtlich behandelt, so erniedrigt, ich, welche ich einst Saturn, als er sich vor der Herrschaft seines Sohnes fürchtete, gestattete, sich in meinen Gefilden niederzulassen und zu regieren? Schon geht der zehnte Sommer ins Land, seitdem ich durch und durch geplagt werde; der Jüngling, dem lediglich noch Kriege gegen die Götter als unvollendete Taten übrigbleiben, hat vom fernsten Strand Waffen gegen mich angeworben und geführt, durch seinen Übermarsch die Alpen geschändet und ist voll Wut in mein Land eingefallen. Von so vielen niedergestreckten Landeskindern bin ich verunstaltet, wie ich Leichen von Erschlagenen geborgen habe. Kein einziger Baum blüht mir mehr von üppigen Beeren; vorzeitig wird die Ernte von einem gierigen Schwert dahingerafft, die Dachgipfel vornehmer Häuser sind eingestürzt, fallen in meinen Schoß und verunstalten mein Reich durch ihre Trümmer. Auch den, der in mein verwüstetes Land eingedrungen ist und versucht, die erbärmlichen Überreste des Krieges niederzubrennen, soll ich dulden? Dann soll mich der umherschweifende Afrikaner mit dem Pflug spalten, und der Libyer soll seine Aussaat italischen Furchen übergeben, wenn ich nicht alle Scharen, die auf den weiten Feldern mutwillig ihr Unwesen treiben, in einem einzigen Grab berge.158 157 Sil. 15, 522–541. 158 Übersetzung T. B.
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2 Voraussetzungen zur Entstehung der Germania-Heroide
Italia hat schon genügend Metzeleien von karthagischer Hand auf ihrem Boden erlebt, um zu wissen, was ihr bevorsteht. Diesmal muss sie in Gestalt von Hannibal und Hasdrubal sogar zwei verbündete Aggressoren fürchten. In einer zweiten, kürzeren Rede159 mahnt sie (Latiae telluris imago)160 ihren Heerführer, den Feind nicht nur zu vertreiben, sondern derart zu traktieren, dass selbst die Sieger über ihre eigenen Taten erschrecken. Es gilt, keine Zeit zu verlieren und die Felder zu Grabhügeln für die Punier zu machen. Auch hier dient die Allegorie wieder dem Ansporn zur Abwehr der Gefahr vom höchst bedrohten Gemeinwesen. Unter Hadrian (117–138) und den Adoptivkaisern erhielt die imperiale Romidee einen stärker zivilisatorisch-humanitären Akzent. Die römische Weltherrschaft wurde nun zunehmend als zivilisatorische Wohltat für alle Völker propagiert und gepriesen. Entscheidende poetisch-literarische Impulse kamen dabei zunächst von griechischer Seite. Mitte des 2. Jahrhunderts verfasste Aelius Aristides in griechischer Sprache einen Panegyricus, welcher in der antiken Romverherrlichung einen ziemlich singulären Status einnimmt.161 Der Dichter feiert darin die römische Herrschaft als besonders fortschrittliches, effizientes System der Chancengleichheit für alle Menschen, die einen sozialen Aufstieg durch eigene Leistung anstreben. Ethnien übergreifende Solidaritätsvorstellungen, Gleichheit vor dem Gesetz, Friedenssicherung und Prosperität ließen die Bevölkerung mit einem gewissen Optimismus in die Zukunft blicken. Selbst Christen begannen dem Reich nun etwas Positives abzugewinnen oder sich sogar mit ihm zu identifizieren.162 Im 4. und (frühen) 5. Jahrhundert kam es zum Konflikt zwischen dem traditionellen paganen Götter“glauben“ und dem absolute Geltung beanspruchenden Christentum, deren Vertreter jeweils ihre eigene Romidee ins Feld führten. Heidnische Würdenträger, welche die senatorisch-republikanischen Ideale von einst lebendig erhalten wollten und (ausschließlich) zu diesem Zweck die Fortführung der überlieferten Riten forderten – ihre persönlichen spirituellen Bedürfnisse suchten sie in philosophischen Spekulationen zu befriedigen –, stießen auf den Widerstand eines immer autoritärer auftretenden Klerus. Exemplarisch dafür ist ein auf den ersten Blick eher belanglos scheinendes Ereignis von 384 n. Chr., nämlich die von christlichen Kaisern veranlasste Entfernung des Victoria-Altars aus der römischen Kurie.163 Der sich daraus ergebende Streit, ob Eingriffe in die
159 Ebd. 15, 546–557. 160 Ebd. 15, 546. 161 Fuhrmann: Die Romidee der Spätantike, S. 103. 162 Ebd., S. 104 f. 163 Ebd., S. 116 ff.; Fuhrmann: Rom in der Spätantike, S. 59–80 (eigenes Kapitel); Richard Klein: Symmachus. Eine tragische Gestalt des ausgehenden Heidentums. Darmstadt 1971 (Impulse der Forschung 2), S. 22 ff., 99 ff., 140 ff.; Michael Seidlmayer: Rom und Romgedanke im Mittelalter.
2.2.2 Romallegorie: Beispiele aus Antike und Spätantike
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schon durch das Alter geheiligte Tradition zu dulden seien, legte in anschaulicher Weise die weltanschaulichen Differenzen der Spätantike offen. Ausgetragen bzw. nachträglich kommentiert wurde dieser Konflikt vor allem von drei Autoren, von so unterschiedlichen Gestalten wie dem adelsstolzen genuin römischen Stadtpräfekten Symmachus, dem Mailänder Kirchenvater Ambrosius und dem aus Spanien stammenden christlichen Dichter Prudentius. Alle drei bedienen sich in ihren Schriften eines allegorischen Kunstgriffs und machen sich in jeweils eigener Weise die Gestalt der personifizierten Roma zunutze, die als greise Göttin Vergangenheit und Gegenwart, Neuerung und Kontinuität gegeneinander abzuwägen hat. In diesem hohen Alter mit der Aufforderung zur Annahme des Christentums konfrontiert, kann Roma, je nach Standpunkt des Autors, diesen von ihr verlangten Schritt entweder als unerträgliche Zumutung zurückweisen oder als besondere Chance zur Selbstverjüngung wahrnehmen. Die christliche Idee des (heilsbedingten) Fortschritts der Geschichte konkurriert mit dem unbedingten Beharren auf der (angeblich bewährten) altrömischen Tradition.164 Symmachus hatte eine berühmte Bittschrift zur Wiederherstellung der alten Kulte und Privilegien, insbesondere aber zur Wiederaufstellung des Altars der Victoria verfasst, die sogenannte dritte Relatio. Im „rhetorischen Prunkstil der Spätantike“ äußert er behutsame, gedämpfte Kritik an den kaiserlichen Maßnahmen und wirbt unter Aufbietung neuplatonischer und nationalrömischer Gedanken um weltanschauliche Toleranz, da es mehr als nur einen Weg zur Erkenntnis der Wahrheit gebe. Den Höhepunkt des Schreibens stellt eine Klage dar, welche er der personifizierten Roma in den Mund legt.165 Diese erinnert an ihre ruhmvolle Vergangenheit und verbittet sich alle Versuche, sie als würdige Matrone noch schulmeistern zu wollen. Mit diesem Griff zur Prosopopoiie bietet Symmachus allerdings seinem Gegner Ambrosius einen idealen Anknüpfungspunkt. Dieser kann eine andere, glücklich bekehrte Roma antworten und dabei seine eigene teleologische Geschichtsauffassung vertreten lassen.166 Keineswegs sei es beschämend, entgegnet diese Greisin, von einem langgehegten Irrtum abzulassen und sich, wenn auch spät, noch zum Besseren zu bekehren. Relativ zeitnah, im Jahre 402 oder 403, verarbeitete Prudentius diesen Konflikt in seinem zwei Bücher umfassenden Lehrgedicht Contra Symmachum. In einem laut Manfred Fuhrmann künstlerisch unzulänglichen Amalgam von augusteischer Herrschaftsideologie und christlichen Providenztheorien lässt auch er eine bekehrte Greisin Roma auftreIn: Bernhard Kytzler (Hrsg.): Rom als Idee. Darmstadt 1993 (Wege der Forschung 656), S. 158–187, hier S. 186. 164 Fuhrmann: Die Romidee der Spätantike, S. 116. 165 Fuhrmann: Rom in der Spätantike, S. 73 ff. 166 Ebd., S. 78.
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ten, welche voll Stolz ihre wieder erblondeten Haare präsentiert.167 Kein anderer Autor hat die Funktion des (paganen) römischen Imperiums als praeparatio evan gelica nachdrücklicher behauptet und eine derartige Symbiose von Christianitas und Romanitas beschworen.168 Im Jahre 410 n. Chr. fiel der westgotische Herrscher Alarich in die Stadt am Tiber ein und ließ sie von seinen Horden entsetzlich verwüsten. Die gesamte römisch zivilisierte Gesellschaft wurde von einer nahezu apokalyptischen Erschütterung getroffen. Nicht wenige Zeitgenossen, die Rom für eine von Göttern oder Vorsehung begünstigte, über das Schicksal der Vergänglichkeit erhobene Macht gehalten hatten, glaubten nach dessen Sturz den Weltuntergang nahe.169 Selbst der Kirchenvater Hieronymus, der, zuvor schon von düsteren Vorahnungen geplagt, in Bethlehem bei der Kommentierung alttestamentarischer Prophezeiungen die Schreckensnachricht erhielt, reagierte mit größter Betroffenheit. In einem Brief beklagt auch er das Schicksal der Stadt in metaphorischen Wendungen. Das Haupt des Römischen Reiches ist vom Rumpfe getrennt; mit der einen Stadt ist der Weltkreis untergegangen. Ähnlich wie ihre Vorgängerinnen aus dem Alten Testament, z. B. Moab, Sodom und Ninive – selbstverständlich aber auch Jersusalem und Babylon –, ist Rom von der Herrin zur Magd geworden. Ebenso zitiert Hieronymus in einem anderen Brief aber auch Vergils auf den Fall Trojas weisenden Vers: Urbs antiqua ruit, multos dominata per annos170 und fügt das Wortspiel hinzu: capitur Urbs, quae totum cepit orbem.171 Ganz anders der noch prominentere Kirchenvater Augustinus, den diese Katastrophe erstmals überhaupt zu irgendeiner derartigen Stellungnahme provozierte. In seinem Sermo de Urbis excidio und in seiner großen Abhandlung De civitate Dei weist er die Ängste seiner Hörer und Leser als unbegründet zurück. Energisch tritt er denjenigen entgegen, welche das Unheil auf die Aufgabe oder Vernachlässigung der alten paganen Kulte und Traditionen sowie auf den Übertritt zum Christentum zurückführen. Dabei dienen ihm die Autoritäten der älteren Historiographie, insbesondere Sallust, zu Kronzeugen, dass seit jeher auch eine Großmacht dann und wann eine Niederlage hinnehmen müsse. Ebenso legt der Bischof auch gegenüber den Seinen unerbittlich die Schwachstellen einer jeglichen (in diesem Falle christlichen) Überhöhung Roms bloß und besteht auf strikter Trennung zwischen
167 Ebd., S. 118 f. 168 Ebd., S. 121; Demandt: Der Fall Roms, S. 66. 169 Gregorovius. Bd. 1/1, S. 77 ff. 170 Verg. Aen. 2, 363. 171 Rehm, S. 25; Demandt: Der Fall Roms, S. 58.
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irdischer Herrschaft und jenseitiger Heilserwartung.172 Rom werde als Heimstätte menschlicher Eitelkeit, wie viele andere Städte vor ihm, gezüchtigt; der Christ solle sich davon nicht allzu sehr beeindrucken lassen und als bloßer Pilger auf Erden die himmlische Heimat im Blick behalten. Augustinus’ Standpunkt scheint nicht mehrheitsfähig gewesen zu sein. Gerade um diese Zeit, im 4. und beginnenden 5. Jahrhundert, unter Kaiser Theodosius und seinen Söhnen erlangte die Vorstellung eines unvergänglichen Roms als Bollwerk gegen den drohenden Untergang des Reiches in Literatur und bildender Kunst eine nie gekannte Bedeutung und Verbreitung. Die eindringliche, bisweilen krampfhaft optimistische Beschwörung einer Roma aeterna sollte zunehmenden Zukunftsängsten Trotz bieten.173 Heiden wie Christen aus allen Gegenden des Reiches diskutierten am Beispiel Roms über das Prinzip von Dekadenz und Erneuerung, über die Fähigkeit einer hinfälligen Macht zur Selbstverjüngung und über die Wiederkehr eines Goldenen Zeitalters. Ein Geflecht von Variationen und Weiterentwicklung augusteischer Gedanken fand seinen effektvollsten Ausdruck in der Gestalt der sich verjüngenden Greisin Roma.174 Unter den Verfassern von Texten mit einer systematischen Romallegorie bzw. mit besonders pathetischen Rom-Prädikationen dominieren Claudian, Rutilius Namatianus, Ausonius, Ammianus Marcellinus und Sidonius Apollinaris. An erster Stelle ist der aus Alexandria stammende und somit von Haus aus griechischsprachige Claudian zu nennen, der in Rom zu einem Spezialisten panegyrischer lateinischer Gelegenheitspoesie avancierte.175 Gerade als Vorbild für die Beschwörung mythisch-allegorischer Erscheinungen in ausgefeilter Verssprache hat er auf die Nachwelt, insbesondere auf Spätmittelalter und Renaissance, gewirkt; noch im 18. Jahrhundert wurde er für seine Fest- und Fürstenspiegelliteratur geschätzt und gehörte, neben Ovid, Statius und Lucan, zu den maßgeblichen Autoren der Antike.176 Mehrmals lässt er in seinen Gedichten die Dea Roma persönlich auftreten, um Notstände zu beklagen oder um Kaiser und Feldherren zu verherrlichen, welche sich im Kampf um sie verdient gemacht haben.177 Die Stadt am Tiber kann – in Fortführung der schon von Cicero und Vergil vorgetragenen Gedanken – als magna urbs, als domina, regina oder mater Verehrung für
172 Fuhrmann: Rom in der Spätantike, S. 206 ff.; Gregorovius. Bd. 1/1, S. 78 f.; Demandt: Der Fall Roms, S. 58 ff. 173 Klein, S. 108 ff.; Fuhrmann: Die Romidee der Spätantike, S. 108 ff.; Christ, S. 797 ff.; Hommel, S. 34; Demandt: Der Fall Roms, S. 53 ff. 174 Fuhrmann: Die Romidee der Spätantike, S. 93 f. 175 Klein, S. 115 ff.; Fuhrmann: Rom in der Spätantike, S. 126 ff.; Rehm, S. 24 ff.; Demandt: Der Fall Roms, S. 54; von Albrecht. Bd. 2, S. 1060 ff. 176 Von Albrecht. Bd. 2, S. 1069 f. 177 Klein, S. 115.
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sich beanspruchen.178 Ihren vielleicht wirkungsvollsten Auftritt hat die Dea Roma in Claudians erstem lateinischem Poem von 395 n. Chr., in dem beinahe 300 Hexameter umfassenden Panegyricus auf das Konsulat der beiden noch jugendlichen Brüder Olybrius und Probinus.179 Der Autor, vor die heikle Aufgabe gestellt, zwei unbekannte junge Menschen zu loben, über die er noch so gut wie nichts wissen kann, behilft sich mit der Einkleidung seines Enkomions in ein großangelegtes mythologisches Panorama. Einen nicht unwesentlichen Bestandteil desselben bildet eine denkwürdige Begegnung zweier Autoritäten: Die Göttin Roma, ähnlich wie Pallas Athene gekleidet und bewaffnet, lässt ihre Diener Metus und Impetus ihren fliegenden Streitwagen bereitstellen und begibt sich schneller als der Wind auf einen Alpenpass zu einer Unterredung mit Kaiser Theodosius.180 Von diesem als numen amicum und legum genetrix begrüßt, trägt sie ihm unter feierlichen Wendungen ihre Bitte vor, den beiden Brüdern, die schon im zartesten Alter das Gemüt von Greisen besäßen, das Konsulat zu verleihen. Selbstverständlich stößt sie auf begeisterte Zustimmung.181 Auch das dritte Buch des Enkomions auf das Konsulat des Stilicho enthält eine Würdigung der Roma, welche aus geringen Anfängen rasant emporwuchs, die Welt erst unterwarf, dann befriedete und nun ihren Bürgern eher eine Mutter als eine Herrin sei.182 Die Stadt, über welche der Konsul Stilicho, der Adressat des Gedichts, zu wachen die Ehre habe, wird in hymnischer Form als die schönste Erscheinung auf Erden gepriesen (136–137). armorum legumque parens quae fundit in omnes imperium primique dedit cunabula iuris. sie, Mutter der Waffen und Gesetze, die ihre Herrschaft über alle ausbreitete und dem jungen Recht die Wiege gewährte.183
Als „Mutter der Waffen und Gesetze“ hat sie mit der Ausbreitung ihrer Macht auch die Grundlagen des Rechts geschaffen. Es folgt eine Aufzählung ihrer zahlreichen Siege zu Land und zur See, ihrer Siege über Spanien, Sizilien, Gallien und Karthago (138–149). Dies gipfelt in folgendem Lob (150–161):
178 Ebd., S. 116, Anm. 2. 179 Eine ausführliche Paraphrase bei Fuhrmann: Rom in der Spätantike, S. 129 ff. 180 Panegyricus dictus Olybrio et Probino consulibus, V. 73 ff. 181 Ebd., V. 126–173. 182 Claudian: De consulatu Stilichonis, V. 3, 130 ff. Eine Übersetzung der Verse 130–170 bietet Fuhrmann: Die Romidee der Spätantike, S. 112 f. 183 Übersetzung nach Fuhrmann ebd.
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haec est in gremium victos quae sola recepit humanumque genus communi nomine fovit, matris, non dominae ritu, civesque vocavit quos domuit nexuque pio longinqua revinxit. huius pacificis debemus moribus omnes quod veluti patriis regionibus utitur hospes, […] quod cuncti gens una sumus. nec terminus umquam Romanae dicionis erit, nam cetera regna luxuries vitiis odiisque superbia vertit:184 Sie ist’s, die als einzige die Besiegten in ihrem Schoße aufnahm und das Menschengeschlecht mit einem gemeinsamen Namen umfing, nach Art einer Mutter, nicht einer Herrin und sie nannte die Mitbürger, die sie bezwang, und verknüpfte durch liebende Bande das weit Auseinanderliegende. Ihren friedestiftenden Sitten verdanken wir es alle, dass sich der Fremde wie in der Heimat befindet, […] dass wir alle ein einziges Volk sind. Die römische Macht wird niemals enden. Die anderen Reiche jedoch haben Schwelgerei durch Laster und Stolz durch Haß gestürzt.
Roma, die sich gegenüber den von ihr Besiegten von der waffenmächtigen Herrin zur liebenden Mutter wandle und alle Menschen zu einem einzigen Volk – fast möchte man sagen: zur „Familie“ – vereinige – diese Verherrlichung der Zivilisationsidee geht noch deutlich über den Rom-Hymnus des Aelius Aristides hinaus, dessen motivisches Repertoire Claudian möglicherweise gekannt hat.185 An diese Verse schließt nahtlos der Roma aeterna-Gedanke an, untermauert durch eine Kette von Negativexempeln, nämlich eine Aufzählung von berühmten Städten oder Reichen, welche durch Luxus, Hochmut und Entkräftung zugrunde gegangen sind. Keine Großmacht, welche nicht durch Laster aller Art geschwächt früher oder später einem aufstrebenden Rivalen zum Opfer gefallen wäre: So musste sich Athen Sparta, Sparta Theben, Assyrien Medien, Medien Persien, Persien Makedonien und dieses wiederum Rom geschlagen geben. Rom allein darf sich durch die Orakel der Sibylle und durch die Kulte seines zweiten Königs Numa auf ewig geschützt fühlen. Der andere große Repräsentant der paganen Rombeschwörung in der spätantiken Dichtung ist Claudius Rutilius Namatianus.186 Dieser stammte aus gallorömischem Adel, wirkte 414 n. Chr. in Rom als Stadtpräfekt und sah sich im Jahre 416/417 gezwungen, seine bedrohten Ländereien in der von den Westgoten bedrängten gallischen Heimat aufzusuchen. In seinem einzigen bekann184 Ebd., 3, 150–161. 185 Fuhrmann: Die Romidee der Spätantike, S. 113 f. 186 Rehm, S. 26 ff.; Kytzler, S. 304 f.; Demandt: Der Fall Roms, S. 54; Fuhrmann: Rom in der Spätantike, S. 285 ff.; von Albrecht. Bd. 2, S. 1056 ff.
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ten Werk, dem in zwei Bücher gegliederten, in elegischen Distichen abgefassten unvollendeten Itinerarium De reditu suo bekundet er in vielgerühmter Weise seinen wehmütigen Abschied von Rom. Eine der eindrucksvollsten Passagen ist ein über 100 Verse langes inbrünstiges Gebet an die Dea Roma, in welchem er, vielleicht noch eindringlicher als Claudian, seine Ewigkeits- und Erneuerungsidee formuliert (1, 47–140): Exaudi, regina tui pulcherrima mundi, inter sidereos Roma recepta polos! exaudi, genitrix hominum genitrixque deorum, non procul a caelo per tua templa sumus. […] fecisti patriam diversis gentibus unam; profuit iniustis te dominante capi, […] illud te reparat quod cetera regna resolvit: ordo renascendi est crescere posse malis. Höre mich an, herrlichste Königin der Welt, die dein eigen ist, in den gestirnten Himmel aufgenommene Roma; höre mich an, Stammutter der Menschen und Stammutter der Götter, sind wir doch durch deine Tempel dem Himmel nicht fern; […] Unterschiedlichen Völkern hast du ein einziges Vaterland geschaffen; Segen hat es den Ungerechten gebracht, von dir erobert und beherrscht zu werden. […] dich stellt wieder her, was die übrigen Reiche zugrundegerichtet hat; das Gesetz deiner Wiedergeburt ist die Kraft, am Leide zu wachsen.187
Mit seiner optimistischen Behauptung Ordo renascendi est crescere posse malis gelang es ihm, einen langlebigen Topos zu prägen. Noch eine andere Besonderheit fällt ins Auge: Rutilius setzt wohl als einziger Autor Rom in Bezug zu dem mythischen Ort der heimatlichen Sehnsucht schlechthin, nämlich zu Ithaka.188 Einige Jahrzehnte später tritt in der poetischen Tradition des Claudian und Rutilius ein anderer Patriot von vornehmer gallorömischer Herkunft auf den Plan, nämlich der mehrmals zwischen römischen und westgotischen Herrschern zugunsten seiner gallischen Heimat erfolgreich vermittelnde Diplomat, später in Rom als Stadtpräfekt und zuletzt in Clermont als Bischof wirkende Sidonius Apollinaris.189 Obwohl in der katholischen Kirche als Heiliger kanonisiert, ist er als 187 Text und Übersetzung nach Rutilius Claudius Namatianus: De reditu suo sive Iter Gallicum. Hrsg., eingeleitet und erklärt von Ernst Doblhofer. Bd. 1. Heidelberg 1972, S. 92 ff. 188 Bernhard Kytzler: Abschied von Rom. In: Bernhard Kytzler (Hrsg.): Rom als Idee. Darmstadt 1993 (Wege der Forschung 656), S. 298–323, hier S. 305. 189 Zu Sidonius Apollinaris vgl. Sidonius: Poems and Letters. With an English translation, introduction, and notes by W. B. Anderson in two volumes. Bd. 1. Cambridge (Massachusetts) / London 1956; Rigobert Günther: Apollinaris Sidonius. Eine Untersuchung seiner drei Kaiserpan-
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Schriftsteller hauptsächlich für seine (meist panegyrischen paganen) Gedichte und sein (nach dem Vorbild des Plinius und Symmachus) in neun Bücher gegliedertes Briefcorpus bekannt. 455 n. Chr. befand sich zumindest der ohnehin schon stets von germanischen Stammesverbänden heimgesuchte Westen des Reiches wieder einmal auf einem Tiefpunkt. Der schon im Kindesalter auf den Thron gelangte Kaiser Valentinian III. fiel am 15. oder 16. März (an den „Iden“) einer Verschwörung zum Opfer und kurz darauf richteten die Vandalen unter Geiserich in Rom Verheerungen an. Im Sommer desselben Jahres wurde Sidonius’ Schwiegervater Avitus aufgrund seiner diplomatischen Verdienste von gallorömischen Senatoren in Viernum (Beaucaire, in der Nähe von Arles) zum Kaiser ausgerufen und bekam zudem am ersten Januar 456 das Konsulat übertragen. Zu diesem Anlass – doppelt erfreut insofern, als kaiserliche und konsularische Gewalt nun glücklich in einer Hand vereinigt waren – ehrte Sidonius ihn in Rom mit einem öffentlich vorgetragenen über 600 Hexameter umfassenden Panegyricus. Für die mythologische Einkleidung desselben liefert Vergils Aeneis wesentliche Impulse. Das Gedicht beginnt mit einem Vergleich zwischen Phoebus und Avitus; dieser spendet auf Erden ebenso helles Licht wie jener in seiner Sphäre. Zufällig blickt der Göttervater vom Himmel, findet Gefallen an dem, was er sieht, und beruft eine Götterversammlung ein. In einem prachtvollen Aufzug erscheinen die Götter und (personifizierten) Flüsse und nehmen ihre Plätze ein. Im Kontrast zu der allgemeinen Festtagsstimmung steht der Auftritt der tieftraurigen Roma, die sich aus einem entfernten Winkel mit schweren Schritten herbeischleppt. Sie bietet den Anblick einer erschöpften, niedergeschlagenen Kriegerin und leidet unter dem Gewicht ihrer Waffen, die niemanden mehr zu beeindrucken, geschweige denn einzuschüchtern vermögen. Mit herabhängendem, staubbedecktem Haar wirft sie sich, ähnlich wie Venus im ersten Buch der Aeneis,190 weinend zu Jupiters Füßen. Sie stimmt eine große Klage an (51–118) mit den Anfangsworten (51–54): „testor, sancte parens“, inquit, „te numen et illud, quidquid Roma fui: summo satis obruta fato invideo abiectis; pondus non sustinet ampli culminis arta domus nec fulmen vallibus instat. „Ehrwürdiger Vater“, sprach sie, „dich und jene besondere Gottheit, welche auch immer ich, Roma, einst gewesen bin, rufe ich zu Zeugen: Vom höchsten Geschick reichlich geschlagen beneide ich Menschen geringen Standes. Eine enge Hütte muss nicht das Gewicht eines großen Daches tragen, und der Blitz droht nicht den Tälern.191 egyriken. In: Gerhard Wirth (Hrsg.): Romanitas – Christianitas. Untersuchungen zur Geschichte und Literatur der römischen Kaiserzeit. Berlin / New York 1982, S. 654–660. 190 Vgl. Verg. Aen. 1, 222 ff. 191 Übersetzung T. B.
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Schon hier wird der olim/quondam-nunc-Topos formuliert, der erschütternde Gegensatz von jetzt und einst, von Sturz und glorreicher Vergangenheit eines (Welt-)Reichs, welchen die Humanisten des 16. und 17. Jahrhunderts mit Vorliebe für ihre Heroiden übernehmen und durch den Mund einer bedrängten Germania oder anderen Landesallegorie (z. B. Austria, Pannonia/Hungaria etc.) beklagen lassen. Roma ergeht sich in einer langen Aufzählung ihrer alten Helden und Feinde. In der Gegenwart sehnt sie sich nach einem starken Beschützer, der den großen Männern von damals gleichkommt (66–68). pro dolor! hic quonam est qui sub mea iura redegit Samnitem, Gurges, Volsci qui terga cecidit, Marcius, et Senones fundens dictator et exul? Ach, weh! Wo ist Gurges, der die Samniten unter meine Gewalt brachte, wo Marcius, der die Rücken der Volsker mit Hieben versah, wo derjenige, welcher als Diktator und Verbannter die Senonen in die Flucht schlug?
Mit wehmütigem Stolz verweist sie auf ihre einstigen Siege zu Land und zur See. Ihre Regenten von den frühen Konsuln und Tribunen bis einschließlich Augustus haben ihr alle glanzvolle Zeiten beschert; dann setzt mit der zunehmenden Autokratie der Nachfolger ein Verfall ein; Roma beweint ihre Zerstückelung und ihren unwürdigen Status als Gefangene (100–104). […] et hinc iam (pro dolor!) excusso populi iure atque senatus quod timui incurri; sum tota in principe, tota principis, et fio lacerum de Caesare regnum, quae quondam regina fui; […]. […] und von da an bin ich jetzt (ach weh!), wo das Recht des Volkes und des Senates zunichte gemacht wurde, in eben die Lage geraten, welche ich gefürchtet habe; ich bin vollkommen in der Gewalt des Diktators, vollkommen in seinem Besitz und werde ein vom Kaiser zerrissenes Reich, ich, welche ich einst Königin war; […].
Von Tiberius bis Domitian gebärden sich die Kaiser mehr oder weniger widerwärtig,192 erst unter Nerva, mehr noch unter dessen mit allen Tugenden ausgestattetem Adoptivsohn, kann sich Roma, die gefallene Königin (ausdrücklich: regina), von ihren Leiden etwas erholen. Sie wünscht sich einen zweiten Trajan (116 talem capta precor); dieser könnte aber höchstens aus Gallien kommen. Soweit Roma. Fast das ganze übrige Gedicht (123–598) stellt die trostspendende Antwort des
192 Ein besonders anschauliches Detail ist die körperliche Konfrontation mit Vitellius, der sie in seiner abscheulichen Gefräßigkeit mit seinem Bauch stößt. 7, 108–109.
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Göttervaters dar. Unterbrochen durch zahlreiche Binnenreden und Apostrophen – und dadurch für den Leser sehr unübersichtlich – referiert Jupiter die Ereignisse der jüngeren Vergangenheit und entwirft ein strahlendes Porträt des Avitus, des für Roma auserkorenen Retters. Dieser zum Idealrömer stilisierte (gallische) Held – mit eigener Hand bestellt er sein Land, ist arm an Geld und Gütern, reich an Verdiensten – hat sich mehrmals zum entscheidenden Zeitpunkt in diplomatischer Mission bewährt und deshalb die Kaiserkrone aufgenötigt bekommen. Eindrucksvoll bringt Jupiter seine Rede zum Abschluss (585 Hunc tibi, Roma, dedi). Avitus wird für Roma noch viele Völker unter das Joch zwingen und gegebenenfalls abtrünnige zurückholen; Roma soll wieder stolz aufblicken und die hässlichen Spuren ihres vorzeitigen Alterns ausmerzen. Ein noch unmündiger Kaiser in jugendlichem Alter (Valentinian III.) hat sie zur Greisin gemacht – im Text findet sich die explizit maskuline Form senem! –, ein Herrscher in reiferen Jahren wird ihr die Jugend wiederschenken (595–598). laetior at tanto modo principe, prisca deorum Roma parens, attolle genas ac turpe veternum depone: en princeps faciet iuvenescere maior, quam pueri fecere senem. Aber jetzt, Roma, ehrwürdige Göttermutter, hebe unter einem so großen Herrscher wieder froheren Herzens dein Gesicht und leg die hässliche Lethargie des Alters ab: ja, ein mündiger Herrscher wird dich wieder jung werden lassen, dich, welche Knaben zur Greisin gemacht haben.
Die versammelten Götter applaudieren Jupiters Rede, und die Parzen schicken sich an, die auf Kaisertum und Konsulat basierende Doppelherrschaft des Avitus zu einem Goldenen Zeitalter zu machen (599–602). Soweit der Inhalt des Panegyricus. Anders als im Plan der fiktiven Parzen vorgesehen wurde Avitus noch im selben Jahr gestürzt und verlor auf der Flucht in die Auvergne (vielleicht durch Mörderhand) sein Leben. Den Nachfolger, der seinen Schwiegervater vom Thron verdrängt hatte, Majorian, ehrte Sidonius auf eine ähnliche Weise; insgesamt verfasste er drei Kaiserpanegyriken,193 in welchen er jeweils den illusorisch gewordenen Hoffnungen einer zusehends schwindenden aristokratischen Elite Ausdruck verlieh.194 Im Panegyricus für Avitus bietet er als echter (Lokal-)Patriot alles auf, um eine exklusive, in Vorurteilen befangene und sich als genuin römisch gebärdende Oberschicht von der Legitimität
193 Sidon. carm. 2, 5 und 7. 194 R. Günther: Apollinaris Sidonius, S. 660.
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2 Voraussetzungen zur Entstehung der Germania-Heroide
und Qualität eines aus Gallien stammenden Herrschers zu überzeugen.195 Die Romallegorie dient hier zur nachdrücklichen Sympathielenkung. Ihre(n) Retter will Roma fortan aus Gallien rekrutieren – durch ihren Mund formuliert der Autor gewissermaßen eine „innere translatio imperii“ avant la lettre.
2.2.3 Romallegorie: Beispiele aus dem Mittelalter Die bereits in der (späteren) Antike erörterte Frage, ob Rom wie alle anderen Großmächte einmal dem Untergang geweiht sei oder (in verwandelter Form) fortbestehe, beschäftigte auch das ganze Mittelalter hindurch die Gemüter.196 Kein Geringerer als Papst Leo I. („der Große“) verlieh im 5. Jahrhundert dem Gedanken fruchtbarer Transformation klaren Ausdruck, als er am Peter- und Pauls-Tag in einer berühmten Predigt die Apostelfürsten würdigte.197 Immerhin spricht es für die generelle Beliebtheit der rhetorischen Personifikation, wenn er die Stadt gewissermaßen als weibliches Wesen apostrophiert und ihr versichert, sie sei von der Lehrerin des Irrtums zur Schülerin der Wahrheit geworden.198 Größeren Raum beansprucht die Allegorie über 100 Jahre später bei einem anderen Papst. 593 predigte Gregor I. („der Große“) in der Basilika St. Peter über den Propheten Ezechiel und hielt in diesem Rahmen eine Art „Leichenrede“ auf das verwüstete, von den Langobarden bedrohte Rom.199 Zunächst beklagt er die allerorts stattfindende Ermordung von Menschen und die Verheerung des Landes, welche ihm als Boten des nahen Weltuntergangs gelten, dann kommt er auf den Zustand der Stadt zu sprechen. In alttestamentarischem Pathos bekundet der Pontifex, selbst aus altem römischem Adel stammend, seinen Schmerz über den Sturz der einstigen „Herrin der Welt.“ Quid est jam, rogo, quod in hoc mundo libeat? Ubique luctus aspicimus, undique gemitus audimus. Destructae urbes, eversa sunt castra, depopulati agri, in solitudinem terra redacta est. […] Ipsa autem quae aliquando mundi domina esse videbatur qualis remanserit Roma conspicimus. Immensis doloribus multipliciter attrita, desolatione civium, impressione hostium, frequentia ruinarum; ita ut in ea completum esse quod contra urbem Samariam per hunc eundem prophetam longe superius dicitur: […] Sed ecce jam de illa omnes hujus
195 Ebd., S. 655, 659 f. 196 Fuhrmann: Die Romidee der Spätantike, S. 94. 197 Rehm, S. 31; Seidlmayer, S. 171. 198 Isti [apostoli] enim sunt viri per quos tibi Evangelium Christi, Roma, resplenduit; et quae eras magistra erroris, facta es discipula veritatis […]. Rehm, S. 31. 199 Gregorovius Bd. 1/ 1, S. 257 ff.; Rehm, S. 36 f.; Seidlmayer, S. 160; Demandt: Der Fall Roms, S. 76.
2.2.3 Romallegorie: Beispiele aus dem Mittelalter
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saeculi potentes ablati sunt; ossa ergo excocta sunt. Ecce populi defecerunt, carnes ejus liquefactae sunt. […] Ubi enim senatus? Ubi jam populus? Contabuerunt ossa, consumptae sunt carnes, omnis in ea saecularium dignitatum fastus exstinctus est. Excocta est universa compositio ejus.200 Was gibt es, frage ich, was in dieser Welt noch erfreut? Überall sehen wir Trauer, überall hören wir Geseufz; die Städte sind zerstört, die Kastelle geschleift, die Äcker verwüstet, die Erde zur Einöde gemacht. […] In welchem Zustande aber Rom, einst die Herrin der Welt, zurückgeblieben ist, das ist uns deutlich genug: Von unermeßlichem Schmerz, von Entvölkerung der Bürger, vom Sturm der Feinde, vom Schutt der Ruinen ist sie darniedergebeugt, so daß in ihr erfüllt zu sein scheint, was einst der Prophet Ezechiel über Samaria vorausgesagt hat: […] Aber siehe, nun sind schon von ihr alle Mächtigen der Welt genommen; die Knochen sind verkocht; die Völker sind abgefallen; das Fleisch ist also zergangen. […] Denn wo ist der Senat? Wo ist das Volk? Die Knochen sind aufgelöst, das Fleisch verzehrt: in ihr ist aller Glanz weltlicher Würden ausgelöscht. All ihre Masse ist geschwunden, […].201
Gregor kombiniert mit dem Bild der entthronten Königin u. a. eine anschauliche Leib- und Krankheitsmetapher. Rom erscheint als verkochter, fauliger Organismus, als toter Leib, dessen Fleisch verzehrt und dessen Knochen aufgelöst sind. Dies rekurriert auf Ezechiels gegen Samaria gerichtetes Gleichnis vom Kochtopf, wo dem Leser eine explizite Deutung an die Hand gegeben wird. Fleisch und Knochen – die Mächtigen der Welt und die Völker – sollen in siedendem Wasser – Liebe zum Ruhm der Welt, Ehrgeiz – zu einer formlosen Masse aufgekocht werden. Walther Rehm sieht bei Gregor eine persönliche patriotische mit einer rein klerikalen Haltung streiten, welche einander bis zu einem gewissen Grad blockieren. Weder eine ungetrübte Begeisterung für den Sitz der Apostel und Märtyrer noch die (zwanghaft) optimistische (pagane) Beschwörung des ordo renascendi zeichneten sich hier ab.202 Ähnliche Stimmen erklingen in den folgenden Jahrhunderten.203 So erhebt Benedikt von Sant’ Andrea am Monte Soracte, ein römischer Mönch, gegen Ende des 9. Jahrhunderts angesichts der eindringenden Sachsenheere in seiner Chronik – in barbarischem Latein! – einen großen Wehruf über die Stadt.204 Bemerkenswert darin ist eine hocherregte Anrede an Rom: Dieses, 200 Homiliarum in Ezechielem Lib. II., Homil. VI., 22. In: Sancti Gregorii Papae I. cognomenti Magni Opera omnia. Tomus secundus. Accurante Jacques-Paul Migne. Paris 1849 (Patrologiae cursus completus. Series Latina 76), Sp. 998–1012, hier Sp. 1009–1010. Vgl. auch Ez. 24, 1–13. 201 Übersetzung nach Gregorovius. Bd. 1/1, S. 257 f. 202 Rehm, S. 37; Gregorovius. Bd. 1/1, S. 259: „Es gibt kein furchtbareres Gemälde des Zustandes dieser Stadt am Ende des VI. Jahrhunderts als jene Versammlung der Römer und die Predigt des Papstes; […]. Sie war die Leichenrede, welche der Bischof am Grabe Roms hielt, und dieser Bischof war der edelste Patriot, […].“ 203 Seidlmayer, S. 160. So z. B. Alcuin, der Ende des 8. Jahrhunderts mit beklemmenden Eindrücken von dort zurückgekommen war, oder im Jahr 875 Papst Johann VIII. 204 Rehm, S. 39 f.; Seidlmayer, S. 161.
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2 Voraussetzungen zur Entstehung der Germania-Heroide
von Otto dem Großen gefangen genommen, ist von der Mutter zur Tochter geworden, vom Gipfel der Macht in die grausamen Hände eines Plünderers und Brandschatzers gestürzt – weil es eben allzu schön war.205 Der Mönch legt offenbar größeren Nachdruck auf die Demütigung in seinem patriotischen Stolz als auf die gerade für ihn grundsätzlich gebotene fromme Ergebung in die göttliche Fügung. Auch das 10. Jahrhundert bringt disparate Erzeugnisse hervor. Der Veroneser Hymnus auf Petrus und Paulus beginnt mit der oftmals zitierten Apostrophe O Roma nobilis, orbis et domina.206 Lediglich dort klingt die Vorstellung von einer weiblichen Inkarnation der Macht an; die folgenden Verse schildern Roms prachtvolle Farben, welche dem Rot des Märtyrerbluts und den weißen Lilien der heiligen Jungfrauen geschuldet sind.207 Beachtung verdient auch das Carmen in assumptione sanctae Mariae in nocte quando tabula portatur, eine anonyme, bisweilen auch Leo, dem Bischof von Vercelli und Berater Ottos III., zugeschriebene Elegie auf die Himmelfahrt Mariens in Echoici versus.208 Sie präsentiert einen fiktiven Romreisenden, der nachts zufällig auf eine wunderbare Lichterprozession trifft und niemand Geringeren als die Göttin Roma selbst um eine Erklärung bittet. Einleitung und Schluss des kurzen Gedichtes bestehen aus der Anrufung Mariens, den mittleren Teil nehmen die Frage des Fremden (9–22) an Roma und deren Antwort (23–50) ein. Der Fremde erkundigt sich voll Anteilnahme nach dem Grund für Romas Tränen, wo sie doch durch das Blut der Märtyrer erneuert, durch edleres Wasser vom Staube reingewaschen sei und zudem von dem Hirten Paulus geweidet werde. Roma verbittet sich jegliche ehrenvolle Anrede und bezichtigt sich der Ausschweifungen und Laster zu einer Zeit, wo sie bereits Gottes Gnade hätte annehmen können. Immerhin hat sie sich nun zu später Zeit bekehrt (27–32). In mediis opibus meretrix nocturna cucullos Induo prostituens, in mediis opibus. Nec metuens Dominum proieci crimine vultum, Offendens nimium nec metuens Dominum. Semino nunc lacrimas ad serae gaudia messis; Et post delicias semino nunc lacrimas.
205 Seidlmayer, S. 161. 206 Rehm, S. 34; Hommel, S. 35; Seidlmayer, S. 172; Stella, S. 289. 207 Hommel, S. 35: „Das Veroneser Lied zeugt gerade dadurch, daß „in der erhabenen Anrede an Rom nichts Persönliches steckt“, für die Gebräuchlichkeit des Epithetons.“ Stella, S. 289 hingegen meint, Rom sei vom bloß räumlich zu verstehenden Schauplatz einer Huldigung an die Märtyrer zum eigentlichen Protagonisten aufgestiegen. 208 Abgedruckt in Francesco Novati: L’ influsso del pensiero latino sopra la cività italiana del medio evo. 2., durchgesehene, korrigierte und erweiterte Auflage. Mailand 1899, S. 170–172; vgl. auch Rehm, S. 40; Stella, S. 298 f.
2.2.3 Romallegorie: Beispiele aus dem Mittelalter
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Mitten im Reichtum ziehe ich, eine zur Nachtzeit umtriebige Hure, meine Kapuze an, um mich feilzubieten mitten im Reichtum. Ohne den Herrn zu fürchten, gab ich in Sünde meine Gestalt preis, den Herrn allzu sehr beleidigend und ohne ihn zu fürchten. Jetzt säe ich Tränen zu den Freuden einer späten Ernte, und nach den Ausschweifungen säe ich jetzt Tränen.209
Als Phänomen eigener Art würdigt die Geschichte der vormodernen Literatur Hildebert von Lavardin (1056–1133), Bischof von Mans, später Erzbischof von Tours.210 Dieser hatte sich die lateinische Sprache in derartiger Perfektion zu eigen gemacht, dass einige seiner Gedichte lange Zeit für Produkte der Spätantike gehalten wurden und sogar Eingang in die Anthologia Latina fanden.211 Aus seinem Corpus ragen zwei Elegien hervor, die in unterschiedlicher Weise das Thema Rom verarbeiten. Die erste und wohl noch bemerkenswertere der beiden, der in dem Grundton wehmütiger Bewunderung gehaltene Nachruf De Roma, ordnet sich in die Tradition der paganen Stadtverehrung ein und stellt laut Rehm die (einzige) eigentliche mittelalterliche Romdichtung dar.212 Die Trauer über die Zerstörung der antiken Schönheit, vor allem aber die Feier der noch erhaltenen menschlichen Kunstwerke, welche die Natur übertreffen und die Götter selbst beschämen, ist ein eher überraschendes Produkt aus der Feder eines mittelalterlichen Klerikers und weist in manchem schon auf den Humanismus voraus. Der hochgebildete, an den römischen Klassikern geschulte Geistliche war dreimal über die Alpen gereist und dürfte zwischen 1100 und 1110 zum ersten Mal die Eindrücke verarbeitet haben, welche die zuletzt von dem Normannenherzog Guiscard (1084) schwer beschädigte Stadt auf ihn machte.213 Die nach der neuesten Edition von A. Brian Scott als carmen 36 deklarierte und 38 Verse umfassende Elegie beginnt als Apostrophe an das in Trümmern liegende Rom: Par tibi, Roma, nihil cum sis prope tota ruina. quam magni fueris integra, fracta doces. […] 209 Übersetzung T. B. 210 Gregorovius Bd. 2/1, S. 108 f.; Rehm, S. 43 ff. (eigenes Kapitel); Stella, S. 300 ff.; Ralf Georg Czapla: Zur Topik und Faktur postantiker Romgedichte (Hildebert von Lavardin, Joachim du Bellay, Andreas Gryphius). Mit einem Exkurs über die Rezeption von Hildeberts carmen 36 Scott in der Frühen Neuzeit. In: Daphnis 27 (1998), S. 141–183, bes. S. 143–158; August Buck: Humanismus. Seine europäische Entwicklung in Dokumenten und Darstellungen. Freiburg / München 1987 (Orbis academicus 1/16), S. 86. 211 Buck, S. 86. 212 Eine ausführliche Interpretation sowie einen Ausblick auf die Rezeption bis zu Andreas Gryphius in dessen Sonett Als er auß Rom geschieden bietet Czaplas Aufsatz. 213 Rehm, S. 44 ff.
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urbs cecidit, de qua si quicquam dicere dignum moliar, hoc potero dicere „Roma fuit.“ non tamen annorum series, non flamma, nec ensis ad plenum potuit hoc abolere decus. tantum restat adhuc, tantum ruit, ut neque pars stans equari possit, diruta nec refici.214 Nichts ist, Rom, dir gleich, auch wenn du fast gänzlich Ruine bist! Wie groß du gewesen bist, als du noch unversehrt warst, davon kündest du selbst im Zerfall noch. […] Nun aber ist diese Stadt gefallen, und wollte ich es unternehmen, irgendetwas Würdiges über sie zu sagen, so könnte ich dies nur sagen. „Sie war Rom!“ Doch weder der Lauf der Jahre, weder Flamme noch Schwert vermochten diesen Glanz vollständig auszulöschen. Soviel steht immer noch, soviel ist zerstört, daß weder der bestehende Teil erreicht, noch der niedergestürzte wiedererrichtet werden kann.215
Bemerkenswert ist hier der konsolatorische Zug. Selbst die Trümmer legen noch ein beredtes Zeugnis für die einstige Schönheit der unversehrten Stadt ab. Weder Zeit noch Feuer noch Schwert, so beteuert der Betrachter mit Bezug auf den von Horaz geprägten Unvergänglichkeitstopos, haben die Pracht vollständig zerstören können.216 Keine wohlerhaltenen Dinge der Gegenwart können sich mit diesen Ruinen messen, und das Zerstörte gewinnt nicht an Reiz durch Wiederaufbau. Die Götter sind sogar bestrebt, ihren Abbildern von Menschenhand möglichst ähnlich zu werden. Mit dieser Elegie korrespondiert eine fast ebenso lange (wesentlich später verfasste?) zweite – nach Scott carmen 38 und dort ebenfalls mit De Roma betitelt, nach älteren Darstellungen mit Iterum de Roma –, worin die weitgehend zerstörte Stadt diesmal selbst das Wort ergreift und über das Glück ihrer Bekehrung zu Christus jubelt. Zertrümmert, wie sie ist, erkennt sie sich kaum noch wieder, frohlockt aber, sie sei in ihrer jetzigen Armut größer als einst auf der Höhe ihrer Macht. vix scio que fuerim, vix Rome Roma recordor, vix sinit occasus vel meminisse mei. gratior hec iactura mihi successibus illis: maior sum pauper divite, stante iacens.217 Kaum noch weiß ich, wer ich war, kaum erinnere ich, Rom, mich an Rom, und kaum läßt mein Niedergang mich meiner erinnern. Doch dieser Verlust ist mir lieber als jene Erfolge: In Armut bin ich größer als im Reichtum, im Liegen größer als im Stehen.218
214 Hildebert von Lavardin: carmen 36. Text nach Hildebertus Cenomannensis Episcopus Carmina Minora. Editio altera. Ed. A Brian Scott. München / Leipzig 2001. 215 Übersetzung nach Czapla, S. 149. 216 Zur Bezugnahme dieser Verse auf Hor. carm. 3, 30 und Ov. met. 15, 871 ff. vgl. ebd., S. 163 f. 217 Hildebert von Lavardin: carmen 38, V. 7–10. 218 Übersetzung nach Czapla, S. 167.
2.2.3 Romallegorie: Beispiele aus dem Mittelalter
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Abschließend wägt sie die Verdienste ihrer einstigen Herrscher, Soldaten und Gelehrten gegen die Opfertat Christi ab und verkündet ein optimistisches Fazit: Die ersteren haben ihr Länder erworben, die letztere den Himmel. quis gladio Cesar, quis sollicitudine consul, quis rhetor lingua, que mea castra manu tanta dedere mihi? Studiis et legibus horum obtinui terras: crux dedit una polum.219 Welcher Kaiser hat mit dem Schwert, welcher Konsul mit seiner Fürsorge, welcher Redner mit seinem Wort, welcher Krieg mit seiner Faust mir solch Großes gegeben? Durch deren Mühen und Gesetze habe ich den Erdkreis gewonnen, einzig das Kreuz gab mir den Himmel.220
Gregorovius und Rehm halten diese zweite Elegie für die moralisch gebotene christliche Palinodie, für eine Art Widerruf und Selbstkorrektur des über seine fast heidnische Kunstverherrlichung erschrockenen (und zu reiferem Alter gelangten) Bischofs.221 Eine Absage an jegliche Rom-Nostalgie enthält dagegen das von dem in Cluny wirkenden Mönch Bernhard von Morlas um 1140 verfasste Carmen de contemptu mundi.222 In gereimten Versen apostrophiert der antikuriale und papstkritische Autor die Stadt und bescheinigt ihr nicht nur Anzeichen einer äußeren Zerstörung, sondern einen (ewigen) Tod durch den Fall in die Bedeutungslosigkeit.223 Etwa um dieselbe Zeit (1144) diente anlässlich eines nicht unbedeutenden Ereignisses die systematische rhetorische Verlebendigung einer „Herrin der Welt“ zur Austragung des Konfliktes zwischen republikanisch geprägtem Stadtrömerstolz und (nichtitalienischem) kaiserlichem Imperiumsgedanken.224 Gerade war der frisch nominierte Kaiser Friedrich I. (Barbarossa) nach Rom gezogen, um sich dort vom Papst krönen zu lassen. Die von der Wiederherstellung der Republik träumenden Römer, großenteils Anhänger des berüchtigten Revolutionärs Arnold von Brescia, schickten ihm vor den Toren Boten entgegen, die ihn nicht ohne weiteres einlassen, sondern ihm zuerst gewisse Bedingungen diktieren sollten. Diese Bedingungen legten sie einer personifizierten Roma in den Mund.225 Als 219 Hildebert von Lavardin: carmen 38, V. 33–36. 220 Übersetzung nach Czapla, S. 167. 221 Gregorovius. Bd. 2/1, S. 109; Rehm, S. 51. 222 Rehm, S. 68 f.; Seidlmayer, S. 161 f. 223 Fas mihi dicere, fas mihi scribere: „Roma, fuisti“,/ Obruta moenibus, obruta moribus, occubuisti. Rehm, S. 69. 224 Gregorovius. Bd. 2/1, S. 224 ff.; Seidlmayer, S. 176 f. 225 Eine Übersetzung des Textes bei Gregorovius. Bd. 2/1, S. 224 ff.
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„erlauchte Herrin der Welt“ begrüßt diese den neuen Herrscher, bietet dem „Gastfreund“ aus eigener Gnade das „Bürgerrecht“ an, verlangt aber im Gegenzug Achtung vor ihrer republikanischen Tradition und die Bewahrung alter Sonderrechte für ihre Bürger. Dies provoziert eine entrüstete Antwort Barbarossas – das ausgeprägte Machtgefühl des Staufers steht in schärfstem Widerspruch zu dem immer wieder auflodernden Freiheitswillen der italienischen Städte. Immerhin geht Barbarossa auf die rhetorischen Vorgaben ein und spricht nun seinerseits Roma an. Dem republikanisch begründeten restaurativen Stadtrömerstolz setzt er das meritokratische Argument der – zu seiner Zeit erst systematisch ausgearbeiteten? – translatio imperii entgegen: Alle lobenswerten Eigenschaften, welche die Römer einst besessen hätten, wären bekanntermaßen erst zu den „Griechen“ (Byzantinern), dann zu den Franken und somit zu den Deutschen übergegangen. Den Rettern und Befreiern der durch Dekadenz geschwächten und von außen bedrängten Roma komme daher die rechtmäßige (alleinige) Herrschaft zu. Die Allegorie vermochte offenbar nur, die jeweilige Meinung eindrucksvoll zu zementieren; einen Konsens bewirkte sie nicht. Da beide Seiten auf ihrem Standpunkt beharrten, musste sich Barbarossa unter militärischem Schutz in der Basilika St. Peter krönen lassen und sich mit Hilfe von Waffen den Zutritt ins Stadtinnere verschaffen.
2.2.4 Romallegorie: Frühhumanismus, tagespolitische Anliegen Allmählich mehrten sich in ganz Italien patriotische Stimmen der Klage und Gegenwartskritik. Nach Dante Alighieris Bestrebungen, Rom als auf Gottes Ratschluss auserkorene imperatrix zu verherrlichen,226 war es vor allem Francesco Petrarca (1304–1374), der die Wiederherstellung der Vormacht Roms und Italiens zu seinem Herzensanliegen machte.227 Im Februar 1337 unternahm er seine erste Reise nach Rom, das selbst vom Papst verlassen war, und bekundete seine Erschütterung angesichts der Trümmer, die größer waren als erwartet.228 Überall meinte er die lebendige Gegenwart der Antike zu verspüren: Er übte scharfe Kritik an der Geschichtsvergessenheit gerade der Römer und verfasste seinerseits sogar Briefe an die großen Autoritäten des Altertums, namentlich an Cicero, Livius, Seneca, Vergil und Homer. Sein Wunschbild einer Roma renata et aeterna sowie eines geeinten und mächtigen Italiens verarbeitete er in seinen italienischen und 226 Laut Klingner, S. 14 handelt die Göttliche Komödie von Rom. 227 Rehm, S. 71 ff.; Seidlmayer, S. 162; Kytzler, S. 306 ff.; Dörrie: Der heroische Brief, S. 42 f.; Hirschi: Wettkampf der Nationen, S. 194 ff. 228 Rehm, S. 71 f.; Seidlmayer, S. 162.
2.2.4 Romallegorie: Frühhumanismus, tagespolitische Anliegen
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lateinischen Dichtungen. Sein lateinisches Epos Africa, eine Frucht der Auseinandersetzung mit Vergil und Lucan, glorifiziert in der Gestalt des Protagonisten Scipio traditionell römisches Heldentum. Zu Petrarcas meistbeachteten politischen Appellen in poetischer Form zählt die im toskanischen Volgare abgefasste Kanzone Italia mia.229 Diese beschwört im Rekurs auf antike Autoritäten, aber auch auf die ersten volkssprachlichen Wortführer wie z. B. Dante ein Nationalgefühl, das sowohl auf einem römischen Wertekanon (Latin sangue gentile, vertú) als auch auf einem genuin christlichen Gottvertrauen basiert.230 Anlässlich der politischen Zerstückelung Italiens, besonders der Territorialkonflikte um Parma im Winter 1344/1345, beklagt das lyrische Ich die notorische discordia (Vostre voglie divise) unter den Regionalherrschern und deren verhängnisvolle Neigung, das Schicksal der Heimat den „käuflichen Herzen“ (cor venale) blutdürstiger deutscher Söldnertruppen anzuvertrauen. Die Sprechinstanz wendet sich zwar an verschiedene Adressaten: an Italien, an Gott, an die Fürsten (signori) und letztlich an die eigene Kanzone selbst, doch zeigt sich die Allegorisierung Italiens zumindest in Ansätzen. Die Patria trägt „tödliche Wunden“ (piaghe mortali) an ihrem „schönen Leib“ (nel bel corpo), sie ist eine „gütige und fromme Mutter“ (madre benigna et pia). Zudem perpetuiert Petrarca mit seinen vernichtenden moralischen Urteilen über die einst von Rom bekämpften Kimbern und die deutschen Landsknechte seiner eigenen Zeit das zur Diskreditierung von Germanen und Deutschen ohnehin schon geläufige Barbarenstereotyp (barbarico sangue, tedesca rabbia, popol senza legge, gente ritrosa).231 Zu den eindrucksvollsten Dokumenten für die Allegorisierung des Vaterlandes gehören zwei seiner Epistolae Metricae,232 nämlich zwei Heroidenbriefe, in welchen er jeweils eine personifizierte Roma flehentliche Bittgesuche an den jeweiligen Papst, an Benedikt XII. und an Clemens VI., richten lässt.233 Die große Chance, seine Träume eventuell sogar verwirklicht zu sehen, schien für
229 Francesco Petrarca: Italia mia [Canzoniere, Nr. 128]. In: Francesco Petrarca: Canzoniere. 50 Gedichte mit Kommentar. Italienisch / Deutsch. Übersetzt und hrsg. von Peter Brockmeier. Stuttgart 2006, S. 96–103, 262–266 (Kommentar). Ebd., S. 264 ff. 230 Brockmeier spricht zu recht von einem „Zitate-Reigen“ und verweist auf die zahlreichen Anleihen aus Vergil, Lucan, Horaz, Properz, Ovid, Cicero, Seneca, Sueton, Florus, das Buch Hiob und Dante. 231 Schon Hor. ep. 16, 7 und Ov. trist. 4, 2, 1 hatten die Junktur fera Germania in Umlauf gebracht. Vgl. das Kapitel dieser Arbeit 2.3.1. Im ersten Jahrhundert n. Chr. prägte Lucan das Schlagwort vom Furor Teutonicus. Vgl. Lucan. 1, 255–257: vidimus et Martem Libyes cursumque furoris/ Teutonici: quotiens Romam fortuna lacessit,/ hac iter est bellis.“ […]. Hervorhebungen in Versen durch Kursivierung hier wie in der gesamten Arbeit von T. B. 232 Petrarca: Epist. metr. 1, 2 und 1, 5. 233 Darauf soll im Kapitel dieser Arbeit 2.4.3 eingegangen werden.
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Petrarca gekommen, als der in republikanischen Utopien schwelgende Cola di Rienzo (1313–1354) im Kampf gegen die alten Adelsgeschlechter seine revolutionäre Laufbahn als Volkstribun und Diktator startete. Der Dichter begrüßte den ambitionierten Kämpfer überschwenglich in zahlreichen offenen Briefen und sprach ihn mit römischen Heldennamen an; er verfolgte dessen grandiosen Aufstieg und warb für ihn (u. a. in einer großen Kanzone).234 Diese Hoffnungen zerschlugen sich mit Rienzos Sturz und Ermordung im Oktober 1354; schon zuvor, Anfang 1351, als sich zunehmende Konflikte zwischen einzelnen italienischen Städten abzeichneten, suchte er den Kontakt zum neuen Prätendenten des Kaiserthrons, dem böhmischen König Karl, dem späteren Kaiser Karl IV. Am 24. Februar sandte er aus Padua ein Schreiben nach Prag, in welchem er diesen unter Aufbietung aller rhetorisch bewährten Argumente anfleht, unverzüglich nach Italien zu kommen (und dorthin seine Residenz zu verlegen). Petrarca, der ansonsten darauf insistiert, dass nur ein gebürtiger Stadtrömer aus alteingesessenem Geschlecht das höchste Amt in Rom (und somit die Herrschaft über Italien und die übrigen Völker) ausüben dürfe, muss im Falle des böhmischen Königs auch mit den Abstammungskriterien etwas flexibler verfahren.235 Karl wird daran erinnert, dass er – aufgrund seiner Erziehung und seiner Reisen im Kindesalter – ein Italiener, kein Deutscher sei. Mitten in seinem Brief beschwört der Autor die Vorstellung der Göttin Roma herauf. Finge nunc animo almam te Romanae urbis effigiem videre. Cogita matronam evo gravem, sparsa canitie, amictu lacero, pallore miserabili, sed infracto animo et excelso pristine non immemorem maiestatis ita tecum loqui.236 Stell Dir nun vor, es erscheine vor Dir das freundliche Bildnis der Roma. Denke Dir eine Matrone von hohem Alter mit wirrem, ergrautem Haar, zerrissenem Mantel, trauriger Blässe und die dennoch mit ungebrochenem, hohem Mut und nicht uneingedenk ihrer einstigen Würde, so zu Dir spräche:237
Die grauhaarige, äußerlich verwahrloste, aber immer noch Seelengröße bekundende Roma verbittet sich eine geringschätzige Behandlung, beteuert zunächst ihre Leistungen als kriegsführende und zivilisationsstiftende Macht und preist 234 Rehm, S. 77 ff.; Hirschi: Wettkampf der Nationen, S. 194 ff. 235 Hirschi: Wettkampf der Nationen, S. 96 ff. Petrarca geht sogar soweit, die beiden konkurrierenden römischen Adelsgeschlechter Colonna und Orsini – erstere waren seine Förderer – zu Fremdlingen zu erklären. Ebd., S. 195. 236 Familiares 10, 1. 237 Text und Übersetzung nach Francesco Petrarca: Aufrufe zur Errettung Italiens und des Erdkreises. Ausgewählte Briefe. Lateinisch-Deutsch. Hrsg., übersetzt und eingeleitet von Berthe Widmer. Basel 2001, S. 370–383, hier S. 376 f.
2.2.4 Romallegorie: Frühhumanismus, tagespolitische Anliegen
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namentlich die Helden ihrer frühen Zeit. Sie bekennt, dass sie von einer unerklärlichen Müdigkeit befallen sei, und ermahnt deshalb den ihr vom Himmel gesandten Retter – also Karl –, ihr endlich wieder aufzuhelfen. Tu michi prope iam desperanti divinitus destinatus, quid cessas? Quid cogitas? Quid exspectas? […] Moveant animum tuum exempla clarissima eorum, qui nichil in senium differentes oblatam semel occasionem impigerrime rapuerunt. Bist du mir aber, einer schon beinah Verzweifelten, vom Himmel gesandt, weshalb säumst Du? Was bedenkst Du? Worauf wartest Du? […] Ermutigen sollen Dich die glänzenden Beispiele jener, die nichts auf das Alter verschoben und die einmalige Gelegenheit aufs eifrigste ergriffen.238
Karl soll sich insbesondere an Alexander dem Großen und Scipio Africanus ein Beispiel nehmen, welche in seinem Alter – dies wird wiederholt hervorgehoben – ihre großen Taten vollbracht haben, zumal er, anders als diese, weder Meere überqueren noch einen Hannibal besiegen muss. Ein Feld für unbegrenzten Ruhm wird sich ihm eröffnen, nur soll er seine Vorhaben nicht länger aufschieben, da der Tod, früher als erwartet, schon so manche hoffnungsvolle Laufbahn abgebrochen hat. So ist es beispielsweise Karls Großvater Heinrich VII. ergangen; Roma (oder Petrarca?) ermahnt nun in einer abschließenden kleinen Binnenrede den Enkel zur Fortführung der Pläne des ehrwürdigen Großvaters. Neben Petrarca verdient auch dessen zeitweiliger Freund und Kampfgenosse, der letztlich scheiternde Volkstribun und Diktator Cola di Rienzo, Erwähnung in Hinblick auf die Romallegorie.239 Im Jahr 1344/1345 ließ er an der Wand des Senatspalastes ein apokalyptisch-allegorisches Gemälde anbringen, welches offenbar den alten Topos vom Staatsschiff sinnreich verarbeitete. Es präsentierte Roma als schwarzgekleidete Witwe unter Tränen und Gebeten auf einem von Stürmen getriebenen Schiffswrack kniend, auf einer benachbarten Insel deren Schwester Italia als beschämt zuschauende Matrone. Auf einer anderen Insel fleht mit weißen Kleidern angetan der Glaube zum Himmel; vier bereits ertrunkene Frauen verkörpern – sowohl der paganen als auch der jüdisch-christlichen Tradition geschuldet – die einstmals weltberühmten Städte Babylon, Karthago, Troja und Jerusalem. Moralisierende Aufschriften weisen auf deren Untergang durch eigenes Verschulden hin. Diesen Leichen sind die vier trauernden Kardinaltugenden gegenübergestellt. Diverse gefährliche Tiere, darunter aus Muscheln blasende mythische Seeungeheuer, bringen die Ungerechtigkeiten von Politikern
238 Ebd., S. 378 ff. 239 Gregorovius. Bd. 2/1, S. 683 ff.; Rehm, S. 77 ff.; Seidlmayer, S. 164 f.; Hirschi: Wettkampf der Nationen, S. 188 ff.
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2 Voraussetzungen zur Entstehung der Germania-Heroide
und Volk sinnfällig zum Ausdruck. Über dem ganzen schrecklichen Spektakel walten als ordnungsstiftende Trias Petrus, Paulus und der Weltenrichter selbst. Dies war nicht Rienzos einzige derartige Unternehmung. In einem genialen Coup machte er sich die im Lateran zufällig wiederentdeckte Lex Regia, die vom Senat beschlossene Übertragung des Imperiums an Vespasian, zunutze. In der Basilika warb er in einer Rede an Adel und Volk für die Restitution der alten (Senats-)Herrlichkeit und leitete seine Forderungen geschickt mittels einer organologischen Metapher ein: Die einstmals erhabene, nun im Staub liegende Roma habe ihre beiden Augen, nämlich den Kaiser und den Papst, eingebüßt.240 Anfang August 1347 veranstaltete Rienzo anlässlich der angestrebten Verbrüderung aller italienischen Städte und Regionen ein Fest auf dem Kapitol. Gesandte aus verschiedenen Städten oder Stadtstaaten wurden durch Verleihung eines goldenen Ringes „mit Rom vermählt“. Ein Banner Italiens, welches er den Florentinern anbot, präsentierte das Bild der Roma zwischen der Italia und der Fides.241 Petrarca und Rienzo beschwören mittels der Allegorie – in nicht immer deckungsgleicher Weise –242 die Wiederbelebung einer libertas Romana, d. h. sie fordern die Wiederaufwertung der einstigen Hauptstadt, die revocatio Imperii und den Vorrang Italiens gegenüber den (nichtitalienischen) Barbaren.
2.2.5 Roma/Italia-Konzepte als Wegbereiter der Germania-Heroide Bei einer summarischen Sichtung der diachron vorgestellten Roma/Italia-Konzepte stechen einige Kriterien hervor, welche auch für die Germania-Allegorie relevant werden. Zunächst eine Dichotomie in formaler Hinsicht: Roma/Italia begegnet sowohl in aktiver als auch in passiver Rolle, sie kann als autoritäre Instanz einer Person oder Personengruppe in Form von Bitten und Klagen ihr Anliegen vortragen, sie kann aber auch als passiv gedachte Verkörperung eines Kollektivs Gegenstand von Lob und Tadel, Bewunderung und Abscheu werden. Als Objekt eines real betriebenen Dea-Roma-Kultes mit Tempeln und Heiligtümern hat sie keine direkte Entsprechung bei Germania, da zu keiner Zeit bei Germanen oder Deutschen jemals eine Göttin dieses Namens verehrt wurde und selbst der teils mit pseudoreligiösen Zügen ausgestattete Nationskult des 19. Jahrhunderts lediglich artifiziell-kompensatorischen Charakter trägt. Von großer
240 Gregorovius Bd. 2/1, S. 684. 241 Ebd., S. 702. 242 Vgl. dazu Hirschi: Wettkampf der Nationen, S. 194 ff., 214 ff.
2.2.5 Roma/Italia-Konzepte als Wegbereiter der Germania-Heroide
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Bedeutung hingegen ist Roma als Wortführerin einer eher geistig-moralisch als ständisch definierten Elite mit republikanischen Wertvorstellungen angesichts von Revolution, Bürgerkrieg, Parteienzwist, Volksaufständen und Unruhen aller Art (Cicero, Sallust, Lucan) sowie auch angesichts der Bedrohung durch eine auswärtige feindliche Macht (Silius Italicus). Dabei fällt ihr stets die Rolle einer auf Vermittlung und Wiederherstellung der concordia bedachten Mahnerin zu. Spätere Autoren bedienen sich der Roma-Figur zu ihrer Positionierung in Bezug auf Kaiserherrschaft, Umgang mit unterworfenen (oder noch zu unterwerfenden) auswärtigen Völkern und theologisch-philosophischer Weltanschauung (Tradition, Innovation, Polytheismus, Christentum). Damit eng verbunden ist die Weltreichs- und Ewigkeitsidee, die Frage nach Dauer oder Vergänglichkeit, die Verklärung der Vergangenheit und die Klage über die Launen der Fortuna, oftmals eingeleitet durch eine explizite olim/quondam-nunc-Opposition und gestützt durch positiv oder negativ ausgerichtete Exempelkataloge, d. h. die Aufzählung früherer eigener Helden, einstiger Kriegserfolge, früherer schicksalhaft untergegangener Großmächte aus Mythos und Historie. Demnach erscheint Roma als gestürzte Königin oder geschwächte Kriegerin, welche Glanz, Größe und Wehrhaftigkeit eingebüßt hat. Spätestens mit Petrarca rückt der Aspekt des tagespolitischen Engagements und der unmittelbaren Einflussnahme auf einen namentlich genannten Herrscher oder Würdenträger in den Fokus. Ein Humanist und Poet wendet sich in eigenem Namen oder im Namen einer Roma/Italia an einen abwesenden König, Kaiser oder Papst und bittet diesen unter Aufbietung aller legitimistischen Argumente um seine friedens- und ordnungsstiftende Rückkehr auf italienischen Boden. Gerade in diesem Kontext ergibt sich die Notwendigkeit, die behauptete moralische Verpflichtung des jeweiligen Adressaten gegenüber Italien national zu begründen und ihr in einer an die Emotionen appellierenden Darstellungsweise Nachdruck zu verleihen. Der Autor nimmt sich also nicht weniger vor, als den betreffenden Herrscher, gegebenenfalls einen böhmischen König oder französischen Papst, zum Römer/Italiener zu erklären und für die Beschäftigung mit römischen/italienischen Anliegen – Restitution des Papsttums in Rom, Wiederherstellung des antiken Römischen Reiches – in die Pflicht zu nehmen. Aber auch die anderweitig beliebte Beschwörung einer gegen den Kaiser gerichteten libertas Romana sollte ihr Analogon erhalten im vielgebrauchten Schlagwort von der „teutschen Libertät“. Diese vielfältigen Konzepte von der Antike bis zu Petrarca und darüber hinaus reizten, um mit Caspar Hirschi zu sprechen, zu einem „Wettkampf der Nationen“ und boten den Begründern eines germanisch-deutschen Altertums Anregungen zu strukturell ähnlichen Gegenentwürfen.
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2 Voraussetzungen zur Entstehung der Germania-Heroide
2.3 Germania als allegorische Gestalt bis zum 17. Jahrhundert 2.3.1 Germanen und Germania aus römischer Perspektive Die Präsenz einer personifizierten Germania in Gedichten, Kriegsliedern und der bildenden Kunst des 19. Jahrhunderts bis hin zu Johannes Schillings kolossalem Denkmal auf dem Niederwald bei Rüdesheim, einer besonderen Touristenattraktion, darf auch heutzutage noch einen gewissen Bekanntheitsgrad für sich beanspruchen.243 Während Nationalallegorien oder Nationalfiguren außerhalb Frankreichs mittlerweile kaum noch vorhanden sind, verlieh sich vor der Reichsgründung und im deutschen Kaiserreich die deutsche Nation sichtbaren Ausdruck in der Allegorie der Germania.244 Somit wurde eine bis in die römische Antike zurückreichende ikonographische Tradition245 reaktiviert, wenn auch freilich nicht im Sinne einer ungebrochenen Kontinuität. Zunächst stellte das lateinische Germania eine durchaus noch vage geographische Kollektivbezeichnung dar und umfasste von verschiedenen „barbarischen“ Völkerschaften bewohnte Gebiete mit (variierenden) natürlichen Grenzen wie dem Rhein und der Nordsee. Die Germanen, erstmals eingehend beschrieben im sechsten Buch von Caesars De bello Gal lico,246 dann erst wieder über 100 Jahre später in Tacitus’ kleiner Monographie Ger 243 Vgl. dazu Brandt: Germania und ihre Söhne; jetzt auch Brandt.: „An mir als die Gestalt/ war sonsten weibisch nichts“. Zur vormodernen Geschlechtercodierung der Nation in Bildern der „Germania“. In: Claudia Bruns u. a. (Hrsg.): Der Körper des Kollektivs. Figurationen des Politischen in der Frühen Neuzeit. Frankfurt am Main 2017 (Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit 21 [2017], Heft 1/2), S. 71–97; Lothar Gall: Die Germania als Symbol nationaler Identität im 19. und 20. Jahrhundert. In: Ders.: Bürgertum, liberale Bewegung und Nation. Ausgewählte Aufsätze. Hrsg. von Dieter Hein u. a. München 1996, S. 311–337; Detlef Hoffmann: Germania. Die vieldeutige Personifikation einer deutschen Nation. In: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. 200 Jahre Französische Revolution in Deutschland. Ausstellungskatalog Germanisches Nationalmuseum Nürnberg 24.6.–1.10.1989, S. 137–155; Gerhard Brunn: Germania und die Entstehung des deutschen Nationalstaates. Zum Zusammenhang von Symbolen und Wir-Gefühl. In: Rüdiger Voigt (Hrsg.): Symbole der Politik, Politik der Symbole. Bocholt 1989, S. 102–122; Jost Hermand: Sieben Arten an Deutschland zu leiden. Königstein 1979; Nicolas Detering: Krise und Kontinent. Die Entstehung der deutschen Europa-Literatur in der Frühen Neuzeit. Köln 2017. 244 Brunn, S. 103. 245 Zur Germania-Allegorie in und seit der Antike vgl. Jocelyn M. C. Toynbee: The Hadrianic School. A Chapter in the History of Greek Art. Cambridge 1934, S. 86–97; Andreas Alföldi: Die Germania als Sinnbild der kriegerischen Tugend des römischen Heeres. In: Germania. Anzeiger der Römisch-Germanischen Kommission des Deutschen Archäologischen Instituts 21 (1937), S. 95–100; Ernst Künzl: Die römische Personifikation der Germania. In: Kaiser Augustus und die verlorene Republik. Eine Ausstellung im Martin-Gropius-Bau, Berlin, 7. Juni – 14. August 1988. Berlin 1988, S. 545–546; Elke Trzinski: Studien zur Ikonographie der Germania. Diss. Münster 1990. 246 Caes. Gall. 6, 21–23.
2.3.1 Germanen und Germania aus römischer Perspektive
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mania, bedeuteten neben den Parthern über lange Zeit die größte Herausforderung sowohl für die Sicherheit als auch für die Ausdehnung des Römischen Reiches. Die römische Geschichte kennt seit Caesars und Augustus’ Tagen zahlreiche Heerführer und Kaiser, welche an der (vollständigen) Unterwerfung germanischer Stämme scheiterten und das Projekt ihren Nachfolgern überließen, es bis in eine ungewisse Zukunft aufschoben oder Teilerfolge mit großem propagandistischem Aufwand zum Sieg stilisierten. So stellte die clades Variana, der Untergang der drei Legionen des Publius Quinctilius Varus im Jahre 9 n. Chr. im Teutoburger Wald oder bei Kalkriese, das vielleicht größte Trauma der augusteischen Barbarenpolitik dar, an welchem sich die kommenden Generationen abzuarbeiten hatten. Einen bemerkenswerten literarischen Reflex findet dieser Umstand ausgerechnet bei einem Dichter, der seine Berühmtheit keineswegs der Feier von Krieg und militärischen Aktionen verdankt, nämlich bei Ovid. Während zumindest beiläufige Erwähnungen von Germanien oder den Germanen durchweg in der römischen Literatur jener Zeit begegnen, ist es Ovid, der in seiner Exildichtung wohl als erster den großen Feind in allegorischer Gestalt präsentiert. Im dritten und vierten Buch seiner Tri stien lässt der nach Tomi ans Schwarze Meer verbannte Dichter bereits den Wunsch verlauten, ein weitgereister Seemann möge ihm aus der Heimat endlich Kunde von der Eroberung Germaniens bringen (3, 12, 37–48): rarus ab Italia tantum mare navita transit, litora rarus in haec portubus orba venit. […] is, precor, auditos possit narrare triumphos Caesaris et Latio reddita vota Iovi, teque, rebellatrix, tandem, Germania, magni triste caput pedibus supposuisse ducis. Kommt doch so weit übers Meer aus Italien selten ein Seemann, naht nur selten dem Strand, dem es an Häfen gebricht. […] Könnt’ er doch von den gemeldeten Siegen des Kaisers erzählen und von Gelübden, die Roms Juppiter wurden erfüllt, und daß, Germania, du Empörerin, endlich dem Feldherrn hast dein trauerndes Haupt unter die Füße gelegt!247
Im vierten Buch der Tristien geht Ovid noch einen Schritt weiter. Er gefällt sich in der Vorstellung, wie das bereits bezwungene Germanien als Gefangene in einem 247 Text und Übersetzung nach Publius Ovidius Naso. Briefe aus der Verbannung. Tristia, Epistulae ex Ponto. Lateinisch und deutsch. Übertragen von Wilhelm Willige. Eingeleitet und erläutert von Niklas Holzberg. München / Zürich 1990. Alle weiteren Zitate und Übersetzungen von Ovids Exildichtung in dieser Arbeit folgen dieser Ausgabe.
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2 Voraussetzungen zur Entstehung der Germania-Heroide
Triumphzug mitgeführt wird. Möglicherweise inspiriert von einer klischeeprägenden Junktur bei Horaz248 frohlockt er (4, 2, 1–46): Iam fera Caesaribus Germania, totus ut orbis, victa potest flexo succubuisse genu, […] crinibus en etiam fertur Germania passis, et ducis invicti sub pede maesta sedet, collaque Romanae praebens animosa securi vincula fert illa, qua tulit arma, manu. Nun ist das wilde Germanien wohl den Caesaren erlegen, hat, wie die übrige Welt, endlich die Kniee gebeugt; […] Sieh, auch Germania wird dort gebracht mit wehenden Haaren: unter des Feldherrn Fuß hockt sie, den keiner besiegt; ja, ihren Hals jetzt bietet die Stolze dem römischen Beile, trägt an der nämlichen Hand Fesseln, die Waffen geführt.
Bei der detaillierten Beschreibung des Triumphzuges folgt Ovid den realen Gepflogenheiten dieses Spektakels, bei welchem gewöhnlich auch Bilder und Wahrzeichen eroberter Gebiete und Städte mitgeführt wurden sowie Schilder mit deren Namen. So lässt er hier auch den personifizierten Rhein als besiegten Mann mit zerbrochenen Hörnern auftreten.249 Die Forschung hat sich indes auf die Präsenz einer antiken allegorischen Germania auf Münzen und Reliefs konzentriert. Für die augusteische Zeit und die der darauffolgenden ersten Kaiser sind kaum derartige Zeugnisse nachgewiesen; entweder lag damals – nicht zuletzt in Anbetracht der clades Variana – ein solcher Gedanke noch fern250 oder entsprechende Produkte waren im Umlauf, sind aber nicht mehr erhalten.251 Immerhin mit einer Ausnahme kann Ernst Künzl aufwarten, nämlich mit einem kleinen Weiherelief für Caligula aus Kula in Lydien.252 Dieses zeigt, wie aus der griechischen Aufschrift hervorgeht – wenn auch undeutlich –, eine gefesselte Frauengestalt, vor welcher sich das Pferd des Kaisers (?) aufbäumt.253 Eine hinsichtlich dieser Thematik aufschlussreiche Münzprägung 248 Vgl. Hor. epod. 16, 7: nec fera caerulea domuit Germania pube. 249 Ebd. 4, 2, 41–42: cornibus hic fractis viridi male tectus ab ulva/ decolor ipse suo sanguine Rhenus erat. 250 Toynbee, S. 86 f. 251 Künzl, S. 545. 252 Da Caligula sich keineswegs durch irgendwelche Projekte bezüglich der Germanen einen Namen machte, dürfte dieser Fund ein Indiz dafür sein, dass der Kaiser auf eine (seit Augustus?) bestehende ikonographische Tradition zurückgegriffen hat. Ebd. 253 Ebd.
2.3.1 Germanen und Germania aus römischer Perspektive
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initiierte erst Domitian, welcher seinen Sieg über den germanischen Stamm der Chatten von 83 n. Chr. sowie die Einrichtung der Provinzen Germania superior und Germania inferior den propagandistischen Maßnahmen seines Vaters Vespasian und seines Bruders Titus entgegensetzen wollte, mit welchen diese ihre Eroberung von Jerusalem feierten. Auf Münzen dieser Zeit erscheint eine Gefangene mit allen Zeichen und Gebärden der Trauer abgebildet, eine Germania capta (bzw. maesta, subacta) analog zur Judaea capta, ein Hinweis auf die Bedeutung, welche der jüngste Flavier seiner Leistung beigemessen wissen wollte.254 Diese Gefangene zeichnet sich meist durch aufgelöst herabhängendes langes Haar und nackten Oberkörper aus, sie sitzt auf ihren Waffen oder neben der Siegesbeute. Kennzeichnend ist auch ein langer (oftmals sechseckiger) Schild.255 Jocelyn Toynbee hebt mit allem Nachdruck hervor, dass es sich dabei nicht bloß um die mehr oder minder naturgetreue Abbildung eines oder einer germanischen Gefangenen handle, sondern – in gut antiker Tradition – um die allegorische Veranschaulichung eines geographisch nur vage definierten und von disparaten Volksstämmen besiedelten Gebietes. Der Frauenleib soll also Geschlossenheit und Einheitlichkeit zum Ausdruck bringen.256 Eine Veränderung in der Münzpropaganda hin zur Demonstration einer konzilianteren Haltung gegenüber den Unterworfenen beobachtet Toynbee bei Trajan und Hadrian. Auf den Aurei oder Denaren Trajans um 100 n. Chr. sitzt Germania aufrecht und entspannt mit wohlfrisiertem Haar auf ihren Waffen, welche sie angesichts des gegenwärtigen Friedens nicht mehr benötigt; ihre Hand streckt sie nach einem Olivenzweig aus.257 Dies dürfte der Urbanisierungspolitik Trajans geschuldet sein, der sich nicht auf die Eroberung weiterer germanischer Gebiete, sondern auf die effizientere Verwaltung der bereits vorhandenen verlegte. Trajans Nachfolger Hadrian, der sich bekanntlich vor allem der Grenzsicherung des zu seiner größten Ausdehnung gelangten Imperiums widmete, brachte Münzen mit einer Germania in Umlauf, welche entsprechend den Beschreibungen bei Tacitus gekleidet ist, aufrecht steht und einen langen Speer (wurfbereit) hält. Diese Germania ist nicht nur vollkommen befriedet, versöhnt und in den griechisch-römischen Kulturkreis integriert, sie ist sogar auch – gemeinsam mit anderen Provinzen wie Dakien oder Britannien – zu dessen Verteidigung entschlossen.258 Nicht nur willige Ergebung in das (grausam scheinende, letztlich aber segenbringende) Schicksal, sondern
254 Ebd.; Pfeiffer, S. 90 f.; Toynbee, S. 87 ff. 255 Toynbee, S. 89 f. 256 Ebd., S. 91. 257 Ebd., S. 93. „Germania capta has indeed given place to Germania pacata or Romana.“ 258 Ebd., S. 94 ff.
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2 Voraussetzungen zur Entstehung der Germania-Heroide
aktive freundschaftliche Kooperation lautet das Gebot der Stunde.259 Allerdings war dieses neue Glück nicht von Dauer. Der Verschlechterung des Verhältnisses durch zunehmende Unruhen bei den entfernteren germanischen Stämmen wie z. B. den Markomannen oder Quaden trugen Mark Aurel und Commodus Rechnung, indem sie den Münztypus der Germania capta des Domitian wieder aktualisierten.260 Dieser Deutung Toynbees, dass es um die optimistische Darstellung einer sich stets verbessernden römisch-germanischen Beziehung gehe, die erst nach Hadrian wieder ins Negative umschlage, widerspricht Andreas Alföldi. Die so konziliant scheinende trajanische Münzprägung beziehe sich nicht auf das versöhnte reichsrömische, sondern auf das noch freie, wenn auch am guten Einvernehmen mit Rom interessierte Germanien.261 Alföldi weist zudem auf ein bemerkenswertes Erzeugnis aus dem späten 3. Jahrhundert n. Chr. hin, auf einen Aureus des rheinischen Gegenkaisers Laelianus. Diese Münze ist auf der Rückseite mit VIRTUS MILITUM beschriftet und zeigt auf der Vorderseite eine aufrecht stehende, Lanze und Feldzeichen tragende weibliche Gestalt, welche nach anfänglichen Fehldeutungen, z. B. im Sinne von Virtus, als Personifikation Germaniens gelten muss.262 Indem diese Germania eine Fahne mit der Aufschrift XXX trägt, gibt sie sich als die (in Xanten stationierte) 30. Legion zu erkennen, von deren Diensten Laelianus besonderen Gebrauch machte. Dass die Personifikationen von Provinzen oder bezwungenen Ländern (durchaus wertgeschätzte) Truppeneinheiten im römischen Heer repräsentierten, war keine Seltenheit.263 Die allegorische Darstellung Germaniens (wie auch anderer Länder und Gebiete) erfolgte stets aus römischer Perspektive und brachte zum Ausdruck, wie die betreffenden Kaiser das jeweilige römisch-germanische Verhältnis verstanden wissen wollten.264
259 „Thus the Germania of the coinseries is the very embodiment of Hadrian’ s ideal of what a frontier province of the Empire should be – internally peaceful and contented, conserving its wholesome native characteristics, while being, at the same time, open to the civilising influences of Graeco-Roman culture, a culture which she is armed to defend.“ Ebd., S. 95 f. 260 Ebd., S. 96. Parallel dazu kursierten ähnliche Darstellungen von den Sarmaten. 261 Alföldi, S. 96, Anm. 7. 262 Ebd., S. 96. 263 Ebd., S. 99. 264 Vgl. auch die Abbildungen in dem spätrömischen Handbuch für Staatssymbole Notitia Dig nitatum, wo sich zwar keine Germania findet, aber dafür Macedonia, Dacia, Italia, Illyricum und Africa. Notitia Dignitatum. accedunt Notitia Urbis Constantinopolitanae et Latercula Provinciarum. Edidit Otto Seeck. 1876. Unveränderter Nachdruck. Frankfurt am Main 1962, bes. S. 9, 108.
2.3.2 Germania und die Herrscher bis zu Maximilian I.
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2.3.2 Germania und die Herrscher bis zu Maximilian I. Einen Wandel in dieser antiken ikonographischen Tradition scheint der Auftritt einer Germania in Kunst- und Schriftwerken des Mittelalters aufzuweisen. Wenn Germania als Verkörperung eines Herrschaftsbereichs auch weiterhin dem Kaiser zu huldigen hat, so darf sie diesem nicht mehr als Einzelfigur nahen, sondern muss sich in ein Kollektiv von mehreren, meist insgesamt vier personifizierten Provinzen einfügen.265 Im Evangeliar Ottos III. um das Jahr 998 hat ein aufwendig gestaltetes Doppelblatt, das sogenannte Herrscherbild, besondere Aufmerksamkeit auf sich gezogen.266 Die rechte Hälfte präsentiert Otto III., der beinahe christusgleich stilisiert mit Zepter und Reichsapfel in den Händen vor seinem Palast thront und rechts von zwei geistlichen, links von zwei weltlichen Würdenträgern flankiert ist.267 Dieser offenbar symbolisch aufgeladenen Vierzahl268 entspricht auf der linken Bildhälfte die Darstellung vier gekrönter, reich gekleideter, wenn auch barfüßiger Frauengestalten, welche hintereinander in leicht gebeugter Haltung dem Kaiser ihre verschiedenen Huldigungsgaben darbringen. Wie die Überschriften über den Köpfen anzeigen, ist die erste Roma, welche mit einer Schale voll Edelsteinen den Zug eröffnet. Ihr folgen Gallia mit einem Palmzweig, Germania mit einem Füllhorn voller Edelsteine und Sclavinia mit einem goldenen Globus. Die Reihenfolge der Frauen ist offenbar nicht zufällig gewählt, sondern spiegelt das Programm Ottos III., der die Bedeutung der Rom-Idee des Augustus, aber auch seine Affinität zu Karl dem Großen und Aachen – als linksrheinisches Reichsgebiet nach damaligem Verständnis der Provinz Gallien zugehörig – sowie den Fortschritt in der Slawenmission herauszustellen suchte.269 Einige ikonographische Einzelheiten sprechen dafür, dass derartige Darstellungen von einer illustrierten Kopie des spätrömischen Handbuchs für Militärsymbole Notitia Dig nitatum inspiriert sind, welche sich einstmals im Besitz der Ottonen befand.270
265 Brandt: Germania und ihre Söhne, S. 36 f.; Brandt: An mir als die Gestalt, S. 73 f. 266 Ebd.; Florentine Mütherich: Ausstattung und Schmuck der Handschrift. In: Karl Dachs und Florentine Mütherich (Hrsg.): Das Evangeliar Ottos III. Clm 4453 der Bayerischen Staatsbibliothek München. München u. a. 2001, S. 27–79, bes. S. 31–35; Konrad Hoffmann: Das Herrscherbild im „Evangeliar Ottos III.“ (clm 4453). In: Frühmittelalterliche Studien. Jahrbuch des Instituts für Frühmittelalterforschung der Universität Münster 7 (1973), S. 324–341. Abbildung des Herrscherbildes bei Brandt: An mir als die Gestalt, S. 74, Abb. 1. 267 Mütherich: Tafel XXIV und XXV, S. 70–71. 268 Die Vierzahl verweist in mehrfacher Hinsicht auf universale Zusammenhänge: Elemente, Himmelsrichtungen, Jahreszeiten, Weltteile, Weltreiche (vielleicht auch auf die Evangelien). Brandt: Germania und ihre Söhne, S. 36, Anm. 23. 269 Mütherich, S. 32. 270 Ebd., S. 33; Hoffmann, S. 328.
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2 Voraussetzungen zur Entstehung der Germania-Heroide
Auch das Registrum Gregorii, eine nach dem Tod Ottos II. (983) redigierte, reich illustrierte Sammlung von Briefen Gregors des Großen enthält ein prominentes Bild Ottos II. oder III. In ähnlichem Habitus wie im Evangeliar thront der Kaiser unter einem Baldachin; statt der männlichen Würdenträger flankieren ihn nun auf jeder Seite je zwei Länderpersonifikationen mit Krone, Schleier und langen Gewändern. Die Verschmelzung von spätantiken Herrscher- und Christusabbildungen und antiken Territorialbegriffen, welche mit dem mittelalterlichen Reichsgebiet nur sehr bedingt oder kaum noch übereinstimmten, verliehen dem Kaisertum das besondere Charisma des Römischen und Heiligen zugleich.271 Zumindest ein Beispiel für eine systematische allegorische Darstellung von Deutschland (und von der Kirche) hat die geistliche Poesie des 14. Jahrhunderts aufzuweisen. 1338 hatte der zeitweilig in Paris an der Sorbonne lehrende, aber auch als Diplomat an der päpstlichen Kurie in Avignon tätige Konrad von Megenberg (1309–1374) anlässlich seiner (vergeblichen) Bewerbung um eine Pfründe in Avignon ein zweiteiliges lateinisches Dialoggedicht verfasst mit dem Titel Planc tus ecclesiae in Germaniam.272 Dieses aus 1746 gereimten leoninischen Hexametern bestehende, in einmal 78 und einmal 35 Kapitel unterteilte Poem erörtert im weitesten Sinne das seit jeher problematische Verhältnis von Kaiser- und Papsttum, im besonderen Falle aber die Misere, unter welcher die Kirche und Deutschland leiden müssen, seit sich der Papst von bösen Mächten zum Missbrauch seiner Macht und zur Verhängung des Kirchenbanns über König Ludwig den Bayern hat hinreißen lassen. Der erste Teil des Werkes präsentiert sich vorrangig als ein Streitgespräch zwischen der gedemütigten, aber ihre Autorität behauptenden Ecclesia und ihrem moralisch korrumpierten, heuchlerisch redenden Bräutigam, dem Papst. Von Anfang an gesellen sich zu den rein theologischen und kirchenrechtlichen Disputen auch solche, wie mit einer einzelnen Nation und ihren Trägern umzugehen sei. Die Ecclesia tritt durchweg als Advokatin der Deutschen und insbesondere des gebannten Königs auf. Als der auch das weltliche
271 Brandt: Germania und ihre Söhne, S. 36 f. 272 Text und Übersetzung im Folgenden nach der Ausgabe Konrad von Megenberg: Klagelied der Kirche über Deutschland (Planctus ecclesiae in Germaniam). Lateinisch-deutsch. Bearbeitet und eingeleitet von Horst Kusch. Darmstadt 1956; Georg Steer: Art. Konrad von Megenberg. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Hrsg. von Kurt Ruh u. a. Bd. 5. 2., völlig neu bearbeitete Auflage. Berlin / New York 1985, Sp. 222–236. Dabei handelt es sich um die ausschließlich erhaltene zweite Fassung, welche Konrad, nachdem seine Bewerbung um die Pfründe bereits gescheitert war, im Herbst 1338 einem in Deutschland weilenden päpstlichen Legaten überreichte. Im Text finden sich immer wieder bittere Kommentare zu seinen fehlgeschlagenen persönlichen Hoffnungen.
2.3.2 Germania und die Herrscher bis zu Maximilian I.
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Schwert für sich beanspruchende Papst die Rolle Deutschlands in der Welt für überschätzt erklärt,273 entgegnet sie: Germina milicie numquid satis hec meruere? „Germen milicie“ Germanus dicitur inde. Haben etwa die Sprößlinge der Ritterschaft diese Ehren nicht verdient? Vom „Sproß der Ritterschaft“ hat der Deutsche seinen Namen.274
Zudem charakterisiert sie Deutschland mit Attributen, welche denjenigen aus der Germania des Tacitus und den daraus weiterentwickelten der Humanisten nahekommen – wobei dem Autor des Planctus noch keine Kenntnis dieser erst über 100 Jahre später wiederentdeckten und publizierten Schrift zugetraut werden darf.275 Ecclesia schwärmt: Milicie nutrix florens Germania victrix Simplex est, agilis armis, robusta, virilis. Exitus acta probat, vires Germania nodat. Das blühende, sieggewohnte Germanien, die Mutter der Ritterschaft, ist schlicht und gerade rührig mit den Waffen, stark, mannhaft, der Ausgang beweist ihre Taten. Germanien ballt seine Kraft.276
Der Papst kontert mit der angeblichen Neigung der Deutschen zu Ketzereien,277 und Ecclesia muss im Sinne der translatio imperii deren moralischen Anspruch auf die Kaiserherrschaft ins Feld führen.278 Nach weiterer vergeblicher Fürspra-
273 Konrad von Megenberg: Planctus ecclesiae, Kap. 30, S. 60–61. 274 Ebd., Kap. 31, S. 60–61. 275 Immerhin ein Beleg für eine Germania-Rezeption aus der Karolingerzeit ist bekannt. Rudolf von Fulda, ein Schüler des Rhabanus Maurus, verfasste im Kloster Fulda im Jahre 863 ein hagiographisches Werk und verwendete dabei – nur geringfügig variiert – drei Kapitel aus der Germa nia, um die düstere Vergangenheit der einstmals heidnischen Sachsen den Segnungen des Christentums gegenüberzustellen. Im 12. Jahrhundert dürfte zumindest in der berühmten Abtei Monte Cassino ein Exemplar der Germania in Gebrauch gewesen sein. Die eigentliche Rezeption setzte allerdings erst im 15. Jahrhundert mit der spektakulären Wiederauffindung des einzigen im Kloster Herfeld, also nahe bei Fulda, verbliebenen Codex ein. Krebs: Ein gefährliches Buch, S. 63–85. 276 Konrad von Megenberg: Planctus ecclesiae, Kap. 33, V. 694–696, S. 62–64. 277 Ebd., Kap. 34, S. 64–65. 278 Ebd., Kap. 35, V. 703–705, S. 64–65: Nutrix milicie Germania florida clare/ Non verbis, factis sollempniter a prius actis/ Imperium vere Romanum poscit habere. (Das ruhmvoll blühende Germanien, die Amme der Ritterschaft, fordert aber nicht auf Grund von Worten, sondern auf Grund seiner früher vollbrachten Taten feierlich, die römische Kaiserwürde wirklich zu besitzen.)
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2 Voraussetzungen zur Entstehung der Germania-Heroide
che für Ludwig lässt sie ihre Tochter Alemania279 selbst auftreten und ihre Klage führen.280 In einer ersten großen Rede appelliert diese mit affektbetonten, aber auch stolzen und selbstsicheren Worten an die Gerechtigkeit ihres Gegenübers.281 Sie erinnert zunächst den Papst daran, dass er als ihr Vater ja selbst einst ihre Verlobung bzw. Vermählung mit Ludwig betrieben habe, und beteuert, dass sie den Auserwählten auch unter allen Umständen behalten wolle. Als unglücklich Liebende fleht sie um Mitleid, fordert aber auch energisch das ihr als Tochter des Hauses zustehende Recht ein. In aller Schärfe betont sie den – auch in den ovidischen und humanistischen Heroiden so maßgeblichen – Gegensatz zwischen einst und jetzt, zwischen glücklicher Vergangenheit und schrecklicher Gegenwart, der sich schon in ihrer äußeren Erscheinung bemerkbar mache: Me me iam sterno coram te, rege superno! Effundo lacrimas, pluo sed specialiter illas Pape tam misere, velit ipse mei miserere! […] Filia dilecta tunc, nunc sum spreta Rebecca. Nunc sum rugosa, quondam tam deliciosa, Ut me dotaret specialiter atque procaret Legis papa sator, michi cum datur induperator In sponsum dignum; Mich, mich werfe ich jetzt vor dir nieder, dem von oben eingesetzten König. Ich vergieße viele Tränen, aber ganz jammervoll vergieße ich sie vor dem Papste. Wolle er sich meiner erbarmen! […] Einst war ich deine geliebte Tochter, jetzt bin ich die verachtete Rebekka. Jetzt bin ich verrunzelt, einst war ich so schön, daß der Papst, der Vater des Gesetzes, mich mit besonderem Heiratsgut ausstattete und als Freiwerber mich für Ludwig verlangte, als mir der Kaiser zum würdigen Bräutigam gegeben wurde.282
Alemania besteht auf der ihr zugesagten Erfüllung ihrer persönlichen Liebe, aber auch auf der Einhaltung universal gültiger Gesetze: Qui semel est nuptus, pulcer, semper michi cuptus. Postponam patrem proprium, linquam michi matrem, Quolibet invito gaudens adherebo marito Ipse suum patrem dimittet denuo, matrem
279 Die leibhaftig auftretende allegorische Gestalt heißt Alemania. Die ansonsten in der Figurenrede oftmals erwähnte Germania scheint mit ihr identisch zu sein. Weshalb Konrad zwischen diesen beiden Namen wechselt, ist bislang nicht ersichtlich. 280 Konrad von Megenberg: Planctus ecclesiae, Kap. 56–74, S. 88–101. 281 Ebd.,Kap. 60, S. 90–93. 282 Ebd., Kap. 60, V. 1018–1027, S. 90–91.
2.3.2 Germania und die Herrscher bis zu Maximilian I.
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Et simul uxori merito compendet, amori. Lex generalis erit, fuit, hec est, cedere nescit. Der mir einmal vermählt ist, der Schöne, bleibt mir immer das Ziel meiner Sehnsucht. Ich werde den eignen Vater hintansetzen, die eigene Mutter verlassen; mag dagegen sich sträuben, wer will, mit Freuden werde ich an meinem Gatten hängen. Auch er wird wieder Vater und Mutter verlassen und seinem Weibe, seiner Liebe, anhangen, und das von Rechts wegen. Allgemeines Gesetz wird das sein, ist’ s gewesen, ist’s noch, vergehen kann es nicht.283
Dann droht sie, ebenso wie ihre große Schwester Grecia – Griechenland – den Papst zu verlassen, wenn nicht das Blut großer Heiliger sie zurückrufe. In den nächsten Kapiteln284 tritt sie mit jeweils wechselndem Gefolge zur Unterstützung auf: erst mit einer Schar Ritter, dann mit einer Schar frommer Jungfrauen, mit Geistlichen, mit Scholaren und schließlich – der Autor scheint hier die realistische mit der allegorischen Ebene zu vermengen – mit Margarete, der schwangeren Gemahlin Ludwigs, die an Schönheit und Tugend ein Muster aller Frauen darstelle. Selbst Margaretes Kind, so Alemania, flehe bereits bei seiner Geburt um Gnade für seinen Vater. Auf eine schroffe Ermahnung der Ecclesia hin sagt sich die Tochter vom ungerührt bleibenden und Gleichgültigkeit zur Schau tragenden Papst los.285 Das Schlusswort gehört der Ecclesia, welche den Verlust ihres einstigen Bollwerks und ihres Glücks beklagt und einer verfinsterten Zukunft entgegensieht. Konrad lässt seine (allegorischen) Figuren durchweg mit dem überaus bilderreichen Pathos der Bibelsprache aufwarten. Die (zerstörte) Liebe zwischen Braut und Bräutigam, zwischen Vater und Tochter sowie die (unverbrüchliche) Beziehung zwischen Mutter und Tochter, zwischen Schwestern (z. B. Alemania und Grecia), aber auch zwischen real existierenden Personen sind im Planctus eng miteinander verflochten. Der Papst, Opfer einer wirkungsvoll intrigierenden großen Hure,286 Verführter und Verführer287 zugleich, versagt innerhalb seiner allegorischen Familie und wird deshalb von den ihm am nächsten stehenden
283 Ebd., Kap. 60, V. 1031–1036, S. 90–93. 284 Ebd., Kap. 64–68, S. 94–99. 285 Ebd., Kap. 69–71, S. 98–101. 286 Im Text ist durchweg die Rede von einer unheilbringenden Hebräerin bzw. Pharisäerin, welche als abscheuliche Hure in Konkurrenz zur Ecclesia tritt und ihr nicht ohne Erfolg Papst und Klerus abspenstig macht. Eingeführt wird diese Figur in Kap. 10, V. 230 ff., S. 26–27. 287 Er versucht Ecclesia zu bereden, sie möge Ludwig unbesorgt dem Untergang preisgeben, sofern dieser nicht für immer dem Streben nach der Kaiserwürde entsage und sich demütig vor dem Heiligen Stuhl niederwerfe. Konrad von Megenberg: Planctus ecclesiae, Kap. 45–47, V. 875– 906, S. 78–81.
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2 Voraussetzungen zur Entstehung der Germania-Heroide
Frauen, d. h. von der Gattin/Braut und den Töchtern, verlassen. Etwas überspitzt formuliert, lässt sich der Planctus zumindest streckenweise auch als (allegorische) „Familientragödie“ lesen. Jedes Kapitel, durch ein kurzes Argumentum eingeleitet, ist der Rede einer Figur gewidmet. Diese beklagt in irgendeiner Weise ihre jeweilige Verstrickung in eine Liebes- oder Familienbeziehung, welche entweder durch Untreue des jeweiligen Partners oder durch Intrigen von außen bedroht wird. Es fehlt nicht an Schmeichelworten, Liebesschwüren, tränenreichen Bitten, Eifersuchtsausbrüchen, Drohungen und herben Abschiedsreden, die eine tatsächliche Trennung vom einstigen Objekt der Liebe zur Folge haben. Somit ist eine inhaltliche und strukturelle Nähe zur allegorischen Heroidendichtung nicht überraschend, ohne dass sich eine bewusste Orientierung Konrads an dieser Textgattung nachweisen ließe. Anders als in den (ovidischen) Heroiden sind es hier die Frauengestalten, die, da sie ihre gerechten Anliegen nicht durchsetzen können, aus freiem Entschluss einer als Ehemann/Bräutigam oder Vater auftretenden autoritären Männergestalt die Beziehung aufkündigen und erhobenen Hauptes die Trennung vollziehen. Auch gelten ihre Bitten nicht allein den eigenen Bedürfnissen nach Rettung, Versöhnung, Harmonie und Liebe, sondern auch mehr oder minder explizit dem Wohl einer dritten (männlichen) Figur, der gnädigen Wiederaufnahme Ludwigs in den Schoß der Kirche. Was die Germania-Allegorie betrifft, hat es der Rezipient anders als in den zuvor besprochenen Herrscherbildern der Ottonenzeit mit einer weitgehend selbstbestimmten, gewissermaßen „emanzipierten“ Frauengestalt zu tun, welche zwar ihrer Mutter, der Kirche, bedingungslos gehorcht, dem die Kaiserkrone anstrebenden König als liebende Partnerin mindestens gleichgestellt ist und dem ihr formal übergeordneten Papst bei Bedarf die Treue aufkündigt. Eine erste Konjunktur nach diesen eher sporadischen Erscheinungsformen erfuhr die Germania-Allegorie in und seit der Frühen Neuzeit. Auf die Präsenz einer meist eindeutig betitelten288 klagenden, mahnenden oder huldigenden Frauengestalt in fast allen verfügbaren Text- und Bildmedien der Zeit wird in der Forschung mehrfach hingewiesen.289 Als geradezu epochenprägend erwies sich in dieser Hinsicht ein besonders ambitioniertes Projekt Kaiser Maximilians I., wodurch dieser sich selbst und seine Angehörigen im Gedächtnis der Nachwelt verewigen wollte.
288 Als Titel kommen in Frage das lateinische „Germania“ oder „(Frau) Deutschland/Teutschland“, „Teutsches Reich“ u. ä. 289 Brandt: Germania und ihre Söhne, S. 33 ff., 37 ff.; Brandt: An mir als die Gestalt, S. 73 ff.; G. Schmidt: Geschichte des Alten Reiches, S. 47; Brunn, S. 105; Trzinski, S. 167 ff. Dagegen behauptet Gall, S. 314, Derartiges habe es in der „sogenannten Frühen Neuzeit“ nie gegeben. Eine befremdliche Behauptung angesichts des überreichen Materials und der communis opinio, zudem auch ohne überzeugende Belege.
2.3.2 Germania und die Herrscher bis zu Maximilian I.
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Dabei handelt es sich um die zwischen 1512 und 1516 unter tatkräftiger Mitwirkung des Herrschers entstandenen Kunstwerke namens „Triumphzug“ und „Ehrenpforte“.290 Maximilian, der seine (kriegerischen) Pläne in Bezug auf seine territorialen Ansprüche außerhalb des deutschen Sprachraums mühsam gegen die wenig kooperativen Reichsfürsten durchsetzen musste, konnte sich immerhin auf eine treu ergebene Anhängerschar unter deutschen (oftmals im Elsaß ansässigen) Humanisten verlassen.291 Er gilt als einer der ersten Herrscher, die systematisch eine enge Zusammenarbeit mit Künstlern und Gelehrten betrieben und deren vielfältige Fähigkeiten zur propagandistischen Überhöhung der eigenen Biographie in Anspruch nahmen.292 Nach seinen persönlichen Vorgaben verfertigten namhafte Künstler eine Folge von 109 kostbaren, aufwendig bemalten Pergamentminiaturen, welche als Schauplatz für einen fiktiven Triumphzug verstanden werden sollten.293 Unter einer prachtvollen Bilderfolge, welche thematisch gegliedert die familiären Beziehungen der Habsburger untereinander, aber auch wesentliche Aspekte der höfischen Lebensweise wie z. B. Jagd, Turnier und musikalische Veranstaltungen darstellte, fand sich auch eine durch Allegorien ausgeschmückte Szene der Krönung Maximilians zum römisch-deutschen König. Entsprechend dem (noch heute erhaltenen) Diktat des Herrschers trugen zwei Reiter Bildtafeln, auf welchen in personifizierter Gestalt die namensgebenden Komponenten des seit dem Ende des 15. Jahrhunderts zunehmend so bezeichneten „Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation“ dargestellt waren, nämlich die sogenannte „Romisch fraw“ und das „Reich Germanie“.294 Beide Figuren, wohl nicht zuletzt durch Mariendarstellungen inspiriert, thronen mit goldglänzenden Locken geschmückt, gekrönt und mit kaiserlichen Insignien versehen, frontal im Bildzentrum.295 Beide sind nicht 290 Eine anschauliche Beschreibung bei Brandt: Germania und ihre Söhne, S. 37 ff.; Trzinski, S. 148 ff. Die Abbildungen selbst bei Horst Appuhn: Der Triumphzug Kaiser Maximilians I. 1516–1518. 147 Holzschnitte von Albrecht Altdorfer, Hans Burgkmair, Albrecht Dürer u. a. Mit dem von Kaiser Maximilian diktierten Programm und einem Nachwort von Horst Appuhn. Dortmund 1979. 291 Trzinski, S. 166. 292 Im Gegenzug belohnte er sie mit öffentlichen Ehrungen und Verleihungen von Privilegien wie z. B. dem Dichterlorbeer. Es handelte sich also um den systematischen Ausbau einer Interessengemeinschaft. Vgl. dazu die instruktiven Ausführungen von Hirschi: Wettkampf der Nationen, S. 357 ff.; bes. S. 361 ff. 293 1516 unternahmen Hans Burgkmair, Albrecht Dürer u. a. die Verfertigung einer reduzierten Version in Holzschnitten. 294 Brandt: Germania und ihre Söhne, S. 37 ff.; Brandt: An mir als die Gestalt, S. 73 ff. mit Abbildung der beiden Frauen auf S. 74, Abb. 2 und 3; Trzinski, S. 149, 156 ff. 295 Brandt: Germania und ihre Söhne, S. 38; Brandt: An mir als die Gestalt, S. 75. Maximilian selbst hatte diktiert, wie er sich die Darstellung der beiden Frauengestalten vorstellte. Zunächst in Bezug auf Rom: „Secht die Kaiserlich Maiestat,/ Dey das heilig Romisch reich hat,/ Des reichs Germanien dabey,/ zu welichen ist erwelt gar frey/ der machtig Maximilian,/ Des kaiserstubs
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2 Voraussetzungen zur Entstehung der Germania-Heroide
unabhängig voneinander zu denken: Sie stehen nicht nur in einem komplementären, sondern auch in einem hierarchischen Verhältnis zueinander. Diese minutiös geplante Konstellation soll offenbar illustrieren, dass Roma als altehrwürdige Vorgängerin mit dem höheren formalen Rang die vordere Position im Triumphzug einnimmt, die ihr folgende Germania ihrerseits aber durch aktive Umklammerung von Schwert und Szepter die größere faktische Macht im Reich repräsentiert.296 Bettina Brandt deutet dies als Versuch Maximilians, seine Unabhängigkeit gegenüber dem Papst zu demonstrieren, dem damals noch in der Regel die Krönung des Kaisers oblag.297 Die Germania-Gestalt dient also der „nationale[n] Interpretation der Reichsherrschaft“ und fungiert somit als propagandistisches Instrument im Konkurrenzkampf mit dem Papsttum.298
2.3.3 Humanismus: Aufträge von Mutter Germania Gerade unter Maximilians Herrschaft avancierte die deutsche Nation zu einem „mehrfach besetzbare[n] Identitäts- und Legitimationsbegriff“, welchen sowohl die Reichsstände und reichskirchlich ambitionierte Kreise gegenüber Kaiser und Papst als auch der Kaiser gegenüber den Ständen geltend machten.299 Anschauliche Beispiele dafür finden sich bei den ihre Solidarität mit dem Kaisertum und dem Haus Habsburg demonstrierenden Humanisten. Am 30. Mai 1501 erhielt der Tübinger Poetikprofessor Heinrich Bebel (1473–1518) von Maximilian in Innsbruck den Dichterlorbeer für den Vortrag einer lateinischen Rede mit dem Titel Oratio ad regem Maximilianum,300 welche maßgeblich wurde für tregt er die Cron. Item darnach sollen zwen zu Roß des kaisers Römisch krönung fueren, vnnd der Schilt sol sein der Adler mit den zwayen heupten, vnnd der Titl also lauten: Kaisers Maximilians Römische krönung. Item die Romisch fraw solle kaiserlichen geclaidt sein, vnnd auf dem haupt ain kaiserkron haben. Item drey vol beclaidt personnen die sollen die drey Römisch kronen vor der Römischen krönung auf küsen tragen: die ströein kron, die Eyßin kron vnd die guldin kron. In Bezug auf Deutschland: Das Reich Germanie. Item darnach solle gefuert werden das Reich Germanie zu Roß, das der kaiser sitzt als ain Römischer kunig, vnnd in dem Schilt solle sein der Adler mit dem ainen haupt, wie den ain Römischer kunig fuert. Item darzu sollen gemacht werden mit den Schillten die drew heuser: Osterreich, Bayren, Sachsen, vnnd die drey Ertzbistumb: Maidburg, Saltzburg vnnd premen. Item die Germanisch fraw solle Ir har heraus haben, vnnd ain kron auf dem haupt. Zitiert nach Apphuhn, S. 185. 296 Brandt: Germania und ihre Söhne, S. 39; Brandt: An mir als die Gestalt, S. 75. 297 Brandt: An mir als die Gestalt, S. 75. Im Gegensatz zu seinem Nachfolger Karl V. hatte Maximilian seine Krönung nicht vom Papst vornehmen lassen. 298 Brandt: Germania und ihre Söhne, S. 39. 299 Ebd., S. 40. 300 Publiziert in der heute geläufigsten Form wurde sie 1504.
2.3.3 Humanismus: Aufträge von Mutter Germania
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das patriotische Geschichtsbild deutscher Humanisten.301 Darin preist er die mit Hilfe taciteischer Topoi zum Ideal stilisierte Vergangenheit und die Heldentaten der Deutschen, beklagt aber zugleich auch deren Mangel an Schriftstellern, welche diese Taten der Nachwelt hätten verkünden können (und müssen). Verdienst im Hinblick auf Ereignisse und Versäumnis im Hinblick auf deren Propaganda stehen einander in seltsamer Asymmetrie gegenüber. Mehr noch: Bebel stellt die mittelalterlichen Kaiser, die Karle, Ludwige, Lothare, Friedriche, Ottonen, Heinriche, Konrade, Rudolfe, Albrechte etc., noch über die berühmtesten Männer der griechischen und römischen Antike, nicht zuletzt deshalb, weil sie alle ihre großen Leistungen nicht um bloßer Herrschbegier willen, sondern zu Ehren Gottes und zur Verbreitung des einzig wahren Glaubens auf sich genommen hätten. Noch zu Beginn seiner Rede macht der Autor von einem seit Hesiod geläufigen Traum- und Visionsmotiv Gebrauch, hier allegorisch gestaltet: Exacta enim nocte videre videbar in somnijs vetulae mulieris imaginem humana grandiorem et augustiorem laceris tunicis et habito omnino deformi adeoque macie et squallore confectam. vt nemini non horrorem cum miseratione moueret. ceterum ita conspicuo capite. vt tanto ex fulgore visus hebetaretur et quantum videre potui serto Laureo cinctum erat. Ego itaque tanto ex capitis fulgore. ceterorum autem membrorum putredine et horrore exanimis cecideram namque calor ossa reliquit (vt cum Virgilio loquar) et vox faucibus haesit. nisi illa me apprehendisset filiumque inclamans consolata esset. Ego ex hijs verbis paulatim resumens animum. agnoui matrem esse Germaniam. qua salutata et tam varia membrorum valetudine atque condicione quaesita. illa singultu diu verba impendiente. tandem haec fatur lachrymans. I celer Bebeli ad regem meum et filium charissimum Maximilianum. non enim privatorum dedignatur accessum. narra conditionem meam. narra deformitatem narra lachrymas et assiduum luctum in quo tabesco penitus. dic sese unicum esse matris refugium et solamen. in quo omnem spem. ab eo tempore quo ex vtero materno perduxi reposuerim. sese omnium filiorum esse caput florentissimum. cetera membra omnia marcescentia. dic bono animo sit. nec desperet meliora lapsis. vt qui sua viriditate et vigore [?] adhuc membra reficere ac recreare possit. Ea vero quae nimium putrent omnino rescindenda curet. nec aliam salutis spem restare. nisi medicina adhibeatur. dic displicere mihi in primis conventicula nobilium et procerum. qua se substrahant a sancta obedientia. […] in summa dic regem meum esse eum. qui confesso omnium sit fortissimus. iustissimus. Christianissimus. nemo illum voluptati deditum. nemo libidini. nemo ocio accusat. nemo a recto iustoque deviantem. […]302
301 Diese Rede hat in der Forschung große Beachtung gefunden und gehört zu den meisterwähnten und -zitierten Beispielen für die Herausbildung eines (vormodernen) deutschen Patriotismus. Vgl. Brandt: Germania und ihre Söhne, S. 41 ff.; Brandt: An mir als die Gestalt, S. 75; Trzinski, S. 168 f. 302 Heinrich Bebel: Oratio ad regem Maximilianum de laudibus atque amplitudine Germaniae. Pforzheim 1504, fol. A 3 v-A 4 r.
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2 Voraussetzungen zur Entstehung der Germania-Heroide
Ich sah in der jüngsten Nacht im Traum ein Weib, ergraut, übermenschlich groß und erhaben, mit zerrissenem Gewande, in ganz herabgekommenem Aufzuge, so mitgenommen von Mangel und Dürftigkeit, daß jeder, der sie sah, von Schauder und Mitleid ergriffen ward, aber ihr Haupt verbreitete solchen Glanz, daß meine Augen geblendet wurden. Sie trug einen Lorbeerkranz im Haar, soweit ich es erkennen konnte. Mich hätte der Anblick zu Boden geworfen und des Wortes beraubt, wenn sie mich nicht bei der Hand genommen und mich getröstet hätte, indem sie mich ihren Sohn nannte. Da erkannte ich sie als die Mutter Germania. Ich bot ihr meinen Gruß und befragte sie, woher ihr bejammernswerter Aufzug und der Verfall ihres Leibes komme. Lange konnte sie vor Schmerzen nicht sprechen, endlich sagte sie unter Tränen: Geh, schnell, Bebel, zu meinem König und lieben Sohne Maximilian, denn er weist ja auch den einfachen Bürger nicht zurück. Erzähle ihm von mir, meiner Lage, meinem Elend, meinen Tränen und dem Gram, der mich ganz und gar verzehrt. Sage ihm, daß er die einzige Zuflucht und der einzige Trost der Mutter sei. Auf ihn habe ich gehofft, seit ich ihn geboren habe, er ist das blühende Haupt aller meiner Glieder, die anderen siechen dahin. Er aber soll hoffen und nicht verzweifeln, daß mit seiner Kraft und seinem Willen auch die andern Glieder neu zum Leben kommen werden. Aber die schon faul gewordenen möge er abschneiden, denn es gibt nur einen Weg der Rettung, wenn das Heilmittel in die Tiefe wirkt. Sage ihm, daß mir gar sehr mißfallen die Einverständnisse von Fürsten und Edeln, mit denen sie sich dem heiligen Gehorsam gegen das Reich entziehen. […] Und sage ihm, daß mein König ein Mann ist, den alle als den Tapfersten, den Gerechtesten, den Kriegerischsten anerkennen, keiner kann ihm vorwerfen, daß er Lüsten erliege oder der Willkür, oder der Trägheit, keiner, daß er von Recht und Gerechtigkeit abweiche. […]303
Das personifizierte Vaterland als nächtliche Erscheinung, als Frau, die eklatante Gegensätze in sich vereinigt – dieser Gedanke scheint vom Roma-Auftritt im ersten Buch von Lucans Epos De bello civili (Pharsalia)304 inspiriert. Ähnlich wie Lucans patria/Roma ist Germania überlebensgroß, trägt zerrissene Kleidung, aber eine ihren einzigartigen Rang demonstrierende Kopfbedeckung (Mauerkrone, Lorbeerkranz) auf ihrem bereits ergrauten Haar. Sie verbreitet im Dunklen einen hellen Lichterglanz um sich und strahlt etwas besonders Majestätisches aus, ist zugleich aber hilflos in ihrem Elend und fleht mit Trauergebärden um Hilfe. Königin und Bettlerin scheinen sich in ihrem Bild zu vereinigen. Für den männlichen Betrachter, an den sie sich wendet, ist sie erkennbar und namentlich ansprechbar. Die nächtliche Begegnung einer derart übermenschlichen Majestäts- und Elendsgestalt mit einem (real existierenden) männlichen Helden, welcher Hilfe oder zumindest Schonung gewähren soll, ereignet sich vor dem Hintergrund einer bürgerkriegsartigen, zumindest aber innenpolitisch brisan-
303 Übersetzung nach: Paul Joachimsen: Der deutsche Staatsgedanke von seinen Anfängen bis auf Leibniz und Friedrich den Großen. Dokumente und Entwicklung. Zusammengestellt und eingeleitet von Paul Joachimsen. Darmstadt 1967, S. 32–41, hier S. 32–33. 304 Lucan. 1, 183–192.
2.3.3 Humanismus: Aufträge von Mutter Germania
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ten Situation. Soweit darf Bebels Germania als Pendant zu Lucans Roma gelten. Bettina Brandt hat die Charakteristika der ersteren Gestalt einer eingehenden Interpretation unterzogen. Diese Germania verkörpert eine Instanz von überindividueller Autorität und verleiht somit dem patriotischen Gebot der Stunde ein weit größeres Gewicht, als es die Person des Humanisten Bebel allein jemals könnte. Sie entschärft durch ihre allumfassende Mütterlichkeit aber auch naturgegebene oder sozial bedingte Gegensätze innerhalb des Reiches. Der aus Tacitus entnommene Topos von der germanischen Indigenität305 und die von den Humanisten konstruierte Kontinuität von Germanen und Deutschen finden ihren visuellen Ausdruck in dem Mutterleib, der mit seiner übermenschlichen Größe und seinem hohen Alter eine zeiten- und generationenübergreifende, überhistorische Gegebenheit darstellt. Kaiser, Reichsstände, Bürger und Gelehrte haben gleichermaßen Anteil an einer gemeinsamen Herkunft, Geschichte und Kultur; sie sollen sich gleichermaßen mit einem Gebilde solidarisch fühlen, welchem sie als Söhne Verehrung schulden. Der Appell an die Reichsstände zum Gehorsam gegenüber dem Kaiser ergeht nun nicht mehr bloß aus dynastischer und theologischer, sondern – und dies scheint neu zu sein – vor allem aus nationaler Perspektive.306 Für die Germania-Heroiden scheint diese Passage aus Bebels Rede insofern relevant zu sein, als hier wohl zum ersten Mal eine hoheitsvoll-elende GermaniaGestalt den Kaiser explizit als ihren Sohn, die Reichsstände und Bürger als ihre Söhne bezeichnet. Der Humanist huldigt sowohl dem zum Tugendexempel stilisierten Maximilian als auch seiner eigenen Zunft und sich selbst, wenn er anlässlich seiner eigenen Dichterkrönung Germania mit einem Lorbeerkranz (Dichterlorbeer?) ausstattet und sie den namentlich als „Bebel“ bezeichneten Ich-Erzähler zum Vermittler zwischen ihr selbst und dem Kaiser auserwählen lässt. Der Wunsch nach einer starken kaiserlichen Gewalt und der Anspruch der Humanisten, mindestens als Sittenwächter und Meinungsführer an der öffentlichen Geltung teilzuhaben, fallen hier in eins. Dient die Germania-Allegorie einerseits zur Konsensstiftung innerhalb des Reiches, so andererseits auch zur Abgrenzung gegen auswärtige Länder, Nationen oder Dynastien, besonders gegen rivalisierende oder feindliche Mächte. Zum Einsatz kommt sie insbesondere 1519 als Instrument im Konkurrenzkampf um den nach Maximilians Tod vakant gewordenen Kaiserthron. Die habsburgtreuen deutschen Humanisten überboten einander in propagandistischen Schriften, welche die Ansprüche des damals erst 19-jährigen spanischen Königs Karl, Maxi-
305 Tac. Germ. 2: Ipsos Germanos indigenas crediderim minimeque aliarum gentium adventibus et hospitiis mixtos, […]. 306 Brandt: Germania und ihre Söhne, S. 43; Brandt: An mir als die Gestalt, S. 75 f.
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2 Voraussetzungen zur Entstehung der Germania-Heroide
milians Enkels, gegen den französischen König Franz I. legitimieren sollten.307 Das allerorts von den höchsten Kreisen bis hinunter zur einfachen Bevölkerung kursierende Schlagwort von der deutschen „Libertät“, welche von dem Habsburgerabkömmling Karl garantiert, von dem „Ausländer“ Franz hingegen bedroht werde, ließ sich besonders eindrucksvoll vergegenwärtigen durch den Auftritt einer ihre Versklavung fürchtenden und klagenden Germania oder durch eine warnende Anrede an dieselbe vonseiten einer wohlmeinenden Sprecherinstanz mit größerem Weitblick. Dazu einige Beispiele: Der Elsässer Jakob Spiegel (1483– 1547), Neffe des wesentlich bekannteren Jakob Wimpfeling, Jurist und zeitweilig kaiserlicher Sekretär, fügte der Threnodia seu lamentatio in obitum Maximiliani Caesaris Augusti des Petrus Aegidius eine Oratio Germaniae ad Deum Optimum Maximum et principes, pro libertate Germaniae bei.308 Diese präsentiert sich als Gebet Germanias an Gott und als inständige Bitte an die Kurfürsten, sie nicht durch die Wahl des falschen Kandidaten in die Hände eines Herrschers fallen zu lassen, der ihr von jeher wesensfremd sei und schon in der Vergangenheit Krieg, Gemetzel und Brautraub an den Ihren begangen habe. Germania fleht: Summe Deus, vosque summi terrae meae Principes, ad Romanum & meum aspirare fertur imperium qui a moribus meis dissidet, quem natura editis montibus a me disiunxit: cuius maiores nedum meipsam, sed & meos principes, & ipsam aquilam per ludos scaenicos saepe ludibrio habuere: qui terras meas iampridem vastarunt; multosque tum apud meam Basileam meos Helvetios neci dederunt: quorum superbiam ac libidinem magnanimi Siculi amplius ferre nequeuntes, nullo sexus habito discrimine, ipsos una hora trucidarunt. […] Qui in Caesarem meum pium & iustum, orationem spurcissimam, gloriaeque suae & famae detractricem (cuius caput est) Insolentis demissique animi ex summo livore, cum sua ipsorum ignominia disseminarunt. […] Dii prohibete nefas, prohibete & vos supremi Antistites & duces mei, ne de hac gente, & tali massa quispiam regno meo potiatur: quum exstent de meo, hoc est, Germanico sanguine, qui mihi & meis non superbe & contumeliose dominari, sed sancte & moderate absque tyrannide praeesse possint. quique a populis meis malint amari quam timeri.309 Höchster Gott und ihr, höchste Fürsten meines Landes, man sagt, auf das Römische und auf mein Reich richte jemand sein Verlangen, welcher mit meiner Art nichts gemeinsam hat und welchen die Natur durch Berge von mir getrennt hat, dessen Vorfahren keineswegs nur mich selbst, sondern auch meine Fürsten und den Adler selbst in ihren Schauspielen zum Gespött gemacht, die schon lange mein Land verwüstet und viele meiner Schweizer
307 Vgl. das Kapitel dieser Arbeit 2.1.5. 308 Trzinski, S. 169 f.; Karl Heinz Burmeister: Art. Jakob Spiegel. In: Franz Josef Worstbrock (Hrsg.): Deutscher Humanismus 1480–1520. Verfasserlexikon. Bd. 2. Berlin / Boston 2013, Sp. 936–948, bes. Sp. 936 ff., 944 f. 309 Jakob Spiegel: Oratio Germaniae. In: Quae in hoc codice continentur […] Threnodia seu la mentatio Petri Aegidii […]. Augsburg 1519, fol. Cc 2 r-v.
2.3.3 Humanismus: Aufträge von Mutter Germania
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bei Basel einem grausigen Tod überliefert haben. Als die hochherzigen Sizilianer deren Hochmut und Lüsternheit nicht länger ertragen konnten, haben diese sie ohne Rücksicht auf ihr Geschlecht in einer einzigen Stunde abgeschlachtet. […] Gegen meinen frommen und gerechten Kaiser haben sie zu ihrer eigenen Schande aus dem größten Neid, zu dem eine ganz verworfene Seele fähig ist, eine vollkommen unflätige Rede in Umlauf gebracht, in der sie seinen Ruhm und sein Ansehen in den Dreck ziehen (wobei er doch der Gipfel des Ruhmes und Ansehens ist). […] Götter, verhindert den Frevel, verhindert auch ihr ihn, höchste Bischöfe und Herzöge, damit nicht jemand aus diesem Volk und dieser Masse sich mein Königreich einverleibt. Gibt es doch solche aus meinem, d. h. aus deutschem Blute, welche befähigt sind, über mich und die Meinen nicht hochmütig und schimpflich zu gebieten, sondern fromm, maßvoll und ohne jegliche Tyrannei ihre rechtmäßige Herrschaft zu führen, und die lieber von meinen Bewohnern geliebt als gefürchtet werden wollen.310
Eine scharfe Invektive gegen den hier nicht namentlich genannten Gegner und ein frühes Beispiel für einen Jahrhunderte dauernden deutsch-französischen Antagonismus – dennoch greift es zu kurz, dies lediglich nur als „chauvinistische Position“311 zu begreifen, da es im Zusammenhang eines im ganzen gelehrten Europa betriebenen Prestigewettbewerbes angesehen werden muss. Mit einem ähnlichen Beitrag kann Spiegels Elsässer Landsmann Hieronymus Gebwiler (1474–1545) aufwarten, der zur betreffenden Zeit an der Schule des Domkapitels in Straßburg tätig war und später als glühender Lobredner des Hauses Habsburg und als Gegner der Reformation von sich reden machen sollte.312 Im Sommer 1519 publizierte er eine 12 Kapitel umfassende Propagandaschrift mit dem für die patriotischen Leser verheißungsvollen Titel Libertas Germaniae, qua Germa nos Gallis, neminem vero Gallum a Christiano natali, Germanis imperasse certis simis classicorum scriptorum testimonijs probatur. Der Autor ist um den Nachweis bemüht, dass seit frühesten Zeiten Germanen bzw. germanischstämmige Franken ihre Herrschaft immer weiter nach Gallien ausgedehnt, niemals aber Franzosen, „Gallier“, die Krone des römischen Königs getragen hätten. Er beruft sich im Wesentlichen auf die fast allen Parteien zum Prestigegewinn dienende Figur Karls des Großen und die translatio imperii-Theorie, um eine Art Gewohnheitsrecht der als „deutsch“ verstandenen Habsburger auf die Kaiserkrone herzuleiten, in diesem Falle zugunsten des (im Reich persönlich noch kaum bekannten) Karl. Auf dessen am 28. Juni tatsächlich erfolgte Wahl nimmt das 10. Kapitel
310 Übersetzung T. B. 311 Trzinski, S. 170. 312 Hirschi: Wettkampf der Nationen, S. 298; Trzinski, S. 167; Brandt: Germania und ihre Söhne, S. 44, 57; Brandt: An mir als die Gestalt, S. 76; Dieter Mertens: Art. Hieronymus Gebwiler. In: Franz Josef Worstbrock (Hrsg.): Deutscher Humanismus 1480–1520. Verfasserlexikon. Bd. 1. Berlin / New York 2008, Sp. 870–889.
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2 Voraussetzungen zur Entstehung der Germania-Heroide
der Schrift, als Enkomion (in Prosa) gestaltet, Bezug.313 Der Autor bekundet dort seine stürmische Vorfreude auf die segensreiche Zukunft, die von dem neuen, jungen Herrscher zu erwarten sei. Die Libertas Germaniae, obgleich als historiographischer Abriss gestaltet, enthält einzelne allegorische Passagen. Gegen Ende der Widmungsvorrede begegnet zunächst ein polemisches Epigramm, welches die zeittypische politische Metaphorik wirkungsvoll in Szene setzt. Germania Gallum alloquitur. Galle tumens, procul hinc fugito cristasque rubentes Supprime: Germanus nil tua sceptra timet. Hunc quia defendit Iouis aliger ungue minaci Nec sinit ut Gallus Teutona rura colat. Proteget hunc pictis volucris Iunonia pennis. Et laqueum mandat turgide Galle tibi. Auro parce tuo: Germanos nil tua dona, Galle movent: Gallis lubrica quaeque fides. Vt sua stuprentur, dulcissima pignora, natae, Vxoresque simul, gens mea ferre nequit: Libera nec patior Germania, Galle tyrannum, Qui velit ut seruos plectere quenque suos.314
Germania spricht den Gockel (bzw. Gallier/Franzosen)315 an Aufgeblasener Gockel, verschwinde von hier und lass deinen roten Kamm hängen; der Deutsche fürchtet sich nicht vor deiner Herrschaft, weil ihn Jupiters Adler mit drohender Klaue beschützt und nicht zulässt, dass der Franzose deutsche Fluren bewohnt. Ihn wird der Vogel der Juno [Pfau] mit den bunten Federn beschützen, und dir, aufgeblasener Gockel, gibt er den Strick. Behalte nur dein Gold: Die Deutschen beeindrucken deine (Bestechungs-)Geschenke nicht, Franzose; jede Versprechung der Franzosen ist trügerisch. Mein Volk kann es nicht dulden, dass seine liebsten Kinder, Töchter und Ehefrauen zugleich geschändet werden, und ich, das freie Deutschland, Franzose, ertrage keinen Tyrannen, der einen jeden schlagen will wie seine eigenen Sklaven.316
313 Art. Hieronymus Gebwiler, Sp. 882. 314 Hieronymus Gebwiler: Libertas Germaniae, qua Germanos Gallis, neminem vero Gallum a Christiano natali, Germanis imperasse certissimis scriptorum testimonijs probatur. Straßburg 1519, fol. A 3 r-v. Separat greifbar auch bei Joseph Knepper: Nationaler Gedanke und Kaiseridee bei den elsässischen Humanisten. Ein Beitrag zur Geschichte des Deutschthums und der politischen Ideen im Reichslande. Freiburg im Breisgau 1898, S. 199. 315 Wie Hirschi: Wettkampf der Nationen, S. 298, Anm. 175 zu Recht bemerkt, lässt sich das lateinische Wortspiel Gallus – Hahn, Gallier, Franzose nicht adäquat wiedergeben. Somit muss es auch innerhalb des Textes auf verschiedene Weise übersetzt werden. 316 Übersetzung T. B.
2.3.3 Humanismus: Aufträge von Mutter Germania
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Im sechsten Kapitel führt der Autor die besonderen Verdienste Karls des Großen um die Kirche und um die Befriedung und Missionierung großer (noch heidnischer) Teile Europas aus, welche ihm zu Recht die kaiserlichen Würden eingetragen hätten. Es folgt eine der wohl meistzitierten Passagen der Rede in Form einer Apostrophe: Tibi igitur haud parum gratuleris inclyta Germania, martialium virorum foecundissima, tot clarissimis illustrium ac generosorum Principum & Comitum stemmatibus refertissima, e quibus vacanti Caesareae sedi prudentem & paciferum Augustum longinqua Gallorum gente procul repulsa praeficias ne quae caeteris hactenus imperaveris, quamve exterae nationes cum tremore quodam suspexerint, extorri quopiam, non germano sanguine progenito, hoc insigni adornato, veluti mancipium servire cogaris.317 Du kannst dich also nicht eben wenig beglückwünschen, berühmte Germania, du Fruchtbarste an Männern, die dem Mars heilig sind, du Reichste an glänzendsten Stammbäumen berühmter und edler Fürsten und Grafen: Aus deren Reihen betraue einen klugen und Friede bringenden Kaiser mit dem vakanten Kaiserthron, den fremden Stamm der Gallier aber halte von dir fern, damit du, die du bis jetzt über die anderen geherrscht hast und zu der auswärtige Nationen mit Zittern aufgeblickt haben, nicht irgendeinem Ausländer, der nicht von germanischem Blut abstammt, aber mit diesem Herrschaftszeichen geschmückt ist, wie eine Kaufsklavin zu dienen gezwungen bist.318
Diese hier beschworene Art der Bedrohung wurde durch die Wahl des jungen Habsburgers tatsächlich abgewendet, was allerdings eher dem finanziellen Einsatz der Fugger zu verdanken war als der patriotischen Propaganda. Immerhin müssen alle Bevölkerungsschichten bis zu einem gewissen Grad für die Vorstellung von einer deutschen Nation empfänglich gewesen sein, denn fortan verzichtete kaum eine Partei, kaum ein Auftraggeber darauf, eine der Justitia oder Friedensgöttin nachempfundene, mit Vorbildcharakter ausgestattete Germania-Gestalt ins Spiel zu bringen, wenn es die eigenen Interessen zu legitimieren galt.319 So nimmt es nicht wunder, dass diese Gestalt insbesondere im Kontext von Türkenkrieg und Reformation zum Einsatz kam. Sowohl in volkstümlichen deutschen Liedern und Flugschriftgedichten als auch in lateinischer Gelegenheitslyrik konnte Germania entweder zum Türkenkrieg mahnen oder in konfessionellen Auseinandersetzungen, vermehrt während des Schmalkaldischen Krieges, Position beziehen, und zwar meist zugunsten der Protestanten, welche für sich den Nimbus des ob seiner wahren Gottesfurcht verfolgten Israels in Anspruch nahmen.320 Alexander
317 Hieronymus Gebwiler: Libertas Germaniae, fol. C 5 v. 318 Übersetzung nach Brandt: Germania und ihre Söhne, S. 44. Andere Übersetzungen bieten Knepper, S. 65 und Trzinski, S. 167. 319 G. Schmidt: Geschichte des Alten Reiches, S. 48. 320 Hirschi: Wettkampf der Nationen, S. 474; A. Schmidt: Vaterlandsliebe und Religionskonflikt, S. 224, 242.
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Schmidt macht auf die doppelte Rolle der Germania sowohl als aktiv anklagende als auch als angeklagte Autoritätsinstanz aufmerksam. Der von individuellen und kollektiven Leiderfahrungen der Gegenwart betroffene Autor kann in ihrem Namen oder zu ihr sprechen321 – der Inhalt der Klage bleibt im Wesentlichen derselbe. Einen besonderen Weg beschreitet dabei Philipp Melanchthons Schüler, Freund und Schwiegersohn Georg Sabinus (1508–1560).322 Im fünften Buch seiner Elegien knüpft er im Rahmen einer Versepistel an eine bestimmte Art der Germania-Allegorie aus der bereits erwähnten Rede des älteren Humanisten Bebel an. Die Epistel Ad Philippvm Bucchemerum Alberti Cardinalis & Archiepiscopi Mogun tini Medicum,323 adressiert an einen Freund, den Arzt des Mainzer Kardinals und Erzbischofs Albrecht von Brandenburg, präsentiert sich vordergründig als Legitimation für Sabinus, erstmals das Gebiet der (zeitgenössischen) panegyrischen Geschichtsschreibung zu betreten, dient aber, wie sich zum Schluss zeigt, zugleich auch dem höchst praktischen, für die meisten Humanisten unerlässlichen Zweck, sowohl bei dem (offenbar einflussreichen) Freund selbst als auch bei dessen Herrn, einem der größten Würdenträger des Reiches, für künstlerische Protektion des eigenen Werkes zu werben.324 Zu Beginn der Briefelegie beantwortet der Autor die (einem gängigen Topos entsprechend) von seinem Adressaten zu erwartende Frage, weshalb er, Sabinus, bislang bekannt für seine anmutigen Verse, neuerdings plötzlich für einen Geschichtsschreiber gelten wolle.325 Um dies zu begründen, und zwar als Sache einer wahren Berufung, nicht etwa bloßen Profitdenkens,326 macht der Autor Gebrauch von zwei bewährten literarischen Motiven, die er auf effektvolle Weise miteinander verquickt, nämlich von der Allegorisierung der (mit einer Forderung auftretenden) Patria und von dem bei Hesiod erstmals bezeugten und seither bis mindestens in die Renaissance
321 A. Schmidt: Vaterlandsliebe und Religionskonflikt, S. 224, 242, 366. 322 Georg Sabinus ist für die gesamte Arbeit von größter Bedeutung. Ausführungen zu seiner Biographie erübrigen sich an dieser Stelle, vgl. stattdessen das Kapitel dieser Arbeit 3.1.1 Germa nia ad Caesarem Ferdinandum (1529). 323 In: [Elegie 5, 3]. Poemata Georgii Sabini […] aucta, et emendatius denuo edita [per Ioachimum Camerarium]. Leipzig um 1568, S. 146–150. 324 Ausführliche Kapitel zu den in ihrer Wichtigkeit kaum zu überschätzenden soziokulturellen Bedingungen für die Publikationsmöglichkeiten der Humanisten präsentiert Karl E. Enenkel: Die Stiftung von Autorschaft in der neulateinischen Literatur (ca. 1350-ca. 1650). Zur autorisierenden und wissensvermittelenden Funktion von Widmungen, Vorworttexten, Autorporträts und Dedikationsbildern. Leiden / Boston 2015 (Mittellateinische Studien und Texte 48). 325 Poemata Georgii Sabini, S. 46: Cum mihi se praestent faciles in carmine Musae,/ Quae nova sit forsan caussa PHILIPPE rogas:/ Cur magis historiae, quam carminis, autor haberi,/ Posthabito tandem nunc Helicone, velim. 326 An, quia nulla manent hoc tempore praemia vates,/ Me sacri titulum vatis habere pudet?
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hinein geläufigen Motiv der Dichterweihe.327 Bei letzterem handelt es sich um einen konventionalisierten Kunstgriff, mit welchem der über sich selbst reflektierende Dichter (vorgeblich) sein eigenes künstlerisches Schaffen legitimiert. Dazu bedient er sich in der Regel – mal (vorgeblich) mit feierlichem Ernst, mal spielerisch-witzig – der meist in der Ich-Form vorgetragenen Fiktion, dass er selbst, ein ursprünglich vollkommen unbedeutender Mensch, oftmals ein Hirte, in einer nächtlichen Vision von den Musen oder von sonst einer göttlichen oder gottähnlichen Instanz den Auftrag und die Befähigung erhalten habe, mittels Gesang und/oder Verssprache eine bestimmte (göttliche) Botschaft zu verkünden. Der jeweils auserwählte Mensch, meist bei seinem Namen angerufen, oft mit heiligem Lorbeer oder Wasser in Berührung gebracht,328 soll sich entweder dem Dienst an den Musen überhaupt, einer bestimmten Dichtungsgattung (Epos, Elegie) oder der Verkündigung des christlichen Glaubens widmen. Bei der Schilderung ihrer eigenen Initiationserlebnisse nehmen manche Autoren affirmativ oder parodistisch Bezug auf einen berühmten Vorgänger, von welchem sie sich entweder durch Überbietung oder durch die vorgeblich bescheidene Hinwendung zu einer weniger renommierten Kunstform abzusetzen suchen. Die möglichst effektvolle Inszenierung der eigenen Weihe zu einem (wie auch immer gearteten) vates wird zu einer Prestigefrage. Selbst bei einer Beschränkung auf einige namhafte Gestalten ergibt sich eine ansehnliche Reihe von Hesiod über Archilochos, Kallimachos, Ennius, Horaz, Properz, Ovid, Beda Venerabilis bis zu Petrarca, Enea Sivio Piccolomini und darüber hinaus. Sabinus entwirft ein klassisch anmutendes Szenario, bei welchem das Dichter-Ich an einem schattigen Ort an den Ufern der Oder seiner gewohnten Beschäftigung nachgeht. Anstelle einer Muse erscheint aber die anthropomorphisierte Patria, in diesem Fall eine als Kriegerin gekleidete Germania als protreptisch agierende und – im buchstäblichen Sinne – inspirierende Instanz. Scilicet armipotens hoc me Germania vatem Historico filo texere iussit opus. […] Ecce gerens frameam dextra, parmamque sinistra Foemina castrensi venit amicta sago.329
327 Vgl. das berühmte Proömium von Hes. Theog. Grundlegend zum Verhältnis von Poesie und Inspiration Athanasios Kambylis: Die Dichterweihe und ihre Symbolik. Untersuchungen zu Hesiodos, Kallimachos, Properz und Ennius. Heidelberg 1965. 328 Zu diesen beiden wichtigsten Symbolen der Dichterweihe vgl. Kambylis, S. 17–30. 329 Poemata Georgii Sabini, S. 46.
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Freilich gebietet mir als Dichter die waffengewaltige Germania, dieses Werk mit dem Faden des Geschichtsschreibers zu weben. […] Siehe da, mit einer Frame in der Rechten und einem kleinen Schild in der Linken erscheint eine mit einem Soldatenmantel bekleidete Frau.330
Schon die rein visuelle Inszenierung der Heldin reaktiviert den uralten Topos der Germania bellatrix. Die bewaffnete Frau stellt sich vor: Illa ego sum genitrix magnorum clara virorum, Urbs quibus imperium nunc Tyberina dedit. Inclita Teutonicis qui gentibus indidit heros Nomina, me natus matre Tuisto fuit. Multa quidem gessi diversum bella per orbem, Multaque sunt armis parta trophaea meis.331 Ich bin die berühmte Mutter großer Männer, welchen die Stadt am Tiber nun ihr Reich übergeben hat. Von mir entstammt der Held Tuisto, welcher den deutschen Stämmen ihre glänzenden Namen verliehen hat. Viele Kriege habe ich über den weiten Erdkreis hinweg geführt und viele Beutestücke durch meine Waffen erworben.
Sie zählt ihre Siege über die Franzosen, die Bewohner der Britischen Inseln, die Türken und über italienische Städte auf und kommt, ganz im Sinne älterer deutscher Humanisten wie z. B. Heinrich Bebel, auf ihr eigentliches Anliegen zu sprechen: Hei sed iniqua mihi sors hunc invidit honorem, Clara voluminibus ne mea gesta forent. Ecquibus Aeneadum non vivit gloria chartis? Graecia praecones est quot adepta suos? At mea laude caret virtus: quia nemo notavit Res, nisi scriptorum barbara turba meas.332 Wehe, ein ungerechtes Geschick missgönnte mir diese Ehre, dass meine Taten durch Bücher berühmt werden. Lebt etwa nicht der Ruhm der Nachkommen des Aeneas in Büchern? Wie viele Künder seines Namens hat Griechenland erlangt? Aber mein Heldentum findet kein (allgemeines) Lob, weil niemand meine Taten aufgeschrieben hat außer einer ausländischen [römischen] Schar von Geschichtsschreibern.
Den früheren Generationen, so erklärt sie, mache sie keinen Vorwurf, da man sich zu jener Zeit eben dem Krieg und nicht den Musen gewidmet habe. Jetzt aber, wo Gelehrsamkeit und Künste in höchster Blüte stünden, wolle auch sie endlich von der Beredsamkeit der Ihren profitieren. Ebenso wie Pontanus solle nun Sabinus,
330 Übersetzung T. B. 331 Poemata Georgii Sabini, S. 147. 332 Ebd.
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wenngleich von Natur aus eher zum elegischen Dichter bestimmt, als erster senis calamo Patavini,333 also analog zum römischen Geschichtsschreiber Livius, von den Taten seines Landes künden, und zwar – dies ist bemerkenswert – von denjenigen seiner eigenen Zeit. Was sie darunter versteht, zählt Germania in einem eigenen kurzen Katalog auf, nämlich in erster Linie die großen (militärischen) Unternehmungen Karls V., darunter die Siege über Franz I. bei Pavia 1525 oder über die muslimischen Besatzer von Tunis im Jahr 1535. Falls Sabinus für ihre bloßen Bitten nicht empfänglich genug sei, möge ihm die zu erringende fama perennis zum Ansporn dienen. Erwartungsgemäß erweist sich der Angesprochene als frommer Sohn (Nec meus egregia conatus laude carebit,/ Nam pius est patriae facta referre labor.)334 und kündigt nun seinerseits an, er werde sein Werk mit dem Tod Maximilians I., der (publizistisch ausgetragenen) Rivalität der beiden jungen Könige um den vakanten Kaiserthron und dem für das Reich so glücklich ausfallenden Wahlsieg Karls eröffnen. In gewisser Weise lässt sich diese Fiktion als Umkehrung des Dichterweihe-Szenarios bei Sabinus’ verehrtem Vorbild Ovid lesen. Dieser hatte das dritte Buch seiner Amores335 in witziger Weise mit einem poetologisch-allegorischen Liebeswettstreit eröffnet, bei welchem zwei personifizierte Dichtungsgattungen, nämlich die mit ihren Herrschaftsinsignien (Mantel, Zepter, Kothurn) furchterregend einherstolzierende Tragödie und die schelmisch schmeichelnde, trotz leichten Hinkens noch anmutige Elegie um die Gunst des großsprecherischen poeta/ amator buhlen.336 Den (vorläufigen) Sieg trägt letztere davon; der Umworbene erbittet sich noch etwas Aufschub zugunsten seiner gewohnten Schreibweise, bevor er sich, wie ursprünglich angeblich beabsichtigt, der gattungsmäßig höherrangigen Tragödie zuwenden will. Sabinus hingegen inszeniert den Aufstieg des Poeten von der elegischen Dichtung zu einer gewichtigeren literarischen Gattung, indem er die Patria als Muse der (panegyrischen) Geschichtsschreibung, gewissermaßen als deutsche Klio, agieren lässt. Dies kündet einerseits von dem besonderen Selbstverständnis und gesellschaftspolitischen Sendungsbewusstsein, welches die Humanisten generell zur Schau trugen,337 erfüllt in 333 Ebd., S. 148. 334 Ebd., S. 149. Zudem weist er sich mit dieser Antwort natürlich auch als guter Ovid-Schüler aus. Vgl. Ov. trist. 2, 321–322: nec mihi materiam bellatrix Roma negabat,/ et pius est patriae facta referre labor. 335 Ov. am. 3, 1. 336 Dies nimmt seinerseits parodistischen Bezug auf das „Herkules am Scheideweg“-Motiv. 337 Vgl. Caspar Hirschi: Höflinge der Bürgerschaft –Bürger des Hofes. Zur Beziehung von Humanismus und städtischer Gesellschaft. In: Gernot Michael Müller (Hrsg.): Humanismus und Renaissance in Augsburg. Kulturgeschichte einer Stadt zwischen Spätmittelalter und Dreißigjährigem Krieg. Berlin / New York 2010, S. 31–60, hier S. 42, 47.
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diesem Falle aber auch den konkreten Zweck, den gegen Ende der Epistel explizit genannten Dienstherrn des Adressaten Albrecht von Brandenburg für sich zu gewinnen. Dieser solle zu gegebener Zeit das Werk denn auch in Augenschein nehmen, denn immerhin, so versichert Sabinus, werde auch er darin genügend lobende Erwähnung seiner selbst finden. Mithilfe des wohl neu kreierten Typus einer Germania-Klio lässt sich hier also die (zumindest angestrebte) Allianz von humanistischem Autor, freundschaftlich verbundenem Protektor und Herrscher illustrieren. 1546, am Vorabend des Schmalkaldischen Krieges (1546–1547), brachten zahlreiche protestantische Autoren in oftmals volksliedhaft abgefassten, deutschsprachigen Flugschriften ihre Besorgnis ob der zunehmenden und nicht mehr zu übersehenden militärischen Aufrüstung im kaiserlichen Lager zum Ausdruck. Als typisches Dokument für eine dezidiert lutherische Haltung, welche aber in diplomatischer Weise eine strikte Trennung zwischen der grundsätzlich unantastbaren Instanz des Kaisers (oder Kaisertums) und seinen üblen Beratern vornimmt, kann ein auf den 16. Juli 1546 datierter Text von Hans Sachs gelten, ein in eine Rahmenfiktion gekleideter Dialog. Schon der Titel Ein klagred teutsches lands mit dem treuwen Eckhart338 zeigt an, dass hier eine allegorische Gestalt mit einem sprichwörtlich gewordenen Helden der deutschen Volkssage in Kontakt kommt. Ein anonymer Erzähler wird während eines Waldspaziergangs aus einem Versteck heraus zufällig Augen- und Ohrenzeuge eines Gesprächs zwischen einer erbärmlich klagenden, schwangeren Frau namens Germania und dem (offenbar im Volksmund weithin bekannten) Waldbruder Eckhart. Germanias wiederholten Klagen, dass ausgerechnet ihr eigener (kaiserlicher) Schutzherr ihr Gewalt und Zerstörung androhe, vermag Eckhart bei aller Freundschaft kaum Glauben zu schenken. Germania kleidet ihre Unheilsschilderungen in eine anschauliche Metaphorik aus dem ornithologischen Bereich. Der von Natur aus edelgesinnte Adler lasse sich von üblen Nachtvögeln, von lichtscheuen Fledermäusen und Eulen gegen sie aufhetzen. Aufschluss über diese ebenso unverständliche wie schreckliche Lage gibt ihr letztlich Eckhart, indem er die schon im Alten Testament geläufige Licht-Dunkel-Metaphorik auf ihre Situation anwendet. Germania, die von Gott bereits der Gnade einer besonderen Erleuchtung gewürdigt worden sei, wandle wider besseres Wissen nach wie vor in Dunkelheit und Sünde. Dafür erleide sie nun unvermeidbar ihre Strafe. Sie solle ebenso wie einstmals Ninive und Israel zu Gott zurückkehren und ihn mit erhobenen Händen reumütig um 338 Hans Sachs: Ein klagred teutsches lands mit dem treuwen Eckhart. In: Rochus von Liliencron (Hrsg.): Die historischen Volkslieder der Deutschen vom 13. bis 16. Jahrhundert. Bd. 4. Mit einem Nachtrag. Hildesheim 1966 (Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1869), Nr. 520, S. 299–301.
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Erbarmen anflehen. Dann werde auch der Adler zur Erkenntnis des wahren Lichts gelangen und Germania zuliebe die Nachtvögel vernichten. Im selben Jahr publizierte der lutherische Theologe Johannes Schradin (um 1500–1560/1561), der als Präzeptor an der Lateinschule von Reutlingen für die Einführung der Reformation in der Stadt mitverantwortlich war, einen in deutsche Knittelverse gefassten Aufruf zum Widerstand gegen den mittlerweile in gehobenen protestantischen Kreisen verhassten Karl V. mit dem Titel Expostu lation / das ist Klag des teutschen Lands gegen Carolo quinto dem keiser des un billigen bekriegens, darinn angezeigt, wie solichs wider alle billigkeit und recht beschehe.339 Auch diese Flugschrift schildert eine (in ähnlicher Form schon bei Petrarca begegnende) fiktive Situation: Ein anonymer Ich-Erzähler schleicht sich aus Neugier in die Ecke eines Saales, in welchem der Kaiser mit seinen Vertrauten eine Beratung abhält, und kann zunächst deren „welsche“ Sprache (Latein, Französisch, Spanisch?) nicht recht verstehen. Dafür wird er unbeabsichtigt Zeuge eines unerhörten Auftritts. Eine schöngewachsene, schwarzgekleidete Frau von hohem Alter und Adel nähert sich Karls Thron in Kummer und Erregung. Sie verweigert einen Fußfall vor dem Kaiser, gibt sich als Germania zu erkennen und hält ihm als seine schwer enttäuschte und misshandelte Mutter eine lange Strafpredigt. Sie habe seine Vorfahren seit Rudolf von Habsburg aus geringem Stand zu höchsten Würden erhoben. Karl, unter großen Opfern und Entbehrungen anderer Personen zum Kaiser gekrönt, zeige sich der treuen Anhänglichkeit seiner Deutschen unwürdig, gebe sie Franzosen und Türken preis, lasse Ungarn im Stich und habe sein Versprechen, ein allgemeines, d. h. für alle Parteien annehmbares Konzil abhalten zu wollen, gebrochen. Noch schwerer wiegt der Vorwurf, Karl wolle die wahrhaft gottesfürchtigen d. h. lutherischen Deutschen zwingen, den Papst als Götzen anzubeten, und rüste bereits zum Krieg gegen sie. Er solle jedoch wissen, dass Gott selbst auf Seiten der Mutter und ihrer rechtgläubigen Kinder kämpfe. Sogar zuletzt noch, als Germania dem Kaiser Höllenstrafen androht, ignoriert dieser ihre Worte. Germania verschwindet. Bestürzt möchte der anonyme Sprecher den gottlosen Ort verlassen. Er beschließt, künftig allein auf Gottes Wort zu hören, und betet um Beistand für das als fromme Mutter verehrenswerte Vaterland.340 Ein größerer Kontrast als zwischen der seit 1519 einsetzenden und von zahlreichen (auch protestantischen) Humanisten weiterhin betriebenen Karls-Panegyrik und einer derartigen Abrechnung ist kaum vorstellbar. Hier wird weder Bekehrung zur Kaisertreue noch die Bekehrung eines (zur Einsicht und Besse-
339 In: Ebd., Nr. 522, S. 310–319. 340 Dieses und ähnliche Beispiele nennt G. Schmidt: Geschichte des Alten Reiches, S. 94 ff.
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rung fähigen) Kaisers, sondern, im Gegenteil, die radikale Abkehr von diesem gepredigt. 1562 publizierte der juristisch geschulte und zeitweilig mit Kanzleidiensten betraute Naumburger Bischof Julius Pflug (1499–1564), Vertreter einer auf Mäßigung und Ausgleich bedachten katholischen Konfessionspolitik, den von ciceronianischem Patriotismus-Vokabular dominierten lateinischen Traktat De ordinanda Republica Germaniae oratio, in welchem er der protestantisch-reichsfürstlichen Propaganda mit einem katholisch-kaisertreuen Korrektiv zu begegnen sucht.341 Dieser nach Art einer Reichstagsrede abgefasste Text, dem Tenor eines Enea Silvio Piccolomini oder Gianantonio Campano folgend, präsentiert sich als Plädoyer für eine starke Monarchie, welche dem Gemeinwohl wesentlich besser diene als eine primär nach dem eigenen Vorteil strebende und untereinander rivalisierende adlige Elite. Die mit der Historie argumentierende Darstellung knüpft zwar, wie bei deutschen Humanisten üblich, an das germanische Altertum an, bietet aber kein verklärtes, sondern ein durchaus kritisches Bild desselben. Jene Zeit sei aufgrund mangelhafter Gesetzgebung durch die Zwietracht konkurrierender Stammeskönige (nicht, wie Tacitus behauptet, durch ein starkes naturgegebenes Sittlichkeitsempfinden) geprägt gewesen. Selbst die vielbewunderten Kampf- und Kriegstugenden von Männern wie Arminius seien wertlos, sofern sie nicht durch effiziente Rechtsstrukturen guten Zwecken dienstbar gemacht würden. Einheit durch Recht und Religion, natürlich das Christentum, könne, wie schon das Beispiel Karls des Großen beweise, nur ein starker Alleinherrscher garantieren, der freilich kein Despot nach türkischem oder assyrischem Modell sein solle. Der Autor formuliert somit eine moderat gehaltene Kritik an den lautstark erhobenen reichsständischen Ansprüchen.342 Dem nicht primär die konfessionellen Gegensätze betonenden, sondern eher an allgemein akzeptierte Wertvorstellungen appellierenden Traktat wird heute noch ein bemerkenswert konzilianter Tenor bescheinigt; als weniger glücklich gilt Pflugs Versuch, die kaiserlich-habsburgischen Machtansprüche mit einer weitgehend aus Ciceros De officiis adaptierten Freiheitsterminologie zu propagieren.343 Wie sehr sich Pflug die Strategien der republikanisch-patriotischen Rhetorik der Römer zu eigen macht, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass er gegen Ende seiner Ausführungen einer personifizierten Patria, also hier einer Germania, das Wort erteilt. Der Autor behauptet, nicht anders aufzutreten, als es auch das Vaterland selbst (patria ipsa) mit gutem Recht täte:
341 Eine ausführliche Analyse bei A. Schmidt: Vaterlandsliebe und Religionskonflikt, S. 201–226. 342 Ebd. 343 Ebd., S. 225.
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Quae si una voce loqui posset, haud dubie in hanc sententiam ageret vobiscum: Ego si a vobis postularem, ut mea causa de suo quisque vestrum privato iure decederet, vel mortem non dubiam adiret, an non hoc iure quodam modo facere viderer? Ita enim genui vos, ut si opus sit, vitam ipsi vestram pro me profundere debeatis. […] Ac primum, quia a vobis hoc petitur, ut sublatis simultatibus, sitis concordes inter vos, & idem de Republica de religione Dei immortalis, deque publica salute sentiatis, an non hoc illud ipsum est, ad quod, si tacerent alii, vos tamen ipsos excitare deberetis? Qui nisi desieritis oppugnare vos ipsos, & me lacerare, non modo non germani eritis inter vos, nec cives mei amplius, sed inimici planeque hostes. Nam quatenus intestina inter vos bella geritis, mihi tamquam matri vestrae manus infertis: immo vos ipsos, a quibus nullum meum malum seiunctum esse potest, laeditis atque affligitis. […] Deponite igitur simultates, si quas inter vos geritis, & in me atque Rempublicam meam totis pectoribus & singulari animorum consensione incumbite.344 Wenn es mit einer einzigen Stimme reden könnte, würde es ohne Zweifel in diesem Sinne mit euch verfahren: Wenn ich von euch verlangte, dass ein jeder von euch um meinetwillen von seinem persönlichen Recht absähe oder einen mit Gewissheit drohenden Tod auf sich nähme, hätte es nicht den Anschein, dass ich dies mit einem gewissen Recht täte? Ich habe euch nämlich in der Absicht zur Welt gebracht, dass ihr selbst, wenn es nötig ist, euer Leben für mich hingeben müsst. […] Und zuerst, müsstet ihr nicht, weil es von euch verlangt wird, selbst wenn andere schweigen sollten, euch selbst ermuntern, Rivalitäten beizulegen, untereinander einträchtig zu sein und gleichermaßen über den Staat, über die Religion und das Gemeinwohl zu denken? Wenn ihr nicht ablasst, euch selbst zu bekämpfen und mich zu zerfleischen, werdet ihr nicht nur untereinander keine Brüder mehr und nicht länger meine Bürger sein, sondern Feinde, ganz offensichtlich Staatsfeinde. Denn solange ihr untereinander Bürgerkriege führt, vergreift ihr euch an mir wie an eurer eigenen Mutter. Mehr noch, ihr verletzt und zerfleischt euch selbst, ihr, von welchen mein eigenes Leid nicht unabhängig sein kann. […] Legt also eure Rivalitäten bei, sofern ihr noch welche untereinander austragt, und widmet euch mir und dem Gemeinwesen mit ganzem Herzen und mit besonderer Einigkeit im Geiste.345
Andere Autoren hingegen präsentieren bisweilen nicht nur eine klagende, sondern auch eine angeklagte Germania. Ein nicht exakt datierbares Schmäh-Epigramm des norddeutschen protestantischen Humanisten Nathan Chyträus (1543–1598), deutlich rekurrierend auf die Vetula-Skoptik in den aischrologischen Horaz-Epoden 8 und 12, geht äußerst scharf mit dem sittlich entarteten Deutschland ins Gericht und wirkt allein schon durch seinen Titel Germania degenerans gewissermaßen toposprägend.346
344 Julius Pflug: De ordinanda Republica Germaniae oratio. Frankfurt am Main 1612, S. 90 f. 345 Übersetzung T. B. 346 Gerade dieses Epigramm dient häufig als Beispiel für eine vormoderne (allegorische) Germania-Dichtung, der Titel steht programmatisch für die sich verselbstständigende nationale Dekadenztopik. Vgl. Hermand, S. 128; Gall, S. 313, Anm. 11; Brandt: Germania und ihre Söhne, S. 52; Detering, S. 224, Anm. 44. Mittlerweile sogar hat es sogar Eingang in eine eher auf das 19. und
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Quid sibi vult quam cernis anus macilenta tremensque, caeca oculos, vultum pallida, cana comas? ferali ingluvie ptisanam quae sorbet, ut aegrum, quod libitina vocat postuma, corpus alat? haec illa est veteri amisso Germania flore, elumbis macie, turpis, inermis, iners, nulla pericla videns, quamvis sint proxima, quamvis omnia perniciem mox ruitura trahant. luxuriae interea indulget Bacchoque gulaeque, fortiter ut reliquae dilapidentur opes. o miseram patriae faciem! O miseranda! veternum auferet ex oculis quae medicina tuis? Was soll dies ältliche Weib, das du siehst, ganz mager und zitternd? Stier ist ihr Aug, ihr Gesicht bleich, und ergraut ist ihr Haar. Schlingt mit viehischer Gier ihren Brei, den Leib zu ernähren, welcher so siech ist, daß ihn schon hat gezeichnet der Tod. Ach, Germania ist es, der einstigen Blüte verlustig, lendenlahm, zaundürr, schmutzig, ohn Waffen und träg. Kann die Fährnis nicht sehn, ob sie gleich schon dräut aus der Nähe, ob ihr gleich plötzlicher Sturz steht und Verderben bevor. Doch sie ergibt sich indessen der Wollust, dem Saufen und Fressen, daß damit sie recht brav durchbringe, was sie noch hat. Vaterland, ach! Welch erbärmlich Gesicht, du Arme! Und gibt es wohl Medizin, die solch schlaffe Vergreisung dir nimmt?347
Germania erscheint hier als Zerrbild ihrer selbst und präsentiert statt einer auch durch Armut und Elend hindurch noch erkennbaren Hoheit die Fratze eines lasterhaften, hässlichen alten Weibes. Anders als ihre geschmähte literarische Vorgängerin in den Horaz-Epoden wird sie nicht im Rahmen eines in widerwärtigen Details geschilderten Liebesaktes, sondern im Kontext einer auf das ganze Leben bezogenen Sittenkritik gerügt, wobei Verschwendungssucht, Völlerei und politische Kurzsichtigkeit als Charakteristika dominieren. Der Hauptvorwurf scheint darin zu bestehen, dass die Angesprochene durch ihre Exzesse ihre einstigen jugendlichen Vorzüge grandios verspielt hat. Das Epigramm stellt eines der wenigen Beispiele dar, wo in aller Kompromisslosigkeit der schon von antiken Dichtern geprägte Topos der „alten Vettel“ auf Deutschland übertragen wird. 20. Jahrhundert fokussierte Deutschland-Anthologie gefunden. Vgl. Volker Meid (Hrsg.): Kennst du das Land? Deutschlandgedichte. Stuttgart 2012, S. 64. 347 Nathan Chyträus: Germania degenerans. In: Lateinische Gedichte deutscher Humanisten. Ausgewählt, übersetzt und erläutert von Harry C. Schnur. 3., durchgesehene, bibliographisch und um ein Nachwort ergänzte Auflage. Mit einem Nachwort zur dritten Auflage von Hermann Wiegand. Stuttgart 2015, S. 56–57.
2.3.4 Germania und der Dreißigjährige Krieg
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2.3.4 Germania und der Dreißigjährige Krieg Im 17. Jahrhundert, insbesondere während des Dreißigjährigen Krieges, erhielt der Europa-Begriff größere Relevanz als jemals zuvor, und so erweiterte sich auch das Spektrum der Germania-Darstellungen.348 Vorab einige Worte zu Europa. 1537 hatte der Tiroler Kartograph Johannes Putsch, der im Dienste der Habsburger, insbesondere Ferdinands I. stand, mit einer Europakarte in Gestalt einer königlichen Frau das Modell der Europa regina bzw. Europa-Imago geschaffen, das im 16. Jahrhundert häufig aufgegriffen und variiert wurde.349 Seit 1571 war erwiesenermaßen eine anthropomorphe Europa bei einigen fürstlichen Hochzeiten und Triumphzügen zugegen, sei es als Erdteilallegorie – bisweilen flankiert von untergeordneten Länderallegorien – bei allegorischen Turnierspielen,350 sei es als Dekoration auf Triumphbögen und Ehrenpforten – als Dekoration freilich, die als Interpretationshilfe für komplexe heiratspolitische Absichten dienen sollte.351 Herrscher wie Karl IX., Friedrich V. von der Pfalz oder Ludwig XIV. inszenierten ihre Hochzeiten sogar als Vermählung mit einer Braut Europa.352 Indes blieb die Europa-Gestalt nicht auf performative oder bildende Künste beschränkt. Schon 1537 – und ebenso bei einem mittlerweile neuentdeckten älteren Holzschnitt von 1534 – hatte Johannes Putsch seiner Europa regina ein lateinisches Gedicht in 41 Hexametern beigefügt, in welchem eine personifizierte Europa lamentans ihr leidvolles Schicksal beklagt und die zu Halbgöttern (semidei) stilisierten Habsburger Brüder Karl V. und Erzherzog Ferdinand um Beistand insbesondere gegen die Osmanen anfleht.353 Dieses frühe, vielleicht sogar erste, Modell einer derartigen Europa lamentans forderte in der gelehrten Welt eine nicht weniger ambitionierte poetische Replik heraus, nämlich die 1538 publizierte Lamentatio Europae des französischen Humanisten Hubert de Suzanne
348 Vgl. dazu grundlegend Detering: Krise und Kontinent. Zu den unterschiedlichsten Repräsentationsformen des Europa-Gedankens vgl. Klaus Bußmann und Elke Anna Werner (Hrsg.): Europa im 17. Jahrhundert. Ein politischer Mythos und seine Bilder. Stuttgart 2004. 349 Wolfgang Schmale: Europa, Braut der Fürsten: Die politische Relevanz des Europamythos im 17. Jahrhundert. In: Klaus Bußmann und Elke Anna Werner (Hrsg.): Europa im 17. Jahrhundert. Ein politischer Mythos und seine Bilder. Stuttgart 2004, S. 241–267, hier S. 244. 350 Ebd., S. 249 ff. 351 Ebd., S. 254 ff. 352 Ebd., S. 254, 267. 353 Vgl. dazu jetzt grundlegend Nicolas Detering / Dennis Pulina: Rivalry of Lament: Early Personifications of Europe in Neo-Latin Panegyrics for Charles V and Francis I. In: Nicolas Detering u. a. (Hrsg.): Contesting Europe. Comparative Perspectives on Early Modern Discourses on Europe, 1400–1800. Leiden / Boston 2020 (Intersections 67), S. 13–38.
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(Hubertus Sussanneus). Dabei handelt es sich um einen die Struktur und teilweise die Wortwahl aufgreifenden politischen Gegenentwurf. De Suzanne intensiviert die Klagen noch, brandmarkt als weiteres (genuin deutsches!) Übel die Lutheraner, welche die kirchliche Lehre in gefährlicher Weise entstellten, und richtet alle Hoffnungen allein auf Franz I., der als ein zweiter Augustus ohne Zweifel die Christenheit retten und das Goldene Zeitalter wiederbringen werde. Jeder der beiden Autoren nutzt also seine Europa-Gestalt, um den Führungsanspruch des eigenen Regenten innerhalb der Christenheit zu markieren.354 Nicht das Gefühl räumlicher, historischer und kultureller Zusammengehörigkeit, sondern dynastische Rivalität wurde zum Nährboden der Europa lamentans, die dann seit den 1540er Jahren auch als Gegenstand von Prosatexten Bedeutung erlangte. Mit einiger Wahrscheinlichkeit stellen diese Europa-Klagen eine Weiterentwicklung von Kernmotiven der patriotisch-allegorischen Heroide dar.355 1629 und 1631 erschienen die Erst- und Zweitauflage der anonymen, gelegentlich dem kurpfälzischen Diplomaten Johann Joachim von Rusdorf zugeschriebenen Scena Europaea,356 einer allegorischen lateinischen Flugschrift, in welcher sich Europa synekdochisch vermittels seiner einzelnen Teile, d. h. Herrscher, Länder und Stände, präsentiert.357 In hierarchisierter Reihenfolge zelebrieren all diese Akteure in einigen Distichen ihre Auftritte in der Ich-Form, informieren über ihre Wünsche, Pläne und Absichten, prahlen (teils als Karikaturen gezeichnet) mit ihren Erfolgen oder beklagen ihr Unglück. Den Reigen eröffnet der Papst (Urban VIII.), welcher kundtut, dass er nach anfänglicher Freude über die Restitution einstmals katholischer Besitztümer, vor allem Länder, Klöster, Kirchen etc., den allzu großen Machtzuwachs des Kaisers fürchte. Er bleibt unschlüssig, ob er rechtzeitig Allianzen gegen die Habsburger schmieden solle, wodurch er zugleich nämlich das Wiederaufleben (halb) gebändigter Sekten begünstige. Widerstand und zögerliches Abwarten seien gleichermaßen nützlich und schädlich, so sein indifferentes Fazit.358 Direkt nach ihm darf der Kaiser (Ferdinand II.) als Despot im Größenwahn schwelgen. Sein unerwartetes Kriegsglück, so folgert er, beweise, 354 Der Aufsatz verbindet eine detaillierte philologische Analyse der beiden Gedichte – abgedruckt im Anhang – mit instruktiven Ausführungen zum historisch-literarischen Kontext, zu Vorbildern und Wirkung. 355 Ebd., S. 23 f.: „The motif of personified countries deploring their fate was also quite popular in humanist Heroides, and it was perhaps an obvious step to simply rephrase it from a continental perspective.“ 356 Cena Europaea Personis suis instructa. Praecipuas Regum, Principum, Rerumpublicarum, Virtutes, consilia & actiones, ac totius Europae praesentem & futurum statum repraesentans. Stralsund 1631. 357 Detering, S. 230–242. 358 Scena Europaea, S. 5 f.
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dass Gott und Fortuna ihn gleichermaßen liebten und dass er nun der occasio zu folgen habe. Die von Karl V. lobenswerterweise begonnene, aber leider noch nicht abgeschlossene Unterjochung Europas werde er ruhmreich zu Ende führen, da er im Gegensatz zu Karl weder besiegte Feinde schone noch etwa selbst in den Krieg ziehe, sondern klug genug sei, andere für sich kämpfen und sterben zu lassen.359 Der dritte Rang innerhalb der Scena gebührt Achmet, dem Kaiser der Türken.360 Dieser beobachtet mit Freuden die fortwährenden Zerwürfnisse unter den Christen und beschließt, seine Chance zu nutzen.361 Nachdem weitere Herrscher über sich gesprochen haben,362 eröffnet Europa die nächste Runde. In einer pikanten Synthese von allegorischer und mythischer Figur gestaltet, vergleicht sie ihre einstige, gar nicht so unwillkommene Ent- und Verführung durch den vermeintlichen Stier mit der ihr gegenwärtig drohenden Vergewaltigung durch ein nicht näher genanntes blutrünstiges Monster aus dem Westen.363 Auch Germania364 ergeht sich in einer bitteren Klage. Sie bemüht den alten Topos der tragisch von ihrer Höhe gestürzten Königin und betont die Fallhöhe, den Gegensatz von einst und jetzt: Illa ego tot procerum, & tantae quae gentis alumna; Arx libertatis, praesidiumque fui: Quae caput erexi supra celsissima nubes, Et texi vallo caetera regna meo: Squalida nunc tristi jaceo perculsa ruina, Austriaci funes ferre coacta jugi: Impositis livent languentia colla catenis Caeruleasque ferunt carnea dorsa notas.365 Ich, die ich einst Ernährerin so vieler edler Männer und eines so großen Volkes, die ich Burg und Stützpunkt der Freiheit war, die ich einst das Haupt hoch über die Wolken erhob und andere Reiche mit meiner Mauer schützte, ich liege nun schmutzig, niedergeschlagen, in traurigem Verfall da, gezwungen, die Stricke des habsburgischen Joches zu tragen. Mein schlaffer Hals schimmert von blauen Flecken unter den Ketten, und mein zerfleischter Rücken trägt blaue Druckstellen.366
359 Ebd., S. 7 f. 360 Bei allen grundsätzlichen Vorbehalten konnten die Osmanen aufgrund realpolitischer Fakten gelegentlich zu den europäischen Großmächten gerechnet werden. Detering, S. 233. 361 Scena Europaea, S. 8 f. 362 Zu den Klagen, Beteuerungen oder Rechtfertigungsversuchen der übrigen Könige – hier handelt es sich um Ludwig XIII. von Frankreich, Philipp IV. von Spanien, Christian IV. von Dänemark und Gustav Adolf von Schweden – vgl. Detering, S. 231 ff. 363 Ebd., S. 233 ff. 364 Dem „Doppel von weinender Europa und klagender Germania“ kommt unter dem Defilee der Länder und Völker eine besondere Bedeutung zu. Ebd., S. 233. 365 Scena Europaea, S. 20. 366 Übersetzung T. B.
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Im Folgenden beklagt sie Verlust und Verkehrung der hierarchisch gegliederten Weltordnung, welche dazu führen, dass vornehme Geschlechter am Boden liegen und freche Emporkömmlinge nun altehrwürdige Stammbäume mit Füßen treten. Allzu gutgläubiges Vertrauen auf die Herrscher, welche aber untereinander zerstritten seien, neuerdings sogar noch durch eine dreifache Glaubensspaltung (tri plici relligione), habe ihr zum Untergang gereicht. Überhaupt schienen alle von einem seltsamen Verlangen nach dem eigenen Untergang gepackt. Untrennbar sei das Los der Fürsten mit dem ihren verbunden, so Germania. Ihre Beziehung zu Europa charakterisiert sie überraschenderweise nicht in den Termini menschlicher Verwandtschaft, sondern in einer organologischen Metapher. Corpore in Europae sum cor; sunt saucia corda, In reliquos artus defluit inde malum; Quos sentit motus cor, corpus sentit eosdem, E cordis vena vitaque morsque venit.367 Im Körper Europas bin ich das Herz. Die Herzen sind verletzt, und von dort fließt in die restlichen Glieder das Übel. Welche Bewegungen das Herz auch spürt, dieselben spürt der Körper. Aus der Vene des Herzens kommt sowohl Leben als auch Tod.368
Diese den damals gerade entdeckten Blutkreislauf visualisierende Metapher rekurriert insbesondere auf die seit Johannes Putsch beliebten anthropomorphisierten Europa-Karten, eine spezifische Ausformung des schon in der Antike geläufigen Gedankens vom „Staatskörper“. So ließ sich die besorgniserregende Wechselwirkung von deutscher und europäischer Politik eindrucksvoll auf den Punkt bringen und der Appell untermauern, dass zum Wohle des Kontinents zunächst einmal Deutschland in Sicherheit und Frieden gesetzt werden müsse.369 Seit dem Dreißigjährigen Krieg machte Germania auch als Dramenheldin Karriere. 1647, kurz vor den endgültigen Friedensverhandlungen in Münster und Osnabrück, präsentierte der protestantische Pastor und von Ferdinand III. mit dem Dichterlorbeer ausgezeichnete Poet Johann Rist370 in seinem Schauspiel Das Friedewünschende Teutschland eine allegorische königliche Protagonistin, welche das dreigliedrige Lebensschema von Wohlergehen und Hoffart – Sünden-
367 Scena Europaea, S. 21. 368 Übersetzung nach Detering, S. 235 f. 369 Ebd., S. 236 f. 370 Zu diesem Autor und zahlreichen Aspekten seines Werks vgl. nun Bernhard Jahn / Johann Anselm Steiger (Hrsg.): Johann Rist (1607–1667). Profil und Netzwerke eines Pastors, Dichters und Gelehrten. Berlin / Boston 2015 (Frühe Neuzeit 195).
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fall und Sturz – Rettung durch Reue und Sühne zu absolvieren hat.371 Das an verschiedene Traditionsstränge anknüpfende Stück besteht aus drei Akten mit einem langen Zwischenspiel, aus bewusst abundant gestalteter Prosa mit zahlreichen (auch zur selbständigen Verwendung geeigneten) Gesangseinlagen, enthält eine lange Vorrede an den „Teutschen Leser“ und exakte Regieanweisungen. In seiner (durchaus auch konfessionsübergreifenden) Bekehrungsabsicht und seinem enormen Aufgebot an visuellen und akustischen Mitteln orientiert es sich am Modell des äußerst affektiv aufgeladenen lateinischsprachigen Jesuitentheaters. Zahlreiche Lieder, Kompositionen der namhaftesten Musiker, darunter Heinrich Schütz, Schüsse, Fanfaren und stumme Tableaus verstärken die von der Handlung ausgehenden emotionalisierenden Effekte.372 Rist präsentiert sein moralisch-erbauliches Stück als Abbildung der ganzen Welt und verlegt die letzte Szene sogar in den Himmel.373 Ähnlich wie in einem bestimmten Typus des Jesuitendramas begegnet durchweg allegorisches Personal;374 römische Götter, welche teils als freundliche Erfüllungsgehilfen, teils als Ungeheuer ihren Part im christlichen Heilsplan versehen, aber auch Gottvater selbst ergreifen das Wort. Zu Beginn kommt das seit dem Humanismus beliebte und bewährte redi vivus-Motiv zum Tragen. Mehr noch, es handelt sich um die Verkehrung eines berühmten Motivs, mit welchem insbesondere der schwäbische Späthumanist Nicodemus Frischlin in seinem witzigen lateinischen Drama Julius Redivivus (1585) die vielbeschworene Vorstellung vom kulturellen Fortschritt Deutschlands effektvoll in Szene gesetzt hatte. Rist nämlich gebraucht die Strategie der (kurzzeitigen) Beschwörung längst verstorbener Helden in desillusionierender
371 Johann Rist: Das Friedewünschende Teutschland (1649). In: Johann Rist: Sämtliche Werke. Hrsg. von Eberhard Mannack. Bd. 2: Dramatische Dichtungen (Das Friedewünschende Teutschland, Das Friedejautzende Teutschland) Berlin / New York 1972 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts), S. 44–203. Ausführliche Inhaltsparaphrasen bei Brandt: Germania und ihre Söhne, S. 53 ff.; Brandt: An mir als die Gestalt, S. 81 f.; vgl. auch Detering, S. 182. Die Unterschiede zu dem der Literaturwissenschaft vertrauteren Typus des Barockdramas im Stile eines Andreas Gryphius oder Daniel Casper von Lohenstein beleuchtet Bernhard Jahn: Johann Rists grenzüberschreitendes Theater. Gattungsexperimente und Interkonfessionalität. In: Bernhard Jahn und Johann Anselm Steiger (Hrsg.): Johann Rist (1607–1667). Profil und Netzwerke eines Pastors, Dichtes und Gelehrten. Berlin / Boston 2015 (Frühe Neuzeit 195), S. 163–183; die regional, ständisch und moralisch verschiedenen Idiome und Sprachebenen untersucht Ingrid Schröder: Sprachliche Heterogenität in den Dramen Johann Rists. In: Ebd., S. 205–230. 372 Jahn, S. 174 f. 373 Eine für ihre erschütternde und sogar tatsächlich bekehrende Wirkung bekannte Himmelsszene, nämlich die Verdammung einer menschlichen Seele vor Gottes Gericht samt der daran anschließenden Höllenfahrt, bildet den Abschluss von Jacob Bidermanns Cenodoxus (1602). 374 Jahn, S. 172 ff.
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Absicht.375 Der in der Funktion als zwischenweltlicher Reiseführer unentbehrliche Götterbote Mercurius geleitet die vier kurzzeitig wiederbelebten alten Herrscher der germanisch-deutschen Vergangenheit – Ehrenvest (Ariovist), Herzog Hermann (Arminius), Claudius Civilis und Herzog Wedekind (Sachsenfürst Widukind) – aus dem Elysium auf die Erde, wo sie die einstige Heimat in ihrem neuen, gegenwärtigen Zustand besichtigen dürfen. Ihnen steht jedoch eine herbe Enttäuschung bevor. Frau Teutschland, eine strahlende, mächtige Königin, ist hoffärtig geworden, schwelgt im Luxus, huldigt stets der neuesten (gern fremdländischen!) Mode und parliert Französisch. Um ihre Gunst rivalisieren in stetigem Streit ihre vertrautesten Dienerinnen Friede und Wollust. Als die Helden nun an den Hof kommen, um ihr zu huldigen, hält Frau Teutschland sie für Gaukler und Witzfiguren. Sie ergeht sich in Spott und Hohn über deren rauhe, altmodische Kleidung, besonders aber über deren Unkenntnis der französischen Sprache und Lebensart. Herzog Hermann beruft sich vergebens auf Tacitus als Zeugen seiner kriegerischen Fähigkeiten, zeigt aber auch Entsetzen über die „Verwelschung“ der „teutschen Heldensprache“ und formuliert als Sprachrohr seines Autors eine erbitterte Alamode-Kritik. Die Helden werden samt Mercurius wie Hausierer verjagt. Als Frau Friede zu vermitteln sucht, weist man ihr ebenfalls die Tür. Es folgt ein langer Monolog der schmählich missachteten und dennoch von treuer Anhänglichkeit erfüllten Friedensgestalt, welche vorläufig Zuflucht im Himmel gefunden hat und erst zu unbestimmter Zeit zurückkehren darf. Unterdessen vergnügt sich Frau Teutschland und empfängt höchst willkommenen standesgemäßen Besuch, vier galant auftretende, in Wirklichkeit aber intrigante Edelleute, Repräsentanten anderer Länder und Gegenmodell zu den vertriebenen germanisch-altdeutschen Helden. Diese Herren – Don Antonio (Spanien), Monsieur Gaston (Frankreich), Signoro Bartholomeo (Kroatien) und Karel (Schweden) – umwerben sie mit Komplimenten, luxuriösen Geschenken und Drogen, um sie erst einzuschläfern und sich dann ihres Leibes und Eigentums zu bemächtigen. Mars, seit jeher die Plage der Menschheit, verbündet sich mit den Herren und greift Frau Teutschland an, die immerhin noch über die einstmals von Tacitus gerühmten bellatrix-Qualitäten verfügt und sich eine Zeitlang mit unglaublichen Kräften zu Wehr setzt. Als einer ihr schließlich das Kleinod Concordia entwenden kann, ist es um sie geschehen. Nach einem umfangreichen Zwischenspiel tritt sie als todkrankes Bettelweib wieder auf und hält lange Klagemonologe. Gemeinsam mit seinen Schwestern Hunger und Pest macht sich Mars ein Vergnügen daraus, sie zu foltern. Um das ihm auferlegte göttliche Tötungsverbot zu umgehen, sendet er seinen durchtriebenen Wundarzt Ratio Status zu ihr. Nach lauter erfolglosen
375 Ebd., S. 165.
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Therapievorschlägen kann dieser sie schließlich zur Einnahme seines letzten noch aufgesparten Wundermittels überreden und verabreicht ihr in einem Apfel seine vielgepriesenen „Heuchelpillen“. Daran verendet sie beinahe. Frau Friede kehrt auf die Erde zurück und findet ihre einstige Herrin halbtot in einer Ecke liegen. „Sage an/ was fehlet dir denn?“ „FRIEDE.“ Teutschland will Frau Friede umarmen, diese darf aber auf Gottes Befehl nur einen gütigen Blick spenden. Sie und Mercurius führen Teutschland vor Gottes Thron. Die Gerechtigkeit verjagt Teutschland unter grimmigsten Drohungen, die Liebe fleht Gott um Gnade an. Gott, anfänglich sehr aufgebracht, lässt sich schließlich erbitten unter der Bedingung, dass Teutschland aufrichtige Buße tut für ihre unzähligen Sünden. Ihre Besserung muss sie noch beweisen und darf deshalb vorerst nur Frau Hoffnung mit sich auf die Erde nehmen. Das Stück endet mit einem Lobgesang Teutschlands auf Gottes Huld. Die Allegorisierung der meisten Figuren dient der plakativen Belehrung bzw. Bekehrung des Zuschauers, da dieser in ihnen ohne weiteres die teils schon durch die theologisch-literarische Tradition definierten Träger bestimmter Laster oder Tugenden erkennen kann.376 Einer moralischen Wandlung unterzieht sich lediglich die Titelheldin. Frau Teutschland, hier als Frau Welt bzw. Alamode-Königin gezeichnet, versündigt sich insbesondere durch Geschichtsvergessenheit und Verleugnung der eigenen nationalen Charakteristika zugunsten ausländischen Blendwerks sowie durch rebellische Überschreitung des ihr traditionell zugemessenen weiblichen Wirkungsraums. Dies führt zwangsläufig zu Herrschaftsverlust, Anarchie und allgemeiner moralischer Verwirrung.377 Eine eigene Würdigung verdient das Titelkupfer der Ausgabe von 1649, das en miniature einen ungleichen, für Teutschland (vorläufig) katastrophal endenden Geschlechterkampf präsentiert.378 Hier soll der Hinweis genügen, dass umzingelt von den vier ausländischen Kavalieren, welche ihre „phallischen“ Waffen auf sie richten, im Büßergestus379 die Titelheldin kniet und mit flehentlich erhobenen Händen den dreimaligen Ausruf: FRIEDE tut. Diesem frommen Wunsch entsprach der Autor Rist erst in dem 1653 veröffentlichten, als Fortsetzung beabsichtigten Singspiel Das Friedejauchtzende Teutsch land, wo die patriarchalisch-ständische Gesellschaftsordnung erfolgreich restituiert wird.380
376 Ebd., S. 172 f. 377 Brandt: Germania und ihre Söhne, S. 54 f.; Brandt: An mir als die Gestalt, S. 81 f. 378 Ausführlich mit Bezug auf das sexualisierte Schreckensszenario Brandt: Germania und ihre Söhne, S. 55 f.; Brandt: An mir als die Gestalt, S. 82 f.; vgl. auch Detering, S. 183. 379 Brandt: Germania und ihre Söhne, S. 56 sieht zu Recht die erniedrigte Heldin in die geradezu sprichwörtlich gewordene Rolle der Maria Magdalena versetzt. 380 Brandt: Germania und ihre Söhne, S. 56 f.
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Auch nach dem lang ersehnten Friedensschluss in Westfalen mussten Deutschland und Europa einer neuen Gefahr entgegensehen. Der zunehmende französische Expansionismus unter Ludwig XIV., der sich zunächst gegen Lothringen und die Spanischen sowie Vereinigten Niederlande richten sollte, erweckte spätestens seit den 1660er Jahren die Furcht vor einer Hegemonie über den Kontinent. Nach den Friedensschlüssen von St. Germain und Nimwegen brachte 1679 Johannes Riemer, ein Gymnasiallehrer aus Weißenfels, anlässlich mehrtägiger herzoglicher Friedensfeiern unter Mitwirkung von Schülern sein Redespiel Von der Erlösten Germania zur Aufführung.381 Auch in diesem erkennbar von Rist beeinflussten Stück präsentieren sich personifizierte europäische Länder und mythische Helden in einer konfliktreichen, verwickelten Liebesgeschichte. Germania, die schöne Tochter der ebenfalls leibhaftig auftretenden Europa und Gemahlin des Königs Perseus (Leopold I.), muss die schamlosen Annäherungsversuche eines Wüstlings abwehren, dessen die Worte „Gallus“ und „Geilheit“ kontaminierender Name Gaile in schonungsloser Weise Ludwig XIV. charakterisiert.382 Wie bei Rist treibt auch bei Riemer ein berühmt-berüchtigter Quacksalber namens Ratio Status sein Unwesen. Seine Patientin aber, in diesem Falle Europa, flieht vor ihm in eine glücklichere Fabelwelt zu den antiken Göttern. Germania fällt der mit Gaile verbündeten Medea und deren Töchtern, den allegorisierten Lastern Ambitio, Avaritia, Luxuria und Negligentia zum Opfer und wird ähnlich wie Prometheus oder Andromeda an einen Felsen geschmiedet. Letztlich kann sie nur von einem Deus ex Machina befreit werden, was Riemers Skepsis bezüglich europäischer Friedenskonzepte veranschaulicht. Gegen Ende des 17., besonders aber dann im 18. Jahrhundert erscheint die allegorisierte Germania zunehmend auch im Zusammenhang mit dem Helden Arminius bzw. Hermann. 1689/1690 wurde postum Daniel Casper von Lohensteins monumentaler zweibändiger Roman Großmüthiger Feldherr Arminius veröffentlicht, der weithin auf große Resonanz stoßen sollte. Im Roman selbst ist Arminius einzig mit seiner Gemahlin Thusnelda verbunden, auf den beiden von Johann Jacob von Sandrart verfertigtenTitelkupfern zum ersten und zweiten Band jedoch nimmt eine personifizierte Mutter Germania die zentrale Position ein.383 Auf dem ersten Kupfer veranschaulicht die Figur (in einem durchaus sexualisierten Szenario) den von feindlichen römischen Soldaten und männlicher Gewalt bedrohten, aber von einheimischen Kriegern tapfer verteidigten Innenraum der Nation,384 auf dem zweiten wird der erwünschte Erfolg des Freiheitskampfes schon antizipiert. 381 Detering, S. 291 ff. 382 Ebd., S. 293. 383 Abbildung und eingehende Beschreibung bei Brandt: An mir als die Gestalt, S. 84 ff. 384 Ebd., S. 85, Abb. 8.
2.4.1 Die Heroide als Textgattung
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Hoch aufgerichtet und stolz schreitet Germania mit einem prunkvoll beschrifteten Langschild in der Hand über am Boden liegende Waffen hinweg; vermittels der samt Arminius gleichberechtigt auftretenden germanischen Krieger zeichnet sich schon ein Gedanke ab, der in der Folgezeit Bedeutung erlangen wird, nämlich der Übergang von einem strikt hierarchischen Stände- zum eher egalitären (bürgerlichen) Nationsmodell.385 Im 18. Jahrhundert kann die Germania-Gestalt auf Titelkupfern bisweilen mit derjenigen Thusneldas verschmelzen; ein schönes Anschauungsmaterial bietet das von Anna Maria Werner gezeichnete und von Johann Christoph Sysang verfertigte Frontispiz zu dem u. a. von Gottsched geschätzten Heldenepos Hermann oder das befreyte Deutschland von Christoph Otto Freiherr von Schönaich von 1751/1753.386 Fortan wird das Verhältnis von Vaterland und Retter vermehrt in Kategorien von Galanterie, Tugend und Empfindsamkeit gefeiert, Germania als unversehrter Naturraum soll sich positiv vom Nachbarn Frankreich abheben und dem radikalen Gedanken der Revolution denjenigen einer sich harmonisch vollziehenden Evolution entgegensetzen.387 Von dort aus startet die Germania ihren bis heute auch einem größeren Publikum nicht unbekannten Siegeszug als Nationalallegorie im 19. Jahrhundert, wobei Friedrich Overbecks die bildenden Künste verherrlichendes Gemälde Italia und Germania (1828), Lorenz Clasens Germania auf der Wacht am Rhein (1860) und Johannes Schillings Niederwalddenkmal (1883) als wenn auch in ihrer ideologischen Ausrichtung diskussionswürdige Höhepunkte gelten können.
2.4 Der heroische Brief: ovidische und allegorische Heroidendichtung 2.4.1 Die Heroide als Textgattung Die Heroide, eine einstmals von Dichtern im gesamten gelehrten Europa hochgeschätzte und ausgiebig gepflegte Textgattung, die heutzutage bevorzugt in der Klassischen Philologie sowie in der Humanismus- und Barockforschung behandelt wird, ist in Publikationen der letzten Jahre so vorzüglich erläutert worden, dass deren ursprüngliche (ovidische) Form hier nur in groben Zügen umrissen werden soll. Die sogenannten Heroiden-, Heroischen oder Heldenbriefe sind fingierte poetische, d. h. in Versen abgefasste Briefe einer verlassenen und meist in
385 Ebd., S. 86, Abb. 9. 386 Vgl. ebd., S. 88 f.; Hoffmann: Germania, S. 138 ff. 387 Brandt: An mir als die Gestalt, S. 89.
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2 Voraussetzungen zur Entstehung der Germania-Heroide
irgendeiner Form bedrohten Frau aus Mythos oder Historie an den fernen Mann oder Geliebten. Ihre Schöpfung verdanken sie Ovid (43 v. Chr.–ca. 17 n. Chr.), der sich nach eigenen Worten als tenerorum lusor amorum388 Berühmtheit erworben hatte389 und aus nur vage rekonstruierbaren Gründen im Jahre 8 n. Chr. von Augustus nach Tomi ans Schwarze Meer an der Peripherie des Reiches (heute Constanza in Rumänien) verbannt worden war. Der ohnehin für poetische Innovationen begeisterungsfähige Dichter, der einerseits in formaler Hinsicht mehrfach mit der subjektiven römischen Liebeselegie experimentierte, andererseits aber auch tradierten literarischen Stoffen immer neue Facetten abzugewinnen suchte, hatte nach eigener Behauptung390 den bahnbrechenden Einfall, berühmte Liebesgeschichten aus der griechischen Mythologie aus weiblicher Perspektive zu präsentieren. So fingierte er einen großenteils einseitigen Briefverkehr zwischen mythischen Frauengestalten und deren abwesenden Männern bzw. Geliebten.391
388 Ov. trist. 4, 10, 1. 389 Zur Aktualität Ovids und zur Brisanz seiner Texte für moderne Gender- und Machtdiskurse vgl. Melanie Möller (Hrsg.): Gegen / Gewalt / Schreiben. De-Konstruktionen von Geschlechtsund Rollenbildern in der Ovid-Rezeption. Berlin / Boston 2021 (Philologus. Supplemente 13). 390 Vgl. Ov. ars 3, 345–346. 391 Als zweisprachige Textausgabe maßgeblich: P. Ovidius Naso: Heroides. Briefe der Heldinnen. Lateinisch-deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Detlev Hoffmann, Christoph Schliebitz und Hermann Stocker. Stuttgart 2000. Für Zitate und Übersetzungen aus Ovids Heroides wird ausschließlich diese Ausgabe genutzt. Vgl. außerdem Ovid. Briefe von Heroinen. Lateinisch und deutsch. Eingeleitet, übersetzt und kommentiert von Theodor Heinze. Darmstadt 2016 (Edition Antike); Peter E. Knox: Ovid: Heroides. Select Epistles. Edited by Peter E. Knox. Text and Commentary. Cambridge 1995 (Cambridge Greek and Latin classics); Edward J. Kenney: Ovid: Heroides XVI – XXI. Edited by Edward J. Kenney. Text and Commentary. Cambridge 1996 (Cambridge Greek and Latein classics). Zur Textgattung Rainer Nickel: Lexikon der antiken Literatur. Düsseldorf / Zürich 1999, S. 410; Ralf Georg Czapla: Art. Heroide. In: Harald Fricke (Hrsg.): RLW Bd. 2, S. 39–41; Helmut Rahn: Ovids elegische Epistel. In: Antike und Abendland 7 (1958), S. 105–120; Heinrich Dörrie: Die dichterische Absicht Ovids in den Epistuale Heroidum. In: Antike und Abendland 12 (1966), S. 41–55. Das Standardwerk zur Erfassung und Kategorisierung der Heroidendichtung bis – in Ausnahmen – ins 20. Jahrhundert ist noch immer Heinrich Dörrie: Der heroische Brief. Bestandsaufnahme, Geschichte, Kritik einer humanistisch-barocken Literaturgattung. Berlin 1968. In neuerer Zeit erschienen hervorragende Monographien und Aufsätze: Carolin Ritter: Ovidius redivivus. Die „Epistulae Heroidum“ des Mark Alexander Boyd. Edition, Übersetzung und Kommentar der Briefe „Atalanta Meleagro“ (1), „Eurydice Orpheo“ (6), „Philomela Tereo“ (9), „Venus Adoni“ (15). Hildesheim u. a. 2010 (Noctes Neolatinae 13); Jost Eickmeyer: Der jesuitische Heroidenbrief. Zur Christianisierung und Kontextualisierung einer antiken Gattung in der Frühen Neuzeit. Berlin u. a. 2012 (Frühe Neuzeit 162); Jost Eickmeyer: Domini iure venire iube! Das Modell der Ovidischen Heroides in der deutschen Literatur. In: Melanie Möller (Hrsg.): Gegen / Gewalt / Schreiben. De-Konstruktionen von Geschlechts- und Rollenbildern in der Ovid-Rezeption. Berlin / Boston 2021 (Philologus. Supplemente 13), S. 53–82.
2.4.1 Die Heroide als Textgattung
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15 Frauen, darunter Penelope, Dido, Ariadne, Medea und Phaedra,392 schreiben in einer Extremsituation klagende und flehende Briefe an ihre Partner, von denen sie sich Errettung aus einer äußeren Gefahr, aber auch die Bewahrung ihres bedrohten Liebesbündnisses erhoffen. An diese 15 Einzelbriefe schließen sich drei Briefpaare an, in welchen jeweils Mann und Frau einander schreiben, also eine echte Korrespondenz führen (Paris-Helena, Leander-Hero, Acontius-Cydippe). In zwei Fällen wird der Leser zum Zeugen einer sich erst anbahnenden Liebesbeziehung, eines Prozesses, welchen der Autor mit (pseudo-) juristischen Finessen und psychologischem Scharfblick zu einer amüsanten Selbstdarstellung seines schreibenden Helden macht: Der fest auf seine Vorzüge und Fähigkeiten vertrauende Mann wirbt unter Aufbietung aller rhetorischen Künste um die Gunst der Auserwählten, bis er eine (nach anfänglicher moralischer Entrüstung) zustimmende Antwort erhält (Paris-Helena, Acontius-Cydippe). Diese drei Paare als Verfasser der Doppelbriefe sind im Gegensatz zu fast allen, die den Inhalt der Einzelbriefe darstellen,393 Repräsentanten einer glücklichen, weil ungetrübten Liebesbeziehung, welche im ungünstigsten Fall – so bei Hero und Leander – lediglich durch den Tod eines Partners aufgrund widriger Umstände, nicht aber durch Zerwürfnis und Untreue ihr Ende findet.394 In einem seltsamen Missverhältnis stehen die jahrhundertelange Beliebtheit dieser Briefe von Ovids eigener Zeit an bis zur Epoche der Empfindsamkeit im 18. Jahrhundert und ihre Geringschätzung in der (deutschen) Klassischen Philologie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Diskussionsstoff bieten in der Forschung vor allem die ursprüngliche bzw. am besten geeignete Titulierung, die Überlieferung, der Originalitätsanspruch, die exakte Gattungsbestimmung (insbesondere im Hinblick auf das Verhältnis zur römischen Liebeselegie und zur rhetorischen Schulübung), die ästhetische Struktur und poetische Intention, die Rezeption und – spätestens seit Dörries Monographie von 1968 – die inhaltlich ausgerichtete Klassifizierung der in ganz Europa (mehr oder minder) nach diesem Vorbild Ovids verfassten Dichtung in Untergattungen. Laut der bereits zitierten Äußerung aus der Ars Amatoria bezeichnete Ovid selbst seine Frauenbriefe lediglich als epistulae, was aber nicht verhinderte, dass diese in den Handschriften entweder ohne Titel überliefert wurden oder unter
392 Als einzige historische, wenn auch durch legendarische Überhöhung fast „mythisch“ gewordene Figur schreibt auch Sappho. Die Authentizität dieses einzeln überlieferten Briefes ist allerdings umstritten. 393 Glücklich wiedervereint werden nach dem Mythos nur Odysseus und Penelope und kurzfristig (bis zu dessen frühem Tod) Achill und Briseis. 394 Die Urheberschaft Ovids für diese Briefpaare ist in der Forschung umstritten; für diese Arbeit sind die Einzelbriefe von größerer Relevanz.
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2 Voraussetzungen zur Entstehung der Germania-Heroide
Namenskombinationen wie liber heroidum, liber epistularum, liber heroidum sive epistularum, liber heroidum epistularum.395 Der Begriff Heroide leitet sich vom lateinischen herois (Heldin) her, welches ebenso wie femina illustris eine außerordentliche weibliche Persönlichkeit bezeichnet. Der bereits bei antiken Grammatikern begegnenden fehlerhaften Schreibweise Epistulae Heroides, welche ja strenggenommen die Briefe selbst zu „Heldinnen“ machen würde, setzte 1629 der niederländische Philologe Daniel Heinsius die grammatikalisch korrekt gewählte Form Epistulae Heroidum entgegen.396 Allmählich etablierte sich die bis heute weitgehend übliche Bezeichnung Heroide für einen in Versen abgefassten Brief, welcher als erkennbare Fiktion einer bestimmten Figur in den Mund gelegt wird.397 Ovids von ihm selbst behauptete Urheberschaft dieser Textgattung wird heute weitgehend anerkannt,398 wenn auch ein nicht exakt datierbares Briefgedicht aus dem vierten Elegienbuch des (etwas älteren) Properz, der den betreffenden Episteln strukturell und inhaltlich ähnliche Arethusa-Brief,399 als mögliches Vorbild wie auch als Nachahmungsprodukt in Betracht gezogen wird und somit Anlass zu einer Prioritätsdiskussion bietet.400 Sowohl die ovidischen als auch die lateinischen Heroiden generell sind (mit gelegentlichen Ausnahmen) in elegischen Distichen abgefasst, stellen sie doch eine spielerische Abwandlung der von Gallus, Tibull und Properz gepflegten und von Ovid in seinem Erstlingswerk, den Amores, zur Vollendung geführten (und
395 P. Ovidius Naso: Heroides. Briefe der Heroinen, S. 389. 396 Ebd.; Art. Heroide (RLW), S. 39. 397 Art. Heroide (RLW), S. 39. 398 „Ovid ist Archeget einer neuen Gattung, der heroischen Versepistel.“ Ovid: Briefe von Heroinen, S. 9; „Im zweiten Jahrzehnt vor Christi Geburt hat Ovid die heroische Versepistel erfunden. „Erfindung“ meint in diesem Falle tatsächlich eine originäre Schöpfung, da es in der griechischen Literatur kein Vorbild für eine Sammlung von Briefen mythischer Frauen gibt.“ Eickmeyer: Der jesuitische Heroidenbrief, S. 37. 399 Prop. 4, 3. Es handelt sich hier um den Klagebrief einer Römerin an ihren in der Ferne Kriegsdienst leistenden Ehemann. Sie sieht ihr eheliches Glück durch den Krieg bedroht, schildert ihre Einsamkeit und wünscht den Mann zurück mit der Mahnung, ihr treu zu bleiben. Immer wieder hat man die Nähe dieses Textes zu Ov. her. 13 (Laodamia an Protesilaos) hervorgehoben. 400 Dörrie: Der heroische Brief, S. 75, Anm. 8 entscheidet die Priorität zugunsten Ovids, ebenso Ovid: Briefe von Heroinen, S. 10. P. Ovidius Naso: Heroides. Briefe der Heroinen, S. 396 urteilt, Ovid verberge gar nicht die literarische Abhängigkeit, vielmehr steigere und übertreffe er sein Vorbild. Eickmeyer: Der jesuitische Heroidenbrief, S. 37, Anm. 1 hält die Vergleichsfrage für unangebracht, da die beiden Briefe trotz ihrer gemeinsamen elegischen Form „inhaltlich fundamental“ verschieden seien.
2.4.1 Die Heroide als Textgattung
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subtil parodierten) subjektiven römischen Liebeselegie401 dar. Wenn auch keine vollkommene Einigkeit darüber besteht, ob die Heroide als Untergattung der Elegie, als Mischung verschiedener Textgattungen oder gar als etwas eigenständiges Neues zu bewerten sei, so lässt sich doch nicht in Abrede stellen, dass sie auf dem nicht lange zuvor herausgebildeten elegischen System basiert und dieses in Hinsicht auf die Geschlechterrollen als auch auf lokale und situative Verortung umkehrt.402 Der männliche Adressat eines solchen Briefes ist bei Ovid stets ein bekannter Held des Mythos, der meist wegen Teilnahme an einem Krieg oder vergleichbar gefährlichen Abenteuer (z. B. Trojanischer Krieg, Argonautenfahrt) abwesend ist. Der Dichter, der grundsätzlich hohe Ansprüche an sein Publikum stellen und vor401 Diese nach schon bei Catull begegnenden Ansätzen von Gallus, Properz, Tibull und Ovid gepflegte spezifisch römische Ausformung der von den Griechen tradierten Elegie bedarf einer kurzen Erläuterung. Es handelt sich dabei um die variationsreiche Präsentation von (oftmals unglücklichen und desillusionierenden) Liebeserlebnissen aus der Ich-Perspektive, also der subjektiven Sicht, eines nicht namentlich benannten fiktiven (und daher in der biographisch orientierten älteren Forschung oftmals mit dem Autor gleichgesetzten) poeta/amator. Dieser verschmäht seine Standesprivilegien und die damit verbundenen Karrierechancen im Staatsdienst und weiht stattdessen sowohl sein Leben als auch sein poetisches Talent aus eigenem Entschluss dem (asymmetrischen) nicht ehelichen Liebesbund mit einer reizvollen, aber launenhaften und konsumorientierten Frau der Halbwelt (Libertine, Hetäre). In Umkehrung der tradierten Geschlechterrollen unterwirft er sich dieser seiner puella oder domina (fast) bedingungslos. In formal virtuosen Versen lässt der poeta/amator mal larmoyant, mal prahlerisch den Leser an seinem wechselnden Geschick teilhaben, wobei bestimmte Erlebnisse topische Qualität erhalten. Er muss u. a. Qualen der Eifersucht, Zurücksetzung und Erniedrigung erleiden, klagt vor verschlossener Tür, hat gelegentlich kurzfristigen Erfolg, erliegt einem reicheren Rivalen und versucht vergeblich, sich von seiner selbstzerstörerischen Leidenschaft zu lösen. Insgesamt begreift er seine Lebensaufgabe als Sklavendienst oder Kriegsdienst für die Liebe (servitium amoris, mi litia amoris), kreiert also einen Gegenentwurf zum offiziellen Wertekanon der ausgehenden Republik oder des augusteischen Prinzipats. Daher ist die Frage aufgekommen, ob diese lustvolle Zelebration des Normenverstoßes bloß als pikante Unterhaltung oder auch als regimekritisches Manifest zu gelten hat. Einigkeit besteht aber darüber, dass die genannten Autoren durch weitgehende Übereinstimmung in Motivik und Sprache ein durch Nachfolger abrufbares „elegisches System“ geschaffen haben. Vgl. als maßgebliche Darstellung Niklas Holzberg: Die römische Liebeselegie. Eine Einführung. 3., durchgesehene Auflage. Darmstadt 2006. 402 Heinrich Dörrie: Die dichterische Absicht Ovids, S. 45 sieht in dieser Form eine gelungene Mischung aus Suasorien, Briefen und Elegien, „ein unicum“, dass alle Genera angemessen repräsentiere. Theodor Heinze in der neuesten Textausgabe spricht von „Anti-Elegie“. Ovid: Briefe von Heroinen, S. 13. Ritter, S. 14 ff. betont Ovids (und Boyds) Auslotung der Grenzen dessen, was die Konventionen und Topoi der subjektiven römischen Liebeselegie hergeben. Eickmeyer: Der jesuitische Heroidenbrief, S. 38 mit Anm. 9 räumt zwar eine durch das gemeinsame Metrum und die Perspektive radikaler Subjektivität gegebene Nähe beider Textformen ein, hält jedoch eine allzu starke Fixierung auf die Elegie für unangebracht.
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aussetzen darf, dass diesem das Paar mit seiner individuellen, meist unglücklich endenden Liebesgeschichte bekannt ist, wählt eine entscheidende Situation der Trennung, um die verlassene Frau einen Klagebrief schreiben zu lassen. Diese versucht durch eine ergreifende Schilderung ihres Elends den Mann zu erweichen und zur Rückkehr (bzw. im Falle Didos zum Bleiben) zu bewegen. Sie erinnert ihn an die glückliche Zeit ihrer Liebe, an gegenseitige Schwüre und befindet sich nicht selten in Ungewissheit darüber, ob der Mann lediglich aufgrund äußerer Widrigkeiten oder aus Untreue fernbleibt. Daher geht mit der Form der Heroide auch eine stete Reflexion über Liebe, Treue und die Glaubwürdigkeit männlicher Versprechungen einher. Gelegentlich finden sich Ansätze zu einem eher latenten (Anti-)Kriegsdiskurs; die Schreiberin beschwört den Partner, er sei für die Liebe, nicht für den Heldentod geboren.403 Sie leidet nicht allein unter Sehnsucht, sondern ist auch – mehr oder minder – durch eine äußere Gefahr, in der Regel durch die Zudringlichkeiten anderer Männer bedroht. Daher fleht sie in ihrem Brief auch um Rettung.404 Der Aufbau des Schreibens folgt keiner streng geregelten rhetorischen Struktur, sondern spiegelt die spontane Abfolge der widersprüchlichsten Affekte wider, welche jedoch einzeln für sich durchaus topische Qualität annehmen können. Liebe, Argwohn, Eifersucht, Zorn und Hass, Vorwürfe und Flehen, Hoffnung und Verzweiflung wechseln einander ab auf engstem Raum. In einigen Fällen endet die Heldin mit der Ankündigung ihres Todes bzw. Selbstmordes und dem Wunsch nach einer bestimmten (meist den Adressaten inkriminierenden) Grabinschrift. Mit dieser Textgattung ist formal die reine Ich-Perspektive der schreibenden Person gegeben, inhaltlich die Situation der Isolation, der räumlichen sowie drohenden inneren Trennung. Vielfach erinnern die Heroinen daran, dass diese Beziehungen über den rein emotionalen Aspekt hinaus auf einer Art Treueverpflichtung basieren, dass sie selbst zu Forderungen an den Partner berechtigt
403 Detlev Hoffmann spricht in einem wohl nicht unzutreffenden Vergleich von einem antiken „make love, not war.“ P. Ovidius Naso: Heroides. Briefe der Heroinen, S. 404. So ermahnt in her. 13, 84 die Heldin Laodamia in düsteren Zukunftsahnungen, die sich bestätigen sollen, ihren Mann: bella gerant alii, Protesilaos amet. (sollen doch andere Krieg führen, Protesilaos soll lieben.). Darauf nimmt ein wohl aus dem 17. Jahrhundert stammender Slogan Bezug, der die Heiratspolitik der Habsburger ironisch kommentiert: bella gerant alii, tu felix Austria nube. (sollen doch andere Krieg führen, du, glückliches Österreich, heirate!). 404 In diesem Kontext – aber eben nur in diesem! – kann sie den Helden kurzfristig mahnen, zu ihrer Befreiung die Waffen zu ergreifen (z. B. Penelope oder Hermione), grundsätzlich aber sieht sie entsprechend dem elegischen Wertesystem im Krieg die Störung ihres Liebesglücks und lehnt ihn daher ab. Es wäre verlockend, von einer pazifistischen Haltung der Heroinen (analog zum poeta/amator der Elegie) zu sprechen; allerdings ist diese weniger ethischen Prinzipien als persönlichen Motiven geschuldet.
2.4.1 Die Heroide als Textgattung
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sind. Mit den Klagen der Frauen geht also ein bisweilen subtiler, bisweilen deutlicher Appell einher. Movere und persuadere, Rührung erzeugen und überreden, ist der Zweck dieser mehr Affekterregung als Information intendierenden Dichtung. Ein besonderer Reiz besteht für den Leser der gebildeten römischen Oberschicht darin, dass er mit der jeweiligen mythischen Liebesgeschichte und im Gegensatz zur schreibenden Heroine auch mit dem (meist tragischen) Ausgang vertraut ist, was ihm bei aller Anteilnahme eine überlegene Position und aus dieser heraus eine hinreichend (ironisch) distanzierte Betrachtung gewährt – ein Umstand, für welchen Heinrich Dörrie den Terminus „Zweitvollzug“ geprägt hat.405 Es handelt sich gewissermaßen um ein intellektuelles „was wäre, wenn … “-Spiel, vergleichbar etwa dem retardierenden Moment in der Tragödie, wo für den Protagonisten noch einmal trügerische Hoffnung aufkeimt. So wurde seit Seneca dem Älteren und Quintilian bis ins 20. Jahrhundert immer wieder die Frage diskutiert, ob die Heroide nicht – analog zu den im antiken Rhetorikunterricht gebräuchlichen Formen der Suasorie, der Kontroversie und Ethopoiie, also Beratungsrede, Streitgespräch oder Charakterzeichnung im Umgang mit imaginiertem historischem oder mythischem Personal – lediglich ein versifiziertes Exerzitium zur Demonstration virtuoser Argumentationskünste darstelle.406 Dagegen scheint es heute eher geboten, trotz einer gewissen Ähnlichkeit dieser Ausdrucksformen die rhetorischen Züge der Heldinnenbriefe nicht zu überschätzen407 und stattdessen deren Rollencharakter herauszustellen.408 Es handelt sich also um das elegische System spielerisch variierende (und teils umkehrende) Rollendichtung. Die Heroidengattung wird vereinzelt schon in Ovids Zeit, in Spätantike und Mittelalter wiederbelebt, vor allem aber von Autoren des Humanismus und Barock bereitwillig aufgenommen und oftmals in verschiedener Weise modifiziert.409
405 Vgl. Dörrie: Der heroische Brief, S. 14 ff.; Ritter, S. 58. Sehr zutreffend auch spricht Detlev Hoffmann von einer Verbündung des (durchaus mitfühlenden) Publikums mit dem Autor gegen die in vollkommener Fehleinschätzung ihrer Situation befangenen Heroinen. P. Ovidius Naso: Heroides. Briefe der Heroinen, S. 403. 406 P. Ovidius Naso: Heroides. Briefe der Heroinen, S. 418. 407 Vgl. Ritter, S. 46: „Heute ist man sich weitgehend einig, dass Deklamationen und andere rhetorische Übungen die Heroides zwar beeinflusst haben, doch nicht ihr Wesen ausmachen. Es besteht jedoch kein Zweifel, dass die Heroides durch ihre persuasive Werbestrategie, die schon in der römischen Liebeselegie angelegt ist, einen rhetorischen Charakter haben.“ 408 Ebd., S. 48. 409 Systematisch erfasst und inhaltlich kategorisiert werden derartige Briefe in Dörries Monographie zum heroischen Brief. Ritter präsentiert mit Mark Alexander Boyd einen schottischen Gelehrten des späten 16. Jahrhunderts, der Antworten zu Ovids 15 Einzelbriefen verfasste, weitgehend die von Ovid geprägte Form der Heroide fortsetzte und durch Stoffe aus anderen Dich-
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Ovid selbst erwähnt im zweiten Buch seiner Amores410 und im vierten seiner Epi stulae ex Ponto411 einen sonst nicht weiter bekannten Freund namens Sabinus, welcher aus der Perspektive der betreffenden Helden Antworten zu den Briefen der Penelope, Phaedra, Dido, Phyllis, Hypsipyle und Sappho verfasst habe. In der Tat sind unter dem Namen Sabinus drei Episteln überliefert: von Odysseus an Penelope, Demophoon an Phyllis und von Paris an Oenone. Lange Zeit schrieb man sie dem italienischen Humanisten Angelus de Curibus Sabinis (15. Jahrhundert) zu, mittlerweile wird auch entweder Authentizität412 oder eine Urheberschaft aus der (post-)senecanischen Zeit413 in Betracht gezogen. Das wohl erste erhaltene Zeugnis für eine imitatio der ovidischen Heroides ist ein anonym überlieferter, hexametrisch abgefasster Brief Didos an Aeneas aus dem 3. Jahrhundert, welcher Züge der ovidischen und der vergilischen Königinnengestalt miteinander kombiniert und in ihrem Pathos steigert.414 An der Schwelle von Spätantike und Frühmittelalter verdient ein geistliches Gedicht des Venantius Fortunatus De vir ginitate (carmen 8, 3) besondere Beachtung.415 Als Bischof von Poitiers verfasste Venantius im Jahr 575 oder 576 anlässlich der Erhebung einer mit ihm befreundeten Nonne zur Äbtissin des dortigen Klosters Sainte-Croix ein mit großem Aufwand gestaltetes Enkomion von 200 Versen. Der Autor schildert analog zur realen irdischen eine himmlische Festversammlung und lässt in diesem Kontext Christus selbst einen von der Nonne an ihn gerichteten Brautbrief verlesen (Vers 227–248), in welchem erotische Motive der ovidischen Heroides in einen amor divinus transformiert werden.416 Die als verliebte Frau gezeichnete Nonne leidet derart unter der physischen Trennung von Christus, dass sie – Ovids Heldinnen an Pathos noch überbietend – ihren Brief sogar statt mit Tinte mit der Flüssigkeit ihrer eigenen Tränen schreibt.417 Das 12. und 13. Jahrhundert gelten gemeinhin als aetas Ovidiana; der römische Dichter avancierte insbesondere mit seinen auf ansprechende Weise die griechischen Mythen vermittelnden Metamorphosen zum hochgeschätzten Schulautor. Gelehrte Abhandlungen über die Liebe orientierten sich tungen desselben (Metamorphosen und Fasten) anreicherte und sich den ehrenden Beinamen „Ovidius redivivus“ erwarb. Eine religiös-erbaulichen Zwecken dienende humanistisch-barocke Sonderform demonstriert mit der jesuitischen Heroide Eickmeyer. 410 Vgl. Ov. am. 2, 18, 27–34. 411 Vgl. Ov. Pont. 4, 16, 13–16. 412 Eickmeyer: Der jesuitische Heroidenbrief, S. 38. 413 Vgl. dazu das Kapitel dieser Arbeit 3.1.1 Georg Sabinus: Germania ad Caesarem Ferdinandum. 414 Dörrie: Der heroische Brief, S. 97. 415 Ebd., S. 97 f.; eine feinsinnige Analyse bei Eickmeyer: Der jesuitische Heroidenbrief, S. 57–69. 416 Eickmeyer: Der jesuitische Heroidenbrief, S. 57 ff. 417 Ebd., S. 60.
2.4.2 Weiterentwicklung der Heroide im Humanismus
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fast durchweg, wenn auch durchaus moralkritisch, an Ovids Liebesdichtung.418 Unter den damals meist aus klerikalem Umfeld stammenden Autoren dominierte das Bedürfnis, Ovids für ihre sprachliche Virtuosität bewunderte Dichtung den Erfordernissen christlicher Moral anzupassen und die erotischen Inhalte entweder zu entschärfen oder zu sublimieren und allegorisch zu deuten. Es galt, den amor terrenus durch den amor divinus zu ersetzen.419 Dieser Einstellung verdankt ein moralisierendes hexametrisches Briefpaar Paris an Helena, Helena an Paris des Klerikers Baudri de Bourgueil (1046–1130) seine Entstehung.420 Eine Variation der ovidischen Personenkonstellation begegnet erstmals in einem anonym überlieferten, wohl aus dem 12. Jahrhundert stammenden Brief Deidamia Achilli. Beim Versmaß handelt es sich um eine durch Binnenreime angereicherte Spielart des elegischen Distichons. Die Beziehung Achill-Briseis wird dort aus der Feder einer anderen (verlassenen und eifersüchtigen) Frau beleuchtet.421
2.4.2 Weiterentwicklung der Heroide im Humanismus Ihre große Konjunktur erlebt die Heroidendichtung allerdings erst im Humanismus, wo die Autoren unter mehrfachen Aspekten die römische Literatur wieder wertschätzen und mit oder ohne moralisierende Absicht den Wettkampf mit Ovid aufnehmen. Im gelehrten Europa, besonders in Italien, Frankreich, England, Deutschland und in den Niederlanden, entsteht seit dem 15. Jahrhundert eine Menge von Texten sowohl in einem an den augusteischen Klassikern geschulten und nach Perfektion strebenden Latein als auch in den sich erst allmählich normierenden Volkssprachen. Dörrie unterteilt das von ihm gesichtete umfangreiche (lateinische und volkssprachliche) Material nach inhaltlichen Kriterien in drei Gattungen, die keineswegs immer klar voneinander abzugrenzen sind und deshalb nur als behelfsmäßige Kategorien gelten können.422 Der literarisch-unterhaltende Brief423 versteht sich als Fortsetzung des genuin ovidischen Modells. Dabei handelt es sich um Nachdichtungen der ovidischen Episteln, um Antwor418 Ebd., S. 49 ff. 419 Zu einzelnen Maßnahmen wie Zensur oder Allegorese vgl. ebd., S. 53. 420 Dörrie: Der heroische Brief, S. 98 f. Leider geht Dörrie nicht näher auf den Inhalt ein und gibt auch sonst keinen Hinweis, wie man sich eine als moralische Korrektur gedachte, weniger „gefährliche“ Korrespondenz zwischen Paris und Helena vorzustellen hat – der Mythos steht ja fest. 421 Ebd., S. 99 f. 422 Berechtigter Hinweis bei Ritter, S. 59, Anm. 194; Eickmeyer: Der jesuitische Heroidenbrief, S. 128, Anm. 397. 423 Dörrie: Der heroische Brief, S. 31–40, 125–377; komprimiert dargestellt bei Ritter, S. 62–68.
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ten auf einzelne Briefe oder um anspruchsvollere, weil freier und einfallsreicher mit der Vorlage verfahrende Imitationen. Die Auswahl der bei Ovid korrespondierenden fiktiven Heldinnen und Helden wird um weitere mythische und zunehmend auch historische Figuren erweitert, sofern diese nur königlichen oder zumindest hohen Standes sind und durch ein außergewöhnliches (leidvolles) Schicksal und/oder (skandalöse) Liebschaften das Interesse eines großen Lesepublikums beanspruchen können. Diese Art der Dichtung verfolgt keinen konkreten (erzieherischen) Zweck, sondern ermöglicht dem Rezipienten die Teilhabe an großen Affekten und den Genuss einer mehr oder minder explizit auf literarische Vorbilder Bezug nehmenden sprachlichen Raffinesse. Nach den von Horaz formulierten poetischen Kriterien gebührt dem delectare (und movere) der Vorrang vor dem prodesse. Als einer der prominenten Vertreter der literarisch-unterhaltenden Spielart in Latein kann der schottische Späthumanist Mark Alexander Boyd (1563–1601; Briefe: 1592) gelten, in englischer Sprache tun sich Michael Drayton (1563–1631; Briefe: 1598–1600) und Alexander Pope (1688–1744; Brief: 1717) hervor. In Frankreich tritt mit der gelehrten Aristokratin Madeleine de Scudéry (1608–1701) bemerkenswerterweise auch eine Frau auf den Plan. Die in vornehmen Pariser Kreisen auch als „Sappho“ gerühmte „Femme de lettres“ ist die Autorin oder zumindest Mitautorin einer zweibändigen Sammlung von Heldinnen- und Heldenkorrespondenz in Prosa, die erstmals 1642 unter dem Namen ihres Bruders Georges veröffentlicht wurde: Les Femmes Illustres ou les Haran gues héroïques.424 Einige Paarkonstellationen sind aus den ovidischen Heroides übernommen,425 einige modifiziert – ovidische Heldinnen schreiben an andere Männer, z. B. an die Väter oder Gegner ihrer Partner –,426 einige aus der gesamten antiken Mythologie427 und Geschichte428 sowie aus der Mittelalter-Epik der italienischen Renaissance-Dichtung.429 In einigen Fällen präsentiert die Autorin sogar gleichgeschlechtliche (nichterotische) Konstellationen, die auf Freundschaft oder Frauensolidarität basieren.430 Die wohl größte Bedeutung in Bezug auf heroische Episteln in deutschen Versen (Alexandrinern) erlangen die beiden zeitweilig normprägenden Schlesier 424 Madeleine und Georges Scudéry: Les Femmes Illustres ou les Harangues héroiques avec les veritables portraits de ces heroines, tirez des médailles antiques. 2 Bde. Paris 1642–1644. 425 Z. B. Laodamie à Protesilas; Helene à Paris; Briseis à Achille. 426 Didon à Barcé; Penelope à Laerte. Zudem schreibt die nicht in Ovids Heroides, aber ansonsten im antiken Literaturkanon selbstverständlich präsente Andromache an Odysseus. 427 Alceste à Admete; Amarille à Titire. 428 Z. B. Cleopatre à Marc-Antoine; Octavie à Auguste; Lucrece à Colatin. 429 Z. B. Clorinde à Tancrede; Armide à Renaud. 430 Sapho à Erinne; Volumnia à Virgilie; Hecube aux Femmes Troyennes; Enone à ses Compagnes.
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Christian Hofmann von Hofmannswaldau (1616–1679; Briefe: 1663) und Daniel Casper von Lohenstein (1635–1683; Briefe: 1680), welche dann von Autoritäten des 18. Jahrhunderts wie Johann Christoph Gottsched, Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger mit dem Stigma eines „Schwulststils“ behaftet und verworfen werden. Hofmannswaldaus HeldenBriefe – 14 Briefpaare, jeder Brief in 100 Alexandrinern – basieren auf pikanten Anekdoten über hochgestellte historische Persönlichkeiten und feiern in äußerst metaphernreicher, artifizieller Sprache eine mit den Normen ihrer Zeit kollidierende, teilweise frivole und tabubrechende Liebe.431 Der in der Regel auf das Lateinische beschränkte erbauliche Brief432 soll den Leser zu einer Vertiefung der christlichen Glaubenspraxis bekehren und thematisiert bei oftmals enger sprachlicher Anlehnung an Ovid statt des von diesem zelebrierten amor terrenus den (zumindest als Ideal anzustrebenden) amor divinus. Das moralisierende Konzept gebietet, ovidische und generell pagan-mythische Stoffe durch solche aus Bibel und Heiligenlegende zu ersetzen. Helius Eobanus Hessus (1488–1540), einer der prominentesten deutschen Dichter in lateinischer Sprache und Lutheraner der ersten Stunde, begründet den Typus der Heroides Sacrae oder Christianae.433 1514 erscheint seine erste Publikation von Versepisteln, in welchen die stilistischen Mittel der ovidischen Heldinnenbriefe auf biblische und frühchristliche Stoffe angewandt werden. 22 heilige Frauen schreiben an ebenfalls heilige (oder noch zu bekehrende) Männer, mit denen sie keine erotische Leidenschaft, sondern eine verwandtschaftliche Beziehung oder rein spirituelle Liebe verbindet. Ebenso wie bei den Heroides Ovids begegnet auch dort ein Briefpaar. Hessus schreckt nicht davor zurück, sogar Maria Magdalena und Jesus oder die Jungfrau Maria und Gottvater persönlich miteinander korrespondieren zu lassen. Den Abschluss dieser Sammlung bildet eine allegorische Heroide, ein Schreiben, das der Dichter selbst, einen bei Ovid kurz angerissenen Gedanken434 in raffinierter Weise weiter ausspinnend, an die Posteritas, die personifizierte Nachwelt, richtet.435 Ebenfalls allegorisch beschließt Hessus die in lutherischem 431 Vgl. eine Kostprobe anhand einer legendär gewordenen Dreiecksbeziehung bei Eickmeyer: Domini iure venire iube!, S. 66–70. 432 Dörrie: Der heroische Brief, S. 40–42, 381–427; Ritter, S. 61–62. 433 Vgl. insbesondere zu Hessus’ Ovid-imitatio, zur Wirkungsabsicht und zur Auseinandersetzung zwischen radikal antikisierenden „heidnischen“ und dezidiert christianisierend verfahrenden Humanisten die ausführliche Darstellung bei Eickmeyer, S. 151–192. 434 Ov. trist. 4, 10 gilt gemeinhin als poetische Autobiographie Ovids und beginnt mit einem Appell zur Lektüre an die Nachwelt: Ille ego qui fuerim, tenerorum lusor amorum,/ quem legis, ut noris, accipe posteritas. 435 Eobanus Posteritati. In: Helius Eobanus Hessus. Dichtungen. Lateinisch und deutsch. Hrsg. und übersetzt von Harry Vredeveld. Bd. 3. Dichtungen der Jahre 1528–1537. Bern u. a. 1990,
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Geiste umgeformte, 1532 publizierte Neufassung der Heroidensammlung, indem er der Ecclesia afflicta als einer leidenden Frauengestalt Klagen und Hilferufe an den Reformator in den Mund legt. Ein derartiges durchaus zu Variationen taugliches Konzept der Christianisierung (und gelegentlich Allegorisierung) fand Resonanz bis ins 18. Jahrhundert. Im Zuge der Gegenreformation nutzen vor allem Angehörige des Jesuitenordens wie z. B. Jakob Bidermann (1577–1639), Jakob Balde (1604–1668) oder der Flame Andreas Alenus die Vorzüge einer erbaulichen Heroidendichtung für missionarische Zwecke.436 Im Allgemeinen lässt sich festhalten, dass im 17. Jahrhundert die Versepisteln (mit Ausnahme der jesuitischen) zunehmend in der jeweiligen Volkssprache abgefasst werden; nicht nur weicht im Reich das Latein dem Deutschen, sondern auch das elegische Distichon dem von Martin Opitz nobilitierten Alexandriner.437 Eine dritte Kategorie – sowohl in Latein als auch in den Volkssprachen vertreten – präsentiert Dörrie als Mahn-und Sendschreiben.438 In diesem Fall wird die affektgeladene Sprache Ovids mit ihrer der elegischen Liebe entnommenen Topik einem konkreten Zweck dienstbar gemacht. Der einstmals erotische Inhalt der Heroiden kann durch einen tagespolitischen oder religiösen ersetzt, der Schreiber oder Adressat des Briefes typisiert werden. So lässt man Städte, Länder, Flüsse oder Institutionen (z. B. Ecclesia) an hochrangige Persönlichkeiten (Herrscher, einflussreiche Würdenträger) oder andere Institutionen schreiben und um Beistand in einer meist öffentlichen Angelegenheit bitten. Für diese in der einen oder anderen Weise das ovidische Modell imitierenden oder variierenden Rollengedichte kursieren im 17. und 18. Jahrhundert Bezeichnungen wie epistole (h)eroiche (Italien), épîtres héroïques (Frankreich), heroical(l) epistles (England) und Heldenbrieffe (Deutschland).439 Erst 1758 setzt sich entsprechend Charles-Pierre Colardeaus Benennung für seine Nachdichtung eines von Pope verfassten Briefes der Heloise an Abailard weitgehend der zuvor eher selten gebrauchte Terminus Heroide bzw. héroide durch – ein Indiz dafür, dass diese Art S. 476–483. Vgl. dazu Karl A. Enenkel: Autobiographisches Ethos und Ovid-Überbietung. Die Dichterautobiographie des Eobanus Hessus. In: Neulateinisches Jahrbuch 2 (2000), S. 25–38. 436 Eickmeyer: Der jesuitische Heroidenbrief, S. 284–485; Eickmeyer: Domini iure venire iube!, S. 63–66. 437 Paul Fleming stellt insofern eine Ausnahme dar, als sein Gedicht eine lateinische und eine deutsche Fassung enthält, so dass sich ein unmittelbarer Vergleich der elegischen Distichen mit den Alexandrinern anbietet. Vgl. das Kapitel 3.2.1 Paul Fleming: Schreiben vertriebener Frau Germanien, in dieser Arbeit. 438 Dörrie: Der heroische Brief, S. 42–44, 431–482; Ritter, S. 59–61. Dörrie, S. 44–45 fügt als kleine und eher kuriose Randerscheinungen noch Briefe von Toten und Sterbenden sowie Briefe aus der Hölle hinzu, welchen im Rahmen dieser Arbeit allerdings keine Relevanz zukommt. 439 Dörrie: Der heroische Brief, S. 7; Ritter, S. 58.
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der affekt- und sympathiesteuernden Briefpoesie als eigenständige Dichtungsgattung neben Tragödie und Roman Geltung beanspruchte.440 Da dieser Terminus nun auch in der modernen Literaturwissenschaft etabliert ist,441 soll er hier generell beibehalten und nicht nach Dörries Definition nur auf eine bestimmte Erscheinungsform seit 1758442 begrenzt werden. Noch bis über die Anfänge der Französischen Revolution hinaus floriert, meist in den Volkssprachen, mittlerweile nicht selten auf Russisch, eine Art der Heroidendichtung, welche zunehmend auch menschlich anrührende Ereignisse im Zusammenhang mit der Entdeckung Amerikas sowie erschütternde Sujets aus der zeitgenössischen bürgerlichen Welt oder Literatur behandelt. Man gestaltet konfliktreiche Begegnungen zwischen Europäern und Indianern oder greift spektakuläre Kriminalfälle auf und lässt bedauernswerte oder gar unschuldige Delinquenten kurz vor ihrer Hinrichtung Abschiedsbriefe verfassen. Allein eines von Goethes frühesten und erfolgreichsten Werken, der lebhaft rezipierte und moralisch umstrittene Briefroman Die Leiden des jungen Werther (1774) – in den Augen der Zeitgenossen offenbar noch steigerungsbedürftig – inspiriert zu poetischen Gegenentwürfen: Man wählt entscheidende Punkte der Handlung aus und lässt Goethes Protagonisten in versifizierten Episteln korrespondieren, teilweise noch über Tod und Grab hinaus.443 Jost Eickmeyer verweist zudem auf Versepisteln von Christoph Martin Wieland (1733–1813), welche zwar keine eigentlichen Heroiden sind, aber anhand einiger Kriterien dieser Gattung nahestehen: Briefe von Ver storbenen an hinterlassene Freunde (1753) und Moralische Briefe (1752).444 Im 19. Jahrhundert, wo der als frivol beargwöhnte Ovid ohnehin bei den Romantikern und den deutschen Gelehrten seine Beliebtheit einbüßt, kommt auch die von ihm begründete Dichtungsgattung allmählich aus der Mode.445 Die Literatur erfasst nun ein breiteres bürgerliches, auch kleinbürgerliches Publikum,
440 Dörrie: Der heroische Brief, S. 8. 441 Art. Heroide (RLW), S. 39. 442 Vgl. Dörrie: Der heroische Brief, S. 8. 443 Vgl. neben den Kapiteln zu den Landessprachen das Verzeichnis bei Dörrie: Der heroische Brief, S. 536–570. 444 Eickmeyer: Domini iure venire iube!, S. 70–74. 445 Auch in diesem Fall bestätigt die Ausnahme die Regel. Vgl. jetzt Hans Bernsdorff: Eduard Mörike als hellenistischer Dichter. Drei Fallstudien. Baden-Baden 2020 (Paradeigmata 58), hier S. 61–120. Bernsdorff analysiert in einem Kapitel das zuvor nicht immer als Heroide erkannte oder ausdrücklich benannte Gedicht Erinna an Sappho und weist nach, wie innovativ und souverän Mörike bei der Wahl seines Metrums verfährt. Er erkennt den „Ausgang von der sapphischen Ode, die zeitweilige Entfernung davon und die abschließende Wiederannäherung“ und folgert, dass es sich „um diejenige Strophenform handelt, die für Sappho typisch ist, also für die Frau, der Erinna hier schreibt und – […] – von der sie diese metrische Form gelernt hat.“ S. 88. Dieser
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das zum einen nach authentischem Gefühlsausdruck des Autors, nach Originalität in der Fiktion und dokumentarischer Treue in der Historie verlangt, zum anderen immer weniger die formale klassische Bildung, die wichtigste Voraussetzung zum minutiösen Zweitvollzug tradierter Stoffe mitbringt. Insbesondere Johann Gottfried Herder (1744–1803) und August Wilhelm Schlegel (1767–1845) sind – anders als Goethe – nicht bereit, dem lebens- und lustbejahenden römischen Dichter positive Aspekte abzugewinnen und in dessen Heroides mehr zu sehen als eine selbstverliebt-virtuose Spielerei mit mythologischen Kenntnissen und rhetorischen Kniffen. Ähnliches gilt für die direkt oder indirekt in Ovids Spuren wandelnden Autoren. Die Bereitschaft eines sozialkritischer werdenden Publikums, sich mit den (Liebes-)Leiden von Göttern, Königen, Helden und Heiligen zu identifizieren, dürfte stark zurückgegangen sein. Jedenfalls scheint die heroische Briefdichtung immer weniger vereinbar mit den Postulaten neuaufkommender Strömungen wie Realismus, Naturalismus und Expressionismus.446 Dennoch sollte Dörries Diktum von der Bedeutung der Heroide „für die Empfindungs-Einheit des einstigen Europa“ und ihren Wandel zum „kaum mehr nachvollziehbaren Kuriosum“447 ein Stück weit revidiert werden. Immerhin lassen sich noch bis in die Gegenwart Autorinnen von Ovids Heroides inspirieren und geben aus feministischer Perspektive, wenn auch in Prosa, verlassenen oder missverstandenen Frauen Raum zur Klage und zur alternativen Bewertung von Geschehnissen.448 Während Christine Brückners Prosareigen Wenn du geredet hättest, Desdemona (1983)449 längst schon als prominentes Beispiel für eine solche literarische Anverwandlung gilt, weist Eickmeyer auf ein neueres derartiges Exempel hin, nämlich auf Annette Pehnts 2015 erschienene Briefe an Charley,450 einen Roman, der aus datierten, tagebuchartigen Briefen oder eher Essays besteht.451 Dort konstruiert die namenlose Schreiberin – übrigens auch von Beruf eine Schriftstellerin – die Identität und Biographie ihres Geliebten immer wieder neu anhand von Gedankenexperimenten und eingestreuten Fiktionen. Trotz der Verortung des Geschehens im 21. Jahrhundert bleiben Bezüge auf die ovidischen Heroides erkennbar.452 Text von höchster gräzistischer Raffinesse – 1851 entstanden, 1863 publiziert – stellt sowohl metrisch als auch thematisch einen singulären Fall in der Heroidenrezeption dar. 446 Ebd., S. 45 ff.; P. Ovidius Naso: Heroides. Briefe der Heroinen, S. 424 f. 447 Dörrie: Der heroische Brief, S. 51. 448 Dazu besonders aufschlussreich Eickmeyer: Domini iure venire iube!, S. 74–77. 449 Christine Brückner: Wenn du geredet hättest, Desdemona. Ungehaltene Reden ungehaltener Frauen. Hamburg 1983. 450 Annette Pehnt: Briefe an Charley. München 2015. 451 Eickmeyer: Domini iure venire iube!, S. 76 f. 452 Ebd., S. 76: „So reflektiert die Schreiberin wiederholt, dass sie ins ‚Klagen‘ verfallen könnte, was dem angeschriebenen Charley nicht behage, aber gattungsmäßig einen Verweis auf die anti-
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Seit 2019 ist mit Feridun Zaimoglus Die Geschichte der Frau453 ein Prosareigen mit sprachgewaltigen Heldinnen aus verschiedenen historischen Epochen verfügbar, der sich in chronologischer Hinsicht von Moses Gattin Zippora bis zu der gewaltbereiten Radikalfeministin Valerie Solanas erstreckt. Laut Klappentext verfolgt der Roman keine geringeren Ambitionen als der „zur Sage verdichteten“ männlichen Geschichtsschreibung zu trotzen und „eine[] neue[] Menschheitserzählung“ zu bieten.
2.4.3 Roma/Italia-Heroide Die Germania-Heroiden, um die es in dieser Arbeit gehen soll, fügen sich in Dörries Kategorie des Mahn- und Sendschreibens ein und stellen die Fortführung eines bereits im italienischen Frühhumanismus entwickelten Konzeptes dar. Francesco Petrarca (1304–1374), wohl inspiriert durch die im Mittelalter florierende Gattung des planctus ecclesiae,454 entdeckt die personifizierte Roma und die Ecclesia für die Heroidendichtung und lässt sie Klagen über aktuelle Bedrängnisse und Nöte vorbringen, eine Neuerung, welche sich dann insbesondere die Autoren des 15. und 16. Jahrhunderts zunutze machen.455 Das sowohl religiös als auch patriotisch motivierte Anliegen dieses mutmaßlich ersten italienischen Humanisten war es, das Papsttum, das vom Beginn des 14. Jahrhundert bis 1377 seine Residenz in Avignon hatte, wieder in Rom, seinem Ursprungsort, zu installieren. Derartige Wünsche brachte Petrarca u. a. mittels zweier typisierter Sendschreiben (und eines formal auf die Heroidenfiktion verzichtenden, aber motivisch ähnlichen Schreibens) innerhalb eines Corpus poetischer Briefe zum Ausdruck –456 allerdings nicht in elegischen Distichen, sondern in reinen Hexametern, da die Epi stulae Metricae457 formal auf die popularphilosophischen Versepisteln des Horaz
ke Elegie darstellt. Auch das Motiv der liturae findet sich abgewandelt, wenn die Schreiberin an ihre frühen, unmittelbar nach dem Verlassenwerden verfassten Briefe erinnert: ‚[…], ich spuckte auf das Papier und heulte Tränen darauf.‘“ 453 Feridun Zaimoglu: Die Geschichte der Frau. Köln 2019. Eickmeyer: Domini iure venire iube!, S. 77 weist zum Abschluss noch auf diese Erscheinung hin. 454 Eines der bekanntesten Beispiele dürfte jener des Konrad von Megenburg darstellen. Vgl. das Kapitel dieser Arbeit 2.3.2. 455 Dörrie: Der heroische Brief, S. 42, 432–436. 456 Einen Überblick bietet Dörrie ebd., S. 432–436; Eickmeyer: Der jesuitische Heroidenbrief, S. 130, 133. 457 Jetzt greifbar in Francesco Petrarca: Epistulae Metricae. Briefe in Versen. Hrsg., übersetzt und erläutert von Otto und Eva Schönberger. Würzburg 2004.
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2 Voraussetzungen zur Entstehung der Germania-Heroide
Bezug nehmen. Der erste derartige Brief, Epistula metrica 1, 2,458 1335/1336 in Avignon oder Vaucluse verfasst, ist einer personifizierten Roma in den Mund gelegt und richtet sich an Papst Benedikt XII. (ca. 1285/1334–1342), einen von kompromisslosem Reformeifer erfüllten ehemaligen Zisterzienser, welcher sich schon als Inquisitor bei der Bekämpfung der Katharer ausgezeichnet hatte. In 226 Hexametern thematisiert Petrarca das zu jener Zeit durchaus schon geläufige metaphorische Konzept von der „Ehe“ des Papstes mit Rom. Eine sichtbar ins Unglück geratene und Trauer tragende Frau (supplex sparsis miseranda capillis) bekundet eingangs mit Kniefall und Fußkuss ihre bedingungslose Ergebenheit gegenüber dem als dominus, sponsus, almus parens etc. bezeichneten Adressaten459 und appelliert in hymnenartiger Weise an dessen herausragende Verdienste und Tugenden. Einstmals berühmt, schön und glücklich bittet sie nun, durch Alter und Elend gebeugt, um gnädiges Wiedererkennen (Roma vocor.) Stärker noch als die Dauer der Zeit haben ihr Familienzwist und Trennungsschmerz zugesetzt: Der geliebte Gatte ist abwesend, die Söhne bekriegen einander und lassen es an Ehrfurcht gegenüber der Mutter fehlen. Tränen, Klagen und Gebete sind vergeblich. In einem langen Katalog schildert sie ihre einstigen Heldentaten und Siege, aber auch die grausame Herrschaft der Fortuna. Verletzung durch Bürgerkrieg und auswärtige Tyrannen, unliebsame Herrscher und (frühere) Päpste werden – wohl in Analogie zum exemplarisch gewordenen Schicksal der Penelope – im Bild unrechtmäßiger Brautwerbung und Vergewaltigung angeprangert. Insbesondere ein hässlicher, zerlumpter Kuttenträger – Nikolaus V., Gegenpapst zu Benedikts Vorgänger Johannes XXII. und einstiger Bettelmönch, Vertreter eines von Petrarca generell verabscheuten Typus, nämlich des Emporkömmlings aus dem Pöbel –460 bedrängt und vergewaltigt sie unter dem Spott einer gottlosen Menge (impia turba), welche ihr höhnisch zuträgt, ihr Gatte Benedikt tröste sich in der Fremde mit auswärtigen Affären über ihr hohes Alter und ihre geschwundenen Reize hinweg. Romas Hoffnung richtet sich nur noch auf Benedikt, der ihr als treuer Gefährte im Alter zugedacht war. Ihre Situation vergleicht sie – und darin kommt sie der Motivik der ovidischen Heroides wie auch der Tristien besonders nahe – mit derjenigen einer Matrone, welche mit tränennassen Augen dem
458 Ebd., S. 36–47, 328–330 (Kommentar). Dörrie: Der heroische Brief, S. 434 hält Epist. metr. 1, 2 nach der im Grunde nur als Widmungsbrief geltenden 1, 1 für die eigentliche, von Petrarca mit Bedacht gewählte Eröffnung der Epistulae Metricae. 459 Nicht zufällig sind gerade diese beiden exakt definierten Ausdrucksformen der Verehrung gewählt. Der erste Gestus gilt dem mit der höchsten Autorität ausgestatteten dominus, der zweite dem als Mensch und Partner geliebten sponsus, alle beide also der im Adressaten vereinigten Doppelfunktion. Dörrie: Der heroische Brief, S. 435. 460 Francesco Petrarca: Epistulae Metricae, S. 329 f.
2.4.3 Roma/Italia-Heroide
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Schiff ihres in die Verbannung geschickten Ehemannes folgt. Bald aber erhält sie Kunde von Benedikts bevorstehender Ankunft, schmückt sich und legt festliche Kleidung an. Beim Einzug auf italienischen Boden wird der Papst, umringt von jubelndem Gefolge, über die Schönheit der Landschaft und den ewigen Frühling staunen und seinem Namen entsprechend wahrhaft gesegnet (benedictus) sein. Zum Abschluss spricht sie noch eine Mahnung aus: Der voll Sehnsucht Erwartete soll sich von Romas schönen Schwestern und Töchtern, den Städten Genua, Piacenza, Bologna und Florenz, nicht zu längerem Aufenthalt verleiten lassen und unverzüglich eintreffen. Petrarca beweist großes Geschick darin, die Wiederherstellung des gestörten foedus zwischen der Ewigen Stadt und ihrem dominus mit den Möglichkeiten der amatorischen Sprache Ovids zu beschwören.461 Ebenfalls an Benedikt XII. richtet sich Epistula metrica 1, 5,462 eine 1336 verfasste Epistel von 119 Hexametern, welche zwar nicht der Heroine Roma selbst in den Mund gelegt ist, aber in ähnlicher Weise wie der vorige Text deren Schicksal thematisiert. Eine anonym bleibende Sprechinstanz macht sich zum Augenzeugen einer denkwürdigen Papstaudienz und schildert, wie sich eine in tiefstem Elend noch hoheitsvolle, sonderbar bekannt anmutende Frau weinend dem Pontifex zu Füßen wirft (Exul inops horrensque habitu despectaque nuper/ Femina, summe patrum, tua sancta ad limina supplex/ Procubuit (tum forte aderam)). Die Bittstellerin artikuliert ihre Klagen in erlesenem Latein und weist sich durch ihren abgenutzten römischen Mantel als ortsansässig aus. Sie anzusprechen verbietet dem Zeugen bei aller brennenden Anteilnahme die Ehrfurcht. Dreimal versagt ihm dabei die Stimme. Wie er aber zufällig vernimmt, heißt die Dame Roma (Roma erat) und bietet das erschütterndste Beispiel für die unberechenbare Macht der Fortuna. Auf diese bestürzte Feststellung folgt eine lange digressio, ein ca. 50 Verse umfassender frühhumanistische Gelehrsamkeit demonstrierender Katalog mythischer und historischer Helden, deren sich vor allem Griechenland (Graecia, verborum genetrix laudumque magistra), in geringerem Maße aber auch Britannien, Gallien und Germanien rühmen können. Dennoch bleiben all deren Leistungen ausdrücklich dem römischen Ruhm unterlegen (Romanas citra laudes). Der Sprecher wendet sich daraufhin wieder der Gegenwart zu und erinnert Benedikt an den bitteren Sturz der einstmals so mächtigen Königin, die nun bittflehend zu seinen Füßen liege. Da der Pontifex doch gerade eine komplizierte theologische Streitfrage bezüglich der direkten Gottesschau der selig Verstorbenen entschieden habe, sei er nun frei für seine lang ersehnte Rückkehr in die 461 Dörrie: Der heroische Brief, S. 434 f. 462 Francesco Petrarca: Epistulae Metricae, S. 64–69, 334–336 (Kommentar). Dörrie: Der heroische Brief, S. 434 sieht diesen als „eine Vorstufe, eine Vorbereitung des Lesers auf die neue Gattung“.
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Heilige Stadt. Es folgt ein dringlicher Appell zur baldigen Ankunft und zur Wiederherstellung des wahren Glaubens angesichts allerorts zunehmender spiritueller Verunsicherung und Häresie. Dafür werde Benedikt auf Erden ewigen Ruhm erlangen und nach einem milden Übergang zu den Sternen (lenis ad astra transi tus) der vollen Gottesschau teilhaftig werden. Petrarcas dritte Roma-Epistel (Epistula metrica 2, 5),463 1342 verfasst und 270 Hexameter lang, dokumentiert schon in gewisser Weise das Scheitern der vorhergehenden Mahnschreiben. Dieser Brief richtet sich nun an Benedikts gerade inthronisierten Nachfolger Clemens VI. (1290/1342–1352), der im Gegensatz zu diesem für seine verschwenderische Hofhaltung berüchtigt war, höhere Kirchensteuer einzutreiben versuchte und dennoch durch die (erfolglose) Verleihung der senatorischen Gewalt an die ursprüngliche Stadt der Kurie gebunden werden sollte. Ecclesia oder Roma464 klagt eingangs, dass sie über all ihren vergeblichen Hoffnungen mittlerweile gealtert sei und eher Erbarmen bei den Parthern finde als Liebe bei ihrem Mann (Heu Parthis miseranda prius quam cara marito). Weder mit Briefen noch mit Tränen habe sie ihn zur Rückkehr bewegen können, er halte sie stets mit Ausflüchten und leeren Vertröstungen hin. Über vielen zeitraubenden Unternehmungen in der Ferne – Spekulationen über die Gottesschau der Seligen, Beschäftigung mit intrikaten Fragen des Kirchenrechts, Errichtung gewaltiger Bauwerke – sei der Gemahl schließlich verstorben. Auf diese Schreckensbotschaft hin habe sich der Himmel ihrer erbarmt und ihr einen herrlichen neuen Bräutigam verheißen, nämlich Clemens. Zunächst kann Roma ihr Glück kaum fassen. Erst als sie sich von der Wahrheit der Botschaft überzeugt hat, legt sie ihr Trauergewand ab und reist ihm über die Alpen entgegen. Stürmische Vorfreude verkürzt ihr den beschwerlichen Weg durch Eis und Schnee. Sie äußert Verständnis dafür, dass er als Franzose an seiner Heimat und den Orten seiner Jugend hängt, hofft aber dennoch auf die Kraft seiner Gattenliebe. Als einstiger Namensvetter des Apostels Petrus – Clemens hieß ursprünglich Pierre Roger bzw. Peter von Fécamp – soll er um so freudiger dessen Thron aufsuchen. Im Folgenden unternimmt sie den Versuch, ihn mit ihren Heiligtümern zu sich zu locken und preist ihm in einem langen Katalog ihre Reliquien und Sakralbauten an, unter ersteren die Milch der Gottesmutter, Jesu Wiege, Kleiderreste, Haar und Vorhaut. Eine
463 Francesco Petrarca: Epistulae Metricae, S. 134–147, 349–352 (Kommentar). 464 Dörrie: Der heroische Brief, S. 42, 432, 435 f. präsentiert diesen Brief als ein Schreiben der Ecclesia, was aber aus dem Text, zumindest in der hier gebrauchten Ausgabe von Otto und Eva Schönberger, nicht hervorgeht. In Vers 258–259, S. 146 bittet die Heroine: […] Scis quid loquor. Annue tandem / Quod tua Roma gemens genibusque affusa precatur. Auch Vers 7, S. 134 Heu Parthis miseranda prius quam cara marito scheint dafür zu sprechen, dass in diesem Text die Roma-Korrespondenz fortgeführt wird.
2.4.3 Roma/Italia-Heroide
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besondere Rolle nimmt auch die Quo vadis-Kirche an der Via Appia ein mit einem erschütternd lebensnahen (heute nicht mehr erhaltenen) Gemälde, welches die legendäre Begegnung zwischen dem bereits auferstandenen Christus und dem zunächst aus Rom fliehenden, dann ins Martyrium sich fügenden Petrus darstellt. Wenn schon einst Petrus in Erwartung von Folter und Tod bereitwillig in die Stadt zurückgekehrt sei, gibt Roma zu bedenken, um wieviel freudiger müsse dann er, Clemens, kommen, wo ihn doch Ruhm und Ehren erwarteten? Die paganen Denkmäler der noch nicht christianisierten Römer, z. B. Tore und Triumphbögen, behauptet sie übergehen zu können, da diese nichts zur Erbauung der Seele beitrügen. Dagegen erinnert sie stolz an die Unterwerfung des von Gott für seinen Glaubensabfall bestraften Jerusalems. Zum Abschluss ihres Briefes bittet Roma ihren Adressaten, der unter ihrer Sündenlast leidenden Menschheit zuliebe einen alten Brauch der Ablassgewährung zu erneuern und alle fünfzig Jahre (statt nur wie bisher alle hundert) ein Jubeljahr festzusetzen, damit auch Menschen mit kürzerer Lebensdauer dessen eher teilhaftig werden könnten. Dann werde auch sie sich während seiner Abwesenheit wenigstens an ihren gemeinsamen Kindern, den aus ganz Italien zusammenströmenden Pilgern, erfreuen können. Das letzte dieser drei Sendschreiben zeigt am deutlichsten die überhistorische Bedeutung nicht nur der Schreiberin, sondern auch des Adressaten, da der Papst sowohl eine Person (Benedikt, Clemens) als auch eine überpersönliche Instanz darstellt, durch eine lange Reihe von Amtsträgern aus vielen Jahrhunderten verkörpert. Diese Kontinuität macht sich Petrarcas Roma am geschicktesten in Epistula metrica 2, 5 zunutze, wo sie alle päpstlichen Versäumnisse dem soeben verstorbenen Vorgänger anlastet und den gegenwärtigen Adressaten mit gebührendem Lob zum reinen Hoffnungsträger erhebt. Petrarca bleibt somit das Verdienst, die Form, zumindest aber eine Vorform der patriotisch-allegorischen Heroide geschaffen zu haben. Bahnbrechend für deren Weiterentwicklung wirken Helius Eobanus Hessus (1488–1540) und sein früh verstorbener Freund aus der gemeinsamen Zeit in Erfurt, der in religiöser und patriotischer Hinsicht äußerst streitbare Humanist Ulrich von Hutten (1488–1523). Beide erlebten mit knapp 30 Jahren die große Kirchenspaltung und schlossen sich der Reformation an, beide harmonierten trotz unterschiedlichen Temperamentes offenbar so gut miteinander, dass sie sich in Bezug auf reichspolitische Fragen einmal zu einer poetischen Kooperation, nämlich zur Abfassung eines heroischen Briefpaares, d. h. eines Mahn-und Sendschreibens (Hutten) und einer Antwort darauf (Hessus), bereitfanden.465
465 Beide enthalten in: The Poetic Works of Helius Eobanus Hessus, King of Poets, 1514–1517. Edited, translated, and annotated by Harry Vredeveld. Bd. 3. Leiden 2012 (Medieval and Renais-
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2 Voraussetzungen zur Entstehung der Germania-Heroide
Mit ihrem anspruchsvoll komponierten Briefpaar Epistola ad Maximilianum Caesarem Italiae ficticia / Responsio Maximiliani reagieren sie auf die prekäre Beziehung zwischen Maximilian I. (1459/1493–1519) und Italien bzw. auf die unvorteilhafte Rolle des Kaisers, dessen jahrzehntelange, teils diplomatisch, teils militärisch ausgetragene Konflikte mit Venedig, mit der Kurie und Frankreich um Besitzansprüche in Italien für ihn meist demütigend endeten. Im Spätsommer 1515 hatte Franz I. mit venezianischer Unterstützung Mailand und die Lombardei in seine Gewalt gebracht. Erst im März 1516 wagte Maximilian einen Gegenangriff und brach mit einem großen Heer von Trient zum Mincio auf, den er auf einer selbst errichteten Brücke überqueren wollte. Gut geschützt durch die Stadtmauern von Mailand befanden sich die Franzosen und Venezianer ihm gegenüber im Vorteil, zumal sie das freie Gelände zuvor durch Brandlegung verödet hatten. In ungünstiger Lage für eine offene Schlacht und zudem durch eine Meuterei seiner eigenen noch unbezahlten Schweizer Truppen geschwächt, sah er sich gezwungen, seine Pläne aufzugeben und Italien ein für alle Mal den Rücken zu kehren – zum großen Spott seiner Widersacher. Harry Vredeveld schildert die Situation: An object of mockery to his enemies and erstwhile friends, the old man turned his back on the Italian plain, never to return. The debacle may have shattered Maximilian’s dream of hegemony over Italy, but did nothing to discourage the German humanists who were cheering him on.466
Hutten, der von 1512 bis 1514 selbst in Maximilians Armee in Italien gedient hatte und sich im Verlauf weniger Jahre sowohl durch Kriegsaufrufe an diesen in Form einer paränetischen Elegie (1511) als auch durch eine Serie von Epigrammen (1512–1517) hervortat, verfasste im Juli 1516 in Bologna eine Heroide nach dem von Petrarca geschaffenen patriotisch-allegorischen Modell. Als schreibende Heldin wählt er die von vielen Seiten bedrängte Italia, welche den Kaiser aus dem Haus Habsburg als ihren rechtmäßigen Herrn und Bräutigam um Hilfe anfleht. Hutten verleiht seinem stark durch Elemente der Panegyrik angereicherten Text eine raffinierte Verweisstruktur, welche sowohl auf einzelne ovidische Heroiden und Heroinen als auch auf Petrarcas Roma-Briefe an die Päpste Bezug nimmt.467 Italia bekundet eingangs ihre Freude über die Nachricht, dass Maximilian aus sance texts and studies 215), S. 351–409. Zum historischen Hintergrund vgl. Vredevelds Einleitung, S. 351–359. Zu den Briefen selbst vgl. Dörrie: Der heroische Brief, S. 453 f.; Eickmeyer: Der jesuitische Heroidenbrief, S. 124–142. 466 The Poetic Works of Helius Eobanus Hessus. Bd. 3, S. 352. 467 Zu den intertextuellen Bezügen, inbes. auf Ov. her. 1 (Penelope an Odysseus) und Ov. her. 6 (Hypsipyle an Jason), Petrarca: Epist. metr. 1, 2 und 2, 5; vgl. Eickmeyer: Der jesuitische Heroidenbrief, S. 130 ff.
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Trient aufgebrochen sei und in Kürze die Alpen mit seinen Soldaten bevölkern werde. Sie springt jubelnd auf und stellt sich schon seinen baldigen Triumphzug vor (Exilui, molita novos de more triumphos). Da kommt ihr die traurige Botschaft zu Ohren, dass der Kaiser unverrichteter Dinge (suspensis ausibus) wieder abgezogen sei. Sogleich entledigt sie sich ihrer festlichen Kleidung und schwört – Vergils Dido nicht unähnlich468 –, eher solle der himmlische Vater sie in die Unterwelt schicken oder ihr mit der Mauerkrone geschmücktes Haupt (turritum caput) mit einem Blitz treffen, als dass jemand sie vor Maximilians Rückkehr in froher Verfassung sehe. Bis dahin werde sie Trauer tragen. Niemand außer ihm könne rechtmäßigen Anspruch auf sie erheben. Umsonst, so beteuert sie, versuchen Venezianer und Franzosen sie mit Geschenken zu bestechen; ihre Treue bleibt unantastbar (39–44): In te solus amor, in te mea sola voluntas. Aut nunquam aut per te libera terra mea est. Tu dominus, tua iussa sequar, te principe tollam, Ut quondam, domitis gentibus acre caput. Per te priscus honor, prisca ornamenta redibunt, Aut ego perpetua squalida sorde ferar. Dir allein gilt meine Liebe, Dir allein meine Zuneigung. Mein Land wird entweder niemals oder nur durch Dich frei sein. Du bist mein Herr, Deinen Geboten werde ich folgen, unter Deiner Herrschaft werde ich, wenn die Völker bezwungen sind, wie einst mein stolzes Haupt erheben. Durch Dich wird die alte Ehre, durch Dich werden die alten Zeichen des Ruhms zurückkehren oder ich werde dauerhaft in Sack und Asche einhergehen.469
Die Beziehung zwischen Maximilian und Italia erscheint somit als (ursprünglichen Geschlechterrollen folgende) hierarchisch strukturierte Liebesbeziehung oder Ehe. Foedus amoris und foedus imperii fallen in eins. Italia tadelt Maximilians mangelnde Entschlusskraft und klagt (46–60): Interea nullis ego non obnoxia fatis Cuilibet audenti praeda relicta petor. […] In mea foedifragi grassantur viscera Galli, Me lacerat Venetus persequiturque latro. Venit ab occiduo qui me convellat Ibero, Et partem de me carpit adustus Afer. Intrantur Danais nostrae praedonibus urbes, Appetor Illyriis Helvetioque fero.
468 Vgl. Verg. Aen. 4, 24–27. 469 Übersetzung T. B.
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Nemo quaerit opes quem non mea premia pascant, Nec sapit hic qui non Itala regna petit. Unterdessen bin ich allen möglichen Schicksalsschlägen unterworfen und werde einem jeden, der nur irgend Begierde verspürt, als Beute überlassen. […] Auf meine Eingeweide stürzen sich die wortbrüchigen Franzosen, mich zerreißt und verfolgt der Räuber aus Venedig. Vom Ebro aus dem Westen kommt der Spanier, um mich auseinanderzureißen, und einen Teil von mir zerrupft der von der Sonne versengte Afrikaner. Von griechischen Plünderern werden meine Städte betreten, ich werde von den Illyrern und von dem wilden Schweizer angegriffen. Niemand verlangt nach Reichtum, der sich nicht an meinen Schätzen schadlos hält. Als unverständig gilt, wer keinen Anspruch auf Italien erhebt.
Italia präsentiert sich als Spielball und Opfer auswärtiger Mächte. In einem langen Katalog zählt sie ihre einstigen Siege gegen auswärtige Völker auf, von den Libyern und Puniern bis zu den Sarazenen in Jerusalem und den Schweizern. Gegenwärtig leidet sie unter dem Verfall ihrer einstmals prächtigen Städte und hält sich für kaum wiedererkennbar (Dissimilis primum nunc ego facta mei). Rom, nun in den Händen eines toskanischen Wucherers (Thuscus usurarius) – gemeint ist Papst Leo X. als Sohn des Bankiers Lorenzo di Medici – versucht sie Maximilian als Ursprungsort des Kaisertums schmackhaft zu machen (131–142): Una caput mundi meruit mea Roma vocari. Non tuus hoc Rhenus ipse negare potest. […] Tu caput es Romae. Mundi caput illa vocatur. Ah, age, qui rerum es, omnia vince, caput. Einzig mein Rom hat es verdient, das Haupt der Welt zu heißen, das kann nicht einmal Dein Rhein leugnen. […] Du bist das Haupt Roms. Das Haupt der Welt wird es hingegen genannt. Nun, wohlan, Du, der Du das Haupt alles menschlichen Wirkens bist, besiege alles.
Diese schmeichelnde Einladung oder Aufforderung bezieht sich auf den misslichen Umstand, dass Maximilian, seit 1486 Römischer König, seit dem Tod seines Vaters Friedrich III. im Jahre 1493 alleiniger Regent auf dem Kaiserthron, noch keine formelle Kaiserkrönung durch den Papst in Rom hatte vornehmen lassen können und sich mit einer bloßen Titelverleihung begnügen musste. 1508 war ein in dieser Absicht unternommener Romzug, begleitet von einer großen Streitmacht, an der Weigerung der Venezianer, ihm Durchgang durch ihre Gebiete zu gewähren, gescheitert. Italia lockt also ihren kaiserlichen Adressaten mit der legitimierenden oder zumindest prestigesteigernden Bedeutung ihrer Stadt Rom. In jedem Fall wird es ihm zu höchstem Ruhm gereichen, die Plünderer vertrieben und Rom sich selbst wiedergeschenkt zu haben (Et tandem Romam restituisse sibi). Italia untermauert ihren Appell durch einen Katalog der Gräueltaten, welche die Franzosen auf ihrem Boden an sittsamen Ehefrauen und wehrlosen Mädchen jeg-
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lichen Alters verüben, sowie – das dürfte ein skandalöses Novum in der gelehrten Publizistik sein – eine Aufzählung der abscheulichen Laster der Kurienvertreter. Nachlässige Amtsführung, Müßiggang, Völlerei und Trunkenheit sind noch die geringsten Vergehen, welche sie dem Klerus zur Last legt; weitere Schandtaten, die sie vor Scham kaum aussprechen mag, sind sogar dazu angetan, ihr Rom zu verleiden (Et pudet et dicam, pathicos regnare cynedos/ cum video, Romam tunc pudet esse meam.). Dennoch ist die ungeheure Wunde an ihrem Leib immer noch heilbar (Grande quidem vulnus, sed adhuc medicabile nostrum est), sofern Maximilian nur endlich mit seinen Soldaten naht. Dazu muss er nicht einmal das Meer befahren, sondern lediglich durch sein eigenes Reich marschieren. Entflohene Söldner und Männer aus den von Venedig, Toskana und Frankreich unterdrückten Landstrichen, alle, deren Zorn durch lange erlittenes Unrecht gewachsen ist, werden ihm zulaufen und ihn unterstützen. Er kann also mit fremder Gefahr und eigenem Ruhm Krieg führen (Laude tua facies alieno bella periclo). Zur Zeit aber muss Italia allerorts schon Schmähungen gegen ihren unkriegerischen Herrn anhören und fürchtet, gebrochenen Herzens zu Boden zu stürzen. Dennoch verteidigt sie ihn mit ihren geringen Kräften, so gut sie eben kann. Die Feinde spotten, die Freunde verlieren ihre Hoffnung (Despiciunt Veneti cives, te Gallia temnit./ Vix aliquid sperat quisquis amicus adest.) Wer auch immer Maximilian in Theaterstücken oder Liedern verunglimpft, macht sich einen Namen. Manch einer gibt in der Diogenes zugeschriebenen Manier vor, bei vollem Tageslicht mit angezündeter Laterne nach dem Kaiser suchen zu müssen. Maximilian soll durch sein Erscheinen auch seine Ehre wiederherstellen. Dann wird Italia, wenngleich noch ein Abbild des Todes, wiederum jubelnd aufspringen. Hutten liefert mit dieser allegorischen Epistel schon ein Grundgerüst dessen, was – teilweise natürlich in Umkehrung der Perspektive – Inhalt der Germania-Heroiden sein wird. Eine Landespersonifikation wendet sich als notleidende Frau mit einem Klagebrief an einen abwesenden Herrscher, von dessen persönlicher Ankunft bzw. Rückkehr sie sich Rettung vor äußeren Gefahren und Wiederherstellung der gestörten politischen, religiösen und/oder sozialen Ordnung verspricht. Die Schreiberin muss ihre Beziehung zum Herrscher definieren, und zu diesem Zweck beruft sie sich entweder auf ein heiliges Liebesbündnis oder verwandtschaftliche Bande, die sie zwar als allgemein bekannt voraussetzt, aber unter Ausdrücken des höchsten Affekts immer wieder in Erinnerung ruft. Dieser artifizielle Versuch der Solidaritätsstiftung ist dem Bedürfnis einer Zeit geschuldet, in welcher erstmals das traditionell transnationale dynastische Selbstverständnis der Regenten mit den gerade erst aufkommenden nationalen Identitätskonzepten eines Landes konfrontiert wird und in welcher die (oftmals heiratsbedingte) Akkumulation verschiedener Kronen und Reiche keine Seltenheit darstellt. Eine grobe Strukturierung des Klagebriefes ist dabei jeweils durch
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die olim/quondam-nunc-Opposition gegeben: Eine glorreiche Vergangenheit, konkretisiert durch einen (langen) Katalog von Siegen über auswärtige feindliche Mächte, ist, wenn nicht durch Eigenverschulden und Dekadenz, dann durch das grausame Spiel der Fortuna beendet worden. Es gelingt Hutten, literarische Modelle von Ovid und Petrarca in einer enkomiastisch aufgeladenen elegischen Sprache für die Forderungen der Zeitpolitik nutzbar zu machen und so ein Novum in der Publizistik zu begründen, „eine zwar ästhetisch durchgeformte, gleichwohl im Kern ernst gemeinte Aufforderung zu militärischem Handeln an den Kaiser“.470 Diese Epistel hatte Hutten schon in poetisch-kompetitiver Absicht abgefasst, nämlich in der Hoffnung, einen seiner Humanistenfreunde zu einer literarisch ebenbürtigen Antwort im Namen Maximilians herausfordern zu können, wie er selbst bekennt.471 Eine leicht überarbeitete Kopie sandte er im September 1516 an Hessus nach Erfurt mit der Bitte, sie dort zu publizieren. Der mit Komplimenten überhäufte Freund zeigte sich von Huttens Text begeistert – nicht weniger sicherlich von dessen Bekenntnis, seine Inspiration Hessus’ Heroides Sacrae zu verdanken – und empfahl ihn u. a. seinen Studenten als ergiebigstes Lektürematerial aus zeitgenössischer Feder. Sein auf Huttens Wunsch hin komponiertes Antwortschreiben Responsio Maximiliani472 enthält 340 Verse und gilt noch heute als mindestens kongeniales poetisches Gegenstück.473 Aufgrund der (zumindest für Hutten und seine Freunde) unbefriedigenden politischen Lage jedoch kann es im Grunde nur eine Vertröstung der Adressatin darstellen. Unter zahlreichen Beteuerungen seiner edlen Absichten ermutigt Maximilian seine verunsicherte Italia, trotz vorübergehend widriger Umstände, die ihn noch eine Zeitlang fernhielten, auf seine heilbringende Ankunft zu hoffen. Unter seinen Rechtfertigungsversuchen sind insbesondere ein Stück Kurienkritik direkt am Vorabend der Reformation! als auch seine Exkulpation durch mehrfachen Hinweis auf die Launen der Fortuna bemerkenswert. Maximilian bekundet größten Unmut darüber, dass der Papst (Leo X., hier polemisch Leogallus) sich in die kaiserliche Politik einmische und sogar gegen ihn konspiriere, anstatt sich mit seinem ihm rechtmäßig zustehenden geistlichen Amt, der Verwaltung der Himmelsschlüssel, zu begnügen. Italia hingegen soll gerade auch mit Blick auf ihre eigene Vergangenheit beden-
470 Eickmeyer: Der jesuitische Heroidenbrief, S. 137. 471 The Poetic Works of Helius Eobanus Hessus. Bd. 3, S. 356 ff. 472 Ebd., S. 388–409. 473 Vgl. Dörrie: Der heroische Brief, S. 454 bescheinigt Hessus überzeugendere Argumente und erheblich bessere Verse. Eickmeyer: Der jesuitische Heroidenbrief, S. 137, 142 hingegen würdigt auch die besondere Raffinesse, mit welcher der eine Dichter Argumentation und Sprache des anderen für sich schon gelungenen Textes aufnimmt.
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ken, dass Fortuna niemals an einem Punkte stillstehe und dass auch bedeutende Siege stets mit großen Verlusten und Blut erkauft werden müssten. Um jemals die Weltherrschaft zu erlangen, habe sie nun einmal zahlreiche Verletzungen durch Punier, Parther und andere Feinde hinnehmen müssen. Hessus lässt hier seinen schreibenden Helden das ohnehin beliebte, aus Hutten und dessen Vorlage Petrarca übernommene Fortuna-Argument nutzen, um sich zumindest ein Stück weit von seiner eigenen Verantwortung freizusprechen.474 Maximilian schildert seine erst kurz zurückliegende erfolgreiche Verteidigung der von den Franzosen bestürmten Stadt Verona und stellt sich nun als Sieger Italia zu weiteren Diensten zur Verfügung. Zwar kann er eine gewaltige Armee aus Ungarn, Böhmen, Polen, Spaniern und Briten rekrutieren, doch im Notfall sind seine eigenen Hausmächte Deutschland und Österreich (nostra domus) allein stark genug. Der harte Männerschlag (genus acre virum), welchen ihm Germania und Austria bieten, erträgt Hitze, Frost, Hunger und Durst. Bei der Ankunft Maximilians mit einem solchen Heer wird Fortuna ihr böses Spiel bereuen und wieder hold lächeln. Dann sollen die Spötter es noch wagen, Lieder und Possen auf ihn zu verfassen. Italia aber wird die Erfüllung seiner Versprechen sehen (Polliciti cernes pondera plena mei.)475 Der erste, der für die poetische Verarbeitung des leidigen Dauerkonflikts – innere Zerrissenheit Deutschlands, Gefährdung durch einen äußeren Feind – das Modell der von Petrarca begründeten und von Hutten/Hessus weiterentwickelten patriotisch-allegorischen Heroide fruchtbar machte und somit gewissermaßen eine deutsche Variante des poetischen Sendschreibens schuf, war allem Anschein nach Georg Sabinus.476 Doch zuvor machte auch er eine leidende Roma zu seiner klagenden (wenn auch nicht erklärtermaßen schreibenden!) Heldin, und zwar im Zusammenhang mit einem Ereignis von 1527, welches seine Zeitgenossen zutiefst erschütterte und eschatologische Ängste zu bestätigen schien, nämlich dem Sacco di Roma.477 Maximilians Enkel und Nachfolger Karl V., welcher dessen Konflikte geerbt hatte und tatsächlich auch in Italien teils erfolgreich militärisch austrug, hatte im Februar 1525 Franz I. bei Padua besiegt und gefangengenommen. 1526 musste Franz den für ihn ungünstigen Frieden von Madrid unterzeichnen und wurde auf sein Ehrenwort zur Einhaltung hin freigelassen. Kaum in Sicherheit
474 Eickmeyer: Der jesuitische Heroidenbrief, S. 141: „Die sprichwörtliche Wankelmütigkeit des Schicksals, die einen mitleidigen Papst nach Rom locken sollte, führt der Kaiser nun als guten Grund an, nicht nach Italien zu marschieren, da die Verhältnisse sich ohnehin zum Guten verändern werden.“ 475 Zu einer möglichen Ambivalenz in den Worten Maximilians, dem es in Wirklichkeit mit einem Italienfeldzug weniger ernst gewesen sei, vgl. ebd., S. 141. 476 Vgl. das Kapitel dieser Arbeit 3.1.1 Georg Sabinus: Germania ad Caesarem Ferdinandum. 477 Vgl. dazu die Unterkapitel bei Gregorovius. Bd. 3/2, S. 601–622.
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widerrief er sogleich seinen ihm abgezwungenen Eid und verbündete sich mit Papst Clemens VII., Venedig, Florenz, Mailand und einigen anderen oberitalienischen Herrschern gegen Karl zur Heiligen Liga von Cognac. Karls Landsknechte, die aufgrund von dessen desaströser Finanzlage seit Pavia nur noch unregelmäßig bezahlt und unzureichend versorgt waren, reagierten schließlich mit einem großen Aufstand und zogen marodierend durch Nord- und Mittelitalien, um sich auf ihre eigene Weise zu entschädigen. Nachdem schon ein Ansturm auf Florenz gescheitert war, fielen sie am 6. Mai 1527 in Rom ein, wo sie u. a. ihrer Erbitterung gegen den Papst freien Lauf ließen. Dabei galt ihr Hass einerseits der gewissenlosen Person Clemens VII., der durch seine opportunistischen und intriganten politischen Manöver gegenüber Karl den Krieg mitverursacht und zumindest indirekt ihre missliche Lage verschuldet hatte, zum anderen – teils infolge der Reformation – dem Papsttum und der Kurie schlechthin. Mehrere Tage lang richteten deutsche, spanische, aber auch italienische Soldaten – durchaus zur Beschämung des handlungsunfähigen Kaisers – in Rom ein bis dahin beispielloses Blutbad an, dem Klerus, Adel, Würdenträger und einfaches Volk gleichermaßen zum Opfer fielen. In diesem Zusammenhang publizierte der junge Sabinus eine heroidenähnliche d. h. auf eine Brieffiktion verzichtende allegorische Dichtung mit dem euphemistischen Titel Roma a Caesare Carolo V. capta.478 In 237 Distichen in vorzüglichem Latein klagt die verwüstete Roma einem nicht explizit genannten Publikum ihr Leid. Wie viele ihrer literarischen Vorgängerinnen eröffnet auch sie die Schilderung ihrer Lage mit dem olim/quondamnunc-Topos: Roma, einstmals Beherrscherin der Welt, liegt nun in Tränen darnieder. Zum Untergang gereichte ihr die Heilige Liga von Cognac, Hauptschuld aber trägt der seinen selbstgewählten Namen Clemens nicht verdienende Papst (Praesul, cui tribuit falsum clementia nomen,/ Is mihi funestae cladis origo fuit). Während eines alljährlichen Festumzugs für Flora im Mai, so ihr Bericht, wurde sie plötzlich von einer Kriegsnachricht überrascht: Der Kaiser sei mit seinem Heer im Anmarsch. Schrecken und Geschrei der Bürger erfüllen die ganze Stadt, alle verfluchen den Papst und sein gottloses Bündnis mit Frankreich. Um effiziente Verteidigungsmaßnahmen zu treffen, ist es bereits zu spät. Ein von heiligem Wahnsinn gezeichneter bleicher Mann stößt furchtbare Prophezeiungen aus. Roma solle nicht länger ihre Niederlagen bei Cannae, bei Trebia, am Trasimenischen See oder an der Allia beklagen, der kommende Tag werde ihr so viel Leid bringen wie keiner in der Vergangenheit. Roma
478 Georg Sabinus: Roma a Caesare Carolo V. capta. [Elegie 5, 1]. In: Poemata Georgii Sabini, S. 126–142. Eine kurze Würdigung bietet Dörrie: Der heroische Brief, S. 441 f. Die ersten acht Distichen präsentiert mit einer eigenen Übersetzung Kytzler in Roma Aeterna, S. 488 f.
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zerrauft ihr blondes Haar, schüttelt ihr Haupt mit der Mauerkrone (caput turritum) und betet – leider vergebens –, dass diese Orakel ohne Bedeutung sein mögen. Schon ist das kaiserliche Heer im Anmarsch. Charles III., Herzog von Bourbon, ein Söldnerführer, einst von König Franz und Papst Clemens zu Karl übergelaufen, aber nun auch gegen diesen erbittert und hier als Typus des rachsüchtigen Verräters gezeichnet, hält von einem Hügel aus Ausschau und hetzt seine Soldaten in einer Brandrede zur Plünderung des päpstlichen Besitzes auf. Nachdem er Roma auch durch die Drohungen seines Herolds nicht bewegen konnte, ihre Tore zu öffnen, befiehlt er den Angriff. Während er, auf einer Leiter stehend, noch seine Krieger anstachelt, fällt er selbst von einer Kugel getroffen. Romas verfrühte Freude darüber erweist sich als trügerisch, denn der Tod ihres Anführers treibt die Spanier zu verstärkter Aggression. In seinem darauf folgenden Untergangsszenario bietet Sabinus alles auf, was sowohl historische Augenzeugenberichte als auch der literarische excidium urbis-Topos hergeben. Ein wesentlicher Aspekt sind Kirchenschändung und Priestermord, wobei sich insbesondere die deutsche Truppe (Teutonis legio) hervortut. Dies veranlasst Roma zum Ausruf: Poplite procumbens iugulatur Clerus ad aras, Vos adeo nulli templa tulistis opem. O scelus infandumque nefas, quis barbarus unquam Sanguine sacrata tinxit in aede manus? Inclita belligeri Germania filia Martis, Insolita haec feritas gentibus vnde tuis?479 Auf die Knie gesunken wird der Klerus an den Altären abgeschlachtet. Ihr Tempel habt niemandem Hilfe gebracht. O welch ein Verbrechen, welch unaussprechlicher Frevel! Welcher Barbar hat jemals in geweihtem Hause seine Hände in Blut getaucht? Ruhmreiche Germania, Tochter des kriegsführenden Mars, woher haben deine Truppen diese außerordentliche Wildheit?480
Man muss wohl nicht, kann aber darin schon den Ansatz zu einer allegorischen Germania-Gestalt mit ambivalenten Zügen erblicken, die zwar eingestandenermaßen über bemerkenswerte kriegerische Fähigkeiten verfügt, hier allerdings pervertierten Gebrauch davon macht. Das Motiv der (einstigen) militärischen Überlegenheit Germanias über Rom/Roma wird Sabinus aus umgekehrter Perspektive in Germania ad Caesarem Ferdinandum behandeln. Es folgen weitere Gräuelschilderungen mit zahlreichen Bezügen auf mythische und historische (seltener biblische) Exempel. Das Hauptreferenzmodell bleibt explizit und implizit (gerade auch im Hinblick auf Rom) selbstverständlich der Unter-
479 Poemata Georgii Sabini, S. 134. 480 Übersetzung T. B.
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gang Trojas. Vergeblich versuchen die Römer (Aeneades) ihre Mauern zu schützen, der Tiber erlebt Schlimmeres als einst der Skamander unter Achill, die Nacht bricht vorzeitig an. Sabinus nimmt wie einige seiner Vorgänger bis zu Enea Silvio Piccolomini auch darin eine dezidiert humanistische Position ein, dass er inmitten einer Schilderung von physischer Gewalt und Zerstörung materieller Lebensgrundlagen auch die Vernichtung kultureller Güter zur Sprache bringt: Bezeichnenderweise lässt er seine Roma den antiken primus inventor-Verwünschungstopos auf den ersten „Mörder“ der römischen Bildungsschätze anwenden: Me vero non sic argenti praeda nec auri, Totaque per noctem facta rapina mouet, Ut miseranda dolet veterum iactura librorum, Hei mihi sacrilegae quas rapuere manus. Quisquis es, immitis te Gnosius arbiter Orci Puniat ardenti sub Phlegetontis aqua, Cuius prima manus scelus hoc conata nefandum, Ausaque Musarum perdere dona fuit.481 Mich aber entsetzen die Erbeutung von Silber und Gold und der die ganze Nacht dauernde Raubzug nicht so sehr, wie mich der klägliche Verlust alter Bücher schmerzt, welche – weh mir! – gotteslästerliche Hände hinweggerafft haben. Wer auch immer du bist, dessen Hand als erste dieses unaussprechliche Verbrechen begangen und es gewagt hat, die Gaben der Musen zu vernichten, dich soll der kretische Richter des furchtbaren Orkus im brennenden Wasser des Phlegeton bestrafen.
Das Thema von Verlust bzw. Wiederherstellung und Förderung der Bildung wird in Form eines Appells an einen Herrscher auch in den meisten Germania-Heroiden begegnen. Roma beklagt im Folgenden das Wüten der Krieger, die selbst vor Leichenschändung nicht zurückschrecken. Gräber werden erbrochen, selbst Papst Julius II. wird aus seiner Gruft gezerrt. Größeren Raum beansprucht das Schicksal des für Roma unheilbringenden Papstes, hier effektvoll zum quasi tragischen Exempel eines „Papststurzes“ ausgestaltet. Clemens (praesul perterritus) und seine Kardinäle, besorgt nur um ihr eigenes Leben, fliehen in die Engelsburg (Huc quoque Cardinei patres formidine mortis/ Fugere, & vitae consuluere suae), wo sie, durch Vorratsmangel bald bezwungen, kapitulieren müssen. Dennoch erregt auch die maßlose Rache an den Schuldigen Romas Entsetzen. Eine Teu tonis cohors schmäht den Papst in einer langen Spottrede und wirft ihn in den Kerker. Soldaten legen seine Gewänder an und halten blasphemische Prozessionen ab, veranstalten aber auch vorgeblich in seinem Namen und „zu seiner Ehre“ Autodafés und Hinrichtungen.
481 Ebd., S. 136.
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Roma hadert mit der Gerechtigkeit des über sie verhängten Schicksals angesichts ihrer eigenen Verdienste um die Zivilisierung der Menschheit. At quibus offendi coelestia numina rebus, In caput vt rueret tanta procella meum? Scilicet hoc merui, claris vbi foeta triumphis, Asserui valida iusque piumque manu? Astrinxique feros homines vbi legibus aequis? Imposito domuit quos mea dextra iugo: Cumque bonas artes mihi propagare per orbem, Curaque mortales erudijsse fuit? Ergo ego terrarum victrix, tot regna subegi? Tantaque difficili bella labore tuli? Ac tot inhumanas docui mansuescere gentes, Iusticia, studio, relligione, fide? Talia pro meritis vt denique praemia ferrem, Nulla quibus tribui deteriora queant.482 Aber wodurch habe ich die himmlischen Mächte beleidigt, dass nun ein so gewaltiger Sturm auf mein Haupt niedergeht? Habe ich das wohl verdient, wo ich, vergrößert durch herrliche Triumphe, Recht und Frömmigkeit mit starker Hand geschützt, wo ich noch wildlebende Menschen, welche meine Rechte dem Joch unterworfen hatte, durch gerechte Gesetze gebunden habe, als es meine Sorge war, gute Künste und Fähigkeiten über den ganzen Erdkreis auszubreiten und die Sterblichen zu erziehen? Habe ich also, Siegerin über die Erde, so viele Reiche bezwungen, solche Kriege in bitterer Mühsal ertragen und so viele unmenschliche Volksstämme durch Rechtswesen, Gelehrsamkeit, Religion und Treuebündnisse gelehrt, eine mildere Wesensart anzunehmen, um für meine Verdienste letztlich einen solchen Lohn davonzutragen? Kein schlechterer als dieser könnte mir zuteilwerden.
Sie klagt, keine Erlösung durch einen ehrenvollen Tod gefunden zu haben (z. B. unter dem gallischen Eroberer Brennus oder unter den Vandalen) und bekundet Neid auf ruhmreich untergegangene Städte wie Troja oder Theben. Statt eines endgültigen Todes muss sie (semisepulta) andauernde oder stets sich erneuernde Qualen ertragen ähnlich wie der immer wieder neu von einem Geier an der Leber zerfleischte mythische Frevler Tityos (Sic ego perpetuos cogor sufferre dolores,/ Interitus hora non veniente mei.). In einem kurzen Gebet fleht sie um gerechte Vergeltung an den Feinden: Diese sollen durch eine Seuche oder vom Himmel gesandte Blitzschläge verenden wie einst das griechische Heer wegen der Raserei des Ajax im Heiligtum der Athene. Damit könnte Sabinus die äußerst effektvoll gestaltete, bilder- und anspielungsreiche Klage der Roma enden lassen, stattdessen aber demonstriert er eine im Melanchthon-Kreis gepflegte reichspatrio-
482 Poemata Georgii Sabini, S. 139 f.
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tisch-kaisertreue Position, indem er Roma als Schlusspassage ein ca. 40 Verse umfassendes Bittgesuch an Karl V. richten lässt. At tu bellipotens & felicissime CAESAR, Nostra tuo victor qui pede colla premis: Tu mihi sis oro placabilis, armaque condas, Mille quibus plagas, vulnera mille tuli. […] Non incuso tuam, qua fortiter vsus es, iram: Nam tua iusta quidem iudice caussa Deo est. Sed de saeuitia queror, illorumque furore, Iniussu qui me diripuere tuo.483 Aber Du, kriegsmächtiger und überaus glücklicher Kaiser, der Du als Sieger Deinen Fuß auf meinen Hals setzt, Du sei mir bitte gnädig und steck die Waffen ein, von welchen ich tausend Hiebe und tausend Wunden erhalten habe. […] Ich mache Dir nicht Deinen Zorn zum Vorwurf, mit welchem Du gegen mich vorgegangen bist, denn Dein Anliegen ist nach Gottes Urteilsspruch gerecht. Aber ich klage über die blinde Wut und Raserei derjenigen, die mich ohne Deinen Befehl ausgeplündert haben.
Diese klare Unterscheidung zwischen dem ausdrücklich für gerecht erklärten Zorn des Regenten – hier formuliert mit deutlichen Anklängen an die (erfolglosen) Beschwichtigungsversuche der ira Augusti in Ovids Exildichtung – und der willkürlichen Grausamkeit seiner Diener ist wohl der historischen Situation angemessen, insofern als die Verwüstung der Stadt keineswegs von Karl angeordnet war. Dennoch stellt die schon titelgebende Behauptung von einer kaiserlichen „Eroberung“ Roms einen krassen Euphemismus dar. Ähnliches begegnet im Folgenden auch in den stets reichspatriotisch argumentierenden Germania-Heroiden: Deren Autoren werden auch dort, wo sie tatsächlich mit der kaiserlichen (oder landesfürstlichen) Politik unzufrieden sind, Strategien zur Vermeidung der direkten Beschuldigung entwickeln. Noch deutlicher werden in Sabinus’ Gedicht die heroidenähnlichen Züge, wo Roma nicht mehr nur die gottgewollte Kardinaltugend der iustitia, sondern – in stärker an die Emotionen appellierenden Form – die clementia des Kaiser beschwört: Nec dubito, capta si praesens vrbe fuisses, Ipse mei motus quin pietate fores: Non ita vastari siuisses ignibus vrbem, Augusti titulum CAESARIS vnde geris: Ipse repressurus truculenti militis iram, Et moderaturus frena furoris eras.
483 Ebd., S. 141.
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Ingenio nam te placido natura creauit, Ac tuus hanc laudem sanguis auitus habet, Quod sit ab Hectoreis deductus origine Francis, E quibus immiti pectore nemo fuit.484 Ich bezweifle auch nicht, dass Du selbst von Mitleid mit mir erfasst würdest, wenn Du in der eroberten Stadt gewesen wärest. Du hättest nicht zugelassen, dass die Stadt, von der Du Deinen Kaisertitel hast, derart mit Feuer zerstört wird. Du selbst hättest Anstalten getroffen, den Zorn des grausamen Soldaten zu dämpfen und die Zügel der Raserei straff anzuziehen. Von milder Wesensart nämlich hat Dich die Natur erschaffen, und Dein von den Vorfahren ererbtes Blut hat den Ruhm, dass es von den Franken, den Nachkommen Hektors, abstammt, von welchen niemand grausamen Herzens war.
Daraufhin endet der Text mit dem frommen Wunsch, dass Karl weiterhin stets siegen möge – über Afrika (Nil), Asien (Euphrat) und über den gesamten Erdkreis. Zudem soll er sich noch eines langen irdischen Lebens erfreuen. Wie auch ein kursorischer Überblick zeigt, erfüllt die Klage der Roma, welche ja ohne Brieffiktion auskommt und erst für die Schlusspassage einen namentlich genannten Adressaten aufweist, durchaus wesentliche Kriterien des typisierten Mahn-und Sendschreibens, insofern als eine allegorische Frauengestalt einem Herrscher in stark affektbetonter, an den römischen Klassikern orientierter Sprache eine dringliche Bitte um Frieden oder Waffenstillstand vorträgt. Eine ausdrückliche Definition der Beziehung zwischen der Frau und dem Regenten, etwa als Ehe, Liebesbund, Vater-Tochter- oder Mutter-Sohn-Beziehung, ist in diesem Fall zwar nicht gegeben, aber immerhin stehen einander die einstige Königin der Welt als Besiegte und Karl als der rechtmäßige, milde, nur von seinen Schergen missverstandene Eroberer gegenüber. Roma a Caesare Carolo V. capta stellt auf jeden Fall einen gelungenen Versuch dar, ein spektakuläres Ereignis von unmittelbarer Aktualität in die Form einer allegorischen Quasi-Heroide vor dem Hintergrund eines reaktualisierten Troja-Mythos zu kleiden.485 Nur ein Jahr nach dem Sacco publizierte Hessus innerhalb eines siebenteiligen Kranzgedichtes mit dem Titel De tumultibus horum temporum querela zwei als Frage und Antwort aufeinander bezogene heroidenähnliche Elegien. Dabei handelt es sich um eine – ebenfalls auf die Brieffiktion verzichtende – Unterredung zwischen Cicero und der verwüsteten Ewigen Stadt. Der erste Text Roma
484 Ebd., S. 141 f. 485 Etwas ungerecht in Bezug auf die poetische Raffinesse liest sich das Urteil bei Dörrie: Der heroische Brief, S. 441: „G. Sabinus schreibt aus einer etwas wirklichkeitsfernen Rom-Liebe, ja Rom-Sehnsucht, man darf gar sagen, Rom-Romantik heraus.“
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capta. Cicero per prosopopoeiam urbem ipsam alloquitur486 folgt dem Modell einer Fiktion Petrarcas, der Briefe an die großen Autoritäten der Antike verfasst hatte, darunter einen an Cicero.487 In effektvoller Weise macht sich Hessus das im Humanismus beliebte redivivus-Motiv zunutze: Der für einige Augenblicke aus der Unterwelt beurlaubte Cicero blickt fassungslos auf sein geliebtes Rom, das er sowohl in seiner (mittelalterlich-neuzeitlichen) Umgestaltung als auch in seiner Verunstaltung und Zerstörung kaum wiedererkennt. Voll Schmerz erkundigt er sich nach dessen Schicksal, das er selbst einst als Staatsmann lenken durfte. In Form längerer Aufzählungen fragt er nach den alten Tempeln und Heiligtümern, nach den Helden und Feinden des römischen Volkes und äußert beklommen seine vorläufigen Befürchtungen (41–48): Non externa tibi iam vis fuit ulla timenda Exitio poteras sola fuisse tibi. […] Quam vereor ne, quod tota ratione timebam, Sit privata tuas nacta Tyrannis opes. Vom Ausland her hattest du keinen Angriff mehr zu befürchten: einzig du hättest dir zum Verderben werden können. […] Wie sehr befürchte ich, was ich mit all meinem Sinnen und Denken befürchtet, daß die Tyrannei eines Einzelnen sich der Herrschaft über dich bemächtigt hat!
Bürgerkrieg und Tyrannis – seit der Vertreibung des letzten Königs die größten Schrecknisse republikanisch denkender Römer. Selbst Ciceros Versuche, sich über seine Bestürzung mit dem allgemeinen Wandel des Schicksals zu trösten ([…] quoniam sors omnia mutat/ Te quoque mutari quis potuisse neget?), bieten ihm keine Erklärung dafür, weshalb sich die Weissagungen der alten Götter, dass Rom ewig stehen solle, offenkundig nicht bewahrheitet haben. Gespenstische Gestalten, welche das Rechtswesen verwalten, erregen sein Entsetzen (69–70): Quas pro consulibus video tibi dicere larvas Iura Lycaonia frigidiora nive? Was für Larven sehe ich an Stelle der Konsuln dir Rechtssprüche erteilen, die noch kälter sind als lykaonischer Schnee?
486 In: Helius Eobanus Hessus: Dichtungen. Lateinisch und Deutsch. Hrsg. und übersetzt von Harry Vredeveld. Bd. 3. Dichtungen der Jahre 1528–1537. Bern u. a. 1990 (Mittlere Deutsche Literatur in Neu- und Nachdrucken 39), S. 56–63. 487 Rener: Quoniam sors omnia mutat. Zwei Elegien des Helius Eobanus Hessus zum sacco di Roma. In: Heidi Marek u. a. (Hrsg.): Metamorphosen. Wandlungen und Verwandlungen in Literatur, Sprache und Kunst von der Antike bis zur Gegenwart. Festschrift für Bodo Guthmüller zum 65. Geburtstag. Wiesbaden 2002, S. 111–127, hier S. 111.
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Nun erhärtet sich sein Verdacht, dass entweder sein eigener Mörder Antonius zugleich mit ihm auch die Stadt ausgelöscht oder der damals geschickt zwischen den Parteien lavierende junge Octavian (hic puer) den Kampf um die Herrschaft gewonnen habe. Wie dem auch sei – Cicero bereut, sich den Anblick seiner einstigen Wirkungsstätte, nunmehr „stygische Sümpfe“, zugemutet zu haben und wendet sich resigniert ab mit dem Wunsch, ein zweites Mal sterben zu dürfen. Im folgenden Text Roma capta Ciceroni respondet488 erhält der Unglückliche seine geforderten Auskünfte. Unter Tränen bittet Roma um Nachsicht für ihren beschämenden Zustand, welchen sie teils durch fremde Gewalt, teils durch eigene Schuld erlangt habe. Zunächst gesteht sie ein, tatsächlich unter dem „Jüngling“ Octavian/Augustus ihre althergebrachte Staatsform geändert zu haben, beteuert aber, dies sei vorerst nicht zu ihrem Nachteil geschehen. Augustus’ Herrschaft habe ihr vielmehr eine Blütezeit in Frieden und Ruhm beschert, seine Nachfolger hingegen hätten sie dem Untergang nähergebracht. Mehr noch, im Laufe der Jahrhunderte sei sie immer wieder in fremde Hände geraten und Zankapfel rivalisierender Mächte geworden. Sie bittet Cicero, nicht länger nach dem Kapitol, nach Jupiter und Quirinus zu suchen, und bekennt ihre Bekehrung zu Christus, dem einzig wahren Gott. Voll Erbitterung beantwortet sie Ciceros Frage nach ihren gespenstischen neuen Rechtsverwaltern (71–84): Nunc quia, quae cernis, praesentia scire volebas Qua sint, et cuius, vulnera facta manu Quas pro consulibus larvas mihi iura ferebas Dicere Sithonia frigidiora nive Hii mihi prima mali labes et caussa fuerunt Hac mea maiestas mortua peste iacet Hii me fraude nova captam tenuere tot annis Fraus nova praetextus Relligionis erat. […] Prodiga gens fideique malae, fraudumque ministra Hoc mea iamdudum nomine sceptra tenet. Also, weil du ja wissen wolltest, von welcher und wessen Hand mir die gegenwärtigen Wunden, die du deutlich erkennst, geschlagen wurden: die Larven, von denen du sagtest, sie erteilten mir an Stelle der Konsuln Rechtssprüche, die noch kälter seien als sithonischer Schnee, sie sind es, die mir des Unheils Urquell und Ursache waren. Dieser Seuche zufolge liegt meine Majestät nun erloschen da. Sie sind es, die mich schon so viele Jahre lang durch einen neuen Betrug gefangenhalten, und zwar unter dem Deckmantel der Religion. […] Dieses ebenso abergläubische wie betrügerische Volk führt nun unter jenem Vorwand schon seit langem das Zepter über mich.
488 In: Helius Eobanus Hessus: Dichtungen. Bd. 3, S. 62–71.
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Roma entrüstet sich über die Auswirkungen der gefälschten Konstantinischen Schenkung und den perfiden Umgang der Päpste mit der edlen Gutgläubigkeit der deutschen Kaiser. Damit ist der Übergang zu einem komplexen und ambivalenten Thema gegeben, nämlich zu Reformation und Sacco. So sehr Roma die Wiederherstellung der reinen Lehre und den Widerstand gegen die Kurie auch begrüßt, so sehr muss sie die grausamen Methoden der Ausführung beklagen, deren Opfer sie ja ist. Von daher hat sie ein zwiespältiges Verhältnis zu dem eigentlich geschätzten Deutschland, dessen explizite Anrede unter dem Namen Germania wohl auch hier als Ansatz zu einer Allegorisierung verstanden werden kann. Diesen inneren Konflikt verdeutlicht Roma (99–112): Heu nunquam tentata bonis Germania Divis Quam premis alterius non mea culpa fuit Odisti cupidi lucrosa negocia Papae Hic tibi, quem merito persequerere, fuit […] Non odit generosa meum Germania nomen Odit rodentes viscera nostra lupos Quos ego dum foveo, quamvis invita, feroque Non possum nulla parte fuisse nocens Ergo diu desueta, novo commota furore In me sanguinea corripit arma manu. Ach, Deutschland, das man noch nie mit Hilfe guter Götter angegriffen hat! Die Schuld, die du bestrafst, ist die eines anderen, nicht die meine! Du haßtest die gewinnreichen Geschäfte des geldgierigen Papstes: der war es ja, den du mit gutem Recht bekämpftest. […] Nicht mich haßt das edelmütige Deutschland, es haßt die Wölfe, die meine Eingeweide benagen. Indem ich sie aber, wie widerwillig auch immer, bei mir hege und dulde, konnte ich nicht umhin, in gewißer Hinsicht strafbar zu werden. So hat denn das vor unerhörter Wut rasende Deutschland die längst entwöhnten Waffen mit blutiger Hand gegen mich aufgegriffen.
Roma berichtet, wie sie von Fama erstmals vom bevorstehenden Ansturm der deutschen Truppen erfuhr und Abwehrmaßnahmen treffen wollte. Doch der vom Schicksal vorgenommene Austausch ihrer einstigen Helden auf Schlachtfeld und Forum gegen die verhassten, wenig männlichen Vertreter der Kurie hat sie wehrlos gemacht. Statt Schwadronen besitzt sie nur Bullen, statt Legionen päpstliche Dekrete. Daher musste sie das heraufziehende Unheil erleiden, welches ihr, durch einzelne Anwandlungen von Erbarmen noch grausamer als durch bloßes Morden, Reste eines nicht mehr lebenswerten Lebens übriggelassen hat. Sie beweint ihren Sturz, den sie für unumkehrbar hält, und richtet dankbare, aber resignierte Abschiedsworte an ihren einstigen Beschützer Cicero, der, ohne Abhilfe bringen zu können, in die Unterwelt zurückkehren muss.
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Auch hier klagt eine Roma afflicta einer prominenten männlichen Führungsgestalt ihr Leid. Auch hier wird wieder eine Paarkonstellation von Roma und ihrem (einstigen) Staatslenker – der allerdings nach republikanischem Ethos gerade nicht ihr „Herr“ sein wollte – durchgespielt. Diesmal steht allerdings nicht der Aspekt der Rettung oder Wiederherstellung, sondern derjenige der Desillusionierung und Hoffnungslosigkeit im Zentrum, denn der über 1500 Jahre zuvor ermordete Cicero kann, wie Roma selbstverständlich weiß, aus der Unterwelt keine Hilfe mehr bringen. Beiden Roma-Gestalten haftet insofern etwas Ambivalentes an, als sie Opfer von Krieg und Zerstörung, aber nicht zuletzt auch ihrer eigenen Zwietracht sind. Unschuldig – und doch auch wieder nicht, da sie die verderbenbringende Herrschaft des Papstes und seiner Anhänger dulden (müssen). Es scheint, dass der Sacco di Roma das Movens für eine Weiterentwicklung und Aktualisierung der zuvor schon sporadisch von Petrarca und Hutten/Hessus realisierten Roma-Heroide bzw. heroidenähnlichen Roma-Klage darstellt. Von daher dürfte es 1529 für den in poetischer Produktion bereits nicht mehr unerfahrenen jungen Sabinus nur einen kleinen Schritt bedeutet haben, der Roma afflicta nun auch in einem eigenständigen Gedicht eine Germania afflicta gegenüberzustellen, zumal ihm ja als inhaltliches Material die Deutschland-Konzepte anderer Humanisten und auch die (durchaus schon politisierte) Germania-Allegorie in verschiedenen Bild- und Textgattungen zur Verfügung standen.
3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen 3.1 16. Jahrhundert. Lateinische Texte 3.1.1 Georg Sabinus (1508–1560) Germania ad Caesarem Ferdinandum (1529) Mit der vorliegenden Epistel Germania ad Caesarem Ferdinandum unternimmt Georg Sabinus den im vorigen Kapitel bereits erwähnten Versuch, das Modell der patriotisch-allegorischen Heroide für die Klage einer personifizierten Germania anstelle der Roma oder Italia nutzbar zu machen und somit eine deutsche Variante des poetischen Sendschreibens zu begründen.1 Sabinus gilt neben Johannes Stigelius und Simon Lemnius als das prominenteste Mitglied des älteren Witten-
1 Zu Sabinus generell Georg Ellinger: Geschichte der neulateinischen Literatur Deutschlands im sechzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Die neulateinische Lyrik in der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts. Berlin / Leipzig 1929, S. 67–75; Heinz Scheible: Georg Sabinus (1508–1560). Ein Poet als Gründungsrektor. In: Dietrich Rauschning und Donata von Nerée (Hrsg.): Die Albertus-Universität zu Königsberg und ihre Professoren. Aus Anlaß der Gründung der Albertus-Universität vor 450 Jahren. Berlin 1995 (Jahrbuch der Albertus-Universität zu Köngisberg/Preußen 29, 1994), S. 17–31; Lothar Mundt: Die Lehrtätigkeit des Sabinus an der Universität Königsberg. In: Hanspeter Marti und Manfred Komorowski (Hrsg.): Die Universität Königsberg in der Frühen Neuzeit. Köln u. a. 2008, S. 77–115; Max Töppen: Die Gründung der Universität zu Königsberg und das Leben ihres ersten Rectors Georg Sabinus. Königsberg 1844; Adalbert Schröter: Georg Sabinus und Johann Stigelius. In: Adalbert Schröter (Hrsg.): Beiträge zur Geschichte der neulateinischen Poesie Deutschlands und Hollands. Berlin 1909, S. 128–164; Wilhelm Kühlmann u. a. (Hrsg.): Humanistische Lyrik des 16. Jahrhunderts. Lateinisch-Deutsch. Ausgewählt, übersetzt, erläutert und herausgegeben von Wilhelm Kühlmann, Robert Seidel und Hermann Wiegand. Frankfurt am Main 1997 (Bibliothek der Frühen Neuzeit 5), S. 499–539; 1240–1270; Wilhelm Kühlmann / Werner Straube: Zur Historie und Pragmatik humanistischer Lyrik im alten Preußen: Von Konrad Celtis über Eobanus Hessus zu Georg Sabinus. In: Klaus Garber u. a. (Hrsg.): Kulturgeschichte Preußens in der Frühen Neuzeit. Tübingen 2001 (Frühe Neuzeit 56), S. 657–736; Wilhelm Kühlmann: Der Poet und das Reich – Politische, kontextuelle und ästhetische Dimensionen der humanistischen Türkenlyrik in Deutschland. In: Bodo Guthmüller und Wilhelm Kühlmann (Hrsg.): Europa und die Türken in der Renaissance. Tübingen 2000 (Frühe Neuzeit 54), S. 193–227; Wilhelm Kühlmann: Der Kaiser und die Poeten. Augsburger Reichstage als literarisches Forum. In: Gernot Michael Müller (Hrsg.): Humanismus und Renaissance in Augsburg. Kulturgeschichte einer Stadt zwischen Spätmittelalter und Dreißigjährigem Krieg. Berlin / New York 2010, S. 119– 133; John L. Flood: Poets Laureate in the Holy Roman Empire. A Bio-bibliographical Handbook. Bd. 4. Berlin / New York 2006, S. 1778–1787. https://doi.org/10.1515/9783110788754-003
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berger Dichterkreises um Philipp Melanchthon2 und als einer der bedeutendsten Vertreter der lateinischen Reichstagspoesie.3 Die akademische und diplomatische Karriere des 1508 in Brandenburg an der Havel geborenen Georg Schuler dokumentiert auf eindrucksvolle Weise, welche beruflichen Möglichkeiten einem bürgerlichen Gelehrten im 16. Jahrhundert offenstanden. 1523 begann der kaum Sechzehnjährige sein Studium der Rechte und der alten Sprachen in Wittenberg und fand dort freundschaftliche Aufnahme in das Haus Melanchthons, der später sein Schwiegervater werden sollte. Von Anfang an verschrieb sich der junge Georg Schuler der lateinischen Poesie, insbesondere seinem Lieblingsdichter Ovid, den er mit großem Geschick interpretierte und imitierte. Nach dem Vortrag eines besonders gut gelungenen Gedichts im Freundeskreis hielt er sich für würdig, seinen Nachnamen in Sabinus zu ändern,4 vermutlich in Anspielung auf einen von Ovid in den Amores und den Epistuale ex Ponto genannten,5 sonst aber nicht weiter erwähnten dichtenden Freund.6 Dem hilfsbereiten Melanchthon verdankte er seine intellektuelle und künstlerische Förderung, aber auch die Bekanntschaft
2 Ellinger: Neulateinische Literatur. Bd. 2, S. 65. 3 Er gehört zu den produktiven und prominenten Autoren, anhand deren sich der (tatsächlich oder potentiell) öffentlichkeitsrelevante Charakter der humanistischen Dichtung, insbesondere der Reichstagspoesie, exemplarisch illustrieren lässt. Vgl. dazu die grundlegenden Ausführungen bei Wilhelm Kühlmann: Reichspatriotismus und humanistische Dichtung, S. 97 ff.; Der Kaiser und die Poeten, S. 128 ff.; Kühlmann / Straube, S. 682–691. Vgl. auch Friedrich Hermann Schubert: Die deutschen Reichstage in der Staatslehre der frühen Neuzeit. Göttingen 1966 (Schriftenreihe der historischen Kommission der bayerischen Akademie der Wissenschaften 7) passim, bes., S. 175 f., 209 ff., 230 f. 4 Töppen, S. 21 f. 5 Ovid erwähnt diesen sonst nicht weiter bekannten Freund in Ov. am. 2, 18, 27–34 und in Ov. Pont. 4, 16, 13–16. Aus der ersten Textstelle geht hervor, dass er auf Ovids Heroidendichtung reagiert, indem er mindestens sechs der dort vorkommenden männlichen Briefempfänger, nämlich Odysseus, Hippolytos, Aeneas, Demophoon, Jason und Phaon, Antworten an die jeweiligen Partnerinnen verfassen lässt. Die zweite Stelle besagt, dass er einen Odysseus-Brief gedichtet und über der Abfassung eines anderen größeren Werkes vorzeitig verstorben sei. Unter dem Namen eines A. Sabinus sind tatsächlich drei sehr anspruchsvoll und reizvoll komponierte Männerantworten überliefert, nämlich von Odysseus, Demophoon und Paris (an Oenone). Timo-Christian Spieß: Die Sabinus-Briefe. Humanistische Fälschung oder antike Literatur? Einleitung – Edition – Übersetzung – Kommentar. Trier 2012 (Bochumer Altertumswissenschaftliches Colloquium 86) gelangt aufgrund einer stilistischen Untersuchung zu der Annahme, dass der Verfasser wahrscheinlich weder mit einem Dichter der augusteischen Zeit, also Ovids Freund, noch mit dem Humanisten Angelus Sabinus identisch sei, sondern am ehesten noch der sogenannten Silbernen Latinität zugerechnet werden könne, da er große Vertrautheit mit Seneca und dessen Zeitgenossen beweise, davon aber einen sehr selbständigen, über bloße Imitation weit hinausgehenden Gebrauch mache. 6 Kühlmann: Humanistische Lyrik, S. 1240.
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mit einflussreichen Personen des öffentlichen Lebens. So begleitete er seinen Mentor zu den Reichstagen nach Speyer (1529), Augsburg (1530) und Regensburg (1541).7 Zusammen mit Melanchthons Bericht über den Reichstag von Augsburg durfte der junge Sabinus eigene Gedichte drucken lassen, die er dann 1538 in eine Sammlung unter dem Titel Poemata aufnahm (weitere Auflagen 1544 und 1558).8 Ehrgeizig, wie er war, nutzte er seinen Italienaufenthalt (1533–1534) zum Aufstieg in die Gesellschaft von weltlichen und geistlichen Würdenträgern, ließ sich aber von der neuen Umgebung auch künstlerisch inspirieren, wie beispielsweise sein Hodoeporicon itineris Italici, ein elegisches Reisegedicht zeigt. Zu einem besonderen persönlichen Erlebnis wurde für ihn die Bekanntschaft mit dem großen Gelehrten und späteren Kardinal Pietro Bembo; seiner Reputation dienten die Ernennung zum poeta laureatus, Ritter und Pfalzgrafen 1532 in Venedig durch Hieronymus Aleander, den Erzbischof von Brindisi, sowie offenbar die Erlangung des Doktorgrades des Rechtes.9 Bei der Rückkehr aus Italien traf er in Freiburg den sowohl in Humanistenkreisen als auch an Fürstenhöfen in ganz Europa verehrten Erasmus.10 Nicht lange danach im November 1536 heiratete Sabinus in Wittenberg Anna Melanchthon, die erst vierzehnjährige Tochter seines Lehrers, und führte mit ihr fortan eine wenig glückliche, konfliktreiche Ehe.11 1538 wurde er Professor der Poesie und Beredsamkeit an der Universität Frankfurt/Oder (Viadrina), 1544 avancierte er zum ersten Rektor der von Herzog Albrecht von Preußen gegründeten Universität Königsberg.12 Aufgrund persönlicher Konflikte mit den Kollegen kehrte Sabinus 1555 nach Frankfurt/Oder zurück und bewährte sich dort auch in diplomatischer Mission. Im Auftrag des Kurfürsten Joachim II. von Brandenburg vermittelte er erfolgreich zwischen den Brandenburger Hohenzollern und dem polnischen Königshaus, bis er 1560 kurz nach einer weiteren Italienreise an einer Krankheit verstarb. Georg Ellinger erachtet die historischen und philologischen Leistungen des Sabinus für unbedeutend, hält jedoch dessen Erklärungen zu Ovids Metamorpho sen, die auf eine moralische Nutzanwendung abzielen,13 für ein aufschlussreiches
7 Ebd., S. 1240. 8 Scheible: Georg Sabinus, S. 18. 9 Ebd., S. 18 f; Flood. Bd. 4, S. 1778. 10 Flood. Bd. 4, S. 1778. 11 Ellinger: Neulateinische Literatur. Bd. 2, S. 68; Flood. Bd. 4, S. 1778. Vgl. auch Robert Seidel: Lutherische Ehelehre und antikisierende Epithalamiendichtung – Ein Hochzeitsgedicht für Georg Sabinus und Anna Melanchthon. In: Neulateinisches Jahrbuch 9 (2007), S. 287–307. 12 Ellinger: Neulateinische Literatur. Bd. 2, S. 68. 13 Instruktive Ausführungen zu diesem Umgang mit antiken (paganen) Texten bietet Mundt, S. 81 ff.
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Zeugnis frühneuzeitlicher Didaktik.14 Sabinus genoss schon zu Lebzeiten große Wertschätzung, gilt aber auch nach dem Urteil moderner Forscher als einer der besten und produktivsten lateinischen Dichter, die Deutschland im 16. Jahrhundert aufzuweisen hatte.15 Ellinger bescheinigt ihm zwar eine glänzende formale Begabung, fühlt sich emotional aber eher von Johann Stigelius angesprochen, der offenbar den authentischen Gefühlsausdruck ästimierenden modernen Dichtungskriterien näher kommt.16 In seiner umfangreichen Kasualdichtung bedenkt Sabinus Familienmitglieder und Freunde, aber auch Fürsten und geistliche Würdenträger. Dabei sind vielfältige antike Gattungen vertreten wie Elegien, Epigramme, Eklogen und Hendekasyllaben. Wie bei den meisten deutschen Humanisten seiner Zeit bieten auch bei dem Brandenburger die negotiatio Germaniae und (damit fast regelmäßig einhergehend) antiosmanische Agitation, d. h. der Appell zur Abwehr der wieder einmal drohend dem Reich nahenden Türken einen bevorzugten Gegenstand poetischer Betätigung. Von einem besonders ambitionierten Versuch, sich als vates zum ebenbürtigen Nachfolger des verehrten Ovid zu stilisieren, war bereits in Kapitel 2.3.3. die Rede. Bei der Heroide Germania ad Caesarem Ferdinandum handelt es sich um eine frühe Dichtung des Sabinus, welche Melanchthon 1529 gemeinsam mit der Vorrede zu seinem eigenen damals geplanten und ursprünglich König Ferdinand gewidmeten, dann aber erst 1543 veröffentlichten Kommentar zum Buch Daniel publizierte.17 Melanchthons Vorrede und Sabinus’ Gedicht entstanden anlässlich des von beiden Männern gemeinsam besuchten, für die Lutheraner enttäuschend endenden Reichstags von Speyer desselben Jahres; letzteres, zunächst anonym erschienen, wurde bis zu einem erneuten Druck mit Namensnennung Melanchthon selbst zugeschrieben.18 Luthers Mitstreiter setzte damals noch seine Hoffnungen bezüglich einer religiösen Einigung auf Erzherzog Ferdinand (1503–1564), den jüngeren Bruder Karls V. und späteren Kaiser Ferdinand I., seit 1527 immerhin schon König von Böhmen und Ungarn.19 Karl selbst hatte Deutschland nach dem durch die Verurteilung Luthers so berühmt gewordenen Reichstag von Worms 1521 verlassen und war den Reichsständen durch seine jahrelange
14 Georg Ellinger: Art. Sabinus, Georg S. In: ADB. Bd. 30, S. 107–111, hier S. 108. 15 Mundt, S. 77. 16 Ellinger: Neulateinische Literatur. Bd. 2, S. 75. 17 Hans Volz: Beiträge zu Melanchthons und Calvins Auslegungen des Propheten Daniel. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte 67 (1955/56), S. 93–118, hier S. 98 f., Bornkamm, S. 45; Fraenkel, S. 33; Beate Kobler: Die Entstehung des negativen Melanchthonbildes, S. 93. 18 Volz, S. 98, Anm. 23. 19 Peter Fraenkel: Fünfzehn Jahre Melanchthonforschung, S. 33.
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Abwesenheit eine Quelle andauernden Ärgers.20 Ferdinand, seit den Verträgen von Worms (1521) und Brüssel (1522) Erzherzog von Österreich, fungierte seit 1521, unterstützt durch ein neugeschaffenes Reichsregiment, als kaiserlicher Statthalter (Locumtenens). Seine Handlungsfreiheit und seine Abhängigkeit von dem seiner Politik anfänglich misstrauisch gegenüberstehenden Karl sind in der Forschung umstritten.21 In jedem Fall war der jüngere Bruder des Kaisers mit großen Schwierigkeiten konfrontiert. Schon zu Beginn seiner Herrschaft in Österreich stieß der in Spanien erzogene „Fremdling“, der deutschen Sprache und Sitten unkundig, auf den Widerstand der Reichsstände und erregte, ähnlich wie Karl, Argwohn durch die Abhängigkeit von seinen spanischen und niederländischen Beratern.22 Zwar dominierten während Ferdinands gesamter Regierungszeit Spanier am Hof, doch fanden ab der zweiten Hälfte der 1520er Jahre auch Deutsche aus den Erblanden und dem Reich in größerer Zahl Zugang zu bedeutenden Ämtern.23 Nach dem unglücklichen Ausgang der Schlacht gegen die Türken bei Mohács (29. August 1526), welche den noch jugendlichen ungarischen König Ludwig II., seinen Schwager, das Leben kostete, gelang es Ferdinand, am 24. Februar 1527 die böhmische, am 3. November desselben Jahres die ungarische Krone zu erlangen. Doch mit diesem beträchtlichen Machtzuwachs erbte er auch die anspruchsvolle Aufgabe, die Grenzen des Reichs gegen die immer wieder andringenden Osmanen zu verteidigen – ein Unternehmen, an dem ihm zwar aus religiöser Überzeugung von je her gelegen war,24 das aber der mehr auf Spanien und den Mittelmeerraum fokussierte Karl weitgehend ihm allein überließ.25 Am 15. März 1529 eröffnete Ferdinand in Speyer den für die Protestanten so ungünstig verlaufenden Reichstag, auf welchem er sowohl in außenpolitischer als auch in religionspolitischer Hinsicht effizientere Maßnahmen durchzusetzen versuchte. Die Reichsstände sollten einerseits zur Finanzierung der Abwehr der Osmanen (Türkenhilfe), andererseits zur Unterdrückung der fortschreitenden reformatorischen Bestrebungen im Reich verpflichtet werden. Für Melanchthon, der seinen damaligen Landesherrn, den Kurfürsten Johann den Beständigen von Sachsen, als theologischer Berater dorthin begleitete (und seinerseits wiederum mit Sabinus mindestens einen Schüler mit sich nahm), bedeutete dies den Ein-
20 Sutter Fichtner: Ferdinand I., S. 41 f. 21 Sicken, S. 57 sieht Ferdinands damalige Rolle auf die eines reinen Administrators beschränkt; eine ausführliche Aufzählung von Ferdinands selbständigen und effizienten Erneuerungsmaßnahmen auf zahlreichen Gebieten liefert Berthold Sutter, S. 55 ff. 22 Sutter Fichtner: Ferdinand I., S. 36 ff. 23 Rauscher, S. 20. 24 Sutter Fichtner: Ferdinand I., S. 10 f. 25 Ebd., S. 57.
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tritt in die Welt der großen Politik.26 Er musste erkennen, dass sich die Situation für die Protestanten dort weit bedrohlicher darstellte als erwartet: Ferdinand selbst kündigte in einer Proposition im Namen des Kaisers ein kompromissloses Vorgehen an; zahlreiche Bischöfe sowie der königliche Hofprediger Johannes Fabri (Faber) demonstrierten offensiv ihre Loyalität gegenüber der römischen Kirche. Melanchthon glaubte, bei Ferdinand selbst für die Akzeptanz der Lutheraner oder zumindest für eine konziliantere Haltung werben zu müssen,27 und da er, ohnehin um eine eschatologische Deutung der Türkengefahr bemüht,28 gerade an einem Kommentar zum Propheten Daniel arbeitete, publizierte er Anfang April noch vor der Veröffentlichung desselben29 eine längere lateinische Widmungsvorrede an den König.30 Ob dieser sie jemals zu Gesicht bekam, bleibt allerdings fraglich.31 Der Druck des auf innerkirchliche Vermittlung abzielenden (damals schon geschriebenen oder nicht geschriebenen) Kommentars erübrigte sich jedenfalls aufgrund der im Verlaufe des Reichstags immer deutlicher hervortretenden Spaltung zwischen den konfessionellen Lagern.32 Durch die erst am 19. April mündlich, dann am 20. April schriftlich eingereichte feierliche Protestation gegen den Vollzug des Wormser Edikts von 1521 (Ächtung Luthers) absolvierte die neugläubige Minderheit einen weiteren Schritt bei ihrer offiziellen Formierung zu einer geschlossenen Partei.33 Insofern verdankten die „Protestanten“, wie sie fortan hießen, dem Scheitern der Verhandlungen ihren Namen. Wenn also Melanchthons Widmungsvorrede auch innerhalb weniger Tage ihre unmittelbare Aktualität einbüßte, so dokumentiert sie doch die Erwartungen des Wittenbergers zu jenem Zeitpunkt sowie sein grundsätzliches Verständnis vom Amt eines
26 Volz, S. 95; Scheible: Danielbuch, S. 295; Kobler, S. 86 f. 27 Volz, S. 95 f. bescheinigt ihm in dieser Hinsicht Weltfremdheit. 28 Scheible: Danielbuch, S. 294 f.; Grimmsmann, S. 88 f. 29 Ob der damals angekündigte Kommentar zu diesem Zeitpunkt schon geschrieben war oder überhaupt jemals geschrieben wurde und ob er als Grundlage für den dann tatsächlich 1543 erschienenen Kommentar diente, führt in der Forschung zu unterschiedlichen Annahmen. Vgl. Volz; S. 96, 102 ff.; Bornkamm, S. 45; Fraenkel, S. 33; Scheible: Danielbuch, S. 294. 30 Danielis Enarratio Praefatio ad Regem Ferdinandum. Hagenau 1529. Im Folgenden zitiert nach: Inclyto regi Hungariae ac Bohemiae, archiduci Austriae, domino Ferdinando, domino suo clementissimo, Philippus Melanchthon. S. D. In: Heinz Scheible: Melanchthons Briefwechsel. Kritische und kommentierte Gesamtausgabe. Bd. T 3. Bearbeitet von Richard Wetzel. Stuttgart-Bad Cannstatt 2000, Nr. 769, Sp. 476–480. 31 Volz, S. 107, Anm. 39; Scheible: Danielbuch, S. 296; Kobler, S. 91. 32 Volz, S. 106 f.; Fraenkel, S. 33. 33 Noch größere Bedeutung sollte dann die im Wesentlichen von Melanchthon ausgearbeitete, 1530 beim Reichstag in Augsburg eingereichte und von den Katholiken eindeutig verworfene Confessio Augustana erhalten.
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Königs und bietet den ideellen Bezugspunkt für den poetischen Text des Sabinus. Daher empfiehlt sich eine kurze Betrachtung. Zunächst legt Melanchthon im Rahmen einer allgemeinen captatio benevolentiae unter geläufigen Lobesbekundungen an den Adressaten dar, dass er den Daniel-Kommentar als eine Art christlichen Fürstenspiegel verstanden wissen wolle. Ein Herrscher müsse sich den Künsten und Wissenschaften widmen, da er ohne sie nicht zu der für ihn erforderlichen perfecta sapientia gelangen könne. Während aber auch schon die antiken (paganen) Philosophen in ihren Schriften über Staatslenkung und Regierung in weiser Erkenntnis alles ausgeführt hätten, was mit menschlichem Verstand geleistet werden könne, lehre erstmals der Prophet das allem übergeordnete Prinzip, nämlich Gottvertrauen und Gottesfurcht. Auch Entstehung und Untergang von bedeutenden Völkern und Weltreichen beruhten nicht lediglich auf menschlichem Wirken oder Zufall, sondern auf Gottes Willen. Immerhin seien mit der Vision des Propheten Daniel von der Abfolge der vier Weltreiche tröstliche Hinweise auf Gottes (sonst eher verborgene) Absichten gegeben, und zwar gerade mit Bezug auf eine weithin anwachsende Schreckensherrschaft, welche es als „Sarazenen- und Türkenreich“ (Saracenicum ac Turcicum regnum) zu identifizieren gelte. Voluit autem Propheta consolari pios, ne gloria impii imperii offensi abiicerent, ne putarent se casu aut ignorante Deo adfligi, ne foelicitatem illam tyrannidis fore perpetuam arbitrarentur, postremo, ut scirent etiam, cum illud regnum in fastigio stabit, brevi venturum esse Christum ad iudicandos vivos ac mortuos.34 Der Prophet aber wollte die Frommen trösten, damit sie nicht erbittert über den Erfolg des gottlosen Reiches den Glauben aufgeben, denken, sie würden aus Zufall oder ohne Gottes Wissen von Leid heimgesucht, oder meinen, der Erfolg jener Tyrannei werde ewig dauern, sondern damit sie wissen, dass, wenn jenes Reich einst auf der Höhe steht, Christus bald kommen wird, um die Lebenden und Toten zu richten.35
Daher dürfe Ferdinand wohl Gefallen an der so nützlichen, nun in Form eines Kommentars erleichterten Daniel-Lektüre finden. Etwa nach der Hälfte der Rede kommt Melanchthon auf seinen speziellen Anlass zu sprechen, nämlich auf den Umgang mit den Lutheranern (qui sacras literas pure tractant). Diese würden von einigen Denunzianten (sycophantae) überall mit Hass verfolgt und bei den Fürsten verleumdet. Es diene nicht nur der Gerechtigkeit, sondern auch dem öffentlichen Frieden, wenn Ferdinand ihre Lehre überhaupt erst richtig kennenlernen wolle, bevor er über sie urteile. Melanchthon erbietet sich, ihn damit vertraut zu machen, und fügt einen konkreten Vorschlag hinzu: 34 MBW T 3, Nr. 769, Sp. 477. 35 Übersetzung T. B.
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Maxime optant omnes, ut synodus cogatur; sed, si hoc tam turbulentis temporibus fieri non potest, tamen meo iudicio ita consuli posset ecclesiae concordiae, si aliquot probis ac doctis viris authoritate summorum principum committeretur, ut de dogmatibus iudicarent.36 Am meisten wünschen sich alle, dass ein Konzil einberufen werde; wenn das aber in diesen unruhigen Zeiten nicht möglich ist, könnte man meiner Ansicht nach für die Eintracht der Kirche sorgen, indem man einigen fähigen und gelehrten Männern mit Vollmacht der höchsten Fürsten genehmigen würde, über die Dogmen zu entscheiden.
Im Laufe der Jahrhunderte seien nun einmal zahlreiche Irrtümer in die Kirchenlehre eingedrungen und hätten diese teilweise bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Wer aber die geistliche oder weltliche Regierung innehabe, müsse vor allem gewährleisten, dass dem Volk die Lehre Christi in möglichst reiner Form dargeboten werde. Eine gottgefälligere, ruhmreichere oder des habsburgischen Namens würdigere Aufgabe könne Ferdinand nicht auf sich nehmen. Wenn er die Zwietracht im Reich beigelegt habe, dann werde ihm Gott dafür Beistand bei all seinen Plänen gewähren. Wer aber glaube, die Beilegung der Zwietracht bestehe in der gewaltsamen Unterdrückung der jeweils gegnerischen Seite – hier formuliert Melanchthon bewusst unpersönlich –, der begehe einen großen Fehler. Melanchthon versichert, nicht als Anwalt einer Partei auftreten zu wollen, und verwahrt sich explizit gegen alle Missbräuche des Evangeliums zu eigennützigen oder aufrührerischen Zwecken. Er schließt mit wiederholten Hinweisen auf den unvergänglichen Ruhm bei der Nachwelt, den Ferdinand erwerbe, wenn er der Kirche Eintracht und Frieden wiedergebe. Der an diese Rede anschließende Text, Sabinus’ nur 51 Distichen umfassende Heroide Germania ad Caesarem Ferdinandum,37 ist vermutlich nicht nur das älteste,38 sondern neben Paul Flemings Schreiben vertriebener Frau Germanien an ihre Söhne (1631), mit welchem sie oft verglichen wird, auch das bekannteste Beispiel für einen poetischen Brief, der einer allegorisierten Germania in den Mund gelegt wird.39 In komprimierter Form enthält sie fast alle Themen und Topoi, die in derartigen Heroiden des 16. (z. T. auch des 17.) Jahrhunderts begegnen: Klage über gegenwärtige Leiden, insbesondere bürgerkriegsähnliche Unruhen, Konstruktion eines ruhmreichen germanischen Ersatzaltertums, Arminius-Kult und eine aus biblischen und römischen Stereotypen gespeiste Feindrhetorik.
36 MBW T 3, Nr. 769, Sp. 478–479. 37 Elegie 1, 4, hier zitiert nach Poemata Georgii Sabini, S. 14–18. 38 Dörrie: Der heroische Brief, S. 456. 39 Obgleich der Titel in der Forschung des Öfteren erwähnt wird, ist der Text bisher kaum über wenige Sätze hinaus untersucht worden. Eine erste (Kurz-)Interpretation bietet jetzt R. Seidel: Germania: Nationale Identität, S. 254–256.
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Sabinus lässt, indem er nach dem Vorbild seines Lehrers Ferdinand zum Adressaten wählt, seine Germania also an den Regenten schreiben, von dem zu jener Zeit am ehesten Maßnahmen gegen die Bedrohung des Reiches durch die Osmanen zu erwarten waren. Die ersten beiden Verse führen knapp in die Situation ein, indem sie die bedingungslose Abhängigkeit einer Bittflehenden vom Adressaten zum Ausdruck bringen: Hanc afflicta tibi Germania mitto salutem, Quae mihi non tribui, te nisi dante, potest.40 Schwer bedrängt sende ich, Germania, Dir dies „Heil!“, welches mir nicht zuteil werden kann, außer wenn Du es mir gibst.41
Sabinus scheint der erste zu sein, der diesen ovidischen Briefbeginn auf die nichterotische Beziehung zwischen Germania und dem jeweiligen Adressaten überträgt, denn zahlreiche Germania-Heroiden, alle später entstanden als die vorliegende, werden in ähnlicher Weise eröffnet. In welcher – verwandtschaftlichen oder freundschaftlichen – Beziehung Germania und Ferdinand zueinander stehen, kommt nicht explizit zur Sprache; doch der Gedanke an eine Mutter-Sohn-Beziehung, wie sie in den meisten derartigen Heroiden thematisiert wird, ist auch hier naheliegend. Anders als in Petrarcas Roma-Briefen oder in dem von Hutten/Hessus verfassten Briefpaar Italia/Maximilian lädt hier nichts dazu ein, an ein eheähnliches oder sonst irgend erotisch geprägtes Verhältnis zu denken. Innerhalb der ersten drei Distichen setzt Germania mit dem olim/ quondamnunc-Topos ein, nämlich mit der Klage, dass ihr einstiges Glück in Leid umgeschlagen sei, und bekräftigt dies mit dem ebenso energischen wie allgemein gehaltenen Appell: Usa diu rebus quae sum tranquilla secundis, Hoc iaceo multis tempore pressa malis: De quibus ipsa tuum supplex cum numen adoro, Ferre mihi solus qui potes, affer opem.42
40 Poemata Georgii Sabini, S. 14. Auf ein derartiges auch zuvor schon im Humanismus geläufiges Wortspiel mit salus (Gruß, Heil, Wohlergehen) in der Grußformel verweist Eickmeyer: Der jesuitische Heroidenbrief, S. 85. Zunächst begegnet es in Ov. her. 4, 1–2 (Phaedra an Hippolytus) und her. 16, 1–2, wo Paris sein seelisches Wohlbefinden von der Gunst seiner Adressatin Helena abhängig macht. Hanc tibi Priamides mitto, Ledaea, salutem,/ quae tribui sola te mihi dante potest. Außerdem in Ov. Pont, 1, 10, 1–2. 41 Übersetzung T. B. 42 Poemata Georgii Sabini, S. 14.
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Ich, die ich lange Zeit in Ruhe ein glückliches Geschick genossen habe, liege derzeit von vielen Leiden beschwert darnieder. Bring mir Abhilfe von diesen, der Du allein sie mir bringen kannst, wenn ich selbst demütig Deine Macht verehre!
Es folgt eine kurze Rekapitulation der leidvollen jüngsten Vergangenheit.43 Mit der Bitte, ihren traurigen Zustand (rerum tristis forma mearum) zu betrachten, weist Germania auf die kriegerischen Erschütterungen innerhalb ihrer eigenen Gebiete hin. Omnia dissidijs, sunt omnia plena tumultu, Illa fuit quanti res mihi caussa mali? Seruiles acies sumptis heu vidimus armis Nuper, & agrestes rure coisse manus. Testis adhuc extat miserandae Francia cladis, Tota cadaueribus squallida facta suis: Ipsaque fertilibus laudata Alsatia campis, Quae fuit in multis caede cruenta locis.44 Alles ist voll von Zwietracht, alles voll von Aufruhr, welch großes Leid hat jenes Ereignis über mich gebracht? Ach, erst kürzlich mussten wir sehen, wie Söldnerscharen in Waffen auf dem Land mit Rotten von Bauern zusammenprallten. Bis heute ist Franken Zeuge eines beklagenswerten Gemetzels, ist es doch vollkommen mit Blut überströmt von seinen eigenen Leichen, ebenso selbst das für seine fruchtbaren Felder gerühmte Elsaß, welches an vielen Orten blutig war vom Morden.
Dissidium und tumultus haben die insbesondere der frühneuzeitlichen Weltsicht so unantastbare gesellschaftliche Ordnung zerstört. Die von Germania beklagte Ursache eines derartig großen Leides wird weder beim Namen genannt noch näher definiert, doch scheint illa res auf unbeabsichtigte Begleiterscheinungen der in den 1520er Jahren immer stärker an Einfluss gewinnenden Reformation durch Luther anzuspielen. Eindeutig wird jedoch der Bezug auf die Bauernkriege von 1525 in den beiden folgenden Versen (seruiles acies, agrestes manus). Da die Bauern ihre Aufstände bekanntlich durch Berufung auf Luthers Lehren zu legitimieren suchten, liegt es nahe, in dieser Passage Germanias Entsetzen über deren irrtümliche Auslegung der Reformation zu sehen, ein Thema, welches ein anderer Freund Melanchthons, nämlich der knapp eine Generation ältere Helius Eobanus Hessus, der Sabinus auch persönlich nahestand, in seinem teils epischen, teils elegischen Gedichtkranz De tumultibus horum temporum querela breit ausführt. An mehreren Stellen beklagt Hessus die einfachen Leute, die sich aus Verblen-
43 Ebd. 44 Ebd., S. 15.
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dung und falsch verstandenem religiösem Eifer zur Gewalt gegen die Obrigkeit hinreißen lassen.45 In lexikalischer Hinsicht zunächst nicht ganz eindeutig ist die Rede von Franken – Francia könnte für sich genommen Franken oder Frankreich bedeuten –, aber Sabinus erwähnt die dort geschehene miseranda clades lediglich im Zusammenhang mit einem nicht näher bezeichneten Blutbad und reiht daran zwei Verse, die etwa dieselbe Aussage über das Elsaß treffen. Dieser Teil des Reiches war von den Bauernkriegen stark betroffen und erscheint als Schauplatz derselben auch bei Hessus.46 Hier bezieht sich auch Sabinus’ Germania auf dieses Ereignis. Die durch jeweils ein Stichwort (seruiles acies, agrestes manus, Francia, Alsatia) bezeichneten Kriege enthalten nichts Ruhmreiches und Heroisches, sondern nur Tod und Zerstörung. Germania beklagt also in diesen zehn Versen die grauenhaften Auswirkungen der gestörten Eintracht im Inneren und vertritt dabei den im Umkreis von Luther und Melanchthon gepflegten Standpunkt. Der Wittenberger Reformator zeigte sich entsetzt, dass man seine rein spirituell gemeinten Ausführungen zur Freiheit eines jeden Christen als physisch-politische Freiheit missverstanden hatte, und ging in seinem Bestreben, der weltlichen Obrigkeit zu gefallen, so weit, dass er dieselbe sogar aufrief, sich gegebenenfalls unter Anwendung rohester Gewalt gegen jegliche Empörung durchzusetzen.47 Nun konfrontiert Germania den Adressaten Ferdinand mit der Ankündigung einer aktuellen drohenden Gefahr von außen:
45 Helius Eobanus Hessus: De tumultibus horum temporum querela, V. 83 ff. In: Kühlmann: Humanistische Lyrik, S. 258–275: Ergo ferebatur caeco commota tumultu /turba furens, in seque nocens, ductoribus illis /qui male concierant, debellatura tyrannos/ Quos Evangelio infensos (hic scilicet illis/ Heu male quaesitae praetextus, & insidiosae/ Libertatis erat) se excindere posse putabat/ Sed non excisura fuit, […] (So ließ sich denn die von blindem Aufruhr ergriffene Menge wütend und zu ihrem eigenen Schaden dazu hinreißen, unter Führung derjenigen, die zum Bösen aufgewiegelt hatten, die Tyrannen niederkämpfen zu wollen. Diese Feinde des Evangeliums – das diente ihnen nämlich als Vorwand für die, ach, zum Unheil begehrte und gefährliche Freiheit – glaubte sie ausrotten zu können. Doch sie sollte sie nicht beseitigen.) 46 Helius Eobanus Hessus: De tumultibus horum temporum querela, V. 196 ff.: Namque quis expediat quibus ipsae caedibus urbes /nobilis Alsaciae, vastosque exhausta per agros /oppida crudeli prostratos marte colonos /deflerint? […](Denn wer könnte berichten, nach welch einem Blutbad sogar die Städte des gefeierten Elsaß und seine entvölkerten Marktflecken auf dem verheerten Land die vom grausamen Krieg niedergeschlagenen Bauern beweinten […].) 47 Berühmt-berüchtigt ist sein aus diesem Jahr stammendes Pamphlet Wider die mörderischen und räuberischen Rotten der Bauern.
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At pars vlla meo ne possit abesse dolori, Insuper externo nunc & ab hoste petor. Turca ferox nostras descendere fertur in oras, Alterius nobis altera caussa mali: Qui prope cuncta suis cum regna subegerit armis, Posse suo sperat me quoque marte capi.48 Aber damit meinem Schmerz kein Teil versagt bleibt, werde ich jetzt obendrein noch von einem auswärtigen Feind heimgesucht. Der unbändige Türke, sagt man, steige herab in mein Land, für mich ein weiterer Grund zu weiterem Leid. Er, der fast alle Reiche mit seinen Waffen bezwungen hat, hofft, er könne auch mich in seinem Krieg erobern.
Hier nennt sie also zum ersten Mal den konkreten Anlass des Bittschreibens, nämlich die Türkengefahr, neben der Reformation das die breite Öffentlichkeit umtreibende große Thema des 16. Jahrhunderts, welches in den zuvor skizzierten Roma- und Italia-Klagen kaum eine Rolle gespielt hatte, aber im Jahr 1529 – also einige Monate vor der Belagerung Wiens im Herbst49 – wieder einmal besonders aktuell wurde. Der Hexameter Qui prope cuncta suis cum regna subegerit armis charakterisiert den Feind als nahezu allmächtigen Eroberer, und mit einer schon in Ovids Heroides topisch gebrauchten, die wohlwollende Fürsorglichkeit des Adressaten beschwörenden Phrase Ergo si qua meae remanet tibi cura salutis nimmt Germania den bereits aus den Eingangsversen bekannten Appell affer opem wieder auf: Ferdinand soll sie vor der Gewalt des Türken retten (Affer in aduersis his mihi rebus opem), der hier wie auch in anderen Texten des 16. Jahrhunderts durch das Epitheton ferox als roher, unzivilisierter Barbar gebrandmarkt wird. In einer längeren Passage begründet Germania ihren moralischen Anspruch auf militärische Unterstützung. Ähnlich wie die erwähnten Roma- und Italia-Gestalten vor ihr glorifiziert sie ihre Vergangenheit und rühmt sich ihrer eigenen Heldentaten, die sie als bekannt voraussetzt. Dabei interpretiert sie die historischen Ereignisse zu ihren Gunsten und konstruiert so in Rivalität zum römischen ihr eigenes ruhmreiches Altertum. Semper adhuc invicta fui, nullosque per annos Ullius invenies me subijsse iugum. Roma, suis totum domuit quae viribus orbem, Nominis est nunquam laudibus aucta mei: Meque lacessiuit quoties hostilibus armis, Hanc liquet incepti poenituisse sui.50
48 Poemata Georgii Sabini, S. 14 f. 49 Vgl. dazu das Kapitel dieser Arbeit 3.1.5 Caspar Ursinus Velius: Querela Austriae. 50 Ebd., S. 15.
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Immer war ich bisher unbesiegbar; Du wirst sehen, dass ich im Laufe der Jahre niemals das Joch irgendeiner fremden Macht trug. Rom, welches den ganzen Erdkreis mit eigenen Kräften bezwungen, ward niemals erhöht durch den Ruhm meines Namens. Sooft es mich mit feindlichen Waffen reizte, musste es, wie man weiß, sein Vorhaben bereuen.
Germanias Erzfeind aus der Vergangenheit ist niemand anders als Rom, das ebenso wie der Türke des 16. Jahrhunderts durch rohe Gewalt seinen Anspruch auf die Weltherrschaft geltend macht. Als Modell dient Sabinus hier offenbar ein Passus aus Hessus’ Maximiliansbrief, in welchem der Kaiser Italia – wenn auch in tröstender Absicht – an all ihre einstigen Niederlagen erinnert: Nostra tuo quoties Germania milite tacta est, Incoepti poteras poenituisse tui. Nec tentata tibi gens infoelicius ulla est, Cum servam velles quae tibi nunc domina est.51 Sooft meine Germania von Deinem Soldaten angetastet wurde, konntest Du Dein Vorhaben bereuen. Kein Volk wurde von Dir jemals mit geringerem Glück angegriffen, als Du zur Sklavin haben wolltest, welche nun Deine Herrin ist.
Sabinus’ Germania ist sich also mit Hessus’ Maximilian bezüglich dieser Tatsache einig; doch die Intention dieser Behauptung ist eine andere. Während der Kaiser mit der zunächst wenig schmeichelhaft wirkenden Aufzählung von Italias Niederlagen seine Adressatin ermutigen will, das ständige Auf und Ab des Glücksrades nicht allzu wichtig zu nehmen und wieder auf bessere Zeiten zu hoffen, greift Sabinus’ Heldin die ihr so genehmen Worte aus berufenem Munde zur Selbstdarstellung als einstmals große Herrscherin auf. Dieses intertextuelle Spiel leistet zweierlei: Germania huldigt somit dem zur literarischen Gestalt überhöhten Kaiser, der Autor Sabinus dem älteren prominenten Poeten und Freund Hessus. In einem kurzen Katalog rühmt Germania ihre einzelnen Siege: In me nil potuit virtus animosa NERONIS, Funere qui Rheni nobilitauit aquas. Nil potuere tuae praestantes Uare cohortes, Quas meus Arminius depulit ense suo. Nec maris Adriaci tota cum plebe senatus Nostra suo potuit subdere colla iugo.52 Nichts vermochte gegen mich das stolze Heldentum Neros, der durch Leichenberge die Fluten des Rheins berühmt gemacht hat. Nichts vermochten, Varus, deine vortrefflichen Kohorten, welche mein Arminius mit seinem Schwert vertrieben hat. Auch der Senat mit dem gesamten Volk an der Adria konnte meinen Hals nicht unter sein Joch zwingen.
51 Helius Eobanus Hessus: Maximilianus Italiae, V. 159–162. 52 Poemata Georgii Sabini, S. 15 f.
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Rom bzw. Italien wird innerhalb des betreffenden Abschnitts in jeweils einem Distichon durch drei Vertreter repräsentiert, die alle am germanisch-deutschen Widerstand scheitern: durch Nero (d. h. Germanicus), Varus und – mit einem Sprung in Sabinus’ eigene Zeit – durch die mit den Habsburgern rivalisierende Stadtrepublik Venedig. Die größte Bedeutung kommt dabei den Varus-Versen zu, in welchen auch ein Gegner oder vielmehr d e r Gegner Roms genannt wird: Mit meus Arminius vereinnahmt Germania eine historische Gestalt als eigenen nationalen Helden. Sabinus knüpft hier an die humanistische Begründung des Arminius- bzw. Hermannskultes an, welcher auf der Entdeckung der ersten Bücher der Annalen des Tacitus 1515 basiert.53 Die beiden Varus-Arminius-Verse sind ein früher Beleg für die deutsche Inanspruchnahme des streitbaren Cheruskerfürsten, der spätestens seit Tacitus den Nachruf eines liberator haud dubie Germa niae54 genießt. Als eigentlicher „Geburtshelfer des Arminiusmythos“ gilt Hutten mit seinen 1529 postum publizierten Totengesprächen, wo Arminius zum Wettstreit um Ehrentitel antritt gegen andere, noch vor seiner Zeit lebende Helden der Antike wie Alexander, Scipio und Hannibal.55 Dennoch scheint sich Sabinus auch hier wieder gattungsintern an dem Briefpaar Italia-Maximilian von 1516 orientiert zu haben, welches ja allerdings ebenfalls teilweise aus Huttens Feder stammt. Huttens Italia klagt ihrem zum Retter auserkorenen Adressaten: Me ferus Arminius sumptis afflixit in armis Invictoque meas pectore fregit opes.56 Mich hat in Waffen der wilde Arminius bedrängt und mit unbezwingbarem Mut meine Macht gebrochen.
Die Germania des Sabinus ergeht sich zwar nicht in langen Ausführungen über diesen Mythos, wie es andere Dichter zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert mit Vorliebe tun,57 bringt jedoch in diesen zwei Versen den darin enthaltenen Grundgedanken der erfolgreichen Vaterlandsbefreiung zum Ausdruck. Obgleich in den antiken Quellen – wenn auch auf unterschiedliche Weise – von einem Angriff der Germanen aus dem Hinterhalt die Rede ist und der römische Statthalter 53 Wehrli, S. 143. 54 Tac. ann. 2, 88. 55 Wehrli, S. 143. Zu Huttens Dialog vgl. R. Seidel: Germania: Nationale Identität, S. 248–251. 56 Ulrich von Hutten: Italia Maximiliano, V. 87–88. 57 Eine ausführliche Aufzählung von Dichtern, die Arminius ein Denkmal setzen, bietet Henning Buck: Der Literarische Arminius – Inszenierungen einer sagenhaften Gestalt. In. Wolfgang Schlüter (Hrsg.): Kalkriese – Römer im Osnabrücker Land. Archäologische Forschungen zur Varusschlacht. 2. überarbeitete Auflage. Osnabrück 1993, S. 267–281. Vgl. auch Martina Wagner-Egelhaaf (Hrsg.): Hermanns Schlachten. Zur Literaturgeschichte eines nationalen Mythos. Bielefeld 2008 (Veröffentlichungen der Literaturkommission für Westfalen 32).
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
Publius Quinctilius Varus aufgrund seines anmaßenden Auftretens einerseits und seiner Leichtgläubigkeit andererseits zu einem großen Teil für die Niederlage verantwortlich gemacht wird,58 evoziert jeweils ein summarisch gestaltetes Distichon sowohl bei Hutten als auch bei Sabinus die Vorstellung von einem fairen Kampf in offener Schlacht. Varus, obgleich nach dem Zeugnis des Velleius Paterculus ein unzulänglicher Feldherr,59 wird von Sabinus’ Germania in derart knapper Form im Zusammenhang mit seinen praestantes cohortes apostrophiert, dass der Adressat nur angriffslustige „Haudegen“ vor sich sieht, auf keinen Fall aber Männer, die durchaus auch zivile Aufgaben verrichten. Diesen Aggressoren stellt Germania ihren eigenen Helden(sohn) meus Arminius als herkulischen Einzelkämpfer gegenüber, der nicht wie bei Ovid fraude locorum,60 sondern lediglich ense suo kämpft, beinahe so, als hätte er nicht nur auf ehrbare Weise, sondern auch mit übermenschlicher Kraft zahlenmäßig überlegene Truppen vertrieben. Mit ense suo wird aber auch ein Detail hervorgehoben, das noch lange nach Sabinus’ Zeiten die bildhauerische Darstellung Hermanns auf Denkmälern aus dem 19. Jahrhundert dominiert.61 Sabinus macht seine Germania in diesen Versen zum Sprachrohr der bei deutschen Humanisten seit dem späten 15. Jahrhundert fast durchweg üblichen Antiromanitas, d. h. der Bestrebung, sich feindlich oder zumindest rivalisierend von Rom (und Italien) abzusetzen.62 Dabei kann er sich der erst 1515 wiederentdeckten und vielleicht erstmals in Huttens Heroide erwähnten Arminius-Figur bedienen und sich somit als literarischen Trendsetter profilieren. Die afflicta Germania des Sabinus63 hat zwar gerade den Römern stets Widerstand leisten können, ist aber, wie bereits ausgeführt, vom kurz zurückliegenden Bauernkrieg geschwächt und von der bevorstehenden Invasion der Osmanen bedroht. Mit ihrer Behauptung, sie habe selbst der Weltbeherrscherin Rom niemals Anlass zu weiterem Siegesruhm geboten,64 widerspricht die fiktive literarische
58 Strab. 7, 1, 4; Vell. 2, 117–120; Flor. epit. 2, 30; Tac. Ann. 1, 55–71; Dio Cass. 56, 18, 1–24, 6; Manlius, Astronomica 1, 896–903. 59 Vell. 2, 117 (2) […] vir ingenio mitis, moribus quietus et corpore et animo immobilior, otio magis castrorum quam bellicae adsuetus militiae […]. 60 Ov. trist. 4, 2, 33. 61 Dabei ist an das berühmte 1875 eingeweihte Hermannsdenkmal von Detmold zu denken oder auch an das von deutschen Emigranten 1897 fertiggestellte Hermann Heights Monument in New Ulm, Minnesota. In beiden Fällen ist das herausragende Merkmal das drohend in die Höhe gereckte Schwert. 62 Hirschi: Das humanistische Nationskonstrukt, S. 373 f. 63 Vgl. den Beginn der Heroide, wo sich Germania mit dem Attribut afflicta im Grunde treffend charakterisiert. 64 Roma, suis totum domuit quae viribus orbem/ Nominis est nunquam laudibus aucta mei. Poemata Georgii Sabini, S. 15.
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Gestalt zumindest der realhistorischen Tatsache, dass Germanicus 17 n. Chr. in Rom einen glänzenden Triumph über die Germanen abhielt, bei welchem zusammen mit den bedeutendsten Angehörigen die Frau des Arminius als Gefangene mitgeführt wurde.65 Zwar konnten Drusus und Tiberius vor der Varusschlacht, Germanicus danach gelegentliche Siege über einzelne Stämme erringen, doch blieb die Offensive insgesamt ohne nachhaltigen Erfolg, so dass Tiberius 17 n. Chr. beschloss, die Einwohner ihrer eigenen Zwietracht zu überlassen.66 Unter Historikern ist die Rede von einem sich oftmals wiederholenden „Widerspruch zwischen Realität und Ideologie an der germanischen Grenze.“67 In Rom propagierte man die gelungene Rache für die Varusschlacht. Einige Jahrzehnte später feierte Kaiser Domitian sowohl seinen Sieg über den germanischen Stamm der Chatten als auch die Einrichtung der Provinzen Germania superior und Germania inferior mit der Prägung von Münzen, auf denen eine Germania capta abgebildet war als trauernde Gefangene analog zur Judaea capta.68 Man scheute keinen Aufwand, um den Abbruch der Offensive durch große Feiern und Zeremonien zu einem dauerhaften Erfolg umzumünzen.69 In lediglich einem Distichon schließt Sabinus’ Germania die Rekapitulation ihrer Siege ab mit der im Humanismus bereits als Topos etablierten Behauptung, sie habe auch die Lilien des französischen Wappens stets zum Welken gebracht.70 Frankreich wird somit die Bedeutung eines ernstzunehmenden Gegners abgesprochen. Mit der Beschwörung eines angeblich glanzvollen germanischen Altertums, mit der Abwertung der römischen Heldentaten (Antiromanitas) und dem Seitenhieb gegen den Erzrivalen Deutschlands im Westen betreibt Sabinus in der Tradition der älteren Humanisten „eine nationale Prestigeakkumulation,“71 aus welcher sich weitere Ansprüche herleiten lassen.
65 Strab. 7,4. 66 In Tac. ann. 2, 26, 3 mahnt Tiberius seinen Neffen Germanicus, der seinen Krieg gern noch fortgeführt hätte: posse et Cheruscos ceterasque rebellium gentis, quoniam Romanae ultioni consultum esset, internis discordiis relinqui. An anderer Stelle verleiht Tacitus seinem frommem Wunsch Ausdruck, dass die (offenbar notorische) Zwietracht unter den germanischen Stämmen möglichst lange fortdauern möge. Tac. Germ. 33: maneat, quaeso, duretque gentibus, si non amor nostri, at certe odium sui, quando urgentibus imperii fatis nihil iam praestare fortuna maius potest quam hostium discordiam. 67 Christ, S. 131. 68 Pfeiffer, S. 90 f. Vgl. auch das Kapitel dieser Arbeit 2.3.1. 69 Christ, S. 195. Vgl. das höhnische Urteil über die Bezwingung der Germanen in Tac. Germ. 37: […] ac rursus pulsi inde proximis temporibus triumphati magis quam victi sunt. 70 Poemata Georgii Sabini, S. 16. 71 Hirschi: Wettkampf der Nationen, S. 255.
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Auf diese retrospektive Passage folgt ein entschlossener Appell an Ferdinand. Germania zieht aus der Erinnerung an ihre ruhmreiche Vergangenheit den zuversichtlichen Schluss, dass sie auch den Türken nicht unterliegen werde. Bedingung dafür ist jedoch, wie zuvor schon einige Male erwähnt, die Hilfe des Adressaten. Entsprechend beliebten humanistischen Argumentationsmustern verweist sie – die Verkörperung eines romkritischen und (zumindest einstmals) romfeindlichen Landes – bemerkenswerterweise auf einen Römer als Vorbild: Ducat in exemplum celebris te fama Camilli Nam patriae vindex & fuit ille suae. Saecula nulla tuum nomen ventura silebunt, Inferiorque tua laude Camillus erit.72 Möge als Vorbild Dir dienen der große Name des berühmten Camillus, denn er war Retter seines Vaterlandes. Keines der künftigen Zeitalter wird Deinen Namen verschweigen, und Deinen Ruhm wird Camillus nicht erreichen.
Wieder ist hier eine Bezugnahme auf Huttens Heroide anzunehmen. Dessen Italia mahnt ihren allzu saumselig scheinenden Retter: Ducat in exemplum preclaris Carolus actis; Infestum a nobis ille removit onus. Ducat in exemplum geminorum splendor Othonum; Reddidit in melius tempus uterque suum.73 Möge als Vorbild Dir dienen Karl [der Große] mit seinen vortrefflichen Taten, die feindliche Last hat er von uns genommen. Möge als Vorbild Dir dienen der Glanz der beiden Ottonen, beide haben ihre eigene Zeit zum Besseren gewendet.
Der Verweis auf die großen Staatsmänner, Herrscher und Helden der Geschichte zum Ansporn des jeweiligen Adressaten, mal eher beiläufig, mal in Form langer Exempelketten, fehlt in kaum einer der patriotisch-allegorischen Heroiden. Sabinus’ Germania wählt hier anstelle von Karl dem Großen und den ottonischen Kaisern einen Römer als moralischen Wegweiser für Ferdinand. Marcus Furius Camillus, ein sagenumwobener Feldherr und Politiker der frühen römischen Republik, lebte vom ausgehenden 5. bis ins beginnende 4. Jahrhundert, versah mehrmals das Amt eines Diktators und war der Nachwelt hauptsächlich bekannt aus den ersten Büchern des Livius. Dieser „stellt mit der politischen und militärischen Vorbildgestalt des Camillus die erste der großen Führerpersönlichkeiten vor Augen […].“74 Unter den zahlreichen Siegen des römischen Feldherrn über die 72 Poemata Georgii Sabini, S. 16. 73 Ulrich von Hutten: Italia Maximiliano, V. 91–94. 74 Erich Burck: Die Gestalt des Camillus. In: Wege zu Livius. Bd. 132. Darmstadt 1967, S. 310–328, hier S. 311.
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Nachbarstämme von Latium ist die Eroberung der Stadt Veji nach zehnjähriger Belagerung ins kollektive Gedächtnis eingegangen. Insbesondere darauf dürfte sich Sabinus’ Germania beziehen mit ihrem Lob des patriae vindex. Camillus soll auch als erster Triumphzüge in der später üblich gewordenen Form mit einem Gespann von Schimmeln abgehalten haben.75 Sein selbstloser Einsatz für die res publica zeigt sich auf allen nur denkbaren Gebieten: Bei den Ständekämpfen zwischen Patriziern und Plebejern vermittelte er erfolgreich,76 machte sich jederzeit um die Ehrung der Götter verdient,77 griff noch als alter Mann rettend in eine schon verloren scheinende Schlacht ein78 und verschmähte es auch, von den Diensten eines Verräters Gebrauch zu machen, da Rom seine Feinde nur auf ehrbare Weise besiege.79 So lebt er in der römischen Geschichte fort als vere vir unicus in omni fortuna, princeps pace belloque und secund[us] a Romulo con dit[or] urbis Romanae.80 Livius konzipiert diese Idealgestalt der Frühzeit nicht ohne Bezug auf Augustus,81 wenngleich auch die Absicht einer proaugusteischen Propaganda in der Forschung umstritten ist.82 Die Germania des Sabinus jedenfalls kann allein dadurch, dass sie den Namen des Camillus nennt, ein Signal setzen und ihren königlichen Adressaten implizit auf bestimmte Handlungsmaximen verpflichten, da Camillus die für einen Herrscher geziemenden Tugenden verkörpert. Ferdinand soll Camillus sogar noch übertreffen und sich unsterblichen Ruhm bei der Nachwelt erwerben.83 An den unterschiedlichen Positionen, die Germania, Sabinus’ Sprachrohr, gegenüber Germanicus, Varus und dem Senat von Venedig einerseits und gegenüber Camillus andererseits bezieht, lässt sich das spezielle ambivalente Verhältnis deutscher Humanisten zu ihren römischen Vorbildern beobachten. Dieses besteht in Bewunderung und Konkurrenz 75 Liv. 5, 22, 4–6. Burck, S. 311. 76 Liv. 6, 42, 4–14 berichtet, wie Camillus, zum fünften Mal Diktator, einen Sieg über die Gallier erringt, dann aber zu Hause schlimmere Auseinandersetzungen zwischen Patriziern und Plebejern vorfindet. Schließlich kann er beide Parteien zu dem Kompromiss bewegen, dass die Plebejer künftig einen Konsul, die Patrizier einen Prätor stellen dürfen. 77 Liv. 5, 21, 1–21, 15 zeigt Camillus unmittelbar vor und nach dem Sieg über Veji im Gebet. Trotz all seiner persönlichen Leistungen bewahrt er stets seine Demut und Dankbarkeit gegenüber den göttlichen Schutzmächten. 78 Liv. 6, 4, 1–8, 10. 79 Liv. 5, 26, 3–27, 9 berichtet, wie ein Lehrer aus dem Volk der soeben besiegten Falisker Camillus die Söhne seiner edelsten Landsmänner zuführt und als Geiseln anbietet. Camillus jedoch läßt den Verräter fesseln und übergibt ihn den Knaben. 80 Liv. 7, 1, 9–10. 81 Burck, S. 322. 82 Ebd., S. 326. 83 Saecula nulla tuum nomen ventura silebunt,/ Inferiorque tua laude Camillus erit. Poemata Georgii Sabini, S. 16.
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zugleich: Die Konfrontation fordert zur Nachfolge, aber auch zur Opposition und zum Agon heraus. Man möchte sich als Deutscher zwar von Rom abgrenzen, kann (oder will) dabei aber nicht auf römische Denk-, Sprach- oder Handlungsmuster, geschweige denn auf die lateinische Sprache verzichten.84 In den folgenden Versen formuliert Germania ihren mit tu modo eingeleiteten Appell erstmals in aller Deutlichkeit und Schärfe: Ferdinand soll für die Freiheit der Seinen Krieg führen gegen die Nachkommen des Mohammed. Im Gegensatz zu den bereits erwähnten flehentlichen Bitten (Ergo si qua meae remanet tibi cura salutis / […] Hostibus hoc fiam tempore praeda meis),85 die den Aufruf zur Verteidigung enthalten und aufgrund ihrer weniger klaren Formulierung affer opem rein defensiv gedeutet werden können, ist hier von einer aggressiv-militanten Aktion die Rede. Die folgenden Verse verlagern die Bedeutung der abendländisch-osmanischen Auseinandersetzung zum ersten Mal von der politisch-geographischen auf eine heilsgeschichtliche Ebene: Tu modo pro nobis & libertate meorum, In Mahometigenas suscipe bella Getas, Esse Redemtoris nostri quos nouimus hostes, Impiaque aduersus bella mouere DEVM.86 Du aber beginne für mich und die Freiheit der Meinen Krieg gegen die mohammedanischen Türken, von welchen wir wissen, dass sie Feinde unseres Heilands sind und verruchte Kriege führen gegen Gott.
Germania erlässt also einen Aufruf zum Heiligen Krieg gegen die Feinde Gottes. Ihr Anliegen entspricht dabei den Forderungen, welche die offizielle Reichs- und Kirchenpolitik dominierten. Seit den Reden italienischer Humanisten wie Enea Silvio Piccolomini oder Giovanni Campano auf den deutschen Reichstagen des späten fünfzehnten Jahrhunderts gehörte in Deutschland (und nicht nur dort) der Topos De bello Turcis inferendo zum beständigen Repertoire der öffentlichen Diskussion.87
Sämtliche Vertreter der politischen und gelehrten Elite wandten sich in Traktaten, gedruckten Predigten und Flugblättern mit der Beschwörung des „gelieb-
84 Hirschi: Wettkampf der Nationen, S. 255 spricht von einer „interpretatio Romana“. „Man versucht, Deutschland eine mit Rom vergleichbare Geschichte und Gegenwart zu geben.“ Wehrli, S. 141 f.: „Man bietet selbst das ganze Pathos des antiken Res publica-Patriotismus auf, man verteidigt das Bauerntum mit Hilfe der Georgica und der antiken Tugendlehre.“ 85 Poemata Georgii Sabini, S. 15. 86 Poemata Georgii Sabini, S. 16. 87 Wiegand: Krieg und Frieden in der neulateinischen Lyrik, S. 70.
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ten Vaterlandes“ an die Öffentlichkeit.88 Der Name der Türken vereinigte alle Schrecken in sich.89 Wie groß die Gefahr für das christliche Abendland tatsächlich war, ist heute umstritten;90 in jedem Fall aber waren offizielle Deutungsmuster der Türkengefahr in eschatologischem Sinne als göttliche Strafe oder zu bestehende Prüfung weit verbreitet.91 Kein Geringerer als Luther selbst bezeichnete die Osmanen ebenso wie den Papst als Komplizen des Teufels, denen nur mit Hilfe von Schutzengeln beizukommen sei.92 Auf drastische Weise wird die Gefahr illustriert. Germania setzt ihre eigene Bedrohungssituation in Analogie zu einer berühmten apokalyptischen Passage aus dem Alten Testament bzw. zu deren Deutung bei Melanchthon und kündigt an, sie werde in glaubwürdiger Weise die Vision des Propheten Daniel von den vier Tieren93 wiedergeben: Hac de gente fera, Danielis scripta Prophetae Multa canunt, paucis hic memoranda mihi: Uiderat is quatuor sub imagine regna ferarum, Aspice vera tibi, non ego ficta loquor.94 Von diesem wilden Volk künden die Schriften des Propheten Daniel vieles, was ich hier mit wenigen Worten in Erinnerung rufen will: Dieser hatte unter dem Bild wilder Tiere vier (Welt-)Reiche gesehen, sieh her, wahre, nicht erfundene Dinge berichte ich Dir.
Nach dieser Deutung beziehen sich die Schriften des jüdischen Propheten auf eine bestimmte gens fera, nämlich auf die Türken mit ihrer drohenden Invasion. So wird für den mit der Wittenberger Theologie vertrauten, humanistisch geschulten Leser schon zu Beginn offensichtlich, dass Germania die „versifizierte Kurzfassung der von Melanchthon vorgenommenen Exegese der berühmten Passage von den vier Weltreichen“95 vorträgt. Eschatologische Argumentationen entsprachen durchaus den Erwartungen von Sabinus’ Zeitgenossen. Seit dem Ausgang des 15. Jahrhunderts und im Gefolge Luthers prägten Prophezeiungen vom Ende
88 A. Schmidt: Vaterlandsliebe und Religionskonflikt, S. 240 ff. 89 Höfert, S. 78 vermutet, das Grauen vor dem Fremdartigen habe zusätzliche Nahrung dadurch erhalten, dass bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts abgesehen von Gefangenen kaum ein Europäer längere Zeit im Osmanischen Reich gelebt hatte. 90 Delumeau. Bd. 2, S. 406 ff. behauptet, dass die Türkengefahr stets von interessierter Seite instrumentalisiert und daher stark übertrieben worden sei. Lediglich Bewohner der Reichsgrenzen in unmittelbarem Kontakt zu den Osmanen hätten sich wirklich bedroht gefühlt. 91 A. Schmidt: Vaterlandsliebe und Religionskonflikt, S. 244 f. 92 Delumeau. Bd. 2, S. 409 f. 93 Dan 7, 1–28. 94 Poemata Georgii Sabini, S. 16. 95 R. Seidel: Germania: Nationale Identität, S. 255.
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der Welt die öffentliche Diskussion und veranlassten oftmals Berechnungen des Jüngsten Tages, zu deren Hilfe man sich der Zahlenangaben des Buches Daniel, der Johannesapokalypse, der Monarchienlehre und der Weltalterrechnung bediente.96 Im Gegensatz zu Daniel, der zunächst nur die visuellen Eindrücke seines Traumes schildert und dann die ihm durch einen der Umstehenden zuteil gewordene Belehrung hinzufügt,97 nimmt Germania die Deutung der Tiere als Königreiche schon am Anfang vorweg. Daniel schildert die ersten drei Tiere als seltsame, zum Teil aus verschiedenen Gattungen zwitterhaft zusammengesetzte Gestalten. Das erste ist ein Löwe mit Adlerflügeln, der gerupft, auf zwei Füße gestellt und mit einem menschlichen Herzen ausgestattet wird; das zweite ist ein nach nur einer Seite hin aufgerichteter Bär mit drei Rippen im Maul, der zum Fressen ermuntert wird; das dritte ist ein Panther mit vier Flügeln und vier Köpfen, dem die Macht eines Herrschers zufällt.98 Die Germania des Sabinus hingegen geht weder auf Art und Aussehen noch auf das Schicksal, dafür aber auf die Bedeutung dieser Tiere ein. Die durch die Tiere symbolisierten Königreiche bleiben bei Daniel namenlos, repräsentieren aber nach Meinung mancher heutigen Exegeten die Abfolge der Herrschaft von Babel, Medien, Persien und Seleukidenreich,99 nach Meinung der Wittenberger Theologen jedoch das Babylonische Reich, das Perserreich, das Reich Alexanders des Großen und das Römische Reich.100 Vom noch vergleichsweise sympathisch beschriebenen ersten Tier101 bis zum vierten lässt sich bei Daniel eine zunehmende Bestialisierung beobachten.102 Sabinus’ Germania stellt in der betreffenden Passage sogleich direkte Bezüge von Phänomen und Bedeutung her: Regibus Assyrijs, primis fera prima monarchis, Altera sed Persis assimilata fuit. Tertia Graiorum referebat bestia sceptrum Quarta potestatem Martia Roma tuam.103
96 Münch, S. 14; Volker Leppin: Antichrist und Jüngster Tag. Das Profil apokalyptischer Flugschriftenpublizistik im deutschen Luthertum 1548–1618. Gütersloh 1999 (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 69). 97 Auf die seltsame Tatsache, dass hier der Traumdeuter zum deutungsunkundigen Träumenden mutiert, macht Bauer, S. 139 aufmerksam. 98 Dan 7, 4–6. 99 Bauer, S. 141 ff.; Haag, S. 57 ff. 100 Grimmsmann, S. 88 f. Vgl. auch Volker Leppin: Antichrist und Jüngster Tag, S. 59 ff. 101 Ebd., S. 147: „Überhaupt stellt die sehr positive Deutung der Gestalt Nebukadnezzars im Danielbuch – der Löwe ist der „König der Tiere“ zu Lande, der Adler in der Luft! – eine Idealisierung dar […].“ 102 Ebd., S. 147 ff. 103 Poemata Georgii Sabini, S. 16.
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Den assyrischen Königen, den ersten Weltbeherrschern, war das erste Tier, den Persern das zweite angeglichen. Das dritte Tier spiegelte die Herrschaft der Griechen wider, das vierte deine Macht, Marstochter Rom.
Sabinus lässt sein personifiziertes Vaterland also eine Exegese im Sinne Luthers und Melanchthons betreiben.104 Eine Charakterisierung der ersten drei Tiere ergibt sich höchstens in indirekter Weise daraus, dass das Aussehen des vierten Tieres als truculentior illis und dissimilis tribus bezeichnet wird. Diesem vierten Tier widmet Germania eine Beschreibung von vier Versen, die derjenigen aus Daniel nahekommt: Huius dira ferae facies truculentior illis, Dissimilisque tribus conspicienda fuit. Ferratos dentes, bis cornua quinque, gerebat Et pedibus plodens concutiebat humum.105 Das grausige Antlitz dieses Tieres war schrecklicher als die vorhergehenden und sah den dreien in keiner Weise ähnlich. Eiserne Zähne und zehn Hörner trug es und erschütterte mit den Füßen stampfend die Erde.
Germania apostrophiert nun die durch dieses Monstrum verkörperte Macht als Martia Roma.106 Behält man auch hier einen Passus aus Melanchthons Kommentar im Hinterkopf, dann fließen in Martia Roma drei Vorstellungsbereiche ineinander: das durch auswärtige Eroberungen und blutige Bürgerkriege gleichermaßen berühmte und berüchtigte antike Rom, das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, das entsprechend der im Humanismus geläufigen Theorie einer translatio imperii als Fortsetzung des ersteren verstanden wurde, und der
104 Vgl. dazu die Deutung der Tiere in Melanchthons Daniel-Kommentar, der zwar, wie erwähnt, erst 1543 veröffentlicht wurde, dessen Grundideen dem Verfasser aber schon bei seiner Ankündigung 1529 vorgeschwebt haben dürften. Dort heißt es: „Leo significat Chaldaeos et Assyrios. […] Ursus significat Persas. […] Pardus significat Alexandrum Macedonem. […] Quarta bestia significat Romanum imperium, quod significat omnium fore truculentissimum: […]“ Philippi Melanthonis Opera quae supersunt omnia. Edidit Carolus Gottlieb Bretschneider. Vol. XIII. Halle 1846, Sp. 858–859. (Der Löwe verkörpert die Chaldäer und Assyrer. […] Der Bär verkörpert die Perser. […] Der Panther verkörpert den Makedonen Alexander. […] Das vierte Tier verkörpert das Römische Reich, was bedeutet, dass es das schrecklichste von allen sein wird.) Übersetzung T. B. 105 Poemata Georgii Sabini, S. 16. 106 Ebd. Diese vier Tiere des Daniel, Panther, Bär, Löwe und Monstrum mit zehn Hörnern, tauchen vereinigt in einer Gestalt in der Offenbarung des Johannes wieder auf. Die Blasphemien ausstoßende Chimäre besitzt nun auch noch sieben Köpfe, welche die römischen Kaiser repräsentieren (Apk 13, 1–8).
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von den Protestanten zum Feindbild erhobene Papststuhl.107 Die folgenden Verse enthalten eine Schilderung des einzigen Hornes, das inmitten der übrigen zehn Hörner des vierten Tieres entspringt: Exiguum vero cornu sub fronte latebat, De medijs ortum cornibus illud erat: In quo terrificis oculis, vultuque minaci, Humani capitis forma videnda fuit. Hoc cum coelitibus diuis violenta gerebat Praelia, blasphemos ore loquente sonos.108 Ein winziges Horn aber lag unter der Stirn verborgen, es war von den mittleren Hörnern entsprungen. Auf diesem war mit schrecklichen Augen und drohender Fratze die Form eines menschlichen Hauptes zu erkennen. Dieses führte heftige Kämpfe mit den göttlichen Himmelsbewohnern, wobei sein Maul gotteslästerliche Worte ausstieß.
Die Beschreibung dieses Horns entspricht im Wesentlichen derjenigen bei Daniel.109 Das biblische Monstrum behält etwas Rätselhaftes. „Für das vierte Tier wird kein Tiervergleich mehr gebraucht. Vergleichbares an Bestialität scheint der Verfasser nicht gefunden zu haben.“110 Die zehn Hörner repräsentieren zehn nacheinander herrschende Könige, das zusätzliche Horn einen König, der die vorhergehenden stürzt und eine noch weitaus schlimmere Herrschaft führt.111 Sabinus‘ Germania konfrontiert den Adressaten angesichts aktueller Bedrängnisse mit ihrer eigenen Deutung, welche in einen konkreten Appell mündet: Turca ferox autem caput est immane, quod audis Impia coelesti bella parare Deo.112
107 Vgl. Melanchthon: „Quarta bestia significat Romanum imperium, quod significat omnium fore truculentissimum: vel quia foris difficilima bella gessit, vel quia habuit plurima civilia bella, vel quia maxime saeviit in Ecclesiam, vel quia delevit gentem Iudaicam.“ Melanchthon [Bretschneider], Sp. 859. (Das vierte Tier verkörpert das Römische Reich, was bedeutet, dass es das schrecklichste von allen sein wird: entweder weil es auswärts die schwierigsten Kriege geführt, weil es die meisten Bürgerkriege gehabt, weil es am meisten gegen die Kirche gewütet oder weil es das jüdische Volk vernichtet hat.) Übersetzung T. B. 108 Poemata Georgii Sabini, S. 16 f. 109 Vgl. Dan 7, 8. 110 Bauer, S. 151. Aus Eisen sind auch die Füße des schrecklichen Standbildes, das Nebukadnezzar im Traum sieht (Dan 2, 31–45). Sie repräsentieren eine grausame Herrschaft, welche die vorhergehenden zunichte macht, selbst aber auch dem Untergang geweiht ist. Gedanken an das Eiserne Zeitalter der heidnischen Antike mögen sich ebenfalls aufdrängen. 111 Dan 7, 24–25. 112 Poemata Georgii Sabini, S. 17.
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Der unbändige Türke aber ist das entsetzliche Haupt, von welchem Du hörst, dass es ruchlose Kriege gegen Gott im Himmel plant.
Der gottlos agierende Türke erscheint bei Sabinus also ebenso wie bei Luther und Melanchthon in der Rolle einer apokalyptischen Gestalt, welche den Weltuntergang herbeiführt.113 Germania prophezeit die schmähliche Niederlage der Osmanen und frohlockt über den bevorstehenden Triumph.114 Zunächst ist ihre Reaktion auf das anmaßend redende Horn bemerkenswert: Während bei Daniel der Traum das bewirkt, was typisch ist „für das ahnende Erkennen eines göttlichen Fingerzeigs,“115 nämlich Schrecken, bezieht Germania aus der Identifizierung des Untiers und seines Hornes zunehmende Kampfbegeisterung. An dieser Heroide lassen sich in einer klar ansteigenden Linie die immer schärferen und militanteren Appelle an Ferdinand aufzeigen.116 Der Tenor wird stets optimistischer und siegesgewisser. Von Germanias Selbstdarstellung als schwache, wehrlose Frau zu Beginn 113 Vgl. Melanchthon: „Exoritur autem in fronte ingens cornu tribus aliis cornibus evulsis: […] Res loquitur ipsa id esse regnum Mahometicum, hoc est, Saracenicum et Turcicum, nam Turcicum ortum est ex Saracenico, seu pars est. […] Doctrina describitur in textu cum ait, Cornu habere oculos hominis, et os loquens grandia, et contumeliosa in Deum. Constat Mahometum, horribili audacia abolere omnia Prophetarum et Apostolorum scripta. […] Quare satis perspicue constat, id regnum Deo bellum inferre, quod abolet scripta Prophetarum et Apostolorum, deinde et articulos praecipuos Evangelii penitus delet. […] Concedit flagitiosas libidines, iubet armis cogi Gentes ad amplectendam impiam doctrinam, et interfici adversantes. Hoc vere est impium et infinitum latrocinium praecipere.“ Melanchthon [Bretschneider], Sp. 859–861. (Auf der Stirn aber wächst ein ungeheures Horn, nachdem die drei anderen Hörner ausgerissen worden sind: […] Die Sache selbst sagt schon, dass dies das Reich Mohammeds ist, d. h. das Sarazenen- oder Türkenreich, denn das Türkenreich ist aus dem Sarazenenreich entstanden oder ein Teil desselben. […] Die Lehre wird im Text beschrieben, wenn er [Daniel] sagt, das Horn besitze die Augen eines Menschen und einen Mund, der großspurige und schändliche Dinge gegen Gott spreche. Es steht fest, dass Mohammed in seiner furchterregenden Dreistigkeit alle Schriften der Propheten und Apostel abschafft. […] Dadurch erkennt man deutlich genug, dass dieses Reich Krieg führt gegen Gott, weil es die Schriften der Propheten und Apostel abschafft und daraufhin besondere Artikel des Evangeliums von Grund auf tilgt. […] Es gestattet abscheuliche Ausschweifungen, befiehlt, die Völker mit Waffen zur Verehrung einer gottlosen Lehre zu zwingen und diejenigen abzuschlachten, die Widerstand leisten. Das bedeutet, einen gottlosen und unbegrenzten Raubzug anzuordnen.) Übersetzung T. B. 114 Poemata Georgii Sabini, S. 17. 115 Bauer, S. 160 f. 116 De quibus [malis] ipsa tuum supplex cum numen adoro/ Ferre mihi solus qui potes, affer opem./ […] / Ergo si qua meae remanet tibi cura salutis,/ Affer in aduersis his mihi rebus opem:/ Ne, toties claris quae sum prium aucta triumphis,/ Hostibus hoc fiam tempore praeda meis./ […]/ Tu modo pro nobis & libertate meorum/ In Mahometigenas suscipe bella Getas,/ Esse Redemtoris nostri quos nouimus hostes,/ Impiaque aduersus bella movere DEVM.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
des Briefes117 ist kaum noch etwas zu wahrzunehmen, wenn sie ihren Adressaten anfeuert mit dem Schlachtruf: Hoc tibi frangendum caput est, hoc concute cornu, Succumbat manibus bellua victa tuis. Ergo age, Rex animo praesenti suscipe bellum: Hei mihi quas poenas impie Turca dabis.118 Dieses Haupt musst Du zerbrechen, zerschmettere dieses Horn, und von Deinen Händen bezwungen sinke das Untier zu Boden. Wohlan, König, nimm geistesgegenwärtig den Krieg auf, wehe, wie wirst du mir büßen, gottloser Türke.
Diese Verse erzielen eine dramatische Wirkung durch ihre Gestaltung als Trikolon und Klimax. Der Adressat erhält zwei direkte Befehle, einen als Gerundivum, einen als Imperativ formuliert, beide durch die Anapher hoc […] hoc eingeleitet. Ferdinand soll das Haupt (des Hornes) zerbrechen, das Horn zerschmettern und das Untier gänzlich besiegt zu Boden strecken. In den beiden folgenden Versen bezieht sich Germania sprachlich wieder auf die reale gegenwärtige Situation im Reich (Türkenkrieg), wobei die vorhergehende biblisch-prophetische Überhöhung für die Deutung der aktuellen Gefahr von Wichtigkeit bleibt. Der Adressat, nun zum ersten Mal mit Rex tituliert, was ihn als König Böhmens und Ungarns, also der östlichen Peripherie des Reichs ausweist, soll angesichts der vorhergehenden Vision einen endzeitlichen Kampf führen. Ferdinand hat eine Aufgabe, die bereits in Gottes Heilsplan vorgesehen ist und deshalb ausgeführt werden muss. Germania, die ja das Schicksal des biblischen Untieres kennt und um seine Tötung weiß,119 darf zuversichtlich den Erfolg vorhersagen. Auf die Prophezeiung gelingender Rache folgen der Spott über die hinterhältigen und nutzlosen Kampftechniken des Feindes (in Form einer Apostrophe) und die Ausmalung des Triumphzuges. Hierzu bedient sich Germania bekannter Topoi aus der augusteischen Dichtung, die sich insbesondere gegen die Parther richten.120 Gewisse Analogien von Germanen und Parthern lassen sich insofern herstellen, als auch die Parther mit der Vernichtung des Marcus Licinius Crassus 53 v. Chr. Rom einen schmerzlichen Verlust zufügten und eine niemals ganz zu bewältigende Herausforderung darstellten. Die einige Jahrzehnte später von Augustus erwirkte Rückgabe der verlorenen Feldzeichen (signa recepta) an die Römer, in 117 Hier sei lediglich an einige Stichwörter erinnert: afflicta; rerum tristis forma mearum; meus dolor; praeda. 118 Poemata Georgii Sabini, S. 17. 119 Vgl. Dan 7, 11. 120 Vgl. dazu Michael Wissemann: Die Parther in der augusteischen Dichtung. Frankfurt am Main 1981 (Europäische Hochschulschriften. Reihe 15: Klassische Sprachen und Literaturen = Philologie et littérature classiques = Classical language and literature 24).
3.1.1 Georg Sabinus (1508–1560): Germania ad Caesarem Ferdinandum
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Wirklichkeit der Erfolg diplomatischer Verhandlungen, wurde mit großem propagandistischem Aufwand als „Rache für Crassus“ gefeiert. Auch hier ist es wieder Ovid, der seinem Nachahmer Sabinus zahlreiche Anknüpfungspunkte bietet. Germanias Ausruf Hei mihi quas poenas impie Turca dabis121 rekurriert auf einen Passus aus der Ars Amatoria: Parthe, dabis poenas; Crassi gaudete sepulti signaque barbaricas non bene passa manus.122 Parther, du wirst büßen. Freut euch, begrabener Crassus und deinesgleichen, und auch ihr, Feldzeichen, die ihr zu eurem Schaden barbarische Hände leiden musstet.123
Schon frohlockt Germania angesichts ihres türkischen Feindes, der mit all seinen tückischen Kriegsfinten zum Scheitern verurteilt ist: Non tibi consuetae mitti post terga sagittae, Non tibi velocis proderit vsus equi.124 Nichts werden dir die Pfeile nutzen, die du gewöhnlich hinter dem Rücken abschießt, nichts der Ritt auf einem schnellen Pferd.
Was Germania hier dem Türken anlastet, ist nichts anderes als der sogenannte Parthische Schuss. Die berittenen Bogenschützen der Parther waren berüchtigt dafür, eine Flucht vorzutäuschen und rückwärts Pfeile abzuschießen.125 Dieser Topos findet sich allenthalben in der augusteischen Dichtung; Sabinus folgt auch hier in nur geringfügiger Variation einem ovidischen Modell: Quid tibi nunc solitae mitti post terga sagittae quid loca, quid rapidi profuit usus equi, Parthe? Refers aquilas, victos quoque porrigis arcus: pignora iam nostri nulla pudoris habes.126
121 Poemata Georgii Sabini, S. 17. 122 Ov. ars 1, 179–180. 123 Übersetzung T. B. Vgl. aber auch die gegen Germania gerichtete Drohung in der lange Zeit Ovid zugeschriebenen Consolatio ad Liviam, 271–272: at tibi ius veniae superest, Germania, nullum:/ postmodo tu poenas, barbare, morte dabis. 124 Poemata Georgii Sabini, S. 17. 125 Josef Wiesehöfer: Art. Parthischer Schuß. In: DNP. Bd. 9, Sp. 379. 126 Ov. fast. 5, 591–594. Vgl. Andere Beispiele: Ov. ars 1, 209–210: tergaque Parthorum Romanaque pectora dicam/ telaque, ab averso quae iacit hostis equo.; Prop. 3, 9, 53–54: prosequar et currus utroque ab litore ovantis,/ Parthorum astutae tela remissa fugae; Prop. 4, 3, 63–66: ne, precor, ascensis tanti sit gloria Bactris,/ raptave odorato carbasa lina duci,/ plumbea cum tortae sparguntur pondera fundae,/ subdolus et versis increpat arcus equis!
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
Was haben dir nun die Pfeile, die du stets hinterrücks abzuschießt, was haben dir das (günstige) Gelände, was hat dir der Ritt auf einem schnellen Pferd genutzt, Parther? Du gibst die Adler zurück und händigst die unterlegenen Bögen aus. Nun hast du keine Beweisstücke mehr für unsere Schmach.127
Mit der moralischen Verunglimpfung des Gegners vermittelt Germania ihrem Adressaten indirekt eine Siegesgewissheit, welche nicht nur auf dem Gegensatz rechtgläubig (christlich) und gottlos (muslimisch) beruht, sondern auch auf dem römischen Topos vom gerechten Krieger und dem alle nur denkbaren Gesetze brechenden Feind, wie ihn beispielsweise Ovid in vollendet knapper Form auf den Punkt bringt: tu pia tela feres, sceleratas ille sagittas; stabit pro signis iusque piumque tuis128 du wirst fromme Geschosse tragen, er verbrecherische Pfeile, vor deinen Feldzeichen werden Recht und Frömmigkeit stehen.129
Der osmanische Feind ist also eine Chimäre, zusammengesetzt aus allen Schreckensgestalten, welche die biblische und die pagan-antike Literatur zu bieten haben. Das apokalyptische Untier und das „ethnographische Stereotyp,“130 gezeichnet nach dem (hauptsächlich ovidischen) Modell der Parther, Geten und Skythen,131 erscheinen in den Ausführungen von Sabinus’ Germania zu einem abscheuerregenden Zerrbild verschmolzen. Der Türke wird künftig ein bitteres Leben in Heimatlosigkeit verbringen oder den Triumphzug des Königs zieren.132 Bei dem Motiv der Verbannung folgt Sabinus wohl einer Stelle aus dem Alten Testament, wo der babylonische König Nebukadnezzar zur Strafe für Hochmut und Götzendienst von Gott in die Wildnis verstoßen wird.133 Auch in der römischen Literatur ist die erzwungene Abwesenheit von der geliebten Heimat für so unterschiedliche Persönlichkeiten wie z. B. Cicero, Seneca und Sabinus’ Vorbild Ovid Gegenstand der bittersten Klagen. Alternativ zur Androhung der Verbannung (aut […] aut) folgt die Ankündigung des Triumphzuges. Die detaillierte Ausmalung derarti127 Übersetzung T. B. 128 Ov. ars 1, 199–200. 129 Übersetzung T. B. 130 Wiegand: Krieg und Frieden in der neulateinischen Lyrik, S. 71. 131 Zu den Geten vgl. ebd., S. 71, Anm. 13; Kühlmann: Humanistische Lyrik, S. 1269 f. 132 Poemata Georgii Sabini, S. 17. 133 Dan 4, 1–36. Selbstverständlich drängt sich zunächst auch der Gedanke an die immer wiederkehrende Diaspora des abtrünnigen Israels auf. Da aber Israels Los immer ausdrücklich mit der Versklavung durch fremde Völker einhergeht und das Exil in diesen Sabinus-Versen als Alternative zum Triumphzug (= Tod oder Sklaverei) erscheint, ist es angebracht, nach anderen Lösungen zu suchen.
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ger Spektakel findet sich in zahlreichen Beispielen der augusteischen Dichtung.134 Die Passage endet mit zwei symmetrisch gebauten, kontrastreichen Distichen: Inclita gaudebit conuersis Graecia rebus Praebuit inuitas quae tibi victa manus. Exultansque suis laetabitur amnibus Ister Quem tuus infestum reddidit ante furor.135 Freuen wird sich über den Wandel des Geschicks das berühmte Griechenland, welches nach seiner Niederlage dir nur widerwillig die Hände darreichte. Freude bekunden und mit all ihren Fluten jubeln wird auch die Donau, welche zuvor dein Wüten unsicher gemacht hat.
In den Hexametern kommt jeweils die künftige Freude der befreiten Regionen Griechenland und Donau zum Ausdruck (gaudebit […] laetabitur); in den Pentametern begründet jeweils ein Relativsatz diese Freude mit dem vorausgegangenen Leid durch die feindliche Unterdrückung, so dass den Versen vom Triumphzug der Eindruck von ausgleichender Gerechtigkeit folgt. Mit der Entscheidung, das personifizierte Griechenland als erlöste Untertanin jubeln zu lassen, nimmt Sabinus Bezug auf den vielbeklagten Fall Konstantinopels von 1453 und die dadurch ausgelöste Kriegsrhetorik prominenter Redner wie Enea Silvio Piccolomini und seiner Adepten.136 Die Hommage an die Heimat der Wissenschaft und Künste, welche die vom lateinischen Europa geprägten Humanisten im Verlauf des 15. Jahrhunderts wiederentdeckt hatten, stellt zumindest im gelehrten agitatorischen Schrifttum des 16. Jahrhunderts bereits einen geläufigen Topos dar. Germania beendet ihr Schreiben mit Segenswünschen und letzten Anweisungen an Ferdinand. Bedingung dafür, dass ihre glücklichen Prophezeiungen sich erfüllen, ist nach christlichen Vorstellungen selbstverständlich der Ratschluss des omnipotens Rexque Paterque Deus,137 der aber angesichts der vorherigen apokalyptischen Vision außer Frage stehen muss. Den direkten Zusammenhang von der notwendigen Bekämpfung des äußeren Feindes und der erforderlichen Eintracht im Inneren bringt Germania erstmals hier innerhalb weniger Verse auf den Punkt:
134 Z. B. Ov. ars 1, 214–217: Ergo erit illa dies, qua tu, pulcherrime rerum,/ quattuor in niveis aureus ibis equis;/ ibunt ante duces onerati colla catenis,/ ne possint tuti, qua prius, esse fuga. 135 Poemata Georgii Sabini, S. 17. 136 Vgl. Enea Silvio Piccolomini: [De Constantinopolitana clade] RTA 19, 2. Nr. 16, S. 512 f.: o nobilis Grecia! ecce nunc tuum finem, nunc demum mortua es; nunc sepulta iaces. heu, quot olim urbes fama rebusque potentes in Grecia sunt extincte! (O edles Griechenland! Siehe, das ist nun dein Ende, nun bist du vollends tot; nun liegst du begraben. Ach, wie viele einst dem Namen nach und in Wirklichkeit mächtige Städte in Griechenland sind ausgelöscht worden!) Übersetzung T. B. 137 Poemata Georgii Sabini, S. 17.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
At prius externos quam progrediaris in hostes, Certa tibi pax est constituenda domi: Sedandique graues de relligione tumultus, Hoc Regem tantum, quantus es ipse, decet.138 Aber bevor Du in den Kampf ziehst gegen auswärtige Feinde, musst Du zu Hause einen verlässlichen Frieden stiften. Schwere Unruhen in Fragen des Glaubens musst Du beilegen, das ziemt sich für einen so großen König, wie Du selbst es bist.
Der antiken Beispielen folgende Appell zur concordia im Inneren und zur gemeinsamen Abwehr des äußeren Feindes, schon in den Reichstagsreden und –schriften effektvoll rhetorisch aufbereitet, wird zum Konstituens (fast) aller anderen Germania-Heroiden des 16. Jahrhunderts. Ferdinand soll in den Krieg ziehen und den Frieden in der Heimat wiederherstellen. Dem Wunsch nach religiöser Einigung widmet Germania überraschenderweise inhaltlich nur einen einzigen Vers. Die äußerst vage Formulierung graves tumultus ist der durchaus nicht zeituntypischen Absicht des eher konziliant denkenden Autors geschuldet, jegliche Brüskierung von Protestanten und Katholiken zu vermeiden. Obgleich Sabinus Lieblingsschüler und Schwiegersohn Melanchthons war und Protestant der ersten Generation, galt sein Interesse nicht in erster Linie konfessionellen Fragen,139 und anders, als unter den damaligen Umständen zu erwarten gewesen wäre, enthielt er sich fast gänzlich der Beschäftigung mit dezidiert theologischen Anliegen.140 Wie sich aber zeigen wird, spielt die konfessionelle Positionierung des Autors in den Germania-Heroiden – abgesehen von wenigen Ausnahmen – eine bestenfalls untergeordnete Rolle. Anders verhält es sich in Bezug auf die artes und litterae. So gewährt Sabinus seiner Germania für das Eintreten zugunsten der edlen Künste vier Verse: Nec minor ingenuas studijs florentibus artes Ac fouisse nouem sit tibi cura Deas, Quae spretae, sine honore iacent hoc tempore passim, Hac re nulla tibi gloria maior erit.141
138 Ebd. 139 Kühlmann: Humanistische Lyrik, S. 1241. 140 Töppen, S. 23. Für eine lebenslange eher wohlwollend-indifferente Haltung gegenüber konfessionellen Unterschieden spricht seine gute Freundschaft zu prominenten Katholiken wie dem Kardinal Pietro Bembo oder dem Bischof Johannes Dantiscus. In seiner Elegie 4, 1 Ad Cardinalem Petrum Bembum beschwört er den Adressaten als Anwalt der wahren Religion, beim Papst ein Konzil durchzusetzen. 141 Poemata Georgii Sabini, S. 17 f.
3.1.1 Georg Sabinus (1508–1560): Germania ad Caesarem Ferdinandum
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Nicht weniger wichtig sei Dir das Anliegen, der Gelehrsamkeit größte Geltung zu verschaffen, die edlen Künste und die neun Göttinnen zu fördern, welche derzeitig verachtet und ehrlos ringsumher am Boden liegen. Keine Maßnahme wird Dir zu größerem Ruhm gereichen als diese.
Die Behauptung, dass ein Herrscher nur vermittels engagierter Förderung der Künste auch verantwortungsbewusstes politisches Handeln gewährleisten könne, findet sich in diesem Fall in Melanchthons bereits genannter Widmungsvorrede, ist aber auch schon zuvor und generell ein wesentlicher Bestandteil der affirmativen humanistischen Literatur. Diesen Aspekt bezeichnet Caspar Hirschi als Antibarbaries und charakterisiert ihn äußerst treffend: „Die Antibarbaries umfasst zum einen Aufrufe an die politischen und intellektuellen Eliten, die humanistischen Studien zu pflegen und hinter dem Kaiser die Reihen zu schließen.“142 Die Wechselwirkungen von Politik und artes schienen darin zu bestehen, dass beide stets einem gemeinsamen Schicksal unterworfen waren: Die humanistische Kulturtheorie beruhte auf dem Prinzip, dass Wissenschaft und Literatur nur unter starker und stabiler Herrschaft erblühten. Dass sich politische Krisen künstlerisch produktiv auswirken könnten, war undenkbar. […] Lobten die deutschen Humanisten den Aufschwung der litterae in ihrem Land, klang unweigerlich das Lob der kaiserlichen Macht mit.143
Sabinus’ Germania gesteht in ihren Versen der Sorge um die verbannten „neun Göttinnen“ einen größeren Raum zu als religionspolitischen Maßnahmen. Die Musen scheinen ähnlich wie die Israeliten der Heimführung aus einer Art Diaspora (iacent hoc tempore passim)144 zu bedürfen. Als leidenschaftlicher Verehrer römischer Poesie und Beredsamkeit strebte Sabinus vorrangig nach ästhetischer Perfektion seiner lateinischen Verse und investierte großen Fleiß in eine gelungene Formulierung.145 Bezeichnenderweise lässt er sein lyrisches Ich in einer Elegie berichten, wie es einst als novus Aonidum cultor von Kalliope zum Dichter gekrönt worden sei.146 Dennoch wandelt Sabinus mit seiner expliziten Huldigung an die Musen durchaus auf der von seinem Lehrer vorgezeichneten Bahn. Anhand des bei Homer und Hesiod erstmals erwähnten, schwer greifbaren Phänomens dieser göttlichen oder quasi-göttlichen Inspirationsmächte hatte Melanchthon sein Ideal der gelehrten Frömmigkeit oder frommen Gelehrsamkeit entwickelt, welches er jahrzehntelang dem Kreis seiner Schüler und Freunde vermittelte.147 142 Hirschi: Wettkampf der Nationen, S. 254. 143 Ebd., S. 291. 144 Poemata Georgii Sabini, S. 17. 145 Töppen, S. 23. 146 Ebd., S. 20. 147 Welchen Stellenwert der Reformator diesem Aspekt einräumte, illustriert grundlegend Walther Ludwig: Musenkult und Gottesdienst – Evangelischer Humanismus der Reformations-
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
Der vorrangig nach Vervollkommnung seiner Latinität strebende Sabinus wird also gerade diesen Aspekt aus Melanchthons Lehren mit besonderer Begeisterung aufgegriffen und hier möglicherweise verselbständigt haben. Neben dieser Leidenschaft sagt ihm die Forschung noch einen anderen (mutmaßlichen) Charakterzug nach, einen bisweilen an Opportunismus grenzenden gesellschaftlichen Ehrgeiz.148 Dabei steht eine allzu unsympathische Charakterisierung vielleicht einer gerechten Würdigung entgegen.149 Bei Sabinus mag sich aufrichtige Anteilnahme am Gemeinwohl mit persönlichen Interessen verbinden. Mit seinem energischen Aufruf zur Rettung der Christenheit aus dem Mund der Germania offenbart er ein für Humanisten charakteristisches Selbstverständnis als Prophet und Mahner. An den zahlreichen sozialen und politischen Konflikten im Reich musste er sich schon deshalb stoßen, weil die Fürsten davon okkupiert die Künste und Wissenschaften nicht in der von ihm gewünschten Weise fördern konnten. Derartige Appelle stellen ein durchgängiges Motiv von seinen frühesten bis zu seinen spätesten Gedichten dar.150 Neben der Zuständigkeit für die Sicherung der Reichsgrenzen zeigt sich noch ein weiteres mögliches Motiv für Sabinus, den Bruder des Kaisers als Adressaten seiner poetischen Epistel zu wählen. Ferdinand galt als überaus großzügiger und verlässlicher Mäzen, der sich in der Förderung der Künste nicht weniger beständig zeigte als in der Wahrnehmung seiner unmittelbaren Regentenpflichten.151 Kompromissbereiter als Karl in konfessionellen Fragen152 und grundsätzlich aufgeschlossen für vieles, widmete er eine besondere Aufmerksamkeit der Antike und beherrschte mehrere Fremdsprachen fließend, darunter Latein.153 Zu seinen Reformen der philosophischen Fakultät in Wien gehörte 1523 die Gründung eines Lehrstuhls für Griechisch.154
zeit. In: Ders.: Miscella Neolatina. Ausgewählte Aufsätze 1989–2003. Bd. 1. Hrsg. von Astrid Steiner-Weber. Hildesheim u. a. 2004 (Noctes Neolatinae 2.1), S. 249–294. 148 Z. B. Ellinger: Neulateinische Literatur. Bd. 2, S. 68: „[…] sein Sinn war keineswegs auf eine stille Beschäftigung gerichtet, die die Dinge um ihrer selbst willen betreibt. Er wollte vorwärts kommen, in der Welt eine Rolle spielen […] Auch sein Verhältnis zu Melanchthon betrachtete er im wesentlichen unter diesem Gesichtspunkte, und ebenso war sein Werben um Melanchthons jugendliche Tochter von selbstsüchtigen Absichten nicht frei.“ 149 Mundt, S. 80 nimmt Anstoß an „gewissen Vorurteilen gegenüber der Persönlichkeitsstruktur des Sabinus, die als fest verankerte Gemeinplätze die Sabinus-Forschung von altersher geprägt haben.“ Auch Scheible, S. 17 führt die einseitig kritische Bewertung des Menschen Sabinus auf dessen unglückliche Ehe mit Melanchthons Tochter zurück. 150 Töppen, S. 27. 151 Sutter Fichtner: Ferdinand I., S. 12. 152 Ebd., S. 13. 153 Ebd., S. 15. 154 Ebd., S. 13.
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Der stets nach einflussreichen Verbindungen strebende Sabinus hatte also guten Grund, sich um die Aufmerksamkeit des Mannes zu bemühen, der erst 1524 Caspar Ursinus Velius zum Inhaber eines Rhetoriklehrstuhls, Hofhistoriographen und Erzieher seines Sohnes gemacht hatte155 und – wenn auch vergeblich – um Erasmus warb.156 Ob er als nicht adeliger politischer Ratgeber eine Schlüsselrolle spielen wollte oder ob es ihm allein um gesellschaftliche Anerkennung zu tun war, Sabinus wollte sich jedenfalls für die Mit- und Nachwelt durch das Urteil hochgestellter Persönlichkeiten seines poetischen Ranges versichert wissen.157 Im Gegenzug lässt er im vorliegenden Text Germania dem Adressaten für die Förderung der Musen ewigen Ruhm und Gottes Beistand gegen die Türken in Aussicht stellen. Ferdinand erhält die grandiose Zusage: Tunc, quas nulla tibi poterit delere vetustas, Laudes semper erunt, gloria semper erit.158 Dann werden Deine Verdienste, welche keine Zeitdauer jemals wird tilgen können, dann wird Dein Ruhm ewig bestehen.
Mit dem Wortlaut dieses Versprechens bewegt sich Germania für jeden Gelehrten erkennbar in der Tradition der als loci classici tradierten Prophezeiungen des eigenen Nachruhms, mit welchen Horaz159 und Ovid160 jeweils die Vollendung ihres (Haupt)werks besiegeln, inhaltlich aber wohl auch in der von Melanchthon vorgezeichneten Bahn. Nulla trophaea durabiliora erigere poteris quam futura sit huius memoria beneficii, si ecclesiae tranquillitatem restitueris atque ita munieris, ut esse diuturna possit.161 Du wirst keine Siegesmäler errichten können, die dauerhafter wären als das Andenken an die Wohltat sein wird, wenn du die Ruhe der Kirche wiederherstellst und so schützt, dass sie Bestand haben kann.
Im direkten Appell an Ferdinand und im daran anschließenden Versprechen ewigen Ruhmes verlagert Sabinus’ Germania Melanchthon gegenüber den Schwerpunkt von der konfessionellen Befriedung Deutschlands zu den Verdiensten um die litterae. Der junge Poet macht von Melanchthons Gedanken zur Daniel-Exegese, die er auch damals schon zumindest aus mündlichen Unterredun-
155 Römer, S. 69 f. 156 Sutter Fichtner: Ferdinand I., S. 13. 157 Töppen, S. 247. 158 Poemata Georgii Sabini, S. 18. 159 Hor. carm. 3, 30. 160 Ov. met. 15, 871 ff. 161 MBW T 3, Nr. 769, Sp. 479.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
gen gekannt haben muss, insoweit Gebrauch, wie es dem protreptischen Effekt seines Agitationsschreibens dienlich ist. Die meisten der auf Sabinus folgenden Germania-Heroiden werden die vielfältigen Konflikte zwischen den Reichseliten unter weitgehendem Verzicht auf explizite Parteinahme, dafür aber mit großem rhetorischen Aufwand beklagen und zum einträchtigen Abwehrkampf gegen den auswärtigen Feind mahnen. Ad Germaniam (1531) Die mit ihren 14 Distichen fast epigrammatisch kurze Elegie Ad Germaniam162 gehört zu den meisterwähnten Beispielen für ein allegorisiertes Deutschland in der Poesie der Frühen Neuzeit.163 Nach strengen formalen Kriterien zählt sie nicht zur Gattung der Heroide, da weder der Text selbst noch der Titel in irgendeiner Weise die dafür obligatorische Brieffiktion heraufbeschwört. Inhaltlich aber erfüllt die Elegie die für das Mahn-und Sendschreiben konstitutive Appellfunktion, so dass es naheliegt, zumindest von einer heroidenähnlichen Dichtung zu sprechen. Hatte Sabinus in der zuvor behandelten Heroide Germania ad Caesa rem Ferdinandum seine Heldin selbst zu Wort kommen lassen, so kehrt er nun die Sprecher-Adressaten-Perspektive um: Eine anonym bleibende lyrische Instanz richtet eine Ansprache an Germania, beklagt deren gegenwärtigen moralischen Verfall und mahnt zur tatkräftigen Erneuerung der einstigen Tugenden, deren Ziel in der erfolgreichen Abwehr der Türken bestehen soll. Der Autor reiht sich in die lange zurückreichende Tradition der Zeiten-und Verfallsklage ein und bedient sich auch dazu der Figur der allegorisierten Patria. Sowohl in der lateinischen Gelegenheitslyrik als auch in der volkssprachlichen Poesie der frühen Neuzeit ist die Hinwendung des Dichters ad Germaniam mit Zivilisationskritik und paränetischen Zwecken verbunden, wobei sich hinter der Gestalt des personifizierten Vaterlandes in der Regel Kaiser oder Reichsstände verbergen.164 Als weitere Beispiele, zeitlich alle nach Sabinus, sind zu nennen Nathan Chyträus: Germania degenerans und Hans Aßmann von Abschatz: Alrunens Warnung an Deutschland. Auch mit dieser Arbeit folgt Sabinus wieder in gewisser Hinsicht den Spuren seines Lehrers Melanchthon. Dieser setzte ebenso wie Erasmus und Ulrich von Hutten große Hoffnungen auf den prachtliebenden, gelehrten (und Luther ver162 Georg Sabinus: Ad Germaniam. In: Kühlmann: Humanistische Lyrik, S. 526–527 und S. 1262– 1264 (Kommentar). 163 Töppen, S. 28; Kühlmann: Der Poet und das Reich, S. 224; Hirschi: Wettkampf der Nationen, S. 446; A. Schmidt: Vaterlandsliebe und Religionskonflikt, S. 242, Anm. 153; Brandt: Germania und ihre Söhne, S. 58. Sie findet sich auch in Kennst du das Land? Deutschlandgedichte. Hrsg. von Volker Meid. Stuttgart 2012, S. 61–63. 164 A. Schmidt: Vaterlandsliebe und Religionskonflikt, S. 242.
3.1.1 Georg Sabinus (1508–1560): Germania ad Caesarem Ferdinandum
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hassten) Albrecht von Brandenburg, Erzbischof von Mainz, und umwarb ihn mit literarischen Gaben. 1527 hatte Melanchthon die drei Bücher De bello Rhodio, welche der Vizekanzler des Johanniterordens Jacobus Fontanus anlässlich der Eroberung von Rhodos durch die Türken (ursprünglich mit Blick auf Papst Clemens VII.) verfasst und ihm (zur Begutachtung?) geschickt hatte, herausgegeben und Albrecht gewidmet mit der inständigen Bitte, seinen politischen Einfluss soweit geltend zu machen, dass effiziente Maßnahmen zur Abwehr der Türken und zur Beilegung kirchlicher Streitigkeiten getroffen werden könnten.165 Einige Jahre später, 1532, widmete er ihm seinen Kommentar zum Römerbrief.166 Um diese Zeit, vielleicht auch aus diesem Grund sah sich Sabinus veranlasst, die Aktualität eines prominenten Exempels griechischer Rhetorik aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. besonders herauszustellen. Er übersetzte den berühmten Panegy rikus des Sophisten Isokrates ins Lateinische und fügte dieser Arbeit als illustrierenden Anhang seine eigene kurze Elegie Ad Germaniam bei. Diese Version der Rede, in welcher der athenische und betont proathenisch argumentierende Rhetor den expansionsfreudigen und daher auch bedrohlichen König Philipp von Makedonien zur Schaffung einer pangriechischen Allianz und zum Krieg gegen die Perser mahnt, publizierte er 1531 und widmete sie dem Erzbischof.167 In einem Brief an Albrecht von 1532 legt er dar, in welcher Weise er seine Arbeit verstanden wissen will. Exhibeo enim tibi orationem Isocratis, in qua vir illis temporibus autoritatis summae in universa Graecia, & concordiae publicae cupidissimus, hortatur Philippum Regem Macedonum qui ad id tempus bellum cum Atheniensibus gesserat, ut pacem cum Graecis civitatibus omnibus faciat, et constituta domi concordia bellum in Asiam cum socijs transferat: & non modo Graecos, sed etiam patriam metu servitutis liberet. Imperabant enim eo tempore in Asia Persae, qui colonias Graecorum crudeli servitute oppressas tenebant, quique saepe in Europam traicerant, & Graecos maximis cladibus affecerant, & cottidie bellum vicinis gentibus in Europa denunciabant. Itaque gravissime commemorat Isocrates hanc futuram esse rem maximo Rege, ac felicissimo Imperatore dignam, si constituta domestica concordia civibus ac socijs parcat, & pro patria adversus exteros ac barbaros bellum gerat.168
165 Töppen, S. 27; Scheible: Melanchthons Verständnis des Danielbuchs, S. 293 f. 166 Töppen, S. 27 f. 167 Ebd., S. 28. Melanchthon sorgte für den Druck. In einem Schreiben an Camerarius in Nürnberg vom 26. Juli 1531 merkt er kurz an: „Mitto tibi Isocratis orationem, quam Georgius [Sabinus] exercitii causa vertit.“ Es folgt die Bitte, diesen als Schulübung bezeichneten Text an einen Drucker weiterzuleiten, der sie allerdings wohl in der gewohnten Weise durch Fehler entstellen werde. MBW. T 5. Nr. 1167, S. 138–141, hier S. 139. 168 Georgius Sabinus Illustrissimo Principi Alberto, Cardinali, Electori, Archiepiscopo Moguntino, Magdeburgensi, Primati Germaniae, & c. In: Poemata Georgii Sabini […] Epist., S. 420–423, hier S. 420 f.
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Ich lege dir nämlich die Rede des Isokrates vor, in welcher dieser Mann, zu damaligen Zeiten von höchstem Ansehen in ganz Griechenland und voll Verlangen nach Eintracht im Gemeinwesen, König Philipp von Makedonien, der zu dieser Zeit gegen die Athener Krieg führte, dazu anhielt, mit allen griechischen Staaten Frieden zu schließen und nach Wiederherstellung der Eintracht zu Hause gemeinsam mit seinen Verbündeten den Krieg nach Asien zu verlagern, um nicht nur die Griechen, sondern auch seine eigene Heimat von der Furcht vor Knechtschaft zu befreien. Zu dieser Zeit herrschten in Asien nämlich die Perser, welche die Siedlungen der Griechen in grausamer Knechtschaft hielten und die oft nach Europa übergesetzt, den Griechen schwerste Niederlagen zugefügt hatten und täglich benachbarten Völkern in Europa Krieg androhten. Daher bekräftigt Isokrates mit größtem Nachdruck, dass diese Sache künftig dem größten König angelegen sein müsse und des glücklichsten Kaisers würdig sei, wenn er nach Wiederherstellung der Eintracht in seinem Bereich Bürger und Bundesgenossen schone und für das Vaterland gegen auswärtige Feinde und Barbaren Krieg führe.169
Sabinus kann es sich nicht versagen, auf den (angeblichen?) Erfolg von Isokrates’ Rede hinzuweisen, die ihre beabsichtigte Wirkung auf Philipp nicht verfehlt habe: Philippus enim autoritate huius orationis excitatus, omnia ad tantum bellum necessaria comparare coepit: sed morte impeditus successionem huius gloriae filio Alexandro reliquit, quem Graeci scribunt, etsi domesticis bellis implicitus erat, tamen hac oratione lecta accensum esse, ut rebus domi compositis, citius in Asiam traiecerit.170 Durch die Bedeutung dieser Rede beeindruckt, begann Philipp nämlich, alle zu einem so großen Krieg nötigen Vorbereitungen zu treffen, aber durch den Tod abgehalten, hinterließ er die Nachfolge dieses Ruhmes seinem Sohn Alexander, von welchem die Griechen schreiben, dass er, selbst wenn er in Kriege der eigenen Leute untereinander verwickelt war, sich dennoch durch die Lektüre dieser Rede dazu anspornen ließ, erst die inneren Angelegenheiten zu ordnen und dann recht zügig nach Asien überzusetzen.
Sabinus wird noch deutlicher und stellt eine explizite Analogie zwischen dem athenisch-makedonisch-persischen Konflikt und den Zerwürfnissen innerhalb des Römisch-Deutschen Reiches angesichts der Türkengefahr dar: Nam ut Isocrates Philippo, ita tu Philippi filio Carolo Caesari,171 qui & imperij fastigio, & felicitate par est illius Philippi filio Alexandro, autor esse soles, ut constituta domi concordia pium & necessarium adversus externos hostes bellum suscipiat.172 Denn so wie Isokrates Philipp, so pflegst du Philipps Sohn Kaiser Karl, der an Größe und Blüte seines Reiches jenem Sohn Philipps Alexander ebenbürtig ist, zu veranlassen, erst die Eintracht im Inneren wiederherzustellen und dann einen frommen und notwendigen Krieg gegen die auswärtigen Feinde zu beginnen.
169 Übersetzung T. B. 170 Ebd., S. 421 f. 171 Der Vater Karls V. war Philipp I. von Österreich, genannt „der Schöne“ (1478–1506). 172 Ebd., S. 422.
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Soweit äußert sich Sabinus zu seiner Übersetzung der Isokrates-Rede, also einer Prosaschrift. Seine eigene kleine Elegie im Anhang scheint nicht ohne Wirkung schon auf die Zeitgenossen geblieben zu sein. Ebenso wie die erwähnte Heroide Germania ad Caesarem Ferdinandum wurde sie in die Turcica-Sammlung des schlesischen Späthumanisten Nikolaus Reusner aufgenommen. 1595 erschien in einer Sammelflugschrift eine anonyme deutsche Übersetzung bzw. eher Nachdichtung derselben.173 Formal bedient sich Sabinus in seiner Elegie altbewährter Traditionsstränge der antiken und humanistischen Literatur. So kehrt er mit der Wahl einer Kriegsparänese in elegischen Distichen zu den frühgriechischen Ursprüngen der Elegie zurück. Martialisches Adelsethos erfuhr im 7. Jahrhundert v. Chr. gegenüber den (mit Ausnahme Hektors) vorrangig nach individuellem Ruhm strebenden homerischen Helden eine zunehmende Rückbindung an die Gemeinschaft und erforderte den Einsatz für die jeweilige Polis.174 Dichter wie Kallinos von Ephesus, Tyrtaios und später der große athenische Staatsmann Solon (594 Archon mit besonderen Vollmachten) bedienten sich dieser Form, um ihre Mitbürger zur Eintracht im Inneren und zum kompromisslosen, selbst das Opfer des eigenen Lebens geringschätzenden Widerstand gegen den äußeren Feind zu mahnen. Dabei beschworen sie Werte wie kriegerische Tapferkeit, Gerechtigkeit und Besonnenheit, Mäßigung. Es scheint, dass Tyrtaios, dessen Herkunft von Sparta oder Athen schon in der Antike umstritten war, in manchen Darstellungen zu einer beinahe mythischen Figur wurde, nämlich zu einem lahmen Schulmeister, der allein durch die Gewalt seiner Lieder die Spartaner zum Sieg befähigte.175 Bis ins 6. Jahrhundert v. Chr. fand die Elegie neben anderen Inhalten also auch besonders als „Kampflied“ Verwendung, bevor sich dann allmählich der bis heute geläufige Gebrauch des Wortes als „Klage“176 oder „Liebesklage“ durchsetzte. Auch in anderen literarischen Gattungen, ob Poesie oder Prosa, erklangen Beschwerden über die moralische Degeneration des Zeitalters, welche nicht mehr nur die Bewährung des Einzelnen auf dem Schlachtfeld betrafen. Besonders die römische
173 Der Sinnreiche Poet Sabinus redt Teutschland an. In: Türckische KriegßOrdnung. Darin kurz begriffen der Türckischen Sultanen Macht/ Bestellung der Kriegßämbter/ Regiments Rechte und Gewohnheiten: wie auch die Ursachen/ warumb die Türcken den Christen bißhero und noch uber legen. Und dann ein Bedencken und Rath/ wie der Krieg wider diese Feinde anzugreiffen. Frankfurt am Main 1595, fol. D 2 r–D 3 r. Hinweis auf diese Fassung bei A. Schmidt: Vaterlandsliebe und Religionskonflikt, S. 242, Anm. 153. 174 Albin Lesky: Geschichte der griechischen Literatur. 3., neu bearbeitete und erweiterte Auflage. München 1999, S. 143 ff. 175 Ebd., S. 145. 176 Vgl. dazu Hor. ars 77.
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(auch nichtelegische) Dichtung,177 Oratorik und Historiographie boten Raum für eine systematische Zivilisationskritik, welche die verweichlichte, dekadente Gesellschaft der Gegenwart durch die Konfrontation mit einer (angeblich) ruhmreichen Vergangenheit und sittenstrengen Vorfahren zu bekehren sucht.178 Die darauf mehr oder minder deutlich Bezug nehmenden Humanisten sind selbstverständlich auch vertraut mit der auf das Alte Testament zurückgehenden Bußpredigt, welche Städten oder Völkern, deren lasterhaftes Treiben Gottes Zorn erregt, ein Strafgericht androht.179 Am Vorabend der Reformation widmet sich in Deutschland u. a. eine prominente Gestalt wie Konrad Celtis der Zeitenklage.180 Es findet sich kaum ein Autor, der nicht angesichts der wieder einmal zunehmenden Türkengefahr in irgendeiner Weise althergebrachte Tugenden beschwört und die Großen des Reiches sowohl zur inneren Eintracht als auch zur Verteidigung von Vaterland und/oder Christenheit aufruft. Die in scharfer Dichotomie formulierte Option des christlichen Adels zwischen Ruhm und Schande, Heil und Untergang sind ein stets wiederkehrender Gegenstand bei Ulrich von Hutten, besonders in seiner anlässlich des Augsburger Reichstages von 1518 publizierten Ad Principes Germanos, ut bellum in Turcas concorditer suscipiant exhortatoria.181 Auch dieser Rede Huttens ist eine kurze, als Weckruf zum Türkenkrieg gestaltete Elegie beigefügt, nämlich das 18 Distichen umfassende Ad Germanos suos. Exhortatorium. Möglicherweise ist auch hier eine von Sabinus’ Inspirationsquellen zu suchen. In den folgenden Jahren ergingen nicht ausschließlich, aber gerade von protestantischer Seite bittere Worte über das sündige Leben der Zeitgenossen und Aufrufe zur Bußfertigkeit. Sabinus’ Gedicht regte schon im späten 16. Jahrhundert zu Bearbeitungen an. Die amplifizierte, aus 43 jambischen deutschen Paarreimen bestehende Nach-
177 Dabei ist z. B. an die vielseitige Dichtung des Horaz zu denken. Eine direkte Fortsetzung der archaischen griechischen „Kampfelegie“ gibt es bei den Römern nicht. Die römische Elegie, vermutlich eine genuin römische Gattung, versteht sich als „Liebeselegie“ und beschwört eine Lebensform mit ausdrücklicher Distanzierung von Kriegsdienst und Politik. 178 Darunter dominieren Schriftsteller wie Cicero, Sallust, Livius, Tacitus, Lucilius, Horaz, Martial und Juvenal. Als loci classici aus dem Bereich der Prosa gelten z. B. das Proömium zu Sall. Catil. 2, 1–2,9, die Praefatio zu Liv. 1, 5–13 oder Cic. Catil. 1, 2–3: O tempora, o mores! […] Fuit, fuit ista quondam in hac re publica virtus, ut viri fortes acrioribus suppliciis civem perniciosum quam acerbissimum hostem coercerent. Die Alten haben also mit schärfsten Maßnahmen über das allgemeine Wohl gewacht. 179 Das Buch Jeremia besteht fast ausschließlich aus solchen Stellen. Vgl. auch Jona 3, 4–10. 180 Kühlmann: Humanistische Lyrik, S. 1262. Vgl. z. B. Konrad Celtis: Ad Elsulam a priscis et sanctis Germaniae moribus degenerantem. [Amores 2, 9]. In: Wilhelm Kühlmann: Humanistische Lyrik, S. 104–113, 1005–1008 (Kommentar). 181 In: Ulrich von Hutten: Schriften. Hrsg. von Eduard Böcking. Bd. 5. Leizig 1861, S. 98–136.
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dichtung von 1595 lässt von der antiken Form der Elegie nicht mehr viel erkennen, sondern richtet stattdessen in emotional moralisierender Weise den Fokus mehr auf den religiös-erbaulichen Aspekt. Der Anschaulichkeit halber werden daher hier Zitate aus Sabinus’ Text zusammen mit dieser Fassung und mit der wesentlich textgetreueren modernen Übersetzung aus Kühlmanns Anthologie präsentiert. Der Sprecher eröffnet die Elegie in schroffer Weise (1–2): Quo tua bellatrix abijt Germania virtus? Dissimilis nostro tempore facta tui. O Teutschland aller Ehren Kron/ O du viel streitbare Nation/ Wie ist dein Lob und schöner Ruhm So schändlich nunmehr kommen umb? Wohin entschwunden ist deine Tapferkeit, kriegsberühmte Germania? Unähnlich bist du dir selbst geworden in dieser Zeit.
Die entrüstete rhetorische Frage gibt sich durch ihren Wortlaut Quo ruis unschwer als Rekurs auf Horaz’ siebte Epode zu erkennen.182 Durch bellatrix Germania und virtus wird das hauptsächlich von Tacitus geprägte Germanenbild heraufbeschworen,183 dem der gegenwärtige Zustand nicht mehr entspricht. Virtus gehört zu den vielseitigsten und umfassendsten Begriffen der lateinischen Sprache und kann sich auf nahezu alle Lebensbereiche beziehen. So umfasst die taciteische virtus das gesamte Bedeutungsfeld. Sie bezeichnet grundsätzlich jede menschliche Qualität, ehrbare Gesinnung, gute Handlungen, vor allem aber kriegerische Tapferkeit sowohl bei den Römern als auch bei deren Gegnern.184 Mit virtus korreliert bellatrix. Tacitus erwähnt in seiner Germania Waffen als wichtigsten Alltagsgegenstand des fremden Volkes.185 Der weitgehende Konsens der Römer in Bezug auf bestimmte ethnische Stereotype findet seinen Ausdruck auch in der antiken Ikonographie der Germania, welche mit Speer, Langschild, muskulösem Oberkörper und ähnlichen Attributen die Tapferkeit ihrer Bewohner repräsentiert.186 In der römischen Dichtung dient bellatrix ursprünglich zur Charakterisierung von
182 Ebd., S. 1263. Hor. epod. 7, 1 beginnt mit der bestürzten Anrufung der einander bekriegenden Römer: Quo, quo scelisti ruitis? 183 Brandt: Germania und ihre Söhne, S. 57. 184 Werner Eisenhut: Virtus Romana. Ihre Stellung im römischen Wertesystem. München 1973 (Studia et testimonia antiqua 13), S. 174 ff. 185 Brandt: Germania und ihre Söhne, S. 57. Eine schöne Zusammenfassung derartiger Eindrücke bietet Tac. Germ. 13: Nihil autem neque publicae neque privatae rei nisi armati agunt. 186 Brandt: Germania und ihre Söhne, S. 57. Vgl. auch das Kapitel dieser Arbeit 2.3.1.
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Göttinnen und Amazonen wie Penthesilea187 oder ähnlich kriegerischen Frauen wie Camilla;188 später auch zur ehrfürchtigen Anrede Roms, hier liegt es nahe zu vermuten, dass eine Stelle bei Ovid das Modell abgibt für die Gepflogenheit der Humanisten, Germania als Verkörperung des Reiches mit dem Epitheton bellatrix auszustatten.189 Wie in der Heroide Germania ad Caesarem Ferdinandum, dort im zweiten Distichon erstmals auf den Punkt gebracht,190 kann auch hier der erschütternde Gegensatz des nunc und olim/quondam nur unter der Voraussetzung einer Kontinuität von Germanien (nach taciteischem Modell), dem mittelalterlichen und dem gegenwärtigen Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation entstehen. In Vers 3–6 bietet der Sprecher historische Exempel auf und ruft der Adressatin deren eigene frühere Heldentaten in Erinnerung. Die beiden Distichen sind parallel gebaut: In den Hexametern ist jeweils von einem Sieg der Germania über feindliche Völker die Rede; in den Pentametern dient jeweils ein Temporalsatz zur Erinnerung daran, unter welchem Herrscher Germania diesen Sieg erlangte. Bemerkenswerterweise wählt Sabinus, anders als in der Heroide Ger mania ad Caesarem Ferdinandum, keine Exempel aus der Antike, sondern aus dem Mittelalter. In Bezug auf die Wahrnehmung des Mittelalters in der Frühen Neuzeit bedürfen manche landläufigen Vorstellungen und Klischees einer Relativierung.191 Dabei zeigt sich, dass die Humanisten des 15. und 16. Jahrhunderts bei der Einteilung der Geschichte in Epochen nach verschiedenen Kriterien verfahren und nicht alle durchweg „Petrarcas Dreierschema: lateinische antike Norm – ihr Verlust – ihre Wiedergewinnung“192 übernehmen.193 Was Dieter Mertens über den Gelehrten Wimpfeling und dessen Verehrung der mächtigen, frommen und gebildeten deutschen Herrscher resümiert, stellt einen Gemeinplatz im humanistischen Geschichtsbild dar, dessen sich auch Sabinus bedient:
187 Verg. Aen. 1, 490 ff. zeigt die Amazonenkönigin Penthesilea unter den bildnerischen Darstellungen in Didos Junotempel in Karthago. 188 Verg. Aen. 7, 803 ff. lässt den eindrucksvollen Heereskatalog der italischen Gegner des Aeneas mit der ebenso waffentüchtigen wie übermenschlich schnellen Volskerin Camilla enden. 189 Vgl. Ov. trist. 2, 231–322: Nec mihi materiam bellatrix Roma negabat/ et pius est patriae facta referre labor. Dieses Attribut lässt sich also ohne weiteres von Rom auf die Figur der Germania übertragen. 190 Usa diu rebus quae sum tranquilla secundis,/ Hoc iaceo multis tempore pressa malis. Poemata Georgii Sabini, S. 14. 191 Dieter Mertens: Mittelalterbilder in der Frühen Neuzeit. In: Gert Althoff (Hrsg.): Die Deutschen und ihr Mittelalter. Themen und Funktionen moderner Geschichtsbilder vom Mittelalter. Darmstadt 1992, S. 29–54. 192 Ebd., S. 35. 193 Ebd., S. 32–45.
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Wenn er [Wimpfeling] die Kriegskunst der athenischen, spartanischen, thebanischen, karthagischen Feldherrn gegen die der deutschen Kaiser, der Heinriche, Ottonen, Karle, Konrade, Friedriche, nicht aufkommen läßt […], dann vergegenwärtigt er antike Norm, die, nie verloren, von den deutschen Herrschern schon stets übertroffen worden sei.194
Den beiden in Vers 4 und 6 erwähnten Herrschern lässt Sabinus auch an anderer Stelle literarische Würdigungen zuteilwerden: In der zeitnah entstandenen, zwei Bücher umfassenden Sammlung Caesares Germanici descripti a Georgio Sabino Brandeburgensi195 von 1532 sind alle deutschen Kaiser mit ihren jeweiligen Leistungen von Karl dem Großen bis zu Ferdinand I. in elegischen Distichen beschrieben. Die Vertreibung der „Hunnen“ bezieht sich auf den Sieg Ottos I. über die Ungarn auf dem Lechfeld am 10. August 955.196 Die Schlacht zwischen Otto und den Ungarn, die in gefürchteten Reiterverbänden europäische Landstriche unsicher machten und den Menschen des 10. Jahrhunderts wie eine Strafe Gottes erschienen, wurde schon zu Ottos Lebzeiten zu einem Kampf der Christen gegen die Heiden und Feinde Gottes stilisiert.197 Die lediglich auf Fernkampf spezialisierten Ungarn, deren berüchtigte Schusswaffen wahrscheinlich aufgrund eines Wolkenbruchs versagten, konnten in die Flucht getrieben werden und fielen grausamen Angriffen zum Opfer, indem sie entweder an den Ufern des Lechs erschlagen oder in verlassenen Gehöften, in denen sie Zuflucht gesucht hatten, durch Brandsätze vernichtet wurden.198 Freilich erschien nicht das Wetter als ausschlaggebender Faktor in der ottonischen Geschichtsschreibung.199 In hist-
194 Ebd., S. 37. 195 Caesares Germanici descripti a Georgio Sabino Brandeburgensi. In: Poemata Georgii Sabini, S. 201–236. Bei CAMENA: Lateinische Texte der Frühen Neuzeit (http://mateo.uni-mannheim.de/ camenahtdocs/camena.html, letzter Zugriff am 09. 06. 2022) ist fälschlicherweise die letzte Seite, nämlich S. 236, als S. 226 vermerkt. 196 Kühlmann: Humanistische Lyrik, S. 1263. Vgl. Georg Sabinus: Otho Magnus. In: Poemata Georgii Sabini [Caesares Germanici. Liber I] S. 206–207. Sabinus eröffnet sein Portrait Ottos mit der Lechfeldschlacht. Poemata Georgii Sabini, S. 206: Saxonicis domitos Otho finibus expulit Hunnos,/ Quos pater augusta vicerat ante manu:/ Hosque revertentes ingenti clade peremit,/ Hic ubi Suevorum perfluit arva Lycus./ Centum vulneribus ceciderunt millia, septem/ Vix sibi difficili consuluere fuga. (Otto vertrieb die bezwungenen Ungarn aus Sachsen, die zuvor sein Vater mit kaiserlicher Hand besiegt hatte. Als sie zurückkehrten, brachte er ihnen eine tödliche Niederlage bei. Hunderttausend erlagen ihren Wunden, kaum sieben konnten sich durch knappe Flucht retten.) Übersetzung T. B. 197 Johannes Laudage: Otto der Große (912–973). Eine Biographie. Regensburg 2001, S. 171–179. 198 Laudage, S. 175 ff.; Maximilian Georg Kellner: Die Ungarneinfälle im Bild der Quellen bis 1150. Von der „Gens detestanda“ zur „Gens ad fidem Christi conversa“. München 1997 (Studia Hungarica 46), S. 171 f. 199 Laudage, S. 177.
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orischen Dokumenten war die Rede vom Tagesheiligen Laurentius und dessen erfolgreicher Fürsprache bei Christus, von der Gründung des Bistums Merseburg zu Laurentius’ Ehren, von einer Heiligen Lanze des Königs, von den geistlichen und militärischen Taten des später kanonisierten Bischofs Ulrich und von allgemeinen Bußübungen, die Heer und Klosterfrauen am Vorabend der Schlacht leisteten.200 Der Sieg wurde auf Gottes besonderen Beistand infolge eines „kollektiven Bittgestus“201 zurückgeführt. Weltgeschichtliche Bedeutung sollte die Schlacht insofern erlangen, als sie einerseits der Christenheit Rettung brachte und andererseits zum ersten Mal verschiedene Volksstämme unter Otto einte und deshalb bis ins 20. Jahrhundert als ein nationales Datum, wenn nicht gar als „Geburt der deutschen Nation“ gefeiert wurde.202 Widukind von Corvey, eine der wichtigsten zeitgenössischen Quellen, wenn auch tendenziös, macht in seinen Res gestae Saxonicae203 Otto, der erst 962 vom Papst zum Kaiser gekrönt wurde, schon von diesem Sieg an zum „Imperator“.204 Der Geschichtsschreiber trägt frühmittelalterlichen Deutungsmustern Rechnung, indem er zum Ausdruck bringt, dass der Kaiser seinen Titel nicht bloß der Gnade des Papstes, sondern, ebenso wie vor ihm die Karolinger, eigenen Verdiensten verdankt.205 Sabinus scheint also das Beispiel der „Hunnenvertreibung“ aus verschiedenen Gründen gewählt zu haben. Die Ungarn, nach der Lechfeldschlacht als teuflische gens detestanda ins kollektive Gedächtnis eingegangen,206 präfigurieren die in der Elegie thematisierte Türkengefahr; zudem fügen sie sich in den folgenden Jahrhunderten in die europäische Staatenwelt ein und bereiten als gens ad fidem Christi conversa dem Christentum einen Triumph.207 Indem Sabinus als
200 Ebd., S. 175 ff.; Bernd Schneidmüller: Otto I. der Große (936–973). In: Bernd Schneidmüller und Stefan Weinfurter: Die deutschen Herrscher des Mittelalters. Historische Portraits von Heinrich I. bis Maximilian I. (919–1519). München 2003, S. 35–61, hier S. 52 f. 201 Laudage, S. 170. 202 Ebd., S. 177 ff. 203 Im Folgenden zitiert nach Widukind von Corvey: Res gestae Saxonicae. Die Sachsengeschichte. Lateinisch / Deutsch. Übersetzt und hrsg. von Ekkehart Rotter und Bernd Schneidmüller. Stuttgart 1981. 204 Widukind: Res gestae Saxonicae 3, 49: Triumpho celebri rex factus gloriosus ab exercitu pater patriae imperatorque appellatus est; […]. 205 Laudage, S. 178 f. 206 Maximilian Georg Kellner: Die Lechfeldschlacht, ein Ereignis zwischen historischer Forschung und populärwissenschaftlicher Darstellung. In: Márta Fata (Hrsg.): Das Ungarnbild der deutschen Historiographie. Stuttgart 2004 (Schriftenreihe des Instituts für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde 13), S. 289–298, hier S. 298. 207 Ebd., S. 58.
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nachahmenswertes Exempel einen Herrscher nennt, der Kurie und Kirche souverän in seine Pläne einzubinden verstand,208 macht er sich die protestantischen Fürsten und Würdenträger geneigt, die ja mit dem Appell an die Gestalt der Germania zumindest als prominente Teilgruppe angesprochen werden. Welche vorbildliche Bereitschaft zu kriegerischen Aktionen Otto jedenfalls in der offiziellen Darstellung seiner Zeit besitzt, geht aus Widukinds einleitenden Worten zu seinem Bericht von der Schlacht hervor.209 Otto, der gerade zuvor noch Aufstände des Hochadels und zum Teil seiner eigenen Familie bekämpft hatte,210 soll also ungeachtet aller Strapazen auf die bloße Kunde vom Einfall der Ungarn hin zum Abwehrkampf gerüstet haben. Sabinus erweist sich darin als typischer Vertreter des humanistischen laudator temporis acti, dass er angesichts der Türkengefahr seiner in Dekadenz erschlafften Germania deren eigene Vergangenheit unter Otto als eine vorbildliche Epoche kriegerischer Entschlossenheit ins Gedächtnis ruft, die es wiederherzustellen gilt. In den Versen 5–6 nennt der Sprecher als zweites Exempel der ruhmreichen Vergangenheit die victricia signa, die Germania unter Friedrich nach Jerusalem getragen habe. Dabei handelt es sich um den Kreuzzug Kaiser Friedrichs II. von 1229, der mit der Rückgewinnung der heiligen Stätten für die Christen endete. Die Formulierung victricia signa tulisti suggeriert die Vorstellung von einem gewöhnlichen militärischen Sieg und bietet deshalb auf den ersten Blick keinen Untersuchungsbedarf. Friedrich II. jedoch, der aufgrund seiner unkonventionellen Herrschafts- und Lebensweise den Beinamen stupor mundi erhielt, führte einen in jeder Hinsicht außergewöhnlichen Kreuzzug. Zum einen war er zur Zeit des Aufbruchs bereits exkommuniziert worden, da er die dem Papst unter Eid gelobte Unternehmung teils aufgrund widriger Umstände zu lange aufgeschoben hatte;211 zum anderen führte er keinen Krieg in Jerusalem, sondern erreichte allein durch geschickte Verhandlungen mit dem ägyptischen Herrscher al-Kamil bis auf wenige Ausnahmen die Herausgabe der heiligen Stätten und krönte
208 Schneidmüller: Otto I. der Große, S. 55 f. betont, dass „dieses selbstverständliche Miteinander“ (S. 56) nach den Vorstellungen des 10. Jahrhunderts keine „sündhafte Indienststellung der Geistlichkeit in politischen Nutzen“ darstellt. 209 Widukind: Res gestae Saxonicae 3, 44: His auditis rex, quasi nichil laboris preterito bello toleravisset, coepit ire contra hostes […]. 210 Gert Althoff: Art. Otto I. In: NDB. Bd. 19, S. 656–660, hier S. 657 f. 211 Hans Martin Schaller: Art. Friedrich II. In: NDB. Bd. 5, S. 478–484, hier S. 480; Klaus van Eickels: Friedrich II. (1220–1250) mit Heinrich (VII.) (1222–1235). In: Bernd Schneidmüller und Stefan Weinfurter (Hrsg.): Die deutschen Herrscher des Mittelalters. Historische Portraits von Heinrich I. bis Maximilian I. (919–1519). München 2003, S. 293–314, hier S. 303 f.
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sich selbst in der Grabeskirche zum König von Jerusalem.212 Während seiner Herrschaft als Kaiser befand er sich mit drei Päpsten, vor allem mit Gregor IX., aber auch mit dessen Vorgänger Honorius III. und mit dessen Nachfolger Innozenz IV. in dauerhaftem, nur durch kurzfristige Annäherungen und Aussöhnungen unterbrochenem Konflikt und war zweimal exkommuniziert.213 Sowohl die päpstliche als auch die kaiserliche Partei trugen ihre erbitterte Feindschaft in Briefen und Kampfschriften aus, deren Inhalt in alttestamentarisch-prophetische Sprache gekleidet war. Friedrich, der die Armut und Demut der Urkirche beschwört, erscheint den Seinen als eine Art Messias, dem Papst als apokalyptisches Untier oder sogar Antichrist,214 eine Polarisierung, die sich noch bis ins 20. Jahrhundert fortsetzt und zu verschiedenen ideologischen Vereinnahmungen führt.215 So konnte der auf seinen eigenen Interessen beharrende Staufer in der Frühen Neuzeit „als Herrscher, der das Papsttum in seine Schranken verwiesen hatte“, den Protestanten als Identifikationsfigur im Kampf um die Glaubensfreiheit dienen.216 Insbesondere Melanchthon und seine Anhänger zollten ihm höchste Verehrung. Der Wittenberger Professor sah in ihm den aufgrund päpstlicher Machenschaften verhinderten Idealherrscher für Deutschland.217 Gerade in Bezug auf Sabinus lohnt sich ein Blick auf dessen historisches Portrait Fridericus Secundus im zweiten Buch seiner Caesares Germanici: Den größten Raum nehmen dort kriegerische Auseinandersetzungen ein, insbesondere der stetige Konflikt zwischen Kaiser und Papst (praesul Romanus), dessen Maßnahmen durchweg mit Worten wie fraus, dolus und insidiae charakterisiert werden. Im Bewusstsein seiner militärischen Unterlegenheit hetzt der Papst seine Geistlichen zu tausend Dekreten und Gebeten für Friedrichs Untergang auf, die Gott jedoch, da sie Unrecht sind, nicht erhört. Wer also den gottlosen Waffen folgt, fällt von des Kaisers Hand. Bemerkenswert ist Sabinus’ Version von den Sagen und Legenden, die sich um den Tod des mysteriösen Staufers ranken. Schlaflos und geschwächt verweilt der Kaiser in einer abgelegenen alten Burg und kann nicht sterben, bevor der Geticus tyrannus von Jerusalem vertrieben und die Türkei dem kaiserlichen Joch unterworfen ist.218 Die Gestalt des staufischen Kaisers dient also dem Dichter 212 Art. Friedrich II. (NDB), S. 480; van Eickels, S. 304 f. Ausführlich zu diesem Ereignis und dessen biblisch-religiöser Stilisierung vgl. Wolfgang Stürner: Friedrich II. Teil 2. Der Kaiser 1220– 1250. Darmstadt 2000, S. 157 ff. 213 Art. Friedrich II. (NDB), S. 479–482. 214 Ebd., S. 481; ausführlich Stürner, S. 470 ff. 215 Van Eickels, S. 294 ff. 216 Ebd., S. 294. 217 Karl Hampe: Kaiser Friedrich II. in der Auffassung der Nachwelt. Berlin / Leipzig 1925, S. 24 f. 218 Fridericus Secundus In: Poemata Georgii Sabini, S. 218–221; hier S. 220–221: Arx vetus est, primus fundasse Lotharius illam/ Fertur ab autoris nomine nomen habet:/ Istic rumor ait somno
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dazu, die aktuelle Bedrohung durch die Türken in Analogie zu setzen zu der arabischen Besatzung des heiligen Landes. In den Versen 7–14 wendet sich der Sprecher mit einem direkten Appell an sein Vaterland: Aus der Ferne vom Don ziehen die Türken heran, verheeren das Gebiet an der Donau und drohen, Germania gewaltsam einzunehmen, wenn sie sich nicht zu mutiger Verteidigung entschließt. Die mahnende Instanz kommt im Folgenden auf die martialischen Vergnügungen des einheimischen Adels219 zu sprechen, die insofern nutzlos sind, als sie die für einen echten Krieg benötigten Kräfte verschleißen (11–22). Mit den Imperativen utere und assere drängt der Sprecher die Adressatin unmittelbar zum Handeln. In circo ludicra bella (12) ist offensichtlich eine Umschreibung für die auf das Mittelalter zurückgehenden Ritterturniere, die unter verschiedenen Bezeichnungen wie etwa torneamen tum, hastiludium, exercitium militare etc.220 Popularität erlangt haben. Turniere wurden (im Gegensatz zur Fehde) in grundsätzlich freundschaftlicher Absicht nach strengen Regeln ausgetragen, dienten der Erlangung von Ruhm und Ehre und etablierten sich spätestens seit dem Mainzer Hoftag von 1184 als wesentliche Bestandteile festlicher Zeremonielle an Fürstenhöfen.221 Kaum ein namhaftes Werk der höfischen mittelalterlichen Dichtung kommt in der Folgezeit ohne das geradezu obligatorisch gewordene Motiv der Turnierbeschreibung aus.222 Da derartige Literatur sich an Mäzene und adliges Publikum richtet, enthält sie in der Regel idealisierende Darstellungen.223 Als nach 1500 der Ritterstand
dormire solutum,/ Ante nec effoeto corpore posse mori:/ Quam Geticus Solyma pellatur ab urbe tyrannus,/ Caesareumque ferat Turcia capta iugum. (Es gibt eine alte Burg; Lothar soll sie als erster befestigt haben. Vom Namen des Erbauers trägt sie den ihren. Die Legende besagt, dass er dort einen tiefen Schlaf schlafe und erschöpften Leibes nicht eher sterben könne, als bis der türkische Feind von Jerusalem vertrieben wird und die Türkei das kaiserliche Joch trägt.) Übersetzung T. B. 219 Vgl. dazu Rosemarie Aulinger: Das Bild des Reichstages im 16. Jahrhundert. Beiträge zu einer typologischen Analyse schriftlicher und bildlicher Quellen. Göttingen 1980 (Schriftenreihe bei der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 18), S. 266 ff. (Jagd), 269 ff. (Turnier). 220 Josef Fleckenstein: Das Turnier als höfisches Fest im hochmittelalterlichen Deutschland. In: ders. (Hrsg.): Das ritterliche Turnier im Mittelalter. Ordnungen und formende Kräfte des Mittelalters. Ausgewählte Beiträge. Göttingen 1989 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 80), S. 393–420, hier S. 393 ff., bes. S. 393, Anm. 1. 221 Ebd., S. 398 ff. 222 William Henry Jackson: Das Turnier in der deutschen Dichtung des Mittelalters. In: Josef Fleckenstein (Hrsg.): Das ritterliche Turnier im Mittelalter. Beiträge zu einer vergleichenden Formen- und Verhaltensgeschichte des Rittertums. Göttingen 1985 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 80), S. 257–295, hier S. 262 f. 223 Ebd., S. 268.
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im Kriegsdienst an Bedeutung verlor und reiche Kaufleute in die höhere Gesellschaft aufstiegen, diente die Gründung von exklusiven Turniergesellschaften zur Abgrenzung vom verachteten Bürgertum.224 Sabinus kritisiert hier also nichts Geringeres als das „Constituens des ritterlichen Daseins“,225 welches noch, wenn auch historisch überholt, von Maximilian I., dem „letzten Ritter“, in höchsten Ehren gehalten wurde. Insbesondere der Klerus verurteilte den „pestifer ludus“226 aufgrund vieler tödlicher Unfälle, aber auch wegen des eitlen Gewinnstrebens, der prunkvollen Ausstattung und des ungeheuren finanziellen Aufwandes mit aller Schärfe und drohte den Teilnehmern zeitweilig sogar mit der Exkommunikation.227 Sabinus nimmt, wie sein abwertendes te ostentas nahelegt, Anstoß an der sinnentleerten „ostentatio virium et audaciae,“228 denn „das Turnier, seit seinen Anfängen ein zweckbestimmtes, der Einübung in das Kriegshandwerk dienendes Waffenspiel, verliert am Hof seinen rein militärischen Charakter […].“229 Die Klage über den beschämenden Verlust des militiae decus (15–16) bedeutet zumindest nach dem (offiziellen) Adels- und Gelehrtenethos der Zeit kein Aufbauschen von Luxusproblemen angesichts der Gefahr für Leib und Leben, sondern entspricht geläufigen römischen und vom Humanismus adaptierten Vorstellungen, nach welchen Ruhm, Ehre, Stolz etc. mit Begriffen wie Freiheit und Gemeinwesen eng verbunden sind.230 In den Versen 17–22 macht sich Sabinus die antithetische Struktur des elegischen Distichons zunutze für die pointierte Gegenüberstellung der Unternehmungen der Deutschen und derjenigen der Türken. Hier spricht die mahnende Instanz nicht mehr Germania als Gegenüber an, sondern wählt die erste Person Plural und bringt dadurch, deutlich für alle mit der Gestalt der Germania implizierten Adressaten, ihre Mitschuld an dem gegenwärtigen Übel oder zumindest ihre Solidarität zum Ausdruck. Dabei enthalten die Verse 17–18 bereits eine Art Schlüsselbegriff:
224 Rolf von Ende: Circenses. Spiele auf Leben und Tod. 2., erweiterte Auflage. Berlin 1988, S. 124 ff. 225 Fleckenstein, S. 420. 226 Ebd., S. 397. 227 Ebd., S. 396 ff.; Sabine Krüger: Das kirchliche Turnierverbot im Mittelalter. In: Josef Fleckenstein (Hrsg.): Das ritterliche Turnier im Mittelalter. Beiträge zu einer vergleichenden Formen- und Verhaltensgeschichte des Rittertums. Göttingen 1985 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 80), S. 401–422, hier S. 401 f., hier bes. S. 408 f. 228 S. Krüger: Das kirchliche Turnierverbot, S. 409. 229 Fleckenstein, S. 404. 230 Vgl. Cic. Phil. 3, 36: ad decus et ad libertatem nati sumus; Cic. off. 1, 124: Est igitur proprium munus magistratus intellegere se gerere personam civitatis debereque eius dignitatem et decus sustinere […]. Verg. Aen. 12, 58–59: decus imperiumque Latini/ te penes, in te omnis domus inclinata recumbit.
3.1.1 Georg Sabinus (1508–1560): Germania ad Caesarem Ferdinandum
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Mollia dum sequimur nos desidis ocia vitae, Aspera bellator praelia Turca facit. In dem wir thun in freuden leben/ Nach Wolust und nach kurtzweil streben. Der Türck in dessen unverzagt/ In Schlachten sich und Stürmen wagt: Ubt sich in scharffen Wehrn und Waffen/ Thut ihm erfahrne Kriegßleut schaffen: Während wir uns der sanften Muße eines untätigen Lebens hingeben, unternimmt der kriegerische Türke wilde Feldzüge.231
Otium bzw. vita contemplativa bezeichnet bei den Römern eine Lebensform, die der zum Ideal für alle freien Bürger erhobenen vita activa, also der selbstlosen Ausübung politischer Ämter, widerspricht und darum (zumindest in republikanischer Zeit) beargwöhnt wird. Des weiteren tadelt der Dichter die Jagd, die zudem auf ungefährliche Tiere wie Hasen (lepores) und Rehe (damae) abzielt (19–20). Die Jagd war bis in die Neuzeit hinein als „Ausdrucksform aristokratischer Identität“232 ein dem Adel vorbehaltener Zeitvertreib und ein bevorzugtes Sujet in Fachliteratur und textiler Gestaltung.233 Schon in der griechischen Antike schätzte man diese Beschäftigung als Ertüchtigung für Leib und Seele und – bisweilen auch alternativ zu militärischen Unternehmungen – als Bewährungsfeld für virtus.234
231 Vgl. Ulrich von Hutten: Ad principes Germanos, S. 9 f.: Proinde,o principes, cum in propinquo habeamus hostem, validissimis instructum copiis et cui omnia bello necessaria ad superfluitatem usque suppetunt, qui milites ducit non Asiatica enervatos mollitie, sed iugi (mihi credite) induratos militia, non per immodicum voluptatis usum languentes corporibus, sed assidue bellando confirmatos animis, non domesticae luxuriae desiderio respicientes ad patriam, […] hunc talem, inquam, hostem cum in propinquo habeamus, […], non ad resistendum vos accingetis? (O ihr Fürsten, da wir den Feind in der Nähe haben, der mit den stärksten Truppen ausgestattet ist und über alles für den Krieg Notwendige bis zum Überfluss verfügt, der Soldaten mit sich führt, die nicht von asiatischer Weichlichkeit entkräftet, sondern [glaubt mir]) durch andauernden Kriegsdienst abgehärtet, nicht durch maßlosen Genuss von Vergnügungen schlaff am Leib, sondern durch ständiges Kriegsführen stark im Gemüt sind, die nicht voll Sehnsucht nach ihrem häuslichen Luxus nach der Heimat zurückblicken, […] da wir einen solchen Feind, sage ich, in der Nähe haben, […] wollt ihr euch da nicht zum Widerstand rüsten?) Übersetzung T. B. 232 Birgit Franke: Jagd und landesherrliche Domäne. Bilder höfischer Repräsentation In Spätmittelalter und Früher Neuzeit. In: Wolfram Martini (Hrsg.): Die Jagd der Eliten in den Erinnerungskulturen von der Antike bis in die Frühe Neuzeit. Göttingen 2000 (Formen der Erinnerung 3), S. 189–216, hier S. 191. 233 Ebd., S. 191 ff. 234 Wolfram Martini / Eva Schernig: Das Jagdmotiv in der imperialen Kunst der Zeit. In: Wolfram Martini (Hrsg.): Die Jagd der Eliten in den Erinnerungskulturen von der Antike bis in die Frühe
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
Im Bild des Mühen auf sich ladenden Jägers, der Hitze und Kälte trotzt und keinerlei Anstrengung scheut, mit Ausdauer, Geschick, Mut und Schnelligkeit die Jagdbeute in freier Wildbahn verfolgt und schließlich zur Strecke bringt, verfließen somit die Grenzen zwischen Mythos und Realität.235
Sabinus greift einen in der humanistischen Publizistik verbreiteten Topos auf, wenn er die Jagd mit Hunden (auf ungefährliche Tiere) ebenso wie das Turnier als mollia desidis ocia vitae tadelt. Diesen wehrlosen und eher bedauernswerten Waffenopfern der eigenen Landsleute stellt er die regna als Beute des Türken gegenüber (19–20). Hatte er in Germania ad Caesarem Ferdinandum noch das personifizierte Deutschland die vom Blut der eigenen Söhne gefärbten Flüsse und die bürgerkriegsartigen Zwistigkeiten beklagen lassen, so geißelt er hier das sine sanguine ludere (21) und das otium generell als Ursprung des Verderbens. Die abschließenden Verse 23–28 richten sich wieder direkt an Germania als angesprochene Figur und enthalten einen nochmaligen, von Imperativen dominierten Appell zur Vertreibung der Türken, wobei das ehrende Attribut generosa wiederum Bezug nimmt auf die glanzvolle antik-mittelalterliche Vergangenheit. Der Sprecher warnt eindringlich (25–28): Ipsa tuas vrbes e faucibus eripe lethi Et vetus imperij marte tuere decus. Si secura mali non profligaveris hostem, Tristia crudeli vulnera clade feres.236 Dein wohlerbawte schöne Stätt/ Vom eussersten verderbnuß rett: Das schöne Lob / den grossen Ruhm/ So nun das Römisch Kayserthumb/ Erhalten hat so manches Jar/ Löß von so sorglicher gefahr. Wirstu nun geben nichts hierauff
Neuzeit. Göttingen 2000 (Formen der Erinnerung 3), S. 129–155, hier S. 138 ff. 235 Martini / Schernig, S. 140. 236 Vgl. die abschließenden Verse von Ulrich von Huttens an die Rede anschließenden Epigramms Ad Germanos suos. Exhortatorium [Ulrichi Hutteni opera. Bd. 5, S. 135–136, hier S. 136] mit der Warnung vor den schrecklichen Konsequenzen, falls die Fürsten nicht zum Abwehrkampf rüsten: Aut totum ruet imperium resque ipsae hominesque,/ (Ah pereat Turcas qui negat esse viros.)/ Aut feret hunc Gallus, feret hunc Hispanus honorem,/ Obiectum nobis praeripietque decus. (Entweder wird das ganze Reich zugrunde gehen, der Besitz und die Menschen, [nieder mit dem, der behauptet, dass die Türken keine Männer seien!] oder der Franzose oder der Spanier wird diese Ehre davontragen und uns den vor Augen gehaltenen Ruhm entreißen.) Übersetzung T. B.
3.1.1 Georg Sabinus (1508–1560): Germania ad Caesarem Ferdinandum
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Es halten für ein lauter gauff/ Den Feind zuruck nicht schlagen wider/ So ists verlohrn/ was man thut sider. Ein Blutbad ist dir zugericht/ Darinnen du gar jämmerlich/ Hoch uber deine schönen Waden/ Wirst müssen selbst mit trübsal Baden.237 Entreiße du selbst deine Städte dem Schlunde des Verderbens, schütze im Kampf den alten Ruhm des Reiches! Wenn du, unbesorgt ob der Gefahr, den Feind nicht zu Boden streckst, wirst du todbringende Wunden erleiden und grauenvoll untergehen.238
Die um ein h erweiterte Schreibweise lethi in der Aufforderung, die eigenen Städte e faucibus leti, also dem Rachen des Todes, zu entreißen (25), impliziert wohl in einem für den Humanismus typischen Wortspiel eine Analogie zwischen Tod (letum) und Vergessen (Lethe).239 Möglicherweise klingt in diesem Vers auch ein biblisches Diktum an, nämlich aus dem Buch Jeremia,240 wo Gott ankündigt, die Fürsten und Weisen Babels betrunken zu machen und in ewigen Schlaf zu versenken, aus dem sie nicht mehr erwachen. Zur Bewältigung von Krisen und Gefahren ist jedoch gerade die Fähigkeit und Bereitschaft zur Erinnerung eine unerlässliche Voraussetzung. Germania soll das vetus imperii decus verteidigen und somit die auf Errungenschaften der Vorfahren basierende Tradition der deutschen Reichsherrschaft fortsetzen. Sie soll nicht nur ihre bloße Existenz, sondern auch ihr Nationalprestige verteidigen. Das letzte Distichon ist, obwohl es auch als optimistisch anspornende Prophezeiung eines Sieges hätte formuliert werden können wie in Germania ad Caesarem Ferdinandum, als – wenn auch durch eine Bedingung eingeschränkte – Drohung gestaltet. Sabinus beleuchtet in seinen agitatorischen Türkenkriegsgedichten den drohenden Untergang des Reiches aus mehr als einer Perspektive und mahnt in dieser Elegie zu der Einsicht, dass die Germania secura mali genauso gefährdet ist wie die afflicta Germania aus der zuvor behandelten Heroide.
237 Der Sinnreiche Poet Sabinus redt Teuschland an, V. 73–86. 238 Kühlmann: Humanistische Lyrik, S. 527. 239 Ebd., S. 1264. 240 Jer 51,57.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
3.1.2 Johannes Stigelius (1515–1562) Germania ad Carolum (1541) [Ad invictissimum imperatorem Carolum quintum, Augustum et […] Germaniae epistola gratulatoria, complectens brevem historiam rerum praeclare et foeliciter ab eo gestarum oder Germaniae Epistola, quae continet laudes Caroli V. Imperatoris Augusti] Johannes Stigelius (auch Stigel, Stygel oder Stygelius geschrieben) war neben Georg Sabinus und dem später von Luther abtrünnig gewordenen Simon Lemnius der prominenteste Vertreter des älteren Wittenberger Dichterkreises um Melanchthon.241 Am 13. Mai 1515 wurde er als Sohn eines Schulmeisters in Friemar bei Gotha geboren. Nach dem Besuch der Lateinschule zu Gotha, wo er erste Kontakte zu Conradus Mutianus Rufus, der zentralen Gestalt des Erfurter Humanistenkreises, knüpfte, kam er 1531 mit 16 Jahren an die Universität Wittenberg.242 Dort widmete er sich mit Vorliebe der Poesie und behandelte insbesondere die griechischen Autoren bei Franz Burckhardt; sein Jurastudium hingegen vertauschte er auf Melanchthons Rat mit Astronomie, Medizin und Physik.243 Wahrschein241 Zu Stigelius vgl. Hans-Henning Pflanz: Johann Stigel als Theologie (1515–1562). Mit einer Biographie und einem Anhang von ungedruckten Briefen und einem Verzeichnis seiner gedruckten Schriften. Ohlau in Schlesien 1936; Adalbert Schroeter. Beiträge zur Geschichte der neulateinischen Poesie Deutschlands und Hollands. Aus seinem Nachlaß hrsg. mit Unterstützung der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1909 (Palaestra 77), S. 129–164; Georg Ellinger: Geschichte der neulateinischen Literatur Deutschlands im sechzehnten Jahrhundert. Bd. 2. Berlin / Leipzig 1929, S. 75–94; Stefan Rhein: Johannes Stigel (1515–1562). Dichtung im Umkreis Melanchthons. In: Heinz Scheible (Hrsg.): Melanchthon in seinen Schülern. Vorträge, gehalten anläßlich eines Arbeitsgespräches vom 21. bis 23 Juni 1995 in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Wiesbaden 1997 (Wolfenbütteler Forschungen 73), S. 31–48; Bärbel Schäfer: Johann Stigels antirömische Epigramme. In: Heinz Scheible (Hrsg.): Melanchthon in seinen Schülern. Vorträge, gehalten anläßlich eines Arbeitsgespräches vom 21 bis 23. Juni 1995 in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Wiesbaden 1997 (Wolfenbütteler Forschungen 73), S. 51–68; Bärbel Schäfer: Mit den Waffen der Dichtkunst. In: Michael Beyer und Günther Wartenberg (Hrsg.): Humanismus und Wittenberger Reformation. Festgabe anläßlich des 500. Geburtstages des Praeceptor Germaniae Philipp Melanchthon am 16. Februar 1997. Leipzig 1996, S. 389–407; Bärbel Schneider: Die Anfänge der Universität Jena. Johann Stigels Briefwechsel im ersten Jahrfünft der Hohen Schule (12. März 1548–31. Mai 1553). Edition, Übersetzung und Kommentar. Neuried 2002 (Deutsche Universitätsedition 11); John. L. Flood: Poets Laureate. Bd. 4, S. 2003–2007; Christina Meckelnborg / Bernd Schneider: Der Wittenberger Homer. Johann Stigel und seine lateinische Übersetzung des elften Odyssee-Buches. Leipzig 2015 (Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie [LStRLO] 28). 242 Pflanz, S. 7 f. 243 Ebd., S. 8 f.; B. Schneider: Die Anfänge der Universität Jena, S. 20 f., Ellinger. Bd. 2, S. 75. Pflanz, S. 7 f.
3.1.2 Johannes Stigelius (1515–1562): Germania ad Carolum
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lich hörte Stigelius dort theologische Vorlesungen von Luther,244 doch wie eng der persönliche Kontakt zwischen den beiden Männern war, bleibt unbekannt. Immerhin schätzte der Reformator den Dichter so sehr, dass er ihn später des öfteren in seinen Tischreden zitierte.245 Seinem Lehrer Melanchthon blieb Stigelius zeitlebens vielleicht noch enger verbunden als seine Dichterfreunde. Stefan Rhein demonstriert am Beispiel des Stigelius Melanchthons umfassende poetische und persönliche Förderung seiner Schüler.246 Mehr als seine Dichterkollegen stellte Stigelius sein Talent in den Dienst der lutherischen Lehre. Er, der kaum jemals etwas ohne Billigung Melanchthons veröffentlichte, „avancierte sogar zur poetischen Stimme Wittenbergs“247 und leistete keinen unwesentlichen Beitrag zur Verbreitung der Reformation.248 Als 1539 Franz Burckhardt, einst Wittenberger Professor, nun aber Kanzler des kurfürstlichen sächsischen Hauses, Anna von Cleve, die Schwägerin des Kurfürsten, zu ihrer Hochzeit mit Heinrich VIII. nach England bringen sollte, begleitete Stigelius ihn und versuchte, romfeindliche englische Würdenträger für Luthers Lehre zu gewinnen.249 Als einen Höhepunkt seines Lebens dürfte er den Reichstag in Regensburg 1541 empfunden haben, wo er für seine hier zur Diskussion stehende Heroide Ad invictissimum imperatorem Carolum quintum, Augustum et […] Germaniae epistola gratulatoria, im Folgenden der Kürze halber Germania ad Carolum genannt, von Karl V. zum poeta laureatus erhoben wurde. 1543 erhielt er trotz interner Widerstände dank Melanchthons Protektion die Professur für Poetik in Wittenberg, übernahm jedoch nach dem für Kursachsen ungünstig verlaufenen Schmalkaldischen Krieg 1547 in Jena die Leitung bei der Gründung eines Gymnasiums, das 1558 den Rang einer Universität erhielt.250 Gemeinsam mit dem Kollegen Viktorinus Strigel, einem Theologen und Melanchthonschüler, machte er die Schule zu einer für Studenten und Professoren gleichermaßen attraktiven Stätte der Frömmigkeit und Gelehrsamkeit.251 Mit der Berufung des Gnesiolutheraners Matthias Flacius Illyricus im Jahre 1556, der Melanchthon und seine Anhänger anfeindete, wurde das Kollegium, teilweise sogar die Studentenschaft, in zwei Parteien gespalten. In diesem Tumult
244 B. Schneider: Die Anfänge der Universität Jena, S. 21. 245 Pflanz, S. 9. 246 Rhein, S. 31 ff. 247 Ebd., S. 36. 248 Pflanz, S. 95. 249 Ebd., S. 16 ff. 250 Kühlmann: Humanistische Lyrik, S. 1286. 251 B. Schneider: Die Anfänge der Universität Jena, S. 25 ff.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
behauptete Stigelius auch mit den Mitteln poetischer Publizistik seine Loyalität gegenüber Melanchthon bis zu Flacius’ Entlassung.252 Für seine künstlerischen und akademischen Leistungen hoch geehrt, verstarb er am 11. Februar 1562 mit 47 Jahren in Jena.253 Sein Schwiegersohn Hiob Fincelius, der auch eine Biographie zu ihm verfasste, widmete ihm folgenden Nachruf: Gott habe Luther und dessen Gefährten Melanchthon zum Kampf gegen den römischen Irrglauben geschickt; Stigelius sei beiden als Prophet und Sänger an die Seite gestellt worden.254 Stigelius schrieb in erster Linie für ein gelehrtes Publikum in lateinischer, bisweilen auch in griechischer Sprache, wobei sich gelegentlich die Kenntnis hebräischer Wörter zeigt. Anders als Sabinus bediente er sich, um weithin verstanden zu werden, manchmal auch der deutschen Sprache oder fügte dem lateinischen Text eine deutsche Übersetzung bei. Ein großer Teil seines Werkes besteht aus geistlicher Dichtung, darunter Oden, Nachdichtungen von Psalmen und Gedichten zu christlichen Festtagen. Ansonsten feierte er zahlreiche weltliche Ereignisse in seinen Versen, verfasste Eklogen, metrische Abhandlungen zu naturwissenschaftlichen Ereignissen wie Mond- oder Sonnenfinsternissen und Fasti nach dem Vorbild Ovids, welche die Geschichte des ernestinischen Herrscherhauses verherrlichen sollten.255 Seine religiöse Haltung zeigt sich vor allem in den Epigrammen, in denen er gegen den Papst, hohe Würdenträger der katholischen Kirche und Gegner Melanchthons polemisiert.256 Sein Rang als Poet, gerade auch im Vergleich zu dem anderen großen Melanchthonschüler Sabinus, ist umstritten. Nach den Worten des Praeceptor Germaniae selbst war Stigelius nach Eobanus Hessus der zweitgrößte Dichter in Deutschland.257 Sabinus, Jakob Micyllus, Petrus Lotichius Secundus, aber auch Hessus und andere sollen ihm selbst die „Siegespalme“ zugestanden haben.258 Ellinger beurteilt Stigelius, bei dem er eine besondere Gefühlstiefe auszumachen glaubt, mit großem Wohlwollen, stellt ihm aber Sabinus als den Dichter mit der größeren formalen Eleganz gegenüber.259 252 Ebd., S. 27; Goettling, S. 40 ff.; Kühlmann: Humanistische Lyrik, S. 1286. 253 B. Schneider: Die Anfänge der Universität Jena, S. 27 f. 254 Pflanz, S. 37. 255 B. Schneider: Die Anfänge der Universität Jena, S. 29 f. 256 Vgl. dazu die beiden eingangs erwähnten Aufsätze von Schäfer. 257 Rhein, S. 37. 258 B. Schneider: Die Anfänge der Universität Jena, S. 13. Dieselbe, S. 21, Anm. 88 berichtet von einem von Melanchthon initiierten Wettstreit zwischen Sabinus und Stigelius. Sabinus improvisierte: Carmina conscribant alii dictante Lyaeo,/ Multa sit in versu cura laborque meo. Stigelius konterte sehr schlagfertig: Carmina componant alii sudante cerebro,/ Nulla sit in versu cura laborque meo. 259 Ellinger: Neulateinische Literatur. Bd. 2, S. 93.
3.1.2 Johannes Stigelius (1515–1562): Germania ad Carolum
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Unter den zahlreichen Huldigungsgedichten des Stigelius an verschiedene Herrscher sind schon aufgrund ihrer äußeren Form drei patriotisch-allegorische Heroiden bemerkenswert. Die personifizierte Germania richtet jeweils ein Schreiben an Karl V. sowie an den sächsischen Kurfürsten Johann Friedrich und den Landgrafen Philipp von Hessen, die Anführer des Schmalkaldischen Bundes und Karls Gegner.260 Die Heroide Germania ad Carolum ist ein besonders eindrucksvolles Dokument für panegyrische Gelegenheitsdichtung. Stigelius ließ sie 1541 auf dem Reichstag in Regensburg dem Kaiser als Gratulationsgedicht überreichen und wurde dafür von diesem zum poeta laureatus erhoben. Mit diesem Titel („lorbeergekrönter Dichter“) wurden seit der Renaissance Poeten für ihre besonderen Verdienste um die lateinische Dichtung ausgezeichnet.261 Aus den antiken Capitolinischen Wettkämpfen in griechischer und lateinischer Poesie, bei welchen der Sieger einen Lorbeerkranz als Preis davontrug, war die Dichterkrönung entstanden, ein Zeremoniell, das vereinzelt schon im Mittelalter, vor allem aber im Humanismus wiederbelebt und unter der Leitung von Papst oder Kaiser durchgeführt wurde.262 Dieser Festakt brachte dem geehrten Dichter das Privileg einer „quasi-akademischen“ Würde ein. Ausgestattet mit zusätzlichen Insignien wie Ring, Zepter und Siegel sowie einer Urkunde erhielt der poeta lau reatus nach Absolvierung einer Prüfung das (nicht immer unbestrittene) Recht, an der Universität Poetik und Rhetorik zu lehren.263 Die humanistische Tradition dieser Zeremonie begründete Francesco Petrarca, als er sich an Ostern 1341 auf dem Capitol vom römischen Senat den Dichterlorbeer zusammen mit einer Krönungsurkunde überreichen ließ.264 Erster auf deutschem Grund war 100 Jahre später Enea Silvio Piccolomini, der auf dem Frankfurter Reichstag von 1442 von Friedrich III. bekränzt wurde – ein Ereignis, das die Idee der translatio imperii
260 Vgl. dazu die betreffenden Kapitel dieser Arbeit. 261 Friedrich Hermann Schubert: Die deutschen Reichstage in der Staatslehre der frühen Neuzeit. Göttingen 1966 (Schriftenreihe der historischen Kommissionen bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 7), passim; Dieter Mertens: Maximilians gekrönte Dichter über Krieg und Frieden. In: Franz Josef Worstbrock (Hrsg.): Krieg und Frieden im Renaissancehumanismus. Weinheim 1986(Mitteilung der Kommission für Humanismusforschung 13), S. 105–123; Albert Schirrmeister. Triumph des Dichters. Gekrönte Intellektuelle des 16. Jahrhunderts. Köln 2003 (Frühneuzeitstudien. Neue Folge 4); Dieter Mertens: Der Preis der Patronage. In: Thomas Maissen und Gerrit Walther (Hrsg.): Funktionen des Humanismus. Studien zum Nutzen des Neuen in der humanistischen Kultur. Göttingen 2006, S. 125–154; Enenkel: Die Stiftung der Autorschaft in der neulateinischen Literatur, S. 275 ff.; Kühlmann: Reichspatriotismus und humanistische Dichtung, S. 90 f. 262 Anke Detken: Art. Dichter. In: EdN. Bd. 2, Sp. 1000–1001. 263 Ebd., Sp. 1001; Schirrmeister, S. 2–4. 264 Schirrmeister, S. 2; Art. Dichter, Sp. 100.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
eindrucksvoll illustrierte, insofern als sich das Machtzentrum aus dem antiken Rom in das Sacrum Imperium verlagert hatte.265 Erster Deutscher hingegen war der sich als „Erzhumanist“ inszenierende Konrad Celtis, der 1487 für eine Verherrlichung von Kaisertum und Dichtkunst auf der Nürnberger Burg aus denselben Händen wie Piccolomini dieselbe Ehrung empfing. Celtis lieferte zudem auch das Vorbild für den Umgang mit der empfangenen Auszeichnung, indem er u. a. einen Bericht und eine Illustration des Vorgangs veröffentlichte.266 Die von ihm zum Dank publizierte und weithin wirkende Ode267 stellt eine einzige Feier der in seiner Dichtung auch anderweitig ausgerufenen translatio artium dar.268 Zur Zeit Maximilians I. und Karls V. trat der Dichter oftmals im Rahmen von Reichstagen oder Hoffesten auf und demonstrierte seine Fähigkeiten in einer glanzvollen panegyrischen Darbietung, wobei ihm selbst die Wahl der Gattung (Prosarede, Drama, Gedicht) überlassen blieb.269 Hatte er unter Friedrich III. noch wie Celtis vornehmlich Zeiten des Friedens und den Aufschwung der studia humanitatis besingen können, so fand er sich seit Maximilians Herrschaft in zunehmendem Maße bereit, die militärischen Siege der Kaiser zu verherrlichen und zur unmittelbaren Lenkung der Untertanen beizutragen.270 Gegenüber diversen tagespolitischen Ereignissen dominierte stets das Thema von der Bedrohung durch die Osmanen. „Gemeinsam ist den Schriften der gekrönten Dichter aber lediglich, daß sie den Kaiser mittels dieser Aufgabe des Türkenkampfes als legitimen ersten Herrscher der Christenheit darstellen.“271 Exakt 200 Jahre nach Petrarca wurde die Ehre der Dichterkrönung auch Stigelius zuteil.272 Dieser begleitete damals Franz Burkhardt zu einem Religionsgespräch, das 1539 in Hagenau begonnen und 1541 in Worms und Regensburg (5. April bis 29. Juli) fortgesetzt wurde. Näheres berichtet Goettling ausführlich mit Berufung auf die von dessen Schwiegersohn Fincelius verfasste Stigelius-Biogra-
265 Schubert, S. 177 f. 266 Ebd., S. 178. 267 Vgl. Konrad Celtis: Ad Fridericum Caesarem pro laurea proseutice. [Libri Odarum Quatuor, cum Epodo, & Saeculari Carmine (1413)]. In: Kühlmann: Humanistische Lyrik, S. 12–15, S. 934–936 (Kommentar). 268 Vgl. dazu auch Kühlmann: Reichspatriotismus und humanistische Dichtung, S. 90 ff. 269 Schirrmeister, S. 3. 270 Mertens: Maximilians gekrönte Dichter, S. 107 ff; Art. Dichterkrönung, Sp. 1001. 271 Schirrmeister, S. 77. Dazu auch Kühlmann: Der Kaiser und die Poeten, S. 121 ff. 272 Goettling, S. 21 erläutert: „Ac primus quidem qui a pontificibus romanis poeta laureatus publice crearetur fuit Franciscus Petrarcha A. MCCCXLI. Is autem duplicem coronam adeptus est, alteram propter italicam poesin, alteram propter latinam, in utroque enim genere excelluit egregie. Eosdem honores inde ab eodem saeculo etiam Imperatores Germanici contribuerunt et poetis et viris doctis.“
3.1.2 Johannes Stigelius (1515–1562): Germania ad Carolum
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phie. Der Gelehrte fand demnach in Regensburg Zugang zu einigen kaiserlichen Räten, fiel diesen durch seine besonderen juristischen Fähigkeiten auf und beteiligte sich bereitwillig an archivalischen Arbeiten. Dafür stellten diese ihm eine gute Bezahlung und besondere Ehrungen in Aussicht, worin sie durch Stigelius’ bescheidene Abwehr und seinen selbstlosen Wunsch, ausschließlich der Religion und dem Vaterland zu dienen, noch mehr bestärkt wurden. Der junge Poet erhielt den Auftrag, Karl V. ein Gratulationsgedicht zu schreiben,273 welches der kaiserliche Rat Hieronymus von Prat an diesen weiterleitete.274 Der vollständige Titel lautete: Ad invictissimum imperatorem Carolum quintum, Augustum et […] Germaniae epistola gratulatoria, complectens brevem historiam rerum praeclare et foeliciter ab eo gestarum […].275 Goettling greift eine ihm selbst unglaubwürdig scheinende Anekdote auf, nach welcher der Kaiser seinem Gratulanten durch den Vizekanzler Johann de Naves folgende Antwort ausrichten ließ: Carmen placet Imperatori, poeta petat, quid velit, habebit, si voluerit esse Nobilis, erit, si poeta laureatus, erit id quoque; sed pecuniam non petat, pecuniam non habebit.276 Das Gedicht gefällt dem Kaiser, der Dichter soll verlangen, was er möchte, er wird es erhalten. Wenn er adlig sein will, wird er es sein, wenn er poeta laureatus sein möchte, wird er auch das sein; aber Geld soll er nicht verlangen, Geld wird er nicht erhalten.
Bei seiner Bemühung, weitere Details dieses für Stigelius so bedeutungsvollen Ereignisses ans Licht zu bringen, nimmt Goettling Bezug auf dessen 1543 erstmals publizierte allegorische Ekloge Iolas, die mit ihrem (nur geringfügig verschleierten) Kaiserlob deutliche inhaltliche Parallelen zur Heroide aufweist.277 Wie dort ein Hirt namens Lycidas – das Alter Ego des Autors – berichtet, soll der Kaiser ihm eigenhändig den Lorbeerkranz aufgesetzt und einige Adelsinsignien überreicht haben, bestehend aus zwei verschieden gefärbten Hörnern eines Auerochsen auf
273 Goettling, S. 25 f. 274 Pflanz, S. 20. 275 Unter diesem Titel erschienen in Regensburg 1541 Hier dient als Textgrundlage: Germaniae Epistola, quae continet laudes Caroli V. Imp. Aug. [Elegie 3, 1]. In: Poematvm Ioannis Stigelii Liber Tertivs continens Elegiarvm Libros tres. Jena 1567, fol. C 2 r–D 6 v. 276 Goettling, S. 27. Schirrmeister, S. 202 wertet diese Antwort als ein nur bedingt brauchbares Dokument, indem er bemerkt, diese werde von ihrem Überlieferer auf Stigelius bezogen, und somit offen lässt, ob sie tatsächlich auf diesen bezogen werden muss. 277 Vgl. Johannes Stigelius: Iolas. Aecloga Prima. Scripta de Adventu Carol. V. Imper. Semper Augusti &c. Cum fama sparsa esset de eius obitu. [Liber Septimvs. Continens Eclogas Qvasdam. Deinde. Deinde Librvm Xi, Odysseae Homeri, & Carmen Doctissivm De Meteoris.] In: Kühlmann: Humanistische Lyrik, S. 584–597, 1299–1304 (Kommentar).
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einem Helm und einer Bärenklaue auf einem vergoldeten Wappen.278 Der Dichter erinnerte immer wieder daran, dass er diese Ehrung nur entgegengenommen habe, weil sie nicht von Priestern aus Rom, sondern aus der Hand des trotz aller religiösen Gegensätze zeitlebens als rechtmäßige Obrigkeit verehrten Kaisers stammte.279 Melanchthon wollte das Gedicht einem größeren Kreis von Lesern zugänglich machen und legte es einem Brief an Veit Dietrich in Nürnberg bei mit der Bitte, es drucken zu lassen.280 Es wurde zunächst als Einzeldruck mit einem einleitenden Widmungsgedicht an den vermittelnden Hofrat Hieronymus von Prat publiziert, bevor es in das dritte Buch von Stigelius’ Poemata Eingang fand. Die Heroide wird in der Forschung im Zusammenhang mit Stigelius’ Namen, mit Dichterkrönung, Panegyrik oder Germania-Allegorie durchaus immer wieder erwähnt, hat jedoch, da sie mit ihrer Verherrlichung der kaiserlichen Eigenschaften und Leistungen281 fast ausschließlich auf ihren epideiktischen Charakter reduziert wird, wenig nähere Aufmerksamkeit erfahren. In diesem Sinne urteilt Heinrich Dörrie nach einer äußerst knappen Inhaltsangabe: „Das Ganze ist ein Huldigungsbrief, der freilich seine Wirkung stark dadurch einbüßt, daß die Mutter den Sohn mit Lobsprüchen überhäuft, wie sie der Feder eines höfischen flatteurs eher angemessen sind.“282 Tatsächlich handelt es sich um ein besonders ambitioniertes Stück panegyrischer Poesie. Der Begriff „Panegyrik“ bezog sich zur klassischen Zeit Griechenlands weniger auf seinen Inhalt als auf seinen äußeren Anlass, da er von panegyris (Festversammlung) hergeleitet war. Der Rhetor Isokrates kennzeichnete als erster eine seiner Reden mit dem dazugehörigen Adjektiv πανηγυρικὸς λόγoς. Seit der römischen Kaiserzeit, insbesondere der Spätantike, wo in zunehmendem Maße das Herrscherlob den Inhalt einer jeden Festrede 278 Goettling, S. 27. Vgl. die Schilderung in Iolas, 79–84: Ille mihi facilis per opacas libera syluas/ Iura dedit, dedit ille suos titulum inter alumnos/ Addidit et verbis, monumentum et pignus honoris,/ Ex vrso pugnante pedem, qui cingitur auro,/ Cornuaque alternis duo picta coloribus Vri./ Et dixit tu noster eris, charumque vocabat. (Er gab mir leutselig freies Recht in den schattigen Wäldern, verlieh mir unter seinen Günstlingen einen Titel und fügte den Worten als Denkmal und Unterpfand der Ehre eine goldumrandete Bärenklaue und zwei verschieden bemalte Hörner eines Auerochsen hinzu. Und er sagte: „Du wirst unser Mann sein,“ und nannte mich „Lieber“.) 279 Ebd., S. 30; Pflanz, S. 22; Schirrmeister, S. 202. 280 Melanchthon schreibt am 20. Juni 1541 aus Regensburg an seinen Nürnberger Freund Veit Dietrich: „ Mitto tibi elegiam Stigelii, quam velim ut mox excudi cures. Spero vendibilem fore, et nihil continet nisi laudes Imperatoris. Quaeso, ut des operam, ut editio maturetur.“ (Ich schicke Dir eine Elegie von Stigelius, von der ich möchte, dass Du sie bald in Druck gibst. Ich hoffe, sie wird sich gut verkaufen, und sie enthält nichts anderes als Lob auf den Kaiser. Bitte sorg dafür, dass bald eine Ausgabe erscheint.) MBW T 10. Nr. 2731, S. 293. 281 Gerade dies hebt Melanchthon in dem erwähnten Brief an Veit Dietrich (offenbar als besondere Empfehlung) hervor. 282 Dörrie: Der heroische Brief, S. 458.
3.1.2 Johannes Stigelius (1515–1562): Germania ad Carolum
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dominierte, wandelte sich panegyricus allmählich zum Synonym für laus, lau datio oder encomium und verselbständigte sich in dieser Bedeutung.283 Die römische Literatur um die Wende vom 1. zum 2. Jahrhundert n. Chr. kann mit einer berühmt gewordenen Sammlung von 12 Panegyrici latini aufwarten, welche von demjenigen des Plinius auf Trajan eröffnet wird.284 Im späten 4. Jahrhundert fand das Herrscherlob unter der Feder des aus Alexandria stammenden (ursprünglich griechisch schreibenden) und am Hofe Kaiser Honorius’ wirkenden Claudian auch Eingang in die lateinische Hexameterdichtung und entfaltete mit seinem großen Aufgebot an allegorisch-mythologischer Bildlichkeit eine nicht zu unterschätzende Vorbildwirkung.285 Parallel zu diesen paganen Mustern hatten sich in der christlichen Literatur Formen zur besonderen Würdigung von Märtyrern und Heiligen herausgebildet. Panegyrische Schriftwerke erfreuten sich das ganze Mittelalter hindurch großer Beliebtheit, erlebten aber eine besondere Blütezeit unter den epochenprägenden habsburgischen Kaisern Maximilian I., Karl V. und Maximilian II.286 Es hieße, wesentliche Kriterien der humanistischen Literatur zu verkennen, wollte man das wort- und bilderreiche, teils befremdliche Ausmaße annehmende Herrscherlob als deskriptive Darstellung der Wirklichkeit auffassen.287 Schon zu Beginn des 16. Jahrhunderts hatten Erasmus und Hutten unter Berufung auf antike Autoritäten auf die subtil verschleierten pädagogischen Züge fürstenspiegelartiger Panegyrik hingewiesen.288 Erasmus, der als königlicher Hofrat 1516 selbst die wegweisende Schrift Institutio principis christiani für den damals gerade mündig gewordenen Karl verfasst hatte, rechtfertigte dieses literarische Genus mit dem Argument, das antizipierende Lob für Taten oder Eigenschaften, die man sich wünscht, also eine „wohlmeinende Lüge“, vorgetragen im epideiktischen Genus, sei ein unerlässliches Mittel, um auf einen Herrscher moralisch einzuwirken. Für die Nachwelt sei ohnehin weniger der jeweilige Adressat der Schrift von Bedeutung als das darin entworfene Ideal.289 Das in Stigelius’ Heroide fast 650 Verse beanspruchende Herrscherlob ist anlassgebunden und bezieht sich auf ein in der Frühen Neuzeit regelmäßig wie283 Deufert, S. 144. 284 Ebd., S. 145 f. 285 Ebd., S. 146. 286 Ebd. 287 Vgl. bes. Theo Stammen: Fürstenspiegel als literarische Gattung politischer Theorie im zeitgenössischen Kontext – ein Versuch. In: Theo Stammen und Hans-Otto Mühleisen (Hrsg.): Politische Tugendlehre und Regierungskunst. Studien zum Fürstenspiegel der Frühen Neuzeit. Tübingen 1990, S. 255–285. 288 Björn Hambsch: Art. Herrscherlob. In: HWRh. Bd. 3, Sp. 1377–1392, hier Sp. 1383. 289 Mertens: Der Preis der Patronage, S. 144 ff.
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derkehrendes Zeremoniell, welches sich aus antiken und biblischen Traditionen speist, nämlich auf den feierlichen Einzug eines Herrschers oder hohen (weltlichen wie geistlichen) Würdenträgers in eine Stadt. Dieses Zeremoniell, als adven tus (regis, augusti, imperatoris), Joyeuse Entrée oder Blijde Inkomst bezeichnet, sollte einer großen Öffentlichkeit das sakral überhöhte Herrschaftsverständnis vor Augen führen.290 Der schon auf den Hellenismus zurückgehende und in der römischen Kaiserzeit weiter ausgeformte adventus konnte bereits in der Architektur und bildenden Kunst, aber auch im Schrifttum der (Spät)Antike, insbesondere in der panegyrischen Literatur, einen festen Platz beanspruchen.291 So feierte Plinius der Jüngere Trajans Ankunft in Rom im Jahre 99, Ammianus Marcellinus den (ersten und einzigen) Rombesuch des Constantius II. von 357 und Claudian mehrfach die jeweils mit neuen Konsulaten verbundenen Reisen des Honorius. Der Brauch, den eintreffenden Herrscher durch den Vortrag einer Festrede oder eines Festgedichtes zu ehren, oblag einer zunehmenden Professionalisierung, so dass sich ein besonderes Betätigungsfeld für theoretisch geschulte Rhetoren eröffnete.292 Diese Gepflogenheit setzte sich – wenn auch seit der Christianisierung Europas vermehrt auf sakral-liturgisches Zeremoniell unter klerikaler Beteiligung gestützt – bis in die Frühe Neuzeit fort. In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts nahmen zahlreiche, vor allem deutsche Humanisten die (nicht allzu häufigen) Besuche Karls V. im Reich zum Anlass, sowohl ihre kaisertreue Haltung als auch ihre rhetorischen und poetischen Fähigkeiten einer gelehrten Öffentlichkeit zu demonstrieren. So empfahl es sich, entweder direkt an Karl gerichtete Gratulationsschreiben zu verfassen oder einem anderen Adressaten als tatsächliche oder vorgebliche Augenzeugen die betreffenden Festakte in großer Detailfreude zu schildern. Allein für das Jahr 1530, in welchem sowohl Karls Kaiserkrönung durch den Papst in Bologna als auch der in konfessioneller Hinsicht so bedeutend gewordene Augsburger Reichstag stattfanden, führt Diane Deufert vier Beispiele an:293 eine elegische Versepistel des Georg Sabinus an seinen damals in Nürn-
290 Der Inhalt der betreffenden Verse lässt sich schwer auf eine einheitliche Terminologie festlegen. Zu dem zeremoniellen Akt vgl. die jeweils unterschiedliche Traditionsstränge betonenden Darstellungen bei Deufert, S. 147 ff.; Aulinger, S. 277 ff.; Theo Kölzer: Art. Adventus regis. In: LexMA. Bd. 1. München / Zürich 1980, Sp. 170–171; Roy Strong: Feste der Renaissance 1450–1550. Kunst als Instrument der Macht. Aus dem Englischen von Susanne Höbel und Maja Ueberle-Pfaff. Freiburg / Würzburg 1991, S. 15 ff.; Winfried Dotzauer: Die Ankunft des Herrschers. Der fürstliche „Einzug“ in die Stadt (bis zum Ende des alten Reiches). In: Archiv für Kulturgeschichte 55 (1973), S. 245–288. 291 Deufert, S. 147 ff. 292 Ebd., S. 149 ff. 293 Ebd.
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berg wirkenden Dichterfreund und -kollegen Eobanus Hessus,294 einen Text des Frankfurter Humanisten Jacob Micyllus,295 ein Gratulationsschreiben der Stadt Nürnberg von Eobanus Hessus296 und ein enkomiastisches Epyllion des Italieners Antonio Sebastiano Minturno.297 Dies sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass Reichstage und ähnliche Veranstaltungen nicht nur die Folie für alle Formen der Panegyrik, sondern auch für desillusionierende Darstellungen und gesellschaftskritische Betrachtungen boten. Der Regensburger Reichstag, dem Stigelius’ Germania ad Carolum ihre Entstehung verdankt, veranlasste dessen Lehrer und Freund Melanchthon zu einem anders gearteten poetischen Brief, nämlich zu einer an den Kölner Arzt und Humanisten Johannes Caesarius gerichteten hexametrischen Klage.298 Darin lobt der Autor in den höchsten Tönen die Gelehrsamkeit, Tugend und Frömmigkeit des Adressaten, um im Anschluss sein Bedauern darüber zu äußern, dass er, statt mit ihm und seinesgleichen in Köln fruchtbaren wissenschaftlichen Austausch pflegen zu dürfen, auf Anweisung seines Hofes die unerfreulichen Verhandlungen in Regensburg besuchen müsse.299 Während er einerseits unter der Zwietracht und dem rohen Benehmen, andererseits unter den theologischen Spitzfindigkeiten der (nicht näher genannten) Teilnehmer leide,300 stelle der Kaiser, als einziger stets um die Wahrung von Gottesfurcht, Frieden und Ordnung bemüht, den einzigen Lichtblick dar. Als Bindeglied zwischen der panegyrischen Reichstagsliteratur und Melanchthons Epistel erscheint lediglich das zur Legitimierung der tradierten Ständeordnung obligatorische, bei Melanchthon dort wohl etwas als Verlegenheitslösung gebrauchte Kaiserlob. 294 Georg Sabinus: Ad Eobanum Hessum de adventu Caroli V. Caesaris. Elegia II. In: Kühlmann: Humanistische Lyrik, S. 504–513, 1246–1255 (Kommentar). 295 In adventum Caroli V. Imp. Aug. P. P. urbis Francofurtanae ad Moenum sitae gratulatio. In: Iacobi Micylli Argentoratensis Sylvarum libri quinque […], Frankfurt am Main 1564, S. 101–109. 296 Divo et invicto imperatori Caesari Carolo. V. Augusto, Germaniam ingredienti urbis Norimber gae Gratulatoria Acclamatio. In: Helius Eobanus Hessus: Dichtungen. Lateinisch und Deutsch. Hrsg. und übersetzt von H. Vredeveld. Bd. 3. Dichtungen der Jahre 1528.1537. Bern 1990, S. 76–89. 297 De adventu Caroli V. imperatoris in Italiam. In: Antonii Sebastiani Minturni Poemata […], Venedig 1564, S. 5–35. 298 Philipp Melanchthon: Epistola de conventu Ratisponensi ad Johannem Caesarium Anno 1541. In: Kühlmann: Humanistische Lyrik, S. 346–350, 1150–1152 (Kommentar). 299 Im Grunde genommen ist der Titel dieser Epistel irreführend, denn es handelt sich um nichts weniger als um eine tatsächliche Beschreibung vom Ablauf der Veranstaltung. Das etwa die Hälfte der 78 Hexameter einnehmende Lob auf Caesarius’ Tätigkeiten erscheint als Verwirklichung dessen, was Melanchthon auf dem Reichstag vermisst. Man könnte gewissermaßen von einer „Epistola Gratulatoria“ auf den Freund sprechen, der als positive Kontrastfolie zu dem nicht einmal näher geschilderten schlechten Ablauf der Reichstagsverhandlungen dient. 300 Diese werden recht drastisch als „Kentauren“ und „Sophisten“ bezeichnet.
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Dieses Kaiserlob inszeniert Stigelius in seiner 648 Verse umfassenden Heroide freilich mit bemerkenswertem Aufwand. Sein Biograph Goettling stellt zumindest als ein Charakteristikum des betreffenden Textes die besondere Rolle der (allegorisch auftretenden) Tugenden heraus: Ipsum carmen in laudes Imperatoris compositum invenitur […], in quo facta Caesaris et virtutes elegantissime praedicantur, non Stigelii sed Germaniae nomine, quo ab omni adulationis specie sibi caveret. […] Praedicantur a Germania imprimis iustitia, pietas, fortitudo, temperantia Caesaris, denique, si caecas e religione tenebras sustulerit Carolus, auguratur ei pacem mundi auream.301 Es findet sich ein eigens auf die Tugenden des Kaisers verfasstes Gedicht […], in welchem die Taten und Tugenden des Kaisers auf eleganteste Weise gepriesen werden, nicht in Stigelius’, sondern in Germanias Namen, um sich vor jeglichem Anschein der Schmeichelei zu hüten. […] Gepriesen werden von Germania insbesondere die Gerechtigkeit, Frömmigkeit, Tapferkeit und die maßvolle Selbstbeherrschung des Kaisers. Wenn Karl die undurchdringliche Dunkelheit in Glaubensfragen beseitigt, dann prophezeit sie ihm eine goldene Friedenszeit für die Welt.302
Eine exponierte Stellung nimmt in der Aufzählung von Karls großen Taten die siegreiche Schlacht vor Tunis (1535) ein. Der Kaiser, der auf dem Regensburger Reichstag um einen Konsens mit den Protestanten bemüht war, nicht zuletzt, um Unterstützung für einen geplanten Algerienfeldzug zu erhalten (der dann im Herbst 1541 vor Algier unglücklich verlaufen sollte), nahm literarische und künstlerische Verherrlichungen seines Sieges vor Tunis mit großem Wohlgefallen auf.303 Albert Schirrmeister bringt sogar alle Dichterkrönungen Karls V., insbesondere diejenigen auf dem Regensburger Reichstag, mit derartiger Propaganda in Zusammenhang.304 Außer Stigelius empfingen bei dieser Gelegenheit Caspar Bruschius und Marcus Tatius Alpinus den Lorbeer.305 Im Folgenden sollen Gedankengang und Argumentation der Heroide selbst nachvollzogen werden. Die ersten 60 Verse dienen als Exposition, indem sie das Verhältnis zwischen Deutschland und dem Kaiser definieren und den für jeden „offiziellen“ Brief obligatorischen Bestandteil der captatio benevolentiae erfüllen. Zunächst begrüßt Germania ihren Sohn Karl: Si qua potest nato genetrix optare salutem, A nato poscit quam tamen ipsa suo.
301 Goettling, S. 26 f. 302 Übersetzung T. B. 303 Schirrmeister, S. 78 f., 218. 304 Ebd., S. 218. 305 Schirrmeister, S. 79, 199.
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Hanc invicte tibi mater Germania Caesar, Quam pietas meruit, quam tua cura, precor. Carole, qui nomen sanctis virtutibus aequas, Carole, par nullum cui decus orbis habet. Ecquid ut adposita relegis mea verba salute, Agnoscis patriae nomina vera tuae? Sic age fac, relegas haec invictißime Caesar, Ominis adversi quae nihil instar habent.306 Wenn eine Mutter ihrem Sohn ein „Heil!“ wünschen kann, dann verlangt sie es auch ihrerseits von ihm. Unbesiegbarer Kaiser, ich, Deine Mutter Germania, bitte um dieses Heil, welches Deine fromme Liebe, Deine treue Fürsorge verdient. Karl, der Du Deinen Namen nicht hinter Deinen Tugenden zurückstehen lässt, Karl, der Du an Zierde nicht Deinesgleichen hast auf dem Erdkreis, erkennst Du, wenn Du wieder meine Worte mit dem beigefügten „Heil!“ liest, den wahren Namen Deines Vaterlandes? Wohlan, halte es so, lies sie wieder, unbesiegbarer Kaiser, sie enthalten kein unheilbedeutendes Zeichen.307
Indem sie ihn – den in Wirklichkeit eher in dynastischen Kategorien denkenden Habsburger – zu ihrem eigenen Sohn, also zum Deutschen, erklärt und ihm eine patria zuspricht, deren wahren Ruhm (nomina vera) er wohl kennen soll, erweist sie sich als Sprachrohr der auch unter deutschen Humanisten immer mehr an Bedeutung gewinnenden Versuche, bestimmte Territorien, Herrscher oder Helden mit dem Argument der gemeinsamen Nationszugehörigkeit für sich in Anspruch zu nehmen. Germania beteuert ihre angeborene Mutterliebe (favor ingenuus), aber selbst diese wird noch durch Liebe zu seinen eigenen Verdiensten (laudis amor) übertroffen.308 Mit der Behauptung, Karl gleiche seinen Namen sanctis virtutibus an, fällt schon eingangs ein Stichwort für den Gegenstand, der den Text über weite Strecken dominieren wird, nämlich die Tugenden. Mit den ehrenden Titeln pater & patriae & orbis, die Karl verdientermaßen trägt, greift Germania eine der geläufigsten Bezeichnungen aus der Fürstenspiegelliteratur auf309 und knüpft an die römische Reichstradition an, als deren Erbe sich Karl mit großem Aufwand inszenierte.310 Die Deutschen tragen keineswegs eiserne Herzen (corda ferrea) in ihrer Brust, sondern bringen als virtutis amantes allen Helden eine aufrichtige Liebe (amor non fictus) entgegen.311 Germania beteuert, Karl mit ihren vielen berechtigten Klagen verschonen zu wollen, wünscht ihm Glück zum Verlassen der spanischen Lande und zur Heimkehr auf ihren Grund. Die zu Beginn 306 Fol. C 2 v. 307 Übersetzung T. B. 308 Ebd. 309 Michael Philipp / Theo Stammen: Art. Fürstenspiegel. In: HWRh. Bd. 3, Sp. 495.507, hier Sp. 495. 310 Köhler, S. 105. 311 Fol. C 3 r.
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und gegen Ende des Briefes mehrfach anaphorisch gebrauchten Ausrufe gratulor, ingredere, te reducem strukturieren ebenso wie die zahlreichen Freudenbekundungen über Karls virtus den gesamten Text und konstituieren ihn als Epistola Gratulatoria anlässlich seiner Ankunft zum Reichstag. Mit seiner Entscheidung für die Gattung der Heroide erleichtert sich Stigelius in mancher Hinsicht den Umgang mit einem delikaten Thema. KarlV. kam am 24. Februar 1500 in Gent zur Welt, wurde in den Niederlanden nach ritterlich geprägtem burgundischem Hofzeremoniell erzogen, erlangte 1516 die spanische Königskrone und konnte 1519, als der Kaiserthron durch den Tod seines Großvaters Maximilian I. vakant geworden war, den Wahlkampf gegen den etwas älteren Franz I. von Frankreich für sich entscheiden.312 Der stark an kirchlichen und dynastischen Traditionen festhaltende Herrscher, welcher der deutschen Sprache kaum mächtig war, sich bevorzugt mit spanischen und niederländischen Hofräten umgab und in seiner Person das ehrgeizige Projekt einer Monarchia unversalis, einer uneingeschränkten Führungsposition innerhalb der Christenheit, zu realisieren versuchte, blieb den deutschen Reichsständen stets ein Fremdling. Diese widersetzten sich mehrfach seinen als Anmaßung empfundenen Ansprüchen auf Alleinherrschaft, indem sie sich auf die eigene „Libertät“ beriefen. Ein immer wieder geäußerter Kritikpunkt an Karl war seine jahrelange Abwesenheit vom Reich, die man ihm als Desinteresse auslegte.313 Stigelius als Lobredner obliegt die Aufgabe, diesem prekären Verhältnis zwischen Kaiser und Reichsständen (Germania) den Anschein einer engen Verwandtschaftsbeziehung zu verleihen, die nur durch äußere Umstände beeinträchtigt wird. In geschickter Weise macht er Karls schmerzlich empfundene Abwesenheit und die Sehnsucht nach ihm zum vorherrschenden Affekt seiner Heldin – ähnlich verfährt er nur wenig später in der bereits erwähnten Iolas-Ekloge.314 Seine Germania erklärt den beargwöhnten Fremdling ausdrücklich zu ihrem geliebten Sohn und entschuldigt dessen bedauernswerte Abwesen-
312 Damals wurde er zum Römischen König gewählt und gekrönt und war somit de facto Kaiser; seine feierliche Kaiserkrönung fand erst 1530 in Bologna statt. 313 Kohler: Karl V. 1500–1558. Eine Biographie. München 1999, S. 102. 314 Diese Ekloge von 1543 erscheint als Reaktion auf ein falsches Gerücht von Karls Tod, dessen hoffnungsvoll unternommener Feldzug bei Algier soeben gescheitert war. Innerhalb einer bukolischen Rahmenfiktion lässt Stigelius sein Alter Ego, den wohl im Umkreis von Wittenberg lebenden Hirten Lycidas besorgte Grübeleien über den Verbleib des allerorts wohltätigen Helden Iolas anstellen. Auf bloß kolportierte schlechte Nachrichten hin bricht er schon vorsorglich in eine große Totenklage aus, ohne sich dessen wirklich gewiss zu sein. Immerhin bietet die voreilige Trauer Gelegenheit zu einem überschwänglichen Kaiserlob ex negativo. Lycidas lässt sich auf einen Wettgesang mit seinem aus Italien bessere Nachrichten bringenden Freund Aeglus (Georg Sabinus) ein. Dieser beruft sich auf Augenzeugen für die Unversehrtheit des Iolas und fügt hinzu, dass ein derartige Held, „Löwe“, nicht so ohne weiteres seinen Gegnern unterliege.
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heit mit seinen heroischen Taten im Krieg.315 Sie vergleicht sich selbst mit Griechenland, das die zehn Jahre dauernde Abwesenheit der vor Troja kämpfenden Männer kaum ertragen kann, und stilisiert dadurch indirekt auch Karl zu einem der in den ovidischen Heroiden um Rückkehr angeflehten mythischen Helden. In ihrer Mutterrolle ist Germania aber auch zu Wünschen und Forderungen an den Sohn berechtigt. Stigelius konstruiert also aus gutem Grund eine naturgegebene affektive Bindung zwischen Kaiser und Deutschland. Germania betont zwar (einer wohlbekannten Topik entsprechend), sie wolle Karl von jeglicher Klage verschonen, doch schon bei Ovid verfasst keine Heroine jemals einen Brief ohne die offen ausgesprochene oder unausgesprochene Absicht, eine Änderung der gegenwärtigen Verhältnisse herbeizuführen. So beinhaltet die von Germania zur Schau getragene überschwängliche Freude über Karls Ankunft einen diskreten Appell an den Kaiser, sich stärker den Anliegen Deutschlands zu widmen. Zunächst thematisiert die Heldin ausgiebig den Anlass von Karls Rückkehr aus Spanien und den Niederlanden, ihr Leiden unter seiner Abwesenheit und seine besonderen Vorzüge.316 Voller Besorgnis musste sie anhand von zweifelhaften Nachrichten mitverfolgen, wie Karl fern von ihr auf dem Mittelmeer vor Libyen feindliche Flotten vernichtet und die Türken zur Flucht gezwungen, d. h. seine große Expedition von Tunis 1535 siegreich abgeschlossen hat. Jeden Fremdling, der zufällig von der südspanischen oder afrikanischen Küste angekommen ist, hat sie voll Angst nach ihrem Sohn befragt: Sive quis extremis nostras a Gadibus oras Adpulerat, de te dicere iussus erat, Sive quis hic Tyrijs aderat peregrinus ab Afris, Quid meus hoc inquam, tempore Caesar agit?317 War jemand vom fernen Cadix an meinen Gestaden angelangt, verlangte ich von ihm Auskunft über Dich; kam irgendein Fremder vom afrikanischen Tyros, fragte ich ihn: „Was macht mein Kaiser derzeit?“
Hier dient Stigelius die Sorge der treuen Penelope um ihren verschollenen Gatten Odysseus aus der ersten ovidischen Heroide als Folie: Quisquis ad haec vertit peregrinam litora puppim, ille mihi de te multa rogatus abit, quamque tibi reddat, si te modo viderit usquam, traditur huic digitis charta notata meis.318
315 Fol. C 3 r–v. 316 Fol. C 3 v–C 5 r. 317 Fol. C 3 v. 318 Ov. her. 1, 59–62.
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Wer auch immer sein fremdes Schiff an dieses Gestade lenkt, geht erst wieder, wenn ich ihn alles über dich ausgefragt habe, und er soll dir aushändigen, wenn er dich irgend treffen sollte, dies Blatt, von meiner Hand beschrieben.
Germania stellt eine allgemeine Reflexion über Besorgnis und quälende Sehnsucht an. Das Distichon Non caret ingenuus curis mordacibus ardor,/ verus habet semper quod vereatur amor319 rekurriert auf eine geläufige Klagetopik, insbesondere aber auch auf Penelopes schmerzliche Feststellung res est solliciti plena timoris amor320. Die Wunden der Liebe können durch kein Kraut und keinen Arzt der Welt geheilt werden, sondern einzig durch die Anwesenheit des Geliebten.321 Das bloße Gerücht von Karls Ankunft gibt Germania den Lebensmut zurück. Wenn auch Parzen und Sterne den Herrscher reich beschenkt haben, so übertrifft dieser die Gaben durch seine eigenen Verdienste (splendida facta). An der folgenden Stelle wird der protreptische Charakter des Fürstenspiegels besonders deutlich: CAROLE non animis minor illo nominis huius Imperij primus qui diadema tulit. Qui merita cum sit magnus virtute vocatus, Tu virtute tua maximus esse potes. Maximus es Caesar, cui par, vel pace, vel armis Caesar ab illius tempore nemo fuit.322 Karl, an Geist nicht geringer als der erste dieses Namens, der das Diadem des Reiches trug; da dieser aufgrund seiner verdienstreichen Tugend „der Große“ genannt wird, kannst Du aufgrund Deiner Tugend der Größte sein. Du bist der größte Kaiser, dem weder im Frieden noch unter Waffen seit der Zeit jenes Vorgängers jemand ebenbürtig war.
Germania wählt hier also ein Exempel für nachahmenswerte Kaiserherrschaft und bietet dem Adressaten einen Anreiz zur aemulatio, ausgedrückt durch die spielerische Gegenüberstellung des Epithetons magnus mit seinem Superlativ maximus. Karl kann es mit dem als Vorbild verehrten namensgleichen fränkischen Kaiser aufnehmen; war dieser verdientermaßen Karl der Große, so kann er selbst aufgrund seiner virtus „Karl der Größte“ werden. Dieser Bildungs- und Erziehungsoptimismus ist ebenso wie die Berufung auf Karl den Großen konstitutiv für die Anliegen der Humanisten. Der fränkische Kaiser – den meisten seiner Verehrer in erster Linie präsent geworden durch die Darstellung seines an 319 Fol. C 3 v. 320 Ov. her. 1, 12; vgl. auch Ov. her. 8, 75–76 (Hermione an Orest): […] omnia luctus,/ omnia solliciti plena timoris erant. 321 Fol. C 4 r. 322 Fol. C 4 v.
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Suetons Kaiserviten geschulten Biographen Einhard – war neben dem von Hutten wiederentdeckten und zu publizistischer Wirksamkeit erhobenen Arminius die bedeutendste Referenzfigur für das frühneuzeitliche Nationalprestige. Verbürgte dieser die Indigenität der Deutschen, so jener vermittels der translatio imperii den rechtmäßigen Besitz des Imperiums.323 Selbst bei den italienischen Humanisten in seinem Rang weitgehend unangefochten, konnte er aufgrund seiner kriegerischen und missionarischen Erfolge sowie seiner Förderung von klösterlichen Bildungseinrichtungen als europäischer Zivilisationsstifter und christlicher Idealherrscher gelten.324 Die einzig noch verbleibende leidige Herausforderung für die Humanisten bestand darin, Karl den Großen als Deutschen auszuweisen und somit den konkurrierenden Besitzansprüchen der Franzosen zu entziehen.325 Stigelius’ Germania appelliert also im Sinne dieser Translationstheorie an den Ahnenstolz des Habsburgers. Das vorwegnehmend affirmativ formulierte Lob dient der Absicht, den Herrscher auf bestimmte Normen und Werte zu verpflichten.326 Mit drei Gleichnissen illustriert Germania ihre Unfähigkeit, Karls Vorzüge ausreichend mit Worten wiederzugeben:327 So wie selbst ein Maler vom Rang des Apelles niemals die Schönheit seines Modells erreicht, so lassen sich Karls Tugenden nur unvollkommen schildern. Ebenso wie kein Künstler die Züge einer lebenden Gestalt mit ausreichender Überzeugungskraft abzubilden versteht, so kann auch keine Redekunst (color eloquii) allen Vorzügen seines Geistes gerecht werden. Wollte Germania auch mit aller Musenkunst (Pieria arte) sprechen, so wird sie doch durch die Vielzahl von Karls Tugenden gehemmt, so wie auch ein verliebtes Mädchen unter einer unüberschaubaren Blumenpracht keine Auswahl für einen Kranz als Geschenk treffen kann. Mit der Nennung des Apelles bezieht sich Germania auf den berühmten, geradezu sprichwörtlich gewordenen hellenistischen Maler aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. Dieser großenteils in königlichen Diensten in Makedonien wirkende Künstler, über dessen Werke die Nachwelt lediglich durch die Beschreibungen
323 Hirschi: Wettkampf der Nationen, S. 316 resümiert: „War Tacitus der Steinbruch für die Errichtung eines deutschen Ersatzaltertums, so Einhard für den Mythos eines deutschtümelnden Frankenkönigs.“ 324 Zu Karls Unternehmungen vgl. Karl Langosch: Mittellatein und Europa. Führung in die Hauptliteratur des Mittelalters. 2., unveränderte Auflage. Darmstadt 1997, S. 48 ff.; zu Karls Bedeutung für die Humanisten vgl. Hirschi: Wettkampf der Nationen, passim, bes. S. 271, 315 ff., 374, 378. 325 Hirschi: Wettkampf der Nationen, S. 97, 294, Anm. 157, 391 ff. 326 Art. Herrscherlob (HWRh), Sp. 1379. 327 Fol. C 4 v–C 5 r.
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antiker Autoren unterrichtet ist,328 verdankt seine Berühmtheit zum einen der täuschend naturgetreuen Abbildung seiner Objekte, zum anderen – laut zahlreichen Anekdoten – seinen scharfsinnigen Aussprüchen und schlagfertigen Reaktionen auf gelegentliche Herausforderungen. Aufgrund der kolportierten Auszeichnung, dass Alexander der Große von niemand anderem als ihm porträtiert werden wollte,329 wurde er zu einer Art Identifikationsfigur für Renaissancekünstler, die ihren Anspruch auf eine privilegierte Position in der Gesellschaft legitimieren wollten. Der Vergleich mit Apelles gereichte auch den herausragenden Malern des 16. Jahrhunderts zur Ehre.330 Eine Passage von über 50 Versen enthält den Auftritt und die Rede einer allegorischen Gestalt.331 Während Germania noch zaudert und überlegt, wie sie ihren Lobpreis auf Karls virtus beginnen soll, erscheint neben ihr in strahlender Schönheit die personifizierte Justitia als Göttin mit der Waagschale. Diese wird weder durch den Anblick des Morgensterns noch durch denjenigen der Venus, Göttin der Liebe und Mutter des römischen Volkes, übertroffen. Germania zählt kurz die Herrscher auf, mit denen Justitia in der Vergangenheit erfolgreich zusammengearbeitet hat: Aristides, Augustus, Alexander Severus und Maximilian I., Karls Großvater, der auch sein Vorgänger auf dem Kaiserthron war. Da ergreift Justitia das Wort und bezeichnet sich selbst als Urheberin des kaiserlichen Ruhmes. Sie präsentiert ihre Mägde, die übrigen Tugenden Pietas, Fortitudo und Temperantia, die Karl ebenso in Ehren hält. Stigelius orientiert sich hier an den spätestens seit Platon systematisch ausgestalteten Kardinaltugenden. Wie bei Platon kommt auch bei Aristoteles der Gerechtigkeit, da sie bereits alle anderen Tugenden in sich vereint, eine übergeordnete Rolle zu.332 In der Fürstenspiegelliteratur hatte sich schon seit dem Hellenismus ein Katalog von Herrschertugenden herausgebildet, der im wesentlichen auf den virtutes cardinales basierte, wenn auch mit geringfügigen Abweichungen oder Ergänzungen wie z. B. clementia, pax oder constantia.333 Wenn sich Stigelius bei der Feier der Tugenden der allegorischen Darstellung bedient, entspricht er nicht nur dem Geschmack seiner Zeit, sondern reiht sich in eine Tradition ein, die mindestens bis in die Spätantike zurückführt. 328 Vgl. u. a. Cic. inv. 2, 1, 1–3; Hor. epist. 2, 1, 237–241; Ov. Pont. 4, 1, 29; Plin. nat. 35, 65–66, 88; Plin. epist. 4, 28. 329 Vgl. z. B. Hor. epist. 2, 1, 237–241: […] idem rex ille, poema/ qui tam ridiculum tam care prodigus emit/ edicto vetuit ne quis se praeter Apellen/ pingeret aut alius Lysippo duceret aera/ fortis Alexandri vultum simulantia […]. 330 So z. B. Albrecht Dürer, Hans Holbein und Tizian. Helius Eobanus Hessus bezeichnete seinen Freund Albrecht Dürer gern als Apelles. 331 Fol. C 5 r–C 6 r. 332 Zech, S. 29. 333 Art. Fürstenspiegel (HWRh), Sp. 495–496; Art. Herrscherlob (HWRh), Sp. 1381.
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Er, der bei anderer Gelegenheit protestantische Herrscher mit Briefen aus der Feder einer personifizierten Virtus ehrt,334 folgt an dieser Stelle, wo er die Tugenden vor Germania erscheinen lässt, sowohl antik-mittelalterlichen Konventionen aus Dichtung und Malerei als auch den panegyrischen Bräuchen seiner eigenen Zeit, nach welchen ein Herrscher bei Festen oder Einzügen in eine Stadt mit Statuen von Helden, Göttern und Heiligen, aber auch visuellen Inszenierungen von abstrakten Begriffen geehrt wurde. Ein beliebter Bestandteil derartiger Festlichkeiten war der Auftritt allegorischer Figuren, insbesondere von Personifizierungen der Tugenden.335 Als Karl 1535 kurz nach seinem Sieg über die Osmanen und die Eroberung von Tunis in Messina einzog, befand sich in seinem Gefolge ein Wagen, auf welchem die vier Kardinaltugenden standen, während Engel das darüber gespannte Himmelszelt trugen.336 Indem Stigelius die Tugendallegorien als Freundinnen oder enge Vertraute des Kaisers auftreten lässt, spendet er diesem ein antizipierendes Lob für Eigenschaften, die er sich von ihm wünscht. Dieses für einen Fürstenspiegel typische Lob verknüpft er auf elegante Weise mit den ebenfalls in der antiken Dichtung geläufigen Motiven der Epiphanie und der Inspiration. Schon seit der Ilias erscheinen Götter und Heroen, erkannt oder unerkannt, als Schlachthelfer und Retter in allen Lebenslagen, während im Neuen Testament und in christlicher Literatur in zunehmendem Maße Engel und Heilige deren Funktion übernehmen. Übernatürliche Gestalten können aber nicht nur als schützende, sondern auch als inspirierende Mächte auf das menschliche Leben einwirken, wie es zum ersten Mal bei der Musenepiphanie im Proömium zu Hesiods Theogonie belegt ist. An die Stelle der Musen tritt bisweilen auch der dichterische Gegenstand selbst in lebendiger Gestalt. Stigelius schafft eine vergleichbare Situation. Während Germania sich für unfähig hält, eine lau datio auf die Tugenden ihres Sohnes zu halten, und noch darüber nachgrübelt, wie sie es dennoch versuchen kann, erscheinen diese selbst und übernehmen die Aufgabe. Justitia behauptet hier wie auch schon bei Platon die übergeordnete Position unter den Tugenden und wird als einzige mit Sprache ausgestattet. Zunächst verweist sie auf ihre typischen Attribute, mit welchen der Kaiser seine Herrschaft ausübt, nämlich auf die Waagschalen und das Schwert. Mit Hilfe des letzteren erläutert sie ihre Funktion:
334 Vgl. Dörrie: Der heroische Brief, S. 458. 335 Strong, S. 16; Aulinger:, S. 193 ff. Vgl. auch die Auftritte Franz I. von Frankreich, der sich bevorzugt mit Perseus gleichsetzen und sich mit teils szenischen Darstellungen des Perseus-Andromeda Mythos feiern ließ. Anne-Lott Zech: „Imago boni principis“. Der Perseus-Mythos zwischen Apotheose und Heilserwartung in der politischen Öffentlichkeit des 16. Jahrhunderts. Köln 1998 (Imaginarium 4), passim, bes. S. 89 ff. 336 Ebd., S. 147.
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Quem gero, subiectos tegit, & premit ense rebelles, Asserit & patriae iura tuenda suae.337 Mit dem Schwert, das ich trage, beschirmt er die Unterworfenen, bezwingt die Widersetzlichen und schützt die verteidigungswürdigen Rechte seines Vaterlandes.
Justitia gewährleistet den Schutz der Gesetze im Vaterland, indem sie Unterworfenen mit Milde und Aufrührern mit Härte begegnet. Sie definiert ihr eigenes Wesen nach dem Vorbild der berühmten Zukunftsschau in Vergils Aeneis, wo die Propaganda der pax Augusta ihren wirksamsten Ausdruck gefunden hat. Tu regere imperio populos, Romane memento – Hae tibi erunt artes – pacique inponere morem, parcere subiectis et debellare superbos.338 Du, Römer, gedenke die Völker durch deine Herrschaft zu lenken. Deine Fähigkeiten werden sein – dem Frieden (gute) Sitten aufzuerlegen, die Unterworfenen zu schonen und die Widerspenstigen zu bezwingen.339
Justitia erläutert nun die besonderen Funktionen der übrigen Tugenden, die für Germania offenkundig sichtbar sind, aber passiv bleiben.340 Unter der Führung der Pietas lenkt der Kaiser nach dem Vorbild Gottes (ad exemplum summum moderantis Olympum) die Staatsgeschäfte. Mit der Nennung der Pietas weicht Stigelius vom strengen Viererkanon der platonischen Kardinaltugenden ab und thematisiert die Eigenschaft, die nach christlichem, insbesondere protestantischem Verständnis (sola fide) Priorität haben müsste. Die Frömmigkeit war schon die Basis der augusteischen Restauration, da nach römischem Denken Wohl und Verderben des Gemeinwesens auf die Ehrung oder Missachtung der Götter zurückgeführt wurde.341 Die Frage nach den himmlischen Angelegenheiten und der rechten Ehrung Gottes war jedoch auch gerade zur Reformationszeit das Verhandlungsthema zwischen Protestanten und Katholiken. Der Kaiser verdankte seinen besonderen Rang der Tatsache, dass er als Schutzherr der Kirche verehrt wurde, wobei in der offiziellen künstlerischen Darstellung bei (zumindest katholischen) Festumzügen dessen Unterordnung unter den Papst für jedermann außer Frage stand.342 Insbesondere Karl V. versuchte, dieser Vorstellung mit dem
337 Fol. C 5 v. 338 Verg. Aen. 6, 851–853. 339 Übersetzung T. B. 340 Fol. C 5 v–C 6 r. 341 Paul Zanker: Augustus und die Macht der Bilder. 2., durchgesehene Auflage. München 1990, S. 108. 342 Strong, S. 140 f.
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Konzept seiner Monarchia universalis Rechnung zu tragen.343 Der Umstand aber, dass Stigelius in diesem Distichon ihn, und nicht, wie zu erwarten, den Papst als Stellvertreter Christi fungieren lässt, scheint die entschieden antikuriale Haltung des Melanchthonschülers auszudrücken, der besonders in seinen Epigrammen gegen den Papst und seine Anhänger polemisiert.344 Pietas ist zwar zunächst eine religiöse Tugend, mahnt aber auch zum Einhalten familiärer und verwandtschaftlicher Pflichten, vor allem zur Ehrung der Eltern. Daher kommt sie dem als Mutter verstandenen und „nach Cicero alle Zuneigungen (caritates) umfassenden Vaterland“ zugute.345 Germania hat allen Grund, auch dieser Erscheinung einen hohen Wert beizumessen. Die nächste Tugend, Fortitudo, treibt Karl zur unerschrockenen Verteidigung von Altar und Herd. Aus Angst vor ihr hat der Türke seine Pfeile gegen Bleikugeln vertauscht. Auf Temperantia hingegen hoffen bezwungene Könige, insbesondere der Türke. Die Tugenden entschweben, angeführt von Justitia, unter Blitz und Donner zurück zum Himmel, und Germania blickt ihnen nach, wie sie alle Reiche als Besitz des Kaisers mit ihren Flügeln bedecken.346 Stigelius folgt mit seiner Inszenierung der Tugendallegorien den Konventionen festlicher Huldigungen, die Karl bei großen Auftritten und Einzügen besonders von katholischer Seite entgegengebracht wurden.347 Germania äußert ihre unmittelbare Vorfreude bis hin zu Karls festlichem Einzug in die Heimat (introitus), wobei sie über weite Strecken einen anderen Redner zu Wort kommen lässt.348 Zunächst jedoch ergeht sie selbst sich noch in rhetorischen Fragen und Gleichnissen, welche die Unmöglichkeit illustrieren, würdige Lieder auf Karl anzustimmen. Diese Aufgabe delegiert Germania an edle Dichter (ingenui poetae), welche die Zeiten ihr gegeben haben und geben werden.349 Diese beiden Verse enthalten eine Hommage des Stigelius an seine eigenen Zunftgenossen, wenn nicht gar an die eigene Kunst. Spätestens seit Konrad Celtis’ programmatisch zu verstehender Ode Ad Phoebum, ut Germa
343 Kohler: Die innerdeutsche und die außerdeutsche Opposition, S. 108; Horst Rabe: Art. Karl V., Kaiser. In: TRE. Bd. 17, S. 635–644, hier S. 636. 344 Pflanz, S. 91 ff. 345 A. Schmidt: Vaterlandsliebe und Religionskonflikt, S. 40. 346 Fol. C 6 r. 347 Strong, S. 156 schildert den 1548 stattfindenden Einzug Karls V. mit seinem Sohn, dem Prinzen Philipp, in die Niederlande. In Gent beherrschte die Darstellung der Kardinaltugenden mit all ihren Unterteilungen die Szenerie. In Lüttich nahmen Jungfrauen als Tugenden die Herrscher in einem Tempel in Empfang. Dort öffnete sich ein Tor zur Hölle, in welchem sich die Gestalt Luthers zeigte. Im weiteren Verlauf des Zuges repräsentierten Papst und Kaiser die katholische Kirche, Luther, Zwingli u. a. das bezwungene Ketzertum. 348 Fol. C 6 r–C 7 v. 349 Fol. C 6 r.
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niam petat (um 1500) gehörte die Verteidigung gegen das im Ausland verbreitete Klischee von deutscher Barbarei sowie die Etablierung einer ebenbürtigen deutschen (wenn auch lateinsprachigen) Dichtung zu den patriotischen Pflichten deutscher Humanisten.350 Germania hat durch die bloße Kunde von Karls Ankunft ihre fast aufgezehrten Kräfte wiederherstellen können. Es folgt die eigentliche Schilderung von Karls festlichem Einzug, dem introi tus, einem Zeremoniell, das in der Präsenz des Herrschers seine Herrschaftsidee veranschaulicht.351 Bereits im Prinzipat entwickelte sich aus dem ursprünglich an die Stadt Rom und den Jupiter Capitolinus gebundenen Triumphzug der adventus augusti als Demonstration dauerhafter Sieghaftigkeit, die in dem Titel Imperator schon enthalten ist. Da seit Konstantin die fast ausschließlich christlichen Kaiser auf heidnische Institutionen verzichten mussten, verhalfen sie ihrem eigenen Einzug zu sakraler Überhöhung, indem sie ihn durch das Mitführen von Kultbildern als adventus Christi oder als Feier für Heilige inszenierten.352 Derartige Triumphzüge überdauerten das Mittelalter, wenn auch nur wenige Einzelheiten dokumentiert sind wie z. B. für die siegreichen Unternehmungen von Friedrich Barbarossa und Friedrich II. in Italien.353 In der Regel aber beschränkte sich die feierliche Entrée des Herrschers in eine Stadt bis zur Mitte des 14. Jh. auf ein eher schlichtes Geleit durch einheimische Würdenträger und Bürger.354 Die mittelalterliche Idee, in einem Bilderbogen die Gesamtheit der Gesellschaft als Mikrokosmos zu präsentieren, wurde beibehalten, aber seit dem Ende des 14. Jh. in einem größeren Spektakel ausgeführt.355 Die ursprünglich schlichten Zeremonien wurden zu prunkvollen Straßenumzügen mit aufwendigen, oftmals allegorischen Tableaus der herrscherlichen Vollkommenheit umgestaltet. Im Grunde war der adventus die visuelle Umsetzung eines Fürstenspiegels: In Bildern, Statuen, architektonischen und szenischen Darstellungen von Helden, Göttern und Heiligen, Allegorien von Flüssen, Ländern und Tugenden fanden die Beziehungen zwischen Herrscher und Volk sowie die wechselseitigen Erwartungen ihren sichtbaren
350 Kühlmann: Der Poet und das Reich, S. 86. 351 Fol. C 6 v–C 7 v. Die Beschreibung des betreffenden Zuges lässt sich schwer mit einer einheitlichen Terminologie fassen. Ob oder inwieweit sich die als adventus, joyeuse entrée oder blij de inkomst bezeichneten Rituale unterscheiden, ist nicht ohne weiteres ersichtlich. 352 Jürgen Strothmann: Art. Herrscher. Teil A. In: DNP. Bd. 14 (Rezeptions-und Wissenschaftsgeschichte), Sp. 362–413, hier Sp. 370. 353 Ebd., Sp. 370 f. 354 Bei diesen Kaisern kamen Krone, erhobene Standarten, Fahnenwagen und sogar ein Elefant zum Einsatz. Strong, S. 15. 355 Ebd., S. 16.
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Ausdruck.356 Im 16. Jh. kam es zu einer Verschmelzung von italienischem Zeremoniell, das besonders auf antike Symbolsprache rekurriert, und einem in den nördlichen Ländern Europas gepflegten Ritterethos, das in einem biblisch-sakralen Verständnis von Königsherrschaft wurzelt. Roy Strong erläutert: Bei den Festen Karls V. kam die ganze Bandbreite prachtvoller kaiserlicher Mythen in einem Ausmaß zur Aufführung, wie man sie seit dem römischen Reich nicht mehr gesehen hatte: […] Kurzum, das Wiederaufleben der Idee des Reiches in der Gestalt Karls V. gab den Künstlern und Gelehrten der Renaissance einen lebenden Träger für das wiederentdeckte Repertoire der klassischen Antike.357
Stigelius’ Germania schwelgt nun in Begeisterung angesichts der zur Heimkehr ihres Sohnes abgehaltenen Spektakel. Zu Karls Ehren veranstaltet man Ritterturniere, Schauspiele und religiöse Zeremonien mit Gebeten, Opfer- und Weihegaben etc.,358 deren Beschreibung sich stark an den Darstellungen von Triumphzügen aus der augusteischen Dichtung orientiert.359 Die Heroine besingt ihre Freude, den heimgekehrten Sohn im Arm zu halten. Verschiedene Vertreter der Bevölkerung treten auf: Landmann und Ritter singen noch während ihrer Arbeit; der Soldat, obgleich noch in Waffen, verdammt den Krieg. Die fromme Jugend betet für ein langes Leben des Kaisers. Soweit folgt Germania (mit nur geringen Überformungen antiker Topik durch ritterlich-mittelalterliche Leitbilder) der konventionellen Darstellung von Triumphzügen in der elegischen Dichtung. Angesichts eines derartigen Ereignisses erfährt die Schilderung eine mythische Überhöhung. Selbst die Natur reagiert mit Freude auf Karls Ankunft und offenbart ihre Begeisterung in Wundern: Der Winter weicht vorzeitig einem unerwarteten Frühling und lässt junge Gewächse sprießen, welche in ihrer Pracht dem Kaiser „lachen“. Lorbeer und Efeu schlingen sich von selbst zum Kranz, Wind und Woge legen sich.360 Stigelius bewegt sich auch hier innerhalb der üblichen Symbolsprache, denn bei Festumzügen präsentierte man dem Fürsten u. a. grüne Gewächse und sprudelnde Brunnen als Früchte von dessen Tugenden.361 In diesem Rahmen ließen sich die sichtbaren Auswirkungen eines bestehenden oder kommenden Goldenen Zeitalters demonstrieren.362 Die prominenteste literarische Vorlage 356 Ebd., S. 16. 357 Ebd., S. 137. 358 Fol. C 6 v–C 7 r. 359 Vgl. z. B. Ov. her. 1, 25–58. Dort setzt Penelope den allgemeinen Jubel über die siegreiche Rückkehr der griechischen Helden in Kontrast zu ihrem eigenen Leid, da für sie allein „Pergamon noch steht“, solange ihr Mann Odysseus verschollen ist. 360 Fol. C 7 r–v. 361 Strong, S. 16 f. 362 Art. Herrscher (HWRh), Sp. 398; Zech, S. 206 ff.
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dazu bietet Vergil mit Teilen seiner Aeneis,363 vor allem aber mit seiner vierten Ekloge. Tatsächlich hatte sich Karl bei einer anderen Gelegenheit, nämlich dem Einzug der von ihm eingesetzten Herzogin Eleonora von Toledo in Florenz 1539, mit folgender Inschrift feiern lassen: AUGUSTUS CAESAR DIVUM GENS AUREA CONDIT SAECULA.364 Die vierte Ekloge365 handelt von der Wiederkunft der Satur nia regna und der gens aurea nach der Geburt eines heilbringenden göttlichen Knaben. Die Erde bringt von selbst alle Gaben hervor, die Steineiche spendet Honig, der Dornstrauch Trauben, das Vieh fürchtet nicht mehr die Löwen366 – die Tendenz ist allversöhnend und pazifistisch, auch wenn zum Leidwesen des Dichters Krieg und Seefahrt noch eine Weile existieren. Stigelius mag sich bei seinem Rekurs auf Vergils vierte Ekloge an einem speziellen humanistischen Vorbild orientiert haben, in jedem Fall folgt er den panegyrischen Konventionen seiner (und nicht nur seiner) Zeit. In unterschiedlicher Form lässt sich eine produktive Anverwandlung dieses Vergiltextes, der gemeinhin als versifiziertes Programm der pax Augusta galt, obgleich schon ein Jahrzehnt zuvor verfasst,367 von der römischen Kaiserzeit bis mindestens ins 17. Jahrhundert verfolgen. Wo und wann auch immer es galt, einen Herrscher (Kaiser, König, Thronfolger, manchmal auch Papst) bei einem bestimmten Anlass als charismatischen d. h. von Gott begnadeten Heilsbringer zu inszenieren und den von ihm herbeizuführenden Anbruch eines Goldenen Zeitalters zu feiern, empfahl sich Vergils messianisch-prophetische vierte Ekloge als literarisches Referenzmodell. Wer auch immer mit der literarischen Verherrlichung des jeweiligen Anlasses betraut war, hatte die Option, entweder eigene panegyrische Eklogen zu verfassen, größeren Schriften einen derartigen Passus einzufügen oder einzelne Verse des Vergiltextes in direktem Zitat oder leicht variiert auf den betreffenden Gegenstand der Huldigung anzuwenden. In jedem Fall verselbständigte sich die zwar mindestens bis auf Hesiod zurückgehende, von Vergil aber in seinem Sinne aktualisierte und erstmals zu großer öffentlicher Wirkung gebrachte aetas aurea-Thematik, so dass man ihr nicht nur in Versen, sondern
363 Verg. Aen. 6, 791 ff. Dort prophezeit Anchises in der Unterwelt die Wiederkehr der aurea saecula unter dem in ferner Zukunft herrschenden Augustus. 364 Strong, S. 136. 365 Empfehlenswert dazu Virgil: Bucolica. Hirtengedichte. Lateinisch-deutsch. Übersetzt und erläutert von Friedrich Klingner. Mit einem Beitrag von Edgar Höricht. München 1977, S. 72–86 sowie Wendell Clausen: A Commentary on Virgil. Eclogues. Oxford 1994, S. 119–150. 366 Vgl. auch die Ankündigung des Messias bei Jes 9, 5 und 11, 6. 367 Es handelt sich um die frühe Dichtung des nach und nach immer größere Gattungen behandelnden Vergils, entstanden zwischen 42 und 39 v. Chr.
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auch in materiellen Kunstwerken und bei Festumzügen, gelegentlich sogar in lebenden Bildern Rechnung trug. Ein frühes literarisches Beispiel findet sich schon zur Zeit der Flavier-Dynastie.368 Die spätestens seit Laktanz und Konstantin dem Großen als Weissagung der Geburt Christi gedeutete vierte Ekloge369 lieferte auch am Hof Karls des Großen Anregungen zu Huldigungsversen.370 Die Geburt Friedrichs II. von Hohenstaufen am 26. Dezember 1194, d. h. sogar am zweiten Weihnachtstag, besingt Petrus de Ebulo in einem enkomiastisch gestalteten Abschnitt seines Liber ad honorem Augusti sive de rebus Siculis.371 Ähnlich verhielt es sich in Spanien. Als 1478 die Katholischen Könige Ferdinand von Aragon und Isabella von Kastilien mit der Geburt des Kronprinzen Johann einen Thronfolger erhielten – dieser sollte allerdings schon 1497, also mit nicht einmal 20 Jahren sterben –, verfasste der spanische Dichterkomponist Juan del Encina seine eigene vierte Ekloge. Als Anbruch eines Goldenen Zeitalters feierte er darin auch die Begründung und Förderung der Spanischen Inquisition, da diese versprach, den wahren Glauben zu läutern und das Judentum bald der Vergessenheit anheimzugeben.372 Stigelius’ Germania nimmt für ihren Karl eine nach derartigen Modellen konzipierte Rolle als Heilsbringer in Anspruch: Te veniente, abeunt in amoenas sponte coronas, Laurea non ulla gramina tacta manu. Bracchia concordi coeunt hederaica nexu. Nutat ad incessum palma procera tuum.
368 Martial apostrophiert in seinem Epigramm 6, 3 einen künftigen Sohn des Domitian, was insofern brisant gewesen sein dürfte, als zur betreffenden Zeit in der kaiserlichen Familie keine Schwangerschaft anstand. Jens Leberl: Domitian und die Dichter. Poesie als Medium der Herrschaftsdarstellung. Göttingen 2004 (Hypomnemata 154), S. 308. 369 Hans-Joachim Mähl: Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis. Studien zur Wesensbestimmung der frühromantischen Utopie und ihren ideengeschichtlichen Voraussetzungen. Heidelberg 1965 (Probleme der Dichtung 7), S. 103 f. Gerade der Applizierbarkeit dieses bukolischen Textes auf die Geburt Christi ist die große Berühmtheit und Beliebtheit Vergils das gesamte Mittelalter hindurch zu verdanken. 370 Jürgen Strothmann: Das Augustusnomen Karls des Großen und das karolingische Imperium. In: Namenkundliche Informationen 103/104 (2014), S. 267–287, hier S. 277. 371 Petrus de Ebulo: Liber ad honorem Augusti sive de rebus Siculis. Eine Bilderchronik aus der Stauferzeit. Hrsg. von Theo Kölzer und Marlis Stähli. Textrevision und Übersetzung von Gereon Becht-Jördens. Sigmaringen 1994. S. 205–226 (Buch II. Particula XLIII, 1363–139). Zunächst wird der Knabe willkommen geheißen, der einst seinen Vater noch übertreffen soll, dann die anbrechende Freudenzeit mit ihrem übernatürlichen Tierfrieden geschildert. 372 Hans-Jörg Neuschäfer (Hrsg.): Spanische Literaturgeschichte. 4., aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart 2011, S. 69.
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Pacificus placido tibi ridet ab aere Phoebus, Cessat in adventu ventus, & unda tuo.373 Bei Deiner Ankunft winden sich Lorbeergewächse, von keiner Hand berührt, von selbst zu anmutigen Kränzen. Efeuranken schlingen sich in einträchtiger Verknüpfung zusammen. Bei Deinem Einzug neigt sich die hochaufragende Palme. Als Friedensstifter lacht Dir aus ruhiger Luft die Sonne entgegen, bei Deiner Ankunft weichen Wind und Welle.
Mit dem Lorbeer nennt sie ein Gewächs, welches Apollo heilig war, aber auch zum Schmuck des Siegers und der Victoria diente.374 Der Pentameter cessat in adventu ventus, & unda tuo rekurriert offensichtlich auf jene berühmte Begebenheit aus dem Neuen Testament,375 wo Jesus auf dem See Genezareth den Sturm zum Schweigen bringt. Diese gottesähnliche Stilisierung eines Herrschers in christlichem Kontext entspricht den Deutungsmustern der Frühen Neuzeit, denn diesen zufolge „liegt der Schlüssel für die Bilder in der Gleichsetzung des Königs mit Jesus Christus und dessen Einzug in das Neue Jerusalem.“376 Der Vers Nutat ad incessum palma procera tuum – mit Anklängen an den im Johannesevangelium geschilderten Einzug Jesu in Jerusalem,377 wo die Menschen dem auf einem Esel einreitenden Messias mit Palmenzweigen zuwinken – verweist auf eine apokryphe Kindheitsanekdote Jesu,378 wonach der kleine Jesus bei der Flucht mit seinen Eltern nach Ägypten einer Palme gebietet, sich zu Maria herabzuneigen und Früchte zu spenden. Zudem evoziert er einen Vers aus Vergils vierter Ekloge aspice convexo nutantem pondere mundum.379 Das Verb nutare bezeichnet die Freude des ganzen Weltalls über die Erlösung oder den Anbruch einer besseren Zeit.380 Auf engstem Raum treffen also die beiden komplementären Traditionsstränge zusammen, deren sich die humanistische Kaiserpanegyrik bedient, jüdisch-christliche und augusteische Weltdeutung, „Palmsonntag“ und Goldenes Zeitalter.
373 Fol. C 7 r–v. 374 27 v. Chr. erhielt Augustus in der Senatssitzung, in der er den Verzicht auf seine Ämter anbot, nicht nur seinen Namen, sondern auch zwei Lorbeerbäumchen, die den Eingang seines Hauses flankierten und an eine uralte religiöse Sphäre gemahnten. Zanker, S. 98. 375 Mt 8, 23–27; Mk 4, 35; Lk 8, 22–25. 376 Strong, S. 17. 377 Joh 12, 12–19. 378 Ps.-Matthäus 20, 1–2. 379 Verg. ecl. 4, 50. 380 Clausen, S. 142: „a sign of cosmic joy.“ Vgl. auch Ov. met. 2, 849, wo Jupiter charakterisiert wird als Gott, qui nutu concutit orbem.
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In fast 300 Versen zitiert Germania die Rede eines ehrwürdigen Greises aus der Menge.381 Dieser heißt den auf einem Schimmel einreitenden Karl willkommen und würdigt dessen Leistungen in einer über 250 Verse umfassenden Ansprache. Der namenlos und auch ohne offizielle Amtsbezeichnung bleibende Greis (aliquis cano multum venerabilis aevo) ist offenbar eine fiktive Gestalt nach dem Vorbild des schon in der homerischen, aber auch in der ovidischen Dichtung gelegentlich auftretenden anonymen Sprechers, der ein öffentliches Ereignis (Triumphzug) kommentiert,382 auch stellt er einen namentlichen Bezug zu dem für seine Weisheit berühmten homerischen Nestor her, dessen stets gemeinschaftsstabilisierende Beredsamkeit er sich wünscht.383 Der Greis beteuert, dass er (mit seiner Kunst als Redner) dem Kaiser unterstehe. Er referiert dessen Leistungen. Karls erste große Tat direkt nach Antritt seiner Herrschaft war die Befriedung Europas, insbesondere Italiens, das durch den vorzeitigen Tod Maximilians I. von Zwietracht erschüttert worden war. Diese Wiederherstellung der aurea saecula verdiente nicht weniger Ruhm als einst die Schließung des Janustempels durch Augustus.384 In einer Passage von beinahe 150 Versen verherrlicht der Greis Karls Sieg über die Türken zu Land und zu Wasser. Von edlem Ehrgeiz getrieben, hat der Kaiser seine Tapferkeit auch außerhalb Italiens beweisen wollen und deshalb im Osten Betätigung bei der Abwehr der Osmanen gesucht. Der Redner bezieht sich hier auf die Belagerung Wiens von 1529, wo die Osmanen, angeführt von Sultan Süleyman dem Prächtigen, vor den Toren der Stadt über ihren vermeintlich bevorstehenden Sieg frohlockten, dann aber vertrieben wurden, ehe sie etwas ausrichten konnten.385 Anders, als in der Heroide behauptet, war es Karls Bruder und Stellvertreter Ferdinand, der, in seinem Besitz von Österreich und (Nordwest-)Ungarn unmittelbar bedroht, die erfolgreiche Abwehr organisierte. Wie durchweg in der Forschung hervorgehoben, überließ ihm Karl diese undankbare Aufgabe, ohne sich durch bemerkenswerte Hilfsleistungen hervorzutun.386 381 Fol. C 7 v–D 4 r. 382 Z. B. Hom. Il. 22, 106; Hom. Od. 6, 275; Hom. Od. 21, 324; Ov. her. 1,31 ff. (Penelope an Odysseus. In Ov. trist. 4, 2, 25 ff. stellt sich der ovidische Sprecher aus seiner Verbannung vor, wie bei einem Triumphzug über Germanien in Rom unbekannte Zuschauer die mitgeführten Gefangenen identifizieren. 383 Fol. C 7 v. O mihi si tantae spiraret gratia linguae,/ Qualis erat Pylij lingua diserta senis. Quam cuperem iusto tua nomina dicere plausu,/ Ilias hic laudis quam foret ampla tuae? 384 Fol. C 8 r–v. 385 Vgl. dazu Caspar Ursinus Velius: Querela Austriae und das betreffende Kapitel dieser Arbeit 3.1.5. 386 Vgl. Sutter Fichtner: Ferdinand I., S. 57; Sutter Fichtner: Aber doch ein Friede, S. 236; Laubach: Ferdinand I. als Kaiser, S. 628. Vgl. auch das Kapitel dieser Arbeit 3.1.1 Georg Sabinus: Germania ad Caesarem Ferdinandum.
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In Bezug auf einen zweiten erfolglosen Österreichfeldzug der Türken von 1532 ergeht sich der Greis in psychologischen Reflexionen über den Türken, der für seine einstige Niederlage Rache nehmen will, und erteilt somit eine kurze Affektenlehre. Der Schmerz des Besiegten verwandelt sich in rasende Wut und versteigt sich zu neuer Hoffnung, die aber wiederum zunichte gemacht wird, wenn sich der Mut nicht mit Verstand paart. Der Redner rühmt die Klugheit, mit welcher Karl seiner Ansicht nach das drohende Unheil erkannte und abzuwehren verstand, in allem Variationsreichtum.387 Der kumulative Gebrauch von Klugheitsvokabular wie prudentia, ratione, foelix prudentia, ratione, sapit, damna futura cavet, pro spicis […] prospicis388 kompensiert gewissermaßen das Fehlen einer himmlischen Jungfrau Sapientia oder Prudentia in der von Germania zuvor genannten Schar der leibhaftig auftretenden Tugenden. Insofern ist es also dennoch gerechtfertigt, von einer effektvollen Inszenierung der kaiserlichen Kardinaltugenden in dieser Heroide zu sprechen. Der Greis stellt dem besonnenen und unter Gottes Beistand handelnden Karl den Türken als Exempel für bestraften und schmählich zu Fall kommenden Hochmut gegenüber. Der in blinder Wut anstürmende Feind büßt seinen Frevel mit kopfloser Flucht und grausamem Tod.389 Der Greis vergegenwärtigt nun in einer langen Erzählung die Eroberung von Tunis im Sommer 1535, Karls erfolgreichste militärische Unternehmung während seiner langen Herrschaft.390 Vorab einige Worte zur historischen Situation. Seit dem späten 15. Jahrhundert befanden sich die Katholischen Könige in einem dauerhaften Konflikt mit muslimischen Piraten, welche die Küsten Spaniens und Süditaliens unsicher machten. Der Pirat Chaireddin Barbarossa, Admiral im Dienste der Osmanen, hatte 1534 den unter Karls Herrschaft stehenden König Ben Muley Hassan von Tunis vertrieben, die Gegend um Karthago ausgeplündert und bedrohte nun Unteritalien. Karls Bemühungen, auf diplomatischem Wege Frieden zu schließen, machte er zunichte, indem er dessen Boten töten ließ. Der Kaiser sah nun die Stunde gekommen, in eigener Person das Wohl der Christenheit, die Seewege seines Reiches sowie die eigene Ehre zu verteidigen, ein Projekt, das er sogar gegen den Rat einiger seiner Bischöfe und Militärs durchsetzte. Anders, als in der Heroide dargestellt, errang Karl in der Seeschlacht noch keinen endgültigen Sieg, sondern eroberte zu Lande in mehreren mühsamen Etappen erst die Küstenfestung Goleta, dann fiel Tunis selbst. Aus seinem eigenen Brief an eine Schwester, kurz nach dem Geschehen noch in Tunis abgefasst, geht hervor, dass sein Heer in der Hitze vom Verdursten bedroht war und ein Teil tatsächlich auf 387 Fol. C 2 r. 388 Fol. D 2 r. 389 Fol. D 1 v–D 2 r. 390 Fol. D 2 r–D 3 r.
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diese Weise ums Leben kam. Chaireddin Barbarossa konnte nach Algier entweichen.391 Karl befreite – so zumindest die Propaganda – etwa 20000 versklavte Christen, erlangte höchstes Ansehen als Feldherr in Waffen und konnte so ein letztes Mal die spätmittelalterliche Idee vom Kaiser als Schutzherrn der Christenheit wiederbeleben.392 In Europa huldigte man ihm mit einer Flut von glorifizierenden Darstellungen der Schlacht in Literatur, bildender Kunst und Tapisserie. Da Karl den Feind aber nicht gefangen nehmen und langfristig entmachten konnte, war das Ergebnis des Feldzuges in Wirklichkeit eher ein Prestigesieg als ein nachhaltiger militärischer Erfolg, zumal die spätere Operation vor Algier im Herbst 1541 scheiterte.393 Stigelius’ Greis beginnt seine Erzählung mit Bezug auf den in seiner Überheblichkeit scheiternden Aggressor Chaireddin Barbarossa (Pyrata Aenobarbus): Punica Sydoniae praedatus littora Didus, Vim praedae Tyria pinguis agebat humo. Depulerat profugum veteri de Tunide Regem, Qui sua sub Domino Caesare regna tenet. Certus erat victor Thyrrenum evadere Pontum, Et ruere in fines Ausonis ora tuos. Quid tua non cernit foelix prudentia Caesar, Auspice fortunam temperat illa DEO.394 [Der Pirat Chaireddin Barbarossa]eroberte den punischen Strand der Sidonierin Dido und verübte Gewalt auf dem beutereichen tyrischen Boden. Er hatte den König aus dem alten Tunis in die Flucht getrieben, der unter seinem Herrn, dem Kaiser, über sein Reich gebietet. Er vertraut fest darauf, als Sieger auf das Tyrrhenische Meer entkommen und in dein Gebiet, Österreich, einfallen zu können. Welchen Weitblick beweist nicht Deine glückliche Klugheit, Kaiser, unter Gottes Führung bezwingt sie die Laune des Schicksals.
In diesem den Sieg summarisch vorwegnehmenden Beginn der Erzählung erscheint wiederum nur Karls allein auf Gottes Beistand gestützte Klugheit als Garant für die Rettung der Christenheit. Der Greis entwirft nun ein breites Panorama der Seeschlacht,395 das mit seiner Gegenüberstellung von römisch-abendländischer und orientalischer Weltmacht möglicherweise die Seeschlacht von Actium zwischen Octavian und Cleopatra (und Antonius) 31 v. Chr. revozieren soll.396 Karl eröffnet den Krieg aus gerechtem Zorn und erscheint wieder einmal 391 Kohler: Karl V., S. 140 ff.; Brandi, S. 303 ff. 392 Kohler: Karl V., S. 245. 393 Ebd. 394 Fol. D 2 r. 395 Fol. D 2 v–D 3 r. 396 Diese ist Gegenstand poetischer Darstellung in Verg. Aen. 8, 671–713 (als Teil der Schildbeschreibung des Aeneas); Hor. carm. 1, 37; Prop. 4, 6.
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als Gebieter auch über Naturgewalten, insofern als das Meer voll Ehrfurcht vor ihm erzittert.397 Es folgen die Kampfformation, der erbarmungslose Zusammenprall der feindlichen Schiffe und Trompetenschall, der bis tief hinab zu den Manen und hoch hinauf zu den Sternen steigt. Die Luft ist verdunkelt von schwirrenden Pfeilen und schwefelhaltigen Kugeln. Karls Beispiel an virtus weckt in den Soldaten das Verlangen, ihm nachzueifern.398 Bald erreicht der Kampf seinen Höhepunkt: Ergo assueta tuis semper victoria castris, Hic quoque de caelo prospera signa dedit. Disiectis ratibus victus profligitur hostis, Cogis in infamem barbara vela fugam. Miratur laceras Neptunus in aequore puppes, Aequoreaeque stupent corpora mersa Deae. Iusta tibi Tyrios reddit victoria portus, Per te iterum pacem barbarus Afer agit. Regulus has Latiis servasse Quiritibus arces Dicitur, & laudem promeruisse suam. Plus invicte tibi debent tua saecula, Caesar, Totius Europae victor ab hoste redis. Videret antiquae celsas Carthaginis arces, Qui forti aequavit Scipio Marte solo. Has quia servasses, quas oras perdidit ille, Non renuat laudi cedere399 laude tuae. Iam tua tollebat niveas victoria pennas, Laeta per immensas orbis itura plagas.400 Also hat Victoria, immer an Dein Lager gewöhnt, auch hier vom Himmel günstige Zeichen gegeben. Der Feind wird besiegt und niedergeworfen, zuvor seine Schiffe zerschmettert; zu schmählicher Flucht zwingst Du die barbarischen Segel. Auf dem Meer wundert sich Neptun über die zertrümmerten Schiffe, und die Meeresgöttinnen staunen angesichts der versunkenen Leichen. Ein gerechter Sieg gibt die Häfen von Tyrus zurück in Deine Gewalt, dank Dir lebt der Barbar aus Afrika wieder in Frieden. Regulus soll diese Burgen für die Quiriten aus Latium verteidigt und seinen eigenen Ruhm verdient haben. Mehr noch verdankt Dein Zeitalter Dir, unbesiegbarer Kaiser, vom Feind ganz Europas kehrst Du als Sieger zurück. Könnte Scipio die hohen Burgen des alten Karthago sehen, die er durch einen heldenhaften Krieg dem Erdboden gleichgemacht hat, würde er, weil Du erhalten, was er zer-
397 Fol. D 2 v. Ergo laceßitam merito consurgis in iram,/ Magnaque terribili fulmina classe paras./ Agnoscit Dominum placidi reverentia ponti,/ Et tremit ad classes ventus & vnda tuas. 398 Fol. D 2 v. Quilibet ostendit sua robora miles, & vltro/ Pugnat ad exemplum fortior esse tuum. 399 Im Text credere, offensichtlich ein Druckfehler. 400 Fol. D 3 r.
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stört hat, nichts dagegen einwenden, mit seinem Ruhm hinter dem Deinen zurückzustehen. Schon hob Deine Siegesgöttin ihre schneeweißen Schwingen, um in froher Laune über die gewaltigen Landstriche des Erdkreises zu wandeln.
Diese Passage wird gerahmt von der Nennung der Victoria, Karls ständiger treuer Begleiterin, die ihm nach Stiglius’ gestalterischer Absicht wohl in ähnlicher Weise verbunden sein soll wie Athene Achill oder Odysseus. Dem unterlegenen Feind bleibt nur die schmähliche Flucht. Das Motiv der über (Kriegs-)Schiffe staunenden Meergötter oder –göttinnen begegnet oftmals in der antiken Poesie.401 Trotz einer gewissen Ähnlichkeit der Gesamtsituation ist keine explizite Bezugnahme des Autors auf die geläufigsten poetischen Schilderungen der Schlacht von Actium nachzuweisen.402 Der diese Passage beschließende Vers vom Aufbruch der Victoria korrespondiert mit Germanias Worten von den zum Himmel entschwebenden Tugenden, die ihre Flügel über Karls Reiche breiten. Die allegorisierten Virtutes präfigurieren also die Siegesgöttin: Der Kaiser verdankt den Sieg seinen eigenen Tugenden. Vom Beistand Gottes in der Schlacht ist lediglich in der einleitenden Passage die Rede, während die Schlacht selbst ganz in der Diktion der augusteischen Dichter vergegenwärtigt wird. Der Greis schildert nun Karls triumphale Rückkehr über Sizilien, Neapel, Spanien und die Niederlande nach Deutschland, als wäre es eine einzige zusammenhängende Reise.403 Tatsächlich realisierte der Kaiser nach seinem erfolgreichen Feldzug seinen langgehegten Wunsch, Sizilien und Neapel zu besuchen.404 Die Reise durch Frankreich von 1539 bis 1540, bei dem der Habsburger u. a. ein Treffen mit seinem Dauerrivalen und Erzfeind Franz I. abhielt,405 übergeht der Redner mit Stillschweigen und malt stattdessen aus, mit welcher Begeisterung die übrigen Länder und Regionen den hohen Besuch willkommen heißen. Bei Karls Ankunft erzittert Sizilien, das Victoria schon von fern erblickt hat. Wieder vermag die Präsenz des Kaisers bändigend auf die Naturgewalten einzuwirken. Enceladus, einst der stärkste Gigant im Kampf gegen die olympischen Götter und von Athene unter dem Aetna begraben, zieht seine gewaltigen Glieder zusammen. Der Aetna speit weniger Brocken aus.406 Auf all seinen Stationen empfängt Karl den überschwenglichen Dank dieser Völker für seine segenbringende Herrschaft. Hass, Streit und Zwietracht entfliehen und weichen der mit einem Ölzweig bekränzten 401 Vgl. Catull 64, 14–15; Verg. Aen. 8, 691–693; Ov. met. 1, 301–303. 402 In diesen Schilderungen genießt Augustus den Beistand des Apoll und des über ihm aufleuchtenden sidus patrium bzw. Caesarium. 403 Fol. D 3 r–v. 404 Brandi, S. 306; Strong, S. 146. 405 De Ferdinandy, S. 348. 406 Fol. D 3 r.
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pax aurea.407 Wenn der Greis durch seine Erzählung Karl zum mythischen Helden stilisiert, entspricht er realen Huldigungsbräuchen der Frühen Neuzeit, nach welchen der Kaiser bei seinem Einzug in die verschiedenen Städte jedesmal mit einem gewaltigen Aufwand an bildnerischer, architektonischer und szenischer Darstellung seines Ruhmes geehrt wurde: Dabei konnten die vier Kardinaltugenden, vom Himmel herabschwebende Engel, Victoria, Statuen, Triumphbögen und Transparente zum Einsatz kommen – der Phantasie waren keine Grenzen gesetzt.408 Zu einem weiteren Gegenstand seines Lobes von beinahe 50 Versen macht der Greis nun die Lebensweise des Kaisers, der sich gleichermaßen in Krieg und Frieden Verdienste erwirbt.409 Karl verschmäht Luxus und Müßiggang und ergründet alle Geheimnisse der Astronomie. In jeder Hinsicht erscheint er als Muster von Pflicht-und Bildungsbewusstsein: Segnia non aliquo traducis tempora luxu, Ocia nec vitae desidiosus agis. Sed mundo vigilas, subiecto prospicis orbi, Semper & in finem quod mediteris habes. Aut legis historias & fortia facta priorum Imperioque notas facta imitanda tuo. Aut pariter belli, pacisque intendis in artis, Vt chlamidi poßis Caesar & esse togae. Nec satis esse putas illi qui temperat orbem, Civilis tantum munia nosse Ducis. More sed Heroum, cum coelo semina ducas Scutaris patriae sydera celsa tuae.410 Du verbringst keine untätigen Zeiten in irgendwelchen Ausschweifungen, auch die ruhigen Phasen des Lebens sitzt Du nicht müßig da, sondern Du wachst für die Welt, Du sorgst mit Weitblick für den unterworfenen Teil der Erde und hast immer etwas, was Du bis zu Ende bedenkst. Du liest Geschichten, Du liest von den Heldentaten der Vorfahren und verfolgst Taten, welche Du mit Deiner Herrschaft nachahmen musst. Du verlegst Dich gleichermaßen auf die Künste von Krieg und Frieden, so dass Du in Kriegsmantel und Toga Kaiser sein kannst. Du hältst es keineswegs für ausreichend, dass derjenige, der den Erdkreis regiert, nur die Aufgaben eines Fürsten in Bezug auf bürgerliche Angelegenheiten kennt, sondern untersuchst wie die Helden der Vorzeit, indem Du Samen für den Himmel streust, die erhabenen Gestirne Deines Vaterlandes.
407 Fol. D 3 v. Cincta caput sanctis oleae pax aurea ramis,/ Te duce per medias ducitur alta vias. 408 „Die Apenninhalbinsel hatte niemals etwas Ähnliches in dieser Größenordnung gesehen, und die Wirkung der Veranstaltungen kann an den Veröffentlichungen abgelesen werden, da gedruckte Flugschriften – frühe Beispiele ihres Genres – jeden Einzug in allen Einzelheiten beschrieben.“ Strong, S. 151. 409 Fol. D 4 r–v. 410 Fol. D 4 r.
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Das von Stigelius’ Greis entworfene Idealbild hat nur begrenzte Ähnlichkeit mit der historischen Kaisergestalt. Der Greis stilisiert Karl nach den Vorgaben humanistischer Fürstenspiegel zum princeps litteratus,411 alludiert jedoch auch den tugendliebenden und seinem Vater nacheifernden göttlichen (oder gottähnlichen) Knaben aus Vergils vierter Ekloge.412 Tatsächlich träumte der Kaiser von Kindheit an von der Wiederbelebung des mittelalterlichen Rittertums und bevorzugte auch als Privatlektüre Erzählungen von untadeligen Helden und der Genealogie seines eigenen Vaters, was ihn sogar dazu inspirierte, die Rückeroberung Konstantinopels für die Christenheit als Krönung seiner Laufbahn ins Auge zu fassen.413 Die (poetische) Zuschreibung von leidenschaftlichem Interesse für die „tapferen Taten der Vorfahren“ wird also auch dem historischen Karl gerecht, doch Royal Tyler warnt davor, dessen Bemühungen um die studia humaniora im engeren Sinne zu überschätzen oder gar als die Gründungsurkunde eines neuen Zeitalters aufzufassen.414 Chlamys (Soldatenmantel) und toga bezeichnen metonymisch Krieg und Frieden als die beiden Aufgabenbereiche eines jeden Herrschers; die Verpflichtung desselben auf die in ähnlicher Bedeutung gebrauchte Kurzformel arma et litterae ist topisch und gehört in jeden Fürstenspiegel. Der Redner rühmt nun in über 30 Versen Karls astronomische Forschungen.415 Astronomie wurde damals nicht unterschieden von Astrologie. Dass dem Kaiser eine derart intensive Beschäftigung mit Sternkunde zugeschrieben wird, erklärt sich nicht zuletzt aus der Tatsache, dass Stigelius und der Melanchthonkreis diese Vorliebe hegten.416 Melanchthon war bestrebt, die Astrologie als geachtete akademische Disziplin zu etablieren, und hielt seine Schüler immer wieder zu deren Studium an.417 Anders als Luther sahen er und Stigelius in der Astrologie keine Gegnerin der Theologie, sondern die Kunst, aus der Stellung der Gestirne Gottes Willen zu erkennen und die Geschicke der Menschen zu bestimmen.418 Daher hielten sie es insbesondere auch für die Aufgabe der Staatsmänner, 411 Art. Fürstenspiegel (HWRh), Sp. 500. 412 Vgl. Verg. ecl. 4, 26–27: At simul heroum laudes et facta parentis/ iam legere et quae sit poteris cognoscere virtus. 413 Tyler, S. 38 ff. 414 „Kaum wird er in Tizian, den er liebte, oder in der neuklassischen Architektur, die er förderte, irgendeine Wiedergeburt, den Aufgang eines neuen Tages gesehen haben. Er hatte wenig Lust an Latein, Griechisch hat er niemals getrieben. Er las selten alte Literatur, auch nicht in Übersetzung.“ Ebd., S. 38. 415 Fol. D 4 r–v. 416 Pflanz, S. 82 ff. 417 Ebd., S. 83. 418 Ebd., S. 83 ff.
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die Himmelserscheinungen zu erforschen und ihr politisches Handeln danach auszurichten.419 Stigelius’ Redner definiert den über einen bloß profanen Nutzen weit hinausgehenden Zweck dieser dem Kaiser zugeschriebenen Studien: Iam iuvat arcanas naturae inquirere caussas, Ex quibus aeterni lucet imago Dei.420 Schon reizt es Dich, die verborgenen Gründe der Natur zu erforschen, aus welchen das Bild des ewigen Gottes leuchtet.
Stigelius bzw. die in seinem Sinne schreibende Germania bedient sich eines geschickten fiktionalen Kunstgriffs, um dem ausufernden Lob auf Karls Forschungen ein Ende zu setzen. Der Greis möchte freilich noch weiterreden, doch wird ihm (pluraque dicturo!) das Wort abgeschnitten vom Jubel der Jugend, welche laute Ausrufe der Begeisterung angesichts der kaiserlichen Taten nicht mehr zurückhalten kann.421 Germania selbst nimmt somit wieder die unmittelbare Sprechposition ein. Während sie noch mit ihrem Gratulationsschreiben beschäftigt ist, erhält sie einen von Karl eigenhändig verfassten Brief mit der Ankündigung eines Konzils, eine Nachricht, die sie zur Begeisterung über Karls aufrichtiges und unermüdliches Engagement veranlasst. Haec ego dum calamo duco, dum mando papyro, Inque meo Caesar plurimus ore sonat. Laeta peroptatae referens mihi nuncia famae, Redditur a digitis charta notata tuis. Scribis vt in Synodum Proceres Germania cogam, Teque iubes causam iudice pacis agi. Pectoris ingenui tantas intelligo flammas, Prodit virtutes haec quoque charta tuas. Sentio quam cupias feßis succurrere rebus, Quam cupias dici Caesar ubique pater.422 Während ich dies noch mit dem Schreibrohr festhalte, während ich dies dem Papier anvertraue und das Lob des Kaisers am meisten durch meinen Mund erklingt, wird mir ein Blatt überreicht, von Deinen Fingern beschriftet, welches mir die frohe Kunde von einem hocherwünschten Gerücht übermittelt. Du schreibst, dass ich, Germania, die Großen des Reiches zu einer Synode einberufen soll; Du gebietest, dass man unter Deinem Vorsitz über den Friedensfall verhandeln soll. Ich erkenne die großen Flammen eines edlen Herzens, auch dieser Brief offenbart Deine Tugenden. Ich bemerke, dass Du darauf brennst, dem Niedergang der Dinge Abhilfe zu schaffen und überall „Kaiser“ und „Vater“ geheißen zu werden.
419 Ebd, S. 84. 420 Fol. D 4 r. 421 Fol. D 5 r. 422 Fol. D 5 r.
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Die illusionsbrechende Fiktion, dass die Briefschreiberin noch während ihres eigenen Schreibens eine Nachricht zu erhalten behauptet, ist ein pikantes, sich selbst ironisierendes Heroidenmotiv; hier ersetzt Stigelius die bei Ovid geläufige Unglücksnachricht423 durch eine „Frohe Botschaft.“ Vermittels einer doppelten poetischen Brieffiktion bringt er das zweite große Anliegen seiner Zeit zur Sprache: Das eine betrifft die Abwehr der Osmanen, das andere die konfessionelle Einigung der Christenheit durch ein Konzil. Von 1518 bis 1520 hatte Luther mehrmals an Karl V. und den „Christlichen Adel deutscher Nation“ dringlich appelliert, ein Konzil einzuberufen, das über seine eigene Lehre und die seiner Ansicht nach offenkundigen Irrtümer des Papstes urteilen sollte.424 Der Kaiser, für den – trotz zeitweilig schwerer politischer Konflikte mit einzelnen Päpsten – die Rechtmäßigkeit der römisch-katholischen Tradition prinzipiell außer Frage stand, ließ keinen Zweifel daran, dass er Luthers Lehre für Ketzerei hielt und notfalls mit allen Mitteln auszurotten gedachte.425 Nach dem Wormser Reichstag 1521 mehrten sich unter den Lutherfreunden wie -gegnern die Rufe nach einem Konzil, ein Wunsch, dem in der Folgezeit Päpste wie Leo X. und Clemens VII. ungern nachkamen, da sie mit Schrecken an die Konzile von Konstanz und Basel im vorhergehenden Jahrhundert zurückdachten, wo man die Päpste für ihre Amtsführung zur Rechenschaft gezogen und sogar abgesetzt hatte. Anfang 1523 forderten auf dem Nürnberger Reichstag die durch andauernde Vertröstungen enttäuschten Reichsstände „ein frei christlich Konzil in deutschen Landen“. Das bedeutete, die Teilnehmer sollten von Verpflichtungen gegen den Papst entbunden und zur freien Aussprache ermächtigt werden, Kaiser und Papst sollten als gleichberechtigte Oberhäupter auftreten, Laien sollte Teilnahme und Mitsprache gestattet sein. Als Ort der Tagung kam nur eine deutsche bzw. zum Reich gehörige Stadt in Frage, damit die Teilnehmer dem Zugriff des Papstes entzogen wären.426 Ein derartiger Wunsch stieß auf entschiedene Ablehnung beim päpstlichen Legaten und bei Karl.427 Letzterer brachte seine Empörung darüber zum Ausdruck, dass eine Nation sich anmaße, die kirchlichen Ordnungen außer Kraft zu setzen, was nicht einmal alle Fürsten zusammen und der Papst wagten. Er
423 In Ov. her. 9, 143–144 erhält Deianira die Nachricht, dass ihr Mann Herkules soeben durch das von ihr mit Drachenblut bestrichene Gewand tödlich verätzt worden ist. In her. 11, 93–96 erhält Canace, deren Niederkunft den Inzest mit ihrem Bruder zutage gebracht hat, ein Schwert mit dem Befehl, für ihr Vergehen zu büßen. 424 Gerhard Müller: Art. Tridentinum (1545–1563). In: TRE. Bd. 26, S. 62–74, hier S. 63. 425 Hubert Jedin: Geschichte des Konzils von Trient. Bd. 1. Der Kampf um das Konzil. 3. Auflage. Freiburg 1977, S. 162. 426 Ebd., S. 169 f. 427 Ebd., S. 172 f.
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verbot die Speyrer Versammlung, auf welcher diese Forderungen nochmals vorgebracht werden sollten. „Der letzte Universalkaiser war ein ebenso scharfer Gegner des Nationalkonzils wie der Papst selbst.“428 Der seit 1534 amtierende Papst Paul III. erklärte schon kurz nach seiner Wahl seine Absicht, ein Konzil einzuberufen, und nahm dieses Projekt, im Gegensatz zu seinem Vorgänger Clemens VII., ernsthaft in Angriff, musste jedoch feststellen, dass ein Großteil Deutschlands, selbst der katholische, an der Glaubwürdigkeit seiner Bemühungen zweifelte.429 Die Ausbreitung der Reformation war kaum noch aufzuhalten.430 Seit 1529 verstärkte auch Karl seinen Druck auf die Kurie, eine Synode zu veranstalten.431 Die Einladung zum Konzil nach Mantua am 23. Mai 1537 lehnte der Schmalkaldische Bund ab, mit der Begründung, dass in einer Stadt auf päpstlichem Territorium keine Freiheit, ja nicht einmal Sicherheit gegeben sei.432 Auch Franz I. nahm unerwartet seine Zusage zurück, da er – so scharf er auch gegen alle Abweichungen vom Katholizismus im eigenen Land vorging – durch die Beseitigung der Reformation im Reich einen Machtzuwachs seines kaiserlichen Antagonisten fürchtete.433 Paul III. verlegte die Zusammenkunft nach Vicenza mit der Folge, dass sie wegen Mangel an Teilnehmern ausfallen musste und 1539 auf unbestimmte Zeit verschoben wurde.434 Solange sich die Konzilspläne als wenig aussichtsreich erwiesen, setzte Karl seine Hoffnungen auf Religionsgespräche, die in dem Regensburger Reichstag gipfelten,435 dem Anlass zur Abfassung von Stigelius’ Heroide. Dort wurden beinahe erreichte Kompromisse sowohl von Luther als auch von römischer Seite zunichte gemacht.436 In den das Konzil betreffenden Versen wird die für die Gattung der Mahnund Sendschreiben obligatorische Forderung ausgesprochen. Wenn Dörrie als ein besonderes Merkmal dieses Briefes Germanias Behauptung aufgreift, sie ver-
428 Ebd., S. 173. 429 Ebd., S. 232 ff. 430 Ebd., S. 234. 431 Art. Karl V (TRE)., S. 638 f. 432 Art. Tridentinum (TRE), S. 63; Jedin: Geschichte des Konzils von Trient. Bd. 1, S. 240 f. Mit dieser Absage befasst sich Stigelius in der Heroide Germania ad Fridericum, wo er den Adressaten durch Germanias Brief davor warnen lässt, „in die Falle“ zu gehen. Vgl. das betreffende Kapitel 3.1.2 dieser Arbeit. 433 Art. Tridentinum (TRE), S. 63. 434 Ebd., S. 64. 435 Art. Karl V. (TRE), S. 639. 436 Ebd.
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zichte ausdrücklich auf jede Forderung,437 nimmt er derartige Beteuerungen438 zu wörtlich und verkennt den rein rhetorischen Charakter derartiger Bescheidenheitstopik.439 Formal kleidet Germania zwar ihre Worte bezüglich des Konzils in Lob für einen Befehl, den ihr der Sohn erteilt habe, doch de facto formuliert sie damit ihren eigenen noch ausstehenden Wunsch. Auf diese Weise können Fürstenspiegel, obgleich in einer epideiktischen Gattung abgefasst, verschleierte beratende Rede sein oder zumindest Züge davon tragen.440 Was Stigelius in den zitierten Versen Germania vorlesen lässt, scheint nichts anderes zu beinhalten als den Aufruf zu einem derartigen „frei christlich Konzil in deutschen Landen“, welches Karl in Wirklichkeit den Protestanten energisch untersagt hatte. Das 1545 tatsächlich beginnende Konzil von Trient wurde erstmals bei einem Treffen zwischen Paul III. und Karl in Lucca im September 1541 in Erwägung gezogen,441 also erst nach dem Regensburger Reichstag und somit auch nach der Abfassung von Stigelius’ Heroide. Der Kaiser, so Germania, wird tun, was seines Amtes ist, nämlich den wahren Glauben wiederherstellen, die Nacht aus der Religion vertreiben und die verirrten frommen Seelen auf den rechten Pfad zurückführen. Den Papst oder andere hochrangige (römisch-katholische) Theologen, welchen bei der Wiederherstellung des wahren Glaubens die größte Autorität zukommen müsste, übergeht sie schweigend. Zudem soll Karl den Türken abwehren, der Germania nicht nur töten, sondern auch von Gott abspenstig machen will.442 In dieser Klage über die gegenwärtige Bedrohung kommen noch einmal die besonderen Leistungen der Heroidengattung zum Tragen. Germania inszeniert sich als schwache, schutzbedürftige Frau und bemüht mit commoveat […] moveat den emotionalen Aspekt dieser Dichtung. Eine weitere Binnenrede innerhalb des Briefes gibt numinosen Instanzen Raum, deren Wissen den rein menschlichen Horizont übersteigt.443 Germania zitiert die Prophezeiungen der (nicht namentlich spezifizierten) Sibylle und 437 Dörrie: Der heroische Brief, S. 458. 438 Nec tibi vel iustas scribam de more querelas,/ Heu mos iam pridem quam gravis iste mihi est./ Sed quamvis nunquam desit mihi causa querendi,/ Non trahet hic aures vulla querela tuas. Fol. C 2 v. Vgl. auch Quid tamen haec moneo? veniam da maxime Caesar,/ Qui monet vt facias, quod facis, ille probat. Fol. D 5 v. 439 Ebenso wenig möchte der Dichter der Liebeselegie seinen üblichen Topos der recusatio, d. h. der Ablehnung großer epischer Dichtung wegen angeblicher Unfähigkeit oder Unwürdigkeit, „für bare Münze genommen“ wissen. 440 Vgl. dazu ausführlich Mertens: Der Preis der Patronage, S. 144 ff. 441 Art. Tridentinum (TRE), S. 64. 442 Fol. D 5 r–v. 443 Fol. D 6 r.
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anderer alter Wahrsager, die im Gegensatz zu dem zuvor eingeführten Greis, dem Laudator der bereits vollbrachten kaiserlichen Taten, als Symbolgestalten für die Zukunft gelten können. Nach deren Weissagungen wird mit Karl einst der Bezwinger der Osmanen, der Verteidiger des wahren Glaubens und der einzige Herr über den Erdkreis geboren werden. Die Prophezeiung bietet zwar gegenüber dem vorherigen Kaiserlob gedanklich wenig Neues, evoziert aber nochmals explizit die Vorstellung von dem göttlichen Knaben aus Vergils vierter Ekloge, die eröffnet wird mit dem Hinweis auf das Cumaeum carmen, und von der Unterweltsschau in der Aeneis,444 wo ebenfalls die (cumäische) Sibylle den künftigen Friedenskaiser Augustus präsentiert. Strukturell orientiert sich Stigelius an der Ekloge, insofern als auch dort mit dem kurzen Auftritt der Parzen die Autorität schicksalskundiger bzw. schicksalsbestimmender Instanzen geltend gemacht wird,445 inhaltlich folgt er vor allem chiliastischen Strömungen seiner eigenen Zeit. Seit dem Spätmittelalter waren prophetische und pseudoprophetische Traktate im Umlauf, welche teils an die Utopien Joachims von Fiore anknüpften und die Autorität großer Namen für sich beanspruchten. Im Wesentlichen wurden die alten Hoffnungen auf die kurz bevorstehende Ankunft eines starken und gerechten Weltenherrschers wiederbelebt, welcher den Menschen eine fromme und friedliche Endzeit bereiten werde. Die Verfasser beriefen sich auf die Sibyllen von Cumae und Tibur, auf Methodius und die heilige Birgitta von Schweden. Besonders lebhaft rezipiert wurden die sogenannten Kaiserprophetien, am meisten diejenigen des Pfälzer Astrologen Johannes Lichtenberger (auch Claromontanus oder de claro Monte genannt, eigentlich Johannes Grümbach/Grunbach, gestorben 1503). Dieser war zeitweilig Hofastrologe Friedrichs III., verfasste Auftragshoroskope und Kometendeutungen und hatte seinen größten Erfolg mit der 1488 erstmals (auf Latein) publizierten, 1527 postum ins Deutsche übersetzten und mit einer Vorrede Luthers ausgestatteten Prognosticatio (in latino).446 Diese weitgehend auf Kompilation älterer Werke basierende und in zahlreichen lateinischen und deutschen Auflagen mit Holzschnitten erscheinende Schrift forderte die stets untereinander zerstrittenen Reichsfürsten zur Unterwerfung unter den Kaiser und somit unter die offiziell als gottgewollt geltende Weltordnung auf. Lichtenberger hatte seine ursprünglich in Friedrich III. gesetzten Hoffnungen auf Maximilian I. verlagern müssen; seine (späteren) Rezipienten übertrugen sie auf 444 Verg. Aen. 6, 791–807. 445 Verg. ecl. 4, 46–47. 446 Zech, S. 253 f.; Kühlmann: Der Poet und das Reich, S. 216 f.; Kühlmann: Der Kaiser und die Poeten, S. 131 f.; Kühlmann.: Humanistische Lyrik, S. 1251; Heike Talkenberger: Sintflut. Prophetie und Zeitgeschehen in Texten und Holzschnitten astrologischer Flugschriften 1488–1528. Tübingen 1990 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 26), S. 57 ff.
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Karl V. In jedem Falle war die Rede von einem deutschen Herrscher, welcher die Türken bezwingen, die innerkirchlichen Konflikte beilegen und ewigen Frieden gewährleisten werde. Somit wurde die Prophetie als Propagierung einer habsburgischen Weltherrschaft instrumentalisierbar.447 In der abschließenden Passage ihres Briefes beschwört Germania hoffnungsvoll eine Zukunft herauf, welche ihr gestatten wird, Karls Heldentaten mitzuerleben.448 Mit ihrem Versprechen, ihm Standbilder zu errichten und Inschriften zu verfassen, greift sie einen Topos aus der ovidischen Heroide auf und wendet ihn ins Positive. Bei Ovid enden mehrere Heldinnen mit der Ankündigung ihres Todes bzw. Selbstmordes und zwei sogar mit dem Wunsch nach einer bestimmten Grabinschrift, welche der Nachwelt für alle Zeit die Schuld des Geliebten dokumentieren soll.449 Germania hingegen glaubt an ihr künftiges Lebensglück und will selbst ein Monument errichten, das Karls Herrschaftsstil der Nachwelt empfiehlt: Ipsa tibi nato statuas Germania ponam, Inscribam titulis fortia facta tuis. Virtutum seriem veniens mirabitur aetas, Laus tua perpetuae nescia mortis erit.450 Ich selbst, Germania, werde Dir, meinem Sohn, Statuen errichten und die Heldentaten zu Deinen ehrenvollen Namen schreiben. Über die Reihe Deiner Tugenden wird das kommende Zeitalter staunen, Dein Ruhm wird von ewigem Tod nichts wissen.
Germania verspricht dem Kaiser mit fast göttlicher Gewissheit: Inter at Heroas post serae funera vitae, Qui ferat a superis praemia primus eris.451 Nach dem Ende eines langen Lebens wirst Du unter den himmlischen Helden der erste sein, der Lohn von den Göttern davonträgt.
Sie beendet ihren Brief mit erneuten Gratulationen zur glorreichen Rückkehr und der nachdrücklichen Aufforderung, einen festlichen Einzug zu halten.452 Mit dieser Heroide hat Stigelius ein literarisches Äquivalent zu den Werken der bildenden Kunst und der Triumphalarchitektur geschaffen, mit welchen der 447 Talkenberger, S. 68. 448 Fol. D 6 v. 449 Vgl. Dido in Ov. her. 7, 187–196 und Phyllis in Ov. her. 2, 145–148. 450 Fol. D 6 v. 451 Ebd. Vgl. Verg. ecl.4, 15–17: ille deum vitam accipiet divisque videbit/ permixtos heroas et ipse videbitur illis,/ pacatumque reget patriis virtutibus orbem. 452 Die wiederholte imperativische Aufforderung Ingredere (643, 645) alludiert Verg. ecl. 4, 48: adgredere o magnos (aderit iam tempus) honores.
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Kaiser bei seinen Einzügen verherrlicht wurde. Der reichspatriotische Positionen vertretende Melanchthonschüler feiert die kaiserlichen Tugenden in weitgehend mythologischer Einkleidung von geradezu „barocker“ Pracht. Dabei greift er wie andere Humanisten auch auf Modelle der augusteischen aetas aurea-Thematik zurück, insbesondere auf Vergils vierte Ekloge, deren göttlicher Knabe u. a. als Hoffnungsträger aus dem Umkreis des Augustus, später lange Zeit hindurch als Christus gedeutet wurde. Dass der Autor Karl bisweilen mit christusgleichen Zügen ausstattet, ihn sogar beinahe zum Gott stilisiert, entspricht durchaus den panegyrischen Gepflogenheiten der damaligen Zeit. Stigelius bedient sich einer multiperspektivischen Darstellung. Er legt sein Herrscherlob der personifizierten Germania in den Mund, welche wiederum in drei Binnenreden andere Sprecher zitiert, in besonderem Umfang den namenlosen ehrwürdigen Greis. Der Dichter jubelt, fleht und mahnt im Namen des Vaterlandes, zudem aber auch mit der Autorität eines wortgewaltigen menschlichen Redners und zweier Instanzen von überzeitlicher und übermenschlicher Bedeutung (Justitia und Sibylle/Seher). Wo Germania unmittelbar spricht, formuliert sie ihre Wünsche und Sorgen teils in deutlichem Anklang an die ovidische Heldin Penelope. Die überschwänglichen Bekundungen von Sehnsucht und Wiedersehensfreude sowie das antizipierende Lob auf noch ausstehende Taten ermöglichen Germania, in diskreter Weise Karls von den Reichsständen oft beklagte Abwesenheit und (zumindest unterstellte) Gleichgültigkeit zu thematisieren. Die Gattung der Heroide, wo ja schon per definitionem die Schreiberin unter wortreichen Liebesbekundungen auch Kritik an der Haltung des Adressaten übt, scheint auch hier diplomatische Vorteile mit sich zu bringen. In jedem Fall bietet „die fast monströse Länge von über 600 Versen“453 genügend Raum für alles, was die panegyrische Symbolsprache der damaligen Zeit leisten kann – für den heutigen Leser ein aufschlussreiches Dokument des frühneuzeitlichen Herrscherlobs. Germania ad Fridericum (1537) [Ad Illustrissimum Principem et Evangelicae Veritatis Christianißimum Defensorem, Dominum Ioannem Fridericum, Ducem Saxoniae, etc. Sacri Romani Imperij, Electorem, etc. Christianae Germaniae Epistola dissuadens Concilium Mantuanum, Scripta in Evangelicis comicijs Smalcaldiae habitis. Anno 37.] Außer der Heroide Germania ad Carolum verfasste Stigelius auch zwei andere Mahn- und Sendschreiben im Namen der Germania an Karls Gegner, den sächsischen Kurfürsten Johann Friedrich den Großmütigen und den Landgrafen Philipp von Hessen. Der Autor war dem sächsischen Herrscherhaus zeitlebens so eng ver453 Dörrie: Der heroische Brief, S. 457.
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bunden, dass er sogar einzig aus diesem Grunde Berufungen nach Dänemark und nach Heidelberg ablehnte.454 Seine besondere Verehrung galt Johann Friedrich, dem er immer wieder poetische Huldigungen zuteil werden ließ.455 Dieser Fürst, Neffe des für seine Protektion Luthers berühmten Friedrich des Weisen, hatte sich schon seit etwa 1520 um die Reformation verdient gemacht, indem er aktiv an der Umgestaltung der Kirchenpolitik mitwirkte, Bündnisse mit Hessen und anderen Ständen einging und 1530 auf dem Augsburger Reichstag die neue Konfession verteidigte.456 Gemeinsam mit dem Landgrafen Philipp von Hessen fungierte er als Oberhaupt des Schmalkaldischen Bundes, der 1530/1531 als reichsweite solidarische Vereinigung protestantisch, meist lutherisch gesinnter Fürsten und Städte gegründet worden war. Der kaiserlichen Obrigkeit durfte mit Luthers Duldung lediglich die Entscheidungskompetenz in Glaubens- und Gewissensfragen abgesprochen werden. Die Mitglieder wollten ihre eigene Glaubensfreiheit und ihr Kirchenregiment gegen drohende Exekutionen von kaiserlicher Seite schützen und versprachen einander Hilfe für den Fall, dass eines von ihnen um „Gottes Wort“ willen angegriffen werden sollte.457 Johann Friedrich vertrat jedoch, anders als Philipp, lange Zeit eine Politik der Mäßigung und des friedlichen Ausgleichs.458 Seine Position als Anführer im Schmalkaldischen Krieg gegen Karl V. brachte ihm 1547 bei Mühlberg eine verhängnisvolle Niederlage ein. Zunächst von der kaiserlichen Partei gefangen genommen und (womöglich nur zum Schein) zum Tode verurteilt, erlangte er erst fünf Jahre später seine Freiheit wieder unter Verzicht auf die Kurfürstenwürde und einen beträchtlichen Teil seiner Ländereien.459 Trotz des Drängens der kaiserlichen Räte, sich dem Trienter Konzil und allen künftigen Reichstagsbeschlüssen zu unterwerfen, hielt der militärisch bezwun-
454 Pflanz, S. 29. 455 Ebd., S. 30. 456 Thomas Klein: Art. Johann Friedrich (I.) der Großmütige. In: NDB. Bd. 10, S. 524–525;. Eike Wolgast: Johann Friedrich von Sachsen und das Konzil. In: Volker Leppin u. a. (Hrsg.): Johann Friedrich I. – der lutherische Kurfürst. Heidelberg 2006 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 204), S. 281–294; aus demselben Band Siegrid Westphal: Die Ausgestaltung des Kirchenwesens unter Johann Friedrich – ein landesherrliches Kirchenregiment?, S. 261–280 sowie Peer Schmidt: Zwischen Danielsprophetie, Romidee und „servitut“. Deutsche und spanische Antworten auf die universalmonarchische Legitimation Karls V., S. 31–54. 457 Gabriele Haug-Moritz / Georg Schmidt: Art. Schmalkaldischer Bund. In: TRE. Bd. 30, S. 221–228, hier S. 221 f. 458 Art. Johann Friedrich (I.) der Großmütige (NDB), S. 524. 459 Ebd., S. 525.
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gene Herrscher an seiner nur die biblische Autorität anerkennenden religiösen Überzeugung fest.460 Schmalkaldische Bundespolitik, die Niederlage im Schmalkaldischen Krieg, die anschließende Gefangenschaft und standhafte Glaubenstreue ließen Johann Friedrich für die protestantische Nachwelt sogar zum Märtyrer, zum Kämpfer für den wahren Glauben werden. Vor diesem Hintergrund wurde er auch zum Vorbild eines wahrhaft lutherischen Landesherrn stilisiert und seine Kirchenpolitik zum Prototyp des landesherrlichen Kirchenregiments erhoben.461
Von daher ist auch die Begeisterung des Wittenberger Dichters für seinen Landesherrn wenig überraschend. Stigelius bediente sich seiner poetischen Mittel sogar, um für die Freilassung des Fürsten zu werben, indem er eine Elegie als Bittschrift an einflussreiche Persönlichkeiten richtete, und feierte dessen Rückkehr in mehreren Eklogen. Sein letztes Gedicht als „Ausdruck tiefer Herzenstrauer und Liebe“462 verfasste er 1554 auf Johann Friedrichs Tod.463 Die vorliegende Heroide, so zeigt es schon der Titel an, ist während des Schmalkaldischen Bundestages im Jahr 1537 entstanden.464 Einer damaligen Sitte entsprechend hatte Stigelius den sächsischen Kanzler Franz Burckardt dorthin begleitet, um die tagespolitischen Ereignisse in poetischer Form festhalten zu können.465 Dörrie bewertet diese Heroide günstiger als Germania ad Carolum mit ihrem aufwendig inszenierten Kaiserlob. Wesentlich mehr Präzision weisen die Gedichte an deutsche – sämtlich protestantische – Fürsten auf, von denen zwei Germania, zwei Virtus niederschreibt und absendet. Auf der einen Seite ist die Anlehnung an Ovid viel stärker spürbar als in dem Panegyricus auf den Kaiser, auf der anderen Seite erweist sich der Dichter als wohl erfahren in den Windungen der kleinen Politik.466
460 Wolgast: Johann Friedrich von Sachsen und das Konzil, S. 292 f. 461 Westphal, S. 262. 462 Pflanz, S. 30. 463 Ebd. 464 Art. Schmalkaldischer Bund (TRE), S. 224 berichtet von mehr als 30 derartigen Versammlungen, davon sieben in Schmalkalden. 465 Goettling, S. 18. „In eo conventu, qui habitus est A. MDXXXVII mens. Febr., cum Francisco Burcardo interfuit etiam Stigelius, quem magnopere diligebat Franciscus. Secum duxit Stigelium, quod mos tunc erat poetas ad comitia, tanquam ad ludos Olympicos, accire. Postea hortatus est poetam ut res, quae Smalcaldiae gestae essent, carmine describeret. Quod ille strenue executus est, postquam alio carmine et eo quidem egregio, nomine Germaniae christianae, Mantuanum concilium Ioanni Friderico dissuaserat.“ 466 Dörrie: Der heroische Brief, S. 458.
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In der Tat wird bei diesem Schreiben, das mit knapp über 300 Versen etwa halb so lang ist wie dasjenige an Karl, bereits im Titel mit der Formulierung Germaniae Epistola dissuadens Concilium Mantuanum […] das konkrete Anliegen des Verfassers deutlich.467 Germania schreibt als Patria an den sächsischen Fürsten, den „tapfersten Schützer des großen Christus“. Auch hier ist an eine Mutter-Sohn-Beziehung zwischen Schreiberin und Adressat zu denken, wenn sie auch nicht wie in Germania ad Carolum explizit als solche benannt wird. Schon im ersten Distichon variiert Stigelius auf geschickte Weise eine Entschuldigungsfloskel aus den ovidischen Heroides, wenn er Germania den Vers vix bene Theutonica scripta latina manu est in den Mund legt.468 Die Schreiberin konstruiert in diesem vorgeblich um Nachsicht für mangelnde lateinische Sprachkenntnisse bittenden Bescheidenheitstopos einen Antagonismus zwischen „deutsch“ („teutonisch“) und „lateinisch-römisch“, welcher den gesamten Text bestimmen wird. Der Hinweis, dass der Brief mitten im trostlosen Winter ad gelidam Chalcida gelangt, ist der Tatsache geschuldet, dass dieser Bundestag im Februar 1537 stattfand,469 verdeutlicht aber auch die mit der Überwindung der räumlichen Distanz gegebenen Schwierigkeiten. Möglicherweise enthält auch die wegen ihrer vielen Erz- und Eisenbergwerke von Melanchthon geprägte Bezeichnung der Stadt Schmalkalden als Chalcis470 – im Titel erscheint als latinisierte Form ihres Namens Smalcaldia – eine Anspielung auf die besondere Funktion im Zusammenhang mit der Reichspolitik. Chalkis, die Hauptstadt der griechischen Insel Euböa, war seit der Antike zahlreichen Übergriffen fremder Mächte ausgesetzt und leistete mit wechselndem Erfolg Widerstand gegen Athen, Makedonien und Rom. Von den Venezianern zu einer Festung ausgebaut, fiel es 1470 als letzte
467 Als Textgrundlage dient Ad Illvstrissimvm Principem […] Ioannem Fridericum, Ducem Saxo niae, & sacri Romani Imperij […] Electorem Germaniae Epistola dissuadens Concilium Mantuanum [Elegie 1, 4].In: Poematvm Ioannis Stigelii Liber Tertivs, fol. D 7 r–E 5 r. 468 Vgl. Ov. her. 3, 1–2: Quam legis, a rapta Briseide littera venit/ vix bene barbarica Graeca notata manu. In diesem Falle schreibt die bereits von Agamemnon als „Ehrengeschenk beschlagnahmte“ Briseis an ihren Geliebten und „rechtmäßigen Besitzer“ Achill. 469 Jedin: Geschichte des Konzils von Trient. Bd. 1, S. 256–260. 470 Goettling, S. 18, Anm. 7. Vgl. Joachim Camerarius: Narratio de Helio Eobano Hesso Com prehendens mentionem de compluribus illius aetatis doctis & eruditis viris (1553).Das Leben des Dichters Helius Eobanus Hessus mit Erwähnung mehrerer seiner gelehrten und gebildeten Zeitgenossen. Lateinisch und deutsch. Mit einer Übersetzung von Georg Burkard. Hrsg. und erläutert von Georg Burkard und Wilhelm Kühlmann. Heidelberg 2003 (Bibliotheca Neolatina 10), S. 126: „[…] conventum aliquoties harum rerum caussa fuit in oppido, quod in sylvis Duringiacis situm, propter crebras illis in locis aeris ac ferri fodinas, & huius generis officinas, Chalcidem solebat nominare Philippus Melanchthon.“
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griechische Stadt den Türken zum Opfer.471 Die Protestanten in Schmalkalden mögen als zahlenmäßig unterlegene, aber zur tapferen Verteidigung ihres Glaubens entschlossene Schar Chalkis als Identifikationsmodell gewählt haben. Zunächst vergegenwärtigt Germania dem Adressaten ihre Schreibsituation.472 Schreibweise und Schriftbild spiegeln ihren desolaten Seelenzustand wider, die Tränen, welche hässliche Flecken auf dem Papier hinterlassen, sollen die Wirkung von Worten ersetzen.473 Von welchen Schicksalsschlägen Germania heimgesucht wird, ist Johann Friedrich bereits so gut bekannt, dass sie ungern ihre alten Klagen wiederholen möchte, die sie zu einer ganzen Ilias ausgestalten könnte. Deutlicher als in Germania ad Carolum richtet Stigelius den Fokus auf den allegorischen Leib Germanias, indem er diese beteuern lässt, wie ihre vom Fieber erhitzten Glieder zittern. Non secus ac tremuli torrentur febribus artus, Vror inextinctis sollicitorque malis.474 Nicht anders als zittrige Glieder vor Fieber glühen, brenne ich und quäle ich mich in unauslöschlichem Leid.
Dieses Distichon rekurriert auf die Bestürzung einer ovidischen Heldin über ihre neuen und ihr zunächst unerklärlichen Krankheitssymptome: At mihi, vae miserae! torrentur febribus artus et gravius iusto pallia pondus habent.475 Mir aber, weh mir Armen, werden von den Fieberanfällen die Glieder ausgedörrt und die Bettdecken haben ein schwereres Gewicht als recht ist.
Die topische Feuer- und Fiebermetaphorik für Liebesleid geht mindestens bis auf Sappho zurück, so auf das berühmte fr. 31 Lobel / Page mit dem Beginn Φαίνεταί μοι κῆνος ἴσος θέοισιν (Jener scheint mir den Göttern gleich zu sein) und begegnet durchweg auch bei römischen Autoren, darunter keineswegs nur bei den Elegikern.476 Ovid konnte ignis bereits als konventionelles, nicht mehr erklärungsbe471 Hansjörg Kalzyk: Art Chalkis. In: DNP. Bd. 2, Sp. 1090–1091. 472 Fol. D 7 r–v. 473 Auch dies rekurriert auf die Briseis-Heroide, vgl. Ov. her. 3, 3–4: quascumque adspicies, lacrimae fecere lituras;/ sed tamen et lacrimae pondera vocis habent. 474 Fol. D 7 v. 475 Ov. her. 21, 169–170 (Cydippe an Acontius). 476 OLD nennt keine Belege für febris als Liebessymptom, René Pichon: Index verborum amatoriorum. Hildesheim u. a. 1991 (2. Nachdruck der Ausgabe Paris 1902) enthält kein Lemma zu febris. Umso ergiebiger sind jedoch die Funde in OLD, s. v. ignis 9 (fig.) The fire of love und in Pichon, s. v. ignes („Sed frequentius igni ardenti inexstinctoque conparatur amor“). Von den zahlreichen Belegen für ignis als Liebe, nicht selten in Kombination mit einem Verb wie urere,
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dürftiges Synonym für Liebe nutzen.477 Diese Metaphorik vom krankheitsgeplagten Leib findet sich hier bei Stigelius in zeittypischer Weise ihres erotischen Kontexts entledigt und auf die Störung eines politischen Organismus angewandt. Die Heldin will schweigen – so verlangt es die nicht minder geläufige rhetorische Figur der praeteritio – von den äußeren Bedrohungen, von der Türkengefahr und den stets wortbrüchigen Franzosen.478 Schlimmer als all diese äußeren Bedrohungen ist die Krise der Religion.479 Germania formuliert ein klares Bekenntnis zu Luther und seiner Wiederherstellung des wahren Glaubens und der Befreiung von päpstlichen Ränken. Est aliquid gravius quod me magis vrit et vrget, Pro lacera cogor Relligione queri. Iam reparante sacrae fidei documenta Luthero Exuimus veteres vulgus inane Deos. Atque iterum nobis patefacta est ianua coeli, Obsita Pontificum quae fuit ante dolis.480 Es gibt noch etwas Schlimmeres, was mich mehr beunruhigt und quält: Ich sehe mich gezwungen, über die gewaltsame Spaltung des Glaubens zu klagen. Nun, wo Luther die Grundlagen des heiligen Glaubens wiederherstellt, schaffen wir die alten Götzen ab, die nichtige Schar. Nun steht uns die Pforte zum Himmel wieder offen, welche zuvor von den Tücken der Päpste listig bedeckt war.
Während sich Stigelius in Germania ad Carolum mit expliziter Kritik an der traditionellen kirchlichen Lehre auffallend zurückhält, bedient er sich in dieser Heroide, ähnlich wie in seinen Epigrammen, der bei den Lutheranern geläufiadurere oder ardere, seien hier nur einige genannt, die für eine besonders qualvolle Leidenschaft stehen: Cat. 35, 14–15; Cat. 45, 15–16; Verg. Aen. 1, 659–660; Hor. carm. 1, 13, 8; Prop. 3, 17, 9–10; Ov. met. 7, 9–13; Ov. fast. 3, 545; Ov. her. 4, 15–16 (Phaedra an Hippolytus); Ov. her. 4, 33; Ov. her. 8, 58 (Hermione an Orest); Ov. her. 12, Ov. her. 12, 33–34 (Medea an Jason); Ov. her. 15, 9–10 (Sappho an Phaon); Ov. trist. 4, 10, 67–68. Es ist wenig überraschend, dass in einem solchen Kontext – innerhalb und außerhalb der Heroidengattung – Gestalten wie Dido, Medea und Phaedra dominieren, allerdings wird die Metapher auch auf Personen angewandt, die als moralisch einwandfrei, wenn nicht sogar vorbildlich gelten. Vgl. auch Markus Schauer: Feuer der Liebe. Überlegungen zu einer Metapher im Spannungsfeld von Katachrese und Anachrese. In: Markus Schauer und Johannes Zenk (Hrsg.): Text, Kontext, Klartext. Festschrift für Niklas Holzberg zum 70. Geburtstag. Berlin / Boston 2018 (Göttinger Forum für Altertumswissenschaften. Beihefte 1866–7651, Neue Folge 9), S. 63–76. 477 Schauer, S. 68 f. Die allmähliche Erstarrung der Feuermetaphorik zum Klischee kommentiert Schauer, S. 69: „Statt accendimus ignem könnte Ovid, würde es metrisch möglich sein, auch sagen: concitamus amorem.“ 478 Fol. D 7 v. 479 Fol. D 7 v–D 8 v. 480 Fol. D 7 v–D 8 r.
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gen Topoi von der List und Heimtücke der Päpste. Mit derartigen Angriffen auf alles, was in irgendeiner Weise mit dem Papsttum zusammenhängt, ist der Autor bestrebt, der Reformation einen Dienst zu erweisen.481 Seine Germania beteuert, wie sie oftmals auf den Knien gebetet hat, Gott möge auch den anderen Ländern die Gnade der wahren Erkenntnis zuteil werden lassen – insofern präsentiert sie sich selbst in der Rolle eines auserwählten Volkes. Kaum ist Luther als Retter aufgetreten und scheint alles zum Guten gewendet zu haben, da droht auf einmal eine neue Katastrophe aufgrund der verhängnisvollen Intervention Satans: Der Widersacher verdreht Gottes Wort, verfälscht die Lehre auf listige Weise, verursacht Mord und Blutvergießen und reizt zur Zwietracht auf.482 Stigelius’ Germania beschwört mit der Nennung Satans apokalyptische Vorstellungen herauf, die gerade in der Frühen Neuzeit weit verbreitet waren.483 Insbesondere die Protestanten, Luther, Melanchthon und ihre Schüler, warnten vor dem nahen Weltende und dem leibhaftigen Auftreten Satans.484 Germania erinnert an die vom Satan verursachten, aber dank Gottes Beistand glücklich bewältigten Krisen der jüngeren Vergangenheit. Hätte die Erschütterung, die vor allem in Westfalen ausgebrochen war, unter günstigen Sternen gestanden, wäre sie, die Theutonis ora, längst schon Staub und Asche.485 Die verwerfliche Irrlehre der Unruhestifter kommentiert sie folgendermaßen: Crimina quae vitio pueris attracta parentum, Posse sacro tolli fonte fideque negat, Vidimus, atque vtinam satis hoc vidisse fuisset, Ceperit haec nuper quale furoris opus.486 Er leugnet, dass schwere Schuld, welche durch die Vergehen der Eltern auf die Kinder gekommen ist, durch den heiligen Quell und Glauben getilgt werden kann. Wir haben gesehen – o hätte es doch genügt, dies gesehen zu haben –, welches Werk des Wahnsinns sie [haec] vor kurzem ergriffen hat.
481 Pflanz, S. 91 ff. 482 Fol. D 8 r–v. 483 Während im 13. Jahrhundert Höllendarstellungen in der sakralen Kunst den Paradies- und Auferstehungsszenen noch deutlich untergeordnet waren, dominierte seit dem 14. Jahrhundert die Angst vor der Allgegenwart des Teufels sowohl in der offiziellen Theologie als auch in der Volksfrömmigkeit. Delumeau. Bd. 2, S. 358 ff. 484 Nicht ganz ohne Spott resümiert Jean Delumeau, S. 365: „Der Doktor Martin war jedesmal, wenn er auf ein Hindernis stieß, einen Gegner oder eine Institution bekämpfte, davon überzeugt, es mit dem Teufel zu tun zu haben.“ 485 Fol. D 8 r. 486 Ebd.
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Die Anschuldigungen beziehen sich also auf die Täuferbewegung, die in den 20er Jahren des 16. Jahrhunderts weite Teile der deutschsprachigen Reichsgebiete erfasst hatte. Die Täufer, lange Zeit als Wiedertäufer (Anabaptistae) bezeichnet, hatten als Kritiker des Ablasswesens anfangs große Hoffnungen auf die Reformation gesetzt, waren jedoch von der mangelnden Auswirkung auf die moralische und soziale Erneuerung der Gesellschaft enttäuscht. Ihr Ideal war ein als „Nachfolge“ der einstigen Apostel verstandenes Leben in Liebe, Selbstverleugnung und Gewaltlosigkeit, das zum Teilen von Gut und Geld mit bedürftigen Glaubensgenossen verpflichtete. Ihren Namen verdankten die Anhänger dieser (keineswegs einheitlichen) Bewegung ihrer Überzeugung, dass ausschließlich Erwachsenen die Taufe gespendet werden dürfe, da nur diese ihrer sündhaften Vergangenheit entsagen und sich bewusst zum Glauben an das Evangelium entschließen könnten.487 Stigelius’ Germania nimmt hier also an der theologischen Irrlehre Anstoß. Bedeutende Wortführer der Täufer wie Andreas Karlstadt und Thomas Münzer hatten Luther herausgefordert, indem sie die leibhaftige Präsenz Christi im Abendmahl leugneten und den Heiligen Geist über das reine Wort der Bibel stellten. Andere führten 1525 in Zürich ein Streitgespräch mit Ulrich Zwingli über die Kindertaufe, in welchem sie sich nach dem Urteil des Magistrats geschlagen geben mussten.488 Ein weiteres Motiv für die Feindschaft der Reformatoren gegenüber den Täufern war jedoch die – wenn auch meist gewaltfrei betriebene – Opposition der Letzteren gegen die als ungerecht empfundene Obrigkeit. Während einige Wortführer der Täufer das Schwert zur Ausübung weltlicher Gerichtsbarkeit generell als unerlaubten Eingriff in Gottes Allmacht verwarfen, betrachteten sich radikalere Mitglieder, insbesondere Thomas Münzer,489 der sich an die Spitze der 1524/1525 im ganzen Reichsgebiet ausgebrochenen Bauernaufstände setzte, als von Gott berufen, die altgläubigen Obrigkeiten mit Gewalt zur Annahme des Evangeliums zu zwingen.490 Ihr Ziel war es, die Herrschaft der apostolischen Gemeinde sowohl in kirchlicher als auch in weltlicher Hinsicht zu erstreiten und sie zur Endzeitkirche zusammenzuführen.491 Luther hingegen, der in seiner Zweireichelehre sorgfältig zwischen Politik und Theologie unterschied,492 sah im Aufruhr seiner innerprotestantischen Gegner das Wirken Satans, der das wiederentdeckte Evangelium niederzurin-
487 James M. Stayer: Art. Täufer. In: TRE. Bd. 32, S. 597–617, hier S. 597 ff. 488 Ebd., S. 598 f. 489 Heinz Schilling: Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs. Eine Biographie. 2., durchgesehene Auflage. München 2013, S. 302. 490 Ebd., S. 303. 491 Ebd., S. 305. 492 Ebd., S. 304.
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gen drohte und mahnte die fürstlichen Obrigkeiten und ihre Söldnerheere mit seinem Aufruf „Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern“ mit aller Gewalt Frieden und Ordnung im Reich wiederherzustellen. Als Vollstrecker des göttlichen Strafgerichts sollten sie keine Grausamkeit scheuen, sondern sich im Gegenteil damit die Seligkeit verdienen.493 Vorwürfen, dass sein Aufruf für das Blutvergießen an ca. 30 000 Bauern494 verantwortlich sei und dass er damit die Pflicht zur christbrüderlichen Liebe verletzt habe, begegnete Luther im Mai 1526 mit dem Hinweis, die Bauern hätten ohne Gewalt von Gott das Schwert genommen.495 Thomas Münzer wurde zusammen mit 53 anderen Täufern im Mai 1525 in Mühlhausen mit Zustimmung Luthers wegen Störung der kirchlichen Ordnung enthauptet.496 Melanchthon bestätigte 1531 in einem Gutachten Johann Friedrich, dem Adressaten des Germania-Briefes, dass die Todesstrafe für die Täufer angemessen sei.497 In einem Brief an Martin Bucer von 1534 schloss er sich auch Luthers Beurteilung der Täufer als teuflisch an,498 eine Einstellung, die der Melanchthon bedingungslos ergebene Stigelius geteilt haben wird. Seine Germania vergegenwärtigt die bizarren Auswüchse der Täuferherrschaft in Münster, deren Treiben glücklicherweise zunichte gemacht worden ist: Ausa est privatum sine iure extollere Regem, Qui tanti sceleris duxque caputque foret. Dij quantos scelerum fluctus, quae crimina movit, Nominibus pudor est ista referre suis. Sed bene consuluit Christus pietatis honori, Versa est in cineres cum Duce secta suo,499 Deutschland hat es gewagt, ohne Recht den Privatmann zum König zu erheben, der Anführer und Haupt eines solchen Verbrechens werden sollte. Götter! Welch eine Scham erfasst einen, mit eigenen Worten wiederzugeben, welche Fluten an Verbrechen, welche Frevel er begangen hat. Aber Christus hat gut gesorgt für die Ehre des Glaubens; zu Staub und Asche geworden ist die Sekte mit ihrem Führer.
Die Verse beziehen sich auf die über neun Monate währende „Königsherrschaft“ des Täuferpropheten Jan van Leyden alias Jan Bockelson in Münster. Der niederländische Schneider Jan Bockelson (1509–1536), eine der spektakulärsten
493 Ebd., S. 308 f. 494 Ebd., S. 316. 495 Ebd., S. 313. 496 Ebd. 497 MBW R. Bd. 2, Nr. 1119, S. 18. 498 Ebd., Nr. 1420, S. 129. 499 Fol. D 8 r–v.
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Erscheinungen in der Geschichte des 16. Jahrhunderts,500 war im Januar 1534 nach einer wechselvollen Laufbahn als Kaufmann, Gastwirt, Schauspieler und Dichter zu einer führenden Gestalt der Täuferbewegung unter Jan Matthys aufgestiegen. Sein Wirkungsort Münster, schon wenige Monate später ganz unter der Herrschaft der Täufer, sollte als „Neues Jerusalem“ dem unmittelbar bevorstehenden Weltuntergang entrinnen und als Schauplatz der Wiederkunft Christi dienen. Nach dem Tode Jan Matthys’ ließ sich der 25-jährige Jan van Leyden, wie er nun nach seiner Herkunftsstadt genannt wurde, im Sommer 1534, angeblich einer göttlichen Offenbarung folgend, als Nachfolger des Königs David zum König über den ganzen Erdkreis ausrufen. Fortan führte er eine Willkürherrschaft und lebte in Prunk und Luxus, während er seine Bürger zur Gütergemeinschaft verpflichtete und mit immer neuen drakonischen Gesetzen traktierte. Als Inhaber der Gerichtsbarkeit vollstreckte er bisweilen eigenhändig Todesurteile und brüskierte letztlich sogar seine treuesten Anhänger, indem er unter Berufung auf besondere Fälle aus dem Alten Testament Polygamie als verpflichtende Lebensform einführen wollte. Er selbst nannte 16 Frauen sein eigen. Mit der Rückeroberung Münsters durch die kaiserlichen Truppen im Juni 1535 fand das Königreich der Täufer ein jähes Ende: Jan van Leyden geriet in Gefangenschaft, wurde ein halbes Jahr lang als Attraktion für die Fürsten von Hof zu Hof weitergereicht und am 22. Januar 1536 in Münster zusammen mit zwei Gefährten grausam hingerichtet. Am Turm der dortigen Lamberti-Kirche hängen noch heute drei Käfige, in welchen die Leichname der drei Männer zur Schau gestellt wurden.501 Stigelius’ Germania begnügt sich hier mit knappen Anspielungen auf die damals weithin bekannten und diskutierten Ereignisse. Die kleineren häretischen Abspaltungen der Reformation sind also schon besiegt; in (nur kurzfristigem) Jubel verkündet die Schreiberin mit deutlichem Rekurs auf eine wohlbekannte ovidische Formulierung: Sed bene consuluit Christus pietatis honori, Versa est in cineres cum Duce secta suo,502 Aber Christus hat gut gesorgt für die Ehre des Glaubens; zu Staub und Asche geworden ist die Sekte mit ihrem Führer.
Als Folie dienen hier die dankbaren Worte der über den Sturz Trojas beglückten Penelope.
500 Robert Stupperich: Art. Bockelson, Johann. In: NDB. Bd. 2, S. 344–345, hier S. 344. 501 Art. Bockelson (NDB), S. 344–345; Carl Adolph Cornelius: Art. Bokelson. In: ADB. Bd. 3, S. 91–93. 502 Fol. D 8 v.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
Sed bene consuluit casto deus aequus amori. Versa est in cineres sospite Troia viro.503 Aber ein gerechter Gott sorgte gut für eine reine Liebe: Troia wurde in Asche verwandelt, mein Mann aber blieb unversehrt.504
Beide Heldinnen nehmen Bezug auf in mancher Hinsicht gegensätzliche Situationen. Penelope dankt einer nicht namentlich genannten Gottheit für die Begünstigung ihrer (immerhin explizit als „rein“ bezeichneten) ehelichen Liebe, Germania dankt Christus für die Rettung bzw. Wiederherstellung der wahren Frömmigkeit. Penelope feiert den Untergang einer feindlichen Macht bei gleichzeitiger Verschonung eines – nämlich ihres eigenen – Mannes, Germania begrüßt den Umstand, dass gemeinsam mit den Täufern der eine Mann – hier deren Anführer – ein schreckliches Ende genommen hat. Der Zerstörung des aus Penelopes Perspektive feindlichen Trojas entspricht die Niederschlagung einer unheilstiftenden Sekte. Die allbekannte Begebenheit aus dem griechischen Mythos – hier tradiert durch die römische (Liebes-)Dichtung – dient als Analogon zur poetischen Darstellung deutscher Verhältnisse der ersten Jahrzehnte des 16. Jahrhunderts. Germania sieht im Sieg über die Täuferbewegung eine Bestätigung einer (vor allem bei den Protestanten gepredigten) Maxime. Keine Obrigkeit, die nicht von Gott eingesetzt ist, kann Bestand haben. Noch aber herrscht keineswegs überall Ordnung; im Gegenteil: Germania beklagt mit bewegenden Worten einige noch verbleibende hässliche Spuren der Verwüstung (Inde tamen paßim vestigia pauca supersunt)505 und ihren verheerenden gesundheitlichen Zustand. Sie demonstriert ihren geschwächten Frauenleib mit entblößten Knochen und Gliedern, die untereinander Krieg führen: Quae licet admonitis excindere viribus ausim, Deficio, & prorsus languida membra traho. Haec quoque quae nudis etiam vix oßibus haerent Corporis in venis mutua bella gerunt. Dextera fert Christum, quam laeva oppugnat & audet Pro veris animo falsa probante sequi, Seque levans cervix suspirat ad ardua coeli, Ad stygias sudant inferiora domos. Totius exanimes confligunt corporis artus, Subque sua totum mole laborat onus. Hinc male negligitur veri reverentia verbi, Hoc animo solum non simulante queror.
503 Ov. her. 1, 23–24. 504 Übersetzung nach P. Ovidius Naso: Heroides. 505 Vgl. Verg. ecl. 4, 31: pauca tamen suberunt priscae vestigia fraudis.
3.1.2 Johannes Stigelius (1515–1562): Germania ad Carolum
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His tamen aegra malis, his turpibus obruta morbis, Sublevor haud aliqua fessa medentis ope.506 Wage ich es auch, sie mit angeregten Kräften zu zerreißen, so versage ich doch und schleppe erschlaffte Glieder nach. Auch diese, welche in den Adern des Leibes sogar an nackten Knochen kaum noch hängen, führen gegeneinander Krieg. Die Rechte erhebt Christus, die Linke bekämpft sie und erdreistet sich, statt des Wahren dem Falschen zu folgen, und ihr Wille heißt es gut. Der Nacken erhebt sich und schmachtet zum Himmelsgewölbe, der Unterleib schwitzt bei den Behausungen des Styx. Leblos streiten die Glieder des ganzen Leibes, und unter ihrem eigenen Gewicht leidet die ganze Last. Von dieser Seite missachtet man die Ehrfurcht vor dem wahren Wort auf unheilvolle Weise, nur darüber klage ich mit aufrichtigem Sinn. Dennoch kann ich, krank von diesen Leiden, von diesen hässlichen Krankheiten befallen, ermattet, kaum durch irgendeine ärztliche Hilfe Linderung finden.
Die Rede vom Reich als Leib mit Gliedern (meist mit dem Kaiser als Haupt) ist in der damaligen politischen Terminologie nichts Ungewöhnliches.507 Bermerkenswert ist aber in diesen Versen die Vierteilung bzw. doppelte Zweiteilung des Leibes in rechts (dextera), links (laeva), oben (cervix) und unten (inferiora). Die Unterscheidung zwischen der guten rechten Hand, die Christus trägt, und der schlechten linken, die ihn durch Verwechslung von Wahrem und Falschem bekämpft, rekurriert auf die biblische Zweiteilung der gesamten Menschheit vor Gottes Thron beim Weltgericht.508 Dort heißt es, der Menschensohn werde die „Schafe“ zu seiner Rechten versammeln, um sie in den Himmel aufzunehmen, die „Böcke“ aber zu seiner Linken, um sie auf ewig zu verstoßen. So teilen sich also auch Germanias „Glieder“ in Himmels-und Höllenanwärter. Die Schilderung einer zweiten Spaltung ihres Leibes in einen himmelwärts strebenden Nacken und einen im Styx schwitzenden Unterleib greift möglicherweise – vielleicht durch den Florentiner Neuplatonismus vermittelt – in simplifizierter Form das platonische Bild vom dreigeteilten menschlichen Leib auf.509 Zwar könnte die Erhebung des Nackens zum Himmel auch ein hochmütiges Streben (von seiten des Klerus?) zum Ausdruck bringen, doch erscheint es plausibler, entsprechend der vorherigen Konstellation rechts – links auch hier eine Dichotomie in fromm und gottlos anzunehmen. Die Formulierung vom Unterleib, der in „stygischen Behausungen“
506 Fol. D 8 v. 507 Stollberg-Rilinger: Das Heilige Römische Reich, S. 14 f. 508 Mt 25, 31–46. 509 In Tim. 69a–76e legt Platon in einem Mythos dar, wie die von Gott soeben geschaffenen Sterblichen den verschiedenen Kräften der menschlichen Seele verschiedene Körperteile als Wohnsitz zuweisen. Das Streben nach Einsicht, also der auf das Göttliche ausgerichtete Drang, wird demnach im Kopf angesiedelt, die Regungen des Willens in der Brust, rein kreatürliche Begierden im Bereich unterhalb der Brust.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
schwitzt, evoziert die platonische Vorstellung vom Leib als „Grab der Seele“510 und bezieht sich offenbar auf sexuelle Ausschweifungen, die entsprechend einer geläufigen polemischen Topik theologischen Gegnern unterstellt werden.511 Nach einer weiteren Klage über den Widerstreit der Glieder und die kaum heilbare Schwäche ihres Leibes kommt Germania auf ihren gefährlichsten Feind zu sprechen und offenbart den konkreten Anlass ihres Schreibens. Der Papst, der sich lügnerisch das Amt eines Claviger Olympi anmaßt, hat nun endlich eine Einladung zu einem von der ganzen Christenheit lange ersehnten Konzil geschickt.512 Germanias flehentliche Bitten waren stets mit „taubem Ohr“ zurückgewiesen worden, stattdessen hatte der Pontifex immer wieder einen Ort innerhalb seines Herrschaftsbereiches in Italien bestimmt. Nun aber hat er einen Argwohn erregenden Brief gesandt. Ähnlich wie in Germania ad Carolum arbeitet Stigelius hier mit der schon bei Ovid geläufigen doppelten Brieffiktion, also einem Brief im Brief. Auch dort erhält Germania die schriftliche Einladung zu einem lange ersehnten Konzil, allerdings kommt diese vom Kaiser und verspricht daher, ihre Hoffnungen aufs schönste zu erfüllen.513 Ganz andere Reaktionen provoziert jedoch in diesem Text das Schreiben aus Rom. Vorsicht und Misstrauen sind geboten. Schon innerhalb weniger Verse charakterisiert Germania den Papst und dessen Maßnahmen durchweg mit einem Vokabular der Heimtücke (mentiri, simulans, hic fucus, ansa nocendi, non vlla fides, insidiosa). Es folgt der Inhalt des Briefes, welchen Germania, anders als denjenigen aus Germania ad Carolum, wörtlich zitiert.514 Der Papst beklagt unter Tränen seine Unfähigkeit, der vom Schicksal bedrängten Germania Hilfe bringen zu können. Er schwört bei seiner Tiara, an Gebeten und frommen Opferhandlungen habe er es nicht fehlen lassen, doch hätten schreckliche Kriege bislang weitere Unternehmungen vereitelt. Doch um Germania aus väterlicher Liebe von ihrer schon lang währenden Sorge zu erlösen, lade er zu einem Konzil nach Mantua ein, wo die Einheit der Christenheit wiederhergestellt und das „Feld Christi“ von Unkraut, d h. von „Spreu und Trespen“ gereinigt werde. Germania solle in jedem Fall erscheinen: 510 Plat. Phaidr. 250 c. 511 Vgl. z. B. die Invektive gegen den von Luther abtrünnig gewordenen und zur römischen Kirche zurückgekehrten Crotus Rubeanus, die Schäfer: Mit den Waffen der Dichtkunst, S. 400 f. als Beispiel für Stigelius’ polemische Epigrammdichtung präsentiert: […] Quid non audet amor nummi, ventrisque voluptas?/ Non idem nunc est, qui fuit ante Crotus./ Degeneris molles adfectans otia luxus/ Et sitiens avida mente Baalis opes:/ Legibus a veri defecit apostata Christi,/ Mammona sic vero praetulit ille Deo. 512 Fol. D 8 v–E 1 r. 513 Vgl. Johannes Stigelius: [Germania ad Carolum]. Poematvm Johannis Stigelii Liber Tertivs, fol. D 5 r. vgl. auch das betreffende Kapitel dieser Arbeit. 514 Fol. E 1 r–v.
3.1.2 Johannes Stigelius (1515–1562): Germania ad Carolum
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Proxima venturi quare sub tempora Maij, Concilio noris me statuisse locum, Qua iacet vrbs celebris Thebanae nomine Mathus, Quam vagus irriguis Minthius ambit aquis, Non vrbs Italicis magis extat idonea terris, Aptior ad synodum non locus vllus erit.515 Daher sollst Du wissen, dass ich für den nächsten Mai einen Ort für ein Konzil bestimmt habe, wo die berühmte Stadt namens „thebanische Matho“ liegt, welche der munter fließende Mincio mit seinen benetzenden Fluten umspült. Keine geeignetere Stadt gibt es auf italienischem Boden, geeigneter für ein Konzil wird kein Ort sein.
Es handelt sich hierbei um das von Paul III. für den 23. Mai 1537 nach Mantua einberufene Konzil. In über 40 Versen vergegenwärtigt Germania ihre damalige Entrüstung über diesen Brief, dessen heimtückische Absicht sie sogleich durchschaut hat.516 Wenn sie von gefälligen Worten, falscher Anmut des Stils und Romanae artes spricht, durch welche Gift in Honig verpackt werde, erschließt sich auch, weshalb sie zu Beginn ihres Schreibens betont hat, ihre „teutonische Hand“ sei des Lateinischen kaum mächtig. Der Topos von der „deutschen Ehrlichkeit“ steht in Opposition zu der im pejorativen Sinne als „typisch römisch“ charakterisierten Mentalität der Kurienvertreter. Germania liefert einen eigenen Abriss der Papstgeschichte, die für sie lediglich aus einer Kette von päpstlichen Tücken besteht. Ihrer Überzeugung nach gibt es kein Buch und kein historisches Exempel, das nicht bezeugt, auf welch üble Weise die Päpste zu allen Zeiten den Königen und Kaisern begegnet sind. Sie macht sich also die schon auf das Spätmittelalter zurückgehende Kritik an der Kurie,517 vor allem aber die Sichtweise Luthers zu eigen, der rückblickend sein Leben als einen Kampf gegen das Papsttum deuten sollte.518 In seinen Abhandlungen von 1520 hatte Luther noch zwischen dem Papst und seiner Partei differenziert519 und war zunächst zu der Ansicht gelangt, dass der Papst lediglich ein irdisches Regiment (iure humano) führe und ebenso wie der Türke als Obrigkeit geduldet werden müsse. Selbst nach der Publikation seiner
515 Fol. E 1 v. 516 Fol. E 2 r–v. 517 Seit dem frühen 15. Jahrhundert formierte sich – insbesondere in Deutschland – Protest am Zentralismus, der Pfründenvergabe, den Abgaben, der Ämterkäuflichkeit und der Ablasspraxis. 518 Wolfgang Klausnitzer: Das Papstamt im Disput zwischen Lutheranern und Katholiken. Schwerpunkte von der Reformation bis zur Gegenwart. Innsbruck / Wien 1987 (Innsbrucker theologische Studien 20), S. 143. 519 Er hatte noch die (vage) Hoffnung, dass der Papst nur deshalb nicht gegen den Sittenverfall an der Kurie einschritt, weil er zu wenig darüber informiert war.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
Schrift De captivitate Babylonica ecclesiae praeludium versuchte Luther noch auf Leo X. einzuwirken, in welchem er ein Opfer römischer Hofintrigen sehen wollte.520 Spätestens Anfang 1521 nach dem Erhalt der Exkommunikationsbulle vollzog er dann den offenen Bruch mit dem Papsttum.521 1537 sah sich Luther endgültig in dem bestätigt, was er lange zuvor schon geahnt und verschiedene Male geäußert hatte: Es gebe kein von Christus gestiftetes Petrusamt. Der Papst habe durch Entstellung der Heiligen Schrift,522 durch ein ausgefeiltes Lügengespinst und durch die Hilfe des Teufels seine Machtposition erlangt. In Wirklichkeit sei er der Antichrist. So trägt Luthers letzte große Schrift den Titel Wider das Papsttum zu Rom, vom Teufel gestiftet.523 Indem Stigelius’ Germania das Papstamt generell als institutionalisierte Verkörperung von Heimtücke und Bosheit zeichnet, versucht sie, die weltlichen Herrscher von den geistlichen zu trennen und gegen diese auszuspielen. Sie polemisiert: Qui rex, qui Caesar, terrarum a pestibus illis Aspera non aliquo probra dolore tulit? Ah animi faciles, ah credula corda Monarchae, Quis putet his ludi vos decuisse dolis? Quae vos exercens duris Rhamnusia fatis, Tam vanas voluit pertimuisse minas, Quis Deus hic vestrae, tot contra immania monstra, Vindictae facilem noluit esse viam? Verum agite immunes nunc vivite, regia coeli Seu vos, Elysiae seu fovet aura plagae: Pontificum hoc proprium est, securo illudere mundo, Illorum faciunt ad scelus omne manus.524 Welcher König, welcher Kaiser trug nicht von diesen Plagen der Welt unter Schmerzen bittere Schmach davon? Ach, ihr Monarchen, lenkbare Seelen, leichtgläubige Herzen, wer möchte glauben, dass es euch wohlansteht, euch durch solche Tücken narren zu lassen? Welche Rachegöttin hat euch mit hartem Geschick geplagt und verlangt, dass ihr so nichtige Drohungen fürchtet? Welcher Gott hat euch hier den leichten Weg zu gerechter Vergeltung verwehrt und stattdessen so viele grausige Ungeheuer heraufbeschworen? Nun aber handelt und lebt unbesorgt, ob euch die Himmelsburg oder der Hauch der Elysischen Gefilde mit seiner Wärme erquickt. Das ist die Art der Päpste, mit der arglosen Welt ihren Spott zu treiben; zu jeglichem Verbrechen sind ihre Hände bereit.
520 Klausnitzer, S. 139. 521 Ebd., S. 140. 522 Mt 16, 18 f. 523 Klausnitzer, S. 144 f. 524 Fol. E 2 r.
3.1.2 Johannes Stigelius (1515–1562): Germania ad Carolum
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Wenn auch Kaiser und Könige nach Germanias Urteil jahrhundertelang alles Mögliche von den Päpsten erlitten haben, so sollen sie deren Drohungen dennoch als nichtig erachten, da sie sich in jedem Fall auf den Schutz Gottes verlassen können. Germania positioniert sich somit eindeutig im großen Antagonismus zwischen imperium und sacerdotium, der fast durchweg die Politik des europäischen Mittelalters dominierte und ihrer Ansicht nach weiterhin aktuell ist. Fast erscheint es, als sei hier die Idee von Augustinus’ geschichtsphilosophischer Abhandlung De civitate Dei umgekehrt, auf welche sich der mittelalterliche und frühneuzeitliche Klerus berief, um seine eigene überlegene Position als civitas Dei gegenüber dem mit der civitas terrena identifizierten Kaisertum zu behaupten. Als ein noch relativ aktuelles Beispiel für einen derartigen Verrat des Kirchenoberhauptes am weltlichen Herrscher ließe sich die 1526 gegründete Liga von Cognac anführen, eine antihabsburgische Allianz, in welcher sich Papst Clemens VII. mit dem gerade auf sein Ehrenwort hin aus der kaiserlichen Haft entlassenen Franz I., mit dem Herzog von Mailand, mit Florenz und Venedig gegen den Kaiser verbündet hatte.525 Zudem erhebt Germania gegen die Kurie sogar den Vorwurf der Giftmische526 rei. Sie hatte sich schon angesichts des päpstlichen Briefes über verderbliche rhetorische Lockmittel entrüstet, nun spricht sie von Mantua, das für seine giftigen Kräuter berüchtigt ist, und von dem Volk, das sich auf die Künste des tückischen Phasis versteht. Mantua, vom Reich getrennt durch die schneebedeckten Alpen, erscheint als ein ferner Ort der Barbarei, als locus horribilis, sogar als ein zweites Kolchis.527 Germania klagt die Kurie sowohl im übertragenen als auch im buchstäblichen Sinne des geplanten Giftmordes an. Die Metapher vom trügerisch in Honig verpackten Gift begegnet schon in der Antike,528 findet aber vor allem in der patristischen Literatur Anwendung und wird dort auf Heidentum, Häresien und theologische Gegenpositionen generell bezogen. Hieronymus bezeichnete gegnerische Streitschriften als venena und konzipierte seine Antworten als antidotum (Gegengift). Nach Meinung der Kirchenväter bedienten sich teuflische Verführer des Namens Christi, um Christen irreleiten zu können.529
525 Kohler: Karl V., S. 180. 526 Fol. E 6 v. 527 Mantua war in der Antike eine Stadt von eher geringer Bedeutung, wenn auch immerhin der Geburtsort Vergils: Lobend erwähnt wird die Stadt in Verg. ecl. 7, 11–13; Verg. ecl. 8, 27–28; Verg. Aen. 10, 198–208. Mantua scheint hier erstmals von Stigelius aus gegebenem Anlass zur Brutstätte für Giftmischerei stilisiert zu werden. 528 Z. B. Ov. am. 1, 8, 103–104. 529 Alphonse A. Barb: Art. Gift. In: RAC. Bd. 10, Sp. 1209–1247; hier Sp. 1233 ff.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
Als eine derartige Verführergestalt entlarvt Germania den Papst. Das für die ovidische (Heroiden-)Dichtung konstitutive Moment der erotischen Verlockung findet sich hier in einen politisch-theologischen Verführungsversuch transformiert. Auch hier erhält eine Frau eine raffiniert abgefasste Einladung zu einer schon lange ersehnten Zusammenkunft, wobei allerdings nicht die Vorfreude auf eine Liebesnacht, sondern auf die gemeinsame Verständigung über die wahre kirchliche Lehre dem Verführer als Köder dienen soll. Anders aber als manche ovidischen Heroinen lässt sich Germania nicht auf das in Aussicht gestellt „Abenteuer“ ein. Weit entfernt von mädchenhafter Gutgläubigkeit530 ist sie davon überzeugt, dass der Papst sie mit der Einladung zum Konzil in eine Falle locken, auf römischem Grund festnehmen und ihr den Prozess machen will: Quod lolio & paleis purganda sit area Christi Scimus quid captet, quid loliumque vocet, Scilicet accusans qui nos in ius trahit, eius Iudicio, caussa, praedominante cadam? Quae lex hoc dictat, quae plebis scita loquuntur? Sim lapis, ah si non hic meminisse queam.531 Dass das Feld Christi von „Trespen und Lolch“ zu reinigen sei – wir wissen, worauf er abzielt und was er Trespen nennt. Unter dem Urteilsspruch dessen, der mich als Kläger vor Gericht zerrt, soll ich wohl, da seine Partei den Vorrang hat, zu Fall kommen? Welches Gesetz schreibt das vor, welche Volksbeschlüsse tun das kund? Ach, ich möchte ein Stein sein, wenn ich mich daran nicht erinnern kann.
Stigelius macht seine Germania zum Sprachrohr der Klagen und Proteste, mit welchen die in Schmalkalden versammelten Protestanten auf die Ladung zum Konzil nach Mantua reagierten. Die seit 1523 erhobene Forderung der Landstände nach einem „frei christlich Konzil in deutschen Landen“ war von Papst und Kaiser abgewiesen worden.532 Kurfürst Johann Friedrich, der Adressat des Germania-Briefes, empfing 1533 die Vorankündigung eines Konzils mit einem acht Punkte umfassenden Programm, das u. a. die Unterwerfung unter Konzilsbeschlüsse und bis dahin die Einstellung aller reformatorischen Maßnahmen forderte.533 Gemeinsam mit den Schmalkaldischen Bundesständen verfasste er eine ablehnende Antwort, deren Argumentation in den folgenden Jahren im Wesent-
530 Gerade die Verletzung ihrer Gutgläubigkeit müssen beispielsweise Phyllis und Ariadne beklagen. Am meisten über ihre simplicitas definiert sich wohl Phyllis. Vgl. Ov. her. 2, 63–64: Fallere credentem non est operosa puellam/ gloria. Simplicitas digna favore fuit. 531 Fol. E 2 r. 532 Vgl. das. Kapitel dieser Arbeit 3.1.2 Johannes Stigelius: Germania ad Carolum. 533 Wolgast: Johann Friedrich von Sachsen und das Konzil, S. 282, bes. Anm. 4.
3.1.2 Johannes Stigelius (1515–1562): Germania ad Carolum
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lichen beibehalten wurde.534 Seit 1534 versah Paul III. (Alessandro Farnese), eine ambivalente Gestalt, das Papstamt. Er war in vieler Hinsicht ein typischer Vertreter der Renaissance, verdankte seine Karriere u. a. dem Konkubinat seiner Schwester mit Alexander VI., pflegte einen üppigen Lebensstil, förderte Kunst und Wissenschaft in großem Umfang und brachte sich als Papst durch seinen hemmungslosen Nepotismus in Misskredit.535 Im Gegensatz zu seinem Vorgänger Clemens VII. war er jedoch ein kluger Stratege und ein zum Handeln entschlossener Politiker, der erkannte, dass er das stark gefährdete Ansehen der Kurie langfristig nur retten konnte, indem er den seit etwa hundert Jahren immer wieder erhobenen und stets enttäuschten Forderungen nach einem Konzil nachkam.536 Als seine drei wichtigsten Ziele verfolgte er nach eigenen Worten die Versöhnung aller christlichen Könige untereinander, ein allgemeines Konzil und den Kampf gegen alle Feinde der Christenheit.537 1535 sandte er den Nuntius Pietro Paolo Vergerio ins Reich mit dem Auftrag, ein Konzil anzukündigen, das nach dem Wunsch der Teilnehmer entweder in Mantua, Turin, Piacenza oder Bologna stattfinden sollte.538 Auf dem Bundestag in Schmalkalden verfasste Melanchthon die Antwort, dass die Protestanten in Mantua, also auf päpstlichem Terrain, nicht sicher seien und ein Konzil nur unter der Bedingung besuchen könnten, dass der Papst auf seinen Vorsitz verzichte und lediglich als Vertreter einer Partei in Erscheinung trete.539 Während eines Aufenthaltes in Rom im April 1536 konnte Karl V. den Papst endlich zu einer Entscheidung veranlassen: In der Bulle Ad Dominici gregis curam lud dieser die bedeutenden geistlichen und weltlichen Herrscher der Christenheit auf den 23. Mai 1537 nach Mantua.540 Stigelius’ Heroide ist, wie bereits erwähnt, im Winter 1537 entstanden, gerade zu der Zeit der Schmalkaldener Bundesversammlung, als Johann Friedrich sich eingehend mit der Konzilsfrage befasste und den Rat seiner Theologen einholte. Sie gibt sich als ein poetisches Pendant zu den zahlreichen Gutachten, welche Luther, Melanchthon und andere namhafte Mitarbeiter zu dieser Angelegenheit erstellten. Johann Friedrichs Plan, ein Gegenkonzil, d. h. ein von Luther nach Augsburg zu berufendes Konzil, zu veranstalten, an welchem der Papst lediglich als ein Würdenträger unter vielen anderen teilnehmen sollte, hielten die Theologen, da es zu sehr mit dem Odium einer schismatischen Bestrebung behaftet sei,
534 Ebd., S. 282 f. 535 Klaus Ganzer: Art. Paul III. In: TRE. Bd. 26, S. 118–121. 536 Jedin: Geschichte des Konzils von Trient. Bd. 1, S. 232–233. 537 Art. Paul III. (TRE), S. 119. 538 Jedin: Geschichte des Konzils von Trient. Bd. 1, S. 234 f. 539 Ebd., S. 241. 540 Ebd., S. 250 ff.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
für eine zu große Provokation.541 Unter den Protestanten gab es Kontroversen, ob man den für das Jahr 1536/1537 ausgesendeten Nuntius des Papstes Peter van der Vorst überhaupt empfangen und somit die Legitimität einer päpstlichen Konzilsberufung anerkennen sollte. Melanchthon wog in einem eigenen Gutachten die Argumente für und gegen eine Rekusation des Konzils ab, stellte die Entscheidung jedoch nach eigenen Worten Gottes gnädigem Ratschluss anheim.542 Van der Vorst hatte von der ab dem 8. Februar 1537 anberaumten Versammlung in Schmalkalden erfahren und fand, bevor er dort erschien, am 25. Februar Zutritt zu Johann Friedrich persönlich. Was er dort erlebte, bezeichnet Hubert Jedin als „die größte Demütigung, der jemals ein Vertreter des Papstes in Deutschland ausgesetzt wurde.“543 Der Kurfürst verließ während der Audienz zusammen mit seinen Räten den Raum, ohne die Bulle und die beigefügten Briefe an sich zu nehmen. Die Teilnehmer des Bundestags ließen den Nuntius tagelang vergeblich auf eine Antwort warten und überreichten ihm dann lediglich eine Kopie der Antwort, die man dem kaiserlichen Vizekanzler als dem einzig anerkannten Verhandlungspartner erteilt hatte.544 Später verbreiteten die Schmalkaldener eine überarbeitete Fassung ihrer Rekusation in lateinischer und deutscher Sprache.545 Diese enthielt im Wesentlichen folgende Punkte: Der Papst, obwohl eigentlich nur zum Auftritt als Partei berechtigt, maße sich den richterlichen Vorsitz an und wolle, unterstützt von seinen Anhängern, unter dem Deckmantel der Frömmigkeit sein eigenes auf Irrlehren und Lastern basierendes Kirchenregiment etablieren. Ein gerechtes Verfahren sei nicht zu erwarten; im Gegenteil, der Papst kündige schon im Voraus die Ausrottung jüngst entstandener Häresien an, und aus dem Vergleich mit einer anderen Bulle, wo er seine Gegner namentlich nenne, sei unschwer zu schließen, dass er sich auf die bereits beschlossene Verurteilung und Unterdrückung der lutherischen Lehre beziehe. Nicht umsonst lade er sie nach Mantua, einen Ort, an welchem sie durch seine Anhänger leicht
541 Ebd., S. 258; Wolgast: Johann Friedrich von Sachsen und das Konzil, S. 286 ff. Die Wittenberger urteilten: „Vom Gegen =Concilio ist unser Bedenken, daß in allwege damit nicht zu eilen. Denn ein Gegen =Concilium machen hat einen großen schrecklichen Schein ein Schisma anzurichten, und daß man sich wider die ganze Welt setzen wolle, nicht weniger als so man bald wollte zu Feld ziehen. […] Derhalben kann man vom Gegen =Concilio noch nicht reden.“ [Theo logi Vitebergenses de Concilio Mantuae habendo]. 20.-30. August 1536. In: Corpus Reformatorum. Hrsg. von Karl Gottlieb Bretschneider. Bd. 3. Halle 1836, Nr. 1548, Sp. 126–131, hier Sp. 127–128. 542 [Melanthon de Concilio]. CR. Bd. 3, Nr. 1543, Sp. 131–134. Melanchthons Argumente werden an dieser Stelle noch nicht aufgezählt, da sie alle in die offiziellen Antwortschreiben der Schmalkaldener eingehen werden. 543 Jedin: Geschichte des Konzils von Trient. Bd. 1, S. 256. 544 Ebd., S. 256 f.; Wolgast: Johann Friedrich von Sachsen und das Konzil, S. 289. 545 Wolgast: Johann Friedrich von Sachsen und das Konzil, S. 289.
3.1.2 Johannes Stigelius (1515–1562): Germania ad Carolum
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überstimmt würden. Niemand bürge dort für ihre Sicherheit. Kurz, die ganze Unternehmung habe nichts mit dem seit lange geforderten freien deutschen Konzil gemein, sondern sei ein hinterhältiger Plan des Papstes, um die Gegner auf sein eigenes Territorium und damit ins Verderben zu locken. Daher sollten die Potentaten Europas die wohlerwogenen Gründe für die Rekusation billigen und sich für das Zustandekommen eines wahren, am Worte Gottes ausgerichteten Konzils einsetzen.546 Stigelius wählt für die temporale Verortung seiner Heroide also einen Zeitpunkt, zu welchem der päpstliche Nuntius bereits eingetroffen sein musste und die Entscheidung für oder gegen die Teilnahme am Konzil in Schmalkalden lebhaft erörtert wurde. Wie bereits erwähnt, durchschaut Germania sogleich, dass sie an einen gefährlichen Ort gelockt werden und dort die Rolle der (bereits vorverurteilten) Angeklagten einnehmen soll: Quod lolio & paleis purganda sit area Christi Scimus quid captet, quid loliumque vocet,547 Dass das Feld Christi von „Trespen und Lolch“ zu reinigen sei – wir wissen, worauf er abzielt und was er Trespen nennt.
In diesen beiden Versen, zitiert aus dem päpstlichen Brief, beschwört sie das bekannte biblische Bild von der Trennung von Spreu (palea) und Weizen herauf,548 bezieht sich aber mit lolium andererseits auf eine Pflanze, der bei den antiken Schriftstellern fast durchweg ein übler Ruf anhaftet. So charakterisiert Vergil brachliegende Äcker und verwahrloste Landstriche wiederholt mit dem negativen Begriffspaar infelix lolium und steriles avenae, worin ihm Ovid folgt.549 Bisweilen gilt Lolch sogar als Symptom einer Pflanzenkrankheit,550 und sein Genuss ist für seine schädliche Wirkung auf die Augen berüchtigt.551 Das Kraut, das die Sehschärfe verdirbt, dient bei Stigelius als Metapher für eine religiöse Irrlehre. Der Gegner ist nicht namentlich identifiziert, und dennoch ist Germa546 [De recusatione Concilii.]. CR. Bd. 3, Nr. 1543, Sp. 313–325. 547 Fol. E 2 v. 548 Mt 3, 12. 549 Verg. ecl. 5, 37: infelix lolium et steriles nascuntur avenae; Verg. georg. 1, 154: infelix lolium et steriles dominantur avenae; Ov. fast. 1, 691–692: et careant loliis oculos vitiantibus agri,/ nec sterilis culto surgat avena solo; Hor. sat. 2, 6, 88–89 nennt lolium als eine selbst für Mäuse minderwertige Speise. 550 Plin. nat. 18, 153: nam lolium et tribulos et carduos lappasque non magis quam rubos inter frugum morbos potius quam inter ipsius terrae pestes numeraverim.Teilweise revidiert wird das offenbar auf Vergil zurückgehende Vernichtungsurteil in Plin. nat. 22, 160, wonach Lolch auch zur Linderung von Gicht und anderen Schmerzen dienen kann. 551 Ov. fast. 1, 691: loliis oculos vitiantibus.
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nia „hellsichtig“ genug, um diese Rede des Papstes von „Spreu und Trespen“ auf ihre eigene Glaubensüberzeugung zu beziehen. Damit verfährt sie ähnlich wie Melanchthon und seine theologischen Mitstreiter, welche die bewusst unklar gehaltene Formulierung von einer gewissen zu bekämpfenden „Häresie“ in der päpstlichen Bulle zu deuten wissen. Diese Formulierung führen sie nämlich als einen der Gründe an, weshalb ihnen die Ladung zum Konzil suspekt erscheint: Nam in ipsa statim indictione nos damnat, in qua non promittit cognitionem aut disputationem doctrinae, sed tantum ait, indici synodum, propter nuper exortas haereses, item ad extirpationem haeresium. […] Adhaec, ne cui dubium sit, in illa ipsa bulla indictionis intelligi nostram doctrinam, Papa deinceps in bulla reformandae Curiae expresse nominat doctrinam, ubi eandem sententiam recitat de causis indicti concilii. Ait enim: ad extirpationem pestiferae Lutheranae haereseos.552 Aber er verurteilt uns schon bei der Ankündigung selbst, in welcher er keine Untersuchung oder Erörterung der Lehre verspricht, sondern nur sagt, die Synode werde einberufen wegen kürzlich entstandener Häresien, ebenso zur Ausrottung der Häresien. […] Zudem, damit niemand im Unklaren darüber bleibt, dass in der Ankündigungsbulle selbst unsere Lehre gemeint ist, nennt der Papst in der Bulle über die Erneuerung der Kurie, wo er dieselbe Meinung zu den Gründen, ein Konzil anzukündigen, kundtut, zunächst ausdrücklich die Lehre. Er sagt nämlich: zur Ausrottung der verderbenbringenden lutherischen Häresie.553
Desweiteren führt Germania aus, dass sie sich nicht freiwillig zum Papst und somit wissentlich zu ihrer eigenen Verhaftung begeben kann, und illustriert diesen Gedanken durch drei vorangestellte Gleichnisse, in welchen die Betroffenen (Vogel im Netz, Schiffbrüchiger, Schwertkämpfer) durch Schaden klug geworden sind. Daraus folgert sie: Scilicet accusans qui nos in ius trahit, eius Iudicio, caussa, praedominante cadam? Quae lex hoc dictat, quae plebis scita loquuntur? Sim lapis, ah si non hic meminisse queam.554 Unter dem Urteilsspruch dessen, der mich als Kläger vor Gericht zerrt, soll ich wohl, da seine Partei den Vorrang hat, zu Fall kommen? Welches Gesetz schreibt das vor, welche Volksbeschlüsse tun das kund? Ach, ich möchte ein Stein sein, wenn ich mich daran nicht erinnern kann.
Mit ähnlichen Formulierungen weisen die Theologen in ihrem Rekusationsschreiben darauf hin, welch ein Wahnsinn es wäre, in eine offensichtliche Falle zu gehen.
552 [De recusatione Concilii]. CR. Bd. 3. Nr. 1543, Sp. 320. 553 Übersetzung T. B. 554 Fol. E 2 v.
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Est ergo sententia Papae non dubia, se indicere Synodum, ut ibi deliberetur, quomodo Lutherana doctrina extirpetur, cum sit, ut ipse eam vocat, haeresis. Quare amentia esset, in talem indictionem consentire. Fateremus enim, nostram doctrinam esse haeresin; polliceremur operam ad extirpandam eam. Hoc enim vult illa forma indictionis insidiosissime posita.555 Daher ist die Absicht des Papstes unzweifelhaft, dass er eine Synode einberuft, damit man dort beratschlagt, auf welche Weise die lutherische Lehre ausgerottet werden kann, da sie, wie er selbst sie nennt, eine Häresie sei. Daher wäre es wahnsinnig, in eine solche Ankündigung einzuwilligen. Wir würden nämlich bekennen, dass unsere Lehre eine Häresie sei, wir würden unseren Beitrag zu ihrer Ausrottung versprechen. Das ist nämlich die ganz hinterhältig in die Form einer Ankündigung gekleidete Absicht.
Mit ihrer Beteuerung Sim lapis leitet Germania elegant zu einer anderen Instanz über, der sie für einige Verse das Wort überlassen wird,556 nämlich zu dem berüchtigten Pasquino oder Pasquillo/Pasquillus, der wohl prominentesten der sechs sogenannten „sprechenden“ Statuen (statue parlanti) Roms. Pikanterweise handelt es sich bei dieser Figur, die für meist kirchenkritische anonyme Schmähdichtung namensgebend werden sollte, ursprünglich um den stolzen Besitz eines hohen geistlichen Würdenträgers. Als der kunstsinnige Kardinal Oliviero Carafa (1430–1511) 1501 den Platz vor seinem Palast (heute Palazzo Braschi, nahe der Piazza Navona), neu pflastern ließ, kam bei den Grabungen der schwer beschädigte Torso der römischen Kopie einer hellenistischen Skulpturengruppe zum Vorschein. Die arm- und beinlose Gestalt mit zertrümmerter Nase, gemeinsam geborgen mit dem bloßen Rumpfstück einer zweiten Figur, gab Anlass zu kontroversen Identifikationen, u. a. zu solchen mit Menelaos oder Ajax, der den toten Patroklos im Arm hält. Seinen Namen erhielt der Torso einer von vielen Spekulationen zufolge nach einem für seine scharfe Zunge berüchtigten Schulmeister oder Schneider Pasquino, der durch seine Schmähungen der römischen Kurie von sich reden gemacht haben sollte. Carafa initiierte alljährlich am 25. April, ursprünglich dem Festtag des Evangelisten Markus, eine Feier für Pasquino, der nach einem bestimmten Motto als Gott oder Held der griechischen Mythologie (Mars, Apollo, Orpheus) verkleidet wurde, und an dessen Sockel Gelehrte und Studenten Proben ihrer Dichtkunst befestigen durften. Dieser Brauch verselbständigte sich in einem Sinne, welchen der Kardinal wohl kaum hatte vorhersehen können. Wahrscheinlich schon seit dem ersten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts diente die Statue das ganze Jahr über zunehmend als Anschlagsbrett für romkritische Verse und erlangte eine Art Kultstatus bei den Humanisten, gerade auch bei den Italienreisenden aus anderen Ländern. Möglicherweise hingen dort 1516 Ulrich von Huttens Epigramme Pro Pasquillo Romae und Pasquillus. Immer wieder wurden 555 [De recusatione Concilii]. CR. Bd. 3. Nr. 1543, Sp. 320. 556 Fol. E 2 v–E 3 r.
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als besonders gelungen erachtete Erzeugnisse auch in gedruckten Sammlungen publiziert. Einen vorläufigen Höhepunkt dürften während des Konklaves von 1521 die giftigen Angriffe Pietro Aretinos auf den letztlich erfolgreichen (nichtitalienischen) Papstkandidaten Adrian von Utrecht (bis 1523 Papst Hadrian VI.) dargestellt haben. Aus naheliegenden Gründen empfahl sich Pasquino gerade im Rahmen der Reformation als Sprachrohr konfessioneller Polemik. Dabei scheinen sich zwei unterschiedliche Verfahren des künstlerisch überformten Protestschreibens herausgebildet zu haben: Zum einen erfüllte die Statue durch die Jahrhunderte, besonders in Zeiten politischer Repression, bis heute ihren traditionellen Zweck als Klagesäule, zum anderen löste sich die Idee eines Helden Pasquino allmählich von der materiellen Substanz und räumlichen Verankerung der steinernen Figur, und dieser agierte fortan auch als klagende oder zürnende literarische Gestalt, die meist in nach ihr betitelten Flugblättern oder Flugschriften religionspolitische Missstände anprangerte. Unter den Humanisten, gerade auch unter den italienreisenden Deutschen, etablierte sich die Mode, ihn als Flüchtling aus Rom auftreten und in Schriften mit Titeln wie Pasquillus exul oder Pasquillus peregrinus seine bitteren Beschwerden vortragen zu lassen. Beliebt war auch die Konstruktion von Dialogen zwischen ihm und einer anderen „sprechenden“ Figur, z. B. Marforio/Marforius, einem liegenden marmornen Flussgott, welcher innerhalb der Stadt seinen Standort mehrmals wechselte und sich heute, meist für eine Tiber-Allegorie gehalten, auf dem Kapitol befindet. Der Name des Pasquino oder Pasquillus verselbständigte sich schließlich zum literaturwissenschaftlichen Terminus „Pasquill“, der ein Genus von (insbesondere kirchenkritischen) Schmäh- und Spottschriften bezeichnet, welche im Gegensatz zur Satire ehrverletzende anonyme Angriffe auf eine namentlich genannte Person oder Personengruppe enthalten und daher zu allen Zeiten strafrechtlich verfolgt wurden.557 Stigelius aktualisiert also ein damals beliebtes Medium polemischer antikurialer Poesie, wenn er seiner Germania den zum treuen Freund erklärten Pasquino an die Seite stellt. Dieser richtet eine eindringliche Warnung an die Heldin,558 eine Warnung allerdings, die im Grunde nur deren Klage über die päpstliche Heimtücke wiederholt und somit bekräftigt. Germania soll in ihrer simplicitas dem Papst nicht „ins Netz gehen“, der schon lange „mit gierigem Rachen nach
557 Günter Hess: Art. Pasquill: In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 3. Berlin / New York 2003, S. 31–34; Kühlmann: Humanistische Lyrik, S. 1053 f.; Thomas Wolf: Art. Pasquill. In: HWRh. Bd. 6, Sp. 682–686. 558 Fol. E 2 v–E 3 r.
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ihrem Blut dürstet“.559 Mit der Figur des Pasquino lässt Stigelius das personifizierte Deutschland einen römischen Sprecher zitieren, welcher die gefährlichen Machenschaften der Kurie aus nächster Nähe kennt und aufgrund seiner Wahrheitsliebe fliehen muss. Indem Germania sich auf jemanden beziehen kann, der gewissermaßen „Augenzeuge“ ist, versucht sie ihren eigenen Worten Objektivität und Glaubwürdigkeit zu verleihen. In der letzten größeren Passage wendet sich die Schreiberin mit einem direkten Appell an den Adressaten Johann Friedrich,560 dessen Position als Schützer der Kirche durch die Anrede clarissime Princeps, Dux Evangelici portus & aura gregis deutlich zum Ausdruck gebracht wird. Sie erinnert an den kürzlich eingetroffenen päpstlichen Gesandten, dessen römische Schmeichelworte (longus sermo, italico more locutus, blanditum os) in deutschen Ohren lediglich Misstrauen erwecken.561 Es folgt eine kurze Partie, in welcher Germania als kundige Beraterin ihre Argumente für und gegen den Besuch des Konzils abwägt und ihre Zweifel vorträgt. Eine Zusage brächte sie in unzählige Gefahren: Quid faciam? Suadere velim, veniamus ut illuc, Impediunt dubiam mille pericla viam.562 Was soll ich tun? Wenn ich raten möchte, dass wir dorthin kommen, machen tausend Gefahren den Weg unsicher und verhindern ihn.
So verwiesen auch die Schmalkaldener Theologen in der Einleitung ihrer Rekusation auf die Gefahren, die sich für sie aus der Annahme der Einladung ergäben.563 Andererseits gibt Germania zu bedenken, dass die Verweigerung der Teilnahme am Konzil bei den Gegnern den Anschein eines schlechten Gewissens und der Feigheit erwecken werde:
559 Pflanz, S. 91 ff. nennt weitere Beispiele für Stigelius’ antikuriale Polemik. So fordert der Dichter in einer Invektive den Kaiser auf, die Herrschaft des „Baal“ zu beseitigen, der ohne eigentliche Befugnisse und mit blutdürstigem Maul dessen Gebiete regiere. Ad Carolum V. Impera torem Invictum. In: Johannis Stigelii Poematum Liber II. continens sacra. Jena 1566, S. 421–422, hier S. 421: […] Est opus incesti tollas scelera impia Papae,/ Imperium ecce Baal dißipat iste tuum./ Ille tuum infesto pridem sitit ore cruorem,/ Quid patiente tuum ius bonitate regis?/ Nulla tibi in Geticum reliqua est fortuna tyrannum,/ Dum poteris Papae facta nephanda pati. 560 Fol. E 3 r–E 5 r. 561 Fol. E 3 r. Es handelt sich dabei um den bereits erwähnten Peter von der Vorst, Bischof von Aqui, einer Stadt im Herzogtum Piemont. 562 Fol. E 3 r. 563 „Itaque cum ad nos venisset nuncius Pontificius, […]existimavimus, et nostra causa et propter totius Ecclesiae necessitatem plane exponendum esse, quae pericula allatura esset haec Synodus indicta a Romano Pontifice, Paulo tertio.“ [De recusatione Concilii]. CR. Bd. 3. Nr. 1543, Sp. 314–325, hier Sp. 314.
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Dissuadere velim, refugos, lucemque fugientes, Tota papistarum nos mala turba vocat.564 Wenn ich abraten möchte, nennt uns die ganze üble Schar der Papisten lichtscheues Gesindel.
Melanchthon äußerte in seinem Gutachten eine ähnliche Besorgnis: Nu ist die Frage: wie kann man dazu kommen, so wir doch allzeit an das Concilium appellirt, und würde nur diese recusatio einen Schein haben, als scheueten wir das Licht.565
Germania bleibt jedoch bei ihrer ablehnenden Haltung gegenüber dem Konzil und bekräftigt diese mit dem Hinweis, dass kein vernünftiger Mensch sich wissentlich den Gefahren des Ätnas oder des Meerungeheuers Skylla aussetzen würde.566 Nun erteilt sie, wie bereits im Titel Ad Illvstrissimvm […] Germaniae Epistola dis suadens Concilium Mantuanum […] angekündigt, dem Kurfürsten ihren Rat: Italiam videant, quibus est ea cura videndi, Tu mecum poteris tutius esse domi. Quin quod erit melius, mansueti Caesaris aures Fac moveant humiles in tua vota preces, Tam gravis vt nobis ad tanta negotia caussae Constituat terra commodiore locum, Quem seu finitimis, seu nostris destinet oris, Sponte sequar, Latios dummodo non per agros.567 Italien mag sehen, wem daran gelegen ist, es zu sehen; Du kannst Dich mit mir zu Hause einer größeren Sicherheit erfreuen. Ja, was sogar noch besser sein wird: Gib, dass meine demütigen Bitten die Ohren des milden Kaisers für Deine Wünsche gnädig stimmen, dass er uns für die großen Verhandlungen einer so bedeutenden Sache einen Ort in einem uns genehmeren Land bestimmt. Mag er uns diesen in einem benachbarten oder in unserem Land anweisen, bereitwillig werde ich folgen, wenn es nur nicht in Latium ist.
Johann Friedrich soll das Konzil also meiden und zu seiner eigenen Sicherheit zu Hause bleiben. Statt über die Alpen zu reisen, soll er an Karl V., der ihm gnädig Gehör schenken wird, appellieren, ein Konzil in Deutschland oder in einem der Nachbarländer einzuberufen. Insofern korrespondiert diese Heroide, wie bereits erwähnt, mit Germania ad Carolum von 1541. Zu der Diskussion über den für das Konzil geeigneten Ort kommt die Sorge um das gerechte Verfahren und die wahre Lehre:
564 Fol. E 3 r. 565 [Melanthon de Concilio] CR. Bd. 3. Nr. 1459, Sp. 131–134, hier Sp. 132. 566 Fol. E 3 r–v. 567 Fol. E 3 v.
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Sint modo doctrinae verae & pietatis amantes, Sint omni vacui suspicione viri, Sit non corruptus iudex, sit libera fandi Copia, quo res haec libera poßit agi, Quodlibet haud renuens tecum discrimen adibo Dum servem, Christo quod decet esse decus.568 Sofern es nur Männer sind, welche die wahre Religion und Frömmigkeit lieben und frei sind von jeglichem Verdacht, sofern der Richter unbescholten ist, sofern es die Möglichkeit zu freier Rede gibt, so dass man die Sache frei verhandeln kann, werde ich ohne Widerstreben gemeinsam mit Dir jegliche Gefahr auf mich nehmen, indem ich die Ehre bewahre, die Christus nach Recht und Sitte zukommt.
Auch hier decken sich Germanias Wünsche mit den Forderungen Melanchthons und seiner Theologen in der Rekusation. Diese schreiben: quare maxime optamus, talem coetum, in quo et nobis liberum sit res nostras explicare, et bonis mentibus liberum sit pronunciare iuxta verbum Dei. […] Iure igitur suspecta est nobis haec synodus, quia Papa in indictione non ostendit, se iudicium permissurum esse non partialibus, imo vocat suos diserte, ut intelligamus, quales processus velit instituere. Ipse cum sit pars, volet esse iudex.569 Daher wünschen wir vor allem eine solche Versammlung, bei welcher es auch uns freisteht, unseren Standpunkt zu erläutern, und bei welcher es guten Seelen freisteht, gemäß dem Wort Gottes zu sprechen. […] Daher ist uns diese Synode zu recht verdächtig, weil der Papst in seiner Ankündigung nicht zu erkennen gibt, dass er das Urteil unparteiischen Instanzen überlassen will, im Gegenteil sogar klar und deutlich die Seinen benennt, damit wir erkennen, welches Verfahren er anwenden möchte. Obwohl er selbst nur Vertreter einer Partei ist, wird er Richter sein wollen.
Germania verspricht ihrem Adressaten voll Zuversicht die gnädige Unterstützung Karls, der all ihren gemeinsamen Bitten Gehör schenken werde: Caesar vt ingenuae sibi mansuetudine mentis, Non habet in toto, quem regit, orbe parem. Non feret audito tam iustae pondere caussae, Fiat vt in nostras vlla repulsa preces. Non premit innocuos, non provehit ille nocentes, Iusticia numen temperat ille suum. Si nos audierit profitentes dogmata Christi, Illius intrepidi stabimus ante thronum.570
568 Ebd. 569 [De recusatione Concilii]. CR. Bd. 3. Nr. 1543, Sp. 317–320. 570 Fol. E 3 v–E 4 r.
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Da der Kaiser auf dem ganzen Erdkreis, den er regiert, niemanden hat, der ihm an Sanftmut und edler Gesinnung gleichkommt, wird er, sobald er die Bedeutung unserer so gerechten Sache vernommen hat, nicht dulden, dass man unsere Bitten zurückweist. Er drückt keine Unschuldigen, er fördert keine Schuldigen, durch Gerechtigkeit begrenzt er seine eigene Macht. Wenn er hört, dass wir uns zu den Dogmen Christi bekennen, dann stehen wir unverzagt vor seinem Thron.
Stigelius lässt seine Germania Verheißungen aussprechen, die zumindest im Rückblick utopisch erscheinen müssen, da Karl u .a. als (letztlich erfolgloser) Gegenspieler der Reformation in die Geschichte eingegangen ist und bereits seit Antritt seiner Herrschaft 1519 mehrmals seinen religiösen Standpunkt bekanntgegeben hatte. Auf dem Wormser Reichstag 1521 hatte der Kaiser die Reichsacht über Luther verhängt und in einer feierlichen Ansprache mit Berufung auf seine königlichen Vorfahren verkündet, dass er die katholische, d. h. die traditionelle päpstliche Lehre gegen ihre Feinde notfalls sogar unter Einsatz von Leib und Leben schützen werde. Er bereue, nicht entschlossen genug gegen Luther und dessen Lehre vorgegangen zu sein.571 Nach dem Wormser Reichstag allerdings hatte Karl das Reich verlassen und war neun Jahre lang von außenpolitischen Problemen, insbesondere von Konflikten mit Franz I., derart in Anspruch genommen, dass er die Verfolgung der Reformation weit weniger energisch als angedroht betrieb.572 Immerhin nutzte er die unterlegene Position des Papstes Clemens VII., der 1527 im Verlauf des Sacco di Roma gefangen genommen worden war, um diesem die Zusage zur Abhaltung eines Konzils und zur Ausrottung des Luthertums abzuringen.573 Aus politischen Gründen zeigte er sich zu Beginn des Augsburger Reichstages von 1530 so versöhnlich, dass die Protestanten neue Hoffnung auf eine Wiederherstellung der Kirche in ihrem Sinne schöpften.574 Es zeichnete sich die Möglichkeit zu einer Verständigung insofern ab, als man in mehreren Fragen bis auf vier Einigkeit erzielen konnte.575 Dann allerdings autorisierte Karl auf Wunsch der Katholiken deren gegen die protestantische Confessio Augustana gerichtete Confutatio und stellte sich somit endgültig gegen die Protestanten.576 Das einzige, was er im Grunde mit den Lutheranern gemeinsam hatte, waren seine beständigen Bemühungen um ein Konzil, von dem er sich allerdings, anders als diese, eine reichsweite Wiederherstellung der römischen Lehre versprach. Obgleich er 571 Seibt: Karl V., S. 68 ff. 572 Art. Karl V (TRE)., S. 638 f. 573 Kohler: Karl V., S. 190. 574 Ebd., S. 212 f. 575 Ebd., S. 216. 576 Ebd., S. 215.
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immer wieder in Konflikte mit verschiedenen Päpsten verwickelt oder zumindest von ihnen enttäuscht wurde, hielt er die Institution des Papsttums und dessen Autorität in theologischen Fragen prinzipiell für unantastbar. Ferdinand Seibt, welcher die Gegensätzlichkeit der beiden Gestalten Karl und Luther bei ihrer Konfrontation in Worms herausstellt, resümiert, dass „im Wortsinn Konservativismus, das Bewahren von Recht und Ordnung aus der Tradition“, dem Kaiser jegliche Annäherung an den rebellischen Augustinermönch unmöglich gemacht habe.577 Daher ist es bemerkenswert, welch eine scharfe Trennung von Papst und Kaiser Stigelius seine Germania hier vornehmen lässt. Der Kaiser erscheint in jeder Hinsicht zum positiven Gegenspieler des Pontifex stilisiert, als wäre er ein Anhänger der „wahren“ lutherischen Lehre. Mit der Schilderung des Papstes als hinterhältiges Scheusal, das nach den Worten Pasquinos sogar „mit gierigem Maul nach Blut dürstet“ (cupido sitit ore cruorem), kontrastiert die Zuschreibung von mansuetus bzw. mansuetudo an den Kaiser.578 Ähnlich wie in dem an ihn gerichteten Lob aus Germania ad Carolum weiß Karl aufgrund seiner besonderen Tugend, der Justitia, mit Unschuldigen wie Schuldigen angemessen umzugehen.579 Der Kaiser bekommt beinahe Züge des göttlichen Weltenrichters verliehen, wenn es heißt, dass die Gläubigen – wenn auch unerschrocken – vor seinem Thron stehen. Germania fordert nun Johann Friedrich auf, seine bisherigen Tätigkeiten zum Wohle der Kirche fortzusetzen, und weist ihn auf die vorbildliche Rolle seines Onkels und seines Vaters hin. Johann Friedrichs Onkel, Friedrich der Weise, hat einst die Richtigkeit von Luthers Schriften erkannt und sich weder durch gelehrte Argumente noch durch päpstliche Tücken oder unbeständige Gunst eines Herrschers von seinen reformatorischen Maßnahmen abbringen lassen.580 Johann Friedrichs Vater, Johann der Beständige, erscheint als „größter Schützer Christi“, der um des Wort Gottes willen weder Nachteile noch Gefahren scheut und als einziger der Fürsten auf dem Reichstag von Augsburg 1530 vor Karl die Confessio Augustana verteidigt hat.581 Germania beendet ihren Brief, indem sie, ebenso wie in Germania ad Carolum dem Kaiser, hier Johann Friedrich die Errichtung einer Statue und unvergänglichen Ruhm bei der Nachwelt verspricht.582 Auch hier richtet sich der Fokus – allerdings nur kurz – auf einen mit beinahe gleichem Wortlaut charakterisierten 577 Seibt: Karl V., S. 66. 578 Fol. E 3 v. 579 Fol. E 4 r. 580 Fol. E 4 r. 581 Fol. E 4 r–v. 582 Fol. E 4 v–E 5 r.
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ehrwürdigen namenlosen Greis, welcher die vorübergehende Jugend von den Verdiensten des Herrschers um die Kirche unterrichten und sie zum Dank an diesen veranlassen wird. Entsprechend der in der Heroidendichtung geläufigen Schlussformel, ihre Hand sei ermattet, verabschiedet sich die Schreiberin vom Adressaten. Mit dieser Heroide unternimmt Stigelius den Versuch, die theologischen Anliegen der Protestanten um Luther und Melanchthon mit poetischen Mitteln zu unterstützen. Germania, also das personifizierte Vaterland, erscheint hier nahezu identisch mit der protestantischen Partei. Den bevorzugten antiken Prätext liefert wie in dem Schreiben an den Kaiser auch hier wieder Ovids Penelope-Heroide.583 Die Tatsache, dass Stigelius sowohl an Karl V. als auch an Johann Friedrich und Philipp von Hessen jeweils eine Germania-Epistel mit ähnlichen Huldigungstopoi richtet, irritiert aus heutiger Sicht vor allem deshalb, weil es verführerisch ist, die historischen Gegebenheiten ex eventu vom Schmalkaldischen Krieg aus zu beurteilen, in welchem sich die genannten Herrscher als Anführer der gegnerischen Parteien gegenüber standen. 1537 jedoch versuchten die Protestanten noch, die gelegentlichen (machtpolitischen, nicht theologischen!) Zerwürfnisse des Kaisers mit dem Papst zu einem religiösen Kampf zwischen dem Verteidiger des wahren Glaubens und dem Antichrist zu stilisieren. Diese Epistel ist explizit an den sächsischen Kurfürsten gerichtet, implizit aber ebenso an den über mehrere Verse in der dritten Person erwähnten Kaiser (und darüber hinaus selbstverständlich an ein größeres gelehrtes Publikum). Sie suggeriert, die beiden in Wirklichkeit vollkommen unterschiedlichen Herrscher befänden sich einträchtig im Kampf gegen Rom zur Verteidigung der protestantischen (deutschen) Lehre, und illustriert somit auf eindrucksvolle Weise die Versuche der Lutheraner, durch den Hinweis auf die gemeinsame Zugehörigkeit zum Heiligen Römischen Reich religiöse Solidarität zu erzeugen. Germania ad Philippum (1534) [Ad Illvstrem et Inclytvm Heroa Philippvm Hessorum Principem, & c. Germaniae, ob victoriam Virtembergensem Epistola gratulatoria.] Unter den deutschen Herrschern, welche ihre Bestrebungen auf die landesweite Durchsetzung der Reformation, auf die Stärkung des deutschen Adels gegenüber den habsburgischen Machtansprüchen sowie auf den Aufbau eines staatlichen Kirchen-, Bildungs- und Sozialwesens richteten, dominiert als zweite große Ge-
583 Ov. her. 1, 1.
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stalt neben dem Kurfürsten Johann Friedrich von Sachsen Landgraf Philipp der Großmütige von Hessen (1504–1567), das andere Oberhaupt des Schmalkaldischen Bundes.584 In mancher Hinsicht erscheint der impulsive, temperamentvolle Philipp, der sich mehr als einmal zu verwegenen Unternehmungen hinreißen ließ, als Gegenpol zu dem nur ein Jahr älteren, als mäßig und besonnen geltenden, aber auch zur Trägheit neigenden Johann Friedrich,585 auch wenn beide den ehrenden Beinamen „der Großmütige“ (magnanimus) trugen. Schon in jungen Jahren machte der in stetiger Bedrohung durch hessische Rivalen aufgewachsene Landgraf mit ersten militärischen Erfolgen auf sich aufmerksam. Als der für seine Streitlust berüchtigte Reichsritter Franz von Sickingen den niederen Adel um sich sammelte und unter idealistisch verbrämten Vorwänden – angeblich zur Verteidigung der Reformation und des unterdrückten Ritterstandes gegen Landesherren und „Pfaffen“ – mit Scharen von marodierenden Landsknechten in fremde Territorien einfiel, zuletzt 1522 in das Erzbistum Trier, trug Philipp maßgeblich zum Sieg über ihn bei. Seine erste Begegnung mit Luther hatte der bevorzugt mit imposantem Hofstaat auftretende junge Herrscher 1521 beim Reichstag zu Worms, wo er, entgegen manchen Gerüchten damals noch ein treuer Anhänger der römischen Kirche, den Reformator lediglich zu delikaten Angelegenheiten ehelicher Sexualmoral befragte.586 Sein Übertritt zur Reformation wird gewöhnlich auf ein zufälliges Zusammentreffen mit Melanchthon anlässlich des Nürnberger Reichstages von 1524 zurückgeführt, bei welchem er den Wittenberger Professor durch seinen groben Humor eher eingeschüchtert als bezaubert haben soll.587 Als ein 584 Wie viele der heutigen Errungenschaften der evangelischen Kirche in Hessen auf seine Initiative zurückgehen, demonstriert auf eindrucksvolle Weise der Sammelband Norbert Stieniczka (Hrsg.): „Mit dem Glauben Staat machen“. Beiträge zum Evangelischen Philipps-Jahr 2004. Darmstadt / Kassel 2005 (Quellen und Studien zur Reformationsgeschichte 12). Zu Philipp vgl. auch Gerhard Müller: Art. Philipp von Hessen, Landgraf (1504V1567). In: TRE. Bd. 26, S. 492–497; Walter Heinemeyer: Philipp der Großmütige und die Reformation in Hessen. Gesammelte Aufsätze zur hessischen Reformationsgeschichte. Als Festgabe zum 85. Geburtstag hrsg. von HansPeter Lachmann u. a. Marburg 1997 (Quellen und Darstellungen zur Geschichte des Landgrafen Philipp des Großmütigen 7); Jan Martin Lies: Zwischen Krieg und Frieden. Die politischen Beziehungen Landgraf Philipps des Großmütigen von Hessen zum Haus Habsburg 1534–1541. Göttingen 2013 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz 231). 585 Heinemeyer: Landgraf Philipp der Großmütige von Hessen – politischer Führer der Reformation. In: Walter Heinemeyer (Hrsg.): Philipp der Großmütige, S. 175–184, hier S. 177. Alle im Folgenden angeführten Aufsätze von Heinemeyer entstammen dem erwähnten Sammelband. 586 Eckhart G. Franz: Landgraf Philipp der Großmütige: Wer? Wann? Was? In: Norbert Stieniczka (Hrsg.): „Mit dem Glauben Staat machen, S. 1–5, hier S. 1 f.; Jan Martin Lies: Vier Reformatoren und ein Landgraf. Die Beziehungen Philipps des Großmütigen zu Luther, Melanchthon, Zwingli und Bucer. In: Norbert Stieniczka (Hrsg.): „Mit dem Glauben Staat machen“, S. 93–113, hier S. 96. 587 Lies: Vier Reformatoren und ein Landgraf, S. 98 ff.
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Jahr später die meisten Landesherren der Konfrontation mit den rebellierenden Bauern wenig entgegenzusetzen hatten, gelang es Philipp aufgrund seines schnellen, entschlossenen und harten Eingreifens, die Aufstände in verschiedenen Städten binnen eines Monats niederzuschlagen. Mancherorts genügte sein bloßes Erscheinen. Unter den Besiegten befand sich der sowohl in theologischer als auch in sozialer Hinsicht radikale Prediger und Bauernführer Thomas Münzer, dessen Name bis heute noch mit den Erhebungen untrennbar verbunden ist.588 Papst Clemens VII. feierte die Leistungen des Landgrafen sogar als einen Sieg über die Lutheraner,589 – ein Missverständnis, das selbst Philipps altgläubiger Schwiegervater und Kampfgefährte Herzog Georg von Sachsen insofern teilte, als er die Reformation für den Ausbruch der Unruhen verantwortlich machte.590 Philipp hingegen sah zumindest für die Unruhen im Süden und Südwesten des Reiches eine Teilschuld bei den (ihm schon damals missliebigen) Habsburgern, da diese die Untertanen zu hart behandelt hätten und die lutherische Lehre zu unterdrücken suchten. Dies hinderte ihn allerdings nicht daran, die Rebellion an sich mit Hilfe theologischer Argumente aufs schärfste zu verurteilen, zumal diejenige beim thüringischen Frankenhausen, also in gefährlicher Nähe zu seinem eigenen Territorium.591 Philipp verteidigte die lutherische Lehre nicht nur gegen den oftmals erhobenen Vorwurf, Anlass zu Ungehorsam und Empörung zu bieten,592 sondern führte sie 1526 nach dem Reichstag von Speyer sogar als verbindliches Bekenntnis in Hessen ein.593 Er säkularisierte Klöster, Stifte und Pfarreien, gründete die Universität Marburg, die erste evangelische Universität,594 gewährte begabten, aber mittellosen Schülern Stipendien595 und richtete vier
588 Günter Hollenberg: Landgraf Philipp und der Bauernkrieg. In: Norbert Stieniczka (Hrsg.): „Mit dem Glauben Staat machen“, S. 77–91, hier S. 78 ff. 589 Franz, S. 2. 590 Lies: Vier Reformatoren und ein Landgraf, S. 102; Hollenberg: Landgraf Philipp und der Bauernkrieg, S. 85. 591 Lies: Zwischen Krieg und Frieden, S. 53 ff. 592 Lies: Vier Reformatoren und ein Landgraf, S. 102. 593 Heinemeyer: Landgraf Philipp von Hessen – politischer Führer der Reformation, S. 176. 594 Dazu ausführlich Heinemeyer: Die Bildungspolitik Landgraf Philipps des Großmütigen In: Walter Heinemeyer (Hrsg.): Philipp der Großmütige S. 47–72; Norbert Stieniczka: Die Bildungsreform Philipps des Großmütigen. In: Norbert Stieniczka (Hrsg.): „Mit dem Glauben Staat machen“, S. 133–148, hier S. 133 ff. 595 Heinemeyer: Pro studiosis pauperibus. Die Anfänge des reformatorischen Stipendiatenwesens in Hessen. In: Walter Heinemeyer (Hrsg.): Philipp der Großmütige., S. 116–137; Stieniczka, S. 137 ff.
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Hospitäler ein, die in einer für die damalige Zeit vorbildlichen Weise den Bedürfnissen Armer und Geisteskranker entgegenkamen.596 Eine ungewöhnliche Toleranz zeigt sich in Philipps Ablehnung, einen Menschen um seines Glaubens willen zum Tode zu verurteilen. Bekehrungsunwillige Täufer wurden ausgewiesen; Juden durften entgegen damals weithin geübter restriktiver Rechtsprechung im Land bleiben.597 Um die Täufer, die an der Kindertaufe Anstoß nahmen, für die lutherische Lehre zurückzugewinnen, führte man in Hessen einen zweiten Ritus ein, nämlich die Konfirmation mit vorausgehendem Konfirmandenunterricht.598 Philipp war in vielfacher Hinsicht, wenn auch keineswegs nur aus selbstlosen Motiven, die treibende Kraft bei der Versöhnung verschiedener protestantischer Gruppierungen untereinander und organisierte zu diesem Zweck 1529 in Marburg ein Religionsgespräch, welches allerdings unbefriedigend verlief. Luther, der sich durch die großen bündnispolitischen Erwartungen und die ständige Präsenz des Veranstalters unter Druck gesetzt fühlte, gelangte letztlich in der Abendmahlsfrage zu keiner Einigung mit Zwingli.599 Kurz zuvor noch wäre der hessische Regent beinahe einem großen Täuschungsmanöver aufgesessen, welches unter dem Namen „Pack’ sche Händel“ negative Bekanntheit erlangen sollte. 1528 nämlich hatte Otto von Pack, der Vizekanzler des Herzogs Georg von Sachsen, dem Landgrafen gegenüber mit einem gefälschten Dokument seine Behauptungen bekräftigt, dass angeblich verschiedene katholische Reichsfürsten, darunter auch sein eigener Herr, an der Spitze aber Erzherzog Ferdinand, der Bruder Karls V., bei einem Treffen in Breslau ein geheimes Angriffsbündnis gegen die Anhänger der Reformation geschlossen hätten. Philipp reagierte mit großer Heftigkeit darauf und, ohne den Wahrheitsgehalt ernsthaft zu überprüfen, hatte er schon bald zu einem Präventivkrieg gerüstet. Nur die unablässige Intervention vor allem des seinerseits von Luther und Melanchthon inständig gewarnten sächsischen Kurfürsten konnte ihn vom Beginn eines Blutvergießens abhalten.600 Bei der Verschwörungsgeschichte handelte es sich um eine verleumderische Erfindung des auch in anderweitigen Betrugsmanövern erfahrenen Kanzlers;601 dagegen lässt
596 Heinemeyer: Armen- und Krankenfürsorge in der hessischen Reformation. In: Walter Heinemeyer (Hrsg.): Philipp der Großmütige, S. 154–174. 597 Heinemeyer: Das Zeitalter der Reformation. In: Walter Heinemeyer (Hrsg.): Philipp der Großmütige, S. 185–226, hier S. 210 ff. 598 Ebd., S. 212; Art. Philipp von Hessen, S. 494. 599 Lies: Zwischen Krieg und Frieden, S. 89 ff. 600 Ebd., S. 69 ff.; Lies: Vier Reformatoren und ein Landgraf, S. 103 f; Art. Philipp von Hessen, S. 493 f. 601 Packs Motive (Förderung der Reformation, Aufbesserung seiner Finanzen?) bleiben im Dunkeln.
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sich nicht mit letzter Sicherheit klären, inwieweit Philipp tatsächlich der Täuschung zum Opfer fiel, ob er derartige Fehlinformationen im Kontext seiner zunehmend antihabsburgischen Politik mit besonders unkritischem Wohlwollen aufnahm oder ob er gar mit Pack konspirierte.602 In jedem Fall trug die Angelegenheit dazu bei, das Misstrauen unter den religiös gespaltenen Reichsständen wie auch zwischen Reichsfürsten und Kaiser zu vergrößern.603 Gemeinsam mit Johann Friedrich von Sachsen übernahm Philipp den Vorsitz des 1531 gegründeten Schmalkaldischen Bundes. 1534 führte er aber gegen dessen Zustimmung einen schon lange geplanten, eigenmächtigen Feldzug zur Wiedereinsetzung des aus seinem Lande vertriebenen Herzogs Ulrichs von Württemberg und erlangte dabei den größten Erfolg seiner militärischen Laufbahn. Leichtsinnigerweise verspielte er sechs Jahre später sein Ansehen (und bis zu einem gewissen Grad auch das des Schmalkaldischen Bundes) durch einen Skandal in seinem Eheleben. Von den Wittenberger Reformatoren erzwang er trotz deren Widerstrebens eine theologisch begründete Genehmigung, zusätzlich zu seiner langjährigen Ehefrau ein attraktives Hoffräulein zu heiraten.604 Da er somit als Bigamist nach einem Gesetz der Constitutio Carolina von der Todesstrafe bedroht war, musste er den Kaiser um Begnadigung bitten und im Gegenzug einige Zugeständnisse zu Lasten des Schmalkaldischen Bundes machen.605 1546 bemerkte Philipp als erster die Rüstungen des Kaisers zum Krieg gegen die Protestanten und veranlasste den noch unschlüssigen Kurfürsten Johann Friedrich zu entsprechenden Gegenmaßnahmen. Der Schmalkaldische Krieg nahm seinen Anfang. Im April 1547 wurden die beiden Anführer der protestantischen Partei in der Schlacht bei Mühlberg besiegt und gerieten in fünfjährige Gefangenschaft. Im Gegensatz zu Johann Friedrich, der um seiner religiösen Überzeugung willen zahlreiche Nachteile in Kauf nahm, darunter den Verlust der Kurwürde für sein Haus, machte Philipp dem Kaiser Zugeständnisse, um seine Freiheit wiederzuerlangen. Er zeigte sich dessen Wunsch geneigt, das überwiegend zu Gunsten der Katholiken beschlossene Interim in Hessen durchzusetzen, womit er allerdings auf den Widerstand seiner eigenen Untertanen stieß, ein Zeichen dafür, wie sehr sich die von ihm selbst geschaffenen reformatorischen Strukturen bereits verselbständigt hatten. Dennoch blieb Philipp weiterhin in Gefangenschaft. Schließlich wurde er auf den Druck einiger gegen die „spanische servitut“ verbündeter Fürsten hin freigelassen und in der Heimat mit Jubel empfangen. Philipp engagierte sich bis zu seinem Tod 1567 für den Zusammenhalt der Protestanten über Deutschland hinaus, 602 Lies: Zwischen Krieg und Frieden, S. 70 ff., 77 ff. 603 Ebd., S. 69, 83. 604 Lies: Vier Reformatoren und ein Landgraf, S. 109 f. 605 Heinemeyer: Das Zeitalter der Reformation, S. 214 f.; Art. Philipp von Hessen, S. 494.
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musste aber erkennen, dass Hessen seine einstige Macht und Bedeutung eingebüßt hatte.606 Im Laufe seines Lebens verkehrte der Landgraf mit den vier Reformatoren Luther, Melanchthon, Zwingli und Bucer, wobei ihm die beiden letzteren am nächsten standen. Luther und Melanchthon begegneten ihm mit ambivalenten Gefühlen: Einerseits war er für sie „der politische Garant für das Weiterexistieren der reformatorischen Bewegung“,607 andererseits hielten sie ihn für unberechenbar, missbilligten seine Doppelehe und fürchteten seine stete Bereitschaft zu gefährlichen Unternehmungen.608 Jan Martin Lies spricht sogar von einem Schwanken der beiden „zwischen den Extremen euphorischer Begeisterung und lähmenden Entsetzens“.609 Inwieweit Stigelius mit Philipp persönlich zu tun hatte, bleibt im Dunkeln; wie auch sonst wird er sich der Meinung seines Mentors Melanchthon angeschlossen haben. Die vorliegende Heroide bezieht sich auf die spektakuläre militärische Unternehmung von 1534, mit welcher der Landgraf damals die Zeitgenossen in Staunen versetzte und seinen großen Triumph errang, nämlich auf die Restitution, also Rückführung und Wiedereinsetzung des vertriebenen Herzogs Ulrich von Württemberg (1487–1550).610 Dieser hatte sich einst als Kriegsgefährte Kaiser Maximilians I. einige Verdienste erworben, gab aber durch Vertragsbrüche, tyrannisches Regiment und Grausamkeiten Kaiser, Reichsständen und Untertanen oftmals Anlass zur Klage. Einen ersten großen Skandal erregte er 1515, als er auf einem Jagdausflug seinen Stallmeister Hans von Hutten hinterrücks erstach und dessen Leiche wie diejenige eines hingerichteten Verbrechers an seinem in die Erde gerammten Degen aufgehängt zur Schau stellte. Ulrich soll diesen Ritter, mit dem er gut befreundet war, zuvor auf den Knien angefleht haben, sein ehebrecherisches Verhältnis mit dessen Frau fortsetzen zu dürfen. Den Mord leugnete er niemals, sondern rechtfertigte ihn vielmehr als gerechte Bestrafung eines „Judas“, da dieser über die wenig vorteilhafte Rolle des Herzogs bei der Unterredung (tatsächlich oder angeblich) keine Diskretion gewahrt hatte.611 Die Huttens, 606 Heinemeyer: Das Zeitalter der Reformation, S. 217 ff. 607 Lies: Vier Reformatoren und ein Landgraf, S. 112. 608 Ebd., S. 98 ff. 609 Ebd., S. 108. 610 Zu Ulrich vgl. Eugen Schneider: Art. Ulrich, Herzog von Württemberg. In: ADB. Bd. 39, S. 237– 243; Gabriele Haug-Moritz: Art. Ulrich I., Herzog von Württemberg. In: NDB. Bd. 26, S. 600–601. Zur Restitution Ulrichs vgl. Franz Brendle: Dynastie, Reich und Reformation. Die württembergischen Herzöge Ulrich und Christoph, die Habsburger und Frankreich. Stuttgart 1998 (Veröffentlichungen der Kommission für Geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg. Reihe B. Forschungen 1), S. 92–104, 145–174; Lies: Zwischen Krieg und Frieden, passim, bes. S. 61–201. 611 Brendle: Dynastie, Reich und Reformation, S. 33 ff.
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allen voran der wortgewaltige Humanist Ulrich von Hutten, drangen heftig auf die Bestrafung des Herzogs und gewannen nicht zuletzt dadurch die Sympathien der Ritterschaft, dass sie dessen Tat „als Präzedenzfall für das Verhältnis des Fürsten zum Adel“612 darstellten.613 Als er sich daraufhin von der eigenen Ehefrau verlassen und somit in der Öffentlichkeit bloßgestellt sah, wies Ulrich in seiner Wut alle Vorschläge des Kaisers zu einem friedlichen Ausgleich zurück, so dass auch dieser sich von ihm abwandte und über ihn die Reichsacht verhängte.614 Unmittelbar nach Maximilians Tod 1519 nahm Ulrich die Ermordung eines seiner Diener in Reutlingen zum Anlass, diese Stadt, die als Reichsstadt unabhängig inmitten seines Territoriums lag, in einem Blitzkrieg zu erstürmen und seiner Herrschaft einzuverleiben.615 Da er sich somit des Landfriedensbruches und des widerrechtlichen Angriffs auf den Schwäbischen Bund, welchem Reutlingen angehörte, schuldig gemacht hatte, wurde er noch im selben Jahr von diesem Bund aus Württemberg vertrieben.616 Karl V. übereignete das ledig gewordene Land seinem zum Statthalter im Reich bestimmten Bruder Ferdinand,617 eine Entscheidung, die nur zweifelhaft legitimiert war und für den Reichsfürstenstand eine Bedrohung in seinem Selbstverständnis darstellte. So wenig auch die einzelnen deutschen Landesherren mit Ulrich persönlich sympathisieren mochten, so blieben sie doch nicht ohne Solidarität mit dem Standesgenossen, dessen alte dynastische Rechte der Kaiser zugunsten des habsburgischen Machtzuwachses beschnitten hatte.618 Ulrich hingegen warb allerorts um Verbündete und unternahm zahlreiche diplomatische und militärische Versuche, um seine Wiedereinsetzung zu erreichen. Als 1525 die Bauernaufstände ausbrachen, machte er sich die Situation zunutze und versuchte, mit Hilfe der rebellierenden Landbevölkerung Württemberg zurückzuerobern, was jedoch misslang.619 Dennoch blieb der
612 Ebd., S. 36. 613 Ebd., S. 36 ff. Zwischen 1515 und 1519 veröffentlichte Ulrich von Hutten fünf Reden gegen Ulrich. 1517 publizierte er den in der Tradition des lukianischen Totengesprächs abgefassten Dialog Phalarismus. Dort unternimmt Herzog Ulrich eine Reise in die Unterwelt zu Phalaris von Agrigent, dem seit der Antike immer wieder erwähnten Prototypen eines Tyrannen, um sich von diesem in der Kunst des Rechtsbruchs und der Grausamkeit unterweisen zu lassen. Als er mit seiner eigenen Tat, der Ermordung des treuen Dieners und Freundes prahlt, bescheinigt Phalaris seinem Schüler, ihn in der Tyrannenkunst bereits übertroffen zu haben. Vgl. Arnold Becker: Ulrich von Huttens polemische Dialoge, S. 91–104. 614 Brendle: Dynastie, Reich und Reformation, S. 38 ff. 615 Ebd., S. 58. 616 Ebd., S. 61 ff. 617 Ebd., S. 80. 618 Ebd., S. 71 ff. 619 Ebd., S. 84 ff.
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stets wachsam nach neuen Möglichkeiten Ausschau haltende Herzog eine latente Bedrohung für das Reich und stellte für alle, mit denen der Kaiser in irgendeiner Weise Allianzen anstrebte, ein gemeinsames Feindbild dar.620 Zum größten Vorteil gereichten Ulrich schließlich seine Hinwendung zur Reformation und die leidenschaftliche Anteilnahme des mit ihm verwandten Philipps von Hessen an seinem Schicksal. 1526 nahm der Landgraf den aus seiner Heimat Vertriebenen in Kassel auf und begründete diese Entscheidung zunächst hinreichend plausibel mit verwandtschaftlicher Solidarität.621 Von besonderer Bedeutung für den auch in religionspolitischen Angelegenheiten pragmatisch denkenden Landgrafen war jedoch die gemeinsame Opposition gegen Habsburg sowie die vertragliche Zusicherung Ulrichs, dass er nach seiner Wiedereinsetzung die Reformation in Württemberg einführen und somit der protestantischen Partei militärischen Rückhalt bieten werde.622 Philipp mit seinen einzigartigen innerprotestantischen Vermittlungsabsichten glaubte sogar, über Württemberg auch eine regionale Verbindung zwischen der wittenbergischen und der schweizerischen Reformation herstellen zu können.623 Seit 1527 betrieb er zunächst mit diplomatischen Mitteln die Restitution des Herzogs, nicht ohne allerdings eine wirksame Drohkulisse aufzubauen und bei Gegnern wie Freunden Besorgnis zu erregen.624 So erwarb er sich zeitweise sogar den Ruf eines deutschen Catilina.625 Der Landgraf erkannte mit bemerkenswertem Weitblick, dass er nur durch Formierung einer großen antihabsburgischen Allianz sein Ziel erreichen konnte, und warb daher sowohl innerhalb als auch außerhalb des Reiches um Verbündete. Dabei schreckte er nicht einmal vor Konspirationen mit Herzog Karl von Geldern und vor allem mit Franz I. von Frankreich, dem Erzfeind der Habsburger, zurück.626 Der französische König zeigte sich für nahezu jegliche Unternehmung, welche die Macht der Habsburger Brüder zu schwächen versprach, sehr aufgeschlossen, bestand jedoch auf strikter Geheimhaltung seiner Rolle, da er Karl V. nach seiner letzten Niederlage gegen ihn zumindest passive Loyalität hatte zusichern müssen.627 Indes kamen dem Landgrafen auch anderweitige Gefährdungen des Reiches zugute. Einerseits profitierte er von den Erhebungen der Täufer in Münster, andererseits von dem
620 Ebd., S. 76 ff. 621 Heinemeyer: Landgraf Philipp der Großmütige von Hessen – politischer Führer der Reformation, S. 179. 622 Lies: Vier Reformatoren und ein Landgraf, S. 107. 623 Ebd., S. 107. 624 Brendle: Dynastie, Reich und Reformation, S. 94 ff. 625 Lies: Zwischen Krieg und Frieden, S. 126. 626 Ebd., S. 135. 627 Ebd., S. 127.
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Umstand, dass Ferdinand durch ständige Konflikte mit den Osmanen in Ungarn absorbiert war und Karl die Bedrängnis seines Bruders durch einen rangmäßig weit unterlegenen Herausforderer unterschätzte. Dem hessischen Regionalherrscher maß der Kaiser zu wenig Bedeutung bei, um sich zu einem Aufgebot seiner besten Kräfte gegen ihn herabzulassen.628 In seiner Korrespondenz und bei all seinen propagandistischen Maßnahmen erwies sich Philipp als äußerst flexibler Taktiker, der je nach Adressat die jeweils vorteilhafteste argumentative Strategie anzuwenden verstand.629 Dort, wo er nicht an die konfessionelle Übereinstimmung appellieren konnte, vor allem gegenüber Frankreich und Bayern, machte er sich ein altbewährtes politisches Schlagwort zunutze und beklagte öffentlichkeitswirksam die Verletzung der „deutschen Libertät“ durch kaiserliche Tyrannei.630 Wer auch immer von den Reichsfürsten „deutsche Freiheit“ oder „Libertät“ für sich in Anspruch nahm, stellte damit im Grunde die Loyalitätspflicht gegenüber dem Reichsoberhaupt in Frage.631 In einem öffentlichen Schreiben an Karl V. insinuierten Philipp und Ulrich in vordergründig ehrerbietigem Ton, letzterer sei nach seinem Konflikt mit Reutlingen ohne Möglichkeit zur Selbstverteidigung vorschnell und somit unrechtmäßig aus seinem Land vertrieben worden.632 Für beide Fürsten kam es darauf an, sich der Öffentlichkeit als Opfer kaiserlicher Willkür und als solidarische Streiter gegen Rechtsbeugung zu präsentieren.633 Spätestens nach dem Augsburger Reichstag von 1530, wo Karl V. für etwaige Zugeständnisse an Philipp dessen Rückkehr zur alten Kirche zur Bedingung gemacht hatte, zeigte sich die Notwendigkeit einer militärischen Intervention,634 eine Lösung, vor welcher der sächsische Kurfürst Johann Friedrich, Philipps bewährter Partner an der Spitze des Schmalkaldischen Bundes, allerdings zurückschreckte. Das Bündnis, so betonte Kursachsen immer wieder, diene nur zur Verteidigung gegen etwaige Angriffe, mit denen die protestantische Partei stets rechnen müsse.635 Auch Luther und Melanchthon konnten mit ihren inständigen Warnungen beim Landgrafen nichts ausrichten.636 Finanziell unterstützt von Franz I., rüstete er entgegen vielen Bitten und Einwänden zum Feldzug, schlug die Österreicher im Mai 1534 bei Lauffen am Neckar und erlangte einen Monat später von König Ferdi-
628 Ebd., S. 131 ff. 629 Ebd., S. 142. 630 Ebd., passim, bes. S. 63, 101 f., 107, 135 ff. 631 Ebd., S. 102. 632 Ebd., S. 142 f. 633 Ebd., S. 88. 634 Brendle: Dynastie, Reich und Reformation, S. 99 ff. 635 Ebd., S. 102 f. 636 Lies: Vier Reformatoren und ein Landgraf, S. 107.
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nand die Rückgabe Württembergs an Herzog Ulrich,637 eine Unternehmung, die nach Walter Heinemeyer neben der Reformierung Hessens „als eine historische Leistung und zugleich als der Höhepunkt von Philipps Wirken“638 gelten kann. Stigelius’ Heroide Ad Illvstrem Et Inclytvm Heroa Philippvm Hessorum Princi pem […]639 stellt aus naheliegenden Gründen nicht die einzige poetische Behandlung dieses Gegenstands dar; so nahm auch der wiederholt in Erfurt und lange Zeit in Nürnberg wirkende Helius Eobanus Hessus, welcher die letzten Jahre seines Lebens in Marburg verbringen sollte (1536–1540), den Sieg zum Anlass, die Tugenden und Taten des Landgrafen in einem Epyllion von 534 Hexametern zu besingen.640 Eobanus Hessus’ im wesentlichen chronologisch verfahrendes Gedicht präsentiert sich gewissermaßen als ein curriculum vitae bzw. curriculum gloriae des Herrschers, welches mit dem Württembergischen Sieg nur einen vorläufigen Höhepunkt findet und zu noch weit größeren (nicht näher spezifizierten) Hoffnungen Anlass gibt. Als wesentlicher Charakterzug Philipps dominieren dabei neben seinen militärischen Fähigkeiten seine grundsätzliche Liebe zum Frieden und seine Milde gegenüber dem stets mühelos besiegten Feind, welche er in den ihm aufgezwungenen Kriegen aufs Schönste zu beweisen pflege. Stigelius’ Heroide ist inhaltlich im Vorfeld der Württembergischen Unternehmung angesiedelt. Ein Charakteristikum dieses Textes besteht in dem Spiel mit verschiedenen Zeitebenen, in welchem der Autor nicht nur die Schilderungen von Vergangenheit und Gegenwart mit Prophezeiungen konfrontieren, sondern auch künftige Ereignisse antizipierend als bereits geschehen berichten lässt. Germania eröffnet ihr Schreiben an Philipp in ähnlicher Weise wie dasjenige an den Kurfürsten Johann Friedrich, indem sie ihre eigene („deutsche“) Schreibweise ausdrücklich von der „hesperischen“ absetzt.641 Ebenso wie in dem Brief an Johann Friedrich versichert die Schreiberin, dass die hässlichen Flecken auf dem Papier von ihren Tränen stammen. Ähnlich wie in der langen Epistel an Karl V. konstruiert sie auch hier als Germania mater ein Mutter-Sohn-Verhältnis und signalisiert mit dem anaphorisch gebrauchten Gratulor, dass der Kriegsruhm ihres 637 Heinemeyer: Das Zeitalter der Reformation, S. 210. 638 Ebd. 639 Ad Illvstrem et Inclytvm Heroa Philippvm Hessorum Principem, & c. Germaniae, ob victoriam VVirtembergensem Epistola gratulatoria [Elegie 1, 5]. In: Poematvm Ioannis Stigelii Liber Tertivs, fol. E 5 r–E 8 v. 640 In Victoria VVirtembergensi ad Illustrem et Inclytum Philippum Hessorum Principem etc. Gra tulatoria Acclamatio Helii Eobani Hessi. In: Helius Eobanus Hessus: Dichtungen. Lateinisch und deutsch. Hrsg. und übersetzt von Harry Vredeveld. Bd. 3. Bern u a. 1990 (Mittlere deutsche Literatur 39), S. 506–533, im Folgenden De Victoria VVirtembergensi genannt. 641 „Offenbar ist auf das an sich hochliterarische Wort Hesperia der pejorative Nebensinn übertragen, den das Wort „welsch“ schon damals hatte.“ Dörrie: Der heroische Brief, S. 457, Anm. 3.
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Sohnes Thema des Briefes sein wird. Zu Beginn lässt sie Philipp als fictus interlocutor zu Wort kommen und den Vorwurf vorbringen, Germania habe bislang unbeteiligt seinen kriegerischen Mühen zugesehen und gratuliere ihm erst, wo sich ein bevorstehender Erfolg deutlich abzeichne.642 Offensichtlich ist hier von den wechselnden Interesselagen und den Loyalitätskonflikten unter den Reichsfürsten sowie von der geringen aktiven Unterstützung die Rede, die dem Landgrafen für seinen allseits mit Sorge erwarteten Feldzug zuteil wurde. Germania entschuldigt ihr Schweigen mit gewichtigen Gründen, die ihr geboten haben, ihre leidenschaftliche Parteinahme für Philipp zunächst geheimzuhalten. Sie verweist auf ihre eigenen Leiden. Ähnlich wie in ihrem Schreiben an Johann Friedrich sind es nicht die Bedrohungen durch äußere Feinde wie die als Abkömmlinge des Mars geltenden Römer (Romulides gens Martia credita cives) oder die Sarmaticae manus, die ihr schwer zusetzen, sondern der Kampf ihrer eigenen Glieder gegeneinander, also bürgerkriegsartige Wirren: Quaeque meo domui peregrinas milite gentes, Hei mihi, nunc mecum mutua bella gero: Iamque meo certant odijs in corpore membra, Obruor aßiduis adficiorque malis: Hinc male ceu morbo laceros dissolvor in artus, Nec suus est illis qui fuit ante vigor,643 ich, welche ich mit mit meinen Soldaten fremde Völker bezwungen habe, führe nun, weh mir!, Kriege mit mir selbst. Jetzt streiten voll Hass die Glieder in meinem Leib; von anhaltenden Leiden werde ich niedergeworfen und geschwächt. Daher löse ich mich wie durch eine Krankheit übel in zerrissene Glieder auf. Sie haben nicht mehr die frühere Kraft.644
Es folgt eine wehmütige Betrachtung über die Vergänglichkeit aller Dinge, selbst der vier großen Weltreiche, von denen schon drei dem „Zahn der Zeit“ (tempus edax) zum Opfer gefallen sind. Die vierte Weltmacht ist Europa, und zwar Rom, zuteil geworden, doch auch diese neigt sich bereits ihrem Ende zu.645 Entsprechend der im 16. Jahrhundert noch hochaktuellen Vorstellung von der translatio imperii präsentiert sich Germania als Erbin der römischen Weltherrschaft, einer 642 Fol. E 5 r. 643 Fol. E 5 v. Vgl. dazu als entsprechende Passagen Ad Illvstrissimvm Principem [..] Dominum Io annem Fridericum […], 23–86: Non secus ac tremuli torrentur febribus artus,/ Vror inextinctis sollicitorque malis. […] Est aliquid gravius quod me magis vrit et vrget,/ Pro lacera cogor Relligione queri./ […] Quae licet admonitis excindere viribus ausim,/ Deficio, & prorsus languida membra traho./ Haec quoque quae nudis etiam vix oßibus haerent/ Corporis in venis mutua bella gerunt. 644 Übersetzung T. B. 645 Fol. E 5 v: Contigit Europae quartum praebere Monarcham,/ Vltimaque invicta sceptra tenere manu./ […]/ Dum potuit tenuit, sed nunc quoque languet hebetque/ Haec quoque quassari tempore, sentit onus.
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Aufgabe, die sie niederzudrücken droht. Wenn sie scheinbar beiläufig in einem Distichon daran erinnert, dass auch Karl V., der nun mit Gerechtigkeit das Weltgeschehen steuert, aus ihrem Leib stammt,646 erklärt sie den hessischen Landgrafen und den habsburgischen Kaiser, ihre Söhne, implizit zu Brüdern und begründet somit eine schon familiär gebotene Verpflichtung zum Frieden. Zwei weitere Gleichnisse nach dem Bild von den gegeneinander kämpfenden Gliedern illustrieren Germanias verheerenden körperlichen Zustand. Wie eine altersschwache Eiche schwankt sie unter der Last ihrer Bürde,647 ebenso wenig wie eine an schwerem Fieber leidende Mutter kann sie ihrem Kind die ersehnte Hilfe bringen. Mit konkretem Bezug auf die erste Heldin der ovidischen Heroidendichtung schildert sie nun ihre Angst um den in den Krieg ziehenden Sohn: In te fingebam multos heroas ituros, Nomine in Hespirico pallida semper eram, Sive quis huc dixit versurum Carolon arma, Carolos648 hoc nobis ara verenda fuit, Foedera sive Duces armari in pacta Suevos, Incessu metui649 posse carere minas. Ferdnandus650 patrijs turmas cogebat in oris, Ferdnandi ceptis cura novata mea est. Denique quisquis erat vestris non aequior ausis, Incidit in curas Ilias ampla meas,651 Ich stellte mir vor, dass viele Helden auf Dich losgehen würden, und wurde bleich bei der Erwähnung des spanischen Namens. Wenn jemand sagte, Karl werde seine Waffen hierher richten, dann war mir Karl eine heilige Zufluchtsstätte, die Verehrung verdiente; wenn jemand sagte, die schwäbischen Fürsten rüsteten sich zu einem Waffenbündnis, befürchtete ich, dass auf die Drohungen kein Einmarsch folgen würde. Ferdinand berief in seinen Erblanden die Truppen ein, durch Ferdinands Vorhaben wurde meine Sorge erneuert. Wer auch immer Deinen wagemutigen Unternehmungen nicht gewogen war, gesellte sich letztlich zu meinen Sorgen als eine gewaltige Ilias.
Wie schon in der Heroide Germania ad Fridericum (Ilias est operis longa futura mei) signalisiert Germania mit Ilias ampla, in welcher Weise sie ihren Brief rezi646 Ebd.: Qui nunc iusticia mundi moderatur habenas,/ Imperium e nostro corpore lectus habet. 647 Vgl. das berühmte Eichengleichnis in Verg. Aen. 4, 441–449, mit welchem Aeneas’ innerer Zwiespalt, aber auch seine fast übermenschliche Standhaftigkeit illustriert wird, als Dido und Anna ihn mit inständigen Bitten bestürmen, entgegen seiner Bestimmung in Karthago zu bleiben. 648 Bemerkenswert ist, dass Stigelius hier gräzisierende Schreibweisen für Carolus wählt. Nur im ersten Falle ist diese Form (Carolon statt Carolum) dem Metrum geschuldet. 649 Im Druck metuit. Es muss sich um einen Druckfehler handeln. 650 Auch hier wird ein Name aus metrischen Gründen abgewandelt. 651 Fol. E 6 v.
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piert wissen möchte. Bereits die antiken Autoren gebrauchen den Titel des homerischen Epos zur Bezeichnung von Anfeindungen, Unheil oder einer wortreichen Klage.652 Stigelius’ Verwendung dieser Vokabel geht zum einen darauf zurück, dass er in den zitierten Versen auf die erste ovidische Heroide (Penelope an Odysseus) rekurriert, die tatsächlich den Trojanischen Krieg zum Gegenstand hat; zum anderen positioniert er sich als Dichter und beansprucht für seine Aussage, indem er seiner Germania eine solche „Ilias“ in den Mund legt, eine überzeitliche Geltung. Wer mittels seiner eigenen poetischen Gestalten eine „Ilias“ vorzutragen behauptet, ist bestrebt, dem zu schildernden (kriegerischen) Geschehen eine beispiellose Bedeutung beizumessen, stilisiert sich selbst aber gewissermaßen zu einem neuzeitlichen „Homer“, der im Hintergrund mit aller Diskretion „Regie führt“. Bei diesen Versen des Stigelius handelt es sich, wie bereits erwähnt, um eine Kontrafaktur zu einer Passage aus den ovidischen Heroiden. Landgraf Philipp von Hessen erscheint demnach gewissermaßen als homerischer Held, auf welchen in direkter Weise Germania als klagende Heroine, indirekt Stigelius als poetischer „Drahtzieher“ einwirken. Als Modell dient die Beteuerung der ovidischen Penelope in einem Schreiben an ihren noch immer verschollenen Odysseus: In te fingebam violentos Troas ituros, nomine in Hectoreo pallida semper eram. sive quis Antilochum narrabat ab hoste revictum, Antilochus nostri causa timoris erat; sive Menoetiaden falsis cecidisse sub armis, flebam successu posse carere dolos. sanguine Tlepolemus Lyciam tepefecerat hastam; Tlepolemi leto cura novata mea est. denique, quisquis erat castris iugulatus Achivis, frigidius glacie pectus amantis erat.653 Ich bildete mir rasende Trojaner ein, die auf dich zustürzen. Wenn ich an den Namen Hectors nur dachte, erbleichte ich immer; oder wenn jemand erzählte, wie Antilochus vom Feind besiegt wurde, war Antilochus die Ursache meiner Furcht, oder wenn er erzählte, dass Patroclus in fremder Rüstung gefallen sei, weinte ich darüber, dass auch Listen erfolglos bleiben können. Tlepolemus wärmte mit seinem Blut die Lanze aus Lycien, durch den Tod des Tlepolemus entstand meine Sorge neu. Schließlich, wer auch immer aus dem griechischen Lager erschlagen wurde, das Herz derer, die dich liebt, wurde (aus Angst um dich) noch starrer als Eis.
652 Plaut. Mil. 743: verum ubi dies decem continuos sit, east odiorum Ilias; Cic. Att. 8, 11, 3: tanta malorum impendet Ilias; Ov. Pont. 2, 7, 33–34: Quae tibi si memori coner perscribere versu/ Ilias est fati longa futura mei. 653 Ov. her. 1,13–22 (Penelope an Odysseus).
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Germania stilisiert Philipps Vorhaben gewissermaßen zu einem zweiten Trojanischen Krieg, dessen Verlauf sich ihrer Vorstellungskraft mit schrecklichen Bildern aufdrängt. Karl und Ferdinand werden Philipp ebenso als Bedrohung gegenübergestellt wie die Trojaner dem vermissten Odysseus und den Achaiern in der Klage der ovidischen Penelope. In syntaktischer Hinsicht werden zwar die bei Ovid genannten Namen der griechischen Helden durch diejenigen der Philipp entgegentretenden Habsburger und ihrer Verbündeten ersetzt – Antilochus durch Carolos, Menoetiades durch Duces Suevi, Tlepolemus durch Ferdnandus –, doch Stigelius verfährt insofern konsequent, als er anstelle dieser auf dem Schlachtfeld fallenden griechischen Helden, die grammatikalisch wie inhaltlich eine im wörtlichen Sinne passive Rolle einnehmen, die Habsburger mit besonderer Betonung ihrer aktiven und aggressiven Rolle (versurum arma, cogebat, ceptis) nennt. Ebenso wie Penelope ihren Odysseus sieht Germania ihren Landgrafen der Gefährdung durch übermächtige Gegner ausgesetzt. Germania positioniert sich durch ihre Äußerungen größter Besorgnis um Philipp als seine Sympathisantin und – wenn auch nicht uneingeschränkte! – Parteigängerin: Für Karl behält sie sich immerhin die ehrende Bezeichnung nobis ara verenda (72) vor.654 Stigelius demonstriert seine (und Melanchthons) grundsätzliche Hochachtung vor der Institution des Kaisertums, wenn er Germania selbst dort, wo sie einen (zeitweiligen) Gegner der Habsburger feiert, an Karls unanfechtbare Funktion als Schutzherrn des Reiches erinnern lässt. Indem er die Diktion der sehnsüchtigen, durch den Trojanischen Krieg bedrohten ehelichen Liebe zwischen Penelope und Odysseus aus der ovidischen Heroide auf eine allegorische Mutter-Sohn-Beziehung überträgt, ähnlich wie er es auch in dem panegyrischen Brief Germania ad Carolum tut, bedient sich der Autor eines geschickten Schachzuges, um das riskante Unternehmen eines Fürsten, dem er als Melanchthon-Schüler aus religiösen Gründen zu Dankbarkeit und Solidarität verpflichtet ist, in Frage zu stellen. Explizite Vergleiche Philipps mit Odysseus finden sich auch in Eobanus Hessus’ Epyllion, scheinen dort aber eine andere Funktion zu erfüllen, da sie, deutlicher jedenfalls als in Stigelius’ Heroide, Philipps Weltkenntnis und Einfallsreichtum
654 Bei Ovid finden sich zwei Belege für die Anwendung von ara auf einen Menschen. Der eine entstammt wiederum der ersten Heroide, wo die von ihren Freiern bedrängte Penelope Odysseus zur baldigen Rückkehr beschwört mit dem Hinweis, er sei ihr „Hafen und Altar“. Ov. her. 1, 109–110: nec mihi sunt vires inimicos pellere tectis/ tu citius venias, portus et ara tuis! Der zweite begegnet in den Tristien in Form eines Dankbriefes, welchen der verbannte poeta an einen nicht namentlich genannten Freund von bewährter Treue richtet. Ov. trist. 4, 5, 1–2: O mihi dilectos inter pars prima soldales,/ unica fortunis ara reperta meis.
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illustrieren.655 In raffinierter Weise deutet Hessus die beim homerischen Helden durch die Not bedingten Abenteuer und Überlebensstrategien zu freiwillig und systematisch ausgeübten altruistischen Herrschertugenden um und fügt sie in das ohnehin weitgehend stereotype Programm der Fürstenspiegel-Literatur seiner Zeit ein. Dabei lässt er fast wörtlich das Prooemium der Odyssee anklingen. Stigelius hingegen zeigt sich weit mehr an der von Ovid elegisch ausgestalteten ehelichen Beziehung von abwesendem Krieger und Frau interessiert, einem Modell, das er sich inhaltlich wie strukturell zum Zwecke der Warnung zunutze macht. In wenigen Versen offenbart Germania – zuvor nur in Andeutungen redend –, welcher Anlass die feindlichen Scharen zusammentreibt und sie selbst zum Schreiben bewegt. Überall geht das Gerücht um, dass Philipp einen Krieg plane (79–82): Iamque volat paßim lectas te armare Phalangas, Rumor, & audaci bella parare manu. Tum vero ad luctus invitaque munia fletus, Vrgeor humentes imbre rigare genas,656 Schon verbreitet sich überall wie im Flug das Gerücht, dass Du auserwählte Truppen bewaffnest und mit kühner Hand einen Krieg vorbereitest. Da aber fühle ich mich zum Trauern und zur widrigen Pflicht des Weinens gedrängt, fühle mich dazu gedrängt, meine nassen Wangen mit einem Tränenschauer zu benetzen.
Diese Passage rekurriert offensichtlich auf das Ende des ersten Buches in Lucans De bello civili (Pharsalia).657 Wie im römischen Bürgerkriegsepos die
655 Vgl. Eobanus Hessus: De Victoria VVirtembergensi, V. 92–104: Quid memorem casus tuleris quam fortiter omnes/ Semper in adversis audax: invictus in omni/ Fortuna: nec inepta domi: nec turpia ducens/ Ocia: sed potius verae virtutis amore/ Externas adiens per regna: per oppida: gentes/ Plurima multorum vidisti providus urbes/ Et mores hominum: nec pauca pericula adisti/ Tam rerum vitaeque tuae: quam saepe tuorum/ O Laertiadae nec inertior inclyte magno/ Nec minor ingenio: Si quis contingat Homerus/ qui te: qui tua facta canat: qui laudibus ornet/ Virtutem ornatam meritis: rebusque probatam/ Iam satis: […]. (Wozu erwähne ich noch, wie kühn du dich allen Gefahren unterziehst, immer unerschrocken im Unglück, unbesiegbar bei jedem Geschick? Friedenszeiten verbringst du nicht nutzlos und schimpflich daheim. Du reist dann vielmehr aus Liebe zur wahren Vortrefflichkeit durch viele Länder und Städte zu den Völkern des Auslands. Vieler Menschen Städte und Sitten hast du mit klugem Blick kennengelernt, nicht wenige Gefahren hast du bestanden, die oft ebenso sehr deine Macht und dein Leben bedrohten wie die Deinen. O ruhmvoller Philipp, nicht minder tatkräftig als der große Sohn des Laertes, nicht minder erfindungsreich! Wenn sich doch ein Homer fände, dich und deine Taten zu besingen und deinen Mut, mit Verdiensten geschmückt und schon hinlänglich in Schlachten erprobt, mit einem Loblied zu ehren!) 656 Fol. E 6 v. 657 Lucan. 1, 186: ingens visa duci patriae trepidantis imago.
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personifizierte Patria/Roma mit allen Zeichen der Trauer erscheint und Caesar mit wenigen Worten vergebens vom Einmarsch in Rom abzuhalten sucht,658 so muss auch Germania voll Entsetzen erkennen, dass ihr Sohn Philipp mit seinem geplanten Einfall in ein von Habsburg besetztes Gebiet im übertragenen Sinne am „Rubikon“ steht. Stigelius verfährt in dieser Heroide ebenso wie in den beiden anderen nach dem Prinzip der Multiperspektivität, indem er seine Heldin inmitten ihrer eigenen Rede die Worte anderer Gestalten zitieren lässt. Entsprechend den Gepflogenheiten antiker Dichtung treten der Rhein und die Elbe, die Württemberg als Schauplatz des geplanten Feldzuges äußerst weitläufig umgeben, als personifizierte Flussgottheiten in Erscheinung und sprechen. Flüsse wurden seit alters her im Orient, vor allem aber bei Griechen und Römern als Gottheiten verehrt, und so lag es nahe, sie in der Dichtung in allegorisierter Form zu präsentieren.659 Schon bei Homer agieren verwandlungsfähige Flüsse, die als Söhne des Okeanos oder Zeus Götterversammlungen besuchen und in den Trojanischen Krieg eingreifen.660 Beispiele finden sich u. a. auch bei Vergil,661 Ovid662 und insbesondere Claudian. Letzterer begründete gewissermaßen die Tradition eines Flussgottauftrittes zu panegyrischen Zwecken. Gerade in längeren neulateinischen Hexameter-Dichtungen, in welchen der Autor anlässlich des glanzvollen Einzugs, der Inthronisierung oder Hochzeit eines Herrschers dessen Dynastie mit ihrem Stammbaum besingen musste, kam er selten ohne das äußerst ergiebige Motiv der Ekphrasis aus. Dabei empfahl es sich, den personifizierten Fluss der betreffenden Stadt oder Region zum Laudator des Herrschers zu machen und/ oder dessen Nymphen die ruhmreiche Geschichte der Dynastie auf Teppiche oder Festgewänder weben und als Geschenk überreichen zu lassen.663 Eine Apostrophe des über Heldentaten staunenden Flusses findet sich, wenn auch in verhältnismäßig schwacher Ausprägung, in Eobanus Hessus’ kleinem Epos auf den Württembergischen Sieg. Dort zeigt sich der mit braungelbem Rohr bekränzte Main, zuvor nur an Schiffe mit Handelsware gewöhnt, von den furchterregenden Truppen des über Frankfurt nach Württemberg ziehenden Landgrafen zutiefst beeindruckt.664 Die Allegorisierung von Gewässern beschränkte sich jedoch nicht 658 Ebd. 1, 183–192. 659 Günther Schmidt: Art. Flußgötter. In: DKP. Bd. 2, Sp. 585–587. Vgl. die beeindruckende Fülle an Beispielen in der antiken und humanistischen Dichtung von Homer bis in die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts bei Deufert, S. 250, Anm. 213. Zu den Auftritten eines Flussgottes bei Matthias Bergius vgl. Deufert, passim, in der neulateinischen Dichtung generell bes. S. 248 ff. 660 Hom. Il. 21, 212–283. 661 Verg. Aen. 8, 31–67. 662 Ov. met. 8, 549–615; fast. 5, 637–662. 663 Deufert, S. 248 ff. 664 Helius Eobanus Hessus: De Victoria VVirtembergensi, 186–206.
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auf panegyrische Epik. So wurden auch die Verfasser von (persuasiv ausgerichteten) Heroiden ihren antiken Vorbildern eher gerecht, wenn sie statt der personifizierten Länder deren Flüsse als Briefschreiber auftreten ließen.665 Die Germania des Stigelius äußert nicht nur ihre eigene Bestürzung über Philipps Vorhaben, sondern beruft sich zudem auf die Reaktionen der Natur, namentlich der beiden Flüsse Rhein und Elbe, von denen einer – es bleibt ungewiss, welcher – einen flehentlichen Warnruf an den Landgrafen anstimmt. Als unmittelbar vom Geschehen betroffenen Fluss hätte Stigelius an dieser Stelle den personifizierten Neckar auftreten lassen können,666 doch ist ihm offenbar an der Demonstration gelegen, dass sich die bedrohliche Kunde vom geplanten Krieg innerhalb eines größeren Raumes verbreitet und von einer bedeutenden Grenze zur anderen dringt. Durch die Wahl des Rheines folgt der Autor zudem einer längeren poetischen Tradition, insofern als dieser schon in der Antike Gegenstand zahlreicher kultischer und literarischer Würdigungen war. Eine herausragende Bedeutung kam dem als Gott und Vater (Rhenus Pater) verehrten Rhein zunächst bei den Kelten, dann auch im Römischen Reich zu.667 Allegorische Darstellungen in der bildenden Kunst zeigen ihn meist als bärtigen liegenden Mann mit Hörnern auf dem Kopf, Urne und Schilfrohr.668 Wie sehr der Rhein schon damals Germanien repräsentierte, wird u. a. daraus ersichtlich, dass die Römer bei Triumphen über germanische Stämme Statuen des personifizierten Flussgottes mit sich führten.669 Literarische Zeugnisse, in welchen der Wunschtraum zum Ausdruck kommt, dass der Rhein einst als gedemütigter, verwahrloster Mann einen Triumphzug schmücken möge, finden sich in Ovids Exildichtung.670 Martials Epigramm 10, 7, in welchem der Tiber den Rhein erstmals als „Vater“ anspricht, 665 „Kurz, so unantik es war, Länder zu personifizieren, so stilgerecht war es, Flüsse als Flußgötter zu Worte kommen zu lassen.“ Dörrie: Der heroische Brief, S. 458. 666 Vgl. Helius Eobanus Hessus: De Victoria VVirtembergensi, V. 223–225. Dort wird (eher beiläufig) der hörnertragende Neckar erwähnt, an welchem Philipp in weiser Umsicht sein Lager aufschlägt. Zu einem wirklich allegorischen Auftritt des Flusses werden diese Verse allerdings nicht ausgestaltet. 667 „Bei den Kelten ist Renos synonym mit Fluß, Gang, Weg. Der Rhein galt damit als der Strom schlechthin.“ Rainer Vollkommer: Vater Rhein und seine römischen Darstellungen. In: Bonner Jahrbücher 194 (1994), S. 1–42, hier S. 2 f. 668 Sylvia Klementa: Gelagerte Flußgötter des Späthellenismus und der römischen Kaiserzeit. Köln u. a. 1993 (Arbeiten zur Archäologie), S. 132 f. 669 Vollkommer, S. 3 ff. 670 Ov. trist. 4, 2, 41–42: cornibus hic fractis viridi male tectus ab ulva/ decolor ipse suo sanguine Rhenus erat.; Ov. Pont. 3, 4, 107–108: squalidus inmissos fracta sub harundine crines/ Rhenus et infectas sanguine portet aquas. Zur Etablierung einer humanistischen Rheinbegeisterung, basierend auf einzelnen antiken Vorbildern, vgl. Stefan Tilg: Rheinromantik und Vater Rhein. Zwei Motive des deutschen Humanismus. In: Carmen Cardelle de Hartmann und Ulrich Eigler (Hrsg.):
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nämlich als Nympharum pater amniumque,671 bildet den Ausgangpunkt für einen insbesondere von Konrad Celtis, Paul Schede Melissus und Helius Eobanus Hessus initiierten Kult um einen dezidiert deutschen König der Flüsse, der je nach Bedarf sowohl dem altehrwürdigen Tiber als auch später zunehmend den benachbarten Franzosen die Stirn bietet.672 Ähnlich wie im Fall der Germania-Allegorie wird eine Fremdbeschreibung aus römischer Feder – in diesem Fall Ovids gedemütigter Flussgott bzw. Martials immerhin wohlwollend apostrophierter Rhenus pater mit goldenen Hörnern – von deutschen Humanisten aufgegriffen und in ein positives Gegenbild zur Selbstbeschreibung mit Überlegenheitsanspruch umgemünzt.673 Der „Vater Rhein“, der seine größte Konjunktur im deutsch-französischen Antagonismus des 19. Jahrhunderts erleben sollte, wäre nicht denkbar ohne lateinische Literaturbeispiele vereinzelt in der Antike, vor allem aber im 16. Jahrhundert.674 Stigelius’ Germania möchte also Philipps Aufmerksamkeit entweder auf den Fluss lenken, der seit alters her mit ihr identifiziert wird, oder auf die Elbe, einen ebenfalls bedeutenden Strom. In jedem Fall markiert der Fluss einen geographischen und ideellen Grenzbereich. Wie bei Homer der in der Troas gelegene Fluss Skamander (auch Xanthos genannt) den tödlich gereizten Achill anfleht, seinem erbarmungslosen Wüten gegen die Trojaner ein Ende zu bereiten,675 so versucht auch der von Germania zitierte Fluss mit bewegenden Worten, den hessischen Landgrafen von seinem Vorhaben abzubringen: O quo fata vocas, quae mente audacia surgit, Siste precor ceptis magne Philippe, tuis, Iusta quidem, sed magna tamen, sed maxima ceptas Consilium est tantis abstinuisse meum.676 O wohin rufst Du das Geschick? Welche Verwegenheit erhebt sich in Deinem Gemüt? Lass ab von Deinem Vorhaben, großer Philipp, ich bitte darum. Gerechte Wagnisse zwar, aber große, ja sogar übergroße nimmst Du auf Dich, von derart großen rate ich Dir ab.
Latein am Rhein. Zur Kulturtopographie und Literaturgeographie eines europäischen Stromes. Berlin / Boston 2017 (Frühe Neuzeit 213), S. 128–140. 671 Tilg, S. 128 ff. 672 Ebd., S. 137–140. 673 Als wegweisende Texte nennt Tilg in diesem Zusammenhang Celtis’Epigramm 2, 56 Ad Rhenum, qui artem imprimendi invenerit;, Celtis’ Elegie 3, 13 [Amores] Ad Rhenum ortum et exitum eius […], Paul Schede Melissus’sapphische Ode Ad Rhenum flumen Germaniae und ein 1519 anlässlich seiner Reise zu Erasmus verfasstes Hodoeporicon von Helius Eobanus Hessus. 674 Ebd., S. 140. 675 Hom. Il. 21, 213 ff. 676 Fol. E 7 r.
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Die ersten Worte evozieren einen Passus aus Vergils Aeneis, nämlich die entrüstete Antwort Jupiters an die Göttermutter Berekynthia, die von ihm verlangt hatte, er solle den durch einen Brandangriff bedrohten Schiffen der Trojaner, da sie aus dem Holz heiliger Pechföhren erbaut seien, Unsterblichkeit verleihen.677 Der Göttervater verteidigt die bestehende Weltordnung, nach welcher kein Gott befugt sei, einem Sterblichen oder dessen Erzeugnis Unsterblichkeit oder vollkommene Sicherheit vor Gefahren zu verleihen, auch wenn er selbst immerhin bereit ist, die Schiffe in Meeresnymphen zu verwandeln. Der Flussgott aus der vorliegenden Heroide hingegen betont, dass Philipps Vorhaben zwar gerecht, aber allzu groß d. h. neuartig, riskant und gefährlich sei. Stigelius lässt Germania und den von ihr zitierten Fluss die Befürchtungen wiedergeben, die Luther und Melanchthon nachweislich hegten. In Melanchthons Korrespondenz findet sich schon seit Beginn des Jahres 1534 in verschiedenen Briefen die beklommene Ahnung, dass von dem zwar wohlmeinenden, aber ungestümen jungen Landgrafen eine schwere Erschütterung für ganz Deutschland ausgehen werde. So teilt er am 24. Januar seinem Freund Joachim Camerarius mit: Maxime cupio scire exitum conventus Suevici de negocio Wirtebergensi. Plane in eo sum, ut arbitrer eam rem, universae Germaniae allaturam mutationem maximam.678 Ich will unbedingt vom Erfolg des Schwäbischen Bundes in Bezug auf die württembergische Angelegenheit erfahren. Jedenfalls bin ich so weit zu glauben, dass diese Sache ganz Deutschland eine große Veränderung bringen wird.679
Am 1. März schreibt er an den in Breslau wirkenden Pastor Johannes Heß: De rebus Germanicis quod scribam nihil admodum habeo. Nam adhuc quidem tranquillitas est, sed restitutio ducis Wirtebergensis, ut ego quidem suspicor, brevi magnos motus pariet.680 Ich habe kaum etwas, was ich über die deutschen Angelegenheiten schreiben könnte. Denn noch herrscht zwar Ruhe, aber die Rückführung des Herzogs von Württemberg wird, wie ich wenigstens fürchte, schon bald große Unruhe verursachen.
In einem Brief an Camerarius vom 14. Mai gibt er seine Ablehnung von Philipps Plan, aber auch seine Resignation zu erkennen:
677 Verg. Aen. 9, 94–122: O genitrix, quo fata vocas aut quid petis istis?/ […]. 678 MBW T 6 (1534–1535). Nr. 1400, S. 36. 679 Übersetzung T. B. 680 Ebd., Nr. 1412, S. 54.
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Posteaquam ea, quae molitur Macedo, neque nostro consilio suscepta sunt, neque nostris probantibus sed dehortantibus etiam, desinamus aliquando de causa disputare.681 Nachdem das, was der Makedone ausheckt, weder auf unseren Rat hin noch mit unserer Billigung unternommen worden ist, sondern sogar trotz unseres Abratens, wollen wir endlich einmal aufhören, über den Fall zu diskutieren.
Das zwiespältige Verhältnis Melanchthons zu Philipp, den er mit Anspielung auf dessen Vornamen – bewundernd, ironisch oder beides – den „Makedonen“ nennt, kommt in einem wenige Tage zuvor ebenfalls an Camerarius verfassten Schreiben pointiert zum Ausdruck: De Macedone nihil adhuc certi scire potuimus. […] Nam hanc τοῦ τυράννου καταγωγὴν prorsus non probo, etsi, hercle, τὸν Μακεδόνα non possum non amare et nolim cadere.682 Über den Makedonen konnten wir bisher noch nichts Sicheres in Erfahrung bringen. […] Denn, mit einem Wort, diese Zurückführung des Tyrannen billige ich nicht, wenn ich auch, beim Herkules, nicht anders kann, als den Makedonen zu lieben, und nicht will, dass er zu Fall kommt.
Eines ähnlichen Tonfalls bedient sich Stigelius, wenn er in seiner Heroide sogar zwei sprechende Instanzen dem Landgrafen von tollkühnen Unternehmungen abraten lässt. Bemerkenswert ist jedoch die unterwartete Wende, welche die Warnrede des Flussgottes nimmt: At si fata vocant, & stat sententia Parcis, Consilium non est abstinuisse meum: Est tibi, sitque precor duplex in pectore pectus, Non ab re tribuit quod tibi forte Deus, Hoc vtare rogo recta ratione ministra, Caetera permittens efficienda Deo. Omnia sic dextro procedant prospera Marte, Cunctaque quae ceptes in tua vota fluent.683 Aber wenn das Geschick ruft und der Urteilsspruch der Parzen feststeht, dann lautet mein Rat, nicht abzulassen: Du hast ja, und sollst auch haben, ich bitte darum, ein doppeltes Herz in der Brust, welches Dir Gott nicht ohne Grund oder zufällig verliehen hat. Davon mach Gebrauch, so bitte ich, mit Hilfe der rechten Vernunft und überlass das Übrige Gott zur Ausführung. So soll mit Kriegsglück alles günstig verlaufen; alles, was Du beginnst, soll nach Deinem Wunsch ausgehen.
Wenn aber Schicksal und Parzen es gebieten – diese Voraussetzung ist mit Absicht vage formuliert –, soll Philipp doch beherzt in die Schlacht ziehen und sein Begin-
681 Ebd., Nr. 1437, S. 91. 682 Ebd., Nr. 1436, S. 90. 683 Fol. E 7 r.
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nen glücklich zu Ende führen, wobei die Mahnung sitque duplex in pectore pectus offenkundig auf Philipps Beinamen „der Großmütige“ (magnanimus) anspielt.684 Dieser Meinungsumschwung überrascht und befremdet; es scheint, als wolle der Flussgott seine vorherige Rede korrigieren und seine warnenden Worte zurücknehmen. Eine Bedingung stellt er allerdings: Philipp soll von der recta ratio, d. h. offenbar von Vernunft und Mäßigung, Gebrauch machen und sich Gottes Führung überlassen. Auch von hier führt eine Spur zu Melanchthons Korrespondenz. In dem bereits erwähnten Brief an Camerarius vom 14. Mai bemerkt der Reformator, man müsse, da man doch keinen Einfluss darauf habe, den Ausgang dieses Unternehmens abwarten. Entgegen bösartigen Gerüchten aus klerikalen Kreisen gehe der kluge und verständige Landgraf nicht aus wirtschaftlicher Not und Verzweiflung auf Abenteuersuche, sondern habe ehrenwerte Gründe für seinen Feldzug, die man allerdings nicht immer durchschauen und somit auch nicht verwerfen könne. Melanchthon sucht, so scheint es, beinahe krampfhaft nach einer Rechtfertigung für Philipps eigenmächtiges Handeln und formuliert eine vage Hoffnung, dass dies vielleicht doch im Auftrag Gottes geschehe: Quid, si Deus illa publica vitia tum punire tum aliqua ex parte tollere decrevit? Itaque oro, ut mollis sit „καταστροφὴ“ et Ecclesiae Χριστοῦ utilis.685 Was, wenn Gott beschlossen hat, die allgemein bekannten Laster [des Klerus, der in Dekadenz versinkenden Gesellschaft?] bald zu bestrafen, bald bis zu einem gewissen Grad zu tilgen? Daher bete ich darum, dass die Katastrophe glimpflich sein möge und der Kirche Christi nützlich.
Einen Trost und eine mögliche Legitimation sieht Melanchthon also in der Erwartung, dass Philipp möglichst viel Schonung und Milde walten lassen werde. Es handelt sich gewissermaßen – sit venia verbo – um eine Verlegenheitslösung, die Stigelius von seinem Lehrer und Mentor übernimmt, wenn er seinen Flussgott, zitiert von Germania, einen derartigen Widerruf vornehmen und seinen anfänglichen Ruf des Entsetzens in eine Bitte um Milde und in den Wunsch nach einem glücklichen Ausgang verwandeln lässt. Dass es hier mehr um ein Zugeständnis des Flussgottes an Philipps Wünsche als um einen echten Meinungsumschwung geht, wird auch daraus ersichtlich, dass sich der Flussgott betrübt in seine Grotte
684 Magnanimus, der „Großmütige“, bezieht sich nach damaligem Sprachgebrauch auf Mut und Kampfgeist und darf nicht auf die heutige Bedeutung von mild oder großzügig verengt werden. Walter Fleischmann-Bisten: Von der Euthanasie zur Ermordung Behinderter und Kranker. Historische Hintergründe und theologische Konsequenzen. In: Norbert Stieniczka (Hrsg.): „Mit dem Glauben Staat machen“, S. 171–181, hier S. 179. 685 MBW T 6. Nr. 1437, S. 92.
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zurückzieht.686 Die Woge (vnda) – sein eigenes Wasser? – tadelt ihn. Dieses Distichon befremdet insofern, als man für die nun einsetzende tadelnde Gegenrede einen neuen Sprecher, vielleicht einen anderen Fluss, erwartet hätte.687 Die Woge – welcher Identität auch immer – möchte von Furcht und Zweifel nichts wissen. Sie prophezeit nicht nur den Sieg und die triumphale Heimkehr des Landgrafen, sondern berichtet sogar davon, als wäre es bereits geschehen: Sed bene consuluit iustus Deus optima ausis, Iamque redis populo victor ovante domum, Heßiacus redijt miles, iam tegmina fumant, Lucet odorato plurimus igne focus, Excipit amplexu redeuntem Nympha maritum. Ille suis patrio carmine bella canit. Multa rogant pia turba, senes, vaga multa iuventus Totaque narrantis pendet ab ore domus, Ducuntur positis passim convivia mensis, Saltat ad argutam foemina virque chelym, Iamque aliquis ducto deliniat agmina gypso, Aut pingat fuso praelia gesta mero. Hac ibat rapidis sinuosus neccarus vndis, Hic steterant nostri Martia castra Ducis, Hic nos ex corijs consuta nave bovinis, Traiecit rapidas Dux Generosus aquas. Hic subito incautos armis oppreßimus hostes, Hic hostis verso transfuga ceßit equo, Omnia namque meo, cursus cui iungit aquarum, Rettulerat Rheno Neccarus, ille mihi. Rettulit & vestris aspergae viribus arcis, Ardua cum ducibus moenia capta suis. Illaque ne quicquam vasti compagine muri Ingenioque alti firma fuisse loci.688 Aber der gerechte, allmächtige Gott hat das Wagnis begünstigt, schon kehrst Du unter dem Jubel des Volkes als Sieger nach Hause. Der hessische Soldat ist zurückgekehrt, schon steigt Rauch von den Dächern, vielerorts leuchtet der Herd von weihrauchduftendem Feuer. Mit einer Umarmung empfängt die Braut den zurückkehrenden Gatten. Er singt den Seinen vom Krieg in einer vom Vater her vertrauten Weise. Vieles fragen die fromme Schar, die Greise,
686 Dieser betrübte Rückzug in sich selbst dürfte inspiriert sein durch die Resignation der Tellus mater bei dem durch Phaethon ausgelösten Weltenbrand in Ov. met. 2, 301–303. 687 Vgl. dazu immerhin folgende Anmerkung: „Es bleibt unklar, wie weit Fluß und Flußgott (auf dem Flußgrund oder in einer Grotte wohnend) voneinander unterschieden wurden.“ Art. Flußgötter (DKP), Sp. 585 f. 688 Fol. E 7 r–v.
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die umherschwirrende Jugend; das ganze Haus hängt an den Lippen des Erzählers. Überall stellt man Tische auf und hält Festmähler ab, zur helltönenden Leier tanzen Mann und Frau. Nun zeichnet jemand die Heerscharen in etwas Gips oder malt vielleicht die vollbrachten Taten in verschüttetem Wein: Hier floss mit reißenden Wogen der gewundene Neckar, hier stand das Kriegslager unseres Führers. Hier setzte uns der edle Führer auf einem aus Rindsleder zusammengenähten Floß über das reißende Wasser. Hier trieben wir auf einmal die unvorsichtigen Feinde mit unseren Waffen in die Enge, hier wandte der Feind sein Pferd zur Flucht und entwich. Denn alles hatte der Neckar meinem Rhein erzählt, in welchen er sein Wasser ergießt, und dieser mir. Er erzählte, dass durch Eure Kräfte die steilen Mauern der Burg Asberg samt ihren Führern bezwungen wurden und vergeblich durch das Gefüge eines ungeheuren Walles und den Vorzug einer hohen Lage befestigt waren.
Diese glückliche Prophezeiung revoziert mit starken wörtlichen Anklängen eine Passage aus der ersten ovidischen Heroide, wo Penelope die bereits erfolgte siegreiche Heimkehr der griechischen Krieger schildert, ein freudiges Ereignis, von welchem sie sich, da immer noch auf Odysseus wartend, als einzige ausgeschlossen fühlt. An einer Stelle jedoch lässt Stigelius seine sprechende Instanz – hier einen Beliebigen aus der Schar der Krieger (aliquis), zitiert von der Woge und diese wiederum von Germania – über Ovid hinaus auf eine Begebenheit bei Homer zurückgreifen,689 wenn sie behauptet, der Landgraf habe die Truppen auf einem aus Rindsleder zusammengenähten Schiff (ex corijs consuta nave bovinis)690 über den Neckar gefahren. Im zwölften Gesang der Odyssee erzählt Odysseus den Phäaken von dem Frevel, welchen seine Reisegefährten auf der Insel Thrinakia mit der verbotenen Schlachtung von Poseidons schönen Rindern begingen, und von dessen schrecklicher Rache. Als die Schuldigen auf der Weiterfahrt in einem Seesturm bereits umgekommen sind und Odysseus lediglich noch auf den Trümmern seines Schiffes dahintreibt, kann er sich retten, indem er eine notdürftige Reparatur vornimmt und den abgerissenen Mast mit einem Riemen aus Rindsleder wieder am Kiel befestigt.691 Stigelius bezieht sich an dieser Stelle also auf den Überlebenskünstler Odysseus und veranschaulicht dadurch Philipps Fähigkeit, jegliche Situation auch spontan zu meistern. Ansonsten bleibt die Siegesschilderung ziemlich nahe an dem Modell aus der ovidischen Heroide: Sed bene consuluit casto deus aequus amori. versa est in cineres sospite Troia viro. Argolici rediere duces, altaria fumant; ponitur ad patrios barbara praeda deos.
689 Zu diesem Verfahren vgl. Richard F. Thomas: Virgil’s Georgics and the Art of reference. In: Harvard Studies in Classical Philology 90 (1986), S. 171–198, bes. S. 188 ff. 690 Fol. E 7 r. 691 Hom. Od. 12, 422–425.
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grata ferunt nymphae pro salvis dona maritis; illi victa suis Troica fata canunt. mirantur iustique senes trepidaeque puellae; narrantis coniunx pendet ab ore viri. atque aliquis posita monstrat fera proelia mensa, pingit et exiguo Pergama tota mero: „hac ibat Simois; haec est Sigeia tellus; hic steterat Priami regia celsa senis. illic Aeacides, illic tendebat Ulixes; hic lacer admissos terruit Hector equos.“ Omnia namque tuo senior te quaerere misso rettulerat nato Nestor, at ille mihi. rettulit et ferro Rhesumque Dolonaque caesos, utque sit hic somno proditus, ille dolo.692 Aber ein gerechter Gott sorgte gut für eine reine Liebe: Troia wurde in Asche verwandelt, mein Mann aber blieb unversehrt. Die griechischen Führer kehrten zurück, die Altäre rauchen. Die Beute aus dem Land der Barbaren wird vor den heimischen Göttern niedergelegt. Die jungen Frauen bringen Geschenke herbei zum Dank für die Rettung der Ehemänner; und diese besingen für ihre Angehörigen das Schicksal des besiegten Troia und die rechtschaffenen Greise und die zitternden Mädchen bewundern sie, und die Gattin hängt am Mund des erzählenden Mannes. Und einer lässt einen Tisch hinstellen und zeigt darauf die wilden Kämpfe und er malt mit ein bisschen Wein die ganze Burg von Troia: „Hier floss der Simois; hier ist das Vorgebirge Sigeum, hier stand die hochragende Königsburg des alten Priamus, dort kämpfte der Aeacide, dort Ulixes; hier jagte der zerfetzte Leichnam Hectors den dahinrasenden Pferden einen Schrecken ein.“ Denn alles hatte der alte Nestor deinem Sohn erzählt, den ich geschickt hatte, nach dir zu forschen, und jener erzählte es mir. Er erzählte auch, dass Rhesus und Dolon durch das Schwert getötet wurden, und wie der erstere durch Schlaf, der andere durch List dir ausgeliefert waren.
Stigelius bringt durch den Mund der Germania und der sprechenden Gewässer eine merkwürdig ambivalente Haltung zu Philipps Vorhaben zum Ausdruck, die von anfänglichem Entsetzen zu freudiger Beglückwünschung übergeht. Etwas von dieser Ambivalenz ist auch in der bereits erwähnten Passage aus Eobanus Hessus’ panegyrischem Epyllion zu erkennen, wo der Main mit größtem Staunen, einem Affekt von Schrecken, Ehrfurcht und jubelnder Bewunderung zugleich, auf den Durchmarsch der kampfgewaltigen Truppen reagiert, und zunächst nicht weiß, ob er seinen Lauf rückgängig machen oder beschleunigen soll.693 Tunc equitum peditumque videns tot milia in armis Obstupefactus aqua dubia stetit: an ne retrorsum Se raperet peteret ne ingentis proxima Rheni
692 Ov. her. 1, 23–40. 693 Helius Eobanus Hessus: De Victoria VVirtembergensi, V. 186–206.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
Littora: tantus erat terror victura ferentis Militis arma manu: tantos oblita stupores Corda sui traxere virum quacumque subibant Qua pedites: qua signa equites: qua castra movebant.694 [Da geriet er] beim Anblick so vieler Tausende von schwerbewaffneten Reitern und Fußsoldaten in so großes Erstaunen, daß er seine Strömung hemmte, unschlüssig, ob er zurückeilen oder zu den ganz nahen Ufern des riesigen Rheins weiterfließen sollte: so gewaltig war sein Schrecken vor dem Heer, das die siegessicheren Waffen in der Hand trug, so mächtig war das Staunen, das der selbstlose Mut dieser Soldaten überall auslöste, dort, wo sie heranrückten, und dort, wohin das Fußvolk weitermarschierte, wohin die Reiterei aufbrach.
Stigelius leitet zu einem argumentativ weniger problematischen Schlussteil über. Mit derselben prophetischen Gewissheit, mit welcher die Woge Philipps glorreiche Rückkehr angekündigt hatte, sagt Germania Philipps Ruhm bei der Nachwelt vorher.695 Einige Jahrhunderte später wird irgendein Herzog am Neckar, ein Nachkomme Ulrichs – hier fällt zum ersten Mal der Name des Herrschers, welchem Philipps kriegerische Unternehmung eigentlich gilt –, ein Lob- und Dankeslied auf den hessischen Landgrafen anstimmen, dessen Wortlaut sie zitiert. Mittels eines adynatons illustriert der Lobredner, wie eher die Naturgesetze ihre Gültigkeit verlieren – eher wird ein Wintertag einen Sommertag an Länge übertreffen, eher werden sich im Sommer Schnee, im Winter Früchte, an den Bäumen Fische, im Wasser Baumfrüchte finden – als dass man die Taten des Erretters der württembergischen Dynastie jemals vergessen könne.696 Germania selbst ergreift wieder das Wort und prophezeit, dass die Kunde von Philipps Kriegsruhm nach Italien und Spanien (solers Italus, pugnax Iberus) dringen wird, also in den Ursprungsbereich derjenigen Mächte, deren Gewalt Württemberg zu entreißen ist, und letztlich zu allen Ländern der Erde. Durch ein antizipierendes Lob legt sie nochmals dar, worauf es ihr insbesondere ankommt: Hoc tibi non solum defensio iuris & aequi Sed peperit, vires mens moderata, decus. Marte quis est unquam dextro moderantius vsus, Quis capto victor mitior hoste fuit? Perdere diffusos potuisses funditus hostes, Sed pia te ratio quae retinebat erat, Te monuit pietas, monuit dijs proxima virtus, Vt premeres irae libera frena tuae, Hac virtute nihil praeclaro in Principe maius,
694 Ebd., 200–206. 695 Fol. E 7 v. 696 Fol. E 8 r.
3.1.2 Johannes Stigelius (1515–1562): Germania ad Carolum
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Hac homines superis proxima turba sumus.697 Diesen Ruhm hat Dir nicht nur die Verteidigung von Recht und Gesetz eingebracht, sondern auch ein Gemüt, das bloße Kräfte zu zügeln weiß. Wer hat jemals mit größerer Schonung einen gerechten Krieg geführt, wer ist als Sieger milder mit einem bezwungenen Feind verfahren? Du hättest die Feinde in alle Richtungen zerstreuen und gänzlich vernichten können, aber eine fromme Gesinnung hielt Dich zurück. Dich mahnte die Frömmigkeit, die den Göttern am nächsten kommende Tugend, den freien Lauf Deines Zornes zu hemmen. Nichts ist bei einem vortrefflichen Fürsten größer als dieser Vorzug, durch diesen bilden wir Menschen eine den Himmlischen benachbarte Schar.
Philipp, als Kriegsheld gepriesen, soll in der Schlacht von seiner weithin berühmten Mäßigkeit und Milde Gebrauch machen. Während in der Heroide Germania ad Carolum unter Karls personifizierten Tugenden Justitia als sprechende Gestalt die prominente Position einnimmt, richtet sich hier der Fokus auf die (nicht allegorisierte) pietas und temperantia bzw. alles, was in irgendeiner Weise mit Zurückhaltung und Sanftmut zu tun hat. Selbst Gott, so beteuert Germania in den nächstenVersen, hält seine strafenden Blitze zurück und verzichtet auf die Rache, zu der er berechtigt wäre.698 Diese Beschwörung rekurriert deutlich auf einen Passus in Ovids Epistulae ex Ponto, nämlich aus dem Maximus-Brief,699 in welchem der Dichter seinen Freund inständig bittet, Fürsprache für ihn einzulegen bei Augustus, der langsam im Strafen (piger ad poenas), aber rasch im Belohnen (ad praemia velox) sei und großer Selbstüberwindung bedürfe, um seine Blitze zu schleudern (et iacit invita fulmina rara manu.).700 Bei genauer Betrachtung zeigt sich also, dass die gesamte Heroide zwar im Gewand eines Gratulationsschreibens erscheint, im Grunde aber auf den Kerngedanken der Mäßigung im Krieg abzielt. Zwar gehört die Mahnung zur Milde zu den konventionellen Bestandteilen der Fürstenspiegelliteratur,701 doch scheint sie hier eine besondere Funktion zu erfüllen. Stigelius befindet sich wie seine beiden großen Autoritäten Luther und Melanchthon im Konflikt zwischen der protestantischen Doktrin von der Gehorsamspflicht gegenüber der Obrigkeit (Karl V., Ferdinand) und der Parteinahme für Philipp, das andere Oberhaupt des Schmalkaldischen Bundes. Da die Wittenberger den zum Handeln entschlossenen Landgrafen nicht von seinen Plänen abhalten können, sucht Stigelius nach einer Kompromisslösung
697 Fol. E 8 r–v. 698 Fol. E 8 v. 699 Ov. Pont. 1, 2, 113–128. Maximus soll den Princeps lediglich um einen erträglicheren Verbannungsort für seinen Freund ersuchen. 700 Ebd., 126. 701 So ist einer der ersten systematischen Fürstenspiegel überhaupt, eine moraldidaktische Schrift Senecas, bekannt unter dem programmatischen Titel De clementia.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
und betreibt in seiner Heroide gewissermaßen eine „Politik der Schadensbegrenzung“. An Herzog Ulrich von Württemberg selbst ist ihm offenbar nicht viel gelegen; jedenfalls geht seine Germania auf dessen persönliches Schicksal nicht ein, sondern erwähnt ihn lediglich beiläufig als Inhaber und Ausgangspunkt einer rechtmäßig herrschenden Dynastie. Auch Eobanus Hessus betreibt in seinem Epyllion eine ausgiebige laus clementiae und rühmt in längeren Passagen Philipps Milde und Zurückhaltung in Situationen, in welchen er ohne weiteres Rachsucht oder Habgier hätte befriedigen können.702 Anders als Stigelius würdigt er Herzog Ulrich einer dreimaligen, dessen am kaiserlichen Hof erzogenen Sohn und Thronerben Christoph einer einmaligen Apostrophe,703 doch scheinen auch bei ihm Ulrichs nicht näher bezeichnete Verdienste hauptsächlich in seiner dynastischen Legitimität und seiner Verwandtschaft mit Philipp zu bestehen. Eine direkte Abhängigkeit beider Dichtungen lässt sich durch bloßen Vergleich nicht überzeugend behaupten; immerhin aber wird man bei den Autoren – beide Protestanten, beide Anhänger und Freunde Melanchthons – eine ähnliche Grundhaltung gegenüber der Württemberger Aktion voraussetzen dürfen. Mit nicht weniger stereotypen Wendungen als Karl V. oder Johann Friedrich von Sachsen in den beiden anderen Germania-Episteln wird Philipp ermahnt, als weltlicher Herrscher den bedrohten wahren Glauben zu verteidigen: Perge seceturos extendere nomen in annos, Quod facis, & decori grandius adde decus, Cumque quibus fatis videas, qua peste laboret, Debile syncerae Relligionis opus, Vt pia salvifici defendas dogmata Christi, Noveris hoc etiam muneris esse tui.704 Mache weiterhin Deinen Namen bis in die Zukunft bekannt, was Du ja schon tust, und häufe auf Deinen Ruhm den noch herrlicheren Ruhm, dass Du, wo Du ja siehst, unter welchem Geschick, unter welcher Seuche das gebrechliche Werk des Glaubens leidet, die heiligen Lehren des heilbringenden Christus verteidigst. Du sollst wissen, dass auch das Deiner Pflicht obliegt.
702 Vgl. Helius Eobanus Hessus: De Victoria VVirtembergensi, V. 334–342, 405–431. Reiches Material für eine (ebenfalls nicht bloß taktisch bedingte, sondern schon krampfhaft euphemistische) laus clementiae gegenüber einem wenig beeinflussbaren Herrscher findet sich schon durchweg in Ovids Exildichtung. Dort steht der verbannte poeta unter dem Druck, ständig den verderblichen Zorn des Austustus (ira, numinis ira) thematisieren und dessen unübertreffliche Milde gegenüber schwächeren Kontrahenten, die er ja gerade nicht erfahren hat, beschwören zu müssen. Vgl. z. B. Ov. trist. 1, 2, 59–64; 1, 5, 37–44; 5, 2, 35–38; Pont. 2, 1, 47–48. In seinen verzweifelten Bemühungen um Begnadigung durch den Kaiser schreckt er nicht einmal vor Oxymora wie mitissima Caesaris ira (trist. 1, 5, 44) zurück. 703 Ebd., V. 307–313, 435–442, 480–504. 704 Fol. E 8 v.
3.1.2 Johannes Stigelius (1515–1562): Germania ad Carolum
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Germania schließt ihren Brief mit der bemerkenswerten Aufforderung, der Landgraf solle immer siegen, um Besiegte schonen zu können, solange er für das Kreuz Christi fromme Kriege führe: Vince precor semper, victis vt parcere poßis, Dum pia Christifera pro cruce bella geris,705 Siege immer, um Besiegte schonen zu können, indem Du fromme Kriege für das Kreuz führst, welches Christus trägt.
Dabei bleibt die betreffende Ovid-Stelle präsent, wo Augustus durch seine Verdienste charakterisiert wird: Qui vicit semper, victis ut parcere posset, clausit et aeterna civica bella sera,706 der stets siegreich war, um Besiegte schonen zu können, der auch dem Bürgerkrieg ewige Schranken gesetzt,
Die gepriesene Milde bezieht sich in Philipps Fall auf kriegerische Unternehmungen. Hier zeigt sich noch einmal deutlich Stigelius’ Bestreben, diesen Feldzug, der in Wirklichkeit ein primär politischer Konflikt war und in erster Linie das Verhältnis zwischen dem aufgrund seiner burgundisch-spanischen Herkunft und Regierungsweise als fremd empfundenen Kaiser und den alteingesessenen Dynastien der Territorialherrscher betraf, zu einem „frommen“ Krieg, einer Verteidigung der wahren Lehre Christi umzudeuten. Insgesamt lässt sich bei den drei Germania-Heroiden des Stigelius Folgendes beobachten: Alle drei sind an einen Herrscher gerichtet und beziehen sich auf einen konkreten Anlass. Sie weisen formale Ähnlichkeiten auf: Germania hebt ihre „teutonische“ Identität hervor und distanziert sich ausdrücklich von einer als „welsch“ bzw. „hesperisch“ bezeichneten Kultur. In allen drei Fällen dient Ovids Penelope-Heroide als bevorzugtes Referenzmodell. Stigelius verfährt nach dem Prinzip der Multiperspektivität, indem er Germania über längere Passagen hinweg jeweils drei andere Sprecherinstanzen zitieren lässt. Dabei erfüllt jeweils einer dieser drei Sprecher eine in die Zukunft weisende gratulatorische Funktion und trägt vor einer versammelten Menge eine Dankesrede oder einen vorweggenommenen Nachruf auf den noch lebenden Herrscher vor. In allen drei Fällen appelliert Germania durch antizipierendes Lob an den Adressaten, seiner besonderen Rolle als Verteidiger des Wortes Christi gerecht zu werden. In der Epistel an Johann Friedrich unternimmt sie einen klar erkennbaren, in den beiden
705 Ebd. 706 Ov. Pont, 1, 2, 123–124.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
anderen Episteln einen subtileren Versuch, den Kaiser als Oberhaupt des Reiches den Anhängern der lutherischen Lehre (gegen den Papst) an die Seite zu stellen. Hinter der Figur der Germania verbirgt sich also bei Stigelius das Bemühen, eine „antihesperische“, d. h. vor allem antipäpstliche Solidarität zwischen dem Kaiser und den beiden protestantischen Landesherren zu suggerieren.
3.1.3 Michael Helding (Sidonius) (1506–1561) Epistola Germaniae (1530) [Epistola Germaniae ad suos Principes, ut tandem necessarium contra Turcas bellum, positis domi dissensionibus, suscipiant (1530).] Michael Helding gilt als bedeutender Vertreter des Reformkatholizismus in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts.707 Er wird bisweilen dem Mainzer Reformkreis, einer bibelhumanistisch orientierten Bewegung, zugeordnet. An seinem Leben lässt sich ein für die damalige Zeit eher ungewöhnliches Phänomen exemplifizieren, nämlich der Aufstieg aus einfachsten Verhältnissen zu hohen geistlichen Würden. 1506 in Langenenslingen bei Riedlingen in Schwaben als Sohn eines Müllers geboren, absolvierte Helding zunächst die Lateinschule in Riedlingen und studierte ab 1525 die artes liberales an der Universität Tübingen, wo er wahrscheinlich zum ersten Mal mit dem Humanismus in Berührung kam. Pfingsten 1527 erlangte er den Baccalaureus- und Weihnachten 1528 den Magistergrad.708 Seine erste wichtige Wirkungsstätte für mehrere Jahre wurde Mainz, damals „eine Hochburg der Humanisten und Juristen“.709 Für die Zeit von Juli 1529 an verlieren
707 Maßgeblich zu Leben und Werk. Erich Feifel: Grundzüge einer Theologie des Gottesdienstes. Motive und Konzeption der Glaubensverkündigung Michael Heldings (1506–1561) als Ausdruck einer katholischen „Reformation“. Freiburg im Breisgau 1960 (Untersuchungen zur Theologie der Seelsorge 15); Erich Feifel: Der Mainzer Weihbischof Michael Helding (1506–1561). Zwischen Reformation und katholischer Reform. Wiesbaden 1962 (Institut für europäische Geschichte Mainz. Vorträge. 33); Heribert Smolinsky: Michael Helding (1506–1561). In: Erwin Iserloh (Hrsg.): Katholische Theologen der Reformationszeit. Bd. 2. Münster 1985, S. 124–136; Peter Seidel: Michael Helding (1506–1561). Ein Bischof im Dienst von Kirche und Reich. Münster 2012 (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 157); Clemens Brodkorb: Art. Helding, Michael (1506–1561). In: Erwin Gatz (Hrsg.): Die Bischöfe des Heiligen Römischen Reiches 1448–1648. Ein biographisches Lexikon. Berlin 1996, S. 277–280; Ernst Reiter: Art. Michael Helding. In: TRE. Bd. 15, S. 15–16; Johann Anselm Steiger: Art. Helding, Michael. In: Killy / Kühlmann. Bd. 5, S. 238–239. 708 Smolinsky, S. 125; Art. Helding (TRE), S. 15; Brodkorb, S. 277. 709 Feifel: Grundzüge einer Theologie, S. 12.
3.1.3 Michael Helding (Sidonius) (1506–1561): Epistola Germaniae
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sich seine Spuren;710 ab 1531 tritt er jedenfalls wieder in Erscheinung als Rektor der Mainzer Domschule.711 1533 stieg er zum Dompfarrer auf, 1537 ernannte ihn Kardinal Albrecht von Brandenburg zum Weihbischof. Im folgenden Jahr erhielt er von Papst Paul III. in partibus infidelium das Titularbistum Sidon, was ihm den gelegentlich gebrauchten Beinamen Sidonius eintrug. Im September 1543 wurde Helding im Stift Haug in Würzburg von der Mainzer Universität zum Doktor der Theologie promoviert.712 Möglicherweise kam er Mainz sogar mit Erasmus in Kontakt. Große Verdienste erwarb er sich als Prediger und als Mitgestalter der Mainzer Kirchenpolitik, indem er trotz aller Treue zum Katholizismus eine irenische Haltung bekundete und maßgeblich auf die Vermittlung zwischen altgläubigen und protestantischen Christen hinarbeitete. Ab 1540 nahm Helding regelmäßig an Religionsgesprächen teil, womit er sich auch langfristig die Dankbarkeit und Anerkennung Karls V. erringen sollte. So reiste er 1545 als einziger deutscher Prälat zur Eröffnung des Konzils von Trient, wurde allerdings nach kurzer Zeit schon vom neuen Mainzer Erzbischof Sebastian von Heusenstamm nach Mainz zurückberufen. Gemeinsam mit anderen namhaften katholischen Theologen wie z. B. Julius Pflug war er 1547/1548 im Auftrag des Kaisers in Augsburg mit der Ausarbeitung des Interims betraut.713 Auch wenn er dabei in einigen Punkten den Protestanten weit entgegenkam, ging es ihm stets um eine Erneuerung und Vertiefung römisch-katholischer Glaubenspraxis, was sich in seiner besonderen Bemühung um den liturgischen Bestandteil der Predigt niederschlug, die ihm weithin Anerkennung einbrachte.714 1550 trat er, ebenfalls auf kaiserlichen Wunsch hin, das Bischofsamt im weithin protestantischen Merseburg an. Dabei musste er zunächst einer Delegation von Abgeordneten des Kapitels eine grundsätzliche Duldung der bereits vorgenommenen protestantischen Neuerungen versprechen.715 Behutsame Versuche, durch Predigten, liturgische Reformen und eine umsichtige Personalpolitik seine Umgebung zu rekatholisieren, scheiterten ebenso wie die Durchsetzung des Interims.716 Zunehmende Spannungen zwischen Kaiser und Fürsten boten dem Bischof Anlass zur Sorge um den Frieden im Reich, eine Situation, die er in seinen Predigten gern anhand des alttestamentarischen Propheten Jona erläuterte. So wie Jona auf der Schiffsreise anfangs das drohende Unwetter unterschätze, argumentierte er, so ignorierten die deutschen
710 Smolinsky, S. 125; P. Seidel: Michael Helding, S. 18. 711 Art. Helding (TRE), S. 15; Art. Helding (Killy / Kühlmann), S. 238. 712 Brodkorb, S. 277. 713 Art. Helding (TRE), S. 15; Art. Helding (Killy / Kühlmann), S. 238 f.; Brodkorb, S. 277. 714 Brodkorb, S. 278. 715 P. Seidel: Michael Helding, S. 99. 716 Art. Helding (TRE), S. 15; P. Seidel: Michael Helding, S. 101.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
Herrscher die Gefahr von inneren Konflikten und äußerer Bedrohung.717 Heftig angefeindet wurde er – wie andere bedeutende Theologen auch – von dem für seine Polemik allerorts bekannten und berüchtigten Gnesiolutheraner Matthias Flacius Illyricus.718 Helding förderte Merseburg nach Kräften durch rege Baumaßnahmen, Wohltätigkeit und umsichtige Verwaltung, war allerdings zum Nachteil seiner Bemühungen oft abwesend.719 Als er 1552 zum zweiten Mal zum Konzil nach Trient aufbrach – es war das Jahr des protestantischen Fürstenaufstandes–, wurde er unterwegs von Wilhelm von Hessen, dem Sohn des Landgrafen Philipps des Großmütigen, gefangen genommen und mehrere Monate im Feldlager festgehalten. Möglicherweise war er als Geisel zum Austausch für Philipp vorgesehen, welchen Karl V. im Schmalkaldischen Krieg besiegt hatte und seitdem in Arrest hielt. Erst durch die Intervention des neuen Kurfürsten Moritz von Sachsen wurde Helding schließlich freigelassen.720 Von 1555 bis 1557 nahm er als Vertreter der katholischen Seite an Reichstagen und Religionsgesprächen teil (Augsburg, Regensburg, Worms). Auch nach der Abdankung Karls V. versah der Bischof noch seine letzten Ämter im Dienst der Habsburger. Auf Betreiben Ferdinands, der von seinem Bruder die Kaiserkrone übernommen hatte, wirkte er ab 1558 als Richter am Reichskammergericht in Speyer und ab 1561 als Vorsitzender des Reichshofrats in Wien. Noch im selben Jahr brach er ein drittes Mal nach Trient auf, erkrankte unterwegs aber, starb am 30. September in Wien und wurde im Stephansdom beigesetzt. Er war der letzte katholische Bischof von Merseburg.721 In der Forschung wird Helding ausschließlich als Theologe, insbesondere als Wegbereiter einer vortridentinischen innerkirchlichen Reform, wahrgenommen und gewürdigt: Außer einer während seiner Mainzer Lehrtätigkeit verfassten kleinen Schrift über die lateinische Prosodie, die sich an Ulrich von Huttens De arte versificandi anlehnt,722 und eines aus drei Gedichten bestehenden Druckes mit dem Titel Epistola Germaniae ad suos Principes […]723 finden lediglich seine theologischen Werke Erwähnung.724 Die Unterweisung seiner Gläubigen in Predigten und Katechismus, Vermittlung bei zahlreichen Religionsgesprächen und theologische Beratung von Karl V. und Ferdinand I. stehen im Zentrum seines
717 P. Seidel: Michael Helding, S. 101. 718 Ebd., S. 342; Smolinky, S. 129 f. 719 Brodkorb, S. 279. 720 P. Seidel: Michael Helding, S. 98. 721 Brodkorb, S. 279. 722 Feifel: Grundzüge einer Theologie, S. 11 f. 723 P. Seidel: Michael Helding, S. 18. 724 Feifel: Grundzüge einer Theologie., S. 12, Anm. 17 spricht immerhin von einem verschollenen Carmen Heldings.
3.1.3 Michael Helding (Sidonius) (1506–1561): Epistola Germaniae
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Wirkens. Der zum Bischof und Fürsten von Merseburg aufgestiegene Sohn eines Müllers vermochte selbst Ferdinand zu beeindrucken, wie aus ihrem Briefwechsel klar hervorgeht.725 Erich Feifel resümiert: „So hat er denn auch nicht als Humanist, sondern als Theologe Bedeutung gewonnen, freilich als Theologe, der unter dem Einfluß des humanistischen Bildungsideals zum Vertreter des Reformkatholizismus wurde. Als Frucht eines neu erwachten historischen Sinnes sind die Hinwendung zur Bibel und die Hochschätzung der Patristik zwei wesentliche Komponenten der vom Humanismus geformten Theologie.“726 Für die Entstehung von Heldings 1530 in Mainz gedruckter Sammelschrift Epistola Germaniae ad suos Principes, ut tandem necessarium contra Turcas bellum, positis domi dissensionibus, suscipiant727 ist kein biographisch bedingter Anlass bekannt.728 Zu dieser Zeit muss sich der Autor, damals 24 Jahre alt, im Besitz des Magistergrades und vielleicht in irgendeiner Lehrfunktion tätig,729 entweder noch in Tübingen oder schon in Mainz aufgehalten haben; jedenfalls stand er noch vor Beginn seiner klerikalen Karriere. Da nicht dokumentiert ist, ob er schon damals der Theologie zuneigte, ist es fraglich, ob man für die Abfassung des Textes eine bestimmte religionspolitische Haltung voraussetzen darf. Die Schrift, einem (vielleicht erst noch zu gewinnenden) Gönner namens Hieronymus Lamparter von Gryphenstein gewidmet – Doktor der Rechte, Probst von Mosbach, Kanoniker in Köln und Konstanz –, ist benannt nach ihrem ersten Teil, einer Heroide mit dem Untertitel Germania universis suis Principibus Salutem dicit, darauf folgen ein Hodoeporicon, welches den Weggang Lamparters aus Tübingen zum Gegenstand hat, und ein Epithalamium für einen nicht namentlich genannten Freund. Die Motive für die dichterische Betätigung legt Helding, wie zu seiner Zeit üblich, in einer von panegyrischen Topoi dominierten Widmungsvorrede dar. So lässt er den Adressaten wissen, dass ihn einige Tage zuvor eine Rede von dessen Kollegen Hartmann Maurus, einem Assessor am Reichskammergericht, über die Notwendigkeit der Türkenabwehr durch die deutschen Reichsfürsten dazu angeregt habe, seine eigenen poetischen Fähigkeiten an demselben Gegenstand zu erproben. Als sein Versuch (conatus) auf eine große Anzahl an Versen
725 P. Seidel: Michael Helding, S. 362. 726 Feifel: Grundzüge einer Theologie, S. 13. 727 Im Folgenden kurz Epistola Germaniae ad suos Principes genannt. 728 A. Schmidt: Vaterlandsliebe und Religionskonflikt, S. 242, Anm. 153 zählt im Zusammenhang mit der Türkengefahr Gedichte mit einer allegorisierten Germania als Sprecherin oder Empfängerin auf. Heldings Schreiben findet sich darunter nicht. Zudem ist es weder als Heroide bei Dörrie: Der heroische Brief noch als Türkendruck bei Göllner vermerkt. 729 Es handelt sich dabei um die nicht dokumentierte Phase seines Lebens. Nach Art. Helding (TRE), S. 15 ist von einer (nicht näher bezeichneten) Lehrtätigkeit auszugehen.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
angewachsen sei, habe er ihn einigen gelehrten Freunden vorgelegt und deren Beifall gefunden. Sie hätten ihn sogar zur Veröffentlichung gedrängt. Lamparter als unermüdlicher Förderer der Künste möge das bescheidene Geschenk, die noch rohe Frucht seines Geistes gnädig aufnehmen, nicht etwa als angemessenen Lohn für all seine reichlich erwiesenen Wohltaten, sondern als kleines Unterpfand für künftige größere Leistungen.730 Die Epistola Germaniae ad suos Principes ist also schon paratextuell als Aufruf zur Eintracht unter den Reichsfürsten und als Türkenkriegsparänese ausgewiesen und stellt ebenso wie Georg Sabinus’ 1529 publizierte Heroide Germa nia ad Caesarem Ferdinandum einen allegorisch-poetischen Beitrag zur Literatur der Turcica dar.731 Diese Literatur konnte 1530 eine besondere Aktualität für sich beanspruchen: Zum einen hatte Europa schon zahlreiche Gebiete an die Osmanen verloren, zum anderen war es erst ein Jahr zuvor gelungen, deren Vorstoß auf Wien abzuwehren und sie in die Flucht zu schlagen, was allerdings die Furcht vor weiteren Angriffen kaum minderte. Zahlreiche Lieder, die in den folgenden Jahren entstanden, nehmen Bezug auf die Belagerung von 1529. Heldings Epistola Germaniae ad suos Principes ist trotz ihres beträchtlichen Umfangs von 546 Versen (273 Distichen) weit weniger aufwendig gestaltet als etwa die Heroiden der Melanchthonschüler Sabinus und Stigelius, verzichtet auf eine kohärente Fiktion, aus der sich eine Art „Handlung“ rekonstruieren ließe,732 und setzt sich aus zahlreichen Wiederholungen einiger weniger Argumentationsmuster zusammen. Die für die Gattung der Heroiden konstitutive monoperspektivische Darstellung mit Germania selbst als sprechender Instanz bleibt insofern fast durchgehend gewahrt, als sie lediglich von einer einzigen Binnenrede unter-
730 HABES HIC, ORNATISSIME Hieronyme, meam imo Germaniae Epistolam qua ad suscipiendum necessarium contra Turcas bellum, omißis domi intestinis tumultibus Germani principes, sollicitantur. Admonuit me D. Hartmanni Mauri nostri, adfinis tui, Imperialis iudicij adsessoris, hominis eruditißimi Oratio, qua superioribus diebus hoc ipsum bellum Germaniae principibus & graviter & eleganter suasit, ut eodem argumento ingenij mei vires periclitarer, id cum audacius attentassem, & iam in multum numerum excrevissent versus, ostendi amicis quibusdam meis non indoctis, qui, combrobato conatu, ad aeditionem me hortari occeperunt, promittentes […] Spem autem facit ingens tuum in provehendis cum literis, tum literarum cultoribus studium, ut hoc qualecumque munus meum tibi fore non ingratum putem. Nec tamen tanti aestimo, ut illo aliquam mihi videar tuorum in me meritorum partem assecutus, sed ut arrabonem apud te relinquam, dum alio, & te digno munere iustum tibi debitum persolvero. 731 In Göllners maßgeblichem Verzeichnis der Türkendrucke aus dem 16. Jahrhundert ist es jedoch nicht aufgeführt. 732 Als Beispiel dafür wären die Stigelius-Heroiden zu nennen, die sich auf ein bestimmtes zentrales Ereignis konzentrieren wie den kaiserlichen Einzug in Deutschland, die Einladung zu einem Konzil in Mantua oder den Feldzug zur Wiedereinsetzung Ulrichs von Württemberg.
3.1.3 Michael Helding (Sidonius) (1506–1561): Epistola Germaniae
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brochen wird.733 Die Adressaten des Briefes werden ausschließlich als Proceres oder Nati angesprochen und an keiner Stelle näher bezeichnet. Den Text dominieren regelmäßig wiederkehrende Kriegsappelle. Diese werden argumentativ gestützt durch lange deskriptive Passagen, die äußerst drastische Schilderungen von türkischen Gräueltaten wie auch mahnende Rückverweise auf eine idealisierte germanisch-deutsche Vergangenheit enthalten. Teils eigene Abschnitte von mehreren Versen bildend, teils eng mit den direkten Appellen verflochten, durchziehen den Text auf Emotionalisierung abzielende Klagen der Germania, die der Autor in besonderer Anlehnung an ovidische Modelle formuliert. Da der Heroide keine auf ein spezielles Ereignis konzentrierte Fiktion zugrunde liegt, die sich zu einer kohärenten paraphrasierenden Darstellung eignet, sollen hier stattdessen die argumentativen Strategien und die affektive Beeinflussung des Lesers im Zentrum stehen. Die mit Germanias Worten intendierten Affekte lassen sich grob unterteilen in Erbarmen mit dem notleidenden Vaterland und Angst vor dem drohenden Feind. Die drastische Ausmalung der türkischen Gräueltaten soll einen gewissermaßen „produktiven“ Schrecken erzeugen, eine Furcht, die nicht lähmt, sondern zum Verteidigungskampf anspornt. Zunächst sei die für den Beginn einer Heroide konstitutive captatio misericordiae in den Blick genommen. Germania weist bei der Eröffnung ihres Briefes darauf hin, dass man bereits vom äußeren Zustand des Büchleins, welches ihr Schreiben enthält, leicht auf ihre eigene Situation schließen könne. Eine prachtvolle und farbenfrohe Gestaltung dürfe man nicht erwarten; eine solche zieme sich nur für Bücher glücklichen Inhalts: Si quae nunc miseram maneat Fortuna rogatis, Hanc liber ornatu vos docet iste suo. Candida non geminas exornant cornua fronte, Nec latera omnimodis sunt variata notis. Pagina nec rutilo tenuis praecingitur auro, Felices cultus nam decet iste libros.734 Wenn Ihr nun fragt, welches Schicksal mir Armer bevorsteht, dann wird Euch dieses Buch durch seine Aufmachung darüber belehren. Keine strahlend weißen Knöpfe verzieren die Stirnseiten, und die Seiten sind nicht geschmückt mit Zeichen aller Art. Auch wird das zarte Blatt nicht von rötlichem Gold eingefasst, denn eine solche Aufmachung ziemt sich für glückliche Bücher.735
733 Vgl. dagegen die drei Heroiden des Stigelius, in welchen Germania in nicht geringem Umfang die Reden anderer Gestalten zitiert. 734 Fol. A 3 r. 735 Übersetzung T. B.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
Sie rekurriert dabei auf die Eröffnung von Ovids Tristien, wo der in Verbannung lebende Dichter wehmütig sein soeben fertiggestelltes Büchlein anspricht und auf die Reise nach Rom schickt mit der Anweisung, dass die schmucklose äußere Aufmachung der seelischen Verfassung seines unglücklichen Schöpfers entsprechen soll: vade, sed incultus, qualem decet exulis esse; infelix habitum tempores huius habe. nec te purpureo velent vaccinia fuco – non est conveniens luctibus ille color – nec titulus minio, nec cedro, nec charta notetur, candida nec nigra cornua fronte geras. felices ornent haec instrumenta libellos: fortunae memorem te decet esse meae. nec fragili geminae poliantur pumice frontes, hirsutus sparsis ut videare comis. neve liturarum pudeat; qui viderit illas, de lacrimis factas sentiet esse meis.736 Geh denn, doch bar des Schmucks, wie es ziemt einem Buch des Verbannten: leidvoll trage das Kleid, das diesem Schicksal gemäß! Saft des Rittersporns soll dich mit purpurnem Glanz nicht umgeben, da diese Farbe ja doch sich für die Trauer nicht schickt. Ziere Zinnober den Titel dir nicht, das Papier nicht die Zeder! Trag’ nicht an schwarzer Stirn strahlende Hörner zur Schau! All diese Mittelchen mögen die glücklichen Bücher verschönen: Dir aber ziemt es, gedenk meines Geschickes zu sein. Brüchiger Bimsstein soll dir die beiden Ränder nicht glätten, daß du recht struppig erscheinst wie mit verworrenem Haar. Brauchst dich auch nicht deiner Flecke zu schämen: es wird dann ein jeder, der sie erblickt hat, sehn, daß ich beim Schreiben geweint!
Eine weitere geistreiche Umformung dieses ovidischen Motives besteht in dem Gedanken, Germania äußern zu lassen, Tränenfluten hätten den letzten Fuß ihrer ursprünglich als Hexameter konzipierten Verse hinweggespült:
736 Ov. trist. 1, 1, 3–14. Vgl. auch Ov. trist. 3, 1, 3–18.
3.1.3 Michael Helding (Sidonius) (1506–1561): Epistola Germaniae
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Cum volui numeris aequales claudere versus, Extremos lacrimae praepedivere sonos.737 Wenn ich die Verse in gleichmäßigem Versmaß beschließen wollte, hemmten mir Tränen die letzten Füße.
Das dritte Buch der Tristien eröffnet Ovid durch eine direkte Rede des nach Rom geschickten Büchleins. Dort legt es selbst Rechenschaft ab für sein Versmaß, welches nach wie vor dem Gemütszustand seines Herrn entsprechen soll: inspice quid portem: nihil hic nisi triste videbis, carmine temporibus conveniente suis. clauda quod alterno subsidunt carmina versu, vel pedis hoc ratio, vel via longa facit;738 Sieh doch zu, was ich bringe! Du wirst nur Trauriges finden, da seine Dichtung ja doch seinen Geschicken entspricht. Daß diese Dichtungen hinkend mit zweierlei Versen einhergehn, kommt von des Versmaßes Art oder der Weite des Wegs.
Es begründet seinen ungleichmäßigen Gang, das Hinken im Wechsel zwischen Hexameter und Pentameter, zum einen (poetologisch korrekt) mit der speziellen Dichtungsgattung, der Elegie (pedis ratio), zum anderen (in einer ironischen Wendung ins Anthropomorphe) mit der buchstäblich aufzufassenden Erschöpfung der Füße durch die lange beschwerliche Reise. Heldings Germania indes kombiniert den bei Ovid sowohl in den Heroiden als auch in der Exildichtung mehrfach begegnenden Topos von der Befleckung des Papiers durch die Tränen des Schreibers/der Schreiberin mit dem ebenfalls ovidischen Topos der (witzigen) illusionsbrechenden Rechtfertigung für das unerwartete elegische Versmaß. So ist es also nicht nur die bloße Gemütsregung, sondern vor allem die daraus resultierende materielle Schädigung des Papiers, welche Germania unfähig macht, vollständige (hexametrische) Verse zu schreiben. Helding spielt wie Ovid mit der (nicht eindeutigen) Definition von „Elegie,“739 und führt deren Ursprung darauf zurück, dass sie durch Tränenflecken von der epischen Poesie zur Trauerdichtung geworden sei. Einem weiteren Versuch der Affektsteuerung dient Germanias Hinweis auf ihre von Leid entstellte äußere Erscheinung, die alle typischen Merkmale einer Trauernden aufweist: zerrauftes, wirr von den Schultern hängendes Haar, glanz737 Fol. A 3 r. Im Text praepeduere. Diese fehlerhafte Perfektform dürfte auf einen Druckfehler zurückgehen. Vermutlich wurde das i von praepedivere übersehen, und eine konsequente Unterscheidung von u und v hatte sich zu dieser Zeit noch nicht durchgesetzt. 738 Ov. trist. 3, 1, 9–12. 739 Ovid liebt derartige Spiele, vgl. am. 1, 1 und 3, 1.
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lose Augen, verweintes Gesicht, zerrissenes Gewand, Schlagen der nackten Brust mit den Händen. Ihr Anblick, so versichert Germania, könnte die Adressaten, sofern sie kein Herz aus Stein (ferrea corda) haben, zum Weinen bringen: Si mea desertae quae sit, videatis, imago, Immadeant, ni sint ferrea corda, genae.740 Wenn Ihr sehen könntet, welches Bild ich in meiner Verlassenheit abgebe, würden Eure Wangen nass, sofern Eure Herzen nicht von Eisen sind.
Sie reiht sich somit in die Tradition der ovidischen Heroinen ein, welche ebenfalls in dieser Weise an ihre Partner appellieren.741 Ebenso befindet sie sich in einer Situation der Gefahr und Verlassenheit. Den Adressaten wird somit die Rolle eines wankelmütigen Helden, beispielsweise des Theseus zugewiesen, der ja immerhin zur Befreiung seiner Heimat von dem grauenhaften Tribut an Minotaurus nach Kreta gekommen war, dann auf dem Rückweg aber seine Retterin im Stich gelassen hatte. Germania begnügt sich nicht mit einer Schilderung ihres äußeren Zustandes, sondern legt auch detailliert ihre zwiespältigen Empfindungen dar als ein Wechselspiel zwischen Furcht und Hoffnung. Den Grund ihrer Besorgnis leitet sie explizit aus einer befremdlichen Verhaltensweise der angesprochenen Fürsten her, nämlich aus deren Zögern: Spes subit hinc animos cunctando restitui rem, Atque aliquod pretium forsan inesse morae.742 Dann beschleicht mich die Hoffnung, durch Zögern könne das Gemeinwesen743 wiederhergestellt werden, und in Eurem Zögern liege vielleicht irgendein Gewinn.
Hier lässt Helding durch den Mund seiner Germania einen berühmten Ennius-Vers ins Negative verkehren, der schon in der Antike zum geflügelten Wort avanciert war und in meist geringfügiger Variation tradiert wurde: Unus homo nobis cunctando restituit rem (fr. 363 Skutsch)744 Ein einziger Mann stellte uns durch Zaudern wieder das Gemeinwesen her.
740 Fol A 5 r. 741 Vgl. z. B. Ov. her. 10, 133–134 (Ariadne an Theseus); her. 4, 175–176 (Phaedra an Hippolytus). 742 Fol. A 5 v. 743 Es handelt sich hier wohl um ein Spiel mit den Bedeutungen von res – Sache, Lage, Angelegenheit und res publica – Gemeinwesen. 744 Otto Skutsch: The Annals of Q. Ennius. Edited with introduction and commentary by Otto Skutsch. Oxford 1985, S. 102 f.; S. 529 ff. (Kommentar).
3.1.3 Michael Helding (Sidonius) (1506–1561): Epistola Germaniae
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Mit diesem Hexameter, als Zitat mehrfach überliefert bei Cicero und späteren Autoren,745 würdigt der altrömische Dichter Ennius (239–169 v. Chr.) im zwölften Buch seiner Annalen, dem größten lateinischsprachigen Epos vor Vergils Aeneis, heute immerhin noch fragmentarisch erhalten, den zu seiner Zeit zunächst umstrittenen Feldherrn Q. Fabius Maximus Cunctator (gestorben 203 v. Chr.). Dieser war im Zweiten Punischen Krieg (218–201 v. Chr.) mit der Abwehr des bereits nach Italien eingedrungenen Hannibals betraut, verfolgte aber dessen Aktionen scheinbar untätig und ließ sich von ihm kaum jemals zu einer offenen Feldschlacht provozieren. Indem er, obwohl für sein vermeintliches Zaudern gescholten, beharrlich an seinen defensiven Maßnahmen und seiner wenig spektakulären Zermürbungsstrategie festhielt, trug er letztlich dazu bei, dass Rom nicht Karthago zum Opfer fiel. Vielleicht schon während des Krieges, vielleicht auch erst nach seinem Tod erhielt er den ehrenden Beinamen Cunctator (Zauderer) und wurde zum Muster für weise Zurückhaltung und besonnene Kriegsführung stilisiert.746 Es spricht einiges dafür, dass schon die betreffende rühmende Erwähnung dieses Feldherrn bei Ennius als Legitimation für die umstrittene Kriegsstrategie eines anderen, späteren, dienen soll.747 Helding ist nicht der erste, der innerhalb der Heroidendichtung seine Heroine dieses beliebte Diktum vom staatserhaltenden Zaudern in kritischer Weise aufgreifen, zum Vorwurf ummünzen und zum Ausgangspunkt einer langen psychologischen Reflexion machen lässt. Schon Huttens Italia klagt ihrem Maximilian: Spes sedet. Hanc per te cunctando restitui rem, Quae nunc Fortuna concutiente labat.748 Die Hoffnung stockt, dass das Gemeinwesen durch Dich wieder hergestellt werden kann, die Hoffnung, welche hinfällig wird, wo Fortuna alles erschüttert.
Heldings Germania versucht, das ihr rätselhafte Zögern der Fürsten vor sich selbst als besondere Kriegstaktik zu rechtfertigen und illustriert diesen Gedanken durch mehrere Gleichnisse. Wer den Fisch durch wiederholtes Spiel mit seiner Angel täusche, könne ihn umso besser fangen. Ein lange Zeit in den Wolken aufgestauter Regen, falle in desto stärkerem Guss. Steine, die man lange in der Hand
745 Cic. Cato 10; Cic. off. 1, 84; Verg. Aen. 6, 846; Liv. 30, 26, 9; Ov. fast. 2, 240–242; Sen. benef. 4, 27, 2; Suet. Tib. 21. Zu diesen und weiteren Belegen vgl. Skutsch, S. 529; Kudla: s.v. Staat, Nr. 2692. 746 Vgl. Skutsch, S. 530 f. 747 Ebd. Skutsch hält es für plausibel, dass Ennius angesichts des Ligurischen Feldzugs von 181 v. Chr. eine verehrte Persönlichkeit seiner eigenen Zeit, den nachmals berühmten Feldherrn Aemilius Paullus, den leiblichen Vater von Scipio Africanus dem Jüngeren, gegen den Vorwurf mangelnder Angriffslust verteidigt. 748 Ulrich von Hutten: Italia Maximiliano, V. 19–20.
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geschwungen habe, könnten dem Gegner schwerere Verletzungen zufügen.749 Die Prognose, dass Strafe oder Rache, je später sie eintreffe, desto schrecklicher ausfalle, begegnet in Bezug auf lange verschmähte Liebe bzw. auf Missachtung der Liebesgötter (Amor, Venus) bei Ovid (und den Vertretern der römischen Liebeselegie) allerorts750 und wird hier auf die militärische Auseinandersetzung mit dem Vaterlandsfeind übertragen. Dennoch muss Germania sich eingestehen, einer Selbsttäuschung unterlegen zu sein.751 Als Mutter der Proceres formuliert sie Grundsätze, nach welchen Sohnesliebe und Bereitschaft zur Abwehr des türkischen Aggressors miteinander einhergehen: Ergo agite, afflictae si vos tenet vlla Parentis Cura, nec adverso tempore cessit amor, Nunc proceres properate meam retinere salutem, Vestra simul pereat, qua nisi stante salus. Aut ferus interimet, nisi vos defenditis, hostis, Aut premet indignas dura cathena manus. Hostis adest, Nati, quin iusta capessitis arma? Non sum militiae caussa pudenda Parens.752 Jetzt, Fürsten, handelt also, sofern Euch das Leid der Mutter noch irgend kümmert und die Liebe in Unglückszeiten noch nicht geschwunden ist, jetzt beeilt Euch, mein Wohlergehen zu wahren: Wenn meines keinen Bestand hat, geht zugleich wohl auch Eures zugrunde. Wenn Ihr Euch nicht verteidigt, wird entweder der wilde Feind Euch töten oder eine harte Kette Eure unschuldigen Hände drücken. Söhne, der Feind ist da! Warum ergreift Ihr nicht, wie es recht wäre, Eure Waffen? Ich bin Eure Mutter, für die einen Krieg zu führen, keine Schande bringt.
Als entscheidend erweist sich hierbei einerseits die unauflösliche Verflechtung des Geschickes der Adressaten mit dem der Schreiberin, andererseits aber auch die Behauptung, das Vaterland sei keine caussa pudenda753 für einen Waffengang. Wenn selbst dem Atriden Menelaos ein griechisches Mädchen und einem Landmann gestohlenes Vieh einen Krieg wert seien, so lautet die folgende Argumentation, wird dann der Schutz der Patria keinen besseren Grund abgeben?:
749 Fol. A 5 v–A 6 r. 750 Vgl. z. B. Prop. 1, 7, 25–26; .Ov. her. 4, 19–26 (Phaedra an Hippolytos) nach dem Vorbild von Euripides’ Tragödie Hippolytos. 751 Fol. A 6 r. Sed misera experior quam me spes ludat inanis,/ Et subeant animos gaudia uana meos./ Dum moror auxilio nec quicquam intenta meorum,/ Dilanior foedis praeda relicta uiris. 752 Fol. A 3 v. 753 Vgl. Ov. her. 5, 98 (Oenone an Paris): causa pudenda tua est; iusta vir arma movet.
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Hostis adest, Nati quin iusta capeßitis arma? Non sum militiae caussa pudenda Parens. Si fuit Atridae, per mille pericula, bello Digna decennali Graia puella peti, Et cui de stabulis hostes armenta tulerunt Concitat armatos in fera bella viros. Vos capere arma Viri caussa meliore pigebit? Ne ferat externum Patria terra iugum.754 Söhne, der Feind ist da! Warum ergreift Ihr nicht, wie es recht wäre, Eure Waffen? Ich bin Eure Mutter, für die einen Krieg zu führen, keine Schande bringt. Wenn dem Atriden ein griechisches Mädchen so viel wert war, dass er es in einem zehnjährigen Krieg durch tausend Gefahren zurückerobern wollte, und wenn jemand, dem die Feinde Vieh aus den Ställen gestohlen haben, bewaffnete Männer zu grausamen Kriegen antreibt, wird es Euch Männer da verdrießen, aus einem besseren Grunde die Waffen zu ergreifen, damit das Vaterland kein Joch von außen erhält?
Formulierungen wie caussa non pudenda, caussa melior, pia cura Parentis charakterisieren die Solidarität mit dem Vaterland. Helding folgt ganz der Reichstagsoratorik seiner Zeit. Je stärker der jeweilige Autor (durch den Mund seiner allegorischen Heroine) darauf insistiert, der Türkenfeldzug sei ein Verteidigungskrieg pro patria, desto größer sind die Chancen, einen Konsens aller Untertanen, katholischer und protestantischer, zu erreichen. Während Luther und seine Anhänger mit Sündenablass und Märtyrerlohn lockende Kreuzzüge unter der Führung oder zumindest maßgeblichen Mitwirkung der römischen Kirche scharf ablehnten, brachten sie dem rein weltlich aufzufassenden Anliegen der Vaterlandsverteidigung, einer dem Kaiser und seinen Truppen obliegenden Aufgabe, große Sympathie entgegen. Auch pazifistisch wiedertäuferische oder naturrechtliche Konzepte ließen sich mit dem Gedanken der defensio in Einklang bringen.755 Alexander Schmidt erkennt „eine tendenzielle Nationalisierung der Türkenabwehr im Verhältnis zur spätmittelalterlichen Türken- und Kreuzzugspropaganda.“756 Wie viele andere Autoren lässt Helding seine Heroine den Appell zur Vaterlandsliebe mit 754 Fol. A 3 v–A 4 r. Inhaltlich, wenn auch weniger dem Wortlaut nach, vgl. Ov. her. 7, 15–20 (Hermione an Orest): At tu, cura mei si te pia tangit, Oreste,/ inice non timidas in tua iura manus!/an siquis rapiat stabulis armenta reclusis,/ arma feras, rapta coniuge lentus eris?/ sit socer exemplo nuptae repetitor ademptae,/ cui pia militiae causa puella fuit! Dass Viehdiebstahl als legitimer und wohl auch häufiger Kriegsgrund galt, belegen u. a. ex negativo Achills Vorwürfe gegenüber Agamemnon, der ihm Briseis, seine menschliche Kriegsbeute abnimmt, im ersten Buch der Ilias. Dort kündigt Achill dem Heerführer seine Loyalität auf mit dem Argument, er persönlich habe keinen Grund, gegen die Trojaner Krieg zu führen, schließlich hätten diese ihm kein Vieh gestohlen. Vgl. Hom. Il. 1, 152–157. 755 A. Schmidt: Vaterlandsliebe und Religionskonflikt, S. 247 ff. 756 Ebd., S. 249.
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demjenigen zur Selbsterhaltung kombinieren. Wenn schon nicht um ihretwillen, dann sollten die Fürsten wenigstens in ihrem eigenen Interesse die Initiative ergreifen, so lautet Germanias schlagkräftigstes Argument: Si vos nunc miserae tangit pia cura Parentis, […] Vos saltem moveat (si non pia cura Parentis) Vestra salus damnis associata meis.757 Wenn Euch noch fromme Sorge um die arme Mutter ergreift, […] Euch soll wenigstens (wenn schon nicht fromme Sorge um die Mutter) die Frage nach Eurem eigenen Heil bewegen, welche eng verbunden ist mit meinem Ungemach.
Gerade auch der durch den gesamten Text hinweg refrainartig gebrauchte formelhafte Pentameter [salus] Quae non ante mihi, quam dederitis, erit758 untermauert den Gedanken, das Wohl des einen sei von demjenigen des anderen abhängig – einen Gedanken, der konstitutiv ist für die Argumentation dieser Heroide. Der Autor folgt insofern der Kriegslehre, welche die bedeutendsten Humanisten der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts wie z. B. Enea Silvio Piccolomini oder der Kardinal Bessarion mit Rückgriff auf Meisterstücke der antiken Rhetorik, vor allem Demosthenes’ Warnungen vor dem Makedonenkönig Philipp, entwickelt hatten. Wie die Bedrohung einer einzigen griechischen Stadt zu einer gemeingriechischen Angelegenheit wurde und auch Athens Hilfe erforderte, so musste auch im Falle der Türkenbedrohung den deutschen Herrschern im Eigeninteresse daran gelegen sein, Solidarität mit den betroffenen Nachbarn zu zeigen und die Gefahr schon außerhalb der eigenen Mauern abzuwehren.759 Im Gegensatz zu anderen Autoren, die z. B. eine allegorisierte Austria, Pannonia oder Ecclesia in der Rolle einer notleidenden Schwester/Mutter einen Hilferuf an Germania senden lassen,760 gestaltet Helding hier das Solidaritätsmotiv als Appell an die Fürsten, ihr Vaterland nicht im Stich zu lassen. Germania untermauert ihre Kriegsappelle zum einen durch Werbung um Mitleid, Solidarität und Liebe, zum anderen durch die Beschwörung der drohenden Gefahr in den schwärzesten Farben. Sie warnt eindringlich vor der offensichtlichen Geringschätzung des Feindes:
757 Fol. A 4 v. 758 Fol. A 3 r, A 3 v, B 6 r. 759 Mertens: Europa, id est patria, S. 53 f. 760 Caspar Ursinus Velius: Querela Austriae sive epistola ad reliquam Germaniam. Augsburg 1531; Paulus Rubigallus: Querela Pannoniae ad Germaniam. Wittenberg 1537.
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Invehitur miles praeda spolioque superbus, Non ducit molles Turcus in arma viros. Scilicet hunc mollem Germani temnitis hostem, Cui passim victi, qui timuere, iacent. Vigilate viri, neque erit contemnere tutum,761 Militiae fecit experimenta suae. Sique ego dissimulem, Res hoc tamen ipsa fatetur, Victrices late quod gerit ille manus.762 Stolz auf Beute und Rüstung zieht der Soldat einher, keine zaghaften Männer führt der Türke ins Feld. Ihr Deutschen freilich unterschätzt ihn als unmännlichen Feind, von ihm besiegt liegen überall diejenigen verstreut, die ihn gefürchtet haben. Seid wachsam, Männer, ihn zu unterschätzen, wird Euch keine Sicherheit bringen, er hat seine Kriegstüchtigkeit bewiesen. Wollte auch ich das verhehlen, so zeigt doch die Sache selbst, dass er weithin siegreiche Hände regt.
Im Folgenden zeichnet sie den Verlauf von dessen bisherigen Eroberungen nach. Byzanz, Rhodos, Persien, Arabien, Ägypten, Jerusalem und ganz Griechenland sind ihm schon zum Opfer gefallen. Über diesem fremden Leid, so Germania, habe sie sogar schon ihr eigenes vergessen. Ihre eigenen Könige habe sie fallen und ihre eigenen Soldaten fliehen sehen. Mit dem Hinweis auf ein fürchterliches Gemetzel, das sich erst vor kurzer Zeit in Österreich ereignet habe – gemeint ist die Belagerung von Wien im Herbst 1529 –, vergegenwärtigt sie in einer langen Klage die türkischen Gräueltaten: Est locus Austriacis nuper male cognitus oris, Illa ferae caedis conscia sylva fuit. […] Vt Leo de syluis sub tempora noctis opacae Prodijt, insana se extimulante fame. Pastor ut hunc pauidus uenientem ad ouilia cernit, Aufugit, at trepidae diripiuntur oues. Nec tamen ante famem cupit exaturare furentem, Quam videt innumera corpora caesa nece. Sic pueri molles, imbellis turba matronae, Longaevique senes, hoste furente cadunt. […] Hic pueri implorantis opem, & sua fata videntis, [sc. hostis] Perrupit dura viscera parva trabe, Extabat dirum parvo de gutture lignum, Dum levis in tepido corpore vena micat. Illi, dum caesum longa caput extulit hasta. Effuso maduit tincta cruore manus. […] 761 Vgl. Ov. her. 4, 11 (Phaedra an Hippolytus): quidquid Amor iussit, non est contemnere tutum. 762 Fol. A6 v–A 7 r.
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Materno infelix caesus sub pectore foetus Aera qui nondum senserat, arma tulit. […] Non parcit generi aut aetati ferreus hostis, Corpore pollutas qui necat ense Nurus. Quique reluctantes petulans lassando puellas De tenera spolium virginitate rapit. Ah quoties pavido coniux abstracta marito Ante suum, externum fert violata virum.763 Es gibt einen Ort in Österreich, der vor kurzem erst auf üble Weise Berühmtheit erlangte, eine Waldung dort musste grimmiges Gemetzel mit ansehen. [..] Wie ein Löwe in finsterer Nacht aus dem Wald stürzt, wenn ihn maßloser Hunger treibt, wie voll Angst der Hirte ihn zu den Schafställen kommen sieht, entflieht, die Schafe aber gerissen werden und der Löwe dennoch nicht den rasenden Hunger zu stillen begehrt, bevor er die Leiber in einem Blutbad ohne Zahl hingeschlachtet sieht, so fallen zarte Kinder, eine Schar wehrloser Ehefrauen und hochbetagte Greise bei der blinden Wut des Feindes. […] Mit einer harten Stange durchbohrte er [der Feind] die zarten Eingeweide eines Knaben, der um Hilfe flehte und sein Ende gekommen sah. Grausig ragte das Holz aus der kleinen Kehle, während die Ader im erkaltenden Leib noch schwach zuckte. Dem Türken war, während er das abgeschlagene Haupt an einer langen Stange in die Höhe hielt, die Hand von vergossenem Blut feucht. […] Im Mutterleib erschlagen, lernte Waffen kennen der unglückliche Fötus, der noch keine Luft geatmet hatte. […] Kein Geschlecht oder Alter verschont der unmenschliche Feind, der junge Frauen mit dem Schwert schlachtet, nachdem er sie mit seinem Leib befleckt hat, der widerstrebende Mädchen dreist zur Ermattung treibt und zarter Jungfräulichkeit die Beute raubt. Ah, wie oft wird die Gattin, weggerissen von ihrem ängstlichen Mann, geschändet und muss vor seinen Augen einen Mann aus fernem Land erdulden.
Diese Darstellung betont insbesondere das Odium einer asymmetrischen und ungerechten Kriegsführung, insofern als sich die Gewalt bevorzugt gegen Schwache und Wehrlose, nämlich gegen Kinder, Greise und Frauen richtet und keinerlei Maß kennt. Zunächst wird die Ankunft des Feindes mit dem schon in der Bibel und bei Homer allgegenwärtigen Löwengleichnis illustriert.764 Die widernatürlichen Grausamkeiten von Menschenhand gipfeln im Aufspießen kleiner Kinder auf Lanzen oder im Durchbohren von Föten im Mutterleib. Die Passage folgt mit der drastischen Ausmalung der von Türken begangenen Gräuel und insbesondere deren Durst nach dem Blut der Deutschen einem geläufigen Topos aller Reden, die auf den Reichstagen oder bei anderen offiziellen Gelegenheiten vorgetragen wurden.765 Hinzu kommt die ebenfalls verbreitete Warnung vor der
763 Fol. A 7 v–A 8 v. 764 Vgl. hier lediglich 1 Petr 6, 7 und Hom. Il. 5, 136. 765 A. Schmidt: Vaterlandsliebe und Religionskonflikt, S. 244; Sieber-Lehmann, S. 20 f.; W. Schulze: Reich und Türkengefahr, S. 40, 41, 57 mit Anm. 91; Buchmann, S. 11.
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Verschleppung und Versklavung der Christen.766 Zu diesem Zweck bedient sich Germania einer weiteren Sprechinstanz und präsentiert als Betroffenen einen nicht näher charakterisierten Mann (aliquis), der in türkische Gefangenschaft geraten ist und dort, wo die Donau ins Meer mündet, dem Fluss sein Leid klagt. Heldings gelehrten (stets auch in biblischen Bezügen denkenden) Zeitgenossen lagen wahrscheinlich Assoziationen mit der babylonischen Gefangenschaft der Israeliten nahe, welche ihren fast schon sprichwörtlich gewordenen literarischen Niederschlag in Psalm 137 gefunden hat. Dort klagt der Erzähler, wie er und seine Landsleute weinend an Babylons Flüssen sitzen, ihre Harfen in die Weiden hängen und dem zynischen Befehl ihrer Eroberer, ein Lied über Zion zu singen, vor Kummer nicht entsprechen können. Stattdessen schwören sie, dass ihre rechte Hand verdorren und ihre Zunge vertrocknen möge, sollten sie jemals Jerusalem vergessen.767 Dieses Urmodell für eine Klage über Exil und Frondienst ist in dem von Helding entworfenen Flussuferszenario zumindest im Hintergrund präsent, wenn auch die Situation vordergründig nach einem ovidischen Motiv gestaltet ist und Germania sich teils wörtlich ovidischer Diktion bedient. Den Gefangenen lässt sie die Hoffnung ausdrücken, dass wenigstens das Wasser durch seine deutsche Heimat geflossen sei und ihm Kunde von Frau und Kindern bringen könne: Si vos perconter quid pignora chara, quid vxor, Pignora si vivant orba parente suo. Annuitis, vivunt, salvos tamen esse negatis, Dum flent illa patrem, cum fleat illa virum.768 Wenn ich euch fragte, was meine lieben Kinder, was meine Frau machen, ob die Kinder, ihres Vaters beraubt, noch leben, dann bejahrt ihr die Frage: „Sie leben!“, verneint aber die Frage nach ihrem Wohlergehen, solange die einen ihren Vater beweinen, die andere ihren Mann.
Das Wasser, vom Mann beauftragt, geheime Zeichen der Verständigung zu übermitteln, übernimmt die Funktion, die zu Beginn von Ovids Tristien das vom Dichter als Freund und Bote angesprochene Büchlein innehat. Dieses wird mit der Mission betraut:
766 Sieber-Lehmann, Claudius: Der türkische Sultan Mehmed II. und Karl der Kühne. In: Franz-Reiner Erkens (Hrsg.): Europa und die osmanische Gefahr im ausgehenden Mittelalter. Berlin 1997 (Zeitschrift für historische Forschung 20) S. 13–38, hier S. 20 f.; Matthias Thumser: Türkenfrage und öffentliche Meinung. Zeitgenössische Zeugnisse nach dem Fall von Konstantinopel (1453). In: Ebd., S. 59–78, hier S. 70 f. 767 Ps 137, 1–6. 768 Fol. B 1 v–B 2 r.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
siquis, ut in populo, nostri non inmemor illi, siquis, qui, quid agam, forte requirat, erit: vivere me dices, salvum tamen esse negabis: id quoque, quod vivam, munus habere dei.769 Wenn, wie es möglich im Volk, dort jemand mich nicht vergessen, wenn dort einer vielleicht wissen will, wie es mir geht, meldest du ihm, daß ich lebe, verneinst nur, daß ich wohlauf sei, sagst, daß zu leben mir schon gilt als ein Göttergeschenk.
Den Gefangenen quält die Vorstellung, dass die in der Heimat verbliebene Familie über sein Schicksal im Ungewissen ist und nicht weiß, ob sie nicht sogar seinen Tod betrauern soll: Meque putant Scythicis fors succubuisse sagittis, Morte sed ignorant me graviora pati. Corporaque ignorant duro cruciata labore, Ignorant flagris terga notata feris.770 Sie glauben, dass ich vielleicht den türkischen Pfeilen erlegen sei, aber sie wissen nicht, dass ich Schlimmeres erleide als den Tod. Sie wissen nicht, dass mein Leib von harter Mühsal geplagt, dass mein Rücken von grimmigen Peitschenhieben gezeichnet ist.
Der schmerzliche Ausruf des Mannes angesichts einer derartigen Vorstellung ist einem anderen Passus aus Ovids Tristien nachgebildet, wo der nach Tomi ins Exil fahrende Dichter über einen lebensgefährlichen Seesturm klagt und an seine in Rom verbliebene Gattin denkt, die, wie er meint, bislang lediglich wegen seiner Verbannung beunruhigt ist: at pia nil aliud quam me dolet exule coniunx: hoc unum nostri scitque gemitque mali. nescit in inmenso iactari corpora ponto, nescit agi ventis, nescit adesse necem.771 Doch meine Frau, die getreue, beklagt nur, daß ich verbannt bin, weil sie dies Unglück allein kennt und nur dieses beweint. Ahnt sie doch nicht, daß mein Leib hintreibt auf dem endlosen Meere, ahnt nicht, daß mich der Sturm jagt, daß der Tod mir schon naht.
Helding vertauscht also die Gewichtung von Tod und äußerst leidvollem Leben. Bei Ovid weiß die Gemahlin nicht, dass der Mann nicht nur dem Ziel seiner Verbannung, sondern möglicherweise auch dem Tod in den Wellen entgegenfährt;
769 Ov. trist. 1, 1, 17–20. 770 Fol. B 2 r. 771 Ebd., 1, 2, 37–40.
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bei Helding rechnen Frau und Kinder zwar mit dem Tod des Mannes, ahnen aber nicht, dass er noch Schlimmeres erleidet, indem er versklavt wird. Unter solchen Umständen hält der Mann den Tod für ein Geschenk: Felices sumptis quicumque obiistis in armis, Vae quia non cecidi, mors mihi munus erat.772 Glücklich seid ihr – wer ihr auch seid! –, die ihr mit Waffen in der Hand sterben durftet! Weh mir, dass ich nicht gefallen bin, der Tod wäre mir ein Geschenk!“
Bei Ovid jammert der Verbannte: Nec letum timeo: genus est miserabile leti. Demite naufragium, mors mihi munus erit.773 Angst vor dem Tod hab’ ich nicht: die Art dieses Todes beklag’ ich. Nehmt ihr den Schiffbruch weg, ist mir der Tod ein Geschenk.
In guter epischer Tradition wünscht sich der vom Sturm getriebene Seefahrer einen besseren, d. h. ehrenvolleren Tod als denjenigen durch Ertrinken.774 In dem vorhergehenden Gedicht bringt Ovid allerdings eine andere Auffassung von Leben und Tod zum Ausdruck, wenn er dem Büchlein die gerade schon erwähnte traurige Botschaft aufträgt, dass er dank des Geschenkes von göttlicher Hand zwar physisch noch existiere, aber unter elenden Bedinungen. Beide, der von Heldings Germania zitierte namenlose Gefangene (mit seiner abwesenden Familie) und Ovids poetisches Alter Ego, haben gemeinsam, dass sie keineswegs wohlbehalten, immerhin aber noch am Leben sind. Während Ovid in dem zuletzt zitierten Distichon sein Leben, seine bloße Existenz als ein Geschenk Gottes, d. h. als eine Gnade des Augustus, bezeichnet, erachtet der namenlose Gefangene jedoch gerade den Tod als ein Geschenk. Letzterer beendet seine Klage mit einem Gebet, dass der Fluss zahlreiche Einheiten von deutschen Soldaten bringen, zumindest aber die teure Heimat von ihm grüßen solle.775 Germania schließt diese Binnenrede ab mit dem expliziten Hinweis, dass dieses Exempel allgemeine Gültigkeit besitze und einem jeglichen Adressaten ihres Briefes zur Warnung dienen solle. Der in seinem ausweglosen Leid geschilderte namenlose Mann ist einer von ihnen:
772 Fol. B 2 r. 773 Ebd. 1, 2, 51–52. 774 So preisen jeweils Odysseus und Aeneas, als sie zu Schiff auf Geheiß erzürnter Götter von Seestürmen heimgesucht werden, diejenigen Helden „dreimal, viermal glücklich“, denen es vergönnt war, in Ehren auf dem Schlachtfeld zu fallen. Vgl. Hom. Od. 5, 306–312; Verg. Aen. 1, 92–101. 775 Fol. B 2 r.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
Ista gemunt vestro Proceresque sanguine nati, Quae male depereunt copore membra meo.776 So seufzen Söhne aus Eurem Blute, Ihr Fürsten, Glieder von meinem Leib, die auf üble Weise zugrunde gehen.
Das Exempel vom Mann in türkischer Gefangenschaft impliziert auch die große räumliche Entfernung von der deutschen Heimat. Gerade diese Entfernung aber (procul […] procul), so führt Germania weiter aus, soll die Fürsten nicht dazu verleiten, sich in falscher Sicherheit zu wiegen: Et male securi nunc damna aliena putatis, Quae vobis vestra sunt propiora fide. Dum procul a vobis flammaque & vulnere saevit, Hostis, & externas depopulatur opes. Ne miseri interea vanam sperate salutem, Adveniant illa vestra pericla via. Sit procul a vobis, quondam procul abfuit illi, Qui nunc Barbarico saucius ense cadit.777 Und in sträflichem Leichtsinn haltet Ihr nun das für fremde Verluste, was Euch näher ist, als Ihr glaubt? Solange der Feind fern von Euch mit Feuer und Gewalt wütet und fremden Besitz plündert, dürft Ihr Unglücklichen unterdessen keine nichtige Hoffnung auf Rettung hegen. Auf diesem Weg kommt die Bedrohung zu Euch. Sei er fern von Euch, einst war er jenem fern, der nun durch das barbarische Schwert verwundet fällt.
Germania hat bislang als notleidende Frau um das Mitleid ihrer edlen Söhne geworben und die schrecklichen Bedrohungen durch die herannahenden Türken, erbarmungsloses Gemetzel und Sklaverei, in den düstersten Farben ausgemalt. Zudem verfolgt sie aber auch die Strategie, die Adressaten an ihre glanzvolle Vergangenheit zu mahnen und zu ermutigen. Dazu bedient sie sich bei Helding ebenso wie bei anderen Autoren des von Hutten begründeten oder zumindest in Umlauf gebrachten Topos vom unbezwingbaren Arminius. Ausführlicher als Sabinus’ Germania zählt sie die römischen Feldherren und sonstigen Mächte auf (Geten, Venedig, Frankreich), die vergeblich gegen sie zu Felde gezogen sind. Den Asiaten zu erliegen, sei unehrenhaft: Ex me, cur captae decus auferret improbus hostis? Marte ego digna fui, sed meliore, capi. Cur meus Arminius Romanum perculit hostem Si maneant nostras Turcica uincla manus?
776 Fol. B 2 v. 777 Ebd.
3.1.3 Michael Helding (Sidonius) (1506–1561): Epistola Germaniae
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Culpa minor fuerat Latio ceßisse triumpho, Mitior Authore est poena recepta bono.778 Warum sollte der niederträchtige Feind auf meine Kosten den Ruhm gewinnen, eine Gefangene zu haben? Ich hätte es verdient, in einem besseren Krieg erobert zu werden. Warum hat mein Arminius den römischen Feind geschlagen, wenn doch türkische Fesseln unsere Hände erwarten? Es wäre eine geringere Schuld gewesen, einem römischen Sieg unterlegen zu sein; die Strafe, die man erhalten hat, wird milder durch einen guten Urheber.
Sie formuliert noch schärfer: Hei veteres revocate animos ne Teutona tellus Ex Asia turpi succubet imperio. Hanc prohibete notam Gens invictissima bello, Ne decus e vobis Barbarus hostis agat.779 Ach, erinnert Euch an den alten Mut, damit nicht die deutsche Erde der schmählichen Herrschaft aus Asien erliegt. Verhindert diese Schmach, Ihr, ein Volk im Krieg ganz unbezwingbar, damit nicht aus Euch der barbarische Feind Stoff zu seinem Ruhm nimmt.
Anders als manche Sprechinstanzen in vergleichbaren Texten anderer Autoren übt Germania jedoch nur wenig explizite Sittenkritik. Zwar tadelt sie durchweg die mangelnde Entschlossenheit der Proceres zum Krieg, die unter derartigen Umständen als Hartherzigkeit gegenüber der bedrohten Mutter erscheinen könne, doch sie verzichtet auf einen mehr oder minder topischen Lasterkatalog zugunsten weitgehend positiv formulierter Ermahnungen. So wird durch antizipierendes Lob suggeriert, die deutsche Jugend sehne sich nach dem Ruhm der Vorfahren und warte nur auf einen Anführer. Der eiserne Pflug werde wieder neu erglänzen, wenn erst der Rost abgerieben sei.780 Es folgt ein abruptes Erwachen aus den Illusionen über ein wiedererstarkendes Heldentum und eine bessere Zukunft. Ähnlich wie Deianira bei Ovid behauptet Germania, sie werde mitten beim Schreiben mit einer Schreckensbotschaft überrascht: Sed quid ago Proceres? Scribenti tristis ad aures Fama venit proprio Marte perire meos. Misceri retulit Civili cuncta tumultu Tristia cognatas arma tenere manus.781
778 Fol. B 3 r–v. 779 Fol. B 4 r. Zur zweimaligen Beschwörung von decus im Zusammenhang mit der Verteidigung des Reiches gegen die Türken vgl. Sabinus’ (später entstandene) kurze Elegie Ad Germaniam, V. 15–26: Ah, pudeat Scythicis egressum finibus hostem,/ Militiae nobis praeripuisse decus. […] Ipsa tuas vrbes e faucibus eripe lethi,/ Et vetus imperij marte tuere decus. 780 Fol. B 4 r–v. 781 Fol. B 4 v. Vgl. Ov. her. 9, 143–144 (Deianira an Hercules): sed quid haec refero? scribenti nuntia venit/ fama, virum tunicae tabe perire meae.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
Aber was tue ich da, Ihr Fürsten? Während ich schreibe, kommt mir die traurige Botschaft zu Ohren, dass die Meinen in ihrem eigenen Krieg gegeneinander zu Tode kommen. Sie berichtet, dass alles durch Unruhen zwischen den eigenen Bürgern in Verwirrung gerät, dass die Hände miteinander verwandter Menschen grimmige Waffen führen.
Ebenso wie die schreibende Heldin anderer Autoren klagt sie zwar bitter über die bürgerkriegsähnlichen Konflikte innerhalb des Reiches, geht aber auf den Inhalt dieser Unruhen mit keinem Wort ein, sondern begnügt sich mit einer Aufzählung von historischen Exempeln. Rom, Athen und ganz Griechenland seien dadurch zu Fall gekommen. Die kriegerischen Energien sollten gegen den äußeren Feind gerichtet werden. Bei der Charakterisierung des Feindes schreckt der Autor vor einer krassen Inkonsequenz, ja sogar Widersprüchlichkeit nicht zurück. Einerseits wird der Türke mit Attributen wie ferox, ferus, trux, Barbarus etc. und mit einer langen Aufzählung seiner Gräueltaten als eine ausdrücklich nicht zu unterschätzende Gefahr dargestellt (Non ducit molles Turcus in arma viros),782 an anderer Stelle erscheint er jedoch als Vertreter einer imbellis Asia, dem zu unterliegen schändlich sei.783 Mehr noch, der Türke, auf einmal als dekadent und verweichlicht gezeichnet, soll nun allen Grund haben zur Furcht vor der berühmten germanischen virtus: Virtus ignavo vestra est suspecta Tyranno, Scit iuga Germanos non diuturna pati. Quid valeat, novit sumtis Germanus in armis, Exitium regnis hinc timet ipse suis.784 Euer Heldentum ist dem feigen Tyrannen verdächtig, er weiß, dass die Deutschen keine dauerhafte Knechtschaft hinnehmen. Was der Deutsche mit Waffen vermag, ist ihm bekannt; daher fürchtet er selbst den Untergang seiner eigenen Herrschaft.
Der Text arbeitet also mit zwei konträren Feindstereotypen, welche ohne erkennbare Bemühung um Vermeidung krasser Widersprüche abwechselnd eingesetzt werden: mit demjenigen des hemmungslos mordenden Ungeheuers und mit demjenigen des weichlichen Asiaten, das ebenfalls schon in der römischen Literatur häufig begegnet.785 Die Argumentation wird kurzfristig dem jeweiligen rhetorischen Zweck angepasst.786 782 Fol. A 6 v. 783 Fol. A 6 r. 784 Fol. A 6 v. 785 Ein bekanntes Beispiel ist Hor. carm. 1, 38. 786 Treffend auf den Punkt gebracht bei Mertens: Europäischer Friede und Türkenkrieg, S. 74: „Der Türke mußte als mächtig und grausam, durfte aber nicht als unüberwindlich dargestellt werden.“
3.1.3 Michael Helding (Sidonius) (1506–1561): Epistola Germaniae
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Im Vergleich zu allen bisher behandelten Heroiden ist es bemerkenswert, dass gerade Helding, der ausschließlich als Theologe und Kirchenpolitiker Bedeutung erlangt hat, in seinem (wenn auch als Jugendwerk verfassten) Text auf jegliches religiöse Argument verzichtet. Abgesehen von dem kurzen, lediglich in der Diktion der römisch-paganen Poesie präsentierten Gebetsgestus des Mannes in türkischer Gefangenschaft (Audiat (& moveant) haec si quod Numen in orbe est/ Haec deus, haec Vndae Danubiusque pater.) findet sich kein Wort von Gott, Glaube oder Christenheit. Selbst wenn der junge Autor zu dieser Zeit noch keine kirchliche Laufbahn angestrebt haben sollte, überrascht es dennoch, etwas dezidiert Christliches nicht einmal in allgemeinen Wendungen anzutreffen. Von den drei klassischen Kriegslegitimationen Christus, gloria, patria787 beschränkt er sich auf die beiden letzteren Punkte. Seine Germania beschwört, u. a. auch durch die längere Ausführung ihrer einstigen Überlegenheit über das antike Rom, eine reine Tugend- und Wertegemeinschaft in der Tradition des frühen Humanismus.788 Einen spezifisch katholischen Beitrag zur Literatur der Turcica leistet Helding, in späteren Jahren ein prominenter Vertreter der Gegenreformation, also nicht. Er vertraut auf die Wirkung von Versfülle und langen Aneinanderreihungen argumentativer Gemeinplätze. Größere Ambitionen zeigen sich in dem Bemühen, den Text durch das Prinzip des Kehrverses, die Wiederholung einzelner Verse bzw. Versteile zu strukturieren. Dreimal begegnet der an ein vorhergehendes salutem anschließende, metrisch bedenkliche Pentameter quae non ante mihi quam dederitis erit,789 – offenbar liebt Helding dieses bereits etablierte Spiel mit der Grußformel – zweimal der Pentameter Germani fuimus, ni cito fertis opem,790 zweimal der Versschluss res arma requirit.791 Dafür jedoch verwirklicht er mit der einzigen Binnenrede, dem Flussuferszenario, einen reizvollen poetischen Einfall und demonstriert (nicht nur dort), in welch ansprechender Weise sich Ovids Exildichtung für die Klagen einer allegorisierten Germania fruchtbar machen lässt.
787 Vgl. dazu ausführlich Mertens: Europa, id est patria, S. 46, 55. 788 Vgl. zu derartigen Tendenzen A. Schmidt: Vaterlandsliebe und Religionskonflikt, S. 125 ff.; Hirschi: Wettkampf der Nationen, S. 320 ff. 789 Fol. A 3 r, A 3 v, B 6 r. 790 Fol. A 4 v, B 6 r. 791 Fol. A 4 v, A 5 r.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
3.1.4 Eustachius (Eustathius) von Knobelsdorff (1519–1571) De bello Turcico elegia (1539) Mit dem Ermländer Eustachius von Knobelsdorff ist in der allegorisch-patriotischen Heroidendichtung ein Kleriker und Humanist vertreten, der u. a. in Wittenberg bei Melanchthon studiert hatte, dennoch aber der römisch-katholischen Kirche treu blieb und für den späteren Teil seines Lebens fast ausschließlich Ämter in deren Diensten bekleidete. Aus dem engen Kontakt zu seinen Landsleuten, den humanistisch gebildeten Bischöfen Johannes Dantiscus und Stanislaus Hosius, die beide zeitweilig die Diözese Ermland regierten, ergab sich sein religiös, aber auch patriotisch motiviertes Engagement für die Gegenreformation in Polen, insbesondere im Ermland. Knobelsdorff absolvierte sein Studium an vielen verschiedenen Universitäten, versah stets neue Ämter in kirchlicher Verwaltung und Diplomatie und hinterließ ein überschaubares poetisches Werk, das auf eine Handvoll Titel beschränkt und ausschließlich in elegischen Distichen abgefasst ist.792 Am 20. September 1519 wurde Eustachius in Heilsberg als Sohn des dortigen Bürgermeisters Georg von Knobelsdorff geboren.793 Die Vorfahren, von welchen sich etliche im 15. Jahrhundert durch die militärische Unterstützung des Deutschen Ordens ausgezeichnet hatten, waren aus Schlesien ins preußische Ermland eingewandert.794 1533 lernte Knobelsdorff seinen späteren Gönner und väterlichen Freund, den Kulmer Bischof Johannes Dantiscus, kennen, der nach einem bewegten Leben als Diplomat, Hofmann, Dichter und und sogar poeta laureatus seine Frömmigkeit entdeckt und eine geistliche Laufbahn eingeschlagen hatte.795 Dieser veranlasste den Jungen, zunächst das Kulmer Gymnasium zu besuchen.796 1536 immatrikulierte sich Knobelsdorff an der Universität in Frankfurt/Oder.797 Seit dieser Zeit scheint er für die Schreibung seines Vornamens die gräzistisch korrekte Form Eustathius (der Beständige, von Dantiscus bisweilen mit dem lateinischen Constans wiedergegeben) bevorzugt zu haben.798 Nachdem 792 Grundlegend zu seiner Biographie: Franz Buchholz: Die Lehr- und Wanderjahre des ermländischen Domkustos Eustachius von Knobelsdorff. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte des jüngeren Humanismus und der Reformation, Braunsberg 1925; Jerzy Starnawski: Eustachius von Knobelsdorff (1519–1571). Ein lateinischer Dichter der Renaissance. In: Daphnis 23 (1994), S. 431–449; Hartmut Kugler/Red.: Art. Knobelsdorff. In: Killy / Kühlmann Bd. 6, Sp. 523–525. 793 Starnawski, S. 431; Buchholz, S. 10. 794 Buchholz, S. 7. 795 Ebd., S. 20 f. 796 Starnawski, S. 431 f. 797 Buchholz, S. 22 ff. 798 Ebd., S. 29, Anm. 1.
3.1.4 Eustachius (Eustathius) von Knobelsdorff (1519–1571): De bello Turcico elegia
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er sein Baccalaureat erlangt hatte, wechselte Knobelsdorff schon im folgenden Jahr im Mai 1538 nach Wittenberg zu Melanchthon über.799 Der Verlockung, bei den in ganz Europa berühmten Reformatoren seine Studien zu vertiefen, gab er nicht ohne Risiko nach, da sowohl König Sigismund I. als auch der damalige Bischof von Ermland und Landesherr Mauritius Ferber eine dezidiert antilutherische Haltung einnahmen. Da aber Dantiscus 1537 in Heilsberg die Nachfolge des Letzteren angetreten hatte, wagte Knobelsdorff diesen Schritt und hoffte auf eine größere Toleranz: Bei grundsätzlicher Ablehnung der Reformation brachte dieser nämlich den Wittenberger Gelehrten, insbesondere Melanchthon, Wertschätzung und sogar freundschaftliche Gefühle entgegen.800 Inwieweit Knobelsdorff, der in Wittenberg hauptsächlich die juristischen Anfangsgründe erlernen und den Stoff der Artistenfakultät vertiefen wollte, auch mit Luther in Berührung kam, ist nicht erwiesen. Franz Buchholz hält es für unwahrscheinlich, dass der Student auf den Besuch von dessen Lehrveranstaltungen oder Predigten gänzlich verzichtet habe.801 1539 publizierte Knobelsdorff mit nur 20 Jahren in Wittenberg sein Erstlingswerk (zumindest sein erstes noch erhaltenes Werk), die Heroide De bello Turcico elegia.802 Im Herbst desselben Jahres floh er vor der Pest nach Leipzig, wo die Universität einen Schauplatz für starke religiöse Spannungen zwischen dem neuen lutherisch gesinnten Landesherrn und dem weitgehend römisch-katholischen Lehrkörper bot.803 Einen zweiten Wittenberger Aufenthalt nach Beendigung der Pest musste Knobelsdorff unfreiwillig abbrechen, als aus Polen ein Mandat des Königs Sigismund erging, das den Besuch protestantischer Hochschulen unter Androhung schwerster Maßnahmen bis hin zur Todesstrafe verbot.804 Nach einem kurzen Besuch in seiner ermländischen Heimat begab er sich im Herbst 1540 zur Fortsetzung der Studien nach Löwen, das sich als Hochburg der Wissenschaft, durch restriktive Maßnahmen aber auch als „ein Bollwerk des katholischen Glaubens“805 präsentierte. Dort erwarb er sich sowohl durch seine Gelehrsamkeit und poetische Begabung als auch durch seine tugendhafte Lebensführung die Anerkennung von Diplomaten und Professoren, welche auch mit Dantiscus in engem Kontakt standen.806 Er schloss Freundschaft mit dem Pro799 Ebd., S. 31 ff. 800 Ebd. 801 Ebd., S. 35 f. 802 Starnawski, S. 432. 803 Buchholz, S. 64 f. 804 Ebd., S. 74 f. 805 Ebd., S. 79. 806 Ebd., S. 77 ff. So stellte ihn der berühmte Mathematik- und Medizinprofessor Gemma Frisius sogar in eine Reihe mit Dantiscus und Nikolaus Kopernikus. Allen dreien sei es bestimmt, den Ruhm des Ermlandes zu vermehren. S. 83.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
fessor Georg Cassander aus Brügge, welcher mit reformatorischen Ideen sympathisierte und sich dadurch in römisch-katholischen Kreisen verdächtig gemacht hatte. Seine Hochachtung für diesen brachte der einstige Wittenberger Student Knobelsdorff später zum Ausdruck, indem er in einer Elegie in ähnlicher Metaphorik, wie man sie im Umfeld Melanchthons gebrauchte, den Adressaten zum Kampf gegen einen mit Babylon verglichenen Feind des Glaubens, demnach wohl gegen die alte Kirche, aufforderte.807 Zu dieser Zeit konnte sich Knobelsdorff auch seinem Mäzen Dantiscus gefällig erweisen, indem er bereitwillig bei der Anstrengung eines Ketzerprozesses gegen zwei Männer mitwirkte, welche Dantiscus teils wegen ihres Besitzes zwinglianischer Schriften, teils wegen ihres Lebenswandels und wegen persönlicher Rivalitäten verhasst waren.808 Immerhin resultierten die mit großem Eifer betriebenen Maßnahmen in Haftstrafen für die Angeklagten.809 Schon im Sommer 1541 fasste Knobelsdorff aus Enttäuschung über den Löwener Lehrbetrieb den Entschluss, an die nahegelegene und in ganz Europa dominierende Universität von Paris überzusiedeln.810 Im Herbst desselben Jahres kam er in der Weltstadt an, wo ihn zwar das großartige akademische Angebot mit Begeisterung, aber die hohen Unterhaltskosten und die drakonische Einschränkung religiös-politischer Meinungsäußerung mit Schrecken erfüllten.811 Die vielfältigen Eindrücke verarbeitete er zum einen in einer poetischen Beschreibung der Stadt, zum anderen in einem Brief an Cassander vom 10. Juli 1542 über das grausame Spektakel einer Ketzerverbrennung, das er selbst mitangesehen hatte. In letzterem berichtet Knobelsdorff detailliert und mit vorsichtiger Kritik, wie der König durch ein Edikt im ganzen Land Bittandachten und feierliche Prozessionen anordnen lässt, um göttlichen Segen für den bevorstehenden Krieg gegen den Kaiser zu erlangen. In diesem Zusammenhang gilt es Sühneopfer zu bringen, und einige Menschen werden wegen angeblicher Sympathie für das Luthertum und kritischer Äußerungen zu einem exzessiven Heiligenkult dem Flammentod überantwortet.812 Der vorzügliche Ruf der Rechtsfakultät, aber auch das angenehme Klima der Stadt lockten Knobelsdorff nach Orléans.813 1543, in einem für die polnische Lite-
807 Ebd., S. 92 f. 808 Ebd., S. 85 ff. 809 Ebd., S. 88 ff. 810 Ebd., S. 85. 811 Ebd., S. 96 ff. 812 Ebd., S. 111 ff. 813 Ebd., S. 142 ff.
3.1.4 Eustachius (Eustathius) von Knobelsdorff (1519–1571): De bello Turcico elegia
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ratur bedeutsamen Jahr,814 erschien sein umfangreichstes und wohl bedeutendstes Werk, die über 1300 Verse umfassende Lutetiae Parisiorum descriptio, elegiaco carmine mit Widmung an den Kulmer Bischof Tiedemann Giese.815 Orléans stellt die letzte Station in Knobelsdorffs bewegtem, aber auch sorgenreichem Studentenleben dar: Aufgrund widriger Umstände befand sich der Poet trotz dürftiger Lebensweise ständig in Geldnot und bekam seine Abhängigkeit von Dantiscus schmerzlich zu spüren. Immer wieder sah er sich gezwungen, seinen Gönner, bisweilen auch andere Freunde, in Bittbriefen um weitere Zuwendungen anzuflehen.816 1544 kehrte Knobelsdorff in die Heimat zurück und begann seine Laufbahn in kirchlichen Diensten. Zunächst wurde er Sekretär des ermländischen Domkapitels in Frauenburg, 1546 Domherr.817 1548 verfasste er anlässlich des Todes Sigismunds I. Divi Poloniae regis Sigismundi I. epicaedion, anlässlich des Todes seines väterlichen Gönners Dantiscus das nicht mehr erhaltene Reverendis simi […] Joannis Dantisci epicedium.818 Im November desselben Jahres reiste er als Delegierter des Domkapitels nach Petrikau zum neuen König Sigismund II. August, wo er zu einer Unterredung empfangen wurde. Ab 1550 übernahm Knobelsdorff unter dem neuen Bischof Stanislaus Hosius Verwaltungsaufgaben in der ermländischen Diözese und wurde zum Domkustos ernannt.819 1553 empfing er die Priesterweihe und wirkte als Propst in Elbing bis 1554. 1555 nahm er an einer Gesandtschaft zu Ferdinand I. teil, im Herbst folgte seine Ernennung zum Dompfarrer und Domherrn in Breslau. Um diese Zeit publizierte Knobelsdorff die als „Manifest der Gegenreformation in Polen“820 verfasste Heroide Ecclesia catholica afflicta […], in welcher der neue König Sigismund II. August aufgefordert wird, die römisch-katholische Kirche gegen die eindringenden lutherischen Lehren zu verteidigen.821 1557 erlangte Knobelsdorff den Doktortitel in Krakau.822 Von 1558 bis 1564 fungierte er als Stellvertreter des auf Reisen befindlichen Bischofs Hosius und begab sich 1564 nach Schlesien, wo er ein Trauergedicht auf den verstorbenen Ferdinand I. In obitum Divi Ferdinandi I. […] epicaedion publizierte, das letzte
814 In diesem Jahr erschien das Hauptwerk des Nikolaus Kopernikus De revolutionibus orbium celestium. 815 Starnawski, S. 433. Näheres dazu ebd. 441 ff. sowie Buchholz, S. 117 ff. 816 Zu den pekuniären Angelegenheiten vgl. Buchholz, S. 43 ff., 56, 63, 98 ff., 142, 144 ff. 817 Starnawski, S. 433 f. 818 Ebd., S. 444 f. 819 Ebd., S. 434. 820 Dörrie: Der heroische Brief, S. 461. 821 Dazu Starnawski, S. 445 f.; Dörrie: Der heroische Brief, S. 461 ff. 822 Starnawski, S. 435.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
seiner erhaltenen poetischen Erzeugnisse.823 Knobelsdorff unterstützte seinen Bischof bei der Gründung des ersten tridentinisch ausgerichteten Priesterseminars von Polen in Braunsberg. Nach verschiedenen Tätigkeiten als Prälat, Dekan des Breslauer Domkapitels, Generalvikar und Offizial reiste er in einer Gesandtschaft nach Prag zu Kaiser Maximilian II., wobei er einen Schlaganfall erlitt. Er starb in Breslau am 11. Juni 1571 und vermachte eine finanzielle Stiftung an das ermländische Domkapitel zum Unterhalt von Priesterseminaristen.824 Jerzy Starnawski bedauert Knobelsdorffs geringen Bekanntheitsgrad in Polen, möchte ihn aber nach sechs lateinischen Dichtern dieses Landes in der ersten Hälfte des 16. Jh. zumindest als den siebten gewürdigt wissen.825 1995 hat er eine moderne Ausgabe von Knobelsdorffs lateinischen Gedichten mit polnischem Kommentar vorgelegt.826 Allerdings enthält diese derart viele Fehler, dass hier auf den Druck zurückgegriffen wird.827 Franz Buchholz führt die Entstehung von Knobelsdorffs Erstlingswerk, der 1539 in Wittenberg publizierten Heroide De bello Turcico elegia, darauf zurück, dass der mittellose junge Mann von 20 Jahren eine öffentliche poetische Huldigung an seinen bischöflichen Gönner Dantiscus für ratsam hielt, zumal er auf dessen finanzielle Zuwendungen während seiner Studienjahre angewiesen war. Um sowohl bei diesem und seinen römisch-katholischen Landsleuten als auch bei den Wittenberger Reformatoren auf uneingeschränkte Akzeptanz zu stoßen, musste Knobelsdorff eine brisante theologische Thematik vermeiden und griff auf ein in diesem Zusammenhang immer bewährtes Sujet zurück: die adhortatio zum Türkenkrieg.828 Mit der Anfang Mai in Wittenberg eintreffenden Nachricht, dass der polnische König Sigismund I. die deutschen Fürsten eindringlich um Hilfe gegen einen erneuten Ansturm der Osmanen gebeten habe, bot sich für den Poeten ein aktueller Anlass, Tagespolitik für eine gelehrte Öffentlichkeit in Verse zu kleiden.829 Der 342 Verse umfassenden Heroide selbst stellt Knobelsdorff eine Widmungselegie von 40 Versen an Dantiscus voran. In gängiger Bescheidenheitstopik dankt er dem väterlichen Gönner für seine steten Ermutigungen und bittet 823 Ebd., S. 435 f. 824 Ebd., S. 436 f. 825 Ebd., S. 448 f. 826 Jerzy Starnawski (Hrsg.): Carmina Latina (Corpus antiquissimorum poetarum Poloniae Latinorum usque ad Joannem Cochanovium 8). Krakau 1995. 827 Eustathius von Knobelsdorff: De bello Turcico elegia. Wittenberg 1539 [FB Gotha: Sondermagazin: 8°00989(05); VD 16 K 1467]. 828 Buchholz, S. 56. 829 Ebd. Buchholz zitiert in diesem Zusammenhang Briefe Melanchthons an Justus Jonas vom 23. April und an Matthias Auctus vom 5. Mai.
3.1.4 Eustachius (Eustathius) von Knobelsdorff (1519–1571): De bello Turcico elegia
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ihn demütig, die Geschenke seiner eigenen schwachen Muse (3 ieinunae dona Thaliae), seine als primitiae (29) bezeichneten Erstlingsgaben gnädig entgegenzunehmen als Beweis für seine zwar unvollkommenen, aber redlichen Bemühungen im Studium. In den letzten acht Versen jedoch kommt der Poet mit sichtlichem Stolz und Sendungsbewusstsein auf den Inhalt seiner Heroide zu sprechen (33–40): Materiam scripti cupidus fortasse requiris, Iusta nimis nostros hortor ad arma Duces. Hortor ut audaces occurrant fortiter hosti, In rigidos moueant ut pia bella Getas. Sicque suae patriae seruabit quisque salutem, Seruabit populos, & sine labe fidem. Pro qua non scriptis tantum pugnabo, sed armis, Nec metuet Martis nostra Thaleia minas.830 Vielleicht fragst Du erwartungsvoll nach dem Inhalt meines Schreibens: Zu einem gar rechtmäßigen Waffengang mahne ich die Fürsten. Ich mahne sie, voll Mut auf den Feind loszugehen und fromme Kriege gegen die grausamen Türken zu führen. So wird ein jeder das Heil seines Vaterlandes, die Völker und einen Glauben ohne Makel schützen. Für diesen werde ich nicht nur mit Schriften, sondern mit Waffen kämpfen; vor den Drohungen des Kriegsgottes wird sich meine Muse nicht fürchten.831
Hier manifestiert sich deutlich das humanistische Dichtungsverständnis, nach welchem den Poeten die Mahnung zur Erfüllung politischer Aufgaben obliegt. Der Heroide selbst liegt die inventio zugrunde, dass sich König Sigismund als Schreiber an Germania, d. h. an den deutschen Adel, wendet. Die von Heinrich Dörrie als seltsam empfundene „Umkehrung des Üblichen“832 – er hätte einen von einer Polonia verfassten Brief an König Ferdinand erwartet, da eine Suasorie einen konkreten Adressaten voraussetze833 – ist offenkundig dem aktuellen politischen Anlass geschuldet. Zudem kann Knobelsdorff Polen in der Gestalt desjenigen Mannes zu Wort kommen lassen, unter dessen Herrschaft das Land dank des aus Italien eindringenden Humanismus eine kulturelle Blütezeit erlebte834
830 Fol. A 2 v. 831 Übersetzung T. B. 832 Dörrie: Der heroische Brief, S. 457. 833 Ebd. 834 Almut Bues: Die Jagiellonen. Herrscher zwischen Ostsee und Adria. Stuttgart 2010, S. 153 ff., bes. S. 174 ff.; Enno Meyer: Grundzüge der Geschichte Polens. 3., erweiterte Auflage. Darmstadt 1990, S. 30; Norman Davies: Im Herzen Europas. Geschichte Polens. Aus dem Englischen von Friedrich Griese mit einem Geleitwort von Bronislaw Geremek. München 2000, S. 267 f.; Jörg K. Hoensch: Geschichte Polens. 3., neubearbeitete und erweiterte Auflage, Stuttgart 1998, S. 99 ff.; Gotthold Rhode: Geschichte Polens. Ein Überblick. Darmstadt 1980, S. 180 f.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
und in dessen Diensten Dantiscus als Diplomat und Sekretär seine weltliche Laufbahn weitgehend absolviert hatte.835 Der Jagiellone Sigismund I. (1467–1548) war 1506 zum König von Polen gewählt und 1507 in Krakau gekrönt worden.836 Unter seiner Regierung mussten sich Polen und das mit diesem durch eine Personalunion verbündete Litauen gegen diverse Gegner durchsetzen, die bisweilen untereinander Bündnisse eingingen: gegen den Deutschen Orden, Moskau, Moldau, Krimtartaren, Osmanen und die Habsburger.837 Zur Unterscheidung von seinem 1529 rege vivente zum König gekrönten Sohn Sigismund II. August erhielt Sigismund I. auch den Beinamen „der Alte“.838 In Knobelsdorffs Heroide Vers 1–14 tritt der betagte König – 1539 war er immerhin schon 62 Jahre alt – als Sprecher in Erscheinung und wendet sich mit Bitten um Gehör an die als kriegstüchtig apostrophierte Germania (bellatrix Germania) bzw. explizit an den deutschen Adel. Anders, als wenn er eine (allegorische) Frauengestalt zur Schreib- oder Sprechinstanz machte, scheint es dem Autor offenbar geboten, einen Mann und König nicht mit Tränen, kniefälligem Flehen und mitleidheischenden Gebärden sein Anliegen vorbringen zu lassen. Er löst das Problem der für die Heroidendichtung unerlässlichen Sympathielenkung, indem er seinem „Alten“ eine Rolle aus der griechischen Mythologie bzw. aus dem homerischen Epos zuweist, welche sowohl die durch das Herrscheramt verliehene als auch dessen persönliche gravitas unterstreicht. Sigismund beansprucht für sich ausdrücklich die Autorität des greisen Helden Nestor839 (5–10 Nestoris eloquium proceres coluere Pelasgi/ […]/ Audiuit canum concio tota senem). Dies bringt verschiedene Implikationen mit sich. Nestor, der sich mit 90 Schiffen nach Troja begibt und die Griechen vor der Schlacht berät, ist im geradezu sprichwörtlichen Sinne zum Inbegriff von Lebenserfahrung, Weisheit und Beredsamkeit geworden. Er besitzt aber auch eine eigene glanzvolle Vergangenheit als Krieger. Einst wurde er in seiner Heimat Pylos – ebenso wie Sigismund von den Osmanen – von feindlichen Scharen aus Elis angegriffen, doch es gelang ihm, sie zurückzuschlagen. Durch paränetisch motivierte (bisweilen langatmige) Erzählungen von seinen eigenen Heldentaten kann er noch im hohen Alter während der Belagerung Trojas 835 Hans-Jürgen Karp: Art. Dantiscus. In: Erwin Gatz (Hrsg.): Die Bischöfe des Heiligen Römischen Reiches 1448 bis 1648. Ein biographisches Lexikon. Berlin 1996, S. 118–120, hier S. 118 f. 836 Rhode, S. 182; Bues, S. 157. 837 Vgl. dazu Rhode, S. 161 ff.; Hoensch, S. 101 ff. 838 Fragwürdig, zumindest aber in Zusammenhang mit Knobelsdorffs Heroide gegenstandslos erscheint Hoenschs Erklärung S. 101: „Seine anfängliche Tatkraft und Neuerungsbereitschaft wurde bald von Abwarten und Hinhalten überlagert, so daß sein Beiname nicht nur seine große Erfahrung, politische Klugheit und Mäßigung ausdrücken, sondern auch die mit zunehmendem Alter zutage tretende Regierungsunfähigkeit charakterisieren sollte.“ 839 Zur Bedeutung dieser Gestalt Harrauer / Hunger, S. 351 f.
3.1.4 Eustachius (Eustathius) von Knobelsdorff (1519–1571): De bello Turcico elegia
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eine gestörte Ordnung in den eigenen Reihen wiederherstellen, ein in Unruhe geratenes Heer disziplinieren und durch Krisensituationen leiten. Knobelsdorffs Sigismund setzt also seine eigene Beziehung zum deutschen Adel in Analogie zu derjenigen zwischen Nestor und den bereitwillig gehorchenden Griechen. Im Folgenden (15–34) kommt der polnische König auf den Anlass seines Schreibens zu sprechen und umreißt die gegenwärtige Situation. Seit 40 Jahren schon sieht er sich gezwungen, immer wieder osmanische Angriffe abzuwehren, betont aber, dass er dem Feind aufgrund von dessen Feigheit und Fluchtbereitschaft oftmals empfindliche Wunden beibringt. Im Gegensatz zu der klagenden Heldin in den einleitenden Passagen anderer Germania-Heroiden erwähnt Knobelsdorffs Sigismund seine eigenen Erfolge im Kampf gegen den ihm zusetzenden Feind im Präsens;840 der König ist bedroht, liegt aber noch nicht am Boden. Noch immer lässt er den Angreifer die Kraft seiner wehrfähig gebliebenen Hände spüren, noch immer durchbohrt er dessen Rücken mit Pfeilen (19–21 Belligero quamuis toties irritor ab hoste,/ Me tamen haud mancas sentit habere manus./ Saepe sequens fodio fugientis terga sagittis). Immerhin erachtet er es als angemessen, für die äußere Form seines Briefes um Nachsicht zu bitten (27–34): Nec mea mireris si non est digna palato Littera, nec Latijs suscipienda notis. Barbaricas inter tam longo tempore gentes Dedidici ferme uerba latina loqui. Adde quod aeternis quia iam uersamur in armis, Scribere Gradiuus uerba polita uetat. Nec cupio blandis hanc rem depingere uerbis, Consequeris mentis si mea sensa, sat est.841 Wundere Dich nicht, wenn mein Schreiben des Gaumens842 nicht würdig und nicht durch lateinische Schriftzeichen wiederzugeben ist. So lange Zeit unter barbarischen Volksstämmen hausend, habe ich beinahe verlernt, lateinische Worte zu sprechen. Hinzukommt, dass, da ich schon unentwegt unter Waffen verweile, Mars mir verbietet, geschliffene Worte zu schreiben. Auch will ich nicht die Sache mit reizenden Worten ausmalen; wenn Du begreifst, was ich meine, ist es genug.
840 Vgl. dagegen z. B. Paulus Rubigallus: Querela Pannoniae ad Germaniam, V. 11–14: quin potius saevos nostris a finibus hostes/ armata potui cogere saepe manu./ saepe meas etenim, Graias qui vicerat urbes,/ sensit vulnificas in sua terga manus. 841 Fol. A 3 v. 842 Georg Burkard hatte in seiner handschriftlichen Übersetzung: „Wundre dich bitte auch nicht, wenn mein Brief des Palastes nicht würdig […].“ Offenbar hatte er palato zu palatio konjiziert und gelangt somit zu einer viel ansprechenderen Fassung. Traut man dem jungen Knobelsdorff genügend Sicherheit im Metrischen zu, wird man bei palato bleiben müssen.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
Wenn Knobelsdorff hier seinen König in korrekten lateinischen Distichen behaupten lässt, er habe inmitten barbarischer Völker und kriegsartiger Unruhen fast die lateinische Sprache verlernt, betreibt er ein literarisches Spiel in den Spuren Ovids, wie es vor allem im fünften Buch von dessen Tristien zum Ausdruck kommt. Dort äußert der verbannte römische Dichter sein Unbehagen angesichts eines drohenden Sprach- und Identitätsverlustes: At timor officio fungi vetat, esse quietum cinctus ab innumero me vetat esse locus. […] Non liber hic ullus, non qui mihi commodet aurem, verbaque significent quid mea, norit, adest. Omnia barbariae loca sunt vocisque ferinae, omniaque hostilis plena timore soni. Ipse mihi videor iam dedidicisse Latine: Nam didici Getice Sarmaticeque loqui.843 ließe mich dennoch die Furcht in Ruhe nicht walten des Werkes; denn das verbietet der Ort: zahllos umringt ihn der Feind. […] hier ist kein einziges Buch, ist keiner, der freundlich sein Ohr mir liehe, verstünde auch nur, was meine Rede besagt. Überall hört man nur barbarische, tierische Laute; All diese Orte erfüllt Furcht vor der Feinde Geschrei. Selbst schon hab’ ich, so scheint es, verlernt die lateinische Sprache: hab’ ich sarmatisch doch schon sprechen und getisch gelernt.
Ähnlich lautet die Klage des aus Rom Verbannten in einem anderen Gedicht desselben Buches. et pudet et fateor, iam desuetudine longa vix subeunt ipsi verba Latina mihi. nec dubito quin sint et in hoc non pauca libello barbara: non hominis culpa, sed ista loci. […] carminibus quaero miserarum oblivia rerum: praemia si studio consequar ista, sat est.844 und ich bekenne beschämt, daß jetzt nach der langen Entwöhnung schon mir selbst das Latein kaum zu Gebote noch steht. Viel Barbarisches auch ist ohne Zweifel in diesem Buche; doch nicht der Mann, sondern der Ort hat die Schuld.
843 Ov. trist. 5, 12, 19–58. 844 Ebd. 5, 7, 57–68.
3.1.4 Eustachius (Eustathius) von Knobelsdorff (1519–1571): De bello Turcico elegia
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[…] Bei meinen Dichtungen such’ ich mein trauriges Lob zu vergessen: wird mir für all mein Bemühn dies nur zum Lohn, ist’s genug.
Knobelsdorff kontaminiert also zwei larmoyante Selbstaussagen des poeta aus den Tristien, wie zum einen das (nicht allzu häufig begegnende) Verb dediscere mit Bezug auf die lateinische Sprache, zum anderen die Verbindung von consequi mit dem Versschluss sat est innerhalb eines Pentameters anzeigt. Der römische und der ermländische Dichter thematisieren den Verlust der lateinischen Sprache (und somit der vom Leser erwarteten urbanitas) durch zu langen Aufenthalt unter barbarischen Völkern. Der geläufige Topos arma et litterae wird jedoch in beiden Fällen unterschiedlich akzentuiert. Die Sprechinstanz in den Tristien klagt furchtsam über das bedrohliche Gebaren der unzivilisierten Volksstämme und die Störung durch den Waffenlärm, welche die eigentlich ersehnte Lebensform, nämlich otium und litterae/carmina unmöglich machen. Knobelsdorffs König Sigismund hingegen muss selbstverständlich ein heroischeres Profil tragen, und daher beteuert er, dass ihm so wichtige Geschäfte wie der Kriegsdienst – also das Klirren der fremden Waffen wie auch der eigenen – keine Muße mehr für schöne Worte (hier durchaus despektierlich: blanda verba) lassen. Ihm komme es lediglich darauf an, inhaltlich verstanden zu werden. Trägt der weise Ratgeber Nestor bei Homer noch das Epitheton ἡδυεπής „honigsüß redend“, so bevorzugt sein polnisches Alter Ego in pragmatischer Weise den bekannten, rein inhaltsorientierten catonischen Grundsatz rem tene, verba sequentur. Der in den ovidischen Heroiden sowie in den Germania-Briefen anderer Humanisten begegnende Exordialtopos von der mangelnden Sprachkompetenz oder unzulänglichen Schreibweise der Heldin aufgrund von Tränen und zittrigen Händen wird hier umgekehrt zur eigentlich vorbildlichen Haltung eines pflichtbewussten Königs. Sigismund bringt sein Befremden über Germanias Abweichen von ihren altbewährten kriegerischen Tugenden zum Ausdruck und wirft ihr Trägheit angesichts der aktuellen Gefahr vor (35–40): Hoc tamen, hoc unum de te Germania miror, Miror, & exemplo torqueor usque tuo. Quae toties saeuos cum strennua fuderis hostem Tempore cur isto desidiosa iaces. Cur tibi segnitie pereunt uirtusque decusque Dum secura domi sic sine Marte sedes.845
845 Fol. A 3 v.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
Dennoch verwundert mich bei Dir, Germania, eine Sache, eine einzige nur, und mich quält beständig das Beispiel, das Du abgibst. Warum liegst Du, die Du so oft voll Tapferkeit grimmige Feinde in die Flucht geschlagen hast, derzeit so träge darnieder? Warum machst Du Dir durch Nichtstun Heldentum und Ruhm zunichte, indem Du ohne Kampfgeist unbekümmert zu Hause sitzt?
Germania solle nicht erst den Einfall der feindlichen Scharen abwarten, eine Mahnung, welche sich durch Gleichnisse aus dem Alltagsleben untermauern lässt. Der Türke wird mit einem Bären, einem Landstreicher, einem Wolf und einem Jäger verglichen, deren Angriffen man entschlossen zuvorkommen müsse (43–50). Germania aber genieße sorglos ihr Leben und vertraue darauf, dass der Feind dem Verteidigungskrieg eines einzigen Volkes unterliegen werde (51–58): Tu tamen interea conuiuia laeta frequentas, Nec metuis capiti structa pericla tuo. Tanta tuis ne sit fraudi socordia regnis, Haec mora neu tibi sit perniciosa caue. Forte tuis credis signis hunc posse repelli, Prostratumque tuo milite posse capi. Falleris heu nimium longis confisa sarißis Gentis ab unius non cadet ille manu.846 Du besuchst indessen dennoch frohe Gastmähler und fürchtest nicht die gegen Dein Haupt geplanten Anschläge. Sieh Dich vor, dass eine solche Gedankenlosigkeit nicht Deinem Reich zum Verhängnis wird und dass dieses Zaudern Dir nicht Verderben bringt. Vielleicht glaubst Du, der Feind lasse sich durch Deine Feldzeichen zurückdrängen und, von Deinen Soldaten niedergestreckt, bezwingen. Ach, Du täuschst Dich, vertraust allzu sehr auf Deine langen Lanzen; von der Hand eines Volkes allein wird er nicht fallen.
Ebenso wie die Autoren anderer an Germania gerichteter Episteln macht auch Knobelsdorff von dem Germania degenerans-Topos Gebrauch. Sigismund lässt er zur Bezeugung seiner offenbar von der Adressatin angezweifelten Worte auf Exempel für das von den Osmanen angerichtete Unheil verweisen (59–96). Das unter dem Krummschwert (und Halbmond) daniederliegende Griechenland erscheint als das erste Opfer (59–62). Im Vergleich zu anderen Autoren scheint Knobelsdorff hier nur auf die historische Situation der näheren Vergangenheit, nämlich auf den erstmals in ganz Europa Entsetzen auslösenden Fall von Konstantinopel 1453, anzuspielen, nicht aber auf das antike Hellas als Sitz der Musen.847 Eine wesentlich längere Passage hingegen ist dem grauenhaften Schicksal Ungarns gewidmet (63–82); der Status der literarischen Gestalt Pan846 Fol. A 4 r. 847 Vgl. Paulus Rubigallus: Querela Pannoniae, V. 133–134: cernis enim, ut iaceat Musarum Graecia mater/ cumque hac Epirus doctaque Achaia simul.
3.1.4 Eustachius (Eustathius) von Knobelsdorff (1519–1571): De bello Turcico elegia
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nonia als der Hauptleidtragenden Europas zumindest im 16. Jahrhundert scheint demnach auch von nichtungarischen Autoren anerkannt zu werden.848 Ähnlich wie Paulus Rubigallus feiert auch Knobelsdorff den großen ungarischen Feldherrn Johannes Hunyadi, der ab 1440 auf dem Balkan einige spektakuläre Erfolge gegen die Osmanen erringen konnte, als Volkshelden einer besseren Vergangenheit; er inszeniert sogar dessen Tod gewissermaßen als das vorbildliche Sterben eines Märtyrers (69–82). Demnach wird dieser, im Kampf für den wahren Glauben von zahlreichen Wunden zerfleischt, ins Lager getragen, hebt sich mit letzter Kraft auf die Knie und haucht unter inbrünstigen Danksagungen an Gott seine Seele aus. In Wirklichkeit starb Hunyadi am 11. August 1456, 20 Tage nach der erfolgreichen Verteidigung Belgrads, an der Pest. Ins poetische Konzept hingegen passt nur ein rein heroisches Ende. Zuletzt verweist Knobelsdorffs Sigismund auf das eigene Land, auf Polens Schicksal, das mit dem Heldentod seines Königs Wladislaw eine schlimme Wendung genommen hat (83–96). Wladislaw III., der 1440 zudem noch als Wladislaw I. den ungarischen Thron bestiegen hatte, begründete seine doppelte Regentschaft damit, dass er durch die vereinten Kräfte beider Reiche wirksamer gegen die Osmanen vorgehen könne.849 1444 fiel er mit 20 Jahren in einer scheinbar schon gewonnenen Schlacht gegen die Osmanen bei Varna am Schwarzen Meer, als er sich unbedacht zu einer Verfolgung der bereits fliehenden Feinde hatte hinreißen lassen. Knobelsdorff führt hier mit Hunyadi und Wladislaw ebenso wie Rubigallus mit Hunyadi und dessen Sohn, dem späteren ungarischen König Matthias Corvinus,850 Helden als Vorbilder an, welche den Plan einer Allianz osteuropäischer Völker gegen die Osmanen hegten. Unproblematisch war die gleichwertige Kombination der Namen Hunyadi und Wladislaw als Beschwörung nationaler Vorbilder nicht von Anfang an: Enea Silvio Piccolomini, der zu seiner Zeit wohl berühmteste und einflussreichste Humanist nördlich der Alpen, vermittelte seit den 1440er Jahren in seinen als musterhaft geltenden Schriften ein weitgehend ungünstiges Bild von Polen, welches von einigen seiner literarischen Nachfolger aufgegriffen und tradiert wurde.851 Er kritisierte insbesondere die Politik der Jagiellonen und verwarf 1445, also zeitnah zur Kata848 Vgl. z. B. die umfangreiche Passage in Caspar Ursinus Velius: Querela Austriae, fol. C 2 r–v. 849 Öze, Sandor / Spannenberger, Norbert: „Hungaria vulgo appellatur propugnaculum Christianitatis.“ Zur politischen Instrumentalisierung eines Topos in Ungarn. In: Markus Krzoska und Hans-Christian Maner (Hrsg.): Beruf und Berufung. Geschichtswissenschaft und Nationsbildung in Ostmittel – und Südosteuropa im 19. und 20. Jahrhundert. Münster 2005 (Studien zur Geschichte, Kultur und gesellschaft Südosteuropas 4), S. 19–39, hier S. 21. 850 Paulus Rubigallus: Querela Pannoniae, V. 107–110. 851 Hans-Jürgen Bömelburg: Frühneuzeitliche Nationen im östlichen Europa. Das polnische Geschichtsdenken und die Reichweite einer humanistischen Nationalgeschichte (1500–1700). Wiesbaden 2006 (Veröffentlichungen des Nordost-Instituts 4), S. 45 ff.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
strophe von Varna, jegliche verklärende Legendenbildung um den gefallenen König Wladislaw, der durch sein eigenmächtiges Handeln das Unglück Polens verschuldet habe.852 Auch wenn Piccolomini später, möglicherweise unter politischem Druck, manche Äußerungen über die Rückständigkeit und mangelnde Zivilisation der Polen (geringfügig) revidierte,853 hat er sich doch das Odium eines Detrectators der polnischen Geschichte zugezogen und dem Lande abträgliche Stereotype in Umlauf gebracht, welchen es patriotisch entgegenzutreten galt.854 Ab 1485 wurde der in Polen lebende italienische Humanist Philipp Callimachus (Philipp Buonaccorsi) mit der „Korrektur“ des negativen Geschichtsbildes beauftragt und verfasste eine Gegendarstellung, welche Wladislaw nun als verdienstvolleren Helden gegen seinen ungarischen Mitstreiter Hunyadi ausspielte.855 Die Propagierung der prominenten Rolle der Jagiellonen bei der Abwehr der Osmanen nahm von dort ihren Anfang.856 Es folgten weitere derartige Maßnahmen. 1514 – also schon unter Sigismunds Regierung – übte Jan Laski, der Erzbischof von Gnesen, detaillierte Kritik an Piccolominis Schriften Europa und Asia und engagierte in Rom einen Historiographen, welcher u. a. den ungerecht kritisierten König rehabilitieren sollte.857 Am Krakauer Jagiellonenhof etablierte sich die gleiche Art der gezielten historiographischen Propaganda wie in Buda oder Wien. Höfische Amtsträger mit humanistischer Bildung, teilweise landesfremd, wurden zur Abfassung einer offiziösen polnischen Geschichte nach dem Geschmack der herrschenden Dynastie verpflichtet.858 Knobelsdorff lässt Sigismund mit der rühmenden Erwähnung des gefallenen Königs Wladislaw also gemäß dessen eigener Geschichtsdeutung argumentieren, ohne allerdings zwischen Polen und Ungarn zu polarisieren. Sigismund erscheint hier als eine Gestalt, der angesichts der Türkengefahr weniger an der Betonung nationaler Gegensätze (und Rivalitäten) als an der Rückbesinnung auf einstige erfolgreiche Zusammenarbeit gelegen ist. In einer Art conclusio behauptet (der als Nestor agierende) Sigismund, aus derartigen Ereignissen die Erfahrung gewonnen zu haben, dass man nicht allein, 852 Ebd., S. 45. 853 Ebd., S. 4 f. 854 Ebd., S. 47 ff. 855 Vgl. dazu Paulus Rubigallus: Epistola Pannoniae, V. 73–74: Huic [Janus Ragusinus] Vladislai succedit tempore regis/ Hunniades bellis conspicuusque fide. Möglicherweise nimmt auch Rubigallus eine (pro-ungarische) Wertung vor, wenn er Hunyadi als Leistungsträger, Wladislaw nur als temporalen Bezugsrahmen erwähnt. 856 Bömelburg., S. 50 ff. 857 Ebd., S 51 ff. 858 Ebd., S. 74. Der einzige Unterschied zum Wiener Hof scheint darin zu bestehen, dass in Krakau die Hofhistoriographie nicht nominell als ein eigenes Amt institutionalisiert wurde.
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sondern nur mit vereinten Kräften gegen den Feind wirksam vorgehen könne. Selbst wenn Germania allein stark genug wäre, für ihre eigene Sicherheit zu sorgen, so fordern doch Pietas und Relligio (104) von ihr die Verteidigung Polens. Der König erinnert an den Schutz, welchen sein Land Germania so viele Jahre lang gegen den Ansturm der Türken geboten hat, und fordert nachdrücklich eine wohlverdiente Gegenleistung angesichts seiner Not (103–112): At uicina tamen debes defendere regna, Hoc a te Pietas, Relligioque petunt. Praecipue nostram nequaquam linquere terram, Quae tibi ceu murus, firmaque turris erat. Haec eadem deserta, dolens, metuensque futuri, Vicinam dubio tempore poscit opem. Tu, si iusta peto, non auersare precantem, Clementer uotis annue, quaeso, pijs. Premia pro summis meritis mihi debita posco, Causa uiros debet iusta mouere bonos.859 Dennoch musst Du auch die benachbarten Reiche verteidigen, das fordern von Dir Frömmigkeit und Religion, vor allem niemals unser Land im Stich zu lassen, welches Dir wie eine Mauer und ein starker Turm war. Dieses selbe Land, verlassen, Schmerzen leidend und voll Angst um die Zukunft, verlangt in Zeiten der Unsicherheit nachbarschaftliche Hilfe. Du aber wende Dich nicht von dem Flehenden ab, wenn ich etwas Gerechtes verlange, gewähre meinen frommen Wünschen Erhörung. Ich fordere nur den mir für höchste Verdienste zukommenden Lohn, ein gerechter Anlass muss redliche Männer berühren.
Mit murus, firmaque turris (106) kommt explizit der in der politisch-literarischen Publizistik geläufige Topos zum Tragen, den Polen ähnlich wie Ungarn immer wieder geltend macht, der Topos nämlich, dass die eigene über Jahrzehnte oder Jahrhunderte ausgeübte Rolle als Bollwerk der Christenheit (propugnaculum oder antemurale Christianitatis) zur Einforderung von Dankbarkeit und militärischen Gegenleistungen berechtige. Bei diesem Stereotyp handelt es sich um ein „europäisches Phänomen,“860 welches sich von Polen, Kroaten und Serben zur Eigenprofilierung, aber auch zur moralischen Legitimation eigener Ansprüche instrumentalisieren ließ.861 Wer diesen Topos gebrauchte, konnte in der Regel mit dem Verständnis der Zeitgenossen rechnen.862 Seit 1467 übernahmen die in ständige Konflikte mit Russen und Osmanen verstrickten Polen zunehmend das in Ungarn gebräuchliche Argumentationsmuster und stellten sich selbst als ante
859 Fol A 5 r. 860 Öze / Spannenberger, S. 19. 861 Ebd. 862 Ebd., S. 20.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
murale gegen auswärtige Angriffe dar.863 In diesem Sinne lässt auch Knobelsdorff seinen Sigismund sprechen.864 Für den Fall, dass Germania trockenen Auges den Untergang Polens mit ansehen wird, drohen ihr bittere Vorwürfe, welche der poetischen Topik der Antike, insbesondere auch der ovidischen Heroiden, entstammen (125–130).865 Man wird sie nicht nur für den Zögling einer wilden Tigerin halten, sondern auch bezweifeln, dass sie von wahrhaft brüderlich-deutschem Geblüt (129 Germano sanguine) sei, da ihr Name der Eigenschaft oder Veranlagung widerspreche (130 re pugnans nomen). Ohne Zweifel handelt es sich hier, ähnlich wie bei Rubigallus, um ein etymologisches Wortspiel in Bezug auf Ger manus als Volksbezeichnung und germanus/germana (leiblicher Bruder, leibliche Schwester).866 Demnach müsste Germania aufgrund ihres Namens eine besondere geschwisterliche Solidarität gegenüber ihren Nachbarländern pflegen. Die Gefahr besteht nicht allein durch den Einfall der Türken selbst, sondern wird noch dadurch verschärft, dass der Aggressor auch andere Völker, insbesondere die Krimtartaren, gegen Polen zu mobilisieren versteht. Diese verschiedenen Feinde bedrängen Polen mit vereinten Kräften, kämpfen alle mit vereinten Waffen und stellen deshalb eine so schreckliche Bedrohung dar; gerade daran sollen sich die deutschen Fürsten ein Beispiel nehmen und ebenso reagieren (141–148): Nec satis est animos in me mouisse suorum, Exciuit reliquos in mea terga Scythas. Praecipue sed te cui dant fera Tartara nomen, Tartare Sarmatica saepe subacte manu. Viribus hi iunctis in me prorumpere tentant, Haec est tristiciae causa propinqua meae. Hoc est a uobis cur iam socia arma petamus, Vos imploro duces, Teutonicique patres.867 Es genügt ihm nicht, die Seinen gegen mich aufgestachelt zu haben; er hat mir auch die übrigen Steppenbewohner auf den Rücken gehetzt, besonders dich, Tartar, welchem der schaurige Tartarus seinen Namen gibt, der du oftmals von sarmatischer Hand bezwungen wurdest. Mit vereinten Kräften wollen sie auf mich losgehen, das ist der naheliegende Grund meiner Trübsal. Das ist der Grund, warum wir von Euch Waffenbrüderschaft erbitten; ich flehe Euch an, deutsche Fürsten und Väter.
863 Ebd. 864 Vgl. Paulus Rubigallus: Querela Pannoniae, V. 139–168; Epistola Pannoniae ad Germaniam recens scripta, V. 43–100. 865 Vgl. zum wirksamen Gebrauch derartiger Topik in humanistischen Heroiden Paulus Rubigallus: Epistola Pannoniae ad Germaniam recens scripta, V. 7–18. 866 Vg. auch Buchholz, S. 59. 867 Fol. A 5 v.
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Die Schrecklichkeit der Tartaren wird durch die Herleitung ihres Namens vom lateinischen Tartarus unterstrichen, was der in der humanistischen Poesie beliebten Gepflogenheit entspricht, Feindstereotype nach dem Muster teuflischer oder apokalyptischer Gestalten zu zeichnen.868 In breiter Ausführung weist Sigismund Germania auf ihre Verpflichtung zur Dankbarkeit hin und stellt ihr für die Erfüllung seiner Bitte Ruhm in Aussicht (149–174). Ebenso wie es die Appellinstanzen in den an Germania gerichteten adhortationes anderer Autoren tun, versucht auch er, seinen Forderungen dadurch zusätzliches Gewicht zu verleihen, dass er militärische Unternehmungen aus der deutschen Kreuzfahrervergangenheit als positive Exempel anführt. Die Bezeichnung Mahometicus horror (179) suggeriert, dass es sich bei den Sarazenen von damals und den Osmanen der Gegenwart um denselben Feind handle, eine in der frühneuzeitlichen Publizistik geläufige Gleichsetzung.869 Friedrich I. Barbarossa, so Sigismund, habe sich nicht geweigert, den Hilferufen des Königs von Jerusalem zu entsprechen und dazu über das Meer zu eilen. Germania hingegen müsse sich weder den Gefahren der See aussetzen noch weit in die Ferne ziehen; trockenen Fußes könne sie ihr Nachbarland erreichen und befinde sich somit in einer wesentlich günstigeren Situation (191–194). Sigismund spielt nun seinen größten Trumpf aus, das Argument nämlich, dass Germania durch die Verteidigung des Bollwerkes Polen auch sich selbst schütze (197–216): Teutonicas stolidus dum sic affectat habenas, Tot seclis clausam uult reserare uiam. Meque uelut firmum tentat perfringere murum, Sic author miserae tu mihi mortis eris. Auxiliatrices igitur mihi suggere turmas Dum licet, hanc unam mitte duobus opem. Non agitur de me tantum, tua regna petuntur, Si mihi non uelles parcere, parce tibi. Pigra nec inuita diuini nominis hostem, Vt simili posthac te ratione uoret. Horrida qui nimium, uictis spectacula praebet, Crede mihi secum gaudia nulla uehit. Arma sed, & gladios miserorum sanguine tinctos, Et combusturas moenia pulchra faces.
868 Vgl. Paulus Rubigallus: Querela Pannoniae, V. 141–142: nam tua terribilis peteret cum regna tyrannus,/ a Ditis nomen qui regione tenet, […]. 869 Vgl. Öze, / Spannenberger, S. 21.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
[…] Praeditus bis donis te post inuisere tentat, Promittit praedam Teutona regna sibi.870 Indem der Türke töricht nach der Herrschaft über Deutschland verlangt, will er sich den so viele Jahrhunderte verschlossenen Weg eröffnen. Mich will er wie eine starke Mauer durchbrechen, so wirst Du die Schuld an meinem Tod tragen. Schick mir also Truppen zur Unterstützung, solange Du noch kannst, schicke für zwei diese einzige Hilfe. Es handelt sich nicht nur um mich, auch Dein Reich wird angegriffen; wenn Du mich nicht schonen willst, dann schone Dich. Lade nicht in Deiner Trägheit den Feind der Ehre Gottes ein, damit er Dich hernach auf ähnliche Weise verschlingt, ihn, der den Besiegten ein allzu grausiges Schauspiel bietet. Glaub mir, er bringt keinen Anlass zur Freude mit sich, sondern Waffen, Schwerter, die vom Blut beklagenswerter Männer getränkt sind, und Fackeln, welche schöne Mauern in Brand stecken sollen. […] Mit diesen Gaben versehen will er hernach Dich heimsuchen, das deutsche Reich verspricht er sich als Beute.
Der Bollwerktopos erhält sein größtes Gewicht immer dort, wo nicht mehr mit der Dankbarkeitspflicht und Solidarität, sondern mit den Eigeninteressen des Adressaten argumentiert wird. In konsequenter Befolgung dieser Strategie verzichtet in den Heroiden verschiedener Autoren eine um Hilfe flehende Instanz niemals auf die besonders eindringliche Mahnung, dass, sobald sie selbst besiegt sei, der Feind ungehindert in das Gebiet des Adressaten einfallen werde.871 In diesem Zusammenhang lässt Knobelsdorff seinen Sigismund auf die reiche Hafen- und Hansestadt Danzig verweisen, welche als schönste Gründung auf preußischem Gebiet der größten Gefahr ausgesetzt sei (217–228). Diese Stadt, welcher selbst nach dem Urteil Apollos keine gleichkomme, wolle der Türke weniger wegen ihrer herrlichen Goldschätze als wegen ihres strategisch günstig gelegenen Hafens einnehmen. Jerzy Starnawski hält die Vorstellung von der Bedrohung Danzigs sowie der Ost- und Nordsee überhaupt für eine unrealistische Sorge und für einen phantastischen Einfall des Poeten;872 offenkundig handelt es sich hier um eine auch innertextliche Reverenz an Dantiscus, seit 1537 Bischof von Ermland, dessen Heimat eine herausragende Bedeutung beigemessen werden soll. Möglicherweise soll die besondere Würdigung gerade dieser Stadt bestimmte Leser implizit ebenso an die Verteidigung bzw. Wiederherstellung der „wahren Religion“ auch innerhalb der Christenheit gemahnen, denn Danzig, schon seit frühester Zeit der Reformation sehr aufgeschlossen und durch 870 Fol. A 6 v–a 7 r. 871 Diese Argumentation begegnet insbesondere in den Briefen einer Länderallegorie an die andere, so z. B. in Caspar Ursinus Velius´ Querela Austriae oder in Paulus Rubigallus’ Pannonia-Briefen an Germania. 872 Starnawki, S. 438 f; Buchholz, S. 63 spricht sogar von einer „Annäherung zwischen Polen und dem Sultan.“
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Absetzung konservativer Räte zu einem Konfrontationskurs bereit, erlebte 1526 die militärische Unterdrückung der als Häretiker empfundenen Aufrührer durch Sigismund.873 Insofern erscheint es plausibel, dass auch Knobelsdorffs Sigismund seine besondere Sorge um Danzig zum Ausdruck bringt, wo er, wenn auch bei Auseinandersetzungen innerhalb der Christenheit, die von ihm gewünschte religiöse Ordnung wiederhergestellt hat. So kann die Stadt hier, auch wenn sie langfristig zu einer der protestantischen Hochburgen Polens werden sollte,874 als Schauplatz eines zumindest kurzfristigen Triumphes der römisch-katholischen Kirche fungieren. Es folgen Warnungen, dass der Türke über das Meer die Niederlande, Frankreich und auch Germania selbst jederzeit erreichen könne. Gerade letztere habe am allerwenigsten Anlass, auf Schonung zu hoffen, und solle sich deshalb sogleich zur Verteidigung Polens rüsten (229–250). Wie in anderen an Germania gerichteten Episteln üblich,875 äußert auch Knobelsdorffs Sigismund konkrete Wünsche in Bezug auf die Bündnispartner und entwirft einen Heereskatalog (251–274). Zunächst nennt er kurz die Truppen, welche Germania stellen soll, nämlich Bayern, Schwaben, Thüringer, Hessen, Sachsen, Schweizer und Franzosen (251–254). Wesentlich ausführlicher hingegen fällt die Charakterisierung derjenigen aus, die Sigismund mit sich führen möchte (255–274). Eingeleitet wird diese durch die ermutigende Floskel, dass man aufgrund der moralischen Überlegenheit (259 caussa meliore valemus) mit Gottes Unterstützung auch militärisch überlegen sein werde (255–260). Der Pole erscheint als ein Krieger, der trotz seines langen Mantels auch in einer kleinen Truppe oftmals Bewohner der Walachei als auch Moskowiten unterworfen habe (261–266). Hinzu kommen Litauen, Russland und Preußen (267–270). Letzteres wird insbesondere durch eine exponierte Persönlichkeit wie den Prinzen Albert vertreten (270–274). Hier handelt es sich offenkundig um Albrecht von Brandenburg-Ansbach, den letzten Hochmeister des Deutschen Ordens und ersten Herzogs von Preußen (1490–1568). Albrecht, ein Neffe Sigismunds, 1510 zum Hochmeister gewählt, widersetzte sich ebenso wie seine Vorgänger den Ansprüchen der polnischen Krone auf das Gebiet des Ordens und verweigerte den von ihm geforderten Treueeid, wobei er sich auf die Unterstützung Moskaus und bis 1515 auch auf diejenige des Kaisers verlassen konnte. 1520 überfiel Albrecht Braunsberg, führte etwa ein Jahr lang den sogenannten „Reuterkrieg“, konnte aber trotz einzelner Erfolge 873 Heinz Neumeyer: Art. Danzig. In: TRE. Bd. 8, S. 353–357, hier S. 354; Rhode, S. 204 f. 874 Art. Danzig., S. 354 ff. 875 Vgl. Caspar Ursinus Velius: Querela Austriae, fol. C 1 r–C 2 r.; Paulus Rubigallus: Querela Pannoniae ad Germaniam, V. 205–226.
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nichts Wesentliches für seinen Orden ausrichten. 1525 sah er sich gezwungen, durch seine Unterwerfung einen Friedensschluss mit dem polnischen König einzugehen. In einer feierlichen Zeremonie nahm er aus dessen Händen das Ordensland als Lehen entgegen, löste aber auf Luthers Rat hin den Orden auf und verwandelte das Gebiet in ein protestantisches Herzogtum. Für letzteres wurde er von Karl V. mit der Reichsacht belegt, was aber auf sein weiteres Leben und seine Politik keine besondere Auswirkung hatte.876 Zu einem Zeitpunkt, als der Konflikt zwischen Preußen und Polen nicht mehr gegeben ist, legt Knobelsdorff seinem Sigismund lobende Worte über die kriegerischen Fähigkeiten des Neffen in den Mund (271 fulgens in armis) und lässt ihn, trotz konfessioneller Gegensätze,877 wie selbstverständlich die Erwartung aussprechen, dass dieser ihn mit seinen Truppen unterstützen werde. Sigismund vergleicht sich selbst mit König Hieron II. von Syrakus, der einst von der römischen Jugend gegen die Truppen der Karthager verteidigt worden war. An letzterer soll sich Germania ein Beispiel nehmen. Die abschließende Passage des Briefes gestaltet Knobelsdorff erstmals mit einem Motiv, welches den starken, kriegserprobten König auch von einer weicheren, empfindsameren Seite präsentiert (293–306). Sigismund bittet nicht nur für seine eigene Person (293 hoc corpus senile), sondern vertraut dem deutschen Adel – wieder in der zweiten Person Plural angesprochen – seinen Sohn und Thronfolger an, welchen es zu schützen gilt. Hoc quibus haud tantum corpus commendo senile, Altera pro gnato me pia cura tenet. Cum mihi truncabunt fatalia stamina Parcae, Ex nobis genitum protegitote caput. Trado meae uobis lenimen dulce senectae Gnatum, qui post me sceptra Polona reget. Hunc, quia cognato uobis est sanguine iunctus, Vobiscum uerus postmodo iungat amor. Inter uos multos ab eadem stirpe creatos Egregios certe, non latet, esse Duces. Austriacos, Bauarosque, quibus te Marchia iactas, Nec non rectores & Pomerane tuos. Hunc igitur si deseritis post fata parentis, Tum silices uestrum pectus habere reor.878
876 Art. Albrecht der Ältere. In: NDB. Bd. 1, S. 171–173, hier S. 171 f.; Rhode, S. 190 ff. 877 Sigismund verstand sich als Verteidiger des alten Glaubens und missbilligte Albrechts offenen Übertritt zum Luthertum. Hoensch, S. 103. 878 Fol. A 8 v.
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Euch übergebe ich nicht nur diesen alten Leib, auch eine andere fromme Sorge beschäftigt mich, nämlich die Sorge um meinen Sohn. Wenn mir dereinst die Parzen den Schicksalsfaden abschneiden, dann müsst Ihr das Haupt meines Sohnes schützen. Ich übergebe Euch meinen Liebling, den Trost meines Alters, meinen Sohn, der nach mir Polen regieren wird. Ihn und Euch soll, da er durch verwandtes Blut mit Euch verbunden ist, auch hernach wahre Liebe verbinden. Man weiß, dass unter Euch viele aus demselben Stamme sind, sicherlich vortreffliche Fürsten, Österreicher, Bayern, diejenigen, deren du dich, Mark Brandenburg, rühmst, und deine Regenten, Mann aus Pommern. Wenn Ihr ihn nach dem Tode des Vaters im Stich lasst, dann muss ich glauben, dass Euer Herz harten Stein enthält.
Sigismunds einziger Sohn Sigismund II. August (1520–1572) war damals in Wirklichkeit schon 19 oder 20 Jahre alt. 1529 hatte der polnische Adel ihn, wenn auch widerstrebend, entgegen der Tradition vivente rege zum König wählen müssen. Ein Jahr darauf erfolgte die Krönung.879 Knobelsdorff jedoch suggeriert mit den Worten seines Sigismund, dass es sich um einen greisen Vater und dessen wehrloses kleines Kind handle. Diese Darstellung einer innigen Vater-Kind-Beziehung ermöglicht dem Autor, seiner Heroide sentimentale und rührende Züge zu verleihen, welche ansonsten mit der gravitas des kriegserprobten Königs unvereinbar gewesen wären. Reminiszenzen an die Beziehung zwischen Aeneas und Iulus Ascanius kommen zum Tragen, stärker noch an diejenige zwischen Euander und Pallas, die in einer hochemotionalen Abschiedsszene gipfelt. Als der Arkaderkönig seinem Gast Aeneas den jugendlichen Sohn als Kampfgefährten anvertraut, plagen ihn bereits berechtigte Unheilsahnungen. In einem inbrünstigen Gebet ersucht er die Götter, Pallas wohlbehalten heimkehren zu lassen. In diesem Falle wolle er alle Härten des Lebens klaglos ertragen, anderenfalls bitte er um seinen eigenen Tod. Nach diesen Worten fällt der Vater in Ohnmacht, später bricht er über dem Leichnam des Sohnes zusammen.880 Knobelsdorffs Sigismund betont zudem noch die Blutsverwandtschaft zwischen seinem Sohn und dem deutschen Adel.881 Der König selbst war in der Tat ein Enkel des deutschen Kaisers Albrecht II. mütterlicherseits, sein Sohn sah seit 1538 einer Verbindung mit dem kaiserlichen Haus entgegen, nämlich der Ehe mit Elisabeth, der Tochter des Erzherzogs Ferdinand.882 Knobelsdorffs Sigismund gebraucht mit der Beschwörung der Blutsverwandtschaft ein Argument, welches in nahezu allen Germania-Heroiden angesichts einer äußeren Gefahr zu Loyalität und Zusammenhalt verpflichtet. 879 Rhode, S. 202; Bues, S. 180 f. 880 Vgl. Verg. Aen. 8, 514–519; 8, 558–584; 11, 148–181. 881 Zudem rekurriert die Junktur lenimen dulce senectae (297) auf Ov. met. 6, 500, wo der greise König Pandion seine Tochter Philomela mit den Worten et mihi sollicito lenimen dulce senectae gutgläubig dem heimtückischen Schwiegersohn Tereus anvertraut, der sie schänden und verstümmeln wird. 882 Buchholz, S. 62, Anm. 2.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
Dieses Motiv der Übergabe des geliebten Sohnes in fremde Hände, die ihn schützen sollen, wird durch zwei Exempel, ein negatives und ein positives, illustriert. Das erste bezieht sich auf die nicht allzu ferne Vergangenheit. Sigismund gedenkt wehmütig des albanischen Helden Georg Kastriota Skanderbeg (1405– 1468), welcher ein Jahrhundert zuvor mehrere Aufstände gegen die osmanische Besatzung seines Landes initiiert hatte (307–328). Skanderbeg, der Sohn eines Landadeligen, der den Türken Vasallendienste leisten musste, war als Geisel am Sultanshof in Adrianopel aufgewachsen und stieg dort zu hohen militärischen Rängen auf. Nach der Ermordung seines (offenbar zu mächtig gewordenen) Vaters auf Befehl des Sultans wechselte er die Seiten und wurde zu einer Führergestalt im Kampf gegen die Osmanen. Seit den 1440er Jahren plante er Verschwörungen und ging verschiedene Bündnisse mit Neapel, Venedig und Ungarn ein. 1443 beteiligte er sich an einer Unternehmung Hunyadis und proklamierte die Unabhängigkeit Albaniens. In den folgenden Jahren errang er noch einige Siege gegen die Osmanen, konnte jedoch auf die Dauer für sein Land wenig ausrichten. Sein Plan, die vereinigten Kräfte des Abendlandes zu einem Kreuzzug zu mobilisieren, ließ sich aufgrund mangelnder Beteiligung nicht verwirklichen.883 Knobelsdorffs Sigismund erinnert daran, dass Skanderbeg, als er seinen Tod herannahen sah, seinen Sohn dem Schutz der Venezianer anvertraut habe. Diese aber seien ihrer Aufgabe nicht gerecht geworden; sie hätten die Türken nicht daran gehindert, den wehrlosen Jungen aus seinem Herrschaftsgebiet zu vertreiben (319–324). Allein der Gedanke daran erregt bei Sigismund Grauen (325–328) und gibt ihm eine direkte Handlungsanweisung ein (329–342). Germania soll ein derartiges Unheil vorausschauend abwenden und sich stattdessen ein Beispiel an den Herakliden nehmen. So wie Herakles’ Freund und Neffe Iolaos nach dem Tod des Helden auf dem Berg Oeta dessen Sohn Hyllos, sogar unter eigenen Verlusten, gegen die Nachstellungen vonseiten des Königs Eurystheus geschützt und lieber schweres Leid ertragen als sein Wort gebrochen habe, gebühre es auch den deutschen Fürsten – hier wieder in der zweiten Person Plural angesprochen als vos Teutonici Duces (340) –, einen derartigen Auftrag zu erfüllen. Die letzten beiden Verse bekräftigen diesen Anspruch mit den Forderungen nach Frömmigkeit und Gerechtigkeit und stellen Gottes Lohn in Aussicht. Der junge Knobelsdorff bedient sich in seiner Heroide weitgehend der im Türkenkriegsdiskurs geläufigen Topoi. Darunter dominieren die stets wiederholten Appelle zu unverzüglichem Handeln sowie die in Variationen den Text durchziehende Ausführung des antemurale-Gedankens. Polen kann sich ebenso wie
883 Hösch, S. 85 f.; vgl. auch Oliver Jens Schmitt: Skanderbeg. Der neue Alexander auf dem Balkan. Regensburg 2009.
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Ungarn (und gelegentlich Österreich) auf seine langbewährte und zu wenig gewürdigte Rolle als „Bollwerk der Christenheit“ berufen und Waffenhilfe sowohl im Namen nachbarschaftlicher Solidarität als auch im Eigeninteresse des Adressaten einfordern. Im Gegensatz zu den Querelae des Ursinus Velius884 und Rubigallus885 ist ein Bezug auf eine bestimmte militärische Auseinandersetzung oder politische Konstellation weniger deutlich; Starnawski bescheinigt dem Autor sogar mangelnde Kenntnis der türkischen Kriegspläne und politische „Naivität“.886 Eigene Akzente in seiner poetischen Gestaltung der Türkenkriegsparänese setzt Knobelsdorff hingegen mit der Präsentation des Königs Sigismund in der Nachfolge des greisen Helden Nestor sowie mit dem auf Emotionalisierung angelegten Motiv, dass ein schutzbedürftiges Kind fremder Obhut anvertraut wird und selbst bei hartherzigen Menschen Erbarmen finden sollte. Die Briefadressatin Germania nimmt so gut wie keine personale weibliche Rolle ein; ihr Name erscheint eher metonymisch für die deutschen Stände, und ihre besondere Bedeutung beruht auf dem Besitz des Kaisertums. Starnawskis Urteil, dass dieses Erstlingswerk des Autors als Beitrag zur polnisch-lateinischen Literatur noch keinen Meilenstein darstelle,887 erscheint zutreffend.888 Indes dokumentiert es, wie souverän auch ganz junge Humanisten die ihnen vermittelten Argumentationstechniken in Verse umzusetzen und somit Geltung in der Öffentlichkeit zu erlangen verstanden.
3.1.5 Caspar Ursinus Velius (ca. 1490/1493–1539) Querela Austriae, sive Epistola ad reliquam Germaniam (1531) Mit Caspar Ursinus Velius tritt ein altgläubiger Humanist ins Blickfeld, der an zahlreichen Zusammenkünften der Großen und Mächtigen im Reich teilnahm und beinahe sein ganzes Leben in bischöflichen und kaiserlichen Diensten ver-
884 Ursinus Velius legt innerhalb der Querela Austriae eine umfangreiche Schilderung der Belagerung von Wien 1529 vor. 885 Rubigallus hat es mit einem Ungarn zu tun, das von den Habsburgern, Osmanen und Johann Zápolya (unter osmanischer Oberherrschaft) zerstückelt wird. 886 Starnawski, S. 439. 887 Ebd. 888 Eine wesentlich größere Bedeutung ist der späteren Heroide Ecclesia Catholica afflicta beizumessen, da dort einerseits eine explizite römisch-katholische Gegenposition zu den strukturell ähnlichen Ecclesia-Episteln der Protestanten Helius Eobanus Hessus und Michael Schütz/ Toxites eingenommen, andererseits der spezifische Zusammenhang zwischen der Macht der polnischen Krone und der Treue zur römischen Kirche herausgestellt wird.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
brachte.889 Die Bewertungen der poetischen Leistungen des Schlesiers, der vor allem als (königlicher) Historiograph von sich reden machte (und vermutlich nichts zu tun hat mit dem reformierten Theologen Zacharias Ursinus), divergieren: Während Georg Ellinger trotz Anerkennung mancher Einzelheiten innerhalb des Gesamtwerkes urteilt, dass Ursinus Velius von seinen Zeitgenossen überschätzt worden sei,890 würdigen Gustav Bauch, Hermann Wiegand und Klaus Garber ihn als einen der größten an der Wiener Universität wirkenden humanistischen Poeten nach dem Tode des Konrad Celtis.891 Ursinus Velius, dessen ursprünglicher deutscher Name nicht zweifelsfrei feststeht, aber mit einiger Wahrscheinlichkeit Bernhard gelautet haben dürfte,892 wurde um das Jahr 1490 oder 1493 im schlesischen Schweidnitz (Swidnica) in einfachen Verhältnissen geboren.893 Schon im Alter zwischen 12 und 15 Jahren begann er 1505 sein Studium an der Jagiellonen-Universität in Krakau, wo er bereits durch frühe Proben im Verfassen von lateinischen und griechischen Versen den Breslauer Bischof Johannes V. Thurzó (1464–1520) nachhaltig beeindruckte und zum Gönner gewann. Der Kontakt mit der Familie Thurzó scheint sich für ihn als ein reiner Glücksfall erwiesen zu haben. Ab 1508 studierte Ursinus in Leipzig bei Johannes Rhagius Aesticampianus, begann auch selbst zu lehren und profitierte schon von den in Krakau erworbenen Griechisch-Kenntnissen. Er
889 Die noch immer einzige Monographie zu Ursinus Velius stammt aus dem 19. Jahrhundert: Gustav Bauch: Caspar Ursinus Velius. Der Hofhistoriograph Ferdinands I. und Erzieher Maximilians II. Budapest 1886. Ansonsten vgl. Gustav Bauch: Art. Ursinus, Kaspar Velius. In: ADB. Bd. 39, S. 367–369; Ellinger: Neulateinische Literatur. Bd. 1, S. 484–493; Manfred P. Fleischer: Späthumanismus in Schlesien. Ausgewählte Aufsätze. München 1984 (Silesia Folge 3), S. 5–6, 80; Wiegand: Hodoeporica, S. 46–47, 532–533; Hermann Wiegand: Art. Velius, Vehelius, Caspar Ursinus. In: Killy / Kühlmann. Bd. 11, S. 748–749; Kühlmann: Humanistische Lyrik, S. 139–157, 1020–1032; Kühlmann: Der Poet und das Reich, S. 118, Anm. 53; Rupprich, S. 16–17; Conradin Bonorand: Joachim Vadian und der Humanismus im Bereich des Erzbistums Salzburg. St. Gallen 1980 (Vadian-Studien 10), S. 215–217; Schirrmeister, S. 258–265 und passim; Flood: Poets Laureate. Bd. 4, S. 2154–2156; Klaus Fetkenheuer: Caspar Ursinus Velius: Siebzehn Spottepigramme (1522). Text, Übersetzung, Anmerkungen, literarischer Kontext. In: Neulateinisches Jahrbuch 12 (2010), S. 67–104; Klaus Fetkenheuer: Caspar Usinus Velius: Ein Geburtstagsgedicht auf Erasmus von Rotterdam (Text, Übersetzung, Kommentar, Erläuterungen). In: Mittellateinisches Jahrbuch 45 (2010). Heft 2, S. 267–305; Klaus Garber: Das alte Breslau. Kulturgeschichte einer geistigen Metropole. Köln u. a. 2014, S. 256–259; Zsolt Szebelédi: Caspar Ursinus Velius. In: David Thomas und John Chesworth (Hrsg.): Christian-Muslim Relations. Bd. 7: Central and Eastern Europe, Asia, Africa and South America (1500–1600). Leiden / Boston 2015, S. 194–200. 890 Ellinger: Neulateinische Literatur. Bd. 1, S. 485, 493. 891 Bauch, S. 4; Art. Velius (Killy / Kühlmann), S. 749; Garber: Das alte Breslau, S. 256. 892 Bauch, S. 4; Kühlmann: Humanistische Lyrik, S. 1020; Bonorand, S. 215. 893 Zu divergierenden Zeitangaben vgl. Flood. Bd. 4, S. 2154.
3.1.5 Caspar Ursinus Velius (ca. 1490/1493–1539): Querela Austriae, sive Epistola
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dürfte trotz seines noch jugendlichen Alters einer der ersten oder sogar der erste gewesen sein, der dort Kompetenz in einer Sprache demonstrieren konnte, die zu dieser Zeit gerade erst allmählich von den Humanisten wiederbelebt wurde und noch das Charisma der Seltenheit besaß.894 Von 1511 bis 1515 begleitete er seinen neuen Herrn, Matthäus Lang, den Bischof von Gurk, als Sekretär nach Italien, zunächst nach Bologna. Am meisten prägte ihn der Aufenthalt in Rom, wo er Zutritt zur Sodalitas Coritiana um Johannes Göritz (Coritius ca. 1455–1527) gewann, insbesondere zu einflussreichen Literaten wie Girolamo Vida und Pietro Bembo. Gustav Bauch beschwört paradiesische Bilder vom Leben der Humanisten zu Beginn des Pontifikats Leos X. (1513) herauf, vom zitronentragenden Garten des gastfreien Coritius, von opulenten (Kirchen-)Festen und Symposien, bei welchen Gelehrte und musisch Interessierte aus aller Welt sowohl in kulinarischen als auch in geistigen Genüssen schwelgten.895 Der nachhaltige Eindruck, welchen die Ewige Stadt auf Ursinus machte, spiegelt sich nicht nur in seinem poetischen Schaffen wider, sondern auch in dem Umstand, dass er sich nach seinem dortigen Wohnviertel Velia in Anlehnung an römische Gepflogenheiten der Namensgebung das Cognomen Ve(he)lius beilegte.896 1515 besuchte er die großen Fürstenkongresse in Preßburg (Bratislava) und Wien, wo sich den Humanisten die Gelegenheit bot, mit lateinischen Festreden zu brillieren. In Wien erreichte Ursinus Zugang zu der Sodalitas Collimitiana um namhafte Humanisten wie Georg Tannstetter (Collimitius), Joachim Vadian, Johannes Cuspinian und Rudolf Agricola den Jüngeren. Im November 1517, kaum einen Monat vor Luthers Thesenanschlägen, wurden ihm auf Anraten Matthäus Langs aus der Hand Maximilians I. die Dichterkrone und der Doktortitel zuteil, so dass er sich fortan „doctor, orator et poeta laureatus“ nennen durfte. Vielleicht noch im selben Jahr erhielt er von Johannes Thurzó, seinem alten Gönner, der weiterhin in treuer Anteilnahme seinen Werdegang verfolgte, ein Kanonikat in Breslau, welches ihm unabhängig von seinem jeweiligen Aufenthaltsort eine hinreichende materielle Versorgung gewährte. Dankbar ergriff er die Gelegenheit, endgültig den lästigen Hofdienst bei Matthäus Lang zu quittieren. 1520 musste er den Tod seines Gönners beklagen – das tat er, wie natürlich zu erwarten, auch in Versen –, wurde zu seinem Glück aber von dessen Bruder, Bischof Stanislaus Thurzó von Olmütz, nicht minder wohlwollend als Protegé übernommen.897 Schon zuvor hatte er mit der Abfassung
894 Bauch, S. 11; Garber: Das alte Breslau, S. 257. 895 Bauch, S. 13 ff. 896 Kühlmann: Humanistische Lyrik, S. 1020. 897 Bauch, S. 38.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
eines heroischen Gedichtes auf dessen Familie, einer Thurzeis begonnen, welche aber unvollendet blieb.898 Als 1521 in Wien die Pest ausbrach, floh Ursinus nach Basel und traf dort den glühend verehrten Erasmus von Rotterdam, mit welchem er schon längere Zeit eine freundschaftliche Korrespondenz unterhielt und welchen er einmal mit einem aufwendigen Genethliacon (Geburtstagsgedicht) geehrt hatte,899 zum ersten Mal persönlich. Sowohl zu Erasmus selbst als auch zu dem Historiker Beatus Rhenanus und zu weiteren namhaften Gelehrten entwickelte sich ein enger Kontakt.900 Enttäuschung über den schlechten Zustand der Wiener Universität, deren Studenten teils infolge der Pest, teils infolge der Reformation abgewandert waren, trieb Ursinus wiederum auf Reisen. Epigramme aus dieser Zeit auf das junge ungarische Königspaar Ludwig und Maria sowie auf weitere ungarische Würdenträger legen nahe, dass Ursinus sich zunächst eine Zeitlang in Ungarn aufgehalten hat.901 Ein zweites Mal brach er nach Italien auf und begab sich über Venedig wieder nach Rom, wo er nicht mehr das ungetrübte Glück früherer Tage erlebte. Die Besichtigung von Kunstschätzen scheint ihm mehr Freude bereitet zu haben als der Umgang mit seinen früheren Bekannten. Auch dort bekam der Dichter, der entschieden an seinem altgläubigen Bekenntnis festhielt, sowohl die Folgen der Reformation als auch des Papstwechsels auf empfindliche Weise zu spüren. Die Humanisten, welche sich unter Leo X. aus dem Haus der Medici großer Wertschätzung erfreut hatten, stießen sich an dem gänzlich anders gearteten Pontifikat des ernsten, sparsamen, ausschließlich auf die Erneuerung der katholischen Lehre hinwirkenden Hadrian VI. (1459/1522–1523). Ursinus jedoch machte ihn zum Adressaten einer flammenden Ode gegen Luther und seine Anhänger. Noch in einer anderen Angelegenheit waren sich Papst und Dichter einig. 1522 war Rhodos, der Sitz des Johanniterordens und somit eines der letzten großen Bollwerke der Christenheit von den Osmanen erobert worden. Hadrian war die Verteidigung bzw. Rückgewinnung der Insel ein Herzensanliegen, welches sich aber nicht verwirklichen ließ. Obwohl die Johanniter hatten kapitulieren müssen, verließen sie ihre einstige Wirkungsstätte nicht, sondern
898 Ebd., S. 33. 899 Zu diesem Text, der als „wichtiges Zeugnis der Erasmus-Verehrung“ gelten kann, vgl. Fetkenheuer: Caspar Ursinus Velius: Ein Geburtstagsgedicht, hier S. 268. 900 Erasmus erging sich in überschwänglichem Lob über Ursinus in Bezug auf dessen Persönlichkeit, Aussehen und Talent und prophezeite ihm eine glänzende Zukunft. Ebd., S. 267. 901 Von (offenbar zwei) Ungarnaufenthalten des Autors spricht lediglich Bauch, S. 46, 50 ff. Diese finden in der folgenden Forschung außer bei Garber: Das alte Breslau, S. 259 keine Erwähnung – bedauerlicherweise, denn sie sind nicht unerheblich für seine Schriften, von denen ein nicht geringer Teil ungarische Angelegenheiten zum Inhalt hat.
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baten in einer Gesandtschaft an Hadrians Nachfolger Clemens VII. um militärische Hilfe zur Rückeroberung.902 Auf diese 1524 in Rom gedruckte Rede reagierte Ursinus mit einem poetischen Beitrag, in welchem er sowohl dem neuen Papst zu seiner Wahl gratuliert als auch für einen kreuzzugartigen Krieg gegen die Türken unter dessen Führung wirbt.903 Ihm schwebte nichts Geringeres vor als eine paneuropäische Allianz, in welcher der Papst, die beiden Habsburger Brüder, das gesamte Reich, Spanien, Frankreich und Ungarn ihre Kräfte konzertieren sollten.904 Indessen bemühte sich in Wien Erzherzog Ferdinand, der Bruder Karls V., die vom Niedergang betroffene Universität durch Reformen und zahlreiche Verbesserungen wieder attraktiv zu machen, und übertrug Ursinus nach dessen Rückkehr 1524 den Lehrstuhl für Rhetorik.905 Im Februar 1525 errang Karl V. bei Pavia einen Sieg über Franz I. – für Ursinus ein Anlass, schon Anfang März eine Ode in alkäischen Strophen zu publizieren, welche die beiden Habsburger als unbezwingliches Brüderpaar feiert.906 Karl erscheint darin als Rächer des (ebenfalls mit Frankreich rivalisierenden) Großvaters und Vorgängers Maximilian, Ferdinand als totius imperii custos.907 Den Winter 1525/1526 verbrachte Ursinus in Ungarn, und zwar in Ofen (Buda) im Hause seines Gastfreundes Jakob Piso, der bis zum Prinzenerzieher am ungarischen Königshof aufgestiegen war. Ursinus, der auf Anraten Pisos nach einer neuen festen Stellung Ausschau hielt, genoss den regen Umgang mit Gelehrten, zumal mit weltlichen und geistlichen Würdenträgern.908 Einmal nach dem Anlass seiner Reise befragt, soll er außer den Tugenden und Verdiensten einzelner (ungarischer) Männer auch das „Spartanervolk der Ungarn“ gerühmt haben.909 Am 29. August 1526 nahm die Schlacht bei Mohács ein für Ungarn schreckliches Ende. Dabei fand auch der militärisch hoffnungslos unterlegene, gerade einmal 20-jährige ungarische König Ludwig II. den Tod. Der mit ihm verschwägerte Ferdinand machte nun seine durch den Heiratskontrakt von 1515 erworbe902 Bauch, S. 47. 903 C. Vrsini Velii Germani ad Rhodum consolatio (gratulatio ob Clementis VII. Pont. Max. elec tionem). 904 Bauch, S. 47. 905 Ebd., S. 50. Vgl. zu Ferdinands Reformmaßnahmen auch Sutter Fichtner: Ferdinand I., S. 12 f. So bemühte er sich, wenn auch vergebens, Erasmus für die Universität zu gewinnen. 1523 richtete er einen Lehrstuhl für Griechisch, 1535 einen für Hebräisch ein. 906 De mirabili victoria Caesarianorum adversus Gallos ac potent. Regis captivitate […] Eiusdem in laudem Caesaris Maximiliani et Henrici VIII Britanniae Regis carmen. Wien 1525. 907 Bauch, S. 50. 908 Ebd., S. 50 f. 909 Ebd., S. 51.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
nen Ansprüche auf den Thron geltend, stieß jedoch in dem mit Sigismund I. von Polen verschwägerten ungarischen Aristokraten Johann Zápolya (1487–1540), dem Wortführer einer nationalen Adelspartei, auf einen starken Widersacher, der sich von den einheimischen Magnaten zum (Gegen-)König wählen und krönen ließ. Der Habsburger holte zum militärischen Gegenschlag aus und engagierte Ursinus, der sich schon mehrfach durch panegyrische Dichtung auf seine Dynastie hervorgetan hatte, als Hofhistoriographen. Als Ferdinand wenigstens den nordwestlichen Teil Ungarns (darunter Gebiete der heutigen Slowakei) für sich behaupten konnte und am 3. November 1527 in der Marienkirche in Stuhlweißenburg (Székesfehérvár) zum König gekrönt wurde – übrigens zum zweiten Mal: Seine erste Krönung von 1526 in Preßburg verschaffte ihm noch keine Akzeptanz beim ungarischen Adel –, fiel es Ursinus zu, von der geschmückten Kanzel in einer lateinischen Festrede910 das Land und seinen neuen Herrscher in das vorteilhafteste Licht zu rücken.911 Dabei schreckte er auch nicht vor der Erörterung eines wesentlichen Problemes zurück, nämlich der grundsätzlich ablehnenden bis feindlichen Haltung des ungarisches Adels gegenüber einem nichtungarischen Herrscher. Zur Legitimierung von Ferdinands so heftig bestrittenen Ansprüchen argumentierte er mit dessen Bereitschaft und Fähigkeit zur Beschirmung des christlichen Glaubens und zur Abwehr der Osmanen. Bereits in diesem Zusammenhang fällt das sowohl bei ihm als auch bei anderen Humanisten durchweg gebrauchte Schlagwort von Ungarn als dem „Bollwerk Europas.“912 Im königlichen Winterquartier in Gran begann Ursinus mit der Abfassung eines historiographischen Werkes von 10 Büchern De bello Pannonico libri decem, das weitgehend dieselbe Thematik zum Inhalt hat, nämlich die Auseinandersetzung zwischen Ferdinand und Zápolya (freilich aus habsburgischer Perspektive). Dieses sein Hauptwerk blieb (vielleicht durch seinen Tod) unvollendet und sollte noch im 19. Jahrhundert bei Leopold von Ranke Anerkennung finden. Ursinus’ Heirat im Herbst 1529 in Wien fiel gerade in die Zeit, wo die erste osmanische Belagerung die Stadt in Aufregung hielt.913 1530 besuchte er den religionshistorisch bedeutsamen Augsburger Reichstag, wo er sich unter den römisch-katholischen Parteigängern aufhielt, welche als scharfe Replik auf die Confessio Augustana ihre Confutatio verfassten.914 Am 11. Januar 1531 erreichte
910 Oratio habita in Alba Regali die felicissimae coronationis inclyti ac potentis Ferdinandi Unga riae Bohemiaeque regis etc. anno 1527 non. 3 novembris. Wien 1527 / Basel 1527/28. 911 Bauch, S. 54 f.; zum Inhalt der Rede vgl. Szebelédi, S. 196 f. 912 Szebelédi, S. 196 f. 913 Ebd., S. 60 f. 914 Ebd., S. 62 f.
3.1.5 Caspar Ursinus Velius (ca. 1490/1493–1539): Querela Austriae, sive Epistola
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Ferdinand ein weiteres auf Karls Betreiben von langer Hand vorbereitetes Ziel und wurde nach einem den Kurfürsten mühsam abgerungenen positiven Wahlergebnis in Aachen zum Römischen König (und somit zu einem potentiellen Nachfolger seines Bruders auf dem Kaiserthron) gekrönt. Wieder fungierte Ursinus als Festredner, wieder einmal mahnte er die Fürsten zur Loyalität gegenüber dem Kaiser und zur entschlossenen Abwehr der Türken.915 Über seine nächsten Lebensjahre ist kaum etwas bekannt, außer dass er seit 1531 mit der Erziehung von Ferdinands Kindern betraut war. 1539 verstarb er unter nicht vollständig geklärten Umständen, die Anlass zu allerlei Mutmaßungen und Gerüchten boten. Offenbar ertrank er in der Donau.916 Gegenüber der Meinung, er sei ermordet und „entsorgt“ worden, setzte sich weitgehend die These durch, er habe sich aus Schwermut oder wegen ehelicher Querelen das Leben genommen.917 Seine Freunde wollten den Vorwurf des Selbstmordes nicht auf ihm sitzen lassen und stellten ein Büchlein aus Gedichten über ihn zusammen. Sie brachten erbauliche Erzählungen in Umlauf, nach welchen der Betreffende andächtig am Gottesdienst teilgenommen habe, bevor er in Trübsal versunken am Donauufer entlang spaziert und aufgrund eines kleinen Erdrutsches ins Wasser gestürzt sei.918 Unter den Wiener Humanisten zeichnete sich der Schlesier durch seine in Krakau erworbenen und in Bologna vertieften Griechisch-Kenntnisse aus. Auch soll er das Studium dieser Sprache in Wien maßgeblich gefördert und somit einem noch 1513 von Vadian beklagten Mangel abgeholfen haben.919 Gustav Bauch resümiert, dass Ursinus mit seinen vielen Dichtungen zwar nicht den erhofften Nachruhm erlangt habe, dass aber zumindest sein Bellum Pannonicum es verdiene, in einer moderneren Edition seinen Lesern zugänglich zu werden.920 Caspar Ursinus Velius hinterließ seine 1522 in Basel gedruckten Poematum libri quinque und eine spätere Sammelpublikation von 1524, die zu einem großen Teil aus panegyrischen Texten auf das Haus Habsburg bestehen, wie etwa Epithalamien, Trauergedichte und Gratulationen zu Krönungen und zu militärischen Siegen.921 Sein durchaus zeittypisches Interesse an der Vergangenheit großer Dynastien kommt in einer Reihe von Monosticha und Disticha zum Ausdruck, welche Königs- und Kaiserportraits von der römischen bis zu seiner eigenen Zeit
915 Ebd., S. 63. 916 Zumindest darin sind sich fast alle Darstellungen einig, obwohl Bauch, S. 71 es ausdrücklich als ungewiss bezeichnet, ob man überhaupt seinen Leichnam überhaupt gefunden habe. 917 Flood. Bd. 4, S. 2154 behauptet dies als Tatsache. 918 Bauch, S. 72 ff. 919 Bonorand, S. 216. 920 Ebd., S. 76. 921 Vgl. die Verzeichnisse bei Bauch, S. 77–84 und Flood. Bd. 4, S. 2154–2156.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
enthält.922 Ebenso finden sich aber auch Epigramme vielfältigen Inhalts und religiöse Gedichte wie z. B. eine Würdigung des heiligen Leopolds und eine Danksagung an die Mutter Gottes für die wunderbare Errettung aus vielfältigen Gefahren. Ein Gedicht preist die Schönheiten Roms mit der überraschenden Pointe, dass die schlesische Heimat des lyrischen Ichs der Ewigen Stadt ebenbürtig sei. Als Ursinus im Gefolge Ferdinands sowohl vom Augsburger Reichstag als auch von Ferdinands Krönung zum Römischen König in Aachen im Januar 1531 nach Wien zurückgekehrt war, verfasste er seine Querela Austriae, sive Epistola ad reliquam Germaniam, die in nahezu allen längeren oder kürzeren Abhandlungen zu Ursinus Erwähnung findet.923 Nachdem er die Querela seinen Freunden Beatus Rhenanus und Conrad Peutinger zur Begutachtung vorgelegt hatte, gab er sie mit einer Widmung an seinen Freund und Gönner, den bömischen Prokanzler und Probst zu Olmütz Wenzel von Wilhartitz in Augsburg zum Druck.924 In seiner Widmungsvorrede betont der Autor, den damaligen Gepflogenheiten entsprechend, nicht näher genannte Wohltaten (beneficia) des Adressaten, die sich nicht aufzählen ließen. Wem, fragt er, solle er eine Schrift eher zueignen als ihm, der auch Horaz’ Freund Quintilius an Scharfsinn und Aufrichtigkeit nicht unterlegen sei? Dem Adressaten wird also die Rolle des bei Horaz mehrfach erwähnten Ritters Quinctilius Varus925 zugewiesen, der offenbar als Inbegriff eines in Fragen der Poesie gerecht und unbestechlich urteilenden Freundes gilt. Die Querela Austriae ist vor dem Hintergrund einer schon bis ins 14. Jahrhundert zurückreichenden Heimsuchung christlicher Mächte durch die Osmanen, besonders aber einer erst kurz zurückliegenden und noch nachwirkenden Bedrohung durch den berüchtigten Sultan Süleyman den Prächtigen zu verstehen, welcher mit dem tatsächlichen oder vermeintlichen Ziel der Weltherrschaft die beiden Habsburger Brüdern herausforderte und von Ferdinand sogar den diesem verbliebenen Rest von Ungarn verlangte.926 Ein Kernstück dieser Heroide bildet die eindringliche Vergegenwärtigung einer erst kürzlich überstandenen und noch aktuell nachwirkenden Gefährdung, nämlich der letztlich erfolglosen osmani-
922 Vgl. die Kaiserportraits des Georg Sabinus. 923 Seltsamerweise verliert ausgerechnet der auf Heroidendichtung spezialisierte Dörrie: Der heroische Brief, S. 456 lediglich einen einzigen Satz darüber. „Zunächst klagt Austria in einem Brief an das übrige Deutschland über die Türkennot:“ Daraufhin folgen die bibliographischen Angaben im Zusammenhang mit Paulus Rubigallus, Querela Pannoniae ad Germaniam und Eustathius von Knobelsdorff, De bello Turcio elegia. Für hervorhebenswert hält die Querela Austriae auch Eickmeyer: Der jesuitische Heroidenbrief, S. 144, Anm. 462. 924 Bauch, S. 65 f. 925 Hor. carm. 1, 18; carm. 1, 24; ars 438–444. 926 Ebd., S. 66.
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schen Belagerung Wiens vom 27. September bis zum 14. Oktober 1529,927 welche in einer solchen Breite und Eindringlichkeit geschildert wird, dass sie beinahe eine Art „Epyllion“ darstellen könnte, wenn sie nur im epischen Versmaß, dem daktylischen Hexameter, abgefasst wäre. Ursinus kennzeichnet diese 420 Verse (210 Distichen) umfassende Epistel durch ihren Titel Querela explizit als Klage bzw. Klageschrift, was bereits die Forderung nach Beistand in einer Notsituation andeutet. Dieses Element der Klage ist ohnehin schon in der Gattung der Heroide und Elegie angelegt.928 Eine zusätzliche aktuelle Bedeutung mag sie noch durch den publizistischen (nicht realpolitischen) Erfolg von Erasmus’ Querela Pacis erhalten haben, die dieser 1517 anlässlich eines bevorstehenden Fürstenkongresses veröffentlicht hatte. Während der Terminus Querela in Bezug auf Österreich generell, zumal auf eine allegorisierte Austria singulär sein dürfte, begegnet er in der humanistischen Publizistik (und noch darüber hinaus) fast durchweg, wo auch immer die prekäre Lage des östlich angrenzenden Landes zur Diskussion steht. Der Topos Querela Hungariae bzw. Querela Pannoniae avanciert zum unentbehrlichen argumentativen Bestandteil oder sogar zum Titel einiger patriotischer Schriften.929 Die hier zur Diskussion stehende Austria verkörpert offenkundig die österreichischen Erblande und somit den unmittelbaren Machtbereich von Ursinus’ Dienstherrn Ferdinand.930 Das Verhältnis, in welchem die schreibende Austria und die Adressatin Germania zueinander stehen, wird nicht begrifflich definiert – wie es etwa bei Mutter-Tochter-Beziehungen naheläge –, doch lässt sich hier an die Kommunikation zweier Schwestern denken. Austria eröffnet ihre Klage (Qvam peto magna tibi Germania mitto salutem,/ Pannonis innumeris Austria fracta malis). Sie ist durch die nur wenige Jahre zurückliegende Niederlage Ungarns bei Mohács 1526 in Mitleidenschaft gezogen worden und fristet nun ihr Leben in bedrohlicher Nachbarschaft zu den Türken. Sie mahnt Germania eindringlich, gerade auch im eigenen Interesse ein Bewusst927 Vgl. dazu Walter Hummelberger: Wiens erste Belagerung durch die Türken 1529. Wien 1976 (Militärhistorische Schriften, Heft 33); Buchmann, S. 86–92; Matschke, S. 243–249; Turetschek, S. 110–127. 928 Ritter, S. 41 nennt querela und adhortatio als „Grundkomponenten der römischen Liebeselegie“. 929 Darauf wird in den Kapiteln dieser Arbeit zu Paulus Rubigallus näher einzugehen sein. 930 In diesem Zusammenhang erscheint es nicht unerheblich, dass Ursinus in seinem Gedicht Leopoldvs sev Paean in Divvm Leopoldum, Austriae Principem & tutelare numen gleich im ersten Vers die domus Austria als alma parens regum, & nutrix feiert. Selma Krasa-Florian: Die Allegorie der Austria: Die Entstehung des Gesamtstaatsgedankens in der österreichisch-ungarischen Monarchie und die bildenden Kunst. Köln / Wien 2007 widmet sich fast ausschließlich dem 19. und teilweise noch 18. Jahrhundert.
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sein für die prekäre Lage in Osteuropa zu entwickeln, und ruft ihr, ausdrücklich zum wiederholten Male, die Gefährlichkeit des Türken ins Gedächtnis, den sie vor allem als treulos und wortbrüchig charakterisiert. Sie betont: Non hic bella gerit qua nos ratione solemus: Soluit hic arbitrio pacta, fidemque suo.931 Der führt seine Kriege nicht auf dieselbe Weise wie wir, Verträge und Zusagen bricht er nach eigenem Gutdünken.932
Diese Behauptung bezieht sich einerseits auf ein konkretes historisches Ereignis, nämlich auf die der Belagerung Wiens unmittelbar vorangehende osmanische Eroberung der ungarischen Hauptstadt Ofen (Buda) am 8. September 1529, wo die Verteidiger sich schließlich ergaben und trotz anderslautender Kapitulationsbedingungen teils niedergemetzelt, teils in die Sklaverei verkauft wurden. Aus dieser bitteren Erfahrung zogen die Verteidiger von Wien entsprechende Konsequenzen, indem sie trotz wohlklingender Versprechungen ihre Stadt nicht räumten.933 Andererseits gehört der Vorwurf der perfidia zur gängigen Topik in der Charakterisierung des (insbesondere türkischen) Feindes. Somit folgt die Heroide schon zu Beginn den diskursiven Regeln des antiosmanischen Schrifttums.934 Austria untermauert ihre Argumentation von der Gefährlichkeit des Feindes durch einen über 60 Verse umfassenden Abriss von der osmanischen Expansion unter verschiedenen Sultanen, ausgehend von der Eroberung der anatolischen Stadt Bursa durch den Reichsgründer Osman I. (1326) bis zu den Ereignissen der jüngsten Gegenwart, der letztlich erfolglosen Belagerung Wiens von 1529 (19–80).935 Überraschenderweise finden dabei selbst Ereignisse, die als Zäsuren in die Historie eingegangen sind, so z. B. die Eroberung Konstantinopels
931 Fol. A 2 r. 932 Übersetzung T. B. 933 Hummelberger, S. 5 f. Vgl. dazu ebd., S. 6:„In diesem eklatanten Bruch des damals üblichen Kriegsrechtes ist ein maßgeblicher Grund für die kompromißlose Standhaftigkeit der Verteidiger Wiens zu suchen.“; Buchmann, S. 87. 934 Sieber-Lehmann, S. 17, insbesondere auch Anm. 16 hält den Vorwurf der perfidia, der bei der Charakterisierung der Araber und Sarazenen noch nicht begegne, für eine genuine Erfindung der anti-osmanischen Propaganda. Richtig dagegen Wiegand: Krieg und Frieden in der neulateinischen Lyrik, S. 78 f: „Die Türken beziehen in der neulateinischen Dichtung ebenso ihren poetischen Namen Getae von dem Römer wie zahlreiche Details ihrer Charakteristik.“ Ähnlich Wiegand: Neulateinische Türkenkriegsepik, S. 182 f.: „In der Tat war der perfidia-Vorwurf ein wichtiges Element des Arsenals der christlichen Türkencharakteristik.“ 935 Auch an anderer Stelle zeigt sich Ursinus’ eingehendes Interesse an der osmanischen Vergangenheit. Seine Monosticha auf die Kaiser enthalten sogar Würdigungen der ersten vier Sultane.
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von 1453,936 oder für Ursinus unmittelbare Aktualität besitzen, wie etwa die für Ungarn verhängnisvolle Schlacht bei Mohács von 1526, lediglich summarische Erwähnung in wenigen Versen. Diese Eroberungen, so fährt Austria fort, seien dem schrecklichen Feind nicht genug gewesen; er sei auf neue Beute ausgezogen: Non satis hoc fuerat redijt teterrimus hostis, Diripuitque noua nobile clade solum. Hic primus fines ausus superare receptae Pannoniae, inuasit Theutona terra tuos. Acer ab Euxini latebris, ac littore Ponti Innumeri secum militis agmen agens, Primus hic invictae, magna est ea gloria, genti Emensus longas intulit arma, uias.937 Damit nicht genug – der abscheulichste Feind kehrte wieder und plünderte den Boden, der durch eine neuerliche Niederlage berühmt geworden war. Er hat es als erster gewagt, die Grenzen des rückeroberten Ungarns zu überschreiten, und ist nun bis zu den Deinen vorgedrungen, teutonisches Land. Voll Kampfesmut führte er von den Schlupfwinkeln und vom Strand des Schwarzen Meeres einen Zug von unzähligen Soldaten mit sich und begann als erster – groß ist dieser Ruhm – Krieg mit dem unbesiegbaren Volk, indem er lange Entfernungen zurückgelegt hatte.
Hier legt Ursinus seiner Heroine die Belehrung in den Mund, der Türke habe durch seine Belagerung Wiens, von der ja gerade die Rede ist, die Theutona terra angegriffen. Die Briefschreiberin stellt die Belagerung ihrer eigenen Residenzstadt, ohne ein Wort über sich selbst zu verlieren, als eine Invasion in das Gebiet der Adressatin dar. Austria und Germania, Österreich und Deutschland, bilden an dieser Stelle also insofern eine Schnittmenge, als Germania das Reich, das Hoheitsgebiet des Kaisers im weitesten Sinne verkörpert. Offenkundig nimmt Ursinus als Historiograph Ferdinands für dessen Erblande, also für Österreich, sogar eine übergeordnete Position in Anspruch, wenn er Austria, wie im Titel angegeben, ad reliqvam Germaniam schreiben und diese somit als einen „(übrigen) Teil ihrer selbst“ definieren lässt. Austria appelliert zusätzlich im Rückgriff auf taciteische Topik an Germanias Ehre, indem sie den türkischen Übergriff auf den edlen Boden (nobile solum) und die invicta [germana] gens durch die Parenthese magna est ea gloria charakterisiert.938 Es folgt der Abschluss der bisherigen Expansionsgeschichte der Osmanen mit dem Versuch der Eroberung Wiens vom Herbst 1529. Dieses weithin Bestür936 Zu der schockierenden Wirkung auf die Zeitgenossen wie auch zu der dadurch ausgelösten publizistischen Flut vgl. Matthias Thumser, S. 60 ff. 937 Fol. A 3 r. 938 Ebd.
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zung auslösende Ereignis, das dem Reich beinahe zum Verhängnis geworden wäre, bietet Austria Anlass zu einer ausführlichen Darstellung der Türkengräuel, wie sie für die Literatur der Turcica von Anfang an konstitutiv ist: Tum loca mox ardent hostilibus omnia flammis, Caeduntur rabie femina virque pari. Arrectis etiam praefigunt turpiter hastis Infantes teneros praecipitantque solo. Paruula quinetiam transfigunt corpora palis, Pars in frusta secant, pars caput ense metunt. Immaturum alij, dictu miserabile, foetum Excindunt utero, proijciuntque feris. Nec satis est uno geminas in corpore vitas Tollere, diuulsas exanimare iuuat.939 Daraufhin brennen bald alle Orte von feindlichen Flammen, mit gleicher Wut werden Mann und Frau niedergeschlagen. Sogar zarte Kinder spießen sie schmählich mit erhobenen Lanzen auf und schleudern sie zu Boden. Sogar noch ganz kleine Leiber durchbohren sie mit Pfählen, ein Teil schneidet sie in Stücke, ein Teil mäht sie mit dem Schwert nieder. Andere reißen, jämmerlich zu sagen, den noch ungeborenen Fötus aus dem Mutterleib und werfen ihn wilden Tieren vor. Es genügt ihnen nicht, in einem einzigen Leib zwei Leben zu vernichten; es macht ihnen Freude, sie erst auseinanderzureißen und dann zu töten.
Ursinus lässt Austria Gräueltaten aufzählen, welche er auch an anderer Stelle, im sechsten Buch seines Bellum Pannonicum, von der Belagerung Wiens berichtet.940 Bauern sinken als Mordopfer an Altären und heiligen Stätten nieder. Frauen werden an Händen und Füßen gefesselt, müssen den Gang vierbeiniger Tiere nachahmen und erleiden Vergewaltigungen in Form besonders perverser Praktiken.941 Innerhalb dieses über 60 Verse umfassenden Gräuel-Katalogs bekräftigt Austria zudem mit einigem Nachdruck ihre Behauptung, dass Flucht vor den mordenden Barbaren in keinem Fall möglich sei. Wohin man sich auch wende, überall sehe man sich plötzlich in direkter Konfrontation mit dem Verfolger. Sicherer Tod (certa mors) oder schmähliche Knechtschaft (foedum servitium) seien gewiss, Hoffnung auf Flucht oder Rettung gebe es nicht (Et spes nulla fugae, parua salutis erat.). 939 Fol. A 3 v. 940 Vgl. Caspar Ursinus Velius: De bello Pannonico libri decem. Hrsg. von Adam Frantisek Kollár. Wien 1762, S. 109: Ac primum quidem ut plurimum terroris incuterent hostes, a nullius caede sibi temperaverunt; neque vero sexus, neque aetas ulli profuit, quo minus infantes, impuberes, etiam utero gerentes foeminas contrucidarent. (Zunächst verschonten die Feinde, um größten Schrecken zu verbreiten, niemanden mit Mord; weder Geschlecht noch Alter kam jemandem zugute oder hinderte sie daran, kleine Kinder, Unmündige, ja sogar schwangere Frauen abzuschlachten.) Übersetzung T. B. 941 Fol. A 3 v–A 4 r.
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Luctus ubique ingens, faciesque miserrima leti: Omnia praecipiti clausa fuere fugae. Non nemora & rupes, non & texere ferarum Lustra, nihil tuti per loca tuta fuit. Fugeris in montes, iuga per montana sequuntur: Fugeris in saltus, semita quoque, via est. Invia peruadunt diuortia tramite certo, Siue per obliquum, siue per arcta ruant. Impediuntque fugam miserorum praepete cursu: Et modo post tergum qui fuit, ante uolat. Nec lucis tutus, nec munere noctis opacae Qui fugit ignarus, quae fugit, arma petit.942 Gewaltige Trauer überall und das erbärmlichste Antlitz des Todes, alle Orte sind einer überstürzten Flucht versperrt. Weder Wälder noch Felsen noch die Schlupfwinkel wilder Tiere boten Schutz, keine Sicherheit gab es an sicheren Orten. Fliehst du in die Berge, folgen sie dir über Bergkämme, fliehst du in Schluchten, dient ihnen auch ein enger Pfad als Weg. Schwer begehbare Weggabelungen überwinden sie auf sicherem Pfad, ob sie nun durch abschüssiges oder enges Gebiet dahineilen. Mit vorauseilendem Lauf hindern sie die Flucht der Unglücklichen, und bald fliegt vorneweg, wer eben noch hinter dem Rücken des anderen lief. Wer ortsunkundig flieht, ist weder bei Tageslicht noch bei dunkler Nacht sicher und stößt auf die Waffen, vor denen er flieht.
Hier lässt Ursinus seine Heldin Bezug nehmen auf die Massenflucht von Bürgern aus Wien,943 von welchen tatsächlich viele ins Visier der Akindschi gerieten, einer
942 Ebd. Vgl. De bello Pannonico, S. 109: Unde passim foeda ex agris ac miserabilis fuga agrestium orta, quorum alii in proximas sylvas fugientes salutem quaesiverunt; alii oppida vicina, plenissimis viis agentium trahentiumque partem aliquam fortunarum, ipsamque adeo urbem Viennam petierunt: […] Hostes nihilo segnius grassari ulterius, atque omnia loca ferro atque igni vastare: sylvam ante omnia circa urbem occupare, in qua fugientium magnum numerum interfecerunt, paucis per occultos tramites ac loca saltuosa elapsis: quorum alii fame perempti, post dies aliquot vix semivivi tenebrarum beneficio ex latebris prodire tandem coacti, aut per notas semitas, sive quocunque casus tulit errantes evaserunt, aut rursus in hostium manus crudelissimas inciderunt. (Da begann ringsumher eine schmähliche und beklagenswerte Flucht der Bauern von ihren Äckern, von welchen die einen in die nächstgelegenen Wälder flohen und so ihr Heil suchten, von welchen andere auf Wegen, welche überfüllt waren von Menschen, die einen Teil ihrer Habe mit sich schleppten, in benachbarte Städte und sogar nach Wien selbst eilten. […] Die Feinde wüteten darüber hinaus nicht weniger eifrig und verwüsteten alle Orte mit Feuer und Schwert; sie besetzten vor allem den Wald um die Stadt, in welchem sie eine große Zahl von Fliehenden niedermachten, wobei nur wenige über verborgene Pfade und waldiges Gelände entkamen: Von diesen starben die einen an Hunger. Nach einigen Tagen mussten diejeinigen, welche dank ihrer Verstecke gerade noch halb am Leben waren, endlich aus ihren Schlupfwinkeln hervorkommen; entweder entkamen sie auf bekannten Pfaden dahin irrend, wohin auch immer der Zufall sie führte, oder sie gerieten wieder in die unsagbar grausamen Hände ihrer Feinde.) 943 Vgl. dazu Hummelberger, S. 13.
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schnellen Reitertruppe, die zur Terrorisierung der Landbevölkerung abgerichtet war. Zeitgenössische Berichte überboten einander mit Schilderungen, nach welchen Frauen, Kinder und Studenten zu bevorzugten Opfern unbeschreiblicher Grausamkeit wurden.944 Die Panik der Einwohnerschaft war nicht zuletzt auf mangelndes Organisationsgeschick der Obrigkeit bei der Abwehr des Feindes zurückzuführen. Ferdinand hatte auf dem Reichstag zu Speyer im Frühling 1529 die von ihm beantragte „eilende Türkenhilfe“ nur unter der Bedingung erhalten, dass er sie entgegen seinen Plänen ausschließlich zu defensiven Zwecken, d. h. zur unmittelbaren Abwehr eines türkischen Angriffs, keineswegs aber zu darüber hinausgehenden Maßnahmen verwendete. Auf diese Weise wollten die (teils protestantischen) Reichsstände sicherstellen, dass die Gelder nicht zur Bekämpfung der Reformation zum Einsatz kamen.945 Ferdinand hingegen hielt in Verkennung der realen Gefahr bis in den Frühsommer hinein an seinen Plänen zu einer Vertreibung der Türken von der österreichisch-ungarischen Grenze fest, ein riskantes Unterfangen, von welchem er sich erst in allerletzter Frist von der klugen Voraussicht der für Wien verantwortlichen Kommandanten abbringen ließ.946 Da also die Verteidigung der Stadt nicht langfristig und konsequent geplant worden war, fühlten sich große Teile der Bevölkerung durch das eher geringe Aufgebot an Verteidigungstruppen zu wenig geschützt und suchten ihr Heil in der Flucht. Bestärkt wurden sie darin durch Schreckensnachrichten von Leuten, die dem Gemetzel bei Ofen hatten entfliehen können.947 Gerade aufgrund einer derartigen Erfahrung versucht Ursinus’ Austria, ihre Adressatin indirekt vor einer naheliegenden impulsiven Reaktion zu warnen, welche, ohne auch nur das einzelne Menschenleben zu retten, dem Gemeinwesen zum Verhängnis gereichen kann. Es folgt eine deskriptive, gewissermaßen ethnographische Passage.948 Zunächst fällt der Türke durch seine fremdartige und bedrohliche äußere Erscheinung auf. Sein Kopf ist bedeckt mit einer weißen Binde und einer blutbenetzten, rotschimmernden Helmspitze. Bezeichnenderweise erinnert der seitlich von der Oberlippe hängende und mit der ansonsten glattrasierten Haut kontrastierende Bart an die Stoßzähne eines Ebers, welcher in der Literatur seit Homer den Inbegriff ungezügelter kreatürlicher Gewalt darstellt. Die Beschreibung des Aussehens im engeren Sinne wird ergänzt durch detaillierte Angaben zur üblichen Bewaffnung, welche in Schild, Lanze, Schwert, Krummsäbel, Pfeil, Bogen und Köcher besteht. Die als bewunderungswürdig dargestellten Schieß- und Reitkünste des Türken entbeh944 Ebd., S. 19 f. 945 Ebd., S. 6 ff. 946 Ebd., S. 12 ff. 947 Ebd., S. 19. 948 Fol. A 4 v–B 1 r.
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ren dabei nicht der Heimtücke, wie einige Verse, inspiriert von der Schilderung wütender Bienen in Vergils Georgica, summarisch zum Ausdruck bringen: Dirigit aduersus aeque, fugiensque sagittas Tam certus quam uix Pandarus ipse fuit. Vulneris in latebris exempta relinquit arundo Fixa alta ferri spicula, sicut apis.949 Nach vorne gewandt wie auch fliehend lenkt er gleichermaßen seine Pfeile so sicher, wie es kaum Pandarus selbst war. Der Schaft, aus der Tiefe der Wunde herausgezogen, hinterlässt tief eingebohrte Eisenstachel wie eine Biene.
Der Türke beherrscht demzufolge sowohl den fairen Kampf in direkter Konfrontation mit dem Gegner als auch den sog. „Partherschuss“, das bei vorgetäuschter Flucht unerwartete Absenden von Pfeilen hinter dem Rücken, durch welches in der römisch-augusteischen Literatur die Parther charakterisiert werden, deren Erbe als literarisches Feindstereotyp in der Neuzeit die Türken angetreten haben. In diesen Kontext passt auch der Vergleich des Gegners mit dem homerischen (Anti-)Helden Pandaros vorzüglich, dem (ansonsten wenig hervortretenden) Trojaner, der im vierten Gesang der Ilias von Athene, der Parteigängerin der Griechen, überlistet und zum heimtückischen Schuss auf den arglos am Freundschaftsbündnis mit Troja festhaltenden Menelaos verleitet wird.950 Anhand einer Figur des homerischen Epos kann Austria sowohl eine besondere Fähigkeit des Türken als auch seine durchweg angeprangerte perfidia – Bündnisbruch und hinterhältige Kampftaktik, besser noch: Bündnisbruch durch hinterhältige Kampftaktik – mit Referenz auf die Autorität antiker Klassiker illustrieren. Die anschließenden vier Verse, den Reitkünsten des Feindes gewidmet, der sein Pferd in virtuoser Weise zu schnellen Drehungen, Wendungen und Haltemanövern abgerichtet hat,951 runden das Bild vom äußerst gefährlichen Krieger ab.
949 Fol. A 4 v. Vgl. Verg. georg. 4, 236–238: illis ira modum supra est, laesaeque venenum/ morsibus inspirant et spicula caeca relinquunt/ adfixae venis animasque in volnere ponunt. 950 Vgl. Hom. Il. 4, 86–219: Verleitung des Pandaros durch die in Männergestalt erscheinende Athene, Verletzung des Menelaos und seine medizinische Behandlung. In Hom. Il. 3, 298–323 hatten die beiden im Krieg befindlichen Völker vor dem Zweikampf zwischen Paris und Menelaos ein Freundschaftsbündnis geschlossen und durch die Bitte an Zeus bekräftigt, dass derjenige, der das Bündnis zuerst verletze und sich somit als moralisch unterlegen erweise, auch im Kampf unterliegen möge. 951 Vielleicht hier im Kontrast zu Tac. Germ. 6, wo die Reiter sich mit weder besonders schönen noch schnellen oder wendigen Pferden auf die Taktik des eher einfachen, aber dafür geschlossenen Sturmangriffs beschränken.
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Im Folgenden befasst sich Austria mit dem militärischen und politischen System der Osmanen und gibt einen Überblick über deren Machtstrukturen.952 Der Sultan – im Text analog zu europäischen Institutionen als „Kaiser“ (Caesar) bezeichnet – erscheint als absoluter Alleinherrscher und Gebieter über Leben und Tod. Zwar kennt er immerhin einen Gottesbegriff, doch fühlt er sich von diesem auf keine Weise in seiner irdischen Macht eingeschränkt. Er verfügt über eine Elite-Armee von ganz jungen Männern, den Janitscharen, welche er bereits von Kindheit an allein zu kriegerischen Zwecken hat ausbilden lassen. Seine Lebensweise kommentiert Austria: Est patiens operum miles, toleransque laboris Sobria mens, uitae prodiga, cassa metu. Non hic lauticia, capitur, pompaque ciborum Cui Ceres atra famem sedat, & unda sitim.953 Sein Soldat nimmt schwere Verrichtungen auf sich, sein Gemüt erträgt Strapazen, ist nüchtern, setzt das Lebens aufs Spiel und ist frei von Furcht. Nicht durch Pracht oder aufwendige Tafelfreuden lässt er sich verlocken; ihm vertreibt schwarzes Brot den Hunger und Wasser den Durst.
Diese Passage nimmt bis hin zum Wortlaut teils affirmierend, teils kontrastierend Bezug auf eine Charakterisierung der Germanen bei Tacitus.954 Der Türke vertraut wie die Germanen im Gegensatz zum zeitgenössischen Deutschen auf das probate Mittel der Abhärtung und widersteht enervierenden sinnlichen Genüssen. An dieser Stelle scheint Austria den im Türken- und Barbarendiskurs geläufigen Topos von der mangelnden Zivilisation des Feindes ins Positive zu wenden und die dem Türken angelastete „Wildheit“ sogar als beneidenswerten Vorzug hinsichtlich dessen Unternehmungen zu betrachten. Denn auch aus christlich-europäischer Perspektive „werden unparteiisch genug die türkischen Soldaten wegen ihrer Ausdauer bei Strapazen, Nüchternheit, Todesverachtung und Mäßigkeit sehr gerühmt“.955 Der Topos von der türkischen Härte begegnet schon bei Enea Silvio Piccolomini: […] est autem Maumethus adolescens, annos natus quatuor et viginti, animo truci et glorie cupido, robusto corpore ac laboris patiente, neque vino neque cenis indulget […] una ei voluptas est: arma tractare. honorat milites, equos amat, naves currus machinas bellicas formosis mulieribus prefert.956
952 Fol. A 4 v. 953 Fol. B 1 r. 954 Vgl. Tac. Germ. 4. Laboris atque operum non eadem patientia, minimeque sitim aestumque tolerare, frigora atque inediam caelo solove assueverunt. 955 Bauch, S. 66 f. 956 Enea Silvio Piccolomini: De Constantinopolitana clade. RTA 19, 2, Nr. 16, S. 553 f.
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Mohammed [Sultan Mehmed II.] aber ist jung, vierundzwanzig Jahre alt, von trotzigem und ehrgeizigem Wesen, von starkem und widerstandsfähigem Leib. Er ergibt sich weder dem Wein noch großen Gelagen. […] Er hat nur eine einzige Leidenschaft: Waffen zu führen. Er ehrt Soldaten, liebt Pferde, zieht Schiffe, Streitwagen und Kriegsgerät schönen Frauen vor.957
Dies korreliert mit der im Deutschland/Germania-Diskurs ebenso topischen Zivilisationskritik, nach welcher die Deutschen, unwürdig ihrer germanischen Vorfahren, durch Luxus, Verweichlichung und moralische Dekadenz ihre Abwehrkraft gegen den Feind schwächen. Neben eingehenden Schilderungen der Türkengräuel finden sich also auch Darstellungen türkischer Lebensweise, die sich analog zur Gattung des Fürstenspiegels als Sittenspiegel für eine ganze Nation interpretieren lassen.958 Der Feind erscheint in Ursinus Velius’ Text wie auch in denen anderer Autoren je nach Argumentationsbedarf bald tierisch, libidinös, lasterhaft und enthemmt, bald nüchtern, rational kalkulierend und opferbereit für ein großes Ziel. Ursinus’ Austria kommt auf die Belagerung Wiens zurück und erinnert daran, wie die Türken mit einer größeren Anzahl an Soldaten als einst die Atriden vor Troja aufmarschierten und unter ungeheurem Lärm und Rauch die Stadtmauern sprengten.959 Dann aber tritt eine unerwartete Wendung ein.960 Nec tamen aggreditur nudatam protinus urbem. Arte prius, quam ui uincere cuncta parat. Aggere per tacitos rupto penetrare meatus Tentat, & effosso fit uia coeca solo. Nil agit, in fraudes ac frustra accingitur omnes, Fit quoque comperta proditione nihil. Dennoch greift er nicht sofort die ihres Schutzes beraubte Stadt an; um eher durch Geschicklichkeit als rohe Gewalt zu siegen, trifft er alle Vorkehrungen. Nachdem er den Wall niedergerissen hat, versucht er durch geheime Gänge einzudringen, und durch das Umgraben des Bodens wird der Weg unsichtbar. Nichts richtet er aus, vergeblich rüstet er sich zu allen Listen, auch als Verrat bekanntgeworden ist, geschieht nichts.
Anstatt die nun ihrer Mauern entblößte und offenliegende Stadt zu betreten, verlegen sich die Türken auf hinterhältige Manöver und suchen Zugang auf ver957 Übersetzung T. B. 958 Ähnliche Beispiele führt Thumser, S. 62 ff. an, wonach der Lüneburger Patriziersohn und spätere Schweriner Bischof Gottfried Lange in seiner Historia excidii et ruinae Constantinopo litanae urbis Bewunderung für die perfekte Organisation der osmanischen Kriegsführung zum Ausdruck bringe. Als Augenzeugenbericht für den kargen und sittenstrengen Lebenswandel der Osmanen in ihrer Heimat präsentiert Thumser Memoiren von Christen, die dort einige Zeit in Gefangenschaft verbracht hatten. 959 Fol. B 1 r. 960 Fol. B 1 r–v.
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borgenen Wegen. Austria spricht hier proleptisch und prophezeit, wenn auch natürlich ex eventu, die Erfolglosigkeit des heimtückischen Angreifers. Unredliche Kriegsführung ist zum Scheitern verurteilt. Auch nachdem der Feind durch Geschosse und Brandsätze grauenhafte Verwüstungen angerichtet hat, kann er sich nicht zum offenen Nahkampf entschließen: Haud tamen ille acies ad murum duxit aperto Marte, nec est fossas ausus adire pedes.961 Dennoch führte er seine Schlachtreihen nicht in offenem Krieg zur Mauer, auch der Fußsoldat wagte nicht, an die Gräben heranzutreten.
Die von Austria beschriebene Sprengung der Mauern, die dennoch zu keinem türkischen Sieg führte, ist historisch belegt.962 Walter Hummelberger führt aus: Westlich des Kärntnerturmes wurde ein so großes Mauerstück zum Einsturz gebracht, daß die Bresche nunmehr ungefähr 80 Meter breit war; der unbezeichnete Turm, das „thürmlin“, beim Augustiner Kloster erlitt schwere Schäden. Die mächtige Lücke ermöglichte zum ersten- und zugleich zum letztenmal eine wirkungsvolle Entfaltung der jetzt energisch angreifenden Janitscharen und Sipahi. An der Standhaftigkeit der Knechte, die von zahlreichen abgesessenen Panzerreitern unterstützt wurden, scheiterte auch diese gewaltige Kraftprobe; bald nach 15 Uhr endeten hier die Kämpfe.963
Zudem geht aus Ursinus’ Versen aber auch hervor, dass Austria die für sie glückliche Peripetie (zumindest partiell) auf die Feigheit der Türken zurückzuführen beabsichtigt. Folgerichtig schließt sie daran ein Lob auf die heldenmütigen Verteidiger an, auf die jugendlichen Sprösslinge ihrer eigenen Adelsgeschlechter: Namque mea quantum est natum in regione virorum Nobilium antiquae stirpis imaginibus: Florentes aeuo atque animis Heroes, & armis Quot non Duratei condidit aluus equi. Quique magistratus rerum moderantur habenas, Quosque penes belli summa prementis erat.964 Denn wie viele edle Männer von altem Stamm und mit Ahnenbildern sind in meiner Region geboren: So viele Helden, strahlend vor Jugend, Mut und Waffen, wie sie der Bauch des hölzernen Pferdes nicht barg, welche die Amtsgeschäfte leiten und bei welchen die höchste Macht im drückenden Kriege lag.
961 Fol. B 1 v. 962 Matschke, S. 247; Buchmann, S. 88 ff.; Turetschek, S. 122 f. 963 Hummelberger, S. 28 f. 964 Fol. B 1 v.
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Dieses Lob enthält jedoch keine individuellen Würdigungen, sondern affirmiert in topischer Weise den Ordo-Gedanken des 16. Jahrhunderts, nach welchem hoher sozialer Status und persönliche virtus miteinander korrelieren. Weder Niklas Graf zu Salm der Ältere, der sich als Oberbefehlshaber über das Truppenkontingent in Wien verdient machte,965 noch Pfalzgraf Philipp bei Rhein, der immerhin das rechtzeitige Eintreffen der Reichstruppen bis zum 25. September organisierte,966 werden namentlich erwähnt, geschweige denn die nichtadligen, politisch bedeutungslosen und sozial niedriggestellten Bergknappen, welche in Stollen und Gräben die Minenangriffe des Feindes erfolgreich entschärften bzw. erwiderten.967 Anschließend kommt Austria auf die von Germania gesandten Truppen zu sprechen, welchen den Feind vor den Toren immer wieder durch kleinere Ausfälle und Scharmützel zermürben. Die Schar hat sich zwar als äußerst tapfer erwiesen bei der Abwehr des Feindes, den Bürgern von Wien hingegen ist sie als iniqua im Gedächtnis geblieben. Dieses Motiv wird einige Verse später nochmals aufgegriffen und konkretisiert: Quid [memorem] rabiem insani detestandasque rapinas Militis, hic dubium est hostis, an hospes erat. Non erat obsidio certe minor hoste profecto. Pene urbs a proprio milite capta fuit, Qui modo defendit que moenia, uelle minatur Diripere, & flammis urere tecta malus.968 Was [soll ich sagen] von der Raserei und den verabscheuungswürdigen Raubzügen wahnsinniger Soldaten, bei denen Zweifel bestand, ob es sich um Feind oder Freund handelte? Sicher war die Belagerung nicht weniger schlimm, als der Feind abgezogen war; beinahe wäre die Stadt ihrem eigenen Soldaten zum Opfer gefallen, der voll Bosheit androht, die Mauern, die er soeben noch verteidigt hat, einzureißen und die Häuser niederzubrennen.
Ursinus’ Biograph bescheinigt Austria, sie spreche von der Belagerung „nicht ohne Hieb gegen die zügellosen deutschen Hilfstruppen“.969 Die Landsknechte richten ihre Gewalt beinahe gegen ihre eigenen Schutzbefohlenen; die gemeinsame Verteidigung der Heimat droht zum Bürgerkrieg zu entarten. Die Verse beziehen sich auf die brutalen Versuche der Reichstruppen nach dem Abzug der Türken, ihren seit zwei Monaten noch ausstehenden Lohn sowie einen um das Dreifache erhöhten Sturmsold einzufordern. Etwa noch zwei Wochen lang tobte 965 Ebd., S. 11 f, 26 ff. 966 Ebd., S. 11 f. 967 Ebd., S. 24. 968 Fol. B 2 v. 969 Bauch, S. 67.
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Anarchie in der befreiten Stadt. Soldaten nahmen ihre Vorgesetzten gefangen, drohten mit dem Plündern der Stadt und dem Erschlagen von Bürgern – kurz: mit einem „Sacco di Vienna“ (analog zum blutigen Sacco di Roma von 1527) –, falls man ihren berechtigten Forderungen nicht nachkomme. Erst nachdem sie eine Bezahlung erhalten hatten, wenn auch nicht den vereinbarten Sold, stellten sie am 8. November ihre Gewalttätigkeiten ein.970 Derartige Schreckensszenarien, welche auch sonst zur Klagetopik der Germanen- und Türkendiskurse gehören, spiegeln im Kleinen die innere discordia im Reich. An dieser Stelle aber verfolgt Ursinus’ Austria diese unerwartete neuerliche Bedrohungslage nicht weiter, sondern richtet den Fokus auf die Peripetie im Abwehrkampf gegen die Belagerer. Wenn auch der triumphale Tenor der siegreichen Partei unverkennbar ist, so überrascht es doch, dass der Autor seine Heroine auch die eher zufallsbedingten äußeren Umstände erwähnen lässt, welche ihr zum Glück gereichen, nämlich das schlechte Herbstwetter, das nicht unerheblich zur Schwächung des Feindes beiträgt: Zahlreiche Türken, insbesondere aber ihre Pferde und Kamele, verenden elend aufgrund von Kälte, Frost und Hunger. Austria bringt den erfolglosen Abbruch der Belagerung immerhin (zumindest partiell) mit der für die Türken ungünstigen Witterung, nicht weniger aber, wie es scheint, auch mit dem bloßen Gerücht von der Ankunft ihres Königs in Zusammenhang: Soluitur obsidio multum indignante tyranno, Incussatque suos impius ille deos. Digrediensque urbi fertur mala multa minatus, Quo cum se mandant agmina cuncta fugae, Nam mox uenturum auxilio non uana tenebat Fama meum regem, subsidioque suis. Iamque propinquabant Bauari, fortesque Bohemi Marcomanumque audax & numerosa manus.971 Die Belagerung wird abgebrochen, wobei der Tyrann heftig wütet; seine eigenen Götter klagt der Gottlose an. Beim Rückzug soll er der Stadt viel Übles angedroht haben, mit ihm vertrauen sich alle seine Scharen der Flucht an. Denn es ging nicht ohne Grund die Rede, bald werde mein König den Seinen zu Hilfe kommen und Entsatz mitbringen. Schon bald nahten die Bayern und starken Böhmen, die kühne und zahlreiche Schar der Markomannen.
Der Hofhistoriograph Ursinus findet hier einen eleganten Kunstgriff, um seinem königlichen Dienstherrn Ferdinand, der sich, fern von Wien, nicht selbst am Verteidigungskampf beteiligen konnte, dennoch wie gewohnt als Sieger zu huldigen, indem er Austria vom osmanischen Abzug in einer Weise berichten lässt,
970 Hummelberger, S. 31 ff.; Buchmann, S. 91; Turetschek, S. 128. 971 Fol. B 2 r.
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als habe die bloße Erwähnung von Ferdinands Namen den Sultan in die Flucht geschlagen. Im Gegensatz zu dieser prohabsburgischen Interpretation von der erfolgreichen Verteidigung der Heimat durch die in Analogie zu den Janitscharen gesetzten edlen Jünglingen des Königs steht die türkische Geschichtsschreibung. Süleyman selbst oder sein Schreiber vermerkte in einem Tagebucheintrag vom 14. Oktober, dass der Sultan, da er Ferdinand in Wien nicht habe antreffen können, den Rückzug von dort anordnete und diesen als „Begnadigung“ und „Verschonung“ der Stadt ausgab.972 Die Tatsache, dass Süleyman am 16. Oktober seine Männer von den höchsten Kommandanten bis zu den einzelnen Janitscharen nicht nur bezahlte, sondern auch mit Geschenken belohnte,973 spricht dafür, dass er seine Unternehmung, so wenig sie auch zum Ziel geführt hatte, so doch auch nicht als gescheiterten Kriegszug verstanden wissen wollte.974 Den nun erfolgenden Rückzug des Feindes in der Nacht auf den 15. Oktober gestaltet Ursinus’ Austria wieder als Gräuelschilderung, welche diesmal weniger auf ein Blutbad als auf das schreckliche Schicksal derer abzielt, die als Gefangene unter entsetzlichen Misshandlungen in die Fremde mitgeschleift werden und den Äther mit ihrem Geschrei erfüllen.975 Die Racheschwüre und Drohungen der vertriebenen Türken gebraucht Austria als Argument zur Warnung an ihre Adressatin Germania. Um sie beide werde es geschehen sein, sollte dieser seine schrecklichen Ankündigungen in die Tat umsetzen.976 Den folgenden Teil der Epistel, der beinahe noch die Hälfte umfasst, dominiert der direkte Appell zur gemeinsamen Abwehr des Feindes. Eine Passage ist der inneren Zerrissenheit des Reiches gewidmet, die wie eine „Krankheit“ durch einen „heilenden“ Eingriff behoben werden soll.977 Nicht anders als in den Heroiden auch protestantischer Autoren ist in ganz allgemeinen Wendungen von religiösem Hader und kirchlichen Auseinandersetzungen die Rede: Heu mihi nam quantum est fusum tibi sanguinis, ex quo Dira super sacris rixaque, lisque fuit. Tunc cum serviles coierunt impia coetus, Agmina, ciuilis eualuitque furor.978 972 Hummelberger, S. 29; Buchmann, S. 90; Matschke, S. 248. 973 Hummelberger, S. 30. 974 Das verleitet Matschke, S. 248 sogar zu der Behauptung, es sei Süleyman gar nicht unbedingt um die Einnahme der Stadt und einen weiteren Vormarsch ins Reich gegangen, sondern vor allem „um eine besonders eindrucksvolle Demonstration seiner Macht.“ Das scheint wenig plausibel angesichts des Aufwandes und der Strapazen, die sich der Sultan die Belagerung kosten ließ. 975 Fol. B 2 r–v. Zur Übereinstimmung mit den Fakten vgl. Hummelberger, S. 30. 976 Fol. B 2 v. 977 Fol. B 2 v–C 1 r. 978 Fol. C r.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
Denn – weh mir! – wieviel Blut hast Du vergossen, aus welchem Dir schrecklicher Hader und Streit wegen der Religion erwuchsen, damals als Rotten von Bauern und gottlose Scharen sich verbündeten und blinde Wut unter der Bürgerschaft herrschte.
Als Anhänger der römischen Kirche, welcher der Reformation mit kompromissloser Abneigung begegnet, teilt Ursinus immerhin deren Bemühen, kleinere häretische Bewegungen, darunter vor allem die der Täufer, niederzuhalten. Aus der Querela allein wird die konfessionelle Einstellung ihres Verfassers nicht ersichtlich; die Verse brandmarken eine Zusammenrottung von Täufern und rebellischen Bauernscharen, für welche die Altgläubigen zumindest mittelbar die Lutheraner verantwortlich machten.979 Es folgt ein nachdrücklicher Appell zu Eintracht, Frieden und Bündnisschluss der Fürsten, da die Türken lediglich von der Zwietracht innerhalb des Reiches hätten profitieren können. Als Gegenmaßnahme zur Bedrohung von außen liefert Austria konkrete Vorschläge, indem sie, formal in Analogie zum zweiten Gesang der Ilias,980 einen ihren Wünschen entsprechenden umfangreichen Heereskatalog zusammenstellt.981 Bayern, Schwaben, Franken, Thüringer, Sachsen, Hessen, Schweizer, Wormser, Bewohner von Donau und Rhein, Niederländer, Jüten und Friesen, alle deutschen Stämme, alle durch bestimmte epitheta ornantia oder rühmende Attribute charakterisiert, sollen sich zu einem gemeinsamen Feldzug vereinigen. Dabei handelt es sich um Einwohner des Reiches, und Austria lässt keinen Zweifel daran, wer sie anführen soll, nämlich ille tuus […] Caesar, also Karl V. Die Aufzählung der weiteren ersehnten und angeforderten Teilnehmer dieses Zuges lässt aufhorchen: Quinetiam duros in praelia coget Iberos, Assuetum bellis illud & acre genus. Nec deerunt niuei fortissima corpora Galli, Celticus & uasto dux Cataphractus equo. Foeta uiris, auri diuesque Britannia fului Auxilia, et largas suppeditabit opes. Strenuus atque ferum bene dotus uincere Moscum Apta quoque in Turcas Sarmata tela dabit. Ipse autem bello iampridem exercitus acri Rex tuus haud uires coget in arma leues. Ja, sogar die harten Spanier wird er zur Schlacht zusammenrufen, feurig und kriegsgewohnt ist dieses Volk. Nicht fehlen werden die bärenstarken Leiber des weißhäutigen Franzosen
979 Vgl. Georg Sabinus: Germania ad Caesarem Ferdinandum. 980 Hom. Il. 2, 488–877. Nahezu der gesamte (eher sparsam gebrauchte)mythologische Fundus der Querela speist sich aus der Ilias. 981 Fol. C 1 r–C 2 r.
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und der Führer der Kelten, gepanzert auf einem gewaltigen Ross. Britannien, fruchtbar an Männern und reich an rötlichem Gold, wird Hilfstruppen und großzügige Hilfsmittel beisteuern. Auch der wackere Pole, der gelernt hat, den wilden Einwohner von Moskau zu besiegen, wird Dir geeignete Geschosse gegen die Türken liefern. Aber Dein König selbst, schon lange im grimmigen Krieg erprobt, wird Kräfte von nicht geringer Bedeutung zu den Waffen rufen.
Bemerkenswerterweise befinden sich unter den Anzuwerbenden auch die Spanier, die sonst bei den deutschen Reichsständen generell, unabhängig von deren jeweiliger Glaubensrichtung, aber auch bei der einfachen Bevölkerung ein beliebtes Feindbild abgeben und durch ihre Frequenz am Hofe Karls oder Ferdinands eine ständige Provokation darstellen. Ursinus’ Austria huldigt hier also den beiden Habsburger Brüdern, deren Bedeutung oder Hausmacht im wesentlichen auf ihrer Abkunft von den Katholischen Königen beruhte: Karl hatte 1515 im Alter von 15 Jahren seine Laufbahn als König von Spanien begonnen, Ferdinand war als ursprünglicher Anwärter auf den dortigen Thron in Spanien erzogen worden und stieß bei vielen deutschen Reichsfürsten auf Vorbehalte, da er ihnen in Bezug auf Sprache und Sitten zu fremd, kurz zu „spanisch“ erschien. Dem Zug anschließen sollen sich auch die hier wegen ihrer gewaltigen Kampfkraft gerühmten Franzosen mit ihrem weißen Lilienwappen, die alten Rivalen und Erzfeinde der Habsburger, die in der patriotischen Publizistik anderer deutscher Humanisten meist als wenig heldenhafte und leicht zu bezwingende Gegner abgetan werden. Folgen sollen die Königreiche England und Polen. Auch die von Austria gewünschte und als möglich suggerierte Beteiligung Englands an einer habsburgischen Unternehmung täuscht über eine in Wirklichkeit prekäre Beziehung hinweg, denn zu dieser Zeit betrieb Heinrich VIII. schon die später so skandalträchtige Auflösung seiner Ehe mit Katharina von Aragon, einer Tante Karls und Ferdinands. Wer – neben Karl – alle Streitmächte anführen soll, bleibt nicht im Ungewissen: Ipse autem bello iampridem exercitus acri Rex tuus haud uires coget in arma leues. […] Expedit arma feris uicina Carinthia Turcis Quisquis & Austriaco paret ubique Duci.982 Aber Dein König selbst, schon lange im grimmigen Krieg erprobt, wird Kräfte von nicht geringer Bedeutung zu den Waffen rufen. […] Kärnten, den wilden Türken benachbart, ergreift die Waffen, und wer auch immer irgendwo dem Erzherzog von Österreich untersteht.
982 Fol. C 1 v–C 2 r.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
Beim König der Adressatin Germania (Rex tuus) und dem Austriacus dux – die Verse dazwischen fordern die Teilnahme der Böhmen, Mähren, Schlesier, Steirer und Tiroler – handelt es sich um ein und dieselbe Person. Ferdinand wird hier in seiner doppelten Funktion als Römischer König und als Erzherzog von Österreich gewürdigt. Ersterer Titel ist die formale Voraussetzung für eine potentielle Nachfolge auf den Kaiserthron und somit für das Reich, also für Germania, relevant, letzterer für seine Hausmacht, seinen ursprünglichen und unmittelbaren Machtbereich, also für Austria. Gerade mit Ferdinand teilen sich die beiden allegorisierten Länder zumindest aus der Perspektive des schreibenden – wenn auch in unterschiedlicher Gewichtung – einen Herrscher. Bemerkenswert ist auf jeden Fall, dass Ursinus’ Austria hier ein paneuropäischer Feldzug unter habsburgischer Ägide vorzuschweben scheint. Die Vorstellung, dass die Könige von England und Frankreich sich als Gefolgsmänner, wenn nicht gar als Untertanen, von Karl oder Ferdinand in einem als Kreuzzug intendierten Krieg befehligen lassen, ist überaus kühn und dürfte der Bestrebung des Hofhistoriographen entspringen, seine Poesie selbst bei derart gebräuchlichen Themen wie der Türkenabwehr pro domo auszurichten. Einer der von Austria gewünschten Kriegsteilnehmer war in diesem Heereskatalog bislang ausgespart worden. Seine Erwähnung bildet einen fließenden Übergang zu einem größeren eigenständigen Thema, dem als Argument in der europäischen Türkenkriegspublizistik eine vieldiskutierte Rolle zukommt. Austria erinnert an Germanias Verpflichtung zur Dankbarkeit gegenüber Ungarn, das schon über hundert Jahre lang durch seine eigene Verteidigung tatkräftig auch zum Schutze Austrias und Germanias beigetragen habe.983 Um die Dankbarkeitspflicht verlockender zu machen, stimmt Austria den im Humanismus geläufigen literarischen Topos der laus Pannoniae/Hungariae an, eine detaillierte Aufzählung von Ungarns naturgegebenen Vorzügen. Im Vorstellungshorizont der Heroidendichtung handelt es sich bei Ursinus’ Text um eine schwesterliche Beziehung zwischen drei personifizierten Ländern, sofern man Pannonia nicht nur als lateinischen Namen für Ungarn, sondern als dritte (wenn auch an der Korrespondenz unbeteiligte) allegorische Gestalt begreifen möchte. Austria legt also Fürsprache bei Germania ein zugunsten der abwesenden Pannonia, die hier keine eigene Stimme erhält. Dazu müssen Pannonias Vorzüge ins Auge stechen, und Austria besingt diese unter deutlicher Bezugnahme auf die laus Italiae in Vergils Georgica.984
983 Fol. C 2 r. 984 Vgl. Verg. georg. 2, 136–176. Vgl. auch die kurze laus Romae in einer langen Rede des Furius Camillus in Liv. 5, 54, 4.
3.1.5 Caspar Ursinus Velius (ca. 1490/1493–1539): Querela Austriae, sive Epistola
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Das zu verteidigende Königreich bietet die besten Voraussetzungen für Landwirtschaft, Weinbau, Fischfang, Jagd, Bergbau, Weidehaltung und Pferdezucht. Zunächst einmal besteht Zweifel darüber, ob auf dem Boden, der den Italiens an Fruchtbarkeit übertrifft,985 Wein (Liber) oder Getreide (Ceres) besser gedeihen. In den Flüssen tummeln sich Scharen von Fischen (squammea turba). Die Quellen sind heilsam, das Klima mild, in den Wäldern lohnt sich die Jagd auf Vögel und Wild. Die Erde ist von Gold- und Silberadern durchzogen, die Gruben enthalten Salz, Erz und alle nur irgend begehrenswerten Metalle. Die Weiden nähren Rinder, Schafe, vor allem aber Pferde, die sich für Kriegsdienst und Feldarbeit eignen. Nicht einmal Epirus, die genitrix insignis equorum, hält hier einem Vergleich stand. Überhaupt nährt und erzeugt Ungarn alles, was die Natur nur hervorbringen kann.986 Daraus ergibt sich nach den Worten Austrias eine moralische Pflicht für Germania: Illa tuos aluit populos in pace benigne: Tutata & belli tempore Marte suo est. Quam rursus par est, immo ut tueare necessum est Ni simili actutum clade perire libet.987 In Friedenszeiten hat das Land Deine Untertanen großzügig genährt, in Kriegszeiten schon durch seinen eigenen Kampf geschützt. Wie angemessen ist es hingegen, mehr noch notwendig, dass Du es schützt, wenn Du nicht bald durch eine ähnliche Niederlage zugrundegehen willst.
Die Loyalität gegenüber der schwer leidenden Pannonia sollte sich zum einen aus der elementaren Pflicht zur Dankbarkeit ergeben, zum anderen aber auch aus dem Gebot der Selbsterhaltung. Den Abschluss der Epistel bildet ein erneuter Appell von ca. 40 Versen, in welchem Austria mit dem degenerans-Topos Germanias zunehmende Trägheit brandmarkt. Es gilt, den mit Germanias Namen verbundenen und durch lange Untätigkeit gefährdeten Ruhm wiederherzustellen. Germania soll sich an den Kaisern vergangener Jahrhunderte, an den Ottonen und Friedrichen ein Beispiel nehmen und den Sieg über den äußeren Feind, zu dem sie grundsätzlich in der Lage ist, durch Tatkraft erringen. Austria beschwört noch einmal ein Panorama notleidender Elemente und Menschen herauf: Die gewaltige Donau (Maximus ille Ister), immerhin auf deutschem Grund entsprungen, kann sich mit ihrer
985 Vgl. Verg. georg. 2, 136–139. Dort können die als bekannt vorausgesetzten Vorzüge ferner asiatischer Länder den Vergleich mit Italien nicht aushalten. 986 Fol. C 2 v. Illa quidem nutrit, producit & omnia tellus/ Quae natura suo proserit e gremio. Dies richtet sich möglicherweise gegen Verg. georg. 2, 109: Nec vero terrae ferre omnes omnia possunt. 987 Fol. C 2 v.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
Versklavung durch die Türken nicht abfinden, rauscht zornig und möchte ihren Lauf rückwärts richten. Alle Menschen, welche auch immer in Städten oder Siedlungen am Fluss wohnen, strecken flehend die Hände nach Germania aus und ergehen sich in lauten Klagen. Bislang allerdings vergebens – der Schreiberin bleibt nur übrig, ihre Appelle zu wiederholen. Sie schließt mit dem Hinweis auf ihren eigenen Umgang mit der erst kürzlich überstandenen Osmanengefahr: Ipsa tibi exemplo fuerim, si bellica clades Pannoniae, & pestis te mouet atra minus. Dum potes immanem procul arce a finibus hostem Dum potes externo uincere uince solo.988 Ich selbst möchte Dir zum Beispiel dienen, falls Dich die Kriegsniederlage Ungarns und das schwarze Verhängnis weniger berühren. Solange Du nur kannst, halte den unmenschlichen Feind von Deinem Gebiet fern; siege, solange Du auf auswärtigem Boden siegen kannst.
Ursinus Velius hat mit seiner Querela Austriae einen maßgeblichen Beitrag zu derjenigen Art von doppelt allegorischer Heroidendichtung geleistet, welche eine Germania bzw. Germania degenerans zur Adressatin und ein anderes personifiziertes (Nachbar-)Land zur moralisch überlegenen mahnenden Schreiberin hat. Austria verkörpert zwar immerhin einen Teil des sonst Germania genannten Reiches, aber eben nur den von Ferdinand selbst regierten „besseren“, der sich in der direkten Konfrontation mit der Osmanengefahr schon bewährt hat und daher zu moraldidaktischen Maßnahmen berechtigt ist. Die restitutio morum im Reich muss also von Ferdinands österreichischen Erblanden ausgehen, was keine geringe Hommage an den (meist im Schatten des kaiserlichen Bruders stehenden) Erzherzog bzw. Römischen König darstellt. In diesen Kontext ist auch die an für sich schon spannende quasi-epische Schilderung der Belagerung Wiens vom Herbst 1529 eingebettet. Austria interveniert zugunsten Pannonias, welche sie der damals geläufigen Reichstagsoratorik folgend, als Bollwerk der Christenheit begreift. Ohne den christlichen oder gar römisch-traditionellen Glauben besonders zu thematisieren, scheint sie doch einer Art Kreuzzugsidee verpflichtet zu sein. In jedem Fall wirbt sie für einen großen paneuropäischen Feldzug unter habsburgischer Ägide. Dabei rekurriert sie in erster Linie und sogar namentlich auf den Trojanischen Krieg und homerische Helden, aber auch auf Topoi von Vergil und Tacitus. Ursinus’ Heroide ist somit nicht zuletzt ein Dokument für professionelle Habsburg-Panegyrik.
988 Fol. C 3 r.
3.1.6 Paulus Rubigallus (ca. 1520–1577): Querela Pannoniae ad Germaniam
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3.1.6 Paulus Rubigallus (ca. 1520–1577) Querela Pannoniae ad Germaniam (1537) Unter dem Einfluss von Caspar Ursinus Velius’ großangelegter Querela Austriae verfasste der Ungarndeutsche Paulus Rubigallus eine Heroide, welche in Gedankengang und Struktur eine große Ähnlichkeit mit dieser aufweist, nämlich die rund 300 Verse lange Querela Pannoniae ad Germaniam (1537), der einige Jahre später die Epistola Pannoniae ad Germaniam recens scripta (1545) folgte. Der wohl deutschstämmige, aber in einer damals oberungarischen, heute slowakischen Region in den Karpaten aufgewachsene Humanist Rubigallus zählt zu den weniger bekannten Melanchthonschülern, obgleich er sich einer hohen Wertschätzung vonseiten des Reformators erfreute. In der deutschsprachigen Forschung begegnet sein Name eher sporadisch im Zusammenhang mit Melanchthon oder seinen Zeitgenossen; Hermann Wiegand hingegen hat einem seiner Werke eigene Untersuchungen gewidmet.989 Eine moderne Textausgabe in der Bibliotheca Teubneriana ist dem slowakischen Altphilologen Miloslavs Okál zu verdanken; sie enthält sowohl das im Vergleich mit anderen Humanisten eher überschaubare Gesamtwerk des Poeten als auch einen Similienapparat, historische Erläuterungen und eine Praefatio mit den wenigen erhaltenen Informationen zu dessen Biographie.990 Weder das Geburtsjahr noch der eigentliche Name, der lediglich in der latinisierten Form Rubigallus auftaucht, sind zweifelsfrei bekannt: Selbst Hermann Wiegand schwankt zwischen Rothan991 und Rothhahn.992 Die Familie des Poeten siedelte zu einem nicht mehr feststellbaren Zeitpunkt aus der karpatischen Bergstadt Kremnitz in das nahegelegene Schemnitz über. Beide Städte, heute zur Slowakei gehörend, waren für ihre Bergwerke berühmt und zogen insbesondere der Reformation zugeneigte Siedler aus Deutschland an.993 Das erste
989 Hermann Wiegand: Hodoeporica. Studien zur neulateinischen Reisedichtung des deutschen Kulturraums im 16. Jahrhundert, Baden-Baden 1984 (Saecvla Spiritalia 12); Derselbe: Imago Turcae. Das Türkenbild der frühen Neuzeit im Lateinunterricht der Oberstufe. In: Der altsprachliche Unterricht 36 (1993), Heft 6, S. 12–37. 990 Pavli Rvbigalli Pannonii Carmina. Hrsg. von Miloslavs Okál. Leipzig 1980. 991 Wiegand: Imago Turcae, S. 16. 992 Wiegand: Hodoeporica, S. 138. 993 Vgl. auch Petrus Ransanus: Epitome rerum Hungaricarum. Wien 1558, S. 18 f.: caeterum qui sunt, qui aut mercatura, aut artium, quas dixi, usu vivunt, eorum plaerique Germanici sunt, Nam propter propinquitatem Regionum, innumeri e Germania mortales (transmisso Danubio) in Hungaria, propter soli eius feracitatem, habitandi sibi locum, iam pridem elegerunt. Quo fit, ut Germanus cum Hungaro mixtam vitam degens, habitu, moribusque magna ex parte conveniat, utque alter alterius lingua loquatur. (Ansonsten gibt es Leute, die entweder vom Handel oder
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erhaltene Datum aus Rubigallus’ Biographie ist 1536, das Jahr seiner Immatrikulation in Wittenberg.994 Viele der im damaligen Oberungarn lebenden Auswandererfamilien schickten ihre Söhne zum Studium an deutsche Universitäten und bekannten sich, bisweilen weniger aus theologischen als aus patriotischen Motiven, zur Reformation, welche sie als eine prestigeträchtige „deutsche“ Bewegung empfanden.995 In Ungarn, wo die Hinwendung zum neuen Glauben seit 1523 bei Todesstrafe verboten worden war, langfristig jedoch nicht unterdrückt werden konnte, waren alle Versuche, eine Universität zu gründen, fehlgeschlagen.996 Die ungarischen Studenten immatrikulierten sich daher bevorzugt in Wien, Krakau und nach 1526 auch zunehmend in Wittenberg, wo sie eine ausgezeichnete Betreuung durch Melanchthon erfuhren.997 Gerade diejenigen von protestantischer Ausrichtung bevorzugten Wittenberg,998 wo sie nicht nur die theologischen Inhalte hochschätzten, sondern auch von Melanchthons fortschrittlichem Bildungssystem profitierten.999 Der Reformator, der bekanntlich zahlreiche Korrespondenzen auch über weite Distanzen hin unterhielt, nahm sein Leben lang an den Geschicken sowohl des habsburgischen als auch des siebenbürgischen Ungarns lebhaften Anteil. Keine andere Nation besaß seine Sympathie in vom Gebrauch der Fähigkeiten, die ich genannt habe, leben, und die meisten von ihnen sind Deutsche. Denn wegen der benachbarten Lage der Regionen haben unzählige Menschen aus Deutschland die Donau überquert und sich schon längst in Ungarn wegen der Fruchtbarkeit seines Bodens einen Wohnort ausgesucht. So kommt es, dass der Deutsche mit dem Ungarn, ein gemeinsames Leben verbringend, in Lebensweise und Sitten zum großen Teil übereinstimmt, so dass der eine die Sprache des anderen spricht.) Übersetzung T. B. 994 Rubigallus: Carmina, S. VII. 995 Marta Kerul’ ova: Die Bedeutung Deutschlands für die patriotische und konfessionelle Entwicklung der humanistischen slovakischen Literatur. In: Reinhard Lauer (Hrsg.): Deutsche und slovakische Literatur. Beiträge von einem Komparatistischen Symposium 28. bis 29. Januar 1995 in Göttingen. Wiesbaden 2000 (Opera Slavica. Neue Folge 35), S. 81–89, hier S. 82. 996 Markus Hein: Melanchthons Bedeutung für die Reformation in Ungarn. In: Irene Dingel und Armin Kohnle (Hrsg.): Philipp Melanchthon. Lehrer Deutschlands, Reformator Europas, Leipzig 2011 (Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie 13), S. 365–378, hier S. 369; ausführlich dazu Matthias Asche: Bildungsbeziehungen zwischen Ungarn, Siebenbürgen und den deutschen Universitäten. In: Wilhelm Kühlmann und Anton Schindling (Hrsg.): Deutschland und Ungarn in ihren Bildungs- und Wissenschaftsbeziehungen während der Renaissance. Stuttgart 2004 (Contubernium 62), S. 27–52, hier S. 28. Asche ebd., S. 28 f. führt als Beispiele die Gründung von kurzlebigen Hochschulen in Fünfkirchen (Pécs) 1367, in Buda 1395 und 1410 und in Preßburg 1467 an. Verantwortlich macht er dafür den Eigennutz der jeweiligen Herrscher, welche die Universitäten gründeten und nur solange förderten, wie sie ihren eigenen Interessen und der Selbstdarstellung dienten. 997 Hein, S. 369 f. 998 Kühlmann / Schindling: Deutschland und Ungarn, S. X. 999 Asche, S. 35.
3.1.6 Paulus Rubigallus (ca. 1520–1577): Querela Pannoniae ad Germaniam
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dem Maße wie die aus Ungarn kommenden Studenten an der Universität Wittenberg.1000 Einen Höhepunkt in Rubigallus’ Leben dürfte seine Teilnahme an einer Gesandtschaft nach Istanbul im Jahre 1540 dargestellt haben. Diese Gesandtschaft sollte in Anbetracht der habsburgischen Expansionsbestrebungen in Ungarn bei Sultan Süleyman I. „dem Prächtigen“ um die Durchsetzung der Thronansprüche eines Herrschers bitten, der zu diesem Zeitpunkt erst wenige Monate alt war. Dabei handelte es sich um den einzigen Sohn des kurz zuvor verstorbenen Königs Johann Zápolya, der als Vasall der Osmanen und Rivale der Habsburger den östlichen Teil Ungarns inklusive seiner siebenbürgischen Heimat regiert hatte. Aus welchem Grund und bei welcher Gelegenheit Rubigallus dieser Gesandtschaft beitrat, obgleich er ebenso wie die meisten Bewohner der heute slowakischen Bergstädte den Habsburgern verbunden war, bleibt unklar.1001 Maßgeblich ist jedoch die Tatsache, dass er, der im Gegensatz zu zahlreichen Humanisten seiner Zeit die osmanischen Verhältnisse aus eigener Anschauung kennengelernt hatte, seine Erlebnisse poetisch verarbeitete und 1544 in Wittenberg sein in 574 elegischen Versen abgefasstes Hodoeporicon itineris Constantinopolitani veröffentlichte. Dieses Hodoeporicon repräsentiert neben Hugo Favolius’ Itineris Byzan tini Libri Tres und Henricus Porsius´ Itineris Byzantini Libri Tres die lateinische Reisedichtung des 16. Jahrhunderts, welche den andauernden Konflikt zwischen dem Römisch-Deutschen und dem Osmanischen Reich widerspiegelt.1002 Welche Bedeutung man in Wittenberg diesem Hodoeporicon beimaß, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass keine Geringeren als Melanchthon und Joachim Camerarius selbst den Versen jeweils ein Widmungsepigramm voranstellten.1003 Im Frühling 1545 erhielt Rubigallus ein hervorragendes Abschlusszeugnis, in welchem ihm Melanchthon außer Gelehrsamkeit, Genauigkeit und weiteren Tugenden eine besondere Vaterlandsliebe bescheinigte,1004 und verließ Wittenberg.1005 1547/1548 war er beim „geharnischten Reichstag“ in Augsburg anwesend. Ab 1550 lebte er als Bergwerksbesitzer in Schemnitz, erwarb dort hohes Ansehen und ein großes Vermögen. Wie eng sein Kontakt zu Melanchthon weiterhin blieb, geht daraus hervor, dass er den Reformator zu seiner Hochzeit 1551 nach Breslau einlud und dieser tatsächlich eine derart weite Reise in Betracht zog, auch wenn er sie
1000 Hein, S. 367. 1001 Rubigallus: Carmina, S. VII. 1002 Wiegand: Hodoeporicon, S. 138. 1003 Ebd., S. 139. 1004 Rubigallus: Carmina, S. VIII: „[…] in quo [Melanchthon] eruditionem, virtutem, diligentiam amoremque eius erga patriam, quem carminibus suis iam praestitisset, laudibus extulit Rubigallumque omnibus bonis viris commendavit.“ 1005 Scheible: Melanchthons Beziehungen zum Donau-Karpaten-Raum bis 1546, S. 298.
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schließlich nicht antrat.1006 Da Schemnitz ebenso wie die anderen an das türkische Hoheitsgebiet angrenzenden Bergstädte einer ständigen Bedrohung ausgesetzt war, erwog Rubigallus eine Reise nach Deutschland, um dort mit größerer Eindringlichkeit um militärische Unterstützung für seine Heimat zu werben. Ob er dieses Vorhaben verwirklichte oder nicht, ist unbekannt: Jedenfalls nahm er im Mai 1564 an einem Kriegsrat in Schemnitz und im April 1571 an einer Schlacht gegen die Türken bei Krupina (Karpfen) teil.1007 Für nicht beweisbar hält Okál die Vermutung, dass Rubigallus, „reformatae fidei deditissimus“,1008 auch bei den theologischen Kontroversen mitwirkte, welche zwischen den Lutheranern und Nikolaus Olahus, dem Erzbischof von Gran (Esztergom), entstanden waren. Aufgrund seiner zahlreichen Verdienste um die Verteidigung des Vaterlandes avancierte der Poet zum königlichen und kaiserlichen Rat, wurde geadelt und erhielt von Kaiser Maximilian II. die Burg von Liegnitz. Er starb vermutlich 1577.1009 Rubigallus’ Werk besteht im wesentlichen aus dem Hodoeporicon itine ris Constantinopolitani, der Querela Pannoniae ad Germaniam und der Epistola Pannoniae ad Germaniam recens scripta, beinhaltet aber auch kleinere Dichtungen wie z. B. die dem Hodoeporicon vorangestellte Eivsdem Satyriscus Ecloga, in welcher ein karpatischer Hirt seine Heimat und seine Herden aus Angst vor den Türken verlässt. Möglicherweise gebraucht Rubigallus dort die Motive vergilischer Bukolik, um Männer, die sich von der Türkengefahr zur Vaterlandsflucht bewegen lassen, dem Gelächter preiszugeben.1010 In zwei ebenfalls aus dem Jahre 1544 stammenden Hymnen in sapphischen Strophen feiert der Autor die Geburt Christi1011 und den Märtyrer Stephanus.1012 Eine amplifizierte Bearbeitung des zwölften Psalmes in elegischen Distichen trägt den bezeichnenden Titel Confes sio verae religionis. Je zwei Epigramme sind den böhmischen Reformatoren Jan Hus und Hieronymus von Prag gewidmet, die im Verlauf des Konzils von Konstanz als Häretiker verurteilt worden waren und den Märtyrertod auf dem Scheiterhaufen erlitten hatten.1013 Bei der Wahl dieses Sujets tritt die enge Verbindung der religiösen und der patriotischen Überzeugung ihres Verfassers deutlich zutage. 1006 Ebd. 1007 Rubigallus: Carmina, S. IX. 1008 Ebd. 1009 Ebd.; Scheible: Melanchthons Beziehungen zum Donau-Karpatenraum bis 1546, S. 299. 1010 Rubigallus: Carmina, S. VIII: „poesis Vergilii bucolica in Rubigalli persona imitatorem invenit neque tamen sententia viros Turcarum periculo perterritos et de patria migraturos a Rubigallo illusos esse repelli potest.“ 1011 Hymnvs in laudem natalis Salvatoris nostri. 1012 Hymnvs in laudem Sancti Stephani Martyris Domini nostri Iesu Christi. 1013 Poemata in honorem M. Ioannis Hussii ac M. Hieronymi Pragensis a Paulo Rubigallo Pan nonio scripta.
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1537 wurde die Querela Pannoniae ad Germaniam in Wittenberg gedruckt. Zwei Freunde des Autors aus Wittenberg, Melchior Acontius1014 und Arcturus Phrysius, stimmen in vorangestellten Distichen mit einer direkten Apostrophe an Germania den Leser auf die Querela ein. Ihre Verse enthalten bereits in nuce den Appell Ungarns an das Reich und lesen sich beinahe wie der Anfang der Heroide selbst. Darauf folgt ein Widmungsschreiben in Prosa an Petrus Hildebrand, einen hochangesehenen Bürger aus Schemnitz und Vizecomes der Königin von Ungarn, in welchem der Autor dem Adressaten für nicht näher bezeichnete Wohltaten seinen Dank abstattet. 1537 hatte Ungarn bereits schwere Niederlagen gegen die Osmanen sowie innere politische und soziale Krisen durchgemacht, befand sich in einer äußerst prekären Lage und blickte in eine wenig hoffnungsvolle Zukunft.1015 Nach der verhängnisvollen Schlacht bei Mohács vom 29. August 1526, dem „dies ater“ der ungarischen Geschichte, bei welcher der erst zwanzigjährige König Ludwig II. den Tod gefunden hatte, war ein konfliktträchtiger Erbfall eingetreten. Entsprechend einem zuvor zwischen den in Ungarn herrschenden Jagiellonen und den Habsburgern geschlossenen Erbvertrag von 1515, der zu einer doppelten Hochzeit zwischen beiden Häusern führte,1016 erhob der österreichische Erzherzog Ferdinand Anspruch auf den vakanten Königsthron – somit war (zumindest mittelbar) die Grundlage für die spätere Donaumonarchie der Habsburger gegeben.
1014 Melchior Acontius (1515–1569), seit 1534 Student bei Melanchthon in Wittenberg, später Rat der Grafen von Stolberg, ist biographisch mit nur wenigen Daten greifbar und nimmt als Humanist nur eine marginale Position ein. Aufmerksamkeit gefunden hat sein Epithalamium auf die Hochzeit seines Freundes und Kommilitonen Georg Sabinus mit Anna Melanchthon 1536. Sabinus würdigte es später eines Platzes in einem der Gesamtausgabe seiner eigenen Gedichte angehängten Liber Adoptivus. Vgl. R. Seidel: Lutherische Ehelehre und Epithalamiendichtung, hier S. 287 f. 1015 Vgl. Ferenc Majoros: Geschichte Ungarns. Nation unter der Stephanskrone. Gernsbach 2008; Kálmán Benda / Péter Hanák (Hrsg.): Die Geschichte Ungarns von den Anfängen bis zur Gegenwart. Deutsch von Jolán Bakay u. a. 2., verbesserte Auflage. Budapest 1991; Holger Fischer: Eine kleine Geschichte Ungarns. Frankfurt am Main 1999; Miklós Molnár: Geschichte Ungarns von den Anfängen bis zur Gegenwart. Aus dem Französischen übersetzt von Bálint Balla. Hamburg 1999; Teréz Oborni: Die Herrschaft Ferdinands I. in Ungarn. In: Martina Fuchs und Albrecht Kohler (Hrsg.): Kaiser Ferdinand I. Aspekte eines Herrscherlebens. Münster 2003 (Geschichte in der Epoche Karls V. 2), S. 147–165; Paula Sutter Fichtner: Aber doch ein Friede: Ferdinand I., Ungarn und die Hohe Pforte. In: Martina Fuchs u. a. (Hrsg.): Kaiser Ferdinand I. Ein mitteleuropäischer Herrscher. Münster 2005 (Geschichte in der Epoche Karls V. 5), S. 235–247; Ernst Dieter Petritsch: Abenteurer oder Diplomaten? Ein Beitrag zu den diplomatischen Beziehungen Ferdinands I. mit den Osmanen. In: Martina Fuchs u. a. (Hrsg.): Kaiser Ferdinand I. Ein mitteleuropäischer Herrscher. Münster 2005 (Geschichte in der Epoche Karls V. 5), S. 249–261. 1016 Ferdinand heiratete Ludwigs Schwester Anna, Ludwig Ferdinands Schwester Maria.
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Noch vor diesem Vertrag allerdings, im Jahre 1505, hatten sich die ungarischen Stände auf ihre Tradition einer Wahlmonarchie berufen und vereinbart, ausschließlich einen indigenen König zu dulden. Als geeigneter Kandidat erschien ihnen der über große Reichtümer verfügende Siebenbürger Woiwode Johann Zápolya (1487–1540), der sich bereits 1514 dadurch hervorgetan hatte, dass er die Bauernaufstände mit einer selbst für damalige Verhältnisse außergewöhnlichen Grausamkeit erfolgreich niederschlug. Da sich nun die eine Partei auf die dynastische Vereinbarung, die andere auf herkömmliches Recht und nationale Tradition berief, kam es zu der in der Geschichte äußerst seltenen Situation, dass zwei rivalisierende Könige fast gleichzeitig gewählt und kurz nacheinander rechtmäßig gekrönt wurden. Am 11. November 1526 erhielt Zápolya als Johann I. in der alten Krönungsstadt Stuhlweißenburg (Székesfehérvár) die Stephanskrone, am 6. Dezember wurde Ferdinand gewählt und nahm am 3. November 1527 in derselben Stadt wie Zápolya von derselben Person, dem Erzbischof von Gran (Esztergom), die gleiche Krone entgegen. Ferdinand eröffnete sogleich den Kampf gegen Zápolya und konnte den Rivalen bis nach Siebenbürgen zurückdrängen, doch zu dieser Zeit stand Ungarn bereits unter der Oberherrschaft Süleymans, der sich lediglich zu anderen Eroberungszügen außerhalb Europas aus dem Land zurückgezogen hatte. 1528 suchte Zápolya die Allianz mit dem Sultan und musste diesem bei Mohács, dem Ort der Niederlage Ludwigs, demütig seine Huldigung erweisen. Süleyman, der Ungarn die Rolle eines Pufferstaates an der Grenze zum Gebiet der Habsburger zugedacht hatte und an einer guten Verwaltung desselben interessiert war, nahm Zápolya zum Vasallen an und zog im Herbst 1529 gegen Wien, um Ferdinand gefangen zu setzen, – ein Unternehmen, das die Verteidiger der Stadt bekanntlich gerade noch vereiteln konnten. Am 14. September ernannte der Sultan Zápolya zum Herrscher über das von den Türken eroberte Buda. Ungarn war also zwei- bzw. dreigeteilt: den nordwestlichen Rand (inklusive der heutigen Slowakei) beherrschte Ferdinand als „Königreich Ungarn“, die übrigen Gebiete standen unter osmanischer Hoheit, die östlichen inklusive Siebenbürgen wurden vom Vasallenkönig Zápolya verwaltet. Franz I. von Frankreich, Rivale und Erzfeind der Habsburger, und Heinrich VIII. von England boten Zápolya Schutz und Unterstützung. Der ungarische Adel profitierte von der prekären Situation und wechselte je nach Interessenlage zwischen der Partei Zápolyas und derjenigen der Habsburger. Ungarn war in Europa bis zum Spätmittelalter weitgehend unbekannt, wurde eher sporadisch erwähnt und bot gerade in der nach heutigem Verständnis fiktionalen Literatur eine ideale Projektionsfläche für phantastische Erzählungen von einem Lande am Rand der zivilisierten Welt. Im Nibelungenlied erscheint Ungarn als das Land der gefürchteten (und gleichwohl bewunderten) Hunnen und erfährt somit eine ambivalente Charakterisierung. Im Abenteuerbuch Herzog Ernst
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liegt es an der Grenze zu einem von Fabelwesen bewohnten Reich.1017 András F. Balogh stellt fest: „In den Romanen des Spätmittelalters endet in Ungarn die bekannte Welt, ab hier beginnt die „Haidenschaft“, oder die „Pilgerschaft“.“1018 Nicht einmal über die lateinische Benennung des Landes waren sich die Gelehrten einig, so dass die Namen Pannonia und Hungaria bisweilen in Rivalität zueinander traten.1019 In frühester Zeit scheint man, wie Chroniken und Münzen der Könige des 11. Jahrhunderts belegen, von dem Namen der einstigen römischen Provinz Gebrauch gemacht zu haben.1020 Später irgendwann – offenbar nicht zu einer exakt bestimmbaren Zeit – wurde diese Sitte obsolet.1021 Im 15. Jahrhundert stellten insbesondere italienische Humanisten die Mode der antikisierenden Benennung wieder her; unter den einheimischen Vertretern der litterae dürfte János Csezmiczei (1434–1472), der u. a. in Ferrara gelebt hatte und zu einem der bekanntesten Dichter Ungarns aufstieg, diesen Brauch als erster etabliert haben, indem er sich Janus Pannonius nannte.1022 König Matthias Corvinus hingegen wollte aufgrund seiner exakten geographischen und historischen Kenntnisse die Bezeichnung Pannonia durch Hungaria ersetzt wissen, da das Ungarn seiner Zeit Teile der einstigen römischen Provinzen Pannonien und Dakien enthalte.1023 Eine ähnliche Ansicht vertrat kein Geringerer als Enea Silvio Piccolomini.1024 Offenbar vermochte aber keiner von ihnen auf die Dauer zu verhindern, dass die Humanisten – durchaus in bewusstem Verstoß gegen die historische Genauigkeit – Hungaria und Pannonia miteinander gleichsetzten.1025 Erst seit dem 15. Jahrhundert erlangte Ungarn eine größere Präsenz im Bewusstsein der Europäer, wenn auch fast ausschließlich im Zusammenhang mit der Bedrohung durch die Osmanen. In der europäischen Kulturgeschichte kristallisierte
1017 András F. Balogh: Literarische Querverbindungen zwischen Deutschland und Ungarn. In: Wilhelm Kühlmann und Anton Schindling (Hrsg.): Deutschland und Ungarn in ihren Bildungsund Wissenschaftsbeziehungen während der Renaissance. Stuttgart 2004 (Contubernium 62), S. 117–133, bes. S. 120 ff. 1018 Ebd., S. 122. 1019 Zu dem, was man im 15. und 16. Jahrhundert unter Ungarn verstand (oder verstehen konnte) vgl. ausführlich Tibor Klaniczay: Die Benennungen „Hungaria“ und „Pannonia“ als Mittel der Identitätssuche der Ungarn. In: Tibor Klaniczay u. a. (Hrsg.): Antike Rezeption und nationale Identität in der Renaissance insbesondere in Deutschland und in Ungarn. Budapest 1993, S. 83–110. 1020 Ebd., S. 98 f. 1021 Ebd., S. 99. 1022 Ebd., S. 99 f. 1023 Ebd., S. 98. 1024 Ebd., S. 101. 1025 Ebd.
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sich ein bestimmtes, teils noch bis ins 20. Jahrhundert nachwirkendes Bild heraus von Ungarn als „Bollwerk der Christenheit“, als propugnaculum, murus, antemurale, arx, praesidium, vallum, obex, columna oder clipeus Christianitatis, eine Vorstellung, die auch in der (meist lateinischen) Rhetorik ihren Niederschlag fand.1026 Gelegentlich nahmen auch andere an der Peripherie Europas lebende Völker und Nationen wie z. B. die Polen, Serben und Kroaten eine derartige Rolle für sich in Anspruch.1027 Als Initiatoren einer in offiziellen Dokumenten explizit formulierten „Bollwerk“-Idee in Bezug auf Ungarn können der aus dem Hause Luxemburg stammende Sigismund (ungarischer König von 1368–1437, Kaiser des Heiligen Römischen Reiches ab 1433), Papst Johannes XXIII. (1410–1415) und der polnische, seit 1440 auch über Ungarn herrschende Jagiellonenkönig Wladislaw III. bzw. I. gelten.1028 Kein Geringerer als Enea Silvio Piccolomini (1405–1464), der größte Humanist seiner Zeit und spätere Papst Pius II. (1458–1464), befasste sich eingehend mit dem schon oftmals von Türkeneinfällen heimgesuchten Land und propagierte den Gedanken von der Notwendigkeit der militärischen Unterstützung Ungarns in systematischer und rhetorisch ausgefeilter Form. Demnach war die Verteidigung der osteuropäischen Gebiete eine für alle Christen verbindliche Pflicht, da deren Bewohner bislang mit ihrem eigenen Blut die Angriffe der Türken auf die Christenheit abgewehrt hätten.1029 So
1026 Zu diesem Bollwerk- und damit einhergehenden Querela Hungariae/Pannoniae-Topos hat sich vor allem in Ungarn ein eigener Forschungszweig entwickelt. Vgl. Mihály Imre: Der Topos „Querela Hungariae“ in der Literatur des 16. Jahrhunderts. In: András Szabó (Hrsg.): Iter Germanicum. Deutschland und die reformierte Kirche in Ungarn im 16.-17. Jahrhundert. Budapest 1999, S. 39–117; János J. Varga: Europa und die „Vormauer des Christentums“. Die Entwicklungsgeschichte eines geflügelten Wortes. In: Bodo Guthmüller und Wilhelm Kühlmann (Hrsg.): Europa und die Türken in der Renaissance. Tübingen 2000 (Frühe Neuzeit 54), S. 55–64; Öze / Spannenberger; Péter Ötvös: Ungarn – Bollwerk der Christenheit. Die Verwandlung eines Topos. In: Tünde Katona und Detlef Haberland (Hrsg.): Kultur und Literatur der Frühen Neuzeit im Donau-Karpatenraum. Transregionale Bedeutung und eigene Identität. Szeged 2014, S. 359–370; Róbert Kiss Szemán: Von der Klage Ungarns bis zur Klage von Slavia im Werk von Ján Kollár. In: Studia Slavica 52/1–2 (2007), S. 219–228; István Bitskey: Konfessionen und literarische Gattungen der frühen Neuzeit in Ungarn. Beiträge zur mitteleuropäischen vergleichenden Kulturgeschichte. Frankfurt am Main u. a. 1999 (Debrecener Studien zur Literatur 4), S. 39 ff.; Mertens: Europäischer Friede und Türkenkrieg, S. 61 ff. 1027 Öze / Spannenberger, S. 19. 1028 Ötvös, S. 362; Varga, S. 58; Öze / Spannenberger, S. 21. Seine Übernahme des ungarischen Thrones 1440 begründete Wladislaw laut einer Urkunde mit der besonderen Qualität Ungarns als murus et clipeus fidelium. 1029 Mihály Imre: Der ungarische Türkenkrieg als rhetorisches Thema in der Frühen Neuzeit. In: Wilhelm Kühlmann und Anton Schindling (Hrsg.): Deutschland und Ungarn in ihren Bildungs- und Wissenschaftsbeziehungen während der Renaissance. Stuttgart 2004 (Contubernium 62), S. 93–107, hier S. 93 ff; Öze / Spannenberger, ausführlich S. 19–29.
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appelliert er in seiner berühmten Konstantinopel-Rede vom Frankfurter Reichstag am 15. Oktober 1454: Hungari, qui hactenus fidei nostre clipeus, nostre religionis murus fuere, bis victi bello post mortem Alberti regis, bis capti a Turcis sunt, centum milia hominum aut eo plus duobus preliis amisere. Non tulerunt integri Turcorum vires; quomodo fracti ferent? […] quamvis sint Hungari strenui et potentes viri atque omni laude digni, non tamen tantis viribus pares habentur.1030 Die Ungarn, welche bis jetzt der Schild unseres Glaubens, die Mauer unserer Religion waren, sind nach dem Tod König Albrechts zweimal von den Türken im Krieg besiegt, zweimal zu Gefangenen gemacht worden und haben hunderttausend Menschen oder noch mehr in zwei Schlachten verloren. In unversehrtem Zustand haben sie der Kraft der Türken nicht standgehalten, wie sollen sie ihr geschwächt standhalten? […] Obwohl die Ungarn tapfere und mächtige Männer sind und jedes Lob verdienen, traut man ihnen dennoch nicht zu, mit derartigen Kräften fertigzuwerden.1031
Im Folgenden legt er dar, wie oft Ungarn in mehreren Jahrhunderten schon als Einfallstor für die Invasionen barbarischer Völker ins Kerngebiet der Christenheit gedient habe. Exspectabimus igitur et nunc venire Thurcos atque accersitis Tartaris nobilem atque potentem Hungariam sui iuris efficere ac deinde reliquam Christianitatem locustarum more corrodere. Pugnandum est vobis omnino, principes, si liberi, si Christiani vitam ducere cupitis. Existimatote nunc, an salvis et integris sociis, an fractis atque amissis id agere magis expediat.1032 Wir werden also erwarten, dass auch jetzt die Türken kommen, im Bund mit den Tartaren das edle und mächtige Ungarn in ihre Gewalt bringen und dann die übrige Christenheit wie Heuschrecken annagen. Ihr müsst auf jeden Fall kämpfen, Fürsten, wenn ihr als freie Männer, wenn ihr als Christen euer Leben verbringen wollt. Ihr müsst nun unbedingt abwägen, ob dies mit frischen und wohlbehaltenen oder mit geschwächten und verlorenen Gefährten besser vonstatten gehen wird.
Zahlreiche Humanisten, darunter auch gelehrte, lateinkundige ungarische Diplomaten folgten argumentativ dem von Enea Silvio gewiesenen Weg. Die Rolle des Landes als „Schild- und Schutzmauer des Christentums“ wurde 1505 beim Landtag von Rákos offiziell festgeschrieben und fand 1517 auch Eingang in ein 1030 Enea Silvio Piccolomini: De Constantinopolitana clade. RTA 19, 2. Ältere Reihe. Nr. 16, S. 463–565, hier S. 522 ff. Ähnliche, fast wortgleiche Formulierungen finden sich sowohl bei dem Humanisten und kaiserlichen Diplomaten als auch beim Papst Enea Silvio/Pius II. durchweg in anderen Reden und Briefen. Vgl. Imre, S. 94 f.; Öze / Spannenberger, S. 22 f.; Ötvös, S. 362. 1031 Übersetzung T. B. 1032 Piccolomini (wie oben), S. 524 f.
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neues Gesetzbuch, das von István Werböczy ausgearbeitete Tripartitum.1033 Noch größere Brisanz gewann das Thema verständlicherweise Mitte der 1520er Jahre im Zusammenhang mit der Katastrophe von Mohács.1034 So machte Johannes Cuspinian (Spiesshammer) in seiner Schrift De Capta Constantinopoli die Zwietracht und Untreue der Ungarn für die Gefährdung Europas verantwortlich.1035 Im Verlauf des 16. Jahrhunderts weckten die durch politische Ereignisse ausgelöste Flugblattpublizistik sowie der Zustrom ungarischer Studenten an (protestantische) deutsche Universitäten ein vermehrtes Interesse der Reichsbewohner an dem Land der Stephanskrone.1036 Ungarn machte sich die im Ausland propagierte Vorstellung vom „Bollwerk der Christenheit“ zunehmend als Selbstbild zu eigen und übernahm diese ihm von außen zugeschriebene Rolle mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen.1037 So erhielt es auch einen festen Platz in der Rhetorik, wo bestimmte Stereotype die öffentliche Wahrnehmung beeinflussten. „Von diesen ist am wichtigsten der Topos „Querela Hungariae“, als deren wirkungsstärkstes Element sich die Vorstellung „Hungaria est propugnaculum Christianitatis“ (Ungarn ist das Bollwerk des Christentums) erweist.“1038 Gerade deutsche Autoren nahmen sich der Verbreitung und Popularisierung dieses Topos an. Einerseits begegnete das auf Ungarn bezogene propugnaculum-Stereotyp in der Volksdichtung und in Liedern,1039 andererseits bildete es den bedrohlichen Hintergrund für zeitgenössische Liebes- und Abenteuerromane.1040 Róbert Kiss Szemán führt es in Ansätzen auf den 1527 in Stuhlweißenburg (Székesfehérvár) gehaltenen Krönungspanegyrikus für Ferdinand, vor allem aber auf die 1531 nach der Wiener Belagerung verfasste Querela Austriae des Caspar Ursinus Velius zurück1041 – freilich kann dieser angesichts der bereits genannten früheren Publizisten nur als einflussreicher Propagator der ja bereits geprägten Argumente in Frage kommen. Ein lebhafter Diskurs über Funktion und Gefährdung des Landes unter der Stephanskrone wurde besonders in Wittenberg gepflegt.
1033 Varga, S. 58. 1034 Ebd., S. 60 f.; Imre, S. 97. 1035 Ötvös, S. 365. 1036 Balogh, S. 120 f. 1037 Imre, S. 93 f. 1038 Dies gilt im Wesentlichen für die gelehrte Publizistik in lateinischer Sprache. Aus dem 16. Jahrhundert scheinen nur zwei Beispiel in ungarischer Sprache bekannt zu sein, nämlich in einem fragmentarisch erhaltenen Gedicht von László Geszti von 1525 und von dem in dieser Epoche vielleicht bedeutendsten indigenen Dichter Bálint Balassi um 1589. Ötvös, S. 367 ff. 1039 Öze / Spannenberger, S. 22. 1040 Ebd., S. 23. 1041 Kiss Széman, S. 220 f.
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Melanchthon widmete sich diesem Thema in seinen eigenen Schriften, ließ aber auch seine ungarischen Studenten ihre rhetorischen Übungen daran ausrichten. Diese brachten ihr eigenes Wissen über die Zustände in der Heimat mit, machten sich die in Wittenberg erworbenen theoretischen Kenntnisse der artes zunutze und wirkten in dieser Weise auf die akademische Öffentlichkeit ein.1042 Es ist also denkbar, dass auch Rubigallus das Thema Ungarn schon in rhetorischen Übungen abgehandelt hatte, bevor er seine beiden Heroiden verfasste. Aus dem Similienapparat von Okáls Ausgabe der Querela Pannoniae1043 gehen die häufigen Bezugnahmen des Autors auf Ursinus Velius’ Querela Austriae1044 deutlich hervor. Rubigallus’ Heroide wirkt wie eine Antwort insbesondere auf einen Passus aus dem Text des für Habsburg schreibenden Schlesiers, der seine Austria mit großer Emphase für Pannonia bzw. für den pars pro toto gebrauchten Ungarn (Pannonius) das Wort ergreifen lässt. Dort1045 stimmt das personifizierte Östererreich eine rund 40 Verse lange laus Pannoniae an und wirbt um Mitleid und Beistand für das östlich an sie angrenzende Land. Die Lektüre dieser Passage muss nicht, kann aber Rubigallus zu der Abfassung einer eigenen Querela Panno niae inspiriert haben. In seiner Heroide fingiert Rubigallus ebenso wie Ursinus Velius einen Briefkontakt zwischen zwei allegorisierten Ländern und lässt Pannonia als Schwester an Germania schreiben. Pannonia weist eingangs auf ihre desolate Situation hin: Unterdrückt von den siegreichen Türken fristet sie ein elendes Leben und blickt sehnsüchtig auf ihre glorreiche Vergangenheit zurück, als sie die Angriffe noch heldenhaft abzuwehren vermochte (1–25). Mit der kurzen Erwähnung „ihres Ludwigs“, der für sie und für ihr Wohlergehen im Kampf gefallen sei (19–20), bezieht sie sich auf die fürchterliche Niederlage der eigenen Truppen bei dem an der Donau gelegenen Mohács vom 29. August 1526, ein erst wenige Jahre zurückliegendes Ereignis, das als Trauma und schmerzliche Zäsur in die ungarische Geschichte eingehen sollte.1046 Selbst moderne Historiker zeichnen ein erschütterndes Bild von dem unerfahrenen jungen König, der nur 20 Jahre alt, schlecht beraten und trotz flehentlicher Hilfsgesuche vom übrigen Europa weitgehend im
1042 Ebd., S. 97. 1043 Rubigallus: Carmina, S. 1–13. 1044 Vgl. dazu das betreffende Kapitel dieser Arbeit. 1045 Ursinus Velius: Querela Austriae, fol. C 2 r–C 2 v. 1046 Benda / Hanák, S. 47 ff.; Majoros, S. 273 ff., S. 279: „In der gesamten abendländischen Geschichtsschreibung gilt es für schier unerklärbar, weshalb eigentlich die Ungarn die Schlacht von Mohács gewagt haben. […] Warum haben die Ungarn nur gekämpft, wo doch einige – vielleicht auch die meisten – im Stab des Königs wussten, dass sie ins offene Messer Suleimans rannten?“; Fischer, S. 51; Molnár, S. 131 ff.
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Stich gelassen gegen die osmanische Übermacht in den Krieg zog und damit in den sicheren Untergang. Ein selbst verfasster Brief Ludwigs mit einem Hilfsappell an Slawonien, der heute noch existieren soll, zeigte im letzten Moment Wirkung.1047 Anderweitig bat man vergeblich um Unterstützung. Karl V. war zu dieser Zeit noch von Konflikten mit seinem gerade besiegten Gegner Franz I. in Anspruch genommen1048 und die westeuropäischen Herrscher mit Ausnahme des Papstes fühlten sich für das Land an der christlichen Peripherie wenig verantwortlich.1049 Ungarn war weitgehend auf sich allein gestellt und wartete vergebens auf ein Heer des mächtigen Magnaten Zápolya aus Siebenbürgen, welches aus unglücklichen Umständen oder sogar absichtlich – darüber besteht Uneinigkeit1050 – zu spät eintraf. Ludwigs Streitkräfte waren untereinander zerstritten und durch Krankheiten geschwächt, vertrauten aber fatalerweise auf den Sieg.1051 Nach nur zwei Stunden erlag das ungarische Heer von ca. 25 000 Soldaten der etwa doppelt so großen und mit besseren Schusswaffen ausgestatteten Streitmacht des Sultans. Unter den schätzungsweise 24 000 ungarischen Gefallenen befanden sich die meisten Würdenträger des Landes, darunter auch zwei Erzbischöfe;1052 die Leiche des Königs fand man Monate später in einem Flüsschen, in welchem er auf der Flucht ertrunken war. Ungarn fiel daraufhin den Machtansprüchen dreier rivalisierender Herrscher zum Opfer. Rubigallus lässt also seine Pannonia der communis opinio gemäß ihr Unglück auf diese Schlacht zurückführen und über die unaufhörlichen Verletzungen der Ihren klagen. Es folgt ein eingehender Katalog der Gräueltaten der Türken in enger Anlehnung an Ursinus Velius (25–66). Kein Mensch im Land, keine Altersgruppe findet Erbarmen, Familien werden auseinandergerissen. Ebenso wie die kämpfenden Männer fallen auch wehrlose Frauen, Kinder und sogar Föten im Mutterleib einer unvorstellbaren Grausamkeit zum Opfer (31–40): Infoelix quoties doluit sua pignora mater ad miseram mortem suppliciumque trahi, infigique videns puerorum corpora palis, se mallet natos non genuisse suos. in genitos saevire parum est, excinditur infans saepe nec in gravida matre latere potest.
1047 Majoros, S. 274. 1048 Molnár, S. 132. 1049 Majoros, S. 273 f. 1050 Für ersteres Molnár, S. 131; von „Eilmärschen“ spricht Majoros, S. 274; für letzteres Fischer, S. 51. 1051 Fischer, S. 51; Molnár, S. 131. 1052 Majoros, S. 278.
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nascitur ante diem dissecto ventre parentis, ut subito moriens occidat ante diem. muneris a saevo tamen hoc miser accipit hoste, quod socia moriens cum genitrice iacet.1053 Wie oft litt die unglückliche Mutter darunter, wie ihre eigenen Kinder zu einem schrecklichen Tod, zur Hinrichtung, geschleift wurden, und wenn sie ansehen musste, wie die Leiber ihrer Söhne mit Pfählen durchbohrt wurden, wünschte sie sich, sie hätte keine Söhne zur Welt gebracht. Gegen bereits Geborene zu wüten reicht ihnen nicht; das ganz kleine Kind darf nicht länger im Leib der schwangeren Mutter verborgen liegen und wird herausgerissen. Indem man den Leib der Mutter zerreißt, wird es vor dem Tag seiner Geburt geboren, um sogleich vor seinem Todestag dem Tod zu verfallen. Dennoch erhält das arme Kind vom wütenden Feind das Geschenk, dass es sterbend bei der Mutter, seiner Todesgenossin, liegt.1054
Pannonia überbietet Ursinus Velius’ Austria insofern, als sie noch einige Verse über Leichenschändung hinzufügt und somit die Gewalttätigkeit der Feinde sogar über Tod und Zeitlichkeit hinausreichen lässt (55–58): Sed nec vivorum satis est modo caede furorem explesse, in veterum quominus ossa ruant. Maiorum ruptis spargunt quin undique bustis ossa, per attritas squalida facta vias. Aber es genügt ihnen auch nicht, nur durch Mord an den Lebenden ihre Raserei zu stillen, so dass sie sich nicht noch auf die Gebeine der Alten stürzten. Ganz im Gegenteil, sie reißen sogar die Gräber auf und verstreuen überall die Gebeine der Vorfahren, die schmutzig geworden sind auf den zertrampelten Pfaden.
Indem sie Friedhöfe verwüsten und die Gebeine längst verstorbener Menschen verstreuen, greifen die Türken in die ruhmreiche Vergangenheit Pannonias ein und versuchen, deren Spuren zu tilgen. Auch vor Kirchenschändung und Sakrilegen schrecken sie nicht zurück. Unter Flüchen und Lästerungen verheeren sie die Kirchen und fordern die göttliche Macht heraus (59–64). Aufschlussreich ist, in welcher Weise Pannonia ihre Sicht auf Germania zum Ausdruck bringt (73–78): te penes Imperium et vasti custodia mundi, insontes te igitur rite iuvare decet.
1053 Okál verweist auf Ursinus Velius, Querela Austriae, fol. A 3 r. Das Pendant zur zitierten Passage lautet dort (vgl. das Kapitel dieser Arbeit 3.1.5): Arrectis etiam prefigunt turpiter hastis/ Infantes teneros praecipitantque solo. /Paruula quinetiam transfigunt corpora palis, /Pars in frusta secant, pars caput ense metunt./ Immaturum alij, dictu miserabile, foetum/ Excidunt utero, proijciuntque feris./ Nec satis est uno geminas in corpore uitas/ Tollere, diuulsas exanimare iuuat. 1054 Übersetzung T. B.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
crede mihi, satis est, si quem tamen ista potestas delectat, miseros perdere posse reos. servare ast alios multo res dignior illa est et sibi devinctos reddere quosque magis.1055 Bei dir liegen Kaisertum und Aufsicht über die riesige Welt, dir steht es daher wohl an, die Unschuldigen wirksam zu schützen. Glaube mir, es ist genug, die armen Angeklagten verderben zu können, wenn schon jemand Freude hat an einer derartigen Macht. Viel edler aber ist jene Macht, andere zu verschonen, und einen jeden, den man besiegt hat, sich mehr zu verpflichten.
Offenkundig hat sie den Kaiser im Blick und den noch immer über ihren nordwestlichen Rand regierenden Ferdinand, der 1530 zum Römischen König gekrönt und somit zu einem potentiellen Nachfolger auf den Kaiserthron gemacht worden war. Dass der den Habsburgern anhängende Teil des ungarischen Adels 1526 Ferdinand zum eigenen König gewählt hatte, war weniger von persönlicher Wertschätzung motiviert als von der Hoffnung, dass Karl V. einen hinreichenden Schutz gegen die Osmanen bieten würde.1056 Diese Aussichten wurden allerdings enttäuscht. Auch Ferdinand erregte den Unmut seiner neuen Untertanen, da er selbst das Land nur selten bereiste und aus der Ferne regierte.1057 Bemerkenswert ist, dass Rubigallus’ Pannonia in den Versen 75–78 ihre Schwester Germania um Milde und Schonung anfleht und dadurch geradezu impliziert, niemand anderes als diese habe sie in Wirklichkeit besiegt und unterjocht. Hier wird also eine verhältnismäßig scharfe Kritik an der als eigennützig und unsolidarisch empfundenen Politik der Habsburger und der Reichsstände formuliert. Ihren Appell an Germania, die mit der kaiserlichen Würde verbundenen Pflichten wahrzunehmen und die Unschuldigen zu schützen, bekräftigt Pannonia durch eine drastische Beschreibung des moralischen Verfalls auf ihrem Boden (85–92): ipsa etiam virtus nigro vestita colore pulsa per incertas errat ubique vias. hancque fides sequitur magno concussa dolore, quae lachrymis ullum nescit habere modum. hae simul a saevo pulsae sunt hinc procul hoste atque harum praestant frausque dolusque vices,
1055 Auch mit diesem Appell, dass die Macht eines Menschen über Leben und Tod eines anderen zur Großmut verpflichte, rekurriert Pannonia auf die Worte einer ovidischen Heroine. Medea zitiert im Rückblick die flehentlichen Bitten, mit denen sich einst Jason in Kolchis an sie gewandt hatte. Ov. her. 12, 73–76: ius tibi et arbitrium nostrae fortuna salutis/ tradidit inque tua est vitaque morsque manu./ perdere posse sat est, siquem iuvet ipsa potestas;/ sed tibi servatus gloria maior ero. 1056 Sutter Fichtner: Aber doch ein Friede, S. 235. 1057 Ebd., S. 236.
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illae per sylvas et campos undique oberrat, hae sed magnatum tecta superba petunt. Sogar die Tugend selbst irrt schwarz gekleidet und ausgestoßen überall auf unsicheren Wegen umher. Ihr folgt durch großen Schmerz erschüttert die Treue, welche kein Maß kennt für ihre Tränen. Beide zugleich sind sie vom wütenden Feind von hier weit weg vertrieben worden, und ihre Stellen nehmen Betrug und Arglist ein. Jene irren überall durch Wälder und Felder, diese begeben sich zu den prunkvollen Häusern der Magnaten.
Vor dem inneren Auge ihrer Adressatin lässt sie also vier allegorische Gestalten auftreten, welche zu zweit jeweils die Seite des Guten und des Bösen verkörpern (85–92), ein Szenario, welches die Beschreibung des Eisernen Zeitalters bei Ovid revoziert.1058 Wenn Pannonia klagt, dass gerade Betrug und Arglist die prunkvollen Häuser der Magnaten heimsuchen, bezieht sie offenbar Stellung gegen die Partei der Anhänger Zápolyas, welche sich zu einem großen Teil aus dem Magnatentum formierte.1059 Zápolya hatte sich durch seine Bereitschaft, als Vasall des Sultans zu regieren, das Odium eines Verräters der Christenheit zugezogen. In der Querela Pannoniae taucht sein Name kein einziges Mal auf, so dass dieser Vers den einzigen möglichen Anhaltspunkt für eine kritische oder ablehnende Haltung des Autors gegenüber dem siebenbürgischen Herrscher bietet. Im Folgenden geht Pannonia über die menschliche Perspektive hinaus und weist in Form einer praeteritio und mittels rhetorischer Fragen (quid […] referam, […] quidve memorem, […] quid exponam) auf das Leid anderer, von der osmanischen Unterdrückung ebenso betroffener Lebewesen hin (93–106). Wozu, so fragt sie, soll sie das verzweifelte Blöken der Schafe, den traurigen Gesang der Vögel, das erzürnte Zischen der bezwungenen Donau, wozu endlich die Trauer aller Elemente d. h. der ganzen Natur wiedergeben? Germania müsste doch Erbarmen zeigen, wo sich selbst der Himmel und seine Gestirne, ja sogar die Götter hätten erweichen lassen. Pannonia bezieht hier in den allgemeinen Trauergestus nicht nur Tiere ein, sondern sogar den gesamten Kosmos. Es handelt sich hier um eine pathetic fallacy, eine Art der Anthropomorphisierung, welche die den Menschen umgebende Natur (Tiere, Pflanzen, Steine, Wolken, Gestirne) mit menschlichen
1058 Vgl. Ov. met. 1, 129–150: omne nefas, fugere pudor verumque fidesque;/ in quorum subiere locum fraudesque dolique/ insidiaeque et vis et amor sceleratus habendi./ […] / victa iacet pietas, et Virgo caede madentes,/ ultima caelestum, terras Astraea reliquit. 1059 Dazu Okál ad loc. „magnates magna ex parte Ioannis regis (Ioannis de Zapolia) partium sectatores erant.“ (Die Magnaten hingen zum großen Teil der Partei des Königs Johann [Johann Zápolya] an.)
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
Empfindungen ausstattet und bisweilen sogar zu dessen mitfühlendem Leidensgefährten macht. Dieser Terminus wurde 1856 von John Ruskin geprägt und brachte dessen kritische Sicht auf die seiner Meinung nach allzu subjektive, realitätsferne Haltung anderer Dichter zum Ausdruck. Heute wird der Begriff ohne pejorative Bedeutung angewandt. Das Phänomen selbst, das in der antiken Rhetorik noch keinen spezifischen Terminus hatte und vermutlich dem adynaton zugerechnet wurde, lässt sich bis zu den Anfängen der überlieferten Dichtung, sogar bis zum Gilgamesch-Epos, zurückverfolgen. Der größten Beliebtheit erfreut es sich in der epischen, insbesondere der bukolischen Dichtung.1060 Das vielleicht bekannteste Beispiel dürfte der Orpheus-Mythos darstellen, in welchem Gesang und Tod des Sängers Tiere, Bäume und Felsen zu Reaktionen veranlassen, zu denen realiter nur Menschen fähig sind.1061 So liegt es nahe, dass die pathetic fallacy – das Szenario einer weinenden Natur – als konstitutives Element für poetische Totenklagen genutzt wird.1062 Rubigallus transferiert diesen Topos in einen politisch-militärischen Kontext. In die irdisch-menschliche Sphäre zurückkehrend verleiht Pannonia der Sehnsucht nach ihren eigenen Helden aus der Vergangenheit Ausdruck, welche, wenn sie noch lebten, die heimtückisch hinterrücks Pfeile abschießenden Feinde ohne jeden Zweifel niederstrecken würden (107–116): o utinam nostrum sinerent modo fata redire Hunniadem, non sic orba relicta forem. aut mihi te miserae decus, o Mathia, relictae redderet, hinc quae te sustulit, illa dies. tu certe nostros haud quaquam, perfide, fines sic dira posses sollicitare manu. iam tua nil possent praesenti tincta veneno spicula, velocis nec foret usus equi. hic etenim innata fretus virtute suorum sterneret intrepide, perdide, quosque tuos. O wenn doch nur die Geschicke unseren Hunyadi zurückkehren ließen, dann wäre ich nicht so vollkommen verlassen. Oder wenn jener Tag, welcher dich von hier entrissen hat,
1060 Bernard F. Dick: Ancient Pastoral and The Pathetic Fallacy. In: Comparative Literatur 20/1 (1968), S. 27–44. 1061 Zumindest nach einer bis ins 20. Jahrhundert noch weitgehend unbestrittenen communis opinio. 1062 Vgl. z. B. Bion: Tod des Adonis; Ps.-Moschos: Klage um Bion; Verg. ecl. 5 (Tod des Daphnis); Verg. ecl. 10 (Liebesleiden des Gallus). Zudem findet sich in der Bibel der Gedanke, dass die gesamte Schöpfung in Wehen liegt und voll sehnsüchtiger Seufzer auf ihre Erlösung wartet. Röm 8, 22.
3.1.6 Paulus Rubigallus (ca. 1520–1577): Querela Pannoniae ad Germaniam
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Matthias, mein Liebling, dich mir armer, verlassener Frau zurückgäbe. Du, heimtückischer Schurke, könntest mein Gebiet sicher auf keinerlei Weise mehr mit deiner grausigen Schar in Schrecken versetzen. Nichts mehr könnten deine giftgetränkten Pfeile, nichts mehr der Ritt auf einem schnellen Pferd ausrichten. Matthias würde nämlich im Vertrauen auf die angeborene Tugend der Seinen einen jeden der Deinen, du Schurke, furchtlos niederstrecken.
Sowohl der große Feldherr Johannes Hunyadi (108) als auch sein Sohn Matthias (109), besser bekannt als König Matthias Corvinus oder Matthias „der Gerechte“, repräsentieren im kollektiven Gedächtnis bis heute glanzvolle Höhepunkte in der ungarischen Geschichte. Johannes Hunyadi (um 1407–1456) erlebte die Regierungszeiten dreier ungarischer Könige mit und absolvierte eine für seine Zeit beispiellose Karriere. Aus einem Siebenbürger Knesengeschlecht (d. h. von geadelten Dorfrichtern) stammend, diente er ab 1430 König Sigismund auf seinen Feldzügen und errang ab 1440 auf dem Balkan derart große Siege gegen die Osmanen, dass er sogar den wenig zuversichtlichen Enea Silvio Piccolomini wieder hoffnungsvoll stimmte.1063 Zum Reichsverweser ernannt, trat er innenpolitischen Missständen entgegen und nahm einige Reformen in der Verwaltung vor. Er wies die aufstrebenden Barone in die Schranken, förderte stattdessen den niederen Adel und baute ein leistungsfähiges, auch aus Söldnern und Volksaufgeboten bestehendes Heer auf. Mit scharfem Blick erkannte Hunyadi die fatalen Folgen des Falls von Konstantinopel (1453) und brachte den Gedanken, dass Europa das Bollwerk der Christenheit, das antemurale Christianitatis, im Stich gelassen habe, in einem Brief an den Papst zum Ausdruck. Sein immenses Vermögen stellte er in den Dienst seines Vaterlandes und fasste den kühnen Plan, eine osteuropäische Allianz der Balkanvölker, der Serben, Bulgaren und Rumänen zu schmieden, um die Osmanen endgültig aus Europa zu vertreiben. Aufgrund mangelnder Entschlossenheit und Kooperation der verbündeten Völker zerschlugen sich seine Hoffnungen bei der Schlacht von 1448 auf dem Amselfeld bei Serbien. 1456 erzielte er einen letzten großen Erfolg bei der Verteidigung von Belgrad gegen die Truppen Mehmeds II., bevor er kurz darauf an der Pest starb.1064 1458 wurde nach dem Tod des Königs und nach erbitterten Kämpfen um die Thronfolge Hunyadis Sohn Matthias auf Druck des niederen Adels von den Baronen zum König gewählt und setzte die Reformen des Vaters fort, indem er die königliche Zentralgewalt stärkte und einen effizienten Berufsbeamtenstand schuf. Sein ihm allein unterstehendes, aus deutschen und böhmischen Söldnern rekrutiertes „Schwarzes Heer“ war das stärkste seiner Zeit. In realistischer Einschätzung von Ungarns eigenen begrenzten Kräften
1063 Molnár, S. 99 ff. 1064 Fischer, S. 46 f.; Benda / Hanák, S. 38 f.
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und der mangelnden Zuverlässigkeit der Verbündeten beabsichtigte Matthias, alle Donauvölker zu einem Gesamtreich zu vereinigen, um den Osmanen wirksamer entgegenzutreten. Primär zu diesem Zwecke, möglicherweise aber auch aus persönlichem Ehrgeiz und dem Wunsch, einst Kaiser zu werden, strebte er nach der böhmischen Königskrone, ein Unternehmen, das ihn in Rivalität zu Friedrich III. von Habsburg und dem Haus der Jagiellonen brachte. Nach einem Sieg über den Jagiellonen Wladislaw im Jahre 1478 erlangte Matthias Mähren und Schlesien und teilte sich mit dem Besiegten nominell den Titel eines Königs von Böhmen. 1485 eroberte er Wien von Friedrich III. und siedelte dorthin über, wo er 1490 starb. An der Schwelle von Mittelalter und Neuzeit bescherte er Ungarn innere Sicherheit und Frieden sowie eine kulturelle Blütezeit. Er beschäftigte hochrangige Künstler und Wissenschaftler, ließ seinen gotischen Palast in Buda nach dem neuesten italienischen Renaissancestil umgestalten und richtete die berühmte Bibliotheca Corviniana ein. Wegen seiner strengen Kontrolle über Beamte und Diener verlieh ihm das Volk trotz seiner hohen Steuerforderungen den Beinamen „der Gerechte“. Kursierenden Legenden zufolge pflegte der König bisweilen unerkannt unter dem Volk zu wandeln, um die Armen und Wehrlosen gegen die Übergriffe vonseiten der Mächtigen zu schützen.1065 Als typischer Vertreter einer patriotischen humanistischen Elite lässt Rubigallus seine Pannonia also die Namen zweier berühmter Herrscher beschwören, welche ihr Leben dem Kampf gegen die Osmanen weihten und ihre Pläne auf ein völkerübergreifendes Verteidigungsbündnis richteten. Nach einer kurzen Bezugnahme auf glückverheißende Prophezeiungen vom schicksalhaft beschlossenen Untergang der Osmanen (117–121) führt die Schreiberin in einer umfangreichen Passage den auch in anderweitigen Formen der Publizistik immer wieder beschworenen argumentativen Gemeinplatz aus, dass Ungarn das Bollwerk der Christenheit sei (121–168). Diese Passage lässt sich in mehrere Bestandteile gliedern. Die Verse 121–128 enthalten einen direkten Appell an Germania, ihr Zaudern endlich aufzugeben und auch gerade im Interesse ihrer eigenen Sicherheit, zu den Waffen zu greifen: tu modo praevalidas, Germania, collige vires quodque potes dirum perdere, perde genus. ah nimium cessas nimiumque oblita tuorum et mecum perdis teque tuosque simul. namque ego si tantis fuero depressa ruinis haud quaquam post me salva superstes eris. hic siquidem immanis me non evertere solam, sed totum tentat subdere marte genus.
1065 Benda / Hanák, S. 42 ff.; Molnár, S. 108 ff.
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Du aber, Germania, sammle deine starken Streitkräfte und vernichte das grausige Volk, soweit du es nur vernichten kannst. Ach, allzu lange zögerst du, allzu sehr hast du die Deinen vergessen, und mit mir vernichtest du dich und die Deinen zugleich. Denn wenn ich einmal durch einen so großen Sturz erdrückt bin, wirst du nach mir auf keinen Fall wohlbehalten übrigbleiben, da ja dieser Unmensch nicht nur mich allein zu verwüsten, sondern das ganze Menschengeschlecht durch Krieg zu unterwerfen versucht.
Dieser Appell wird durch den Hinweis auf die von den Türken bereits unterworfenen Länder als bedrohliche Exempel unterstrichen (129–138). Was bei Ursinus Velius noch als ein ausführlicher Katalog der osmanischen Eroberungen erschien,1066 präsentiert Rubigallus in summarischer Zusammenfassung. Libyen, Asien und Griechenland als Wiege der Musen gemeinsam mit allen an der östlichen Donau gelegenen Gebieten sind betroffen. Ein zum propugnacu lum-Topos gehörendes moralisches Argument erhält in der Querela Pannoniae eine besondere Gewichtung. In fast 30 Versen zählt Pannonia ihre Verdienste um Germania auf, mahnt eindringlich zur Dankbarkeit und fordert zu Gegenleistungen auf (139–168). Es handelt sich offenkundig um eine Amplifizierung der schon bei Ursinus Velius formulierten Intervention der Austria zugunsten des undankbar im Stich gelassenen Ungarn.1067 Eingeleitet wird diese Passage durch die erstmals begegnende Anrede der Schwester als germana, ein Wortspiel also mit Germania und germana,1068 welches insbesondere in der Epistola von 1545 einen breiten Raum einnehmen wird. Pannonia klagt, dass ihre eigenen Soldaten schon in zahlreichen Schlachten ihr Blut für Germania vergossen hätten, dass sich aber im Gegenzug kein deutscher Soldat zur Verteidigung des ungarischen Bodens blicken lasse. Wenn sie die hartherzig ihre Hilfe verweigernde Schwester ausdrücklich beschuldigt, nicht nur die Urheberin ihres Selbstmordes, sondern sogar ihre mit eigener Hand! agierende Mörderin zu sein, setzt sie das (gestörte) verwandtschaftliche Verhältnis nicht nur in Analogie zur Dido-Aeneas-Beziehung, sondern will es in seiner grausamen Asymmetrie sogar noch übertroffen sehen (159–160):
1066 Ursinus Velius: Querela Austriae, fol. A 2 r–A 3 r. 1067 Ebd., fol C 2 r: Ipse etiam infractas reparat pro tempore vires /Pannonius, nostram qui modo spectat opem./ Et merito centum iam qui prope traxit in annos/ Bella, sua tantum fretus in hoste manu./ Quique suo nostros defendit sanguine fines/ Hactenus extremi nescius auxilij./ Hunc ne conuulsis tu saltem desere rebus,/ Fortiter & geminas adsere Pannonias. 1068 Vgl. zu den etymologischen Beschäftigungen der Humanisten mit germanus/Germanus bzw. seinen Derivativa, teils in Form von rhetorisch effektvollen Wortspielen, Hirschi: Wettkampf der Nationen, S. 275 f., 572; Krebs: Ein gefährliches Buch, S. 103, 133 f.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
tu certe caussam nostrae modo cladis et ensem praebes, aque tua vulneror ipsa manu.1069 Du bietest sicher die Ursache und das Schwert unseres Verderbens, und von deiner Hand selbst werde ich verwundet.
In vier Versen eröffnet Rubigallus wiederum eine Perspektive, welche über Raum und Zeit hinausweist und ohne Parallele bleibt bei den anderen Autoren von Germania-Heroiden. Pannonia lenkt Germanias Blick aufs Jenseits, wo diese die Geister der im Kampf für sie gefallenen Helden erblicken soll (169–174). Zu ihrer Schande bescheinigen die Verstorbenen Germania Undankbarkeit. Dieser äußerst knapp formulierte Vorwurf Pannonias evoziert sowohl das antike Ideal von dem Streben nach unsterblichem Ruhm als auch die christliche Lehre von Transzendenz und Weltgericht. Nach beiden Maßstäben wird Germania als Versagerin dastehen, wenn sie sich nicht sofort zum Handeln d. h. zum Feldzug gegen die Türken entschließt. Die Konsequenzen im Jenseits werden zwar nicht explizit geschildert, dennoch aber enthält der mahnende Hinweis auf die Ewigkeit eine latente Drohung. Die folgende Passage ist einem Lobpreis der natürlichen Vorzüge des ungarischen Landes gewidmet (175–204). Den gängigen Topoi der frühneuzeitlichen Hungaria-Rhetorik entsprechend,1070 aber gerade auch in Anlehnung an Ursinus Velius Querela Austriae fol. C 2 r – C 2 v, die wiederum auf die laus Italiae in Vergils Georgica1071 rekurriert, ist Rubigallus bestrebt, dem flehentlichen Gesuch um militärische Hilfe unter dem rhetorischen Gesichtspunkt der Nützlichkeit (utile) durch eine laus Pannoniae zusätzliche Relevanz zu verleihen. Mihály Imre stellt die enge Verbundenheit des Topos „fertilitas Hungariae“ mit demjenigen vom „propugnaculum Christianitatis“ heraus.1072 Die Berufung auf die Naturschätze Ungarns geht ebenfalls auf Enea Silvio Piccolomini zurück1073 und findet bei den nachfolgenden Autoren Anwendung. Natürlicher Reichtum des Landes und menschliche Tugenden (insbesondere in Politik und Krieg) stellen im Idealfall komplementäre Güter dar. Während der menschliche Erfolg stets wechselnden geschichtlichen Umständen unterworfen ist, können die Gaben der Natur die Zeiten überdauern und bieten 1069 Vgl. Ov. her. 7, 195–196: „praebuit Aeneas et causam mortis et ensem;/ ipsa sua Dido concidit usa manu.“ Auf die makabere Tatsache, dass sich Dido mit dem von Aeneas (nicht zu diesem Zweck) geschenkten Schwert den Tod gibt, weist schon Verg. Aen. 4, 646–647 hin, doch erst Ovid lässt dies die Heldin selbst aussprechen, und zwar äußerst pointiert zum Abschluss ihres Briefes in Form eines vorweggenommenen Eigenepitaphs. 1070 Vgl. Imre, S. 93, 96. 1071 Verg. georg. 2, 136–176. Vgl. auch Liv. 5, 54, 4. 1072 Ebd., S. 93. 1073 Eine wenn auch kurze Rühmung der Bodenschätze Italiens findet sich auch in Verg. georg. 2, 165–166.
3.1.6 Paulus Rubigallus (ca. 1520–1577): Querela Pannoniae ad Germaniam
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ein verlässliches Kontinuum, für das es sich zu kämpfen lohnt.1074 In diesem Fall ist es Pannonia selbst, welche ihre eigenen Schätze auf beinahe dieselbe Weise preist, wie das bei Ursinus Velius die Heroine Austria unternimmt.1075 Der Erdboden übertrifft Libyen an Fruchtbarkeit, der Wein ist besser als derjenige von Kreta. Ungarn bringt bessere Pferde hervor als Epirus, zudem kräftige Rinder, vorzügliche Fische, Haine und Wälder, die zur Jagd einladen, und gewaltige Bodenschätze.1076 Im Gegensatz zu Ursinus Velius, der alle Güter nahezu gleichrangig aufzählt, legt Rubigallus besonderes Gewicht auf den an letzter Stelle erwähnten Bergbau (185– 198). In Analogie zu den ovidischen locus amoenus-Darstellungen leitet er mit mons est eine ausführliche Beschreibung des Erdinneren ein, wo metalltragende Adern wie die Adern eines menschlichen Leibes ihren unerlässlichen Dienst verrichten. Diese Darstellung soll Bewunderung für den quasi-menschlichen Organismus der Natur wecken, welchen dem Feind anheimzugeben einem Verbrechen gleichkäme. Die breite Ausführung dieser Passage dürfte Rubigallus’ eigenen Unternehmungen als Bergwerkbesitzer in seinen heimatlichen Karpaten geschuldet sein. Mit dem Hinweis auf Frühlingsblumen, die sie Germania schicken könne, die aber auch im übertragenen Sinne den Anbruch einer besseren Zeit symbolisieren, schließt Pannonia das Lob ihres eigenen Bodens (199–201). Ebenso wie Ursinus Velius’ Austria ergeht sie sich in Phantasien über die notwendigen Bündnisse zur Türkenabwehr und entwirft ihren Wünschen gemäß einen umfangreichen Heereskatalog (205–226). Bestünden bisher noch Zweifel an der Abhängigkeit der Querela Pannoniae von der Querela Austriae, so ließen sie sich spätestens an dieser Stelle ausräumen, wo Rubigallus zumindest eingangs dieselben anzuwerbenden Bündnispartner in derselben Reihenfolge aufzählt: die Bayern, Schwaben, Franzosen, Nürnberger, Thüringer und Meißener. Teilweise erhalten diese Bündnispartner sogar ähnliche Attribute oder erscheinen in derselben Versposition wie bei Ursinus Velius. Pannonia schlägt vor (211–212): Norica quin etiam cum iunctis arma Thuringis Adsint et pubes, Misnia culta, tua. Ja, auch die Nürnberger Heere sollen gemeinsam mit den verbündeten Thüringern da sein und deine Jugend, edles Meißen.
1074 Ebd., S. 96. 1075 Vgl. Ursinus Velius: Querela Austria, fol. C 2 r–v. 1076 Die Aufzählung all dieser Vorzüge findet sich auch bei Benda / Hanák, S. 44 f. Lediglich die Pferde erscheinen ausländischen Käufern trotz ihrer Qualitäten auch widerspenstig und schwierig. Reine Freude jedoch gewähren die Erzeugnisse der Landwirtschaft. Ein französischer Franziskanermönch soll um 1300 auf einer Ungarnreise in (wohl scherzhaften) etymologischen Erklärungen den Namen Pannonia von lat. panis (Brot) hergeleitet haben.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
Austrias Forderung lautet: Norica finitimis iungantur & arma Toringis, Excitet & pubem Misnia terra suam.1077 Verbünden sollen sich auch die Waffen von Nürnberg mit den benachbarten Thüringern, und Meißen soll seine Jugend anspornen.
Ebenso erscheint in beiden Heroiden die Forderung an Hessen, kriegserprobte junge Männer bzw. Pferde zu schicken, kombiniert mit einem Aufruf an die Sachsen zum Waffengang. Pannonia verlangt (213–214): Huc alacres iuvenes bellatrix Hassia mittat, huc equitum turmas tu quoque, Saxo, trahas. Hierher soll das kriegerische Hessen verwegene Jünglinge schicken, hierher sollst auch du, Sachse, deine Reiterscharen mit dir führen.
In der Querela Austriae unterscheidet sich lediglich die Verteilung der Forderungen auf Hexameter und Pentameter. Das Vokabular hingegen bleibt nahe am Prätext: Iamdudum resides moveas Saxonas ad arma. Et bellatores Hassia mittat equos.1078 Hole die lange schon untätigen Sachsen zu den Waffen, und Hessen soll Kriegsrosse schicken.
Bemerkenswerterweise verlangt Pannonia ebenso wie zuvor Austria nach der Beteiligung der Franzosen am Feldzug, welche 1536/1537 in Wirklichkeit nicht nur den Habsburgern entgegenarbeiteten, sondern sogar diplomatische Beziehungen zu den Osmanen pflegten, welche es doch zu besiegen gilt. Falls die Querela Pannoniae (1537) nicht nach dem Waffenstillstand zwischen Karl V. und Franz I. vom 16. November 15371079 entstanden ist, enthält das auf Frankreich bezogene Distichon (209–210) möglicherweise einen Appell an das Reich, endlich die Voraussetzungen für ein gutes Einvernehmen zu schaffen, d. h. Friedensverhandlungen aufzunehmen. Auf derartige propagandistische Bestrebungen der Autoren ist die Tatsache zurückzuführen, dass sowohl die Querela Austriae als auch die Querela Pannoniae in einem einzigen Distichon ein anderes Franzosenbild präsentieren als zahlreiche Heroiden aus demselben Zeitraum. Der Franzose erhält 1077 Ursinus Velius: Querela Austriae, fol. C 1 v. 1078 Ebd., fol. C 1 v. 1079 Vgl. De Ferdinandy, S. 347 (Chronologie).
3.1.6 Paulus Rubigallus (ca. 1520–1577): Querela Pannoniae ad Germaniam
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nicht mehr die ambivalente Bezeichnung Gallus, welche zu polemischen Wortspielen mit gallus (dem durch dreimaliges Krähen den Verrat des Petrus kundgebenden) Hahn einlädt, sondern erscheint als Franke (Franco), was eine Kontinuität des karolingischen Reiches mit dem Römisch-Deutschen Reich der Frühen Neuzeit suggerieren und die ursprüngliche Verwandtschaft der westlichen und östlichen Bewohner des von den Karolingern beherrschten Gebietes akzentuieren soll. Zudem wird der topische Vorwurf der perfidia1080 durch die Vorstellung von einem kriegstüchtigen, abgehärteten und exzellent reitenden Franken ersetzt. Ursinus Velius’ Austria fordert: Frigore quinetiam ueniat duratus & armis Franco, regens scite colla ferocis equi.1081 Ja, sogar der durch Frost und Waffen abgehärtete Franke soll kommen, der den Hals eines feurigen Rosses zu lenken versteht.
Pannonia formuliert auch hier in nur geringfügiger Variation (209–210): Iam te magnanimus bellator Franco sequatur, terga premens solito more ferocis equi. Jetzt soll dir der Franke, der Krieger mit großem Mut folgen, der nach gewohnter Weise auf dem Rücken eines feurigen Rosses sitzt.
Rubigallus’ allegorische Heldin verlangt ebenso wie diejenige seiner literarischen Vorlage, wenn auch nicht mehr in penibel übereinstimmender Reihenfolge, nach den Sachsen, Mährern, Polen, Schweizern, Spaniern, Steirern, Tirolern, Jülichern, Schlesiern, Böhmen und Österreichern, kurz nach allen Völkern, die an Rhein, Donau und anderen Flüssen wohnen. Beide Habsburger, der amtierende Kaiser und sein Bruder, der bereits zum Römischen König gekrönte Ferdinand, beide mit dem Titel Caesar (218 Caesar uterque) bezeichnet, sollen diesen Zug anführen. Pannonia fordert nicht weniger als Ursinus Velius’ Austria einen paneuropäischen Feldzug unter habsburgischer Ägide und geht somit über die Ambitionen ihrer einstigen Helden aus dem Hause der Hunyadi weit hinaus. Anders als Ursinus Velius, der als Hofhistoriograph Ferdinands ohnehin zur Verherrlichung der Habsburger durch panegyrische Poesie verpflichtet war und dem Kaiserhof zudem durch seine Treue zur römisch-katholischen Kirche nahestand, scheint 1080 Vgl. Poemata Georgii Sabini [Germania ad Caesarem Ferdinandum], S. 16: Denique nec magni potuerunt [subdere colla iugo] lilia Galli,/ lilia saepe mea languida facta manu. Vgl. auch Poematvm Ioannis Stigelii Liber Tertivs [Germania ad Fridericum], fol. D 7 v: Nec vereor toties rumpentem foedera Gallum,/ inveniet poenas perfidus ille suas. 1081 Ursinus Velius: Querela Austriae, fol. C 1 v.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
der ungarndeutsche Humanist seine stellenweise sehr ähnlich lautenden Verse ausschließlich oder primär aus patriotischen Motiven verfasst zu haben. Pannonia appelliert wiederum zum gemeinsamen Ansturm aller Truppen auf den Feind (227–242), wobei sie sich insbesondere mit dem wiederholten Ausruf pudeat (233, 239) ex negativo auf einen ritterlichen Ehrbegriff beruft. Germania büßt ihre Ehre ein, wenn sie zulässt, was abzuwehren einstmals sowohl nötig als auch trotz großer Verluste möglich war. Den beschämenden Verhältnissen der Gegenwart stellt Pannonia die einstigen Kaiser Konrad III. sowie Friedrich I. Barbarossa und Friedrich II. als leuchtende Exempel der ruhmreichen deutschen Vergangenheit gegenüber, welche den Kampfgeist neu entfachen sollen (233–238): ah, pudeat, longis quem quondam quaerere in oris audebas, segetes urere posse tuas! hunc siquidem Imperii Cunradus sceptriger olim Suevus in Eoa contudit ense plaga, hunc Fridericorum fudit quoque splendida virtus, ad Solymas arces bina trophaea ferens. Ach, schämen solltest du dich, dass derjenige, welchen du einst auf weiten Fluren herauszufordern wagtest, nun deine Saat verbrennen kann! Wo diesen doch einst der Schwabe Konrad, der das Zepter des Reiches trug, an östlicher Küste mit dem Schwert zu Fall brachte, wo diesen doch auch der glänzende Kampfgeist der Friedriche zerstreute, der je zwei Trophäen zur Burg von Jerusalem trug.
Diese Repräsentanten einer besseren Zeit, im Text als ästhetisches Pendant zu Pannonias eigenen früheren Helden, den zuvor genannten beiden Hunyadis aufgeführt, unternahmen im Hochmittelalter Kreuzzüge gegen die Sarazenen. Der syntaktische Anschluss mit hunc [hostem oder tyrannum] an die vorhergehenden Verse impliziert eine Identität von gegenwärtigem und einstigem Feind und suggeriert in zeittypischer Manier, dass die Osmanen des 16. Jahrhunderts mit den arabischen Besatzern des Heiligen Landes identisch seien. Konrad III., „der Schwabe“, unternahm 1147 bis 1148 gemeinsam mit seinem Neffen Friedrich, dem späteren Barbarossa, einen Kreuzzug zur Rückeroberung des 1144 gefallenen Edessa, welcher aber in jeder Hinsicht misslang.1082 Friedrich 1082 Knut Görich: Friedrich Barbarossa. Eine Biographie. München 2011, S. 73 ff. Sabinus hingegen lässt Conradus Suevus seine Mission im Heiligen Land siegreich erfüllen und lediglich auf dem Rückweg in Griechenland Opfer eines heimtückischen Verrats seiner Gastgeber werden. Georg Sabinus: Conradus Suevus 1–8: Magnanimos Conradus agens in praelia Suevos/ Ad Solymas longum per mare fecit iter:/ Adventusque sui formidine terruit hostem,/ Victor Idumaeam qui populatus erat:/ Vindice quem dextra Iordanis ab amne fugavit,/ Humectat varios huc ubi Nilus agros:/ Ac celebrem partum ducturus laude triumphum,/ Cum reduci patriam classe petebat humum. (Konrad führte die beherzten Schwaben zur Schlacht und legte einen langen Weg
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Barbarossa richtete mehr auf seinen Italienfeldzügen aus als in Palästina, und Friedrich II. erreichte die Freigabe der heiligen Stätten Jerusalems durch diplomatische Verhandlungen, nicht durch militärische Gewalt. Dennoch kann sich Rubigallus’ Pannonia weitverbreitete Stereotypen von der Kreuzfahrervergangenheit zunutze machen und die Namen dieser Kaiser als movens für gewünschte Kampfhandlungen einsetzen. Noch pointierter als in 73–78 definiert sie ihr Verständnis vom Römisch-Deutschen Reich (243–252): ipse animas de te caesorum (crede) reposcet, lumine qui semper vindice cuncta videt. Imperio nam tu cum sis caput addita celso, a Christo sanctum quod modo nomen habet, parcere Christicolis et debellare prophanos te decet officii munera suntque tui. hinc te venturas nimium ne differ in horas, sed magis a capite hoc quam cito pelle nefas. fac tua iam niteat, Germania, splendida virtus peneque deletum nunc renovato decus. Er selbst wird von dir, glaube mir, Rechenschaft für die Seelen der Erschlagenen fordern, er, der immer alles mit gerecht urteilendem Auge sieht. Denn da du dem erhabenen Reich, welches nur von Christus seinen Namen „das Heilige“ hat, als Haupt geschenkt wurdest, ist es dein Amt und deine heilige Pflicht, die Christen zu verschonen und die Ungläubigen durch Krieg zu bändigen. Verschieb es daher nicht zu sehr auf die kommenden Stunden, sondern vertreibe den Frevel so schnell wie möglich von diesem Haupt. Nun sieh zu, Germania, dass deine glänzende Tugend erstrahlt, und erneuere nun deinen beinahe getilgten Ruhm.
Pointiert erscheint der mahnende Hinweis auf die Transzendenz, der Hinweis auf die Verantwortung vor Gott, dem Germania einst Rechenschaft für die Gefallenen ablegen muss. In den beiden folgenden Distichen werden die im 16. Jahrhundert geläufige Metaphorik vom Reich als Leib mit Haupt und Gliedern1083 und die spä-
über das Meer nach Jerusalem zurück: Durch das (bloße) Schrecknis seiner Ankunft flößte er dem Feind Entsetzen ein, der als Sieger Palästina verheert hatte: Diesen vertrieb er mit rächender Hand vom Fluss Jordan dorthin, wo der Nil zahlreiche Felder bewässert. Um einen durch seine Ruhmestat erworbenen glänzenden Triumph abzuhalten, kehrte er mit seiner Flotte ins Vaterland zurück. Wo Nepheles Tochter Helle dem Meer den Namen verleiht und der gewaltige Bosporus das Schwarze Meer einengt, dort büßte er unbesiegbare Kräfte ein: Er hatte nämlich durch den schmählichen Verrat seines Gastfreundes Soldaten verloren. Folglich verbüßt Thrakien durchaus verdiente Strafen, wo es nun von den unmenschlichen Borysthenen eingenommen ist. Da es sich mit seinem Verrat bösartig gegenüber seinen eigenen Gerechten erwies, erleidet es die grausame Herrschaft des türkischen Tyrannen.) Übersetzung T. B. 1083 Vgl. Stollberg-Rilinger: Das Heilige Römische Reich, S. 14 ff.
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testens seit der Formulierung Vergils als locus classicus immer wieder beschworene Aufgabe der Weltherrscher1084 miteinander kombiniert. Die im sechsten Buch der Aeneis durch Anchises in der Unterwelt prophezeite Mission der Römer gebietet bekanntlich die Differenzierung im Umgang mit (friedfertig) untertänigen und rebellischen Erdbewohnern; die einfache juristisch-moralische Unterscheidung von „gehorsam“ und „nicht gehorsam“ wird hier lediglich durch den Austausch zweier Vokabeln in die weltanschauliche Opposition von „christlich“ und „heidnisch“ transferiert. Die bedrohten dogmata Christi (277), die splendida virtus (237, 251) und das deletum decus (252) der deutschen Vergangenheit, außerdem die zuvor breit ausgeführten Kategorien der Dankbarkeit und des Selbstschutzes sollen Germania zu dem kriegerischen Unternehmen veranlassen, das ihr einen bis zu den Sternen reichenden Namen (282) verleihen wird. Rubigallus’ Querela Pannoniae folgt den typischen Argumentationsmustern der in den politischen Sendschreiben des 16. Jahrhunderts gebrauchten Rhetorik, akzentuiert aber manche Motive weitaus stärker als andere. Breiten Raum erhalten der Topos von Ungarn als Bollwerk der Christenheit und der daraus hergeleitete Anspruch auf die Dankbarkeit des bislang erfolgreich beschirmten Römisch-Deutschen Reiches. Rubigallus rekurriert explizit nicht nur auf antike Autoren, sondern primär auf einen Zeitgenossen, auf Ursinus Velius, den Hofhistoriographen der Habsburger, der als überzeugter Anhänger der Papstkirche die Unterdrückung des protestantischen Glaubens befürwortet. Der patriotische Nährwert der Querela Austriae scheint für den ungarndeutschen Poeten so groß zu sein, dass auch er als Melanchthonschüler offenbar ungeachtet seiner anderen konfessionellen Ausrichtung davon Gebrauch machen kann. Die mit der Gattung der Querela gegebene Appellfunktion verschärft Rubigallus gegenüber seinem Vorbild, indem er stellenweise den Blick auf die Transzendenz öffnet und die Verantwortung Germanias für ihre Retter auch über deren Tod hinaus zur Sprache bringt. Dabei wird es der Autor indes nicht belassen. In welchem Ton Pannonia einige Jahre später ihrer Schwester Germania begegnen wird, zeigt sich in der Epistola Pannoniae ad Germaniam recens scripta von 1547. Epistola Pannoniae ad Germaniam recens scripta (1545) Auch nach dem Erscheinen einer Neuauflage der Querela als Anhang zum Hodoeporicon von 1544 setzte Rubigallus seine Bemühungen zur Mobilisierung Deutschlands zum Türkenkrieg fort und publizierte 1545 in Wittenberg seine
1084 Verg. Aen. 6, 551–553: tu regere imperio populos, Romane, memento –/ hae tibi erunt artes – pacique inponere morem,/ parcere subiectis et debellare superbos.
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Epistola Pannoniae ad Germaniam recens scripta.1085 Mittlerweile hatte sich die prekäre politische Situation in Ungarn verschärft. 1538 hatten das Haus Habsburg und Johann Zápolya in Großwardein (Nagyvárad) einen Geheimvertrag geschlossen, welcher die gegenwärtige Aufteilung des Landes unter die zwei rivalisierenden Könige vorläufig legitimierte und Ferdinand für den Fall von Zápolyas Tod gegen eine Entschädigung als dessen Erben einsetzte. Diese Vereinbarung sollte auch gültig bleiben, falls dem Woiwoden noch ein männlicher Nachkomme zuteil werden sollte.1086 Als Zápolya tatsächlich 1540 verstarb und einen wenige Tage alten Sohn hinterließ, sah Ferdinand seine Hoffnungen auf die alleinige Herrschaft über Ungarn erfüllt und machte sogleich seine Ansprüche auf Buda und Pest geltend. Weder Süleyman jedoch, der den mittleren Teil des Landes in seiner Gewalt hielt, noch Zápolyas Witwe Isabella waren gewillt, den Vertrag einzuhalten, und erklärten den kleinen Johann Sigismund zum rechtmäßigen Nachfolger des Vaters. Im Frühling 1541 ließ Ferdinand von einer ca. 25.000 Mann starken Armee das von den Truppen des Sultans verteidigte Buda belagern, musste aber am 29. August, dem 15. Jahrestag der Katastrophe von Mohács, eine erneute Niederlage gegen die Osmanen hinnehmen. Süleyman schickte die ungarische Königswitwe mit dem Thronfolger nach Siebenbürgen, beharrte auf seinem Besitz von Zentralungarn und schuf, indem er Ferdinand lediglich die bisher schon von ihm beherrschten nordwestlichen Gebiete zugestand, die Grundlagen für die folgende Dreiteilung des Landes.1087 Die politische Spaltung mit zwei Königen, zwei Hauptstädten und einem fremden Usurpator in der Mitte verursachte auch unter den einheimischen Ungarn Verwirrung, Unsicherheit und Loyalitätskonflikte; man bekämpfte sich gegenseitig und wechselte je nach Interessenlage die Partei.1088 Das Land büßte seine wirtschaftliche Kapazität ein und musste selbst in etwas ruhigeren Zeiten die ständige Anwesenheit von türkischen Soldaten ertragen.1089 Die Osmanen, deren nur als provisorisch gedachte Okkupation dem Schutz der Ansprüche des Zápolya-Sohnes gegen die Habsburger galt, wurden von anderweitigen Feldzügen in Anspruch genommen. Sie wollten nicht während ihrer Abwesenheit den Verlust ihrer Eroberungen riskieren und
1085 Rubigallus: Carmina, S. VIII: „ultimo loco volumini Hodoeporico auctor Querelam iterum editam sine tamen dedicatione Petro Hildebrando olim consecrata adiunxit. […] de periculo a Turcis imminente Rubigallus Germanos certiores facere non desiit posteroque anno rursus Epistolam Pannoniae ad Germaniam recens scriptam versibus elegiacis compositam Wittenbergae edidit.“ Text der Epistola, S. 41–53. 1086 Oborni, S. 154 f., Petritsch, S. 250 f. 1087 Molnár, S. 139 ff. 1088 Ebd. 1089 Ebd., S. 141.
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unterstellten Buda der Herrschaft eines Paschas.1090 1542 nutzte Ferdinand eine günstige Gelegenheit und versuchte mit einer etwa doppelt so starken Armee wie zuvor, Buda zurückzuerobern, scheiterte aber wiederum. Die Tatsache, dass der zum Vormund des Zápolya-Sohnes eingesetzte Paulanermönch und spätere Erzbischof von Gran (Esztergom), der geniale, aber skrupellose Politiker György Martinuzzi, auf eine undurchschaubare Weise zwischen den Parteien der Osmanen und der Habsburger taktierte, trug nicht zur Entspannung der prekären Situation bei.1091 Rubigallus, der 1540 an der zugunsten Johann Sigismunds unternommenen Gesandtschaftsreise zu Süleyman nach Istanbul teilgenommen und die Lebensweise der Osmanen aus eigener Anschauung kennen gelernt hatte, entschloss sich, seiner Querela von 1537 eine weitere poetische Kriegsparänese an Deutschland folgen zu lassen. Schon der Titel mit seinem die Epistola charakterisierenden Attribut recens scripta betont in programmatischer Absicht die Korrekturbedürftigkeit des vorhergehenden Appells. Joachim Camerarius und Sigismund Gelous Torda, ein Lieblingsschüler Melanchthons, der sich durch philosophische Kommentare, lyrische Werke und die Übersetzung von Euripides’ Orestes ins Lateinische verdient gemacht hatte,1092 stellen der Epistola jeweils ein Empfehlungsgedicht voran, das wie eine Kurzfassung der Heroide selbst erscheint. Diese ist Quirinus Schlaher, dem Bürgermeister von Schemnitz, einem ebenso gelehrten wie wohlhabenden Mann, gewidmet. Rubigallus gebraucht in den Versen des Widmungsschreibens den auf Hesiod und Ovid zurückgehenden Topos von der Dichterinitiation und präsentiert sich, möglicherweise inspiriert von einer Briefelegie des Georg Sabinus,1093 als einen poeta vates, welchem auf dem Gipfel eines Berges in den Karpaten die personifizierte Pannonia als traurige Frau in mitleiderregendem Habit erscheint mit der flehentlichen Bitte, ein von ihr verfasstes Hilfsgesuch an ihre Schwester Germania zu übermitteln. Als Nachtrag zur Epistola hat Georg Rotaller zwei kurze Empfehlungsschreiben in Distichen hinzugefügt, so dass Rubigallus’ Heroide von Fremdbeiträgen symmetrisch eingerahmt erscheint. Okál stellt in der Epistola lediglich die im Vergleich zur Querela amplifizierte Darstellung der ungarischen Vergangenheit mit der ausführlichen Aufzählung
1090 Majoros, S. 286 f. 1091 Ebd.; Molnár, S. 142 f. 1092 Rubigallus: Carmina, S. VIII. 1093 Poemata Georgii Sabini [Ad Philippvm Bucchemerum], S. 146–150. Dort beauftragt die personifizierte Germania den jungen Sabinus ihre Geschichte niederzuschreiben. Vgl. das Kapitel dieser Arbeit 2.3.3.
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der Kriege Pannonias gegen die Türken heraus.1094 Wesentlich signifikanter jedoch ist die Verschärfung des Tonfalls, in welchem die Heroine ihre im Westen residierende Schwester anspricht. Dies trägt einer allgemeinen Wandlung im ungarischen propugnaculum-Verständnis Rechnung, welches von der Hoffnung auf militärische Hilfe im Laufe der Zeit immer mehr zu Verzweiflung mutiert war. Der Kaiser und die Reichfürsten, so beschwerten sich gerade auch die Vorgesetzten der Grenzsoldaten, schwelgten in Vergnügungen, während die Ungarn in ihrer Bedrohung sich selbst überlassen blieben.1095 Mehr noch, es verselbständigte sich der auch vorher schon mehr oder minder (latent) im propugnacu lum-Gedanken mitenthaltene Topos vom „Verlassen-Sein“ oder „Im-Stich-Gelassen-Werden“; bisweilen war sogar die Rede von einer „Position zwischen zwei Heiden“, nämlich zwischen dem Löwen (Türken) und Geier (polemisch für Reichsadler).1096 Die so oftmals enttäuschte Hoffnung musste einer zunehmenden Verbitterung weichen, „wobei der Hauptadressat böser Vorwürfe das Reich, die „böse Schwester Germania“ war.“1097 In diesem Sinne ist auch der zweite Auftritt von Rubigallus ’ Pannonia zu verstehen. Gleich zu Beginn ihres Briefes schleudert sie Germania eine harte Anschuldigung entgegen (7–18): Saxa cavant molles durissima saepius undae et teritur vili ferrea massa solo,1098 te tamen assiduis precibus non flectere possum nec, quibus excrucior, laesa subinde malis. durior es saxo, ferro quoque durior ipso et superas cunctas asperitate feras. ipsa suam sobolem servent ut bruta tenellam, saepius hostili praelia marte gerunt, at tu, cui mentis melioris contulit usum, qui regit ac servat cuncta creata, Deus, tot tibi coniunctos genuino sanguine amicos vindice non audes asseruisse manu. Oftmals höhlen auch sanfte Wogen das härteste Gestein aus, und eine Masse aus Eisen wird von einer billigen Sohle zermürbt. Dich kann ich dennoch durch beständige Bitten
1094 Rubigallus: Carmina: „quod carmen similis argumenti est ac Querela illo tamen discrimine interposito, quod in Epistola historia bellorum, quae Pannonii cum Turcis ultimis CL annis gesserant, copiosius descripta est.“ 1095 Öze / Spannenberger, S. 28 f. 1096 Ebd., S. 29. 1097 Ebd. 1098 Vgl. Ov. Pont. 4, 10, 5–6: gutta cavat lapidem, consumitur anulus usu,/ atteritur pressa vomer aduncus humo; Ov. ars 1, 475–476: Quid magis est saxo durum, quid mollius unda?/ Dura tamen molli saxa cavantur aqua.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
nicht erweichen, auch nicht, wenn ich durch ein Unglück betroffen bin, durch welches ich schlimmste Qualen erleide. Du bist härter als ein Fels, härter sogar als Eisen selbst und übertriffst alle wilden Tiere an Rohheit. Während selbst stumpfsinnige Tiere ihre zarte Nachkommenschaft schützen und häufig Auseinandersetzungen führen in erbittertem Kampf, wagst du, welcher Gott, der die ganze Schöpfung beherrscht und bewahrt, den Gebrauch einer höheren Vernunft verliehen hat, wagst du es hingegen nicht, so viele Freunde, welche dir durch edles Blut verbunden sind, mit rächender Hand zu schützen.1099
Pannonia erhebt gegen Germania die in der griechischen und römischen (Liebes-) Dichtung generell,1100 insbesondere in der Heroidengattung,1101 topisch gewordene Anklage der Hartherzigkeit1102 und reiht sich somit in die berühmte Schar verlassener Geliebter ein wie z. B. Dido, Phyllis oder Ariadne. Das allgegenwärtige Motiv der grausam verletzten Liebe in einer Paarbeziehung, der unerbittlichen Kälte eines männlichen Helden gegenüber seiner Partnerin, wird hier in aller Deutlichkeit auf das Verhältnis zweier ungleich starker Schwestern übertragen. Germania legt durch ihre ausbleibende Reaktion auf die flehentlichen Bitten nicht nur eine größere Rohheit an den Tag als Felsen, Eisen und wilde Tiere, sondern versündigt sich zudem gegen die ihr von Gott verliehene Vernunft (15 mentis melioris usus) und die verwandtschaftliche Liebe (17 genuinus amor). Die Verse 19–42 bekräftigen das Motiv der nahen Verwandtschaft und der damit verbundenen Notwendigkeit gegenseitigen Zusammenhaltes. Rubigallus lässt Pannonia den Fokus auf seine eigene Heimat richten, nämlich auf die in den Karpaten gelegenen Bergstädte, die zu einem nicht geringen Teil von deutschstämmigen Siedlern bewohnt waren, und betont deren ethnische Zugehörigkeit zu Deutschland (19–22):
1099 Übersetzung T. B. 1100 Vgl. Ovid: Heroides. Briefe der Heroinen, S. 321 nennt Belege für diesen Topos schon bei Homer und den griechischen Tragikern, z. B. Hom. Il. 16, 33 ff.; Aischyl. Eum. 193; Eur. Med. 1342 f.; 1358 f.; Bakch. 988. Vgl. Catull 64, 154–157: quaenam te genuit sola sub rupe leaena,/ quod mare conceptum spumantibus expuit undis,/ quae Syrtis, quae Scylla rapax, quae vasta Carybdis,/ talia qui reddis pro dulci praemia vita? Ähnlich Verg. Aen. 4, 365–367: nec tibi diva parens, generis nec Dardanus auctor,/ perfide, sed duris genuit te cautibus horrens/ Caucasus Hyrcanaeque admorunt ubera tigres. 1101 Vgl. Dido in Ov. her. 7, 37–40: te lapis et montes innataque rupibus altis/ robora, te saevae progenuere ferae,/ aut mare, quale vides agitari nunc quoque ventis,/ qua tamen adversis fluctibus ire paras. Vgl. auch Ariadne in Ov. her. 10, 1–2: Mitius inveni quam te omne genus ferarum;/ credita non ulli quam tibi peius eram. 1102 Der älteste Vorwurf der Hartherzigkeit in Bezug auf verweigerte Waffenhilfe im Krieg findet sich in Hom. Il. 16, 29 ff. Dort macht Patroklos Achilleus Vorhaltungen, dass er nicht einmal in der höchsten Not den Griechen beistehe, und möchte ihn darum lieber für einen Zögling von Meer und Felsen, also von wilden Naturelementen, halten als für den Sohn von Peleus und Thetis.
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aspice Carpathio loca coniunctissima monti nostraque Sarmatico regna propinqua solo, invenies hominum quam plurima millia certe, quae pars sunt populi progeniesque tui. Betrachte du die mit dem Karpatengebirge eng verbundenen Orte und unsere nahe an Polen liegenden Königreiche; wie viele tausend Menschen wirst du sicherlich entdecken, welche Teil und Nachkommenschaft deines Volkes sind.
Okál weist auf die aktuelle Bedrohung gerade auch dieser Gegenden hin, die Rubigallus zur Abfassung der Epistola veranlasst haben mag.1103 Pannonia wirbt insbesondere um Mitgefühl mit den ehrbaren Jungfrauen und Ehefrauen Ungarns, welche ein schreckliches Schicksal erwartet, und illustriert die Notwendigkeit eines Feldzuges durch den Gebrauch mythischer Exempel (25–32). Wenngleich die nach Troja entführte Spartanerkönigin Helena und die für ihre eheliche Tugendhaftigkeit berühmte Lucretia zumindest implizit in moralischer Hinsicht als Kontrastgestalten erscheinen, haben sie miteinander doch gemeinsam, dass sie beide als einzelne Personen einen Krieg auszulösen vermochten. Um wieviel mehr, so Pannonias Folgerung, verdienten es dann ganze Scharen von Frauen. Wie in den übrigen Germania betreffenden Heroiden auch dient die Erwähnung großer Kaiser des Mittelalters (Hohenstaufer, Ottonen) wie auch des Cheruskers Arminius – Figuren, zwischen welchen eine kontinuierliche Herrschaftsabfolge suggeriert wird – der Beschwörung einer besseren Vergangenheit, an welche es mit erneuten Kräften anzuknüpfen gilt (33–42). Begriffe wie virtus, nobile decus (37–38), flagrans ardor in Superos (39), syncerus sacrae relligionis amor (40) und pietas veneranda (41) konstituieren den Wertekatalog, der allein den Bestand der Gesellschaft gewährleisten kann. Wie schon in der Querela,1104 so macht Rubigallus auch in der Epistola die (nicht ausschließlich) im gelehrten Europa zum Gemeinplatz gewordene Vorstellung, Ungarn sei das Bollwerk der Christenheit gegen die Osmanen, zu einem wesentlichen Bestandteil seines poetischen Appells. Pannonia mahnt daran, wie lange und wie oft sie schon unter eigenem schwerem Leid die Angriffe des Feindes auf Germania abgewehrt habe (43–54): ipsa ego ceu scutum certe me saepius hosti obieci pro te tristia bella gerens,
1103 Rubigallus: Carmina, S. 48, Anm. zu 111: „Tempore, quo Rubigallus Epistulam scribebat, Buda magnaque Hungariae pars occupata est a Turcis, qui abinde in regiones prope oppida montana Slovaciae centralis sitas incurrebant easque populabantur.“ 1104 Querela Pannoniae, V. 121–168.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
quaeque tuis nocitura viris fera tela putavi, excepi vitae prodiga facta meae atque ita te multis defendi fortiter annis passaque te propter plurima, plura tuli. aspice praeteritos exacti temporis annos et varios sortis non inimica vices, deprendes ter lustra decem transisse, relictae cognita sunt primo ut Turcica tela mihi. tempore tam longo diris congressa tyrannis pro te proque tuis aspera multa tuli. Ich selbst habe mich unzweifelhaft schon öfter wie ein Schild deinem Feind entgegengeworfen, für dich harte Kriege ausgetragen und grausame Geschosse, von denen ich glaubte, dass sie deinen Männern schaden würden, abgefangen, unbesorgt um mein eigenes Leben, und so habe ich dich viele Jahre tapfer verteidigt und, deinetwegen das meiste erleidend, noch mehr ertragen. Schau ohne Feindseligkeit auf die vergangenen Jahre einer kurzen Zeitspanne und die zahlreichen Wechsel meines Geschickes; du wirst erkennen, dass 150 Jahre vergangen sind, seit ich verlassen wurde und zum ersten Mal Bekanntschaft machte mit türkischen Waffen. So lange Zeit habe ich im Zusammenprall mit grausigen Tyrannen für dich und die Deinen bitteres Leid ertragen.
Bemerkenswerterweise spricht sie hier nicht mehr wie in der Querela von neun,1105 sondern von 150 Jahren, die seit ihrem ersten kriegerischen Zusammentreffen mit dem osmanischen Feind verstrichen seien (51 ter lustra decem). Die bereits von Okál als charakteristisch herausgestellte folgende ausführliche Aufzählung der seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert geführten einzelnen Schlachten gegen die Türken dient zur Illustration des Topos vom propugnaculum Christianitatis. Die Aufzählung erstreckt sich von der Niederlage des Kaisers Sigismund bei Nikopolis von 1398 über die Erfolge des Nicolaus Macedonius, Philippus (Pipo) de Ozora, Ianus Ragusinus und der beiden Hunyadi bis zur knapp 20 Jahre zurückliegenden Katastrophe von Mohács (29. August 1526), bei welcher der jugendliche König Ludwig II. den Tod fand. Pannonia stellt alle diese teils siegreichen, teils verhängnisvollen Ereignisse in einen bestimmten Zusammenhang, der ihre Argumentation unterstützen soll (99–100): hi pro te pulchrum duxere accersere mortem et vili vitae pendere dona suae. Diese fanden es schön, für dich den Tod herauszufordern und das Geschenk ihres eigenen Lebens geringzuschätzen. 1105 Querela Pannoniae, V. 5–8: ter trinos etenim complevit lucidus annos/ ignivomis lustrans omnia Phoebus equis/ ut mea sunt armis primum tentata cruentis/ a male pacatis subdita regna Getis.
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Demnach haben all die Feldherren und Soldaten lediglich für Germania Kriege geführt und nur ihr zuliebe ihr Leben gering geschätzt. Nahezu die gesamte bisherige Geschichte der von ungarischer Seite bestrittenen Osmanenkriege interpretiert Pannonia als eine Liebestat für Germania. Die Verse 97–108 machen verstärkt von dem emotionalisierenden Potential der Heroidengattung Gebrauch und illustrieren die Situation, in welcher die unglückliche Schreiberin bereits ihre selbstmörderische Absicht ankündigt. Pannonia bringt, von Ohnmachtsanfällen bedroht, durch ein epanaleptisches linquis, linquis (101) ihre Fassungslosigkeit darüber zum Ausdruck, dass sie verlassen wird, dass sie und die Ihren unverschuldet und trotz ihrer Verdienste verlassen werden. Ihr Hinweis auf ihren erbarmungswürdigen Anblick (105 o utinam vultus scribentis et ora videres) und auf die Lanze, welche sie anstelle einer Feder in ihrer Rechten hält (107 scribimus et calami dextra vice ducimus hastam), evoziert den durch unglückliche Liebe motivierten Suizid großer ovidischer Heroinen.1106 Ähnlich wie schon in der Querela1107 weist Pannonia über die irdische Perspektive hinaus und mahnt an die ruhelos umherirrenden Schatten der Erschlagenen, welche noch aus dem Jenseits Germanias Undankbarkeit bezeugen (109–116): materiam vagae caesorum duriter umbrae dictant, ingratam teque subinde docent. hostis at infausto cervici proximus ense astat et, heu, miserae tristia fata parat. intumulata iacet me circum magna meorum exaturans saevas turba perempta feras, quaque vides, illic flagrantes conspicis urbes et procul a patria vulgus inerme trahi. Den Inhalt des Schreibens diktieren die umherschweifenden Schatten der grausam Erschlagenen und belehren daraufhin auch dich, du Undankbare. Der Feind aber steht mit drohendem Schwert an meinem Nacken und bereitet mir Armer einen jämmerlichen Untergang. Unbestattet liegt um mich her die große erschlagene Schar der Meinen und sättigt
1106 Vgl. Dido in Ov. her. 7, 183–186: adspicias utinam, quae sit scribentis imago!/ scribimus, et gremio Troicus ensis adest,/ perque genas lacrimae strictum labuntur in ensem,/ qui iam pro lacrimis sanguine tinctus erit. Vgl. Canace in Ov. her. 11, 3–6: dextra tenet calamum, strictum tenet altera ferrum,/ et iacet in gremio charta soluta meo./ haec est Aeolidos fratri scribentis imago;/ sic videor duro posse placere patri. Auch Phyllis in Ov. her. 2, 135–144 kündigt ihren Selbstmord an; allerdings hält sie noch keine Waffe im Schoß, sondern schwankt noch zwischen verschiedenen Todesarten: dem Sprung ins Meer, Gift, Schwert oder Strick. 1107 Vgl. Querela Pannoniae, V. 169–172: hanc ipsi manes clarorum, crede, virorum,/ qui contra Turcos arma tulere, petunt./ hi quoniam pro te fuderunt saepe cruorem,/ (hei pudeat) gratam te satis esse negant.
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blutrünstige wilde Tiere, und wo du hinschaust, erblickst du brennende Städte und siehst, wie wehrloses Volk von der Heimat fortgeschleift wird.
Rubigallus verknüpft hier in raffinierter Weise zwei verbreitete poetische Motive. Die von einem nahestehenden Menschen (tatsächlich oder vermeintlich) verratene oder im Stich gelassene Person findet einen gewissen Trost in der Vorstellung, sie werde nach ihrem (gewaltsamen) Tod als Rachegeist ihren Spuk treiben.1108 Die ovidische Heroine thematisiert mit einer bestimmten Vorliebe ihren den Adressaten inkriminierenden Abschiedsbrief. Rubigallus’ Pannonia droht an dieser Stelle, falls ihre Bitten weiterhin erfolglos bleiben, werde sie sich von den künftigen Rachegeistern – also Männern, die zum betreffenden Zeitpunkt offenbar noch leben – ein solches Schreiben diktieren lassen. Die Schilderung von den Gräueltaten der Türken, breit ausgeführt und drastisch in der Querela,1109 erscheint hier lediglich als knappe Rekapitulation (115–126).1110 Größeren Raum erhält jedoch die Passage, in welcher Pannonia wiederum auf die enge verwandtschaftliche Bindung zwischen sich selbst und Germania rekurriert (127–138): haec facies nostra est, haec sunt, germana, sororis, queis fruitur te sic inspiciente bonis. esses iuncta minus nec te vicinia nostra tam prope nec patrium tangeret acre genus, multo equidem miseram me linqui micius a te et ferrem et parte hac laederer ipsa minus. sed quia germana es, merui quia plurima de te, iusta querela mea est, impia causa tua est. non haec germanae, sed convenit ista novercae res fera, montivagis nec satis apta feris. deseris immeritam, linquis, germana, sororem, oppressa qua non salva manere potes. Das ist mein Anblick, das sind, Schwester, die Besitztümer der Schwester, welche er auf diese Weise verprasst, während du zuschaust. Wärest du weniger eng mit mir verbunden und würde dich weder unsere Nachbarschaft noch die Abstammung vom starken väterlichen Geschlecht so sehr betreffen, dann ertrüge ich es leichter, von dir verlassen zu werden, und fühlte selbst mich dadurch weniger verletzt. Aber weil du meine Schwester bist, weil ich mich um dich am meisten verdient gemacht habe, ist meine Klage gerecht, deine Sache
1108 Derartige Phantasien hegt Dido sowohl in Verg. Aen. 4, 382–387, 661–662 als auch in Ov. her. 7, 69–70; Phyllis in Ov. her. 2, 135–138. 1109 Vgl. Querela Pannoniae, V. 25–66. 1110 Immerhin nehmen die Verse 121–122 virginibus nil forma decens, nil gratia castis/ matronis prodest foeminiumque decus die Mahnung an das Schicksal der ehrbaren Ehefrauen und Jungfrauen aus 29–30 wieder auf.
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zutiefst ungerecht. Diese grausame Aufführung passt nicht zu einer Schwester, sondern zu einer Stiefmutter und ziemt sich nicht einmal für wilde Tiere, die in den Bergen umherschweifen. Du verrätst, du verlässt, Schwester, die unschuldige Schwester; wenn diese geschlagen ist, kannst du nicht unversehrt bleiben.
Pannonia beteuert, sie hätte die ausbleibende Hilfe ihrer Adressatin wesentlich leichter ertragen können, wenn nicht beide als Schwestern durch ein derart enges Band miteinander verknüpft wären.1111 Diese Treulosigkeit gezieme sich für eine Stiefmutter. Indem sie die als Schwester gedachte Adressatin durchweg als germana anredet– für sich selbst reserviert sie die Bezeichnung soror – führt Pannonia das schon in der Querela begonnene effektvolle Wortspiel mit germana1112 und Germania fort. Rubigallus folgt offenbar einer weit verbreiteten Lehrmeinung seiner Zeit, wenn er seine Heroine zumindest in dieser Form implizit einen etymologischen Zusammenhang suggerieren1113 und Germania als ein Land präsentieren lässt, dessen Name allein schon den Gedanken an schwesterliche Loyalität evoziert. Mit einem anaphorisch gebrauchten ironischen hoc merui (143, 145) brandmarkt Pannonia das bizarre Missverhältnis zwischen ihren eigenen Diensten und Germanias Undankbarkeit. Die Rolle Ungarns in politischer Hinsicht als propugnaculum oder antemurale Christianitatis (144) und in wirtschaftlicher als „Speisekammer Europas“ (146) erscheint in diesen Versen als zärtliche Fürsorge für eine einst hilfsbedürftige Schwester. Wenngleich Pannonia auch mithilfe gängiger Vanitas-Topoi die Adressatin vor Hybris und vor den unberechenbaren Launen der Fortuna warnt, welche selbst die Städte des Kekrops, Priamos und Kadmos, also Athen, Troja und Theben, zu Fall gebracht habe (149–166), lässt sie sich dennoch nicht zu Hass hinreißen. Im Gegenteil, sie beteuert ihre unverbrüchliche einseitige Zuneigung (167–174): sed licet exosam teneas damnesque relictam causaque sis caedis maxima sola meae, non tamen idcirco vultus assumere acerbos in te tam duram sanguine iuncta queo. non sinit hoc pietas, genuinus non sinit ardor, qui te plus nostro corpore semper amat. vera loqui liceat, de te plus angor in horas, quam curem vitae fata suprema meae.
1111 Immerhin bietet die römische Dichtung anhand der Gestalten Dido und Anna auch ein literarisches Modell für eine innige Beziehung zwischen Schwestern. 1112 Diese Bezeichnung taucht auch im Folgenden noch mehrmals auf (145, 151, 221). 1113 Laut Alois Walde / Johann Baptist Hofmann: Lateinisches Etymologisches Wörterbuch. Bd. 1. 5. unveränderte Auflage, Heidelberg 1982, S. 594 hängen germanus, a Bruder (Schwester) und die Volksbezeichnung Germanus nicht miteinander zusammen.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
Aber magst du auch die Verhasste niederhalten und die Verlassene verurteilen und allein die größte Ursache meines Untergangs sein, dennoch kann ich gegen dich Hartherzige keine böse Miene zur Schau tragen, da ich dir durch Blutsverwandtschaft verbunden bin. Das lässt die Frömmigkeit, das lässt die angeborene Leidenschaft nicht zu, welche dich immer mehr liebt als meinen eigenen Leib. Es sei mir gestattet, die Wahrheit zu sagen: Um dich ängstige ich mich von Stunde zu Stunde mehr, als dass ich mich um das Ende meines eigenen Lebens bekümmere.
Mit diesen Formulierungen rekurriert sie gleich in zweifacher Weise auf eine einseitige (oder als einseitig empfundene) Beziehung der unglücklichen Dido zu einer ihr nahe stehenden Person. Die von Ovid in die Heroidengattung überführte Didogestalt kann trotz aller Empörung den als treulos angeklagten Aeneas nicht hassen: Ille quidem male gratus et ad mea munera surdus, et quo, si non sim stulta, carere velim; non tamen Aenean, quamvis male cogitat, odi, sed queror infidum questaque peius amo.1114 Der allerdings ist wahrhaft undankbar und unempfindlich für meine Geschenke, und wäre ich nicht töricht, würde ich gerne auf ihn verzichten. Und dennoch, wenn er auch kaum an mich denkt, hasse ich den Aeneas nicht, sondern ich klage über den Untreuen, und wenn ich geklagt habe, liebe ich noch schmerzlicher.
Der Gedanke jedoch, dass eine Schwester die andere über alles liebt, findet sich ebenfalls im vierten Buch der Aeneis,1115 wo Anna die Königin in der vertraulichen Unterredung über deren erwachende Leidenschaft für Aeneas mit o luce magis dilecta sorori anspricht.1116 Anna, welche Dido jeden nur erwünschten Dienst erweist, muss zuletzt erkennen, dass sie hintergangen wurde und, durch eine Lüge getäuscht, Vorkehrungen zum Selbstmord ihrer Schwester getroffen hat. Sie fühlt sich von Dido verlassen und als Todesgefährtin verschmäht,1117 dennoch hält sie die Sterbende im Arm und steht ihr bei, so gut sie es vermag.1118 Rubigallus’ Pannonia vereinigt also in sich Züge der trotz größter Verletzung noch
1114 Ov. her. 7, 27–30. 1115 Verg. Aen. 4, 31. 1116 Auch dort steht eine überschwängliche Liebesbeteuerung im Zusammenhang mit einem Überredungsversuch. Anna überredet Dido erfolgreich, ihrer Leidenschaft für Aeneas nachzugeben. 1117 Verg. Aen. 4, 675–683: hoc illud, germana, fuit, me fraude petebas,/ hoc rogus iste mihi, hoc ignes araeque parabant?/ quid primum deserta querar, comitemne sororem/ sprevisti moriens? Eadem me ad fata vocasses: […] extinxti te meque, soror, populumque patresque/ Sidonios urbemque tuam. 1118 Ebd., 672–687.
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unvermindert liebenden ovidischen Dido und der schwesterliche Hingabe verkörpernden vergilischen Anna. Die nächsten Verse bemühen wieder den Topos von Ungarn als propugnacu lum Christianitatis mit dem Hinweis, dass Germania die Folgen ihres grave nefas (180) auf bittere Weise zu spüren bekomme, wenn sie schließlich selbst dem osmanischen Angriff zum Opfer falle (175–182). Diese Warnung bezieht sich auf die Konsequenzen von Germanias Untätigkeit im Diesseits, die folgende ebenso wie die Verse 109–114 auf diejenigen im Jenseits (183–190): ante tuos oculos mortis tristissima imago errabit rigidis conspicienda comis terrebitque animos numerus tam grandis eorum, a Christo avulsit quos ferus ille Getes. caesorum occurrent heroum protinus umbrae conspicuae factis vulneribusque suis. omnia tunc contra te conspirasse putabis, ut poenam tanti criminis ipsa luas. Vor deinen Augen wird das traurigste Bild des Todes mit gesträubten Haaren umherirren, und die große Zahl derjenigen, welche der wilde Türke von Christus weggerissen hat, wird eure Seelen erschrecken. Ununterbrochen werden dir die Schatten der Erschlagenen begegnen, leicht zu erkennen an ihren Taten und Wunden. Dann wirst du glauben, alles habe sich gegen dich verschworen, damit du die Strafe für ein so großes Verbrechen verbüßt.
Das erste Distichon nimmt die Drohung der ovidischen Dido auf, welche dem treulosen Aeneas prophezeit, dass er nach ihrem Tod mit der grausigen Erscheinung ihres Geistes konfrontiert werde: Protinus occurent falsae periuria linguae et Phrygia Dido fraude coacta mori; coniugis ante oculos deceptae stabit imago tristis et effusis sanguinolenta comis. Quid tanti est ut tum „merui! concedite!“ dicas, quaeque cadent, in te fulmina missa putes?1119 Sofort werden dir die falschen Schwüre deiner Zunge einfallen und Dido, die durch phrygischen Betrug gezwungen wurde zu sterben. Das Bild deiner getäuschten Gattin wird dir vor Augen stehen, traurig und blutbefleckt mit aufgelösten Haaren. Was bringt es dann noch, dass du sagst: „Ich habe es verdient! Habt Nachsicht!“, und überzeugt bist, dass alle die Blitze, die niederprasseln, gegen dich geschleudert sind?
1119 Ov. her. 7, 67–72.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
Rubigallus kann also auch hier ein Motiv aus der erotischen Sphäre der ovidischen Heroiden in einen politischen Kontext überführen und diesen somit emotionalisieren. Die antike Vorstellung von unruhig umherschweifenden Schatten Verstorbener, wie sie in den folgenden Versen zum Ausdruck kommt, lässt sich zu einer Art christlichem Strafgericht umdeuten. Germania wird sich demnach nicht nur für den Tod so vieler ungarischer und später auch deutscher Krieger verantworten müssen, sondern auch für den Verlust des Seelenheils derjenigen, welche sich durch die Türken vom wahren christlichen Glauben haben abbringen lassen. Schon hier zeichnet sich deutlich ab, dass in den beiden Schreiben der Pannonia Germania eine größere moralische Last aufgebürdet wird als in den ähnlich strukturierten Heroiden oder heroidenähnlichen Elegien anderer Autoren. Wenn Pannonia ihre Adressatin zum wiederholten Mal anfleht, sich sowohl der Schwester als auch ihres eigenen Lebens zugleich zu erbarmen, beschwört sie die Vorstellung einer identitätsübergreifenden geschwisterlichen Symbiose herauf (194–195): affer opem pressaeque nimis succurre sorori inque uno serva corpore, quaeso, duas. bring mir Hilfe, steh der allzu schwer bedrängten Schwester bei und rette, ich bitte dich, zwei in einem einzigen Leib.
Pikanterweise rekurrieren diese Verse auf eine in Ovids Heroiden thematisierte Bruder-Schwester-Beziehung, in welcher die Geschwister nicht nur im metaphorischen Sinne „eines Leibes“ sind, nämlich auf die inzestuöse Liebe zwischen Canace und Macareus. Dort beschwört Macareus seine schwer leidende Schwester-Geliebte, welche aufgrund einer von ihm zu verantwortenden Schwangerschaft zum einen durch die physischen Strapazen, zum anderen durch Straf- und Rachemaßnahmen des kompromittierten Vaters bedroht ist, seinetwegen den Kampf um ihr Leben nicht aufzugeben: et mihi „vive, soror, soror o carissima,“ dixti; „vive nec unius corpore perde duos!1120 „Lebe, Schwester, o liebste Schwester“, sprachst du zu mir; „lebe und lass nicht mit dem Leib der einen gleich zwei sterben!
Aus der ovidischen Vorstellung einer buchstäblichen und daher moralisch verwerflichen leiblichen Einheit zweier Geschwister wird bei Rubigallus die nur
1120 Ov. her. 11, 59–60.
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quasi-körperliche Einheit und Schicksalsgemeinschaft zweier Schwestern, wenn auch freilich nur von einer als solche empfunden. Pannonia greift zu einem weiteren drastischen Mittel der Anklage gegen ihre Schwester, imaginiert ihren eigenen Tod und gebietet Germania, eine Grabinschrift für sie zu verfassen, deren Inhalt sie selbst diktiert (211–220): te precor, haec saltem nostrae post funera vitae inscribas tumulis verba notata meis: dum viguit potuitque suis victricibus armis Pannonia immanis comprimere ausa Getae, heroum munita gravi virtute suorum defendit dextra Teutona regna sua. at postquam duris fatis est cepta moveri actaque promeritam poscere rursus opem, concidit infoelix a dura licta sorore, scilicet haec meritis praemia digna tulit. dann bitte ich dich, wenigstens nach meinem Tod folgende Worte auf meinen Grabhügel zu schreiben: Solange Pannonia bei Kräften war und mit siegreichen Waffen die Unternehmungen des grausamen Türken vereiteln konnte, verteidigte sie, von der hohen Tugend ihrer Helden geschützt, mit ihrer eigenen Hand die deutschen Königreiche. Aber nachdem sie einmal unter hartem Geschick ins Wanken gekommen war und sich gezwungen sah, die wohlverdiente Hilfe als Gegenleistung zurückzufordern, kam sie, von der hartherzigen Schwester im Stich gelassen, unglücklich zu Fall. Freilich trug sie für ihre Verdienste einen angemessenen Lohn davon.
Pannonia präsentiert sich auch in diesem Epitaph als eine bis zum letzten Atemzug für Germania kämpfende und aufopferungsvolle Schwester, die einzig durch deren Undank den Tod erleidet. Sie mutet Germania zu, ihre eigene Schuld in Versen zu verewigen, und folgt darin der ovidischen Dido, welche ihre Schwester Anna mit einer Aeneas inkriminierenden Inschrift beauftragt: Nec consumpta rogis inscribar „Elissa Sychaei“, hoc tantum in tumuli marmore carmen erit: „praebuit Aenas et causam mortis et ensem; ipsa sua Dido concidit usa manu.“1121
1121 Ov. her. 7, 193–196. Ähnlich auch Phyllis in Ov. her. 2, 145–148: Inscribere meo causa invidiosa sepulcro. /Aut hoc aut simili carmine notus eris:/ „Phyllida Demophoon leto dedit hospes amantem;/ Ille necis causam praebuit, ipsa manum.“ Zwar diktiert auch Hypermestra in Ov. her. 14, 128–132 einen Epitaph, doch ohne Anklage gegen ihren Gemahl Lynceus, da dieser ohne persönliche Schuld Hypermestra in Gefahr bringt.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
„Elissa, die Frau des Sychaeus“; nur diese Verse sollen auf dem Marmorstein meines Grabmales stehen: „Aeneas gab für den Tod sowohl den Anlass als auch die Waffe; Dido gab sich mit eigener Hand den Todesstoß.“
Hierauf folgt in Rubigallus’ Text ein überraschender Umschwung (221–230). Anstatt den Brief mit dieser traurig anklagenden Inschrift zu beenden, wie es die ovidischen Heroinen tun, widerruft Pannonia diese (221 sed cur inscribas […]?). Sie ändert mit einem Mal ihre Strategie, fährt statt mit weiteren Beschuldigungen mit optimistischen Ermunterungen fort und präsentiert die gegenwärtige Lage hoffnungsvoll in einem neuen Licht, indem sie darlegt, dass sie als Gegenstand eines größeren Kriegsruhmes (222 gloria maior) Germania von Interesse sein kann. Hier richtet sie ihren Fokus zum ersten Mal nicht mehr nur auf eine allegorische, sondern auch auf eine reale historische Gestalt, nämlich auf Karl V. (225–226 huc tuus acceleret saltem modo Carolus alto/ deducens sacro semine stemma polo.). Dieser soll nach Ungarn eilen und sich den Ruhm eines doppelten Reiches (230 imperii duplicis decus) erwerben. Damit äußert sie allerdings eine illusorische Hoffnung, denn Karls Ambitionen richteten sich bekanntlich, wie auch seine unterschiedlich erfolgreichen militärischen Unternehmungen bei Tunis (1535) und Algier (1541) beweisen, in erster Linie auf die Verdrängung der Osmanen vom Mittelmeer, während er hingegen eine bedenkliche Neigung zeigte, die Verteidigung der südöstlichen Peripherie des Reiches allein seinem dort als Erzherzog und König fungierenden jüngeren Bruder Ferdinand zu überlassen.1122 Entsprechend einer besonderen Vorliebe spätmittelalterlicher und humanistischer Autoren für divinatorisches Schrifttum untermauert Pannonia ihre Forderungen, indem sie sich auf übermenschliche Instanzen beruft und die Autorität sibyllinischer Prophezeiungen für sich geltend macht (231–240): nam bene si memini, tali cecinisse Sibyllas priscorum memorat carmine turba patrum: Constantina cadent et equi de marmore facti et lapis erectus celsaeque palacia Romae, errabunt homines, erit urbs vix praesule digna. Galli succumbent et erunt victricia signa. Gallorum levitas Germanos iustificabit, Italiae gravitas Gallo confisa vacabit, papa cito moritur, caesar regnabit ubique, sub quo tunc vani cessabit gloria cleri.
1122 Brendle: Habsburg, Ungarn und das Reich, S. 11; Sutter Fichtner: Aber doch ein Friede, S. 236 f.
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Denn wenn ich mich recht entsinne, dann berichtet die Schar der Väter der Vorzeit, dass die Sibyllen in einem solchen Liede prophezeit hätten: Die Werke des Konstantin werden untergehen, sowohl die Pferde aus Marmor als auch der aufgerichtete Stein und die Paläste des stolzen Rom, umherirren werden die Menschen, kaum wird die Stadt eines Bischofs würdig sein. Die Franzosen werden unterliegen, und die Feldzeichen werden siegreich sein. Die Unzuverlässigkeit der Franzosen wird die Deutschen rechtfertigen. Der auf den Franzosen gestützte hohe Ehrenrang Italiens wird unbesetzt sein, der Papst stirbt bald, der Kaiser wird überall regieren, unter ihm wird dann der eitle Ruhm des Klerus ein Ende nehmen.
In der Querela fanden Propheten und Sibyllen lediglich eine knappe Erwähnung,1123 hier verleiht Rubigallus dem Motiv der Weissagung größeres Gewicht, indem er deren Inhalt im exakten Wortlaut wiedergibt und deren sakrale Form durch den vorübergehenden Wechsel des Metrums zum Ausdruck bringt. Denn innerhalb ihres Briefes, welcher der gewählten literarischen Gattung entsprechend in elegischen Distichen abgefasst ist, zitiert Pannonia die Prophezeiungen in reinen Hexametern, dem versus sacer. Im Gegensatz zu anderen Autoren, welche ihren Heroinen ebenfalls (selbst kreierte!) Orakel in den Mund legen,1124 diese aber dem elegischen Versmaß anpassen, betraut Rubigallus seine Heldin hier mit dem Vortrag eines schon real vorhandenen papst- und franzosenfeindlichen vaticiniums, welches in extrem voneinander abweichenden Versionen kursierte und mindestens bis ins 13. Jahrhundert zurückverfolgt werden kann. Franz Campers bringt eine frühe Fassung dieses vaticiniums mit der Konkurrenz der welfischen und der ghibellinischen Partei in Zusammenhang, die sich auch in einem Wettstreit im Produzieren von Weissagungen niedergeschlagen habe.1125 „Zum Jahre 1294 überliefert Bartholomäus (de) Cotton eine stauferfreundliche Prophetie auf das Jahr 1293.“1126 Die Ankündigung eines siegreichen Kaisers, der den Klerus in die Schranken weisen werde, bezieht Kampers auf Friedrich den Freidigen bzw. den Gebissenen (1257/1269–1324), der, mütterlicherseits ein Enkel
1123 Querela Pannoniae, V. 119–120: hoc etiam sancti dudum cecinere Prophetae/ cumque his immotae fatidicaeque Deae. 1124 Vgl. z. B. die ebenfalls auf Karl bezogenen Weissagungen der Seher und Sibyllen in Poematvm Ioannis Sigelii Liber Tertivs [Germania ad Carolum], fol. D 6 r. 1125 Franz Kampers: Kaiserprophetien und Kaisersagen im Mittelalter. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Kaiseridee. München 1895 (Neudruck: Paderborn 2015), S. 127 ff. 1126 Ebd., S. 128. Dort lautet das vaticinium nicht unerheblich anders in Wortlaut und Anordnung der Verse: Gallorum levitas Germanos iustificabit,/ Et tribus adiunctis consurget aquila grandis;/ Italiae gravitas Gallos confusa necabit -/ Constantine, cades, et equi de marmore facti./ Gallus succumbet aquilae victricia signa,/ Et lapis erectus et multa palatia Romae./ Mundus aborrebit, erit urbs vix praesule digna,/ Papa cito moritur, Caesar regnabit ubique./ Terrae motus erunt quos non prius auguror esse./ Sub quo tunc vana cessabit gloria cleri./ Millenis duentenis nonaginta sub annis.
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Friedrichs II., nach dem schrecklichen Ende des jungen Konradin (1268)1127 als letzter Nachkomme und Hoffnungsträger der Staufer galt. Entgegen den Erwartungen seiner Anhänger gerade in Italien errang der Thüringer jedoch weder die Kaiserkrone noch sonst eine vergleichbare Bedeutung. Das vaticinium überliefert auch – in anderer Form, vor allem in anderer Reihenfolge der Verse – der ebenfalls wohl bis Ende des 13. Jahrhunderts lebende Walther von Coventry, von dem kaum mehr bekannt ist, als dass er einen Abriss über die Geschichte Englands etwa bis zu den 1250er Jahren, das Memoriale Fratris Walteri de Conventria, hinterlassen hat.1128 Allen Versionen des vaticiniums ist, so sehr sie sich auch im einzelnen voneinander unterscheiden, die grundsätzlich antipäpstliche und antifranzösische Stoßrichtung sowie die Erwartung einer weltweiten, heilbringenden Kaiserherrschaft gemeinsam. Ob Rubigallus hier eine der offenbar in noch weit größerer Zahl kursierenden Fassungen zitiert oder durch bewusste Variation und Umstellung einzelner Verse seine eigene kompiliert, muss unentschieden bleiben. Jedenfalls zitiert seine Pannonia eingangs die weitgehend einheitlich tradierten Verse vom Untergang der Bauwerke, also der Marmorpferde, eines aufgerichteten Steins und der römischen Paläste (233–234). Das substantivierte Adjektiv im Neutrum Plural Constantina bezeichnet wohl nicht, wie man zunächst meinen könnte, das für den Verlust großer Städte so symbolträchtige Konstantinopel, sondern entweder Konstantins Herrschaft und Epoche überhaupt oder lediglich seine Urheberschaft für einzelne Monumente und Kunstwerke innerhalb Roms. Bei dem mit Konstantin in Zusammenhang gebrachten Ensemble von Marmorpferden (equi 1127 Dieser hatte sich in Anbetracht seiner eigenen verletzten dynastischen Ansprüche auf Sizilien mit dem dort bereits herrschenden, vom Papst geförderten Karl von Anjou auf eine Schlacht eingelassen und war seinem wesentlich routinierteren Gegner unterlegen. Er konnte zwar fliehen, wurde aber bald gefasst und auf dem Marktplatz von Neapel im Alter von 16 Jahren öffentlich enthauptet – ein Ereignis, das weithin Entsetzen auslöste und ihn für die Nachwelt zum tragischen Helden machte. 1128 Es erscheint unter anderen Prophetien im ersten Teil seines Memoriale unter dem Titel Sibilla de eventibus regnorum et eorum regum ante finem mundi und lautet dort: Gallorum levitas Germanos justificabit:/ Ytaliae gravitas Gallos confusa necabit; / Sucbcumbet Gallus aquilae, victricia signa/ Mundus adorabit, erit urbs sub praesule digna;/ Millenis ducentenis nonaginta sub annis/ Et tribus adjunctis, consurget Aquila grandis./ Terrae motus erunt quos non procul auguror esse./ Constantine cades, et equi de marmore facti,/ Et lapis erectus et multa palatia Romae./ Papa cito moritur, Caesar regnabit ubique/ Sub quo tunc vana cessabit gloria cleri. The Historical Collections of Walther of Coventry. Vol 1. ed by William Stubbs. Cambridge 2012, S. 26. Die Verse sollen vom Sarkophag eines hohen Klerikers in Rom von dort lebenden Engländern nach England übermittelt worden sein. Isti versus reperiebantur in sarcophago cujusdam sollempnis clerici in urbe Romae, et per quosdam ibidem existentes Anglicos Angliae transmissi. Ebd., Anm. 4.
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marmorei, caballi marmorei) und aufgerichtetem Stein (lapis erectus), wohl einem Obelisken, wäre es auf den ersten Blick verführerisch, an den Dioskurenbrunnen auf der heutigen Piazza del Quirinale zu denken. Dort ragt in der Mitte ein Obelisk empor, zu beiden Seiten flankiert von zwei Marmorskulpturen, von je einem der beiden Zeussöhne, welcher ein sich aufbäumendes Pferd am Zügel hält. Tatsächlich verdankt die Stadt die beiden Pferdegruppen diesem Kaiser; sie stammen nämlich aus einer von Konstantin auf dem heutigen Quirinalsgelände erbauten, nicht mehr erhaltenen Therme und wurden im Mittelalter für Erzeugnisse der Athener Bildhauer Phidias und Praxiteles gehalten. Ganz in der Nähe, in der Maxentiusbasilika, hatte sich Konstantin mit einem kolossalen Bildnis in der Tradition der Jupiterverehrung als gottgleicher Herrscher verewigen lassen.1129 Die Erwähnung des lapis erectus indes setzt nichts weniger voraus als die Geschichte des Lateranischen Obelisken. Auf Veranlassung Konstantins selbst und dann seines (Rom nur mehr aus der Perspektive eines nostalgischen Besuchers erlebenden) Sohnes Constantius II. war der ursprünglich aus dem ägyptischen Theben stammende, etwas über 32 m hohe Obelisk in einer aufwendigen, von Ammianus Marcellinus beschriebenen Aktion zunächst nach Alexandria, dann auf einem eigens erbauten Schiff mit 300 Ruderern nach Rom gebracht und auf der Spina des Circus Maximus aufgestellt worden.1130 Der vage gehaltene Plural Constantina bezeichnet also entweder die von Konstantin veranlassten und hier genannten (und offenbar als Wahrzeichen Roms verstandenen) einzelnen Monu-
1129 Demandt: Geschichte der Spätantike, S. 344. Kopf, Fuß, Knie und Hand dieser Statue können noch heute im Hof des Konservatorenpalastes auf dem Kapitol besichtigt werden. 1130 Ebd. Vgl. auch Amm. 17, 4, 6–7: In hac urbe inter delubra ingentia diversasque moles figmenta Aegyptiorum numinum exprimentes obeliscos vidimus plures aliosque iacentes et comminutos, quos antiqui reges bello domitis gentibus aut prosperitatibus summarum rerum elati montium venis vel apud extremos orbis incolas perscrutatis/ excisos et erectos diis superis in religione dicarunt. Est autem obeliscus asperrimus lapis in figuram metae cuiusdam sensim ad proceritatem consurgens excelsam, utque radium imitetur, gracilescens paulatim, specie quadrata in verticem productus angustum, manu levigatus artifici. (In dieser Stadt sah ich neben ungeheuren Tempeln und verschiedenen Riesengebilden, die Darstellungen ägyptischer Gottheiten sind, mehrere Obelisken, einige davon am Boden liegend und zerbrochen. Die alten Könige hatten sie nach der Bezwingung von Völkern im Kriege oder aus Stolz über glückliches Vollbringen ihrer größten Taten aus den Adern der Gebirge, die sie sogar bei den entferntesten Bewohnern der Erde erforscht hatten, heraussprengen und dann aufrichten lassen und sie in religiöser Ehrfurcht den überirdischen Göttern geweiht. Ein Obelisk ist ein sehr harter Stein. Er erhebt sich in der Form einer Wendesäule zu großer Höhe und wird wie eine Radspeiche nach oben zu allmählich immer schlanker. Bei quadratischem Grundriß verläuft er oben in eine feine Spitze und ist von der Hand eines Künstlers geglättet.) Ammianus Marcellinus: Römische Geschichte. Lateinisch und deutsch und mit einem Kommentar versehen von Wolfgang Seyfarth. 5., durchgesehene Auflage. Darmstadt 1983.
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mente oder seine gesamte Herrschaft, welche die Wende zu einem christlichen Kaisertum einleitete. Die von Pannonia zitierten Verse 233–236 prophezeien pars pro toto den Untergang der Ewigen Stadt, und zwar einen für Rubigallus’ Zeitgenossen aktuellen, in diesem Fall also den Sacco di Roma (1527) und die für Karl V. siegreich verlaufene Schlacht bei Pavia gegen Franz I. von Frankreich (1525). Die nicht näher spezifizierte Gallorum levitas, bekanntlich ein beliebter Schmähtopos im (reichs-)patriotischen Schrifttum, dürfte in diesem Kontext den Wortbruch des französischen Königs gegenüber Karl V. bezeichnen. Franz war nach seiner Niederlage in kaiserliche Gefangenschaft geraten, hatte einen für ihn ungünstigen Friedensvertrag unterzeichnen müssen und wurde 1526 auf sein Ehrenwort zur Einhaltung dieses Vertrages hin freigelassen. Schon einen Monat später erklärte er sein (in der Tat erzwungenes) Ehrenwort für ungültig und provozierte somit ein weiteres kriegerisches Vorgehen der Habsburger gegen ihn. Italiae gravitas Gallo confisa, generell wohl eine Allianz zwischen Papstamt und Frankreich bezeichnend, dürfte einstmals die Übersiedlung des päpstlichen Hofes nach Avignon im 14. Jahrhundert gemeint haben, muss hier aber wohl auf die 1526 gegen den Kaiser geschlossene Liga von Cognac zwischen Franz I., Papst Clemens VII., Venedig und dem Herzog von Mailand Francesco II. Sforza anspielen, welche mit der Niederlage des Papstes beim Sacco di Roma ihr Ende fand. Pannonia zitiert demnach wahrscheinlich vati cinia ex eventu, welche Rubigallus zu diesem Anlass aus dem bereits kursierenden Material kompiliert haben dürfte. Noch weniger konkrete Anhaltspunkte bieten die Verse 239–240, wo der Autor seiner Heldin eine Interpretation dieses vatici niums in den Mund legt. Die Verkündigung, dass ein Kaiser nach dem baldigen Ableben eines Papstes den gesamten Klerus in die Schranken weisen und allein die ganze Welt beherrschen werde, liegt auch mittelalterlicher Hofpropaganda nicht fern, begegnet aber als utopisches Motiv vor allem in der Habsburgerpanegyrik protestantischer deutscher Humanisten des 16. Jahrhunderts. Die Bedeutung der kaiserlichen Gewalt wird unmittelbar nach dem Vortrag des Orakels durch eine mehrmalige Apostrophe hervorgehoben. Pannonia richtet nun ihr Wort statt wie bisher an ihre wenig loyale Schwester Germania direkt an Karl (241–248): Constantina iacent, sed te veniente resurgent moenia propositis, Carole, amica tuis. Roma caput vasti iamdudum corruit orbis, error ad haec, dolor o, multus ubique viget. quid valeat, passim manifestum est, gloria cleri, nec Gallus dominum te negat esse suum. ergo, ut promissa pociaris, Carole, terra, Turcica delenda est quam cito turba tibi.
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Die Werke des Konstantin liegen danieder, aber wenn du kommst, Karl, werden sich die Mauern durch deine Unternehmungen wieder freundlich erheben. Schon vor langer Zeit ist Rom, die Hauptstadt des gewaltigen Erdkreises, eingestürzt, und zudem gedeiht überall, o Schmerz, viel Irrtum. Was der Ruhm des Klerus auszurichten vermag, ist überall offenkundig, und der Franzose streitet nicht ab, dass du sein Herr bist. Um dich also des verheißenen Landes zu bemächtigen, Karl, musst du so schnell wie möglich die türkische Schar vernichten.
Pannonias triumphale Prophezeiung, dass Karl die Konstantinische Ära wiederherstellen oder von Konstantin veranlasste Gebäude, vielleicht aber auch – falls Constantina hier in einer anderen Bedeutung wiederaufgenommen wird – Konstantinopel wieder aufbauen werde, trifft zumindest das von ritterlichem Ethos geprägte Selbstverständnis des Habsburgers, welcher tatsächlich derartige (Kreuzzugs-)Pläne zeitweilig in Erwägung zog, um mit einer unvergesslichen Tat seine Karriere zu krönen.1131 Im darauffolgenden Distichon wird nach einer unter protestantischen Humanisten nicht seltenen Manier der Sacco di Roma, in Wirklichkeit die eigenmächtige Plünderung unterbezahlter marodierender Landsknechte, als von der Vorsehung bestimmtes Strafgericht über die dem Götzendienst und Irrtum verfallene Stadt umgedeutet. Bezwungen erscheint der Klerus zumindest insofern (245), als Clemens in die Engelsburg fliehen und sich nachträglich dem Kaiser unterwerfen musste. Die Behauptung, dass Frankreich nun Karl als seinen Herrn anerkenne, ist dem 1544 geschlossenen Frieden von Crépy geschuldet. Die adhortatio zum Türkenkrieg ergeht nun explizit an Karl, dem man weithin die Vernachlässigung seiner Pflicht zur Verteidigung Ungarns (sowie der osteuropäischen Gebiete und des Reiches generell) anlastete.1132 Pannonia kleidet ihren Appell an den Kaiser selbstverständlich nicht mehr in bittere Anklagen wie größtenteils denjenigen an Germania, sondern macht ihn zum Ausgangspunkt einer panegyrischen Einlage mit prohabsburgisch deutbaren Prophezeiungen. Hier wird neben der rein patriotischen Motivation des Autors möglicherweise noch eine andere deutlich. Dem Melanchthonschüler und Protestanten Rubigallus muss daran gelegen sein, Karls kriegerische Bestrebungen gegen einen äußeren Feind, besser: ausschließlich! gegen einen äußeren Feind zu lenken. Schon seit den 1520er Jahren stand im Reich eine endgültige Antwort auf die Frage nach dem Umgang mit den Anhängern der Reformation aus. Immer wieder mussten sich die altgläubige und die protestantische Partei mit mehr oder weniger unbefriedigenden Kompromissen begnügen. Beim Reichstag zu Worms von Mai bis August 1545 boten Papst und Klerus dem Kaiser Geld und militärische
1131 Tyler, S. 38 ff. 1132 Sutter Fichtner: Aber doch ein Friede, S. 236.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
Unterstützung zur Bekämpfung der zu Ketzern erklärten Glaubensgegner. Auch wenn offiziell kein Religionskrieg, sondern lediglich die Niederwerfung ungehorsamer Untertanen deklariert wurde, hatten die Protestanten am Vorabend des von ihnen gemiedenen Konzils von Trient (Beginn 1545) um ihre Sicherheit zu fürchten, zumal leicht zu erkennen war, dass der Kaiser nach der Beilegung seiner ständigen Konflikte mit Frankreich eine größere Handlungsfreiheit denn je besitzen musste.1133 Rubigallus lässt Pannonia eine glänzende Zukunft beschwören in einer doppelten Analogie sowohl zur realen augusteischen Vergangenheit als auch zu einer antiken poetischen Vision (251–258). Karl soll als zweiter Augustus ein neues Goldenes Zeitalter wiederherstellen und dem geplagten Erdkreis den Frieden zurückbringen. Die aurea saecla (255) evozieren Vergils berühmte vierte Ekloge, welche aufgrund des in ihr enthaltenen Stichwortes Cumaeum carmen1134 spätestens seit Laktanz und Konstantin als sibyllinisches Orakel verstanden wurde.1135 Dieses Gedicht, welches die Geburt eines göttlichen heilbringenden Knaben prophezeit, erfreute sich als vermeintlich auf Christi Geburt bezogene Weissagung viele Jahrhunderte hindurch einer großen Wertschätzung und lieferte beliebte Topoi für Herrscherpanegyrik.1136 Rubigallus’ Pannonia hält sich indes nicht bei einer langen Beschwörung des Goldenen Zeitalters auf, sondern mahnt Karl lediglich zur Beilegung von Konflikten mit anderen Königen, was in diesem Fall offensichtlich auf Franz I. abzielt. Das einzige, was der Kaiser noch vermissen lässt, ist der entschlossene Aufbruch nach Südosteuropa zum Krieg gegen die dort ihre Machtposition stetig ausbauenden Osmanen. Sobald er diesen Schritt nur tut, werden ihm in alle Himmelsrichtungen hin die Länder der Erde untertan sein. Pannonia aber und Germania, erst im letzten Distichon wieder angeredet, werden dauerhaft Karls Herrschaft genießen können. In der Epistola lässt Rubigallus seine Pannonia im wesentlichen auf dieselbe Weise wie in der Querela ihre allzu untätig bleibende Schwester Germania zum Feldzug gegen die Osmanen motivieren. Pannonia insistiert gegenüber Germania auf deren Pflicht zur Dankbarkeit ihr gegenüber, argumentiert ebenso mit Germanias Eigeninteresse und verschafft so dem „Bollwerk“-Topos besondere Geltung.
1133 Brandi, S. 440 ff.; Bernd Moeller: Deutschland im Zeitalter der Reformation, Göttingen 1999 (Deutsche Geschichte 4), S. 152 f. 1134 Verg. ecl. 4, 4. 1135 Antonie Wlosok: „Cumaeum carmen“ (Verg., Ecl. 4, 4): Sibyllenorakel oder Hesiodgedicht? In: Eberhard Heck und Ernst A. Schmidt (Hrsg.): Res humanae – res divinae. Kleine Schriften. Heidelberg 1990, S. 302–319, hier S. 304 ff. 1136 Vgl. z. B. Poematvm Ioannis Stigelii Liber Tertivs [Germania ad Carolum], fol. 7 r–v. Dort huldigt selbst die Natur dem Kaiser bei seinem feierlichen Einzug ins Reich.
3.1.7 Sebastian Glaser (1520–1577): Epistola Ecclesiae
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Stärker noch als in der Querela jedoch legt sie den Akzent auf die enge verwandtschaftliche Beziehung, die einseitige schwesterliche Liebe und die grausame Treulosigkeit der einstmals so Begünstigten. Der moralische Druck auf Germania soll deutlich erhöht werden. Zu diesem Zwecke bedient sich Pannonia bevorzugt aus dem motivisch-sprachlichen Fundus derjenigen ovidischen Heroiden, in welchen Undankbarkeit und Treulosigkeit eines Helden gegenüber seiner in Liebe entbrannten Lebensretterin im Zentrum stehen, nämlich aus dem Brief der Dido,1137 (eventuell der Phyllis)1138 und der Ariadne.1139 Das in der gelehrten Welt in vielfacher Weise behandelte Dido-Aeneas-Verhältnis generell, aber auch die vergilische Darstellung der schwesterlichen Beziehung zwischen Dido und Anna scheint eine geeignete Folie für die Emotionalisierung der einseitigen brieflichen Korrespondenz zwischen zwei Landesallegorien abzugeben. Realpolitisch gesprochen, geht es Rubigallus bei der poetischen Konstruktion des familiären Konfliktes um den Zusammenhalt des Reiches und des östlich angrenzenden Ungarns unter der Herrschaft der beiden (bekanntlich nicht immer optimal kooperierenden) Habsburger Brüder. Karl und seine (ihm zu wenig gehorchenden) deutschen Reichsstände sollen größeres Interesse an der Verteidigung der Grenzregionen aufbringen. Erst gegen Ende der Epistola findet ein Umschwung vom bitter anklagenden Tonfall zu optimistischem Ansporn statt, und indem Rubigallus seine Pannonia inmitten aller Übel nun Karl als Lichtgestalt beschwören lässt, zeigt er im Vorfeld von Konzil und Schmalkaldischem Krieg sein Bemühen, das Oberhaupt des Reiches vor allem zur Verteidigung der ungarischen Heimat zu gewinnen, möglicherweise aber auch von einem militärischen Vorgehen gegen die Protestanten abzubringen.
3.1.7 Sebastian Glaser (1520–1577) Epistola Ecclesiae (1545) [Epistola, in qua Ecclesia Christi Germaniam hortatur ad Pannoniae defensionem (1545)] Der thüringische Melanchthonschüler Sebastian Glaser repräsentiert den Typus des gelehrten protestantischen Verwaltungsbeamten im Fürstendienst, welcher realpolitische Amtstätigkeit mit humanistisch-poetischen Ambitionen verbindet. Über sein Leben ist wenig bekannt, da er lediglich als Kanzler und Geschichts1137 Ov. her. 7. 1138 Ov. her. 2. Diese Heroide zeigt größte Ähnlichkeit mit Ov. her. 7; mehr noch, sie enthält in motivischer Hinsicht im Grunde nichts, was nicht auch im Dido-Brief vorkommt. 1139 Ov. her. 10.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
schreiber der fränkischen Grafschaft Henneberg eine gewisse regionale Bedeutung erlangte.1140 Friedrich Tenner präsentiert Glaser als das Musterbeispiel eines arbeitsamen und tugendhaften Gelehrten, welcher den Aufstieg aus einfachen, aber ehrbaren Verhältnissen zu einer exponierten Stellung seinem unermüdlichen Fleiß, seiner unbedingten Loyalität gegenüber seiner Herrschaft sowie seiner in jeder Hinsicht integeren Lebensführung verdankte. Glaser wurde am 1. Januar 1520 in Eisfeld geboren und nahm 1536 sein Studium in Wittenberg auf, wo er insbesondere Melanchthon hörte. 1538 erlangte er sein Baccalaureat in der philosophischen Fakultät. Eine vorübergehende Lehrtätigkeit im hennebergischen Städtchen Schleusingen, bei welcher sein besonderes Interesse an der vaterländischen Geschichte zutage trat, dürfte ihm auch insofern zugute gekommen sein, als sie zum ersten Mal die Aufmerksamkeit des dort regierenden hennebergischen Grafen Wilhelm IV. auf ihn lenkte.1141 Im Anschluss daran setzte Glaser auf Wunsch des Grafen und mit dessen finanzieller Unterstützung in Wittenberg seine Studien fort, insbesondere die juristischen, und erwarb 1545 als Bester von 40 Mitstreitern den Magistergrad der philosophischen Fakultät.1142 Auf die (wahrscheinlich nicht ganz ernst gemeinte) Mahnung des Grafen, er möge sich künftig mehr mit der „Jurisprudenz“ als mit der „Poeterei“ befassen, antwortete Glaser mit einem apologetischen Schreiben, in welchem er die vorzügliche Vereinbarkeit von juristischen und poetischen Tätigkeiten am Beispiel gelehrter Männer herausstellte. Obgleich er seine Bereitschaft bekundete, in allem dem Willen seines Herrn zu folgen, musste er der Dichtkunst nicht entsagen.1143 1547 wurde er Rat und Sekretär in Schleusingen, 1550 avancierte er zum Kanzler, was er bis zu seinem Tod bleiben sollte. Seine Ämter prädestinierten ihn auch zur Teil-
1140 Einen ausführlicheren biographischen Abriss zu diesem Autor enthält lediglich Friedrich Tenner: Lebensbild des hennebergischen Kanzlers Sebastian Glaser aus dem ungedruckten Band „Thüringische Lebensbilder“. In: Jahrbuch des Hennebergisch-Fränkischen Geschichtsvereins 10 (1995), S. 77–93. Dabei handelt es sich um die Publikation eines noch vor dem Zweiten Weltkrieg verfassten Manuskripts aus dem Nachlass des ehemaligen Vorsitzenden des Hennebergisch-fränkischen Geschichtsvereins Dr. Friedrich Tenner (1883–1947). Vgl. ansonsten MBW Bd. 12: Personen F-K, S. 151 sowie zwei gängige Nachschlagewerke: Günther Franz: Art. Glaser, Sebastian. In: NDB. Bd. 6, S. 432; (ohne Verfasserangabe) Art. Glaser, Sebastian. In: Deutsche Biographische Enzyklopädie. Bd. 4, München 1996, S. 24–25 Auch die ADB enthält leider keinen Eintrag. Zu Glasers Wirkungsfeld vgl. Eckart Henning: Die gefürstete Grafschaft Henneberg-Schleusingen im Zeitalter der Reformation. Köln / Wien 1981 (Mitteldeutsche Forschungen 88). 1141 Tenner, S. 80. 1142 Ebd., S. 80 f. 1143 Ebd., S. 81.
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nahme an Kongressen und Reichstagen.1144 1547/1548, 1550/1551, 1559 und 1566 bewährte sich Glaser auf dem Augsburger Reichstag als Vertreter der Interessen seines Grafen und setzte mit der Abfassung einer Genealogie dessen territoriale Ansprüche durch.1145 Der Schleusinger Zweig der gräflichen Familie war bestrebt, ein Reichslehen, welches ein anderer, nämlich der Römhilder Zweig, in einer finanziellen Misere hatte veräußern müssen, auf juristischem Wege vom Kaiser wiederzuerlangen. Die konkurrierenden Anwärter auf dieses Territorium bestritten die Verwandtschaft beider Linien, bis es Glaser durch Sichtung alter Archivbestände schließlich gelang, einen brillanten Nachweis der Abstammung des ganzen Geschlechtes vorzulegen. 1549/1550 erschien seine Wahrhaftige Genealo gie der gefürsteten Grafen und Herrn zu Henneberg, welche derart überzeugte, dass der Kanzler nach einigen Verfahren 1553 endlich das Lehen für seinen Herrn in Empfang nehmen durfte.1146 Auch in religiösen Angelegenheiten votierte Glaser bei den Reichstagen und großen Zusammenkünften. Beim Augsburger Reichstag von 1547 sprach er sich gegen die Fortführung des Konzils von Trient aus, gehörte ein Jahr später zu den Unterzeichnern des Interims und plädierte 1550, wiederum in Augsburg, für ein freies allgemeines, christliches d. h. nicht dem Vorsitz des Papstes unterstehendes Konzil.1147 Dabei verschaffte ihm der Umgang mit den Eliten des Reiches nicht nur beglückende Einsichten in den Gang der Politik. Seit 1547/1548 artikulierte der pflichtbewusste Glaser in Briefen an Würdenträger in Henneberg seine bittere Enttäuschung über die moralische Unzulänglichkeit der bei den Reichstagen versammelten Fürsten, welche lieber ausgiebig feierten und tafelten, statt ihre Aufgaben in der Regierung ernst zu nehmen. Man dürfe sich also nicht darüber wundern, klagt er, dass die wahre Herrschaft vom Klerus (von den „pfaffen“) übernommen werde. Er selbst erkannte seinen einstmals so hohen Begriff vom Reichstag und somit manches Ideal vom harmonischen Zusammenwirken verständiger Männer als Illusion und sagte den Reichsangelegenheiten eine düstere Zukunft voraus.1148 Indes blieb er seinem eigenen Arbeitsethos treu. Als Beisitzer des 1551 gegründeten Ehegerichts und als Rechtsberater eines der Grafensöhne war Glaser mit vielfältigen Verwaltungsaufgaben betraut. Ihm oblag die Regelung des Umgangs mit dem Vermögen der Kirchen, Schulen und Spitäler.1149 Zudem vermittelte er in Territorial- und Erbschaftsfragen zwischen den Hennebergern und ihren Nachbarn und zeigte sich stets bemüht, durch unei1144 Ebd., S. 81 ff. 1145 Art. Glaser (NDB), S. 432. 1146 Tenner, S. 84 f, 87. 1147 Ebd., S. 82 ff. 1148 Ebd., S. 82 f. 1149 Ebd., S. 86.
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gennütziges Engagement die katastrophale wirtschaftliche Lage seines Landes zu verbessern. Gerade in Bezug auf die andauernde Verschuldung der Grafschaft schreckte er bei aller Ehrfurcht auch nicht vor nachdrücklichen Ermahnungen zurück.1150 Außer seiner Genealogie hinterließ Glaser eine wegen ihrer vorbildlichen Quellenkritik sehr geschätzte Hennebergische Chronik, ein Epithalamium de nuptiis Georgii Ernesti principis in Henneberg, et Elisabethae, principis Bruns vicensis sowie weitere lateinische Dichtungen, die offenbar weder ihrem Titel noch ihrem Inhalt nach erfasst sind. Seine Leidenschaft für die Poesie manifestierte sich nicht zuletzt auch in der Anlage einer beachtlichen Bibliothek und in der großzügigen Förderung junger Studenten.1151 Am 9. April 1577 vollendete er sein Leben, das er gemäß des auf seinem Wappen angebrachten Spruches Labo rare veritas non opprimi potest verbracht hatte.1152 Die vorliegende Heroide wurde 1545 in Wittenberg publiziert, in dem Jahr also, in welchem der Autor seinen Magistertitel erlangte und große politische und religiöse Ereignisse ihren Schatten vorauswarfen. Am 13. Dezember 1545 sollte mit dem Tridentinum das in ganz Europa lange ersehnte und von der protestantischen Partei letztlich dennoch gemiedene Konzil1153 eröffnet werden, und im Reich zeichnete sich immer stärker der drohende militärische Konflikt zwischen dem Kaiser und den Mitgliedern des Schmalkaldischen Bundes ab. Im September 1544 hatte Karl V. den vierten Krieg gegen Franz I. für sich entschieden und durch den Frieden von Crépy beendet. Diese Tatsache allein verschaffte ihm eine größere Handlungsfreiheit in Bezug auf reichsinterne Anliegen; zudem verpflichtete er in einem Geheimvertrag den französischen König, ihm bei der Rückführung der Protestanten zur römischen Kirche, notfalls mit allen Mitteln, Hilfe zu leisten. Als er 1545 sogar einen Waffenstillstand mit den Osmanen erreichte, nahm seine Macht für die Protestanten bedrohliche Ausmaße an.1154 In Melanchthons Umkreis wurde die Gefährdung des christlichen Glaubens (lutherischer Prägung) durch Papstkirche und Türken auch poetisch verarbeitet; zu dieser Zeit erschien u. a. Paulus Rubigallus’ Epistola Pannoniae recens scripta. Glasers Name ist in Melanchthons Korrespondenz für das Jahr 1545 nicht bezeugt. Auch wenn ihre Beziehung nicht besonders gut dokumentiert ist, scheinen Lehrer und Schüler
1150 Ebd., S. 87. 1151 Ebd., S. 91. 1152 Ebd., S. 90 f. 1153 Vgl. dazu Johannes Stigelius: Germania ad Fridericum sowie das betreffende Kapitel dieser Arbeit 3.1.2. 1154 Bernd Moeller: Deutschland im Zeitalter der Reformation, Göttingen 1999 (Deutsche Geschichte 4), S. 152 f.; Brandi, S. 440 ff.
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einander nahegestanden zu haben.1155 Ebenso ist es möglich, dass der Autor mit Rubigallus persönlich bekannt oder befreundet war. Glasers Heroide1156 präsentiert sich als ein Schreiben der personifizierten Ecclesia1157 an Germania. Die Ecclesia dürfte in der abendländischen Kultur einen der beliebtesten Gegenstände für bildliche und allegorische Darstellungen abgegeben haben, da sie zum einen als sakrale Institution das geistige Fundament Europas lieferte und zum anderen begrifflich schwer zu fassen war.1158 Die Personifizierung des Gottesvolkes als Mutter findet sich schon im Alten Testament,1159 wird von Paulus im Galaterbrief 4, 26 aufgegriffen und in der Patristik später theologisch weiter entfaltet.1160 Im Verständnis der hierarchisch und sakramental strukturierten Papstkirche besteht ihre Mutterschaft nicht nur im Gebären neuer Gotteskinder durch die Taufe1161 und ihre Ernährung durch die Vermittlung des Glaubens, sondern inkludiert auch das Recht auf Ausübung ihrer mütterlichen Autorität.1162 Glasers Ecclesia hingegen entspricht eher der macht- und rechtlosen Mutter der dem Propheten Jeremia zugeschriebenen Klagelieder 1,6, die in ihrer Verlassenheit ihre herrliche Vergangenheit betrauert und den Herrn um Erbarmen bittet.1163 Mit dieser seiner macht- und einflusslosen Ecclesiagestalt kann der Autor jedenfalls auf Akzeptanz auch in reformatorischen Kreisen rechnen, da sie lediglich eine Wertegemeinschaft der Christianitas sein will. Ecclesia-Personifikationen erfreuten sich das Mittelalter hindurch großer Beliebtheit,1164 wovon in der bildenden Kunst zahlreiche Kirchenportale Zeugnis ablegen. Berühmte Kathedralen und Münster wie z. B. diejenigen von Trier, Erfurt, Bamberg, Freiburg, Straßburg und Paris sind mit den plastischen Dar1155 Tenner, S. 80 vermerkt lediglich: „Er hörte u. a. die Vorlesungen Philipp Melanchthons über Dialektik und scheint sich der besonderen Gunst des Reformators erfreut zu haben.“ 1156 Elegia scripta a Sebastiano Glasero Eisfeldensi. In qua Ecclesia Christi Germaniam hortatur ad Pannoniae defensionem. Wittenberg 1545. 1157 Zu diesem Namen, der im klassischen und hellenistischen Griechenland, insbesondere in Athen, eine Volksversammlung bezeichnet, Art. Ekklesia I (RAC), Sp. 905 f. 1158 Vgl. dazu Klaus Berger: Art. Kirche I–II. In: TRE. Bd. 18, S. 198–218; Olof Linton: Art. Ekklesia I (bedeutungsgeschichtlich). In: RAC. Bd. 4, Sp. 906–921; Ernst Dassmann: Art. Kirche II. (bildersprachlich). In: RAC. Bd. 20, Sp. 965–1022. 1159 Jes 6,25; 10,20; 22,4; 54,1; besonders Klgl. 1,5. 1160 Vgl. Gisbert Greshake: Maria-Ecclesia. Perspektiven einer marianisch grundierten Theologie und kirchlichen Praxis: These von der Identität der Mutter Maria und der Mutter Kirche. Regensburg 2014, S. 137 ff., 142. 1161 Joh 3,2. 1162 Vgl. Art. Kirche II (RAC) Sp. 987. 1163 Klgl 1,9–10. 1164 Dörrie: Der heroische Brief, S. 432 f.
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stellungen jeweils zwei antagonistisch auftretender Figuren ausgestattet, welche die mit allen christlichen Glaubensattributen versehene, triumphal auftretende Ecclesia und die zum Zeichen ihrer Verblendung mit Augenbinde dargestellte Synagoge verkörpern. Durch Francesco Petrarca fand im italienischen Frühhumanismus die personifizierte Ecclesia auch Eingang in die Heroidendichtung.1165 200 Jahre später folgten Helius Eobanus Hessus (1523), Michael Schütz/Toxites (1543) und Eustachius von Knobelsdorff (1557). Insgesamt listet Heinrich Dörrie 11 lateinisch und französisch verfasste Ecclesia-Heroiden unterschiedlich konfessioneller Autoren auf, welche von Petrarcas auf ca. 1350 datiertem Text bis ins Jahr 1713/1716 reichen.1166 Wahrscheinlich war der äußerst vielseitig ambitionierte und begabte italienische Humanist der erste, welcher die bereits etablierte literarische Form eines planctus oder einer lamentatio Ecclesiae1167 im Rückgriff auf eine antike Textgattung durch eine epistolarische Suasorie ersetzte.1168 Diese brachte den Vorteil mit sich, dass sie (nicht ausschließlich, aber primär) auf einen bestimmten, namentlich genannten Adressaten einzuwirken suchte. Sein Anliegen, den jeweiligen Papst zu einer Rückkehr aus Avignon, dem Sitz der Kurie im 14. Jahrhundert, nach Rom, in die ursprüngliche Residenz, zu veranlassen, brachte Petrarca mittels zweier typisierter Sendschreiben zum Ausdruck. Der erste derartige Brief von vor 1342 ist einer personifizierten Roma in den Mund gelegt und richtet sich an Benedikt XII., der zweite, zwischen 1350 und 1354 entstanden, stellt eine Klage der Ecclesia an dessen Nachfolger Clemens VI. dar.1169 Dort geriert sich die Schreiberin als Gemahlin des Papstes und bekundet ihre Enttäuschung über ihren ersten verstorbenen Gatten, der sie stets mit leeren Versprechungen und Vertröstungen hingehalten habe. Nicht ganz 200 Jahre später tauchte im Zusammenhang mit der Reformation (und der Türkengefahr) die Ecclesia erneut als schreibende Heroine auf.1170 Helius Eobanus Hessus, einer der frühesten Anhänger Luthers unter den Humanisten, lässt 1523 die Kirche aus ihrer Gefangenschaft an den Wittenberger Reformator eine bittere Klage über den schamlosen Amtsmissbrauch von Papst, Klerus und Mönchen richten. Exakt 20 Jahre später tritt eine weitere Ecclesia-Gestalt ins Blickfeld, welche ihr Heil in der Reformation sucht. Eine Heroide des unglück1165 Ebd., S. 433 ff. 1166 Ebd., S. 508 f. 1167 Vgl. dazu das Kapitel dieser Arbeit 2.3.2. 1168 Dörrie: Der heroische Brief, S. 433 f. 1169 Ebd., S. 434 f. 1170 Ebd., S. 453 ff.
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lich vom Schicksal umhergetriebenen und zeitweilig in Straßburg als Lateinlehrer wirkenden Humanisten Michael Toxites (Schütz) stellt sich als Gratulationsund Beratungsschreiben der Kirche an den Kölner Erzbischof dar, welcher mit der lutherischen Lehre sympathisierte und deren Einführung in seinem Bistum (tatsächlich oder zumindest nach Meinung des Autors) bereits beschlossen hatte. Der Text enthält eine detaillierte Instruktion zu disziplinarischen und organisatorischen Fragen.1171 1557 erschien ein „Manifest der Gegenreformation in Polen“1172 aus der Feder des Ermländers Eustachius von Knobelsdorff,1173 der zwar u. a. in Wittenberg bei Melanchthon studiert hatte, aber dennoch am römisch-katholischen Glauben festhielt und diesen mit zunehmender Kompromisslosigkeit verteidigte.1174 In seinem Gedicht wendet sich die Ecclesia catholica afflicta an den jungen polnischen König Sigismund II. August und fleht ihn an, sie vor den verbrecherischen Umtrieben und die Bevölkerung vor den Irrlehren der ins Land eindringenden Wittenberger Häretiker zu schützen. In einer breit ausgeführten theologischen Belehrung wird das traditionelle Postulat der guten Werke zur Erlangung des Seelenheils gegenüber den auf Lügen basierenden Neuerungen der Lutheraner verteidigt. Die Treue zum überlieferten Glauben der Väter erhält dadurch zusätzliches Gewicht, dass sie die Bedingung darstellt für das Gelingen aller politischen Pläne des jungen Jagiellonen. Während die Ecclesia-Gestalten dieser Autoren nach ovidischem Muster alle jeweils einen männlichen Retter zu gewinnen suchen, lässt Glaser als einziger seine Heldin an eine weibliche Partnerin, genauer gesagt an eine weibliche Personifikation, nämlich an Germania, schreiben.1175 Es handelt sich hier um den seltenen Fall, dass eine personifizierte sakrale Instanz mit einem personifizierten, sonst meist ebenfalls als Mutter- oder Schwestergestalt präsentierten Land in Korrespondenz tritt. Der Heroide selbst sind ein kurzes Empfehlungsgedicht von Adam Lampert und ein Widmungsschreiben Glasers an den Grafen Poppo von Henneberg vorangestellt. In sechs elegischen Distichen mahnt Lampert Germania in direkter Anrede, ihrer Mutter, der schon lange Zeit vergeblich über feindliche Übergriffe klagenden Ecclesia, Hilfe zu bringen, und stellt ihr dafür großen Ruhm in Aussicht.
1171 Ebd., S. 459 f. 1172 Ebd., S. 461. 1173 Vgl. zu Knobelsdorff das betreffende Kapitel dieser Arbeit. 1174 Ebd., S. 461 ff. 1175 Diese Heroide wird von Dörrie: Der heroische Brief, S. 461 zwar mit ihrem Titel aufgeführt, aber nicht besprochen.
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Glaser bringt seinem Grafen in 44 Versen seine Huldigungen dar1176 und deklariert in gängiger Bescheidenheitstopik seine Heroide als Poesieübung eines Jugendlichen zum Zeitvertreib. Das elegische Versmaß sei zum einen dem experimentellen Charakter dieser Spielerei geschuldet, zum anderen aber auch dem Umstand, dass ihn, sobald er sich an erhabenere (d. h. epische) Aufgaben heranwage, der traurige Inhalt seiner Dichtung zur formalen Gestaltung eines Klageliedes zwinge. Von dieser Behauptung findet der Autor eine elegante Überleitung zur Beteuerung seines glühenden Patriotismus. Die Bedrohung seiner Heimat durch die Türken und das schreckliche Geschick Ungarns veranlassten ihn stets zu Tränen; zu schreiben zwinge ihn die Vaterlandsliebe. Der Adressat solle die Gaben von Glasers spärlicher Muse gnädig entgegennehmen1177 und in Aussicht auf eine literarische Verherrlichung seines Stammbaums – vielleicht ist dies schon eine Ankündigung der in den folgenden Jahren entstehenden Genealogie – die Studien des Autors weiterhin fördern. Der Titel der Heroide Epistola, in qua Ecclesia Germaniam hortatur ad Pan noniae defensionem (bzw. Ecclesia ad Germaniam de defensione Pannoniae) suggeriert eine Dreierkonstellation von personifizierten Instanzen und kündigt an, dass es sich hierbei um ein Vermittlungsschreiben zwischen zwei Figuren zugunsten einer dritten (Pannonia) handle. Zunächst aber wird lediglich eine konfliktreiche Mutter-Tochter-Beziehung zwischen der schreibenden Ecclesia und der Adressatin Germania thematisiert. Ecclesia richtet eine vorwurfsvolle Klage an ihre Tochter, die ihre Not schon seit langem ungerührt mitansehe. Ihre Autorität legitimiert sie durch ihre Verdienste um Germania, die sich grob in zwei Punkte unterteilen lassen. Der erste gilt dem christlichen Glauben selbst: Per me Relligio tibi Teutonis ora reluxit Purior, hoc maius, quid precor esse potest? Mater ego docui summi te iussa parentis Quoque datur coeli scandere culmen, iter, Nempe Redemptoris salvam te munere Christi Non aliter patri posse placere Deo.1178 Durch mich, Deutschland, erstrahlte dir die Religion in reinerem Licht, welches Geschenk, sag bitte, könnte größer sein als das? Ich, die Mutter, lehrte dich, die Gebote des höchs-
1176 Fol. A 2 r–v. 1177 Widmungsgedicht 33–36: Accipe, ieiunae nec despice munera Musae /Munera muneribus inferiora tuis,/ Pectus amans patriae placeat, studiumque probetur/ Sit mea praesidio, tuta Thalia tuo. Zum topischen Charakter einer derartigen Bitte vgl. z. B. Eustachius von Knobelsdorffs Widmungsgedicht an Dantiscus (1539), besonders 3–4: Perlege, ieiunae nec despice dona Thali ae, /Saepe iuvant summos munera parva Deos. 1178 Fol. A 3 v.
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ten Vaters zu befolgen und den Weg zum Himmelsgewölbe zu erklimmen. Ich lehrte dich, dass du gerettet bist durch das Erlösungswerk Christi und anders nicht Gott, unserem Vater, gefallen kannst.1179
Ecclesias Leistung besteht also in der Wiederherstellung der wahren Religion und in der Lehre der göttlichen Gebote, nach welchen Germania nur durch Christi Erlösungstat Wohlwollen bei Gott und den Weg zum Himmel finden kann. Diese Worte erinnern an geläufige Charakterisierungen der lutherischen Lehre und legen nahe, dass hier von der Reformation als Geschenk des Himmels die Rede ist.1180 Ecclesia verkörpert offensichtlich nicht die römische Papstkirche, verzichtet aber auch auf jegliche explizite antirömische oder interkonfessionelle Polemik. Spezifische theologische Inhalte wie z. B. die Rechtfertigungslehre werden hier lediglich angedeutet. Ecclesias zweites großes Verdienst, auf das sie sich beruft, ist weltpolitischer Art und besteht in der Vermittlung der Kaiserwürde an Germania: Me propter decus Imperij Germania gestas Orbis & Ausonij Regia sceptra tenes, Quicquid habes, Pacis, decoris, virtutis, honoris, Hoc etiam nostrum, Filia, munus habes.1181 Dank mir, Deutschland, trägst du den Ehrentitel der Herrschaft über den Erdkreis und hältst das Zepter des römischen Königs. Was auch immer du besitzt an Friede, Glanz, Tugend und Ehre, das alles, Tochter, hast du als ein Geschenk von mir.
Wie es die Gestaltung eines derartigen Sendschreibens verlangt, untermauert sie ihre Ansprüche durch meritokratische Argumente. Die aufgezählten Wohltaten verdienen Gegenleistungen und berechtigen zu nachdrücklichen Forderungen an Germania. Wie in den Heroiden anderer Autoren Germania selbst oder sonstige Länderallegorien, z. B. Austria,1182 Pannonia,1183 präsentiert sich hier Ecclesia als leidende Mutter und Opfer gewaltsamer Übergriffe vonseiten der Osmanen. Auch ihr Anliegen ist die Abwehr der mordend und plündernd herandringenden Türken. Unter all ihren Klagen sticht besonders eine barock anmutende (oder auf
1179 Übersetzung T. B. 1180 Vgl. z. B. Poematvm Ioannis Stigelii Liber Tertivs: [Germania ad Fridericum], fol. D 8 r: Iam reparante sacrae fidei documenta Luthero/ Exuimus veteres vulgus inane Deos./ Atque iterum nobis patefacta est ianua coeli,/ Obsita Pontificum quae fuit ante dolis. 1181 Fol. A 3 v. 1182 Caspar Ursinus Velius: Querela Austriae. 1183 Paulus Rubigallus: Querela Pannoniae ad Germaniam; Epistola Pannoniae ad Germaniam recens scripta.
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das Barock vorausweisende) Reihung und Kumulation von (mehr oder minder) synonymen Verben des Erleidens von tödlicher Gewalt in die Augen: Dilacerata gemo, crudelibus opprimor armis Turcarum, laniat viscera nostra, furor, Enecor, interimor, crucior, premor, obruor, angor Distrahor, absumor, diripior, mutilor,1184 Ich werde zerfleischt, ich stöhne, ich werde von den grausamen Waffen der Türken niedergedrückt, Raserei zerreißt meine Eingeweide, ich werde umgebracht, ermordet, gequält, unterdrückt, überrannt, in Angst versetzt, entzweigerissen, aufgezehrt, ausgeplündert, verstümmelt.
Ecclesia ist derart geschwächt, dass ihr kaum noch genügend Kraft zum Atemholen bleibt. Sie sorgt sich vor allem um das Schicksal der Tochter Germania, welches von demjenigen der Mutter abhängt. In diesem Zusammenhang fällt zum ersten Mal der Name Pannonias, deren Unterstützung als Anliegen bereits im Titel des Briefes genannt worden war: Iam tua Pannonias lacerantur membra per oras, Multaque crudelis vulnera caedis habent,1185 Nun werden auch deine Glieder auf ungarischem Boden zerfleischt und tragen viele Wunden von einem grausamen Blutbad davon.
Wenn eine Verheerung der Landstriche Pannonias eine Verletzung von Germanias Gliedern bedeutet, so wird Ungarns Zugehörigkeit zum Heiligen Römischen Reich betont und dessen Rolle als Bollwerk gegen den Ansturm der Türken in Erinnerung gerufen. Erzherzog Ferdinand, der aufgrund eines habsburgisch-jagiellonischen Erbvertrags nach dem Tod seines Schwagers, des jungen Königs Ludwig II., in der Schlacht bei Mohács 1526 einen dynastisch begründeten Anspruch auf den ungarischen Thron gewonnen hatte, konnte diesen nur sehr bedingt gegen Sultan Süleyman und dessen Vasall, den skrupellos seine Ziele verfolgenden Gegenkönig Johann Zápolya behaupten. Lediglich der nordwestliche Teil des Landes, heute weitgehend slowakisches Gebiet, verblieb in seiner
1184 Fol. A 3 v. Vgl. Karl Otto Conrady: Lateinische Dichtungstradition und deutsche Lyrik des 17. Jahrhunderts. Bonn 1962 (Bonner Arbeiten zur deutschen Literatur 4), S. 148 ff., bes. S. 150; Marian Szyrocki: Die deutsche Literatur des Barock. Eine Einführung. Bibliographisch erneuerte Ausgabe. Stuttgart 1997, S. 57 hält „asyndetisch aneinander gereihte Satzglieder und Sätze“ fast ausschließlich für ein Phänomen der Barockdichtung, das von der neulateinischen Poesie meist unter Beibehaltung der Verbindungspartikel vorbereitet werde. 1185 Fol. A 3 v.
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Gewalt.1186 Ohne die ca. 150 Jahre anhaltende vielbeklagte Zwei- bzw. Dreiteilung des Landes wäre eine derartige Dynamik kirchenpolitischer Entwicklungen wohl kaum möglich gewesen. Die seit den 1520er Jahren schon das Reich der Stephanskrone erfassende Reformation profitierte davon, insofern als sie trotz schärfster offizieller Verlautbarungen nicht konsequent bekämpft werden konnte. Melanchthon bzw. die mit seinem Namen fast schon gleichzusetzende Universität Wittenberg stellt das vielleicht wichtigste Bindeglied dar. In Ermangelung eigener Hochschulen frequentierten seit 1522 in zunehmender Anzahl ungarische Studenten Wittenberg, aber auch Heidelberg und Straßburg. Die aus dem sächsischen Städtchen exportierte neue Lehre fiel insbesondere in von deutschen bzw. deutschsprachigen Siedlern bewohnten oberungarischen (heute meist slowakischen) königlichen Freistädten wie z. B. Kremnitz, Schemnitz oder Ödenburg auf fruchtbaren Boden. Reichstagsbeschlüsse und königliche Dekrete von 1523, 1525 und 1527, welche die Hinwendung zum Luthertum mit der Todesstrafe bedrohten – „Lutherani comburantur!“ – zeigten kaum Wirkung. Zu erwarten wäre an dieser Stelle eine längere Passage über das Leid dieses Landes, stattdessen aber fährt Ecclesia mit einer weiteren Beschwörung der Mutter-Tochter-Beziehung fort, wobei sich auf engem Raum Verwandtschaftsbezeichnungen häufen: Quid cessas igitur pressae succurrere matri. Aut quid es o propriae causa propinqua necis? Hei mihi, ne passam crudelia desere matrem Nata, nec in me una perdere perge duas, Iusta peto, ne sperne preces, quid iustius unquam Quam pia si matri, Filia, praestet opem?1187 Was zögerst du also, der bedrängten Mutter zu Hilfe zu kommen, oder warum bietest du als Angehörige den Anlass für deine eigene Ermordung? Weh mir, verlass nicht die Mutter, die schon Grausames erlitten hat, Tochter, und gib nicht länger einzig in meinem Leib zwei Frauen dem Untergang preis. Ich habe gerechte Anliegen, weise meine Bitten nicht zurück. Was kann gerechter sein, als wenn eine fromme Tochter ihrer Mutter Hilfe bringt?
Dieses stete Insistieren auf dem engen Verwandtschaftsverhältnis zwischen zwei (allegorischen) weiblichen Gestalten erinnert an Paulus Rubigallus’ zwei Sendschreiben, insbesondere an die Epistola Pannoniae ad Germaniam recens scripta, wo die Heroine durchweg explizit als Schwester zur Schwester spricht (soror, germana) und das im Humanismus beliebte Wortspiel Germania – germana 1186 Vgl. die Kapitel dieser Arbeit 3.1.6 Paulus Rubigallus: Querela Pannoniae ad Germaniam und Epistola Pannoniae ad Germaniam recens scripta. 1187 Fol. A 3 v–A 4 r.
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bemüht.1188 Ähnlich wie Pannonia in dieser Epistel1189 bringt Ecclesia die schon in den ovidischen Heroiden formulierte Bitte vor, nicht zwei äußerst eng miteinander verbundene Personen zugleich, nicht „zwei in einem Leib“, zu töten.1190 Ihre Appelle an Germanias Pflichtgefühl und familiäres Bewusstsein untermauert Ecclesia durch den in Heroiden oft gebrauchten vorwurfsvollen Hinweis,1191 dass selbst Tiere, friedliche wie gefährliche, von Natur aus zum Schutz ihrer Jungen bereit seien. Mutterschafe ließen im Kampf um ihre Höhlen ihr Leben, und Bären verteidigten ihre Lagerstätten. Germania jedoch sehe den drohenden Untergang ihrer Mutter gelassen mit an, sei härter als ein Fels und habe weniger fromme Liebe in sich als wilde Tiere. Mit teils wiederholten, anaphorisch gebrauchten Ausrufen wie cernis (62, 63), spectasti (69, 75, 76),1192 audisti (70) und cessasti (79) weist Ecclesia auf Germanias Wissen um die Notlage, auf ihre Verantwortung und ihr schuldhaftes Versäumnis hin. In diesem Zusammenhang kommt insbesondere ein konkretes historisches Ereignis zur Sprache: Tunc Mahometigeno cum Graecia pressa sub hoste, Sentiret tanti vulnera prima mali, Cumque mihi eriperet celebrem, furor impius, urbem Quae Constantini nomine nomen habet, Spectasti lachrimas, luctus, incendia, caedes, Spectasti matris, desidiosa, necem,1193 Damals als Griechenland vom muslimischen Feind bezwungen wurde und die ersten Wunden des großen Unheils zu spüren bekam, als mir die gottlose Raserei die Stadt entriss,
1188 Eine konfliktreiche Mutter-Tochter-Beziehung zwischen einer (allerdings römisch-katholischen) Ecclesia und Germania konstruiert in einigen Versen auch Eustachius von Knobelsdorff in seiner Heroide Ecclesia catholica afflicta Sigismundo Augusto Regi (1557). Dort beklagt Ecclesia, welches Leid die Tochter ihr zufüge durch die freudige Aufnahme der lutherischen Irrlehre (101–108): Nunc ubi sectarum furioso ducitur Oestro,/ Dissimilis tota est Teuthonis ora sibi./ In mea terribili grassatur viscera ferro,/ Non gladio dubitet me iugulare suo/ Mille modos quaerit quo me, mea filia, perdat,/ In matrem pietas ista Neronis erat./ Quod queror exiguum est, audes Germania tandem/ Audes in summum bella movere Deum? 1189 Paulus Rubigallus: Epistola Pannoniae ad Germaniam recens scripta, V. 193–194: affer opem pressaeque nimis succurre sorori / inque uno serva corpore, quaeso, duas. 1190 Nata, nec in me una perdere perge duas. Vgl. Ov. her. 11, 60 (Canace an Macareus): vive nec unius corpore perde duos!; Ov. her. 20, 234–235 (Acontius an Cydippe): iuncta salus nostra est – miserere meique tuique;/ quid dubitas unam ferre duobus opem? 1191 Vgl. z. B. Paulus Rubigallus: Epistola Pannoniae ad Germaniam recens scripta, V. 7–14. 1192 Vgl. Paulus Rubigallus: Epistola Pannoniae ad Germaniam recens scripta, V. 197–204 mit Versanfängen wie aspicis … aspicis … ipsa vides. Aufgrund des topischen Charakters derartiger Formulierungen lässt sich natürlich keine Abhängigkeit von Rubigallus nachweisen. 1193 Fol. A 4 r.
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welche nach Konstantin benannt ist, da hast du Tränen, Trauer, Brände, Blutvergießen und die Ermordung der Mutter untätig mitangesehen.
Ecclesia schreibt also ihren Verlust Griechenlands lediglich der militärischen Eroberung Konstantinopels durch die Türken von 1453 zu, nicht aber dem Großen Schisma, dessen Auslöser die gegenseitige Exkommunikation eines päpstlichen Gesandten und des griechischen Patriarchen im Juli 1054 war.1194 Die über Jahrhunderte hinweg zwischen lateinischen und griechischen Glaubensautoritäten geführten theologischen und kirchenpolitischen Auseinandersetzungen, die letztlich in der Spaltung zwischen römisch-katholischem und griechisch-orthodoxem Christentum kulminierte, finden keine Erwähnung; in nivellierender Tendenz werden lediglich ein äußerer Feind und kriegerische Gewalt für eine bestimmte Misere verantwortlich gemacht. Ecclesia richtet den Fokus auf Germanias eigene Bedrohung, die unaufhörlich näher rücke.1195 Untätigkeit, Gleichgültigkeit gegenüber Mutter, Heimat und sich selbst sowie ein gravierender Mangel an politischem Weitblick ließen keine Kampfbegeisterung aufkommen. Germania sitze untätig da (desidiosa sedes) und genieße einen behaglichen Frieden (placida pax), der in Wirklichkeit nur auf einer trügerischen Illusion beruhe. Ihre vorgebliche Liebe zum Frieden spricht ihr die Mutter entschieden ab und konfrontiert sie mit dem Vorwurf, dass sie sogar Streitereien unter ihren eigenen Bürgern entfache und schüre: Immo secuturis praebes incendia bellis Hei mihi, quid verbis digladiaris iners? Rixaris, certas odijs, & turpiter addis Turpia civili semina dissidio, In proprium ruitura caput certamina quaeris, Inque tui mortem corporis arma paras, Attenuant validas tibi bella domestica vires, Et tua civili robora Marte cadunt.1196 Im Gegenteil, du entfachst noch den Brand für künftige Kriege. Weh mir, was trägst du nutzlos Kämpfe mit Worten aus? Du zankst, du streitest voll Hass und lieferst auf abscheuliche Weise der Zwietracht der Bürger abscheuliche Samen. Du suchst Auseinandersetzungen, welche dein eigenes Haupt bedrohen, und stellst Waffen bereit zum Tod deines eigenen Leibes. Kriege im Inneren schwächen deine überlegenen Kräfte und deine Streitmacht fällt im Bürgerkrieg.
1194 Vgl. dazu Franzen, S. 186 ff. 1195 Fol. A 4r–v. 1196 Fol. A 4 v.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
Wenngleich auch das Anprangern der discordia innerhalb des Reiches grundsätzlich als ein Konstituens der Türkenkriegsagitation gelten muss, so ist hier doch die Klage auch über den Streit mit Worten (verbis digladiaris) bemerkenswert. Ecclesia verurteilt demnach nicht nur politische und dynastische Auseinandersetzungen der Fürsten um einen Zuwachs an Titeln, Einfluss und Territorien, sondern auch die Streitigkeiten unter Gelehrten, wahrscheinlich insbesondere in Bezug auf theologische Fragen. Stichworte wie domestica bella und civilis Mars jedoch dürften sich über ihren rein topischen Gebrauch hinaus auf realpolitische Vorahnungen beziehen, die sich spätestens 1546 mit der Kunde von der Rüstung auf kaiserlicher und päpstlicher Seite zum Schmalkaldischen Krieg bestätigten. In der folgenden Passage rückt endlich Pannonia, deren Verteidigung die Epistel ja vorgeblich gilt, in den Fokus (105–124). Nach den Worten ihrer Mutter erweist sich Germania dieser Freundin1197 gegenüber als undankbar, die ihr so oft schon unter eigenen großen Opfern, nämlich dem Verlust der eigenen Bürger und Soldaten, zu Hilfe gekommen ist. Diesen Vorwurf untermauert Ecclesia mit Hinweis auf die Rolle Belgrads, welches schon von den Türken bezwungen ist und nun – wenn auch wider Willen – seine Kräfte zum Kampf gegen Germania bereitstellen muss.1198 Belgrads Funktion als propugnaculum wird nicht nur zunichte gemacht, sondern sogar pervertiert, indem die Burg sich vom antiosmanischen zum antichristlichen Bollwerk wandelt. Mit dem antemurale-Topos gehen wie in anderen Sendschreiben so auch hier eindringliche explizite Warnungen vor dem Übergreifen des Türken auf das Gebiet der angesprochenen personifizierten Instanz einher. Im Kontrast zu Germanias geläufiger Negativcharakterisierung als degenerans hebt die mahnende Stimme die unberechenbare Aktivität des Feindes hervor: Forte sed hinc aliqua tibi parte videbere tuta Forsitan & dudum, Turca quiescet, ais. Falleris o nimium Germania prodiga vitae Falleris, & vanam spem male sana foves, Non cessat, non dormit iners, non otia curat, Dura sed assidui praelia Martis amat.1199 Aber vielleicht meinst du, einigermaßen sicher zu sein, vielleicht sagst du schon lange: „Der Türke wird Ruhe geben“. Du täuschst dich, Deutschland, allzu unbekümmert um dein
1197 Hier wäre zu erwarten, dass Glasers Ecclesia die bei Rubigallus und anderen Autoren derartiger Sendschreiben konstruierte Schwestern-Beziehung zwischen Pannonia und Germania übernimmt, zumal dieses Modell das Mutter-Tochter-Verhältnis in idealer Weise zu einer Dreierkonstellation ergänzen würde. Dennoch begnügt sich Ecclesia hier mit der Bezeichnung amica. 1198 Fol. B 1 r. Belgrad war am 28. August 1521 unter der Führung Süleymans erobert worden. 1199 Fol. B 1 r.
3.1.7 Sebastian Glaser (1520–1577): Epistola Ecclesiae
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Leben, du täuschst dich und hegst in deinem Wahnsinn eine nichtige Hoffnung. Er zögert nicht, er schläft nicht unverrichteter Dinge, er feiert nicht, sondern liebt die harten Schlachten andauernden Krieges.
Wie Johannes Helmrath detailliert darlegt, haben bereits der das 15. Jahrhundert dominierende Humanist Enea Silvio Piccolomini und Autoren aus seinem Umkreis in ihren Türkenkriegssuasorien derartige Argumentationsmuster ausgebildet. In seiner berühmten Rede De Constantinopolitana Clade bedient sich Piccolomini eines rhetorischen Kniffs und führt den potentiellen Einwand eines fiktiven Gegners, der Feind werde zur Zeit seinen Feldzug unterbrechen und keine akute Gefahr mehr darstellen, als eine irrige Behauptung an, welche es mit großem Geschick zu widerlegen gilt.1200 Ebenso argumentiert er, wenn der Adressat vermeintliche Laster beim Feind voraussetzt, die zu dessen Verweichlichung, Schwächung und Entschärfung beitragen könnten, mit überraschenden „Non-Eigenschaften“1201 oder „Non-Formeln“.1202 In diesem rhetorischen Zusammenhang – und zwar nur in diesem – erscheint der ansonsten auch im selben Text durchaus als dekadent gebrandmarkte Türke als gerade nicht dem Müßiggang, Wohlleben und untätigen Genuss ergeben, sondern als auf bewundernswerte und abstoßende Weise zugleich waffen- und kriegsbesessen. Glaser lässt seine Ecclesia an die spätestens durch Piccolomini geprägten oder in Umlauf gebrachten Argumentationsmuster anknüpfen. Diese Warnungen an Germania vor dem niemals ruhenden Feind werden durch ein Gleichnis unterstrichen, nach welchem die Türken den von ihnen verheerten Boden ebenso mit vergiftetem Blut beflecken wie Menschen, welche der Infektion durch eine libysche Giftschlange zum Opfer gefallen sind.1203 Glaser ist bestrebt, den beschwörenden Worten seiner Ecclesia-Gestalt gewissermaßen prophetische Bedeutung zu verleihen, indem er diese in einer längeren Passage von einem Unheil verheißenden Traum berichten lässt. Forte gravi nuper defessa sopore iacebam Si tamen ullus habet lumina nostra sopor Tu mihi lugubri, Germania, veste recincta Visa, videbaris multa dolore, queri, Squallebat facies, lachrymaeque per ora cadebant, Arcebant geminas ferrea vincla manus. Victa trahebaris vultus laniata, comasque Impia Turcarum castra coacta sequi,
1200 Helmrath: Pius II. und die Türken, hier S. 111. 1201 Ebd., S. 112. 1202 Ebd., S. 114. 1203 Fol. B 1 r–v.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
Complebas frustra querulis ululatibus auras, Nec, nisi quod miseram te querereris, erat,1204 Neulich, als ich gerade erschöpft in tiefem Schlaf lag – wenn unter solchen Umständen überhaupt Schlaf meine Augen schließt –, da erschienst du mir, Deutschland, in einem Trauergewand ohne Gürtel, du schienst voll Schmerz über vieles zu klagen. Dein Antlitz starrte vor Schmutz, Tränen liefen dir über das Gesicht und eiserne Fesseln hielten deine beiden Hände in Gewahrsam. Als Gefangene wurdest du mit entstellter Miene und zerrauftem Haar fortgeschleift und sahst dich gezwungen, das Lager der gottlosen Türken zu betreten. Vergebens erfülltest du die Luft mit klagendem Geheule und nichts weiter konntest du tun, als dich Arme zu beklagen.
Der Traum ist seit Homer ein beliebtes und vielseitig einsetzbares literarisches Motiv; er begegnet in Prosatexten und Poesie, in der römisch-griechischen Literatur ebenso wie in jüdisch-christlicher. Im Gegensatz zu zahlreichen Visionen bei verschiedenen Autoren bedarf die hier geschilderte keiner komplizierten Deutung; Ecclesia klagt explizit, dass sie Germania als Gefangene der Türken erblickt.1205 Das schon in der römischen Literatur propagierte Bild der Germania capta, welche mit allen Anzeichen der Demütigung von einem Sieger in Fesseln fortgeschleppt wird1206 – dort freilich ein Wunschbild –, kann Glaser ohne Mühe auf den Konflikt zwischen dem Reich und den Osmanen übertragen; andererseits dürfte ihm auch ein Passus aus Ovids Exildichtung, nämlich ein böser Traum des Verbannten in Bezug auf die barbarischen Geten, zum Modell dienen.1207 In einer fast ebenso langen Passage wie vom Albtraum selbst berichtet Ecclesia von ihrer zutiefst bestürzten Reaktion darauf.1208 Dem ersten Schrecken folgen der inständige Wunsch und das Gebet an Gott, dass Träume, so sehr sie auch menschliche Herzen verwirren, bedeutungslos sein möchten. Diese bedrohliche nächtliche Erscheinung veranlasst Ecclesia zu einer erneuten Bitte um kriegerischen Beistand.1209 Germania soll, solange sie noch zum
1204 Fol. B 1 v. 1205 Fol. B 1 v. Impia Turcarum castra coacta sequi. 1206 Vgl. z. B. Ov. trist. 4,2, 1–2, 43–46: Iam fera Caesarbus Germania, totus ut orbis,/ victa potest flexo succubuisse genu,/ […] / Crinibus en etiam fertur Germania passis,/ et ducis invicti sub pede maesta sedet,/ collaque Romanae praebens animosa securi/ vincula fert illa, qua tulit arma, manu. 1207 Vgl. Ov. Pont. 1, 2, 43–46: somnia me terrent veros imitantia casus,/ et vigilant sensus in mea damna mei./ aut ego Sarmaticas videor vitare sagittas,/ aut dare captivas ad fera vincla manus. Der poeta sieht sich im Traum schon von den Pfeilen und Fesseln der Geten bedroht, leidet allerdings auch darunter, dass sich glückliche Träume von seiner römischen Heimat als Illusionen erweisen. 1208 Fol. B 1 v. 1209 Fol. B 2 r.
3.1.7 Sebastian Glaser (1520–1577): Epistola Ecclesiae
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Handeln fähig ist, die Türken bis ans Schwarze Meer zurückdrängen. Es gilt Krieg zu führen für das Vaterland und den Namen Christi. Jegliche Reue über versäumte Hilfeleistungen wird zu spät kommen. Ecclesia warnt: Sero nimis nostrum deflebis Filia casum, Amplius auxilio cum nequit esse locus, Sero nimis propriam, mea Nata, tuebere vitam, Cum tua membra Getes compede vincta trahet Cumque cadet mecum, recti, pietatis, honesti Virtutis, decoris, relligionis honor, Tunc mihi nequicquam lachrymis precibusque vocanti, Optabis frustra ferre salutis opem.1210 Zu spät wirst du, Tochter, über mein Unglück weinen, wenn kein Ort dir mehr Hilfe bringen kann, zu spät wirst du, meine Tochter, dein eigenes Leben zu verteidigen suchen, wenn der Türke deine Glieder mit einer Fußfessel zusammenschnürt und fortschleift. Wenn gemeinsam mit mir die Wertschätzung des Wahren, der Frömmigkeit, der Ehrbarkeit, der Tugend, des Anstands und der Religion hinfällig wird, dann wirst du vergebens wünschen, mir, die ich ohne Nutzen unter Tränen und Bitten flehe, Hilfe zur Rettung zu bringen.
Es scheint, dass sich Ecclesia in erster Linie als eine Stifterin und Garantin abendländischer Werte und Moralvorstellungen begreift. Ihre Forderungen nach einer Rüstung zum Feldzug bekräftigt sie durch den Hinweis auf eine glanzvolle und vorbildliche, aber bedrohte Zivilisation auf deutschem Boden (195–206).1211 Gute Gesetzgebung, Kunst und Gelehrsamkeit erfreuten sich in den Städten der größten Blüte. Das literarische Lob deutscher Städte ist spätestens seit Enea Silvio Piccolominis viel beachteter, als Pendant zur taciteischen Schrift konzipierten Germania, fest etabliert.1212 Dort stellt der für seine rhetorische Meisterschaft von den Zeitgenossen hochgeschätzte Autor einen eklatanten Gegensatz zwischen Vergangenheit und gegenwärtigem Leben der Deutschen auf, der zugunsten des letzteren ausfällt. Piccolomini, der über 20 Jahre u. a. in der Kanzlei Friedrichs III. in deutschsprachigen Gebieten gearbeitet hatte und zum Kardinal von Siena aufgestiegen war, entwickelte diese Schrift aus einer ursprünglich brieflichen Widerlegung an ihn gerichteter Beschwerden deutscher Würdenträger über die Politik der Kurie.1213 Aus der sumpfigen Heimat der barbarischen heidnischen Germanen soll eine blühende Kulturlandschaft mit herrlichen Städten geworden sein. Nicht nur Handwerk und Wirtschaftszweige aller Art, sondern auch die griechischen und römischen Musen erfreuten sich der besten Pflege. Diese Zivi1210 Ebd. 1211 Fol. B 2 r–v. 1212 Krebs: Ein gefährliches Buch, S. 93 ff. 1213 Ebd., S. 89 ff. Vgl. auch das Kapitel dieser Arbeit 2.1.4.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
lisierung und Urbanisierung verdanke Deutschland allein der Christianisierung, genauer gesagt der römischen Kirche.1214 Implizit lässt Glaser seine Ecclesia an diesen Gedanken anknüpfen, auch wenn diese sich natürlich an keiner Stelle als römische Institution zu erkennen gibt. Mit dem Lob des hohen gegenwärtigen Zivilisationsstandes korrespondiert ein Katalog von warnenden historischen Exempeln für den Untergang berühmter Städte.1215 Offenkundig soll in diesen Versen nicht nur das obligatorische Motiv der Vanitas angeführt werden – zu diesem passte auch die Nennung mythisch-fiktiver Orte wie z. B. Troja –, denn es handelt sich um Stadtstaaten bzw. Weltmächte, welche das Abendland maßgeblich geprägt haben. Athen, die Wiege der Weisheit und Wissenschaft, einst von schönen Tempeln prunkend, diene nach seiner Zerstörung lediglich noch als Refugium für Bauern und Fischer. In der Tat versank die Stadt nach einer wechselvollen Geschichte immer mehr in Bedeutungslosigkeit. In den ersten Jahrhunderten n. Chr. noch von philhellenischen römischen Kaisern prachtvoll ausgestattet und von christlichen Gemeinden bewohnt, erlitt sie 582 eine Plünderung durch die Slawen. Trotz vereinzelter Versuche einiger Gelehrter, die antike Kultur zu bewahren und mit einem christlichen Weltbild in Einklang zu bringen, vermochte sich Athen nicht aus dem Schatten Konstantinopels zu lösen. Im Verlauf des 4. Kreuzzugs (1198– 1204) wurde es erobert und fiel als Herzogtum an die Franken. Nach kurzzeitigen Intermezzi unter der Herrschaft von Florenz, Venedig u. a. geriet es 1456 in die Gewalt der Osmanen. Obgleich der Eroberer Mehmed II. es weitgehend schonend behandelte, ließ sich der fortschreitende Verfall nicht mehr aufhalten.1216 Konstantinopel, die kaiserliche Residenz, so fährt Ecclesia fort, sei zu einer Räuberhöhle geworden und beherberge den monströs gestalteten Riesen Cacus,1217 d. h. den türkischen Sultan.1218 Die Einnahme der ursprünglich als legitime Nachfolgerin Roms betrachteten Metropole am 29. Mai 1453, bekanntlich eine erschütternde Zäsur in der europäischen Geschichte und ein Trauma für die (damals schon zwischen Ost- und Westkirche gespaltene) Christenheit, veranlasste Humanisten sowie volkssprachliche Autoren zur Abfassung massenhafter, meist agita-
1214 Ebd., S. 96 ff. 1215 Fol. B 2 v. 1216 Beat Näf: Art. Athen I. Geschichte und Deutung. In: DNP. Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte. Bd. 13, Sp. 278–291, hier Sp. 279 ff. 1217 Zu dem monströsen Riesen vom Aventin, der als Rinderdieb den Zorn des Herakles herausfordert und so seinen Tod findet, vgl. Liv. 1, 7, 3–12, Verg. Aen. 8, 184–272; Prop. 4, 9, 1–20; Ov. fast. 1, 543–578. 1218 Fol. B 2 v.
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torischer Schriften zum Phänomen des unaufhaltsam vorandringenden Islams.1219 Bereits Enea Silvio Piccolomini stellt in seiner berühmten, oftmals kopierten und sogar zum Muster der Türkenkriegsadhortatio erklärten Rede De Constantinopo litana Clade von 1454 das besondere Charisma der verlorenen Metropole als Hort der Kunst und Wissenschaft heraus, nicht ohne die bittere Klage, wie schändlich die Eroberung gerade durch ein derart kulturfeindliches und lasterhaftes, von den fernen Skythen abstammendes Volk sei.1220 Germania, nun mit dem traditionell ihr zugeschriebenen ehrenden Epitheton bellatrix1221 versehen, soll sich bewähren und mit großen Taten in die würdige Schar ihrer Vorfahren einreihen.1222 Unter diesen früheren Helden können ihr insbesondere diejenigen Kaiser zum Vorbild dienen, welche sich einst auf ihren Kreuzzügen Verdienste um Jerusalem erwarben. Nun hause der Feind nicht mehr in der Ferne, d. h. im Kaukasus, am Don oder in Jerusalem, sondern verwüste bereits Ungarn, um gegen die Herde Christi und alles, was dieser heilig sei, vorzugehen. Es folgt eine für derartige Texte verhältnismäßig kurze Darstellung der Türkengräuel.1223 Zum Schluss ihres Schreibens repetiert Ecclesia noch einmal die Werte, für welche Germania den Kampf aufnehmen soll. Diese entsprechen im Wesentlichen den drei seit Piccolomini systematisch propagierten Kriegslegitimationen Christus, gloria, patria.1224 Die Warnung vor innerer Zwietracht wird unterstrichen durch den Rekurs auf ein altes Fabelmotiv, welches in dem lange Zeit Homer zugeschriebenen parodistischen Epyllion Batrachomyomachia (Froschmäusekrieg) seine eindrucksvollste literarische Ausformung erfahren hat. Dort begin-
1219 Dazu vgl. Erich Meuthen: Der Fall von Konstantinopel und der lateinische Westen. In: Rudolph Haubst (Hrsg.): Der Friede unter den Religionen nach Nikolaus von Kues. Akten des Symposions in Trier vom 13. bis 15. Oktober 1982, Mainz 1984 (= Mitteilungen und Forschungsbeiträge der Cusanus-Gesellschaft, Bd. 16, S. 35–60; Thumser, S. 59–78; Helmrath, bes. S. 91 ff.; Mertens: Europa, id est patria, passim. 1220 Helmrath: Pius II. und die Türken, S. 106 ff. „Das Verdikt des litteras odit, mochte es auch auf Mehmed II. persönlich kaum zutreffen, war die tödlichste Disqualifikation in den Augen des Humanisten; und nur er konnte daher die Katastrophe wirklich nachfühlen, welche die Clades Constantinopolitana für Kunst und Wissenschaft bedeutete.“ S. 109. 1221 Die auszeichnende Anrede Germania bellatrix eröffnet jeweils die betreffenden Heroiden des Sabinus (Ad Germaniam) und des Eustachius von Knobelsdorff. 1222 Fol. B 2 v–B 3 r. 1223 Fol. B 3 r. 1224 Vgl. dazu Mertens: Europa, id est patria, bes. S. 46, 54 f.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
nen aus trivialem Anlass Frosch und Maus einen Streit, von welchem der aus der Höhe zuschauende Falke profitiert.1225 Glaser präsentiert mit seiner Ecclesia-Gestalt eine Heroine, die kein einziges Mal in irgendeiner Weise auf Rom und Papst zu sprechen kommt, aber auch sonst kaum etwas spezifisch Religiöses oder Theologisches äußert – abgesehen höchstens von den als Anspielung auf die Rechtfertigungslehre deutbaren Versen 23–28. Viel eher erscheint Ecclesia als eine abendländisch-christliche Wertegemeinschaft, welche – nicht anders als Germania in den Heroiden anderer Autoren – Christus, Glauben und Vaterland in eher allgemeinen Wendungen beschwört. Es wäre ebenso denkbar gewesen, sie beispielsweise als eine den christlichen Ländern übergeordnete Europa mater auftreten zu lassen.1226 Immerhin bleibt zu beachten, dass seit dem Fall Konstantinopels die Begriffe Christianitas und Europa auf dem Schlachtfeld der realpolitisch-militärische Aktionen weitgehend substituierenden Publizistik in einer nie zuvor gekannten Weise in Umlauf kamen und zunehmend zur Deckung gelangten.1227 Ebenso fraglich erscheint auch die Titulierung des Sendschreibens als ein Hilfsgesuch zugunsten Pannonias. Im Verlauf von 276 Versen sind nur einige verhältnismäßig kurze Passagen jeweils dem Geschick Ungarns gewidmet (47–48, 87–88, 105–124, 246), stattdessen wird mit einem möglichst großen Aufgebot an Vokabular und durchgehenden Wiederholungen die ebenso enge wie konfliktreiche Mutter-Tochter-Beziehung zwischen Ecclesia und Germania beschworen (mater, parens, genitrix, filia, nata). Anders als bei dem aus Kremnitz stammenden Rubigallus sind bei Glaser keine persönlichen Beziehungen zu Ungarn und besondere damit einhergehende patriotische Motive nachweisbar. Auch die Frage, welchen Einfluss diese Heroide eventuell auf den akademischen Werdegang ihres Autors hatte oder haben sollte, muss wegen allzu spärlicher Informationen zu dessen Biographie offen bleiben. So bleibt der Text immerhin ein weiteres Beispiel dafür, dass auch dieser Schüler Melanchthons angesichts der den Protestanten von Kaiser und Papst drohenden Gefahren seine in Wittenberg erworbenen poetischen Fähigkeiten nutzte, um durch die drastische Zeichnung eines äußeren Feindbildes einen Minimalkonsens zu beschwören und sich als loyalen und opferbereiten Verteidiger des christlichen Abendlandes zu inszenieren.
1225 Zur anhaltenden Beliebtheit dieses Fabelmotivs als politische Warnung auch noch im 17. Jahrhundert vgl. R. Seidel: Caspar Dornau, S. 111. 1226 Europa-Heroiden, sei es mit Europa als Schreiberin oder als Adressatin, scheint es leider nicht zu geben. 1227 Mertens: Europäischer Friede und Türkenkrieg, S. 49 ff., bes. S. 52.
3.1.8 Nikolaus Kistner (1529–1583): Querela Germaniae Ad Principes et Status
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3.1.8 Nikolaus Kistner (1529–1583) Querela Germaniae Ad Principes et Status Imperij (nicht datiert) Nikolaus Kistner (Cisnerus) aus Mosbach am Neckar war ein seinerzeit prominenter Vertreter der reformierten Pfälzer Juristenelite, der primär in Heidelberg und Speyer wirkte.1228 Bereits seine Familie genoss in der Kurpfalz ein gewisses Ansehen und konnte teils verwandtschaftliche, teils freundschaftliche Beziehungen zu den Reformatoren Philipp Melanchthon und Martin Bucer aufweisen, mit welchen Kistner während seiner Studienzeit in engeren persönlichen Kontakt treten sollte.1229 Die wesentlichen Informationen zu Kistners Leben verdanken sich den Bemühungen seines Großneffen, des ebenfalls aus Mosbach stammenden Heidelberger Theologieprofessors Quirinus Reuter, der im Jahr 1611 Kistners Schriften postum als OPVSCULA Historica & PoliticoPhilologa publizierte und ihnen eine ebenfalls lateinische Vitae Nicolai Cisneri Brevis descriptio voranstellte.1230
1228 Den Autor in seinen verschiedenen Facetten (akademisch, juristisch, religiös) anhand längerer Texte kennenzulernen, ermöglichen nun Karl Wilhelm Beichert, Wilhelm Kühlmann und Hermann Wiegand in einem aspektreichen neuen Sammelband: Karl Wilhelm Beichert u. a. (Hrsg.): Der Jurist Nikolaus Kistner (1529–1583) und sein literarisches Werk im Kontext des pfälzischen Späthumanismus. Editionen und Untersuchungen. Heidelberg 2018. Das vorliegende Kapitel ist leicht modifiziert bereits in diesem Band erschienen: Teresa Baier: Intereo viribus meis … Nikolaus Kistners Querela Germaniae AD PRINCIPES ET STATUS IMPERII als Mahnung zur Eintracht unter den deutschen Fürsten. In: Ebd., S. 219–241. Weitere Literatur: Reinhard Düchting / Hermann Wiegand: Art. Nikolaus Cisner(us). In: Killy / Kühlmann. Bd. 2, Sp. 433–434; Hermann Wiegand: Nikolaus Kistner (1529–1583) aus Mosbach und der kurpfälzische Humanismus. In: ders.: Der zweigipflige Musenberg. Studien zum Humanismus in der Kurpfalz. Ubstadt – Weiher 2000 (Rhein-Neckar-Kreis. Historische Schriften 2), S. 103–126; Georg Ellinger: Neulateinische Literatur. Bd. 2.; Kurt Schneider: Der kurpfälzische Humanist Nikolaus Kistner aus Mosbach über Konradin von Hohenstaufen. In: Hermann Wiegand (Hrsg.): Strenae Nataliciae. Neulateinische Studien. Heidelberg 2006, S. 193–202; Christoph Strohm: Weltanschaulich konfessionelle Aspekte im Werk Heidelberger Juristen. In: ders. u. a. (Hrsg.): Späthumanismus und reformierte Konfession. Theologie, Jurisprudenz und Philosophie an der Wende zum 17. Jahrhundert. Tübingen 2006 (Spätmittelalter und Reformation 31), S. 325–358; Eike Wolgast: Geistiges Profil und politische Ziele des Heidelberger Späthumanismus. In: ebd., S. 1–25; Christoph Strohm: Konfessionelle Einflüsse auf das Werk reformierter Juristen – Fragestellungen, methodische Probleme, Hypothesen. In: ders. / Heinrich de Wall (Hrsg.): Konfessionalität und Jurisprudenz in der frühen Neuzeit. Berlin 2009 (Historische Forschungen 89), S. 1–32. 1229 Die Familie war in Südwestdeutschland u. a. mit den Schwarzerdts aus Bretten, den Eltern bzw. Vorfahren Melanchthons, bekannt, ein Familienmitglied aus Mosbach war Elisabeth Silbereisen, die Martin Bucer heiraten sollte. Wiegand: Nikolaus Kistner, S. 104 f. 1230 Ebd., S. 103; K. Schneider: Der kurpfälzische Humanist Nikolaus Kistner, S. 193.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
Nikolaus Kistner kam am 24. März 1529 in Mosbach zur Welt und begann dort seine Schullaufbahn mit dem Erwerb elementarer Lateinkenntnisse.1231 Mit 15 Jahren besuchte er das Collegium Dionysianum der Heidelberger Hochschule, wurde 1545 Bakkalaureus und erwarb 1547, im Alter von 18 Jahren, mit dem Titel eines Magister Artium die Lehrbefähigung an der Artistenfakultät.1232 Zunächst unterrichtete er dort aristotelische Philosophie und Mathematik.1233 Kurze Zeit später reiste er nach Straßburg, das zu dieser Zeit zu einer Hochburg protestantisch-humanistischer Gelehrsamkeit avanciert war und Schüler aus ganz Europa anzog. Insbesondere Johannes Sturm, stets mit der Weiterentwicklung des Schulwesens befasst und damals Rektor eines Gymnasiums, das später die Rechte einer Universität erhalten sollte, faszinierte seine Anhänger mit seinem Konzept einer docta et eloquens pietas, welches stark bibelorientierte, protestantische Frömmigkeit mit antikem Bildungswissen zu kombinieren suchte. Dort verkehrte Kistner auch mit Bucer, der die Position eines Vermittlers zwischen Lutheranern und Reformierten in der Abendmahlsfrage einnahm.1234 1548, als das für die protestantische Seite sehr nachteilig ausfallende Interim in Straßburg eingeführt wurde und Bucer neue Wirkungsmöglichkeiten als Reformator in England wahrnahm, unterrichtete Kistner für kurze Zeit wieder an der Heidelberger Universität. Einem Stipendium des Kurfürsten Friedrich II. verdankte er die Möglichkeit, seine Studien bei Philipp Melanchthon in Wittenberg fortzusetzen. 1552 fungierte er wieder in Heidelberg als Professor für Ethik mit dem Fokus auf Aristoteles und Cicero.1235 Schon ein Jahr später vertrieb ihn der Ausbruch der Pest aus Heidelberg; gemeinsam mit Freunden und Gefährten aus angesehenen Familien unternahm er seine peregrinatio academica, eine Bildungsreise nach Frankreich und Italien, und startete von dort aus seine juristische Laufbahn.1236 Kistner musste sich bereits dem reformierten Glauben zugewandt haben; er besuchte Calvin in Genf und zeigte sich von dessen Frömmigkeit und Bildung beeindruckt. Fortan konnte er als Vertreter einer auf Ausgleich bedachten, gemäßigt reformierten Richtung mit stark humanistischem Einschlag gelten.1237 Nach Aufenthalten u. a. in Bourges erwarb er den Titel eines Dr. juris utriusque in Pisa; für seine aufgeschlossene Denkart spricht, dass er die fortschrittliche französische Rechtsaus-
1231 Ausführlich dazu Wiegand: Nikolaus Kistner, S. 105. 1232 Ebd.; K. Schneider: Der kurpfälzische Humanist Nikolaus Kistner, S. 193. 1233 Wiegand: Nikolaus Kistner, S. 105. 1234 Ebd., S. 106. 1235 Ebd. 1236 Wiegand: Nikolaus Kistner, S. 106 ff.; K. Schneider: Der kurpfälzische Humanist Nikolaus Kistner, S. 193. 1237 Strohm: Weltanschaulich konfessionelle Aspekte, S. 333 f.
3.1.8 Nikolaus Kistner (1529–1583): Querela Germaniae Ad Principes et Status
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legung, den mos Gallicus, der bei mittelalterlichen Traditionen verharrenden italienischen, dem mos Italicus, vorzog.1238 Darüber hinaus blieb Kistner seinen übrigen gelehrten Neigungen treu, indem er französische Städte wie Angers, Poitiers und La Rochelle bereiste, um den neuen pfälzischen Kurfürsten Ottheinrich bei dessen Lieblingsprojekt, dem Aufbau der Bibliotheca Palatina, zu unterstützen. Auch vertiefte er seine Kenntnis der alten Sprachen bei renommierten Gelehrten in Florenz.1239 Als er 1559 nach Heidelberg zurückkehrte, war auch dieses bereits von den religionspolitischen Neuerungen im Reich betroffen, insofern als die jeweils regierenden pfälzischen Kurfürsten in ihrem Territorium konfessionelle Wechsel vornahmen. Unter dem calvinistischen Friedrich III. wurde Kistner Professor für Zivilrecht und kurfürstlicher Rat (consiliarius). 1563 stieg er zum Rektor der Heidelberger Universität auf.1240 Den Höhepunkt seiner Karriere dürfte seine Berufung als nichtadliger Beisitzer an das Reichskammergericht in Speyer, die bedeutendste Rechtsinstanz des Reiches, im Jahre 1567 dargestellt haben. Als 1580, fast 14 Jahre später, Kurfürst Ludwig VI., der das Luthertum in Heidelberg restituierte, ihn zurückberief, ließ Kistner sich Freiheit in der Religionsausübung zusichern, musste seinerseits aber dem Fürsten garantieren, dass er in einer grundlegenden theologischen Frage, dem Abendmahlsverständnis, zu Kompromissen mit den Lutheranern bereit war.1241 Von da an wirkte er für die letzten drei Jahre seines Lebens als nichtadliger Vizepräsident des Hofgerichts an der Spitze der kurpfälzischen Justizverwaltung und zudem als außerordentlicher Professor der Rechte. Über diese letzte Etappe seines Lebens ist wenig überliefert.1242 Er verstarb am 6. März 1583 und wurde unter großer öffentlicher Anteilnahme beigesetzt.1243 Nikolaus Kistner hat sich entsprechend dem Ideal der humanistischen Universalgelehrsamkeit in fast allen zu seiner Zeit relevanten Textgattungen betätigt
1238 Wiegand: Nikolaus Kistner, S. 106 f. 1239 Ebd., S. 108. 1240 Ebd., S. 108; K. Schneider: Der kurpfälzische Humanist Nikolaus Kistner, S. 193. 1241 Strohm: Konfessionelle Einflüsse, S. 21 f.; Strohm: Weltanschaulich konfessionelle Aspekte, S. 333; Wiegand: Nikolaus Kistner, S. 108 f. Kistners schriftliche Erklärung bietet mit Übersetzung und Erläuterung Hermann Wiegand: Nikolaus Kistners Bekenntnis vom Herrenmahl 1580. In: Karl Wilhelm Beichert u. a. (Hrsg.): Der Jurist Nikolaus Kistner (1529–1583) und sein literarisches Werk im Kontext des pfälzischen Späthumanismus. Editionen und Untersuchungen. Heidelberg 2018, S. 209–218. 1242 Wiegand: Nikolaus Kistner, S. 108 f.; K. Schneider: Der kurpfälzische Humanist Nikolaus Kistner, S. 193. 1243 Wiegand: Nikolaus Kistner, S. 109.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
und kann somit als Polyhistor gelten. Er widmete sich insbesondere der Jurisprudenz, der Geschichtsschreibung und der gelehrten Poesie.1244 Ein großes Anliegen Kistners war die Reform des Gerichts, er verfasste eine Reichskammergerichtsordnung sowie Kommentare zu den römischen Institutionen und Pandekten.1245 Einen hohen Stellenwert hat bei ihm auch die Historiographie (im weiteren Sinne): In teilweise umfangreichen akademischen Festreden, die in sein Œvre eingegangen sind, würdigt er die großen Herrschergestalten des Mittelalters wie Otto III., Friedrich II. und Konradin, den unglücklichen letzten Staufer, der schon in jungen Jahren durch Feindeshand Herrschaft und Leben verlor. Durchweg setzt Kistner auch als Protestant Akzente, indem er mit Vorliebe und nicht ohne deutliche Parteinahme Konflikte zwischen deutschen Herrschern und den Päpsten schildert. Wo immer es möglich ist, z. B. in Widmungsvorreden, verweist auf er verwandtschaftliche Verbindungen der Staufer mit den pfälzischen Wittelsbachern, also seinen eigenen Kurfürsten.1246 Auch um die Chronik des bayerischen Geschichtsschreibers Johannes Aventin machte er sich verdient, indem er diese papstkritisch konnotierte Schrift, die zuvor entweder nur in Auszügen oder in einer entschärften lateinischen Version erschienen war, 1580 in einer verbesserten Fassung publizierte.1247 Kistner verfolgt damit, wie weithin unter Humanisten üblich, einen patriotisch-didaktischen Zweck, wenn er in seiner Widmungsvorrede die Fürsten ausdrücklich zur Beschäftigung mit Geschichte und Gebräuchen der von ihnen beherrschten Länder anhält.1248 Ebenso wie das historische bedarf auch das poetische Werk des seinerzeit hochgeschätzten Juristen noch einer Wiederentdeckung und weiteren Aufbereitung durch die Forschung, wie es kürzlich ja schon in Beicherts Sammelband unternommen wurde. Georg Ellinger bescheinigt Kistner insgesamt nur einen äußerst geringen dichterischen Rang und kann nur wenigen seiner Erzeugnisse etwas abgewinnen.1249 Immerhin macht er als ein durchgehendes Motiv der weithin als schulmeisterlich-pedantisch und „hölzern“ beurteilten Gedichte die Klage über die Not der gegenwärtigen Zeit aus.1250 Eine wesentlich günstigere Beurteilung und größere Würdigung erfährt der Autor – freilich in einem
1244 Ebd., S. 109 ff.; K. Schneider: Der kurpfälzische Humanist Nikolaus Schneider, S. 193 f. 1245 Art. Cisner(us) (Killy / Kühlmann), Sp. 433; Wiegand: Nikolaus Kistner, S. 110. 1246 Wiegand: Nikolaus Kistner, S. 110, bes. S. 119 f. Die Reden sind noch wenig bekannt; einen Ausschnitt der Rede auf Konradin hat K. Schneider: Der kurpfälzische Humanist Nikolaus Schneider in deutscher Übersetzung vorgelegt. 1247 A. Schmidt: Vaterlandsliebe und Religionskonflikt, S. 131. 1248 Ebd., S. 132. 1249 Ellinger: Neulateinische Literatur, S. 243 ff. 1250 Ebd.
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nicht unerheblichen zeitlichen Abstand – durch Hermann Wiegand.1251 Einige von Kistners poetischen Produkten finden in Nachschlagewerken gelegentlich Erwähnung. Der Weihnachtshymnus De Die natali Domini IESV CHRISTI schildert in über 420 Hexametern das Geheimnis der Menschwerdung Gottes.1252 Ovids Elegie Amores 3, 1 bot die Inspiration zu der allegorisch gestalteten Traumvision Occasio arrepta et neglecta, in welcher die moralischen Größen Occasio (Gelegenheit) und Metanoia (Reue) als machtvolle Göttinnen auftreten und den furchtsam staunenden Dichter zu sinnvollem Gebrauch seiner Lebenszeit mahnen.1253 Am bekanntesten ist vielleicht das 1551 publizierte, prosimetrisch abgefasste Idyllion De veris et autumni comparatione. Es stellt thematisch in eher volkstümlich-mittelalterlicher, formal eher in bukolischer, also antik-humanistischer Tradition ein Streitgespräch zwischen zwei Hirten dar, ob der Frühling oder der Herbst das größere Lob verdiene. Erwartungsgemäß fällt die Entscheidung zugunsten des ersteren aus. Seine Verbreitung verdankt das Idyllion nicht zuletzt einer deutschen Übersetzung durch einen Zeitgenossen Kistners, den Wormser Schulmeister Caspar Scheidt.1254 Das spektakuläre Ereignis einer gräflichen Doppelhochzeit auf dem Heidelberger Schloss findet seinen poetischen Niederschlag in einem umfangreichen Epithalamium von 1552. Ein Auszug daraus, welcher den anbrechenden Morgen mit dem allseits bejubelten Einzug adliger Reiter schildert, liegt mit Übersetzung in der Humanismus- Anthologie Parnassus Palatinus vor,1255 den gesamten Text mit Übersetzung und vorangestellter Inhaltsübersicht bietet Karl Wilhelm Beichert in seinem Sammelband.1256 Aber auch zu der politischen Poesie seiner Zeit hat Kistner einen Beitrag geleistet mit der lediglich in den OPVSCVLA vorliegenden allegorischen Heroide Querela Germaniae AD PRINCIPES ET STATUS IMPERII.1257 Die Klage einer per-
1251 Wiegand: Nikolaus Kistner, S. 111 ff., bes. S. 112. 1252 Ebd., S. 116 f. 1253 Ebd., S. 118 f. 1254 Ebd., S. 112 f. Der versifizierte Teil des Idyllion ist nun mit Übersetzung und Einleitung greifbar in Harry C. Schnur, Hermann Wiegang und Karl Wilhelm Beichert. In: Karl Wilhelm Beichert u. a. (Hrsg.): Der Jurist Nikolaus Kistner (1529–1583) und sein literarisches Werk im Kontext des pfälzischen Späthumanismus. Editionen und Untersuchungen. Heidelberg 2018, S. 133–160. 1255 Wilhelm Kühlmann / Hermann Wiegand (Hrsg.): Parnassus Palatinus. Humanistische Dichtung in Heidelberg und der alten Kurpfalz. Lateinisch-Deutsch. Heidelberg 1989, S. 41–47. 1256 Karl Wilhelm Beichert: Multimediale Festkultur des Vorbarock und das Heidelberger Schloss. Kistners episch-artistische „Beschreibung“ der pfälzischen Fürstenhochzeit des Jahres 1551. In: Karl Wilhelm Beichert u. a. (Hrsg.): Der Jurist Nikolaus Kistner (1529–1583) und sein literarisches Werk im Kontext des pfälzischen Späthumanismus. Editionen und Untersuchungen. Heidelberg 2018, S. 33–132. 1257 Kistner: Opuscula, S. 114–117.
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sonifizierten Germania erscheint hier nicht, wie sonst üblich, in den Distichen der von Ovid zur Vollendung geführten Liebeselegie – die Heroide ist eine spezielle Form davon –, sondern in einem Metrum der horazischen Epodendichtung. Mit der Bürgerkriegsmotivik gemahnt sie schon auf den ersten Blick an Horaz’ siebte und sechzehnte Epode, mit ihren Verspaaren, bestehend aus daktylischem Hexameter und jambischem Dimeter, steht sie der letzteren näher. Der Umfang beschränkt sich – auch dies eher ungewöhnlich – auf 90 Verse, Datierung und Entstehungsanlass bleiben im Dunkeln. Wie bei zahlreichen anderen Autoren werden auch hier die aus politischen und konfessionellen Motiven zerstrittenen Reichsfürsten zur Eintracht und zum gemeinsamen Kampf gegen die drohenden Osmanen angehalten. Zunächst springen die zahlreichen rhetorischen Fragen ins Auge. Germania verzichtet darauf, sich explizit als schreibende Heroine mit den üblichen äußeren Attributen (Schreibrohr, tränenbeflecktes Papier u. ä.) und der Sprache der captatio benevolentiae (Bitte um Kenntnisnahme der Schrift, Bitte um Nachsicht für schlechte Schrift und Schreibfehler u. ä.) einzuführen. Der Jamben-Gattung entsprechend setzt sie mit schroffen Klagen, mehr noch, mit einer insistierend wiederholten Form des Interrogativpronomens qui ein,1258 indem sie in zeittypischer pathologischer Metaphorik nach einer Medizin für ihre zahllosen Leiden fragt.1259 Ebenso verlangt sie nach einem Wechsel des Geschicks, das sich ihr als so ungünstig erwiesen habe. Ein Ende ihres Unglücks ist vorerst nicht abzusehen, so dass sie unter ihrer Last schon zusammenzubrechen glaubt. Imperativisch formulierte Verse liefern eine kurze Beschreibung ihres Äußeren nach: Aspicite extremam maciem, pallentiaque ora Et corpus hoc elanguidum. Omnia funesto pestis perculsa veneno Arere membra cernitis. Pluribus haud unquam quaesiti ab origine sceptri Afflicta casibus fui.1260
1258 Quae mihi, quae tandem dabitur medicina dolorum? Schon hier zeigt sich ein (wenn auch noch schwächerer) Anklang an. Hor. epod. 7, 1: quo, quo scelesti ruitis? (Wo, wo treibt ihr hin, ihr Frevler?) Übersetzung aus Horaz: Oden und Epoden. Lateinisch und deutsch. Nach der Übersetzung von Will Richter. Überarbeitet und mit Anmerkungen versehen von Friedemann Weitz. Darmstadt 2010. 1259 Vgl. auch Nathan Chyträus: Germania degenerans 10–11. In: Lateinische Gedichte deutscher Humanisten. Ausgewählt, übersetzt und erläutert von Harry C. Schnur. 3., durchgesehene, bibliographisch und um ein Nachwort ergänzte Auflage. Mit einem Nachwort zur dritten Auflage von Hermann Wiegand. Stuttgart 2015, S. 56–57: o miseram patriae faciem! O miseranda! veternum/ auferet ex oculis quae medicina tuis? (Vaterland, ach! Welch erbärmlich Gesicht, du Arme! Und gibt es/ wohl Medizin, die solch schlaffe Vergreisung dir nimmt?) 1260 Kistner: Opuscula, S. 814.
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Schaut meine völlige Auszehrung an, mein erbleichendes Gesicht und meinen entkräfteten Leib. Ihr seht, wie alle meine Glieder vom tödlichen Gift des Verderbens verdorren. Von Beginn meiner Herrschaft an bin ich kaum jemals von zahlreicheren Schicksalsschlagen zu Boden gestreckt worden.1261
Der Hinweis auf diesen Zustand evoziert einerseits das Bild der leidenden Heroine, enthält andererseits vielleicht auch vage Anklänge an den Topos der lasterhaften alten Vettel, wie er in Nathan Chythräus’ Germania degenerans – ihrerseits basierend auf Horaz’ aischrologischen Epoden 8 und 12 – am schärfsten zum Ausdruck kommt. Der Hinweis auf die Blässe und (geistig-körperliche) Erschütterung versteht sich zwar ohne weiteres aus der Situation, gewinnt jedoch noch an Gewicht, wenn man die Kistnersche Junktur pallentiaque ora […] per culsa membra mit einer ähnlichen horazischen vergleicht. tacent et albus ora pallor inficit mentesque perculsae stupent.1262 Nein, sie schweigen. Blässe überzieht ihr Angesicht; ihr Herz ist starr und tief betroffen.
Die Lage stellt sich bei Horaz so dar, dass ein nicht näher genannter Sprecher seine im Blutrausch aufeinander losgehenden Mitbürger mit der verzweifelten Frage konfrontiert, welche böse Macht – blinde Wut (furor caecus), eine stärkere Gewalt (vis acrior) oder das Bewusstsein einer (ererbten?) Schuld (culpa) – sie dazu verleitet, und energisch eine Antwort einfordert. Eine (verbale) Antwort bleiben die Angesprochenen schuldig, eine plötzlich eintretende Erstarrung und Blässe offenbart aber zumindest ein Schuldbewusstsein. Zudem gilt der Anflug von extremer Blässe in der Dichtung Horaz’ und Vergils des öfteren als Hinweis auf den nahen Tod der betreffenden (meist zu tragischer Fallhöhe erhobenen) Figur.1263 Das bleiche Gesicht und die schwer getroffenen, erschütterten Glieder (perculsa membra) der – nach eigenen Worten – unschuldig leidenden Kistnerschen Heroine stehen hier den schuldbewusst erbleichenden Gesichtern und den schwer getroffenen, erschütterten Herzen (perculsae mentes) der angesprochenen Mitbürger bei Horaz gegenüber. Erst dann bringt Germania den moralischen Aspekt in Form einer scharfen Anklage direkt zur Sprache:
1261 Übersetzung T. B. 1262 Hor. epod. 7, 15–16. 1263 Theodor Plüsz: Das Jambenbuch des Horaz im Lichte der eigenen und unserer Zeit. Leipzig 1904, S. 46 ff., bes. S. 47, Anm. 1.
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Quod facinus, quod crimen abest, quae caeca libido Non intulit contagia?1264 Welche Untat, welches Verbrechen fehlt noch, mit welchen Krankheiten hat blinde Leidenschaft uns noch nicht heimgesucht?
Hier ist, selbst in der Verszahl übereinstimmend, ein hinreichend deutlicher Bezug auf die siebte Epode des Horaz gegeben: Furorne caecus an rapit vis acrior An culpa? Responsum date.1265 Treibt euch ein blinder Wahn? Eine höhere Gewalt? ein (ungesühntes) Verbrechen? Gebt Antwort!
Blinde Wut und Leidenschaft reißen die Angesprochenen zu Verbrechen hin, der Vorwurf der Blindheit ist entscheidend. Die von Kistners Germania beklagte caeca libido entspricht am ehesten dem handschriftlich überlieferten furor caecus des Horaz. Verbrechen, blinde Leidenschaft und Ansteckungen mit Krankheit werden erst in den beiden nächsten Versen explizit als Auswirkungen eines Krieges genannt (saeva crudelis vulnera Martis). Mit der geläufigen Formel der praeteritio non referam1266 setzt die in Germania-Heroiden übliche Rekapitulation der leidvollen jüngeren und ruhmreichen älteren Vergangenheit ein. Weder die wiederholten Angriffe der Römer einstmals noch diejenigen der Türken aus den letzten Jahren bedürfen, da sie allgemein bekannt sind, einer ausführlichen Aufzählung. Anders verhält es sich mit Ereignissen, die in der folgenden Passage Erwähnung finden: Quae mihi damna mei tulerint, perpendite nati Annis abhinc jam proximis. Quid memorem infandam caedem, qua concita motu Me rustica imbuit manus. Quid tot facta nuper procerum certamina narrem Queis mutuo se vellicant? Nunc quoque ne rerum pars intentata mearum Supersit ulla a cladibus. Omnia civili miscet Baellona tumultu: Nullus vacat bello locus: Undique nunc dira rabie nunc ense corusco Sunt rupta pacis vincula.
1264 Kistner: Opuscula, S. 815. 1265 Hor. epod. 13–14. 1266 Kistner: Opuscula, S. 815.
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Nunc ego cognato passim madefacta cruore, Intereo viribus meis.1267 Bedenkt, meine Söhne, welche Schäden mir die Meinen erst in den letzten Jahren zugefügt haben. Was soll ich das unsägliche Blutbad erwähnen, mit welchem mich eine in einem Aufruhr aufgehetzte Schar von Bauern getränkt hat? Was soll ich von den vielen erst neulich verübten Kämpfen der Fürsten erzählen, mit welchen sie sich gegenseitig herausfordern? Damit auch jetzt kein Teil meines Besitzes unangetastet und von Unheil verschont bleibt, verwickelt Bellona alles in einen Bürgerkrieg. Kein Ort bleibt frei von Krieg. Von allen Seiten sind bald durch schauerliche Raserei, bald durch ein blitzendes Schwert die Bande des Friedens zerrissen. Nun gehe ich, überall von Verwandtenblut getränkt, durch meine eigenen Kräfte zugrunde.
Unermesslich sind die Schäden, welche Germania von den eigenen Angehörigen empfangen hat, dies sollen die hier nun explizit als Söhne (nati) angesprochenen Fürsten bedenken. Mit dem Stichwort rustica manus kommt kurz der vor allem in Südwestdeutschland entbrannte Bauernkrieg von 1525 zur Sprache; mit der einseitigen Beschuldigung der gegen ihre Unterdrückung rebellierenden Landbevölkerung entspricht Kistners Heroine der strikt auf Standesunterschiede pochenden Haltung, die weithin zeittypisch war und insbesondere in sozial privilegierten protestantischen Kreisen gepflegt wurde. Bereits Georg Sabinus, der Archeget der Germania-Heroiden, hatte in seinem Sendschreiben an Erzherzog Ferdinand diesem Ereignis einige Verse gewidmet,1268 ihm folgte darin Nikolaus Reusner. Das Motiv der bezwungenen rebellischen Sklaven findet sich schon in Horaz’ sechzehnter Epode, wo der Sprecher seinen Adressaten die aemula virtus Capuae und Spartacus acer1269 in Erinnerung ruft. Die eigentliche Gefahr aber sieht Kistners Germania in den nicht näher spezifizierten Auseinandersetzungen der Reichsfürsten (certamina procerum), welche sie im Folgenden in allgemein gehaltenen Wendungen bitterlich beklagt. Kaum ein Wort gibt dem Leser Aufschluss über einen bestimmten Konflikt, sei er rein dynastischer, sei er konfessionspolitischer Art. Kistner, der im Laufe mehrerer Jahre immerhin die nicht immer spannungsfrei verlaufenden Konfessionswechsel der Kurpfalz miterlebte, meidet geflissentlich alles, was nach irgendeiner Parteinahme aussehen könnte, und macht lediglich Akteure wie Mars und Bellona für das Unheil verantwortlich. Diese Gestalten, einstmals als Götter mit eigenen Kultstätten verehrt, hatten schon bei den Römern ihre einstige Bedeutung eingebüßt und dienten seither in
1267 Ebd. 1268 Poemata Georgii Sabini: [Germania ad Caesarem Ferdinandum], S. 15: serviles acies sumtis heu vidimus armis/ nuper et agrestes rure coisse manus. 1269 Hor. epod. 16, 5.
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der Dichtung bloß noch zur metonymischen Ausschmückung abstrakter Begrifflichkeiten.1270 Wie Germania beklagt, sind überall die Bande des Friedens zerrissen, sie selbst ist vollständig mit Blut getränkt und geht durch ihre eigenen Kräfte zugrunde. Der jambische Dimeter Intereo viribus meis alludiert die horazischen Verse urbs haec periret dextera1271 sowie suis et ipsa Roma viribus ruit1272 und stellt so in der Tradition der (vor-)augusteischen politischen Poesie das Resümee der selbstzerstörerischen Handlungen der Bürger dar. Die implizite Dialektik der Allegorisierung Deutschlands zeigt sich darin, dass Germania – grammatikalisch wie inhaltlich – sowohl Subjekt als auch Objekt der Zerstörung ist. Sie tritt den rasenden Bürgern als Bittflehende und Mahnerin gegenüber und verkörpert doch zugleich auch deren Kollektiv. Es folgen scharfe rhetorische Fragen, durch wiederholtes quo eingeleitet: Heu facinus, heu grande nefas, quo maxima nostrae Virtutis abijt gloria. Quo laudata fides, quo fama vetusta virorum Nostri recessit finibus?1273 Ach, welche Untat, ach, welch großer Frevel, wohin ist der gewaltige Ruhm meiner Kampfkraft geschwunden? Wohin ist die gepriesene Treue, wohin der alte Ruhm der Männer aus meinem Gebiet entwichen?
Hier findet ein doppeltes intertextuelles Verweisspiel statt. Kistners Germania rekurriert hier auf den Beginn von Georg Sabinus’ paränetischer Elegie Ad Ger maniam und zugleich natürlich auch auf deren Modell, das berühmte quo, quo scelesti ruitis.1274 Quo tua bellatrix abijt Germania virtus? Dissimilis nostro tempore facta tui.1275
1270 Als treibende Kraft für einen Bürgerkrieg fungiert Bellona in Plutarch: Sulla 9,4. Dem Feldherrn, der noch Bedenken trägt, auf Rom zu marschieren, erscheint im Traum eine geharnischte Göttin, die sich als (Luna, Minerva oder) Bellona zu erkennen gibt. Sie verspricht, alle Feinde Sullas mit ihrem Donnerkeil zu erschlagen. Dieser eröffnet am folgenden Morgen den Angriff auf Rom, wobei er, wie der Autor betont, nicht etwa seinem klaren Verstand, sondern wilder Leidenschaft gehorcht und vor lauter Fixierung auf den Feind, keine Rücksicht mehr nimmt auf Freunde, Verwandte und Unschuldige. 1271 Hor. epod. 7, 10. 1272 Ebd. 16, 2. 1273 Kistner: Opuscula, S. 815. 1274 Hor. epod. 7, 1. 1275 Georg Sabinus: Ad Germaniam, V. 1–2. In: Kühlmann: Humanistische Lyrik, S. 526–527, 1262–1264 (Kommentar).
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Wohin entschwunden ist deine Tapferkeit, kriegsberühmte Germania? Unähnlich bist du dir selbst geworden in dieser Zeit.
Daran wird deutlich, wie sehr sich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts die Gattung der Germania-Heroide bereits etabliert hatte und dass für die Autoren jener Zeit auch humanistische Poeten, beinahe oder tatsächlich noch Zeitgenossen und nur wenige Jahrzehnte vor ihnen schreibend, eine gewissermaßen „klassische“ Geltung erlangt haben konnten.1276 In der spätestens seit Sabinus’ Heroide üblichen olim/quondamnunc-Topik kontrastiert nun Kistners Germania die ruhmreiche Vergangenheit mit der unerträglichen Gegenwart. Eingeleitet durch einen mehrere Verse umfassenden Relativsatz zählt sie alle äußeren Feinde auf, welche sie nicht zu bezwingen vermochten: Quam nec Roma potens; multis tentata1277 triumphis Nec perdiderunt Itali. Aemula nec regni vicini Lilia Galli Novisque rebus dediti. Nec Scythiae gelidis Hunnus demissus ab oris Aut acer armis Vandalus. Nec Mahometigenae dura obsidione prementes Urbis Viennae moenia: Hanc fera nunc vastat devoti sanguinis aetas In viscera irruens sua.1278 Den Ruhm, welchen weder das mächtige, durch viele Triumphe erprobte Rom noch die Italiener zunichte machen konnten noch die konkurrierenden Lilien des benachbarten Frankreichs, das (immer) auf Umsturz sinnt, noch der von den eisigen Küsten Skythiens geschickte Hunne noch der waffengewaltige Vandale noch die Mohammedaner, welche die Mauern Wiens durch eine hartnäckige Belagerung bedrängten, diesen Ruhm zerstört nun ein wildes Geschlecht von verfluchtem Blut, indem es gegen seine eigenen Eingeweide wütet.
1276 Mit demselben doppelten Verweis auf die beiden genannten Gedichtanfänge von Horaz und Sabinus eröffnet auch Nikolaus Reusner 1566 seine umfangreiche Heroide Germania ad Divum Maximilianum […] caeterosque sacri Imperij illustrissimos Electores ac Principes, fol. C 1 r: QVo mea quo tandem virtus? operosaque cessit/ Gloria? quo forti milite partus honor? Auch wenn aus den biographischen Angaben zu Kistner und Reusner nicht klar hervorgeht, wem die Priorität in der allegorischen Germania-Dichtung zukommt, liegt es nahe, Reusner, der sich bekanntlich als Bewunderer Kistners zu erkennen gibt, auch in dieser Hinsicht in den Spuren des eine Generation Älteren wandeln zu sehen. 1277 Im Druck: dentata. 1278 Kistner: Opuscula, S. 815–816.
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Auch diese Passage ist einer aus der sechzehnten Epode strukturell und teils im Wortlaut nachgebildet. Quam neque finitimi valuerunt perdere Marsi Minacis aut Etrusca Porsenae manus, aemula nec virtus Capuae nec Spartacus acer novisque rebus infidelis Allobrox, nec fera caerulea domuit Germania pube parentibusque abominatus Hannibal, impia perdemus devoti sanguinis aetas ferisque rursus occupabitur solum1279 Es zu zerstören waren weder die marsischen Nachbarn stark genug noch das Etruskerheer des drohenden Porsenna noch das eifersüchtig-kriegerische Capua noch Spartacus in seiner Wut noch die Allobroger mit ihrer revolutionären Tücke; auch das wilde Germanien hat es nicht mit seinen helläugigen jungen Männern überwunden, auch nicht Hannibal, der unseren Vätern den Untergang geschworen hatte. Doch wir, ein ruchloses Geschlecht verfluchten Blutes, werden es verderben, und unser Land wird wieder Heimat wilder Tiere sein,
Germania vermochte sich gegen Römer, Franzosen und Türken zu behaupten, bis die eigenen Bürger (fera […] devoti sanguinis aetas) ihr Inneres verwüstet haben. Der Sprecher der Epode referiert die Siege Roms zunächst über die benachbarten Feinde in Italien, dann über Allobroger, Germanen und Hannibal, bis ebenfalls die eigenen Bürger (impia […] devoti sanguinis aetas) den heimischen Boden so zurichten, dass er gerade noch wilden Tiere zur Wohnstätte dienen kann. Interessanterweise findet sich in dieser eben zitierten Aufzählung bei Horaz auch der explizite Hinweis auf die wilde Germania mit ihrer blauäugigen Jugend(schar) (fera caerulea […] Germania pube),1280 freilich als machtlos drohende Feindin, so dass Kistner (oder ein ähnlich schreibender deutscher Humanist) diese Behauptung aufgreifen und ins Gegenteil verkehren konnte. Kistners Germania, widerstandsfähig gegenüber allen äußeren Feinden der Vergangenheit, befürchtet die Verwüstung ihres Inneren von den eigenen Bürgern. Unter diesen Umständen muss sie die Bedeutung all ihrer langjährigen Ehren und Privilegien, darunter der 1279 Hor. epod. 16, 3–10. Auch hier wieder eine Kontrafaktur von Reusner: Germania ad Maxi milianum & Principes, fol. A 2 v: Quam neque Romani valuerunt perdere fortes,/ Vexarunt longo qui mea regna metu./ Aemula nec virtus Drusi, nec Manlius acer,/ Carbonisque manus sanguinolenta feri./ Scaurus & hostili non fregit strenuus ense/ Militis aut robur Vare superbe tui./ Nec Venetus domuit numerosa pube Senatus,/ Nec vicit Galli vis truculenta levis. Anders als Kistner transformiert Reusner die horazische Vorlage jedoch in die elegischen Distichen der eigentlichen ovidischen Heroide. 1280 Vgl. auch die in der Folgezeit geradezu topisch gewordene Schilderung der Germanen in Tac. Germ. 4: truces et caerulei oculi, rutilae comae, magna corpora et tantum ad impetum valida.
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Kaiserwürde, in Frage stellen. Anscheinend umsonst hat sie zahlreiche Gefahren zu Land und zur See auf sich genommen, da nun das eigene Volk (mea gens) ihr den Tod zu bringen droht.1281 Den Adressaten bescheinigt sie Verblendung, welche sie in andauernde Zerwürfnisse untereinander verwickelt. Lieber sollen sich diese gegen die Türken erheben – hier wie auch sonst oftmals bei den Humanisten in antikisierender Diktion als Geten und Skythen bezeichnet –, der Zeitpunkt zum rechten Krieg wird noch kommen. Es folgt das für Germania-Heroiden konstitutive Stereotyp der Türkengräuel mit dem Zweck, die Angesprochenen unter drastischster Ausmalung der Gefahr zum Handeln zu bewegen: Adveniet justum belli (ne accersite) tempus Vestrisque majus viribus. Cum vestros rapidi Dacorum e gente latrones Agros & urbes appetent: Quorum barbaries toto memoratur in orbe Immanitasque pestilens. Qui teneros rapiunt natos a pectore matrum In frusta eos ut dissecent. Qui templa & magnis constructas sumtibus urbes In pulverem disijciunt.1282 Es wird schon die Zeit zum gerechten Krieg kommen – beschwört sie nicht herauf! –, eure Kräfte übersteigend, wenn die wilden Räuber vom Volk der Daker eure Äcker und Städte angreifen werden, sie, deren Rohheit und verderbliche Grausamkeit auf dem ganzen Erdkreis erzählt wird, sie, die zarte Kinder von der Brust der Mütter reißen, um sie in Stücke zu schneiden, sie, die Kirchen und mit großem Aufwand erbaute Städte in Schutt und Asche legen.
Germania schließt ihren Brief mit wiederholten inständigen Bitten um Beilegung von Streitigkeiten und um Beistand gegen die Türken.1283 Dabei sieht sie nur zwei Möglichkeiten für die Zukunft. Entweder werden die Adressaten den Feind über den eisigen Don in seine Sümpfe zurückjagen oder dieser wird sie, Germania, besiegen und in die Knechtschaft verschleppen. Mit Nikolaus Kistner ist unter den Verfassern von Germania-Heroiden auch ein Calvinist vertreten. Die konfessionelle Haltung des Autors schlägt sich aber an keiner Stelle sichtbar nieder. Religiöse Bezüge, selbst sogar eine durchweg übliche allgemeine Erwähnung von Gottes Namen, fehlen ganz. Kistner beschränkt sich inhaltlich auf einige wenige Topoi, wie sie schon Georg Sabinus ausgeprägt hatte. Im Unterschied zu Sabinus überwiegt hier quantitativ (und 1281 Kistner: Opuscula, S. 816. 1282 Ebd. 1283 Ebd., S. 817.
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wohl auch in der Bedeutung) der Wunsch nach Eintracht unter den deutschen Reichsfürsten. Die Türkengefahr wird weniger um ihrer selbst willen als nur zur Untermauerung des concordia-Motivs beschworen. Aufmerksamkeit verdient der Text vor allem in formaler Hinsicht: Kistner verleiht seiner Argumentation eine besondere Eindringlichkeit, indem er ein jambisches Metrum wählt und somit – deutlicher als in der zitierten Passage bei Nikolaus Reusner – auf eine Untergattung der antiken Poesie zurückgreift, die schon per se dem Thema Bürgerkrieg gewidmet war, nämlich auf die politische Epode des Horaz.
3.1.9 Caspar Bruschius (1518–1557) Querela afflictae Germaniae (1541) [Querela afflictae Germaniae ad illustrissimos principes ac dominos Ludovicum & Fridericum Comites palatinos Rheni & Utriusque Bavariae duces (1541)] Der streitbare böhmische Humanist Caspar Bruschius ist eine Gestalt, welche schon allein ihres bewegten Lebens wegen ein besonderes Interesse auf sich zieht. Einen Namen machte sich der fast ständig seinen Wohnsitz wechselnde Gelehrte vor allem in der neulateinischen Reisedichtung und der Kirchen- und Klosterhistoriographie; letzteres trug ihm die Ehre ein, als Begründer einer Ger mania Sacra zu gelten.1284 Anhand der vieldiskutierten Tatsache, dass er lange Zeit eine nicht ganz eindeutige Position zwischen lutherischem und römisch-katholischem Bekenntnis vertrat und erst gegen Ende seines Lebens eine klare Entscheidung traf, lässt sich die Beobachtung bestätigen, dass man etwa bis Mitte 1284 Die früheste noch heute grundlegende, wenn auch in manchem korrekturbedürftige Biographie bietet Adalbert Horawitz: Caspar Bruschius. Ein Beitrag zur Geschichte des Humanismus und der Reformation. Prag / Wien 1874; ansonsten zu Bruschius Georg Ellinger: Neulateinsiche Literatur. Bd. 2, S. 192–197; Erwin Herrmann: Der Humanist Kaspar Brusch und sein Hodoeporikon Pfreymbdense. In: Bohemia. Jahrbuch des Collegium Carolinum. Bd. 7. München 1966, S. 110–127; Beat R. Jenny: Der Poeta Laureatus Gaspar Bruschius in Basel. In: Jean-Claude Margolin (Hrsg.): Acta Conventus Neo-Latini Turonensis. Vom 6. bis 10. September 1976. Bd. 2. Paris 1980, S. 1093–1104; Irmgard Bezzel: Kaspar Brusch (1518–1557), Poeta laureatus. Seine Bibliothek, seine Schriften. Separatabdruck aus: Archiv für Geschichte des Buchwesens 23 (1982), S. 390–480; Hermann Wiegand: Hodoeporica. Studien zur neulateinischen Reisedichtung des deutschen Kulturraums im 16. Jahrhundert. Mit einer Bio-Bibliographie der Autoren und Drucke. Baden-Baden 1984, S. 177–190; Bernhard Richter: Kaspar Brusch. Ein gekrönter Dichter als humanistischer Kirchenhistoriograph. In: Franz Brendle u. a. (Hrsg.): Deutsche Landesgeschichtsschreibung im Zeichen des Humanismus. Stuttgart 2001 (Contubernium 56), S. 135–144; Walther Ludwig: Gaspar Bruschius als Historiograph deutscher Klöster und seine Rezeption. Paul Gerhardt Schmidt zum 25. März 2002 gewidmet. Göttingen 2002; Flood: Poets Laureate. Bd. 1, S. 249– 256; Hermann Wiegand: Kaspar Brusch. In: Killy / Kühlmann. Bd. 2, S. 239–240.
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des 16. Jahrhunderts noch auf eine Versöhnung und endgültige Wiedervereinigung der beiden konfessionellen Lager hoffen konnte. Geboren wurde Bruschius am 19. August 1518 in dem damals gerade im Bergbau prosperierenden Städtchen Schlaggenwald (heute Horní Slavkov) bei Eger als Sohn einer alteingesessenen, angesehenen und wohlhabenden Kaufmannsfamilie. Seine lebenslange Verbundenheit mit der Heimat zeigt sich nicht zuletzt in häufig gebrauchten Selbstbezeichnungen wie Slaccenvaldensis oder Egranus. Die Jugendjahre sind nicht verlässlich dokumentiert; bezeugt ist immerhin, dass er schon in den ersten Jahren seine Mutter verlor. Seinen ersten Schulunterricht erhielt Bruschius in Eger, später in Hof. In dieser Zeit erwarb er solide Latein- und Griechischkenntnisse und empfing von seinen Lehrern zudem Impulse für das, was sich später in seiner literarischen Produktion niederschlagen sollte, die Sensibilisierung seiner Wahrnehmung für regionale Besonderheiten und Vaterlandsliebe.1285 1531 immatrikulierte er sich in Wittenberg, 1533 wurde er Bakkalaureus. 1536 kam er nach Tübingen, wo die Universität unter Herzog Ulrich von Württemberg gerade zu einer protestantischen Hochschule umgestaltet wurde. Sein Lehrer war kein Geringerer als Joachim Camerarius, von dessen vielbewunderter Beherrschung der griechischen Sprache er in besonderer Weise profitieren konnte. Beide sollten noch lange danach in Briefkontakt bleiben.1286 Ab 1537 wirkte Bruschius für zwei Jahre als Unterschulmeister (Kantor) in Ulm, heiratete wohl um diese Zeit eine wohlhabende ältere Witwe und quittierte sein Amt wegen zu geringer Besoldung. Möglicherweise verdankte er seiner Frau eine gewisse finanzielle Unabhängigkeit.1287 Es folgten Aufenthalte in Dillingen, Wunsiedel und Straubing.1288 In Straubing tat er sich erstmals als Publizist hervor, indem er die Vorrede zu Aventins deutscher Geschichte Chronica von Ursprung, herkomen und Taten der uralten Teutschen veröffentlichte.1289 Einen – wenn nicht den – Höhepunkt seines Lebens stellte seine Dichterkrönung beim Regensburger Reichstag im Frühling 1541 dar, nachdem er Erzherzog Ferdinand eine poetische Huldigung1290 dargebracht hatte. 1542 begab sich Bruschius zum Theologiestudium wieder nach Wittenberg und setzte dieses von 1543 bis 1544 in 1285 Hermann, S. 110 ff. Einer seiner Lehrer war der lutherische Theologe Nicolaus Medler, der 1526/27 auf Druck des streng katholischen Erzherzogs Ferdinand Eger hatte verlassen müssen. 1286 Die großenteils in München liegende Korrespondenz des Camerarius bedarf noch einer gründlichen Auswertung. Richter, S. 112. 1287 Jenny, S. 1094. 1288 Hermann, S. 112. 1289 Richter, S. 136. 1290 Ad divum Ferdinandum Romanorum Regem, Germaniae, Bohemiae ac Pannoniarum Regem Augustissimum elegia encomiastica. Nürnberg 1540. Darin fordert er Ferdinand zum Kampf gegen die Osmanen auf.
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Leipzig fort. Danach wirkte er jeweils als Rektor einer Lateinschule erst in Arnstadt (1544), dann in Schmalkalden (1545/1546), zuletzt in Lindau, einer ebenfalls protestantischen Stadt am Bodensee. Schon 1547 nahm er Abschied vom „Schulstaub“, nicht nur bezüglich Lindaus, sondern überhaupt und endgültig, wie er in trotzig-übermütigen Versen bekundet. Die Freude am Rutenschwingen in der Knabenschule gönne er allen, welche kein besseres Schicksal zu erwarten hätten.1291 In der Folge unternahm Bruschius ausgedehnte Reisen durch das Reich – vor allem in Gebiete, welche heute Süddeutschland, der Schweiz, Österreich und Oberitalien zugehören –, so dass ihn die Forschung in die Tradition des mittelalterlichen Vaganten bzw. frühhumanistischen Wanderscholaren nach dem Modell eines Peter Luder oder Konrad Celtis stellte.1292 Bruschius’ weite Ritte und Wanderungen schlugen sich unmittelbar in der Produktion von sechs Hodoeporica1293 nieder, von welchen einige Gegenstand von Spezialuntersuchungen geworden sind, dienten aber auch den notwendigen Recherchen zu seinem eigentlichen Hauptwerk, der Kirchen- und Klosterhistoriographie. Stationen seiner Reisen waren u. a. Mainz, Trier, Köln, Metz, Straßburg, Worms und Basel. Schon bei seinem ersten Aufenthalt in Basel gelang es dem Gelehrten, wichtige Kontakte zu Druckerei-Inhabern zu knüpfen, insbesondere zu Johannes Oporinus, über dessen Dienste er späterhin nahezu unbegrenzt verfügen konnte.1294 Einen weiteren großen Triumph nach seiner Dichterkrönung
1291 Jenny, S. 1094 f. In seinem Iter Rhenanum, V. 19–26 frohlockt Bruschius: Non equidem ludi pueriles ambio fasces,/ Nec tenet haec animum vana cupido meum./ Gaudeat his alius (facili me corde ferente)/ Delitiis, fato qui meliore caret. / Ipse valedixi dudum, dicamque perenne/ Talibus aerumnis pulveribusque vale. Historiae studium et nuper liber editus et quod/ Nunc de praesulibus scribere conor opus. (Mein Ehrgeiz richtet sich nicht auf die Macht im Schulzimmer,/ und meine Sehnsucht hält sich nicht an dieses nichtige Geschäft./ Ein anderer mag sich an diesen Köstlichkeiten freuen – ich ertrage es leicht -,/ der kein besseres Los getroffen hat./ Ich habe schon längst – und werde es für immer tun -/ diesen Sorgen und dem Schulstaub Lebewohl gesagt./ Die Geschichte ist jetzt mein Geschäft, das Werk, das ich vor kurzem herausgab,/ und das Buch über die Bischöfe, das ich zu schreiben unternehme) Zitiert und übersetzt bei Wiegand: Hodoeporica, S. 182 f. 1292 Ellinger: Neulateinische Literatur. Bd. 2, bes. S. 192 f., 197; Wiegand: Hodoeporica, S. 177; vgl. dagegen Jenny, S. 1094, der eher die bürgerlichen Züge von Bruschius’ Leben betont wissen will. 1293 Wiegand: Hodoeporica, S. 178 f. nennt sechs wissenschaftlich gesicherte Reisegedichte, die teils nur noch in von Nikolaus Reusner bearbeiteter und gekürzter Form greifbar sind: Das Iter Helveticum, Iter Rheticum, Iter Rhenanum, Iter Bavaricum, Iter Anasianum und das Hodoperi con Pfreimdense. Letzteres, welches eine Reise nach Pfreimd in der Oberpfalz beschreibt, ist mit 500 Distichen das umfangreichste und meistbeachtete. Vgl. Wiegand: Hodoeporica, S. 189 und die nach dem Gedicht betitelte Abhandlung von Herrmann. 1294 Jenny, S. 1099 ff.
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erlebte Bruschius am 16. Oktober 1550 auf dem zweiten Augsburger Reichstag, nachdem er dem zeitlebens verehrten Ferdinand in Prag ein Panegyrikon überreicht hatte. Er erhielt ein Wappen, ein von ihm beantragtes kaiserliches Druckprivileg für die Sakralgeschichtsschreibung und wurde zudem vom päpstlichen Legaten zum Comes Palatinus ernannt, wahrscheinlich eine Maßnahme, welche den immer stärker dem Luthertum zuneigenden Poeten für die römische Kirche zurückzugewinnen sollte.1295 1551 verfasste Bruschius ein mit Prophezeiungen durchsetztes Gedicht auf die Sonnenfinsternis und reiste nach Oberitalien bis Pavia. Desweiteren kam er nach Augsburg, Regensburg, Passau, Wien und Preßburg, um längere Zeit in Klöstern an der Donau zu verbringen.1296 Trotz seines so unruhigen Lebens erwies er sich als beeindruckend produktiver und gründlicher Geschichtsschreiber; als erster und aus eigener Initiative entwickelte er die Grundlagen zu einer kritischen historischen Würdigung von Klöstern und Bistümern.1297 Von 1552 bis 1554 lebte er in Passau und stand zeitweise im Dienst des dortigen Bischofs. 1555, im Jahre des Augsburger Religionsfriedens, wurde er von Pfalzgraf Ottheinrich als lutherischer Pfarrer in Pettendorf bei Regensburg eingesetzt, was für ihn den (späten) Beginn einer sesshaften Existenz bedeutete.1298 Diese sollte ihn allerdings nicht mehr lange erfreuen. Als er im November 1557 mit dem Magistrat der Stadt Rothenburg ob der Tauber vereinbart hatte, gegen Bezahlung eine Geschichte der Denkmäler und Klöster der Stadt zu verfassen, und sich am 20. November mittags auf den Heimweg begab, wurde er in der Nähe des rothenburgischen Dorfes Steinach am Rand eines Wäldchens von unbekannter Hand erschossen. Über die Motive lässt sich nur spekulieren: Da er, obgleich mit Wertgegenständen versehen, nicht ausgeraubt wurde, dürfte es sich um eine Beziehungstat gehandelt haben. Andere Humanisten, darunter Martin Crusius und Heinrich Pantaleon, glaubten zu wissen, Adlige, denen er irgendeine Art von literarischer Schmähung angedroht hätte, wären ihm gewaltsam zuvorgekommen.1299 Bruschius, dessen Amt dann von seinem eigenen (offenbar schon zuvor bei ihm lebenden) Vater übernommen wurde, hinterließ eine kinderlose verarmte Witwe. Mit deren Bemühungen, eine drückende Schuldenlast zu tilgen, ist auch das Schicksal seiner umfangreichen Bibliothek verbunden – ein nachträgliches Kapitel zu diesem Autor, das Gegenstand einer eigenen Abhandlung wurde.1300
1295 Jenny, S. 1095; Richter, S. 141; Ludwig: Gaspar Bruschius als Historiograph, S. 53; Herrmann, S. 116. 1296 Herrmann, S. 116. 1297 Ebd., S. 116 f., Richter, S. 144. 1298 Ludwig: Gaspar Bruschius als Historiograph, S. 53. 1299 Horawitz, S. 195 f. 1300 Vgl. Bezzel, S. 393 ff.
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Bruschius kann weder als Poet noch als Historiker, Gelehrter oder Glaubenskämpfer einen Platz unter den ranghöchsten Humanisten beanspruchen,1301 hat aber unbestreitbare Verdienste insofern, als er eine historiographische Erfassung des gesamten geistlichen Deutschlands anstrebte.1302 Zu Lebzeiten erfuhr er durchaus Beachtung, erwarb sich Anerkennung und Feindschaften; erst der Dreißigjährige Krieg wurde seinen Schriften wie auch seinem Andenken zum Verhängnis. Immerhin verdankt er dem eine Generation jüngeren schlesischen Humanisten und Polyhistor Nikolaus Reusner das Überleben einiger Reisegedichte, die, wenn auch teils gekürzt und bearbeitet, Aufnahme fanden in dessen 1580 in Basel erschienenes Sammelwerk Hodoeporicon. 1612 erschienen nicht wenige seiner Arbeiten in der Sammlung Delitiae Poetarum Germanorum Huius Superiorisque aevi illustrium.1303 Die Art, in welcher Bruschius sich religiös und politisch positionierte, hat zumindest in der älteren Forschung bisweilen Anstoß erregt. Dass er bei seinen zahlreichen Klosteraufenthalten Gastfreundschaft und tatkräftige Unterstützung gern in Anspruch nahm, dennoch aber – trotz dankbarer Verehrung einzelner Äbte und Bischöfe – mit teils gehässigen Invektiven das Leben der Kleriker und Mönche als sittenlos und barbarisch brandmarkte, hat ein ungünstiges Licht auf seinen Charakter geworfen.1304 Auch wenn er einerseits immer wieder größte Verehrung für Luther, Melanchthon und ihre Anhänger bekundete, andererseits aber (vielleicht durch materielle Vorteile motiviert) auch die Bindung an die römische Kirche lange Zeit nicht vollkommen preisgab und sein Leben lang das Haus Habsburg verherrlichte, insbesondere Karl V. und Erzherzog Ferdinand, vertrat er eine zu dieser Zeit keineswegs ungewöhnliche Haltung.1305 Als seine Hauptwerke gelten die Bistumsgeschichte Epitome Magni Operis1306 und die Klostergeschichte Centuria Prima,1307 zwei Schriften, welche nach Bru-
1301 Horawitz, S. 1 ff.; Jenny, S. 1093; Richter, S. 144. Ellinger: Neulateinische Literatur, S. 194 hält Bruschius für einen stark improvisatorisch arbeitenden Poeten, der nur dort gute Leistungen erbringt, wo wenig Disziplin erforderlich ist. 1302 Richter, S. 144. 1303 Herrmann, S. 124 f. 1304 So bei Horawitz, S. 3; Ellinger: Neulateinische Literatur, S. 193, 195. Dieses Benehmen konstatiert mit gemäßigter Kritik Wiegand: Hodoeporicon, S. 189; als typisches Phänomen der Zeit beurteilt es Richter, S. 139. 1305 Wiegand: Hodoeporicon, S. 189; Richter, S. 143. 1306 Magni operis de omnibus Germaniae Episcopatibus Epitomes Tomus primus. Continens An nales Archiepiscopatus Moguntini. Nürnberg 1549. 1307 Monasteriorum Germaniae praecipuorum maxime illustrium Centuria Prima. Ingolstadt 1551.
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schius als ein einziges Werk (unum opus) verstanden werden sollten1308 und einen Meilenstein auf dem Weg zur Erfassung der Germania Sacra darstellen.1309 Die 1549 in Nürnberg publizierte Epitome, mit welcher der Autor vergeblich um eine Protektion des Erzbischofs von Mainz geworben hatte, bedient ein damals vorübergehend wiederauflebendes Interesse einer breiteren Leserschaft an geistlichen Autoritäten und beweist so Bruschius’ ausgezeichnetes Gespür für den Nerv der Zeit.1310 Die Centuria Prima, der noch weitere hätten folgen sollen, umfasst, die titelgebende Zahl noch übersteigend, die Beschreibung von 110 geistlichen Institutionen hauptsächlich im heutigen Bayern und Baden-Württemberg, dazu das niedersächsische Gandersheim mit seiner berühmten Äbtissin Roswitha.1311 Mit der Kirchen- und Klostergeschichtsschreibung leistet Bruschius seinen ganz speziellen Beitrag zur Antibarbaries, d. h. zur Widerlegung des im Ausland erhobenen stereotypen Vorwurfs, dass die Deutschen seit alters her auf rohe und unzivilisierte Weise dahinvegetierten. Gerade auch den Italienern will er die geistlichen Einrichtungen auf deutschsprachigem Boden als Horte einer jahrhundertealten verfeinerten Kultur präsentieren, als Stätten, an denen von jeher Frömmigkeit und Gelehrsamkeit in höchster Blüte standen. Gelegentliche Zeiten der Not und des Sittenverfalls sowie die schlechte Leitung der Institutionen durch einzelne ungeeignete Kräfte sollen dabei dem Gesamtbild keinen Abbruch tun. Bruschius unterscheidet sich also insofern von anderen protestantischen oder zum Protestantismus übertretenden Humanisten, als er die charakteristischsten Institutionen des römisch-katholischen Mittelalters keineswegs (pauschal) abwertet, sondern gerade in ihnen das später von Melanchthon vermittelte Ideal von pietas und eruditio schon weitgehend verwirklicht sieht.1312 Auch abgesehen von der geistlichen Historiographie und der Reisedichtung kann der Egerländer mit einer Fülle an verschiedenartiger Poesie aufwarten, die zum einen zwei Sammlungen ergibt, die Silven (1543) und die Poematia (1553), zum anderen aufgestockt wird durch zahlreiche Einzelveröffentlichungen.1313 Bemerkenswert ist eine ins Christliche transformierte Ekloge,1314 wo der Tod einer tiefbetrauerten Nymphe deren Eintritt in die Seligkeit darstellt. Anderenorts bringt eine „Bitte an Christus“ die Sorgen und Nöte anlässlich des Schmalkaldischen Krieges 1546 zum Ausdruck. Humor beweist der Autor mit einer Klage dar-
1308 Richter, S. 141. 1309 Art. Kaspar Brusch (Killy / Kühlmann), S. 240. 1310 Richter, S. 139; Jenny, S. 1098 f. 1311 Flood. Bd. 1, S. 249. 1312 Ludwig: Gaspar Bruschius als Historiograph, S. 21, 59 f. 1313 Ellinger: Neulateinische Literatur. Bd. 2, S. 193. 1314 Chloris Aegloga. München 1546.
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bender und hungerleidender Studenten,1315 die in geschliffenen Hexametern ihr „Lazarus“-Los bejammern, ebenso auch in einer wohl nicht vollkommen ernstgemeinten Strafrede gegen die Trunkenheit.1316 Auch als Bearbeiter und Übersetzer fremder Texte hat sich Bruschius hervorgetan, so durch eine Übertragung von Melanchthons Katechismus ins Deutsche1317 und durch eine Versifizierung von Salomons Sprichwörtern.1318 Von der besonderen Bedeutung, welche dem Regensburger Reichstag von 1541 im Leben des Poeten zukommt, war bereits kurz die Rede. Ebenso wie der gleichaltrige prominente Melanchthonschüler Johannes Stigelius wurde Bruschius (200 Jahre nach der Krönung Petrarcas in Rom auf dem Kapitol) wohl eigenhändig von Karl V. zum poeta laureatus erhoben.1319 Auf diese Auszeichnung hielt er sich weit mehr zugute als seine Kollegen und machte ausgiebigen Gebrauch davon, wobei er u a. eine visuelle Darstellung dieses Ereignisses veranlasste. Wie beispielsweise aus dem Text seines Krönungsdiploms hervorgeht, stellte er sich bewusst in die Tradition des großen Frühhumanisten Konrad Celtis, der das poetisch-patriotische Projekt einer Germania illustrata unternommen hatte.1320 Der Reichstag stand vor allem im Zeichen der von Ungarn her sich wieder verschärfenden Osmanengefahr und der Behebung der zunehmenden Kirchenspaltung durch ein Konzil – nach dem Willen der Reichsstände „ein frei christlich Konzil in deutschen Landen“.1321 Ferdinand sah den ihm vertraglich zugefallenen Teil Ungarns mit der Hauptstadt Ofen durch den Anmarsch des Erzfeindes Süleyman bedroht und war daher auf die finanzielle Hilfe aller Reichsstände angewiesen. Der Kaiser selbst brannte darauf, seine Kriege im Mittelmeerraum nach der glorreichen Einnahme von Tunis (1535) fortzusetzen und nach Algier aufzubrechen.1322 Den
1315 Querela pauperum scholasticorum ac concionatorum certissimorum huius aetatis Lazaro num. München 1546. 1316 Besprechung dieser Beispiele bei Ellinger: Neulateinische Literatur. Bd. 2, S. 194 ff. 1317 Catechismuss das ist, ein Kinderlehr, Herrn Philippi Melanthonis, aus dem Latein ins Deutsch gebracht, durch Gaspar Bruschen Poeten. Leipzig 1544. 1318 Solominis proverbiorum capita duo priora carmine reddita elegiaco ac paraplocastico. München 1539. 1319 Vgl. dazu vor allem Flood. Bd. 1, S. 250; Schirrmeister: Triumph des Dichters, passim; Horawitz, S. 46 ff. Widersprüchlich sind die Angaben zu Datum und Spender der Krönung: Flood, S. 250 stellt den 13. April und den 14. Mai zur Disposition; Jenny, S. 1094 hält den 21. April für möglich; Richter, S. 136, Horawitz, S. 47 und Art. Kaspar Bruschius (Killy / Kühlmann) nennen den 13. April, Ludwig: Gaspar Bruschius als Historiograph, S. 44 den 4. Mai. 1320 Schirrmeister: Triumph des Dichters, S. 203, 212. 1321 Jedin: Konzil von Trient. Bd. 1, S. 232 ff.; Gerhard Müller: Art. Tridentinum. In: TRE. Bd. 34, S. 62–74, hier S. 63; Brandi, S. 370 ff. 1322 Brandi, S. 370 ff.
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Habsburgern musste also aus verschiedenen Gründen ebenso wie den Protestanten an einer möglichst raschen Einigung in konfessionellen Fragen gelegen sein. Da sich schon über Jahre hin Papst, Kaiser, Könige, katholische und protestantische Parteien weder auf Ort und Termin noch auf die Modalitäten für ein Konzil hatten einigen können, da sogar die Glaubwürdigkeit der päpstlichen Bemühungen längst auf dem Spiel stand, nahm Karl die Angelegenheit in die Hand und eröffnete den Reichstag nicht zuletzt in der Hoffnung, die enttäuschenden Religionsgespräche von Hagenau (1539) und Worms (1540) zu einem guten Ende führen zu können. Trotz anfänglicher Erfolge scheiterten die halbwegs kompromissbereiten Positionen des Kaisers sowie des päpstlichen Gesandten Gasparo Contarini einerseits an der Kurie und der von den bayerischen Herzögen dominierten katholischen Aktionspartei, andererseits an den Protestanten. Im Reich wurde die konfessionelle Frage notgedrungen weiterhin vertagt, da die um Zahlung der Türkenhilfe ersuchten Protestanten ein gewisses Druckmittel besaßen; Rom hingegen reagierte einerseits mit einer ersten Einladung zu einem Konzil nach Trient (1. 11. 1542), andererseits (auch aufgrund einer wachsenden reformatorischen Durchdringung Oberitaliens) mit der Schaffung der römischen Inquisition.1323 Im Zusammenhang mit den Ereignissen während seiner Dichterkrönung verfasste Bruschius Schriften, welche affirmativ oder polemisch auf die aktuelle Situation Bezug nehmen. So eröffnete er mittels einer anonym publizierten Epigrammserie auch eine Fehde mit den namhaften katholischen Teilnehmern der Religionsgespräche. Mit Huldigungsepigrammen auf Melanchthon, Georg Sabinus, Johannes Stigelius und sich selbst sowie mit giftigen Ausfällen gegen die altgläubige Prominenz, darunter Friedrich Nausea, Johannes Cochlaeus, Johannes Fabri, vor allem aber Johannes Eck, provozierte er Antworten gleichen Stils, die ihn persönlich, da seine Urheberschaft offenbar durchschaut worden war, schlimmster Laster bezichtigten.1324 Die Schuld an der verpassten Chance zur Wiederherstellung der religiösen Eintracht sah Bruschius bei der persönlichen Unzulänglichkeit der Verhandlungspartner. Ein Melanchthon auf lutherischer, ein Erasmus auf päpstlicher Seite hätten seines Erachtens einen endgültigen Konsens herbeiführen und die zunehmende konfessionelle Spaltung für immer beheben können.1325 Als unmittelbare Reaktion des gerade einmal 22-jährigen Autors auf die Dichterkrönung erscheint die dem Vater Johann Bruschius gewidmete Querela afflictae Germaniae,1326 welche laut Ellinger zu den besseren Resultaten seiner 1323 Klaus Ganzer: Art. Paul III. In: TRE (1996), S. 120. 1324 Ludwig: Gaspar Bruschius als Historiograph, S. 48 ff.; Horawitz, S. 52 f. 1325 Ludwig: Gaspar Bruschius als Historiograph, S. 48. 1326 Querela afflictae Germaniae ad illustrissimos principes ac dominos Ludovicum & Fridericum Comites palatinos Rheni & Utriusque Bavariae duces. Regensburg 1541.
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Gelegenheitspoesie zählt.1327 Sie stellt ein 180 Verse umfassendes Sendschreiben Germanias an den Pfälzer Kurfürsten Ludwig V. den „Friedfertigen“ (1478–1544) und dessen Bruder Friedrich II. den „Weisen“ (1482–1556) dar. Beide dürften durch ihre enge Verbundenheit mit dem Haus Habsburg sowie durch ihre tatkräftige Mitwirkung bei den konfessionspolitischen Gesprächen von 1540/1541 Bruschius’ Interesse erregt haben. Insbesondere Friedrich war gewissermaßen unter regierenden und künftigen Kaisern aufgewachsen: Als Gefolgsmann hatte er Maximilian I. in den Krieg gegen die Venezianer begleitet, hatte 1519 – wenn auch eher durch Bestechungsgelder motiviert als aus Sympathie – die Wahl des jungen spanischen Königs Karl zum Kaiser maßgeblich gefördert, hatte Ferdinand als Statthalter Karls im Reich unterstützt, hatte 1531 Ferdinands Wahl zum (nachfolgenden) Römischen König tatkräftig mitbetrieben und leitete nun gemeinsam mit Nicolas Perenot de Granvelle den Vorsitz beim kaiserlichen Religionsgespräch in Regensburg.1328 Mittels der Germania-Allegorie proklamiert Bruschius die Anliegen, welche er bereits in seiner Huldigung an Ferdinand vorgetragen hatte und welche auch sonst durchweg die (Habsburg-)Panegyrik dominieren: Abwehr der Osmanengefahr und Wiederherstellung der (konfessionellen) Eintracht im Reich. Germania eröffnet ihre Klage schroff und unvermittelt mit einem Konzessivsatz, welcher den Vorwurf enthält, dass man schon seit langem offenkundige Missstände nicht zur Kenntnis nehme. Die beiden Brüder spricht sie mit offenkundigem Bezug auf die Dioskuren als „helle (Augen-)Lichter meines Reiches“ (imperij lumina clara mei) an.1329 Wenn diese sich ihr nicht als hilfreiche Gottheiten (praesentia numina) erweisen wollten,1330 müsse sie als Beute der Türken zugrunde gehen (Iam pereo diris depopulanda Getis). Schon lange kennen die Brüder Germanias Geschwüre (ulcera) und Tränen, schon lange wissen sie um die stinkende Seuche (lues foetida), welche die Glieder befällt. Sie sollen sie nicht verlassen, wie es die übrigen Fürsten tun, sondern Hilfe bringen. Es folgt mit leicht vergilischen und horazischen Anklängen die topische Gegenüberstellung von einst und jetzt:
1327 Ellinger: Neulateinische Literatur, Bd. 2, S. 194 f. 1328 Peter Fuchs: Art. Friedrich II. der Weise. In: NDB. Bd. 5, S. 528–530; Albrecht Luttenberger: Art. Ludwig V. der Friedfertige. In: NDB. Bd. 15, S. 412–413. 1329 Fol. A 1 r. Vgl. Hor. carm. 1, 3, 2: sic fratres Helenae, lucida sidera. 1330 Die Dioskuren wurden als Sternbilder und Patrone der Seefahrt verehrt.
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Certe ego sum stygias mox descensura sub umbras1331 Quae nimium nuper terra beata fui. Quae toto nimium foelix1332 cantabar in orbe Quam pariter iuvenes & cecinere senes. Quam Galli quondam, quam mirabantur & Angli Bistonniique olim pertimuere Getae. Quam lacedoemonij quam mirabantur Achivi Hispani proceres Ausonijque duces. Illa ego nunc iaceo miseris immersa ruinis Atque in barbarico tota sepulta luto.1333 Dann werde ich gewiss zu den stygischen Schatten hinabsteigen, die ich noch eben ein allzu glückliches Land war. Ich, welche ich als allzu glücklich auf dem ganzen Erdkreis besungen wurde, welche gleichermaßen junge Männer und Greise besangen, welche einst Franzosen, welche einst Engländer bewunderten und die Türken fürchteten, ich, welche Griechen aus Sparta, Adlige aus Spanien und Führer aus Italien bewunderten, ich liege nun in jämmerliches Unglück getaucht und ganz unter barbarischem Schlamm begraben da.1334
Die mit quam eingeleiteten Relativsätze zeigen – wahrscheinlich in lockerer inhaltlicher Anlehnung an Horaz’ Epode 16–1335 Germania als einstmals von bedeutenden Ländern und Dynastien bewunderte Machtinstanz im Gegensatz zu ihrer gegenwärtigen Niederlage. Auch der Vanitas-Topos fehlt nicht: Alle Geschicke wandeln sich in schnellem Lauf, nichts auf Erden hat lange Bestand. Germania beschwört das Glück einer lange vergangenen Zeit: Scitis & id series testabitur historiarum Sub Manno & primo Tuiscone quanta fui. Quam pacata mihi tunc & tranquilla fuerunt Tempora, quam nostris pax habitabat agris. Tunc belli furiosa fames ignota iacebat Tunc nondum galeae & ferreus ensis erant. Non acies non prelia erant: Saturnia porro Vix tranquilla adeo secla fuisse puto. Nunc ego tot metuo coedes, tot bella, tot hostes Quot vix summus habet lucida signa polus.1336
1331 Vgl. Didos Abschied vom Leben in Verg. Aen. 4, 650 ff., bes. 654 ff. et nunc magna mei sub terras ibit imago./ […] sic, sic iuvat ire sub umbras. (und nun wird ein großes Bild meiner selbst unter die Erde gehen. […] so, gerade so gehe ich gern zu den Schatten.) Übersetzung T. B. 1332 Vgl. Verg. Aen. 4, 657: felix, heu nimium felix […]. 1333 Fol. A 1 v. 1334 Übersetzung T. B. 1335 Hor. epod. 16, 3 ff. 1336 Fol. A 1 v–A 2 r. Zur hyperbolischen Aufzählung der Leiden vgl. Ov. trist. 1, 5, 45–50, bes. 47: tot mala sum passus, quot in aethere sidera lucent.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
Ihr wisst und die Kette der Erzählungen wird es bezeugen, wie groß ich unter Mannus und am Anfang unter Tuisco war, welch friedliche und ruhige Zeiten ich damals hatte, wie der Friede auf unseren Feldern wohnte. Damals gab es noch keinen rasenden Kriegshunger, damals gab es noch keine Helme und noch kein eisernes Schwert. Es gab keine Kampfreihen, keine Schlachten: Ja, ich glaube sogar, dass kaum die Saturnischen Zeitalter so ruhig waren. Jetzt fürchte ich so viele Blutbäder, so viele Kriege, so viele Feinde, wie kaum der Himmel hoch oben leuchtende Sterne hat.
Der Rekurs auf die germanischen Götter Mannus und Tuisco einerseits, auf eine nicht nur friedliche, sondern gänzlich unblutige und unkriegerische Vergangenheit andererseits begegnet innerhalb der Germania-Heroiden des 16. Jahrhunderts, soweit ersichtlich, nur hier. Erstmals erwähnt werden Tuisco bzw. Tuisto und sein Sohn Mannus in der Germania des Tacitus.1337 Nähere Ausführungen über Wesen, Charakter und Herrschaft dieser Götter finden sich bei Tacitus nicht.1338 Desto fleißiger gingen die deutschen Humanisten seit Ende des 15. Jahrhunderts zu Werke.1339 Den ersten Schritt zu seiner großen postumen Karriere tat Tuisto/Tuisco vielleicht in den 1498 publizierten Antiquitates des Dominikaners und astrologisch bewanderten päpstlichen Bibliothekars Annius von Viterbo (Giovanni Nanni 1432–1502).1340 Dabei handelt es sich um eine äußerst phantasievolle Zusammenstellung fiktiver Quellen eines auch auf anderen Gebieten versierten Fälschers: Mit einem sicheren Gespür für die Interessen der gelehrten Leserschaft seiner Zeit macht Annius den bei Plinius dem Älteren und Flavius Josephus einmal erwähnten chaldäischen Priester Berosus aus dem 4. oder 3. Jahrhundert v. Chr. zum Autor seiner Altertumskunde, die von dem (für Humanisten durchaus nicht untypischen) Bestreben geprägt war, Mythen und halbhistorisch-mythische Stoffe der Antike mit der Bibel in Einklang zu bringen. In fünf Büchern „Pseudoberosus“ über den angeblichen Ursprung der europäischen Völker und Stammbäume von prähistorischen Königen lässt Annius den der Erde entstiegenen Tuisco als Adoptivsohn Noahs und kulturstiftenden Stammvater der 1337 Tac. Germ. 2: Celebrant carminibus antiquis, quod unum apud illos memoriae et annalium genus est, Tuistonem deum terra editum. ei filium Mannum, originem gentis conditoremque, Manno tris filios assignant e quorum nominibus proximi Oceano Ingaevones, medii Herminones, ceteri Istaevones vocentur. (Sie feiern in alten Liedern, was bei ihnen die einzige Form des Andenkens und der Geschichtsschreibung ist, den erdgeborenen Gott Tuisto. Diesem schreiben sie einen Sohn namens Mannus zu, Ursprung und Begründer ihres Volkes, dem Mannus drei Söhne, nach deren Namen die dem Ozean am nächsten lebenden Stämme Ingävonen, die in der Mitte Herminonen, die übrigen Istävonen benannt werden.) 1338 Tacitus erwähnt lediglich noch, dass man Mannus bisweilen noch weitere Söhne zuschreibe, die ihrerseits wieder ihre Namen auf weitere Volksstämme übertragen. 1339 Krebs: Ein gefährliches Buch, S. 106 ff.; Hirschi: Wettkampf der Nationen, S. 326 ff. 1340 Krebs: Ein gefährliches Buch, S. 106 ff.; Hirschi: Wettkampf der Nationen, S. 328 ff.
3.1.9 Caspar Bruschius (1518–1557): Querela afflictae Germaniae
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Deutschen auftreten. Für andere Humanisten bedurfte es nur einer geringfügigen Weiterentwicklung dieser pseudowissenschaftlich beglaubigten Ausführungen, um die deutsche Zivilisation zur ältesten der Welt zu erklären. Annius’ Schrift wurde noch bis Mitte des 16. Jahrhunderts in rund zwei Dutzend Auflagen publiziert und selbst von sonst eher kritischen Lesern mit Begeisterung rezipiert, leistete sie doch einen bedeutenden Beitrag zum Prestigegewinn der Deutschen. Ähnlich wie Heinrich Bebel empfand es der Hofhistoriograph der bayerischen Herzöge Aventin (Johannes Turmaier) als unerlässlich, den Deutschen ihren Stammvater Tuisto auch persönlich etwas näher zu bringen.1341 In mehreren seiner Werke präsentiert er ihn als ersten König und Gesetzgeber, dem es mit nur rudimentärer Rechtsprechung gelungen sei, die tugendliebenden Germanen vor dem verderblichen Einfluss des aus Babylon zurückkehrenden Noahsohnes Ham zu schützen und ihnen insbesondere Abscheu vor jeglicher Art von sexueller Ausschweifung einzuflößen. So konnte ein 236 Jahre lang regierender Tuisto als erster in der Genealogie deutscher Herrscher auftreten, welche bis zu Karl dem Großen (und bei vielen anderen Humanisten bis zu den Kaisern der eigenen Zeit) reichte. Auf Tuistos Sohn und Nachfolger Mannus ließen sich die Begriffe „Mann“ und „Mensch“ zurückführen.1342 In einem Kapitel seiner Baierischen Chronik schildert Aventin eine Art Goldenes Zeitalter unter der Herrschaft nicht namentlich genannter Helden, in welchem sich aufgrund der naturgegebenen Tugend und Friedensliebe der Menschen Krieg, Gerichtswesen etc. erübrigten, um sich dann in den folgenden Kapiteln voll Bewunderung darüber auszulassen, mit welch drakonischen Strafen „König Tuitscho“ jegliche Art von Gesetzesübertretung geahndet habe.1343 Bruschius’ Germania zeichnet nun unter Verwendung seit alters her geläufiger zivilisationskritischer Friedenstopoi die Herrschaft dieser beiden Götter als Analogon zu den glücklichen Zeitaltern unter dem römischen Saturn. Alles mündet in die übliche resignierte Feststellung, dass sie nicht nur von einem auswärtigen Feind bedroht sei, sondern vor allem durch und an sich selbst zugrunde gehe. Sie ist Subjekt und Objekt der Zerstörung zugleich (Ut taceam quod ego ipsa etiam crudelia mecum/ Non tantum externis hostibus arma gero). Dieser innere Zwiespalt bezieht sich hier explizit auf die Religion, auf die konfessionellen Auseinandersetzungen:
1341 Krebs: Ein gefährliches Buch, S. 126 ff. 1342 Ebd. 1343 Vgl. Johannes Aventinus. Baierische Chronik. Hrsg. von Georg Leidinger. Fotomechanischer Nachdruck der Ausgabe Jena 1926 mit einer neuen Einleitung von Gerald Deckart. Düsseldorf / Köln 1975, S. 18 ff.
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Olim sacrarum nusquam dissensio rerum In regnis nec erat sectio prava meis. Omnibus ex CHRISTI merito sperare salutem Et vitae dotes unica cura fuit. Una fides tunc, unus erat baptismus, & ipsa Sponsa Ecclesia non sic lacerata stetit. Solius agnovit coelestis dogmata sponsi Et soli CHRISTO serviit illa suo. Hunc solum syncero animo constanter amabat Is nec amor ventis par levitate fuit. Nunc ego funestis laceror tot Pseudoprophetis Totque fidem turbant Schismata soeva meam. Ut plane dubitem via quae tutissima coelos Monstret, & ad CHRISTUM ducat ab orbe pium.1344 Einst gab es in meinem Reich nirgendwo Zwiespalt in Glaubensdingen und keine irrgläubige Sekte. Alle verlangten einzig danach, von Christi Verdienst ihr Seelenheil und die Gaben des Lebens zu erhoffen. Einen einzigen Glauben, eine einzige Taufe gab es damals, und die Braut selbst, die Kirche, war nicht dermaßen zerrissen. Sie beherzigte allein die Dogmen ihres himmlischen Bräutigams und diente allein ihrem Christus. Ihn allein liebte sie treu, aufrichtigen Herzens, und diese Liebe war nicht unbeständig wie der Wind. Nun werde ich von so vielen todbringenden falschen Propheten zerrissen, und so viele schreckliche Schismen verwirren meinen Glauben, dass ich schon erkennbar zweifle, welcher Weg am sichersten den Himmel zeigt und den Frommen von der Erde zu Christus führt.
Unter strikter Vermeidung einer explizit konfessionellen Polemik wird hier das (angeblich) verratene Ideal der Urkirche beschworen. Germania bezieht nicht namentlich Stellung für eine Partei; seit jeher aber hatten die Reformatoren die Wiederherstellung der reinen Lehre für sich beansprucht. Das Bild der Sponsa Ecclesia begegnete bereits in den Evangelien des Matthäus und Johannes,1345 erfuhr aber seine gründlichste Ausprägung und Verbreitung durch die Briefe des Paulus.1346 Auch Luther, metaphorischer und allegorischer Sprache nicht vollkommen abhold, bediente sich dessen gern, wobei er allerdings den Konsens von Kirche und Christus zur Bedingung dieser mystischen Ehe machte. Die Kirche sei demnach nicht schon als bloße Institution geheiligt, sondern könne nur insofern eine wahre Braut darstellen, als sie aus freiem Willen Christi Werbungen
1344 Fol. A 2 r. 1345 Mt 25, 1 ff; Joh 3, 29. 1346 2 Kor 11, 2; Eph 5, 22 ff.; Kurt Niederwimmer: Ecclesia sponsa Christi. Erwägungen zu 2. Kor 11, 2 f und Eph 5, 31 f. In: Kurt Niederwimmer: Quaestiones theologicae. Gesammelte Aufsätze. Hrsg. von Wilhelm Pratscher und Markus Öhler. Berlin / New York 1998 (Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche 90), S. 217–225, hier S. 217 ff.
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erhöre.1347 Nachdrücklich hebt Bruschius’ Germania die ursprüngliche Einheit der Glaubensgemeinschaft hervor (unica cura, una fides, unus baptismus). Indem sie behauptet, alle Menschen auf ihrem Boden hätten einstmals Heil und Leben ausschließlich ex CHRISTI merito erhofft, suggeriert sie, dass weder die Heilsvermittlung durch Papst, Priester und Sakramente noch die Mitwirkung am Heil durch eigene gute Werke vonnöten gewesen seien. Das Polyptoton Solius […] Soli Christo nimmt wahrscheinlich die vier bekannten, das menschliche Verdienst am individuellen Seelenheil radikal ausschließenden Sola-Formeln Luthers1348 auf. Germania beteuert die einst unverbrüchliche Liebe der mit ihr selbst fast identischen Kirche zu Christus, eine Liebe, welche durch ihren hier zu ihren Gunsten negierten Vergleich mit der Flüchtigkeit des Windes in die Nähe der elegischen Liebe gerückt wird. Diese (für die Ecclesia ausdrücklich nicht geltende) Unbeständigkeit der Liebe ist charakteristisch für den männlichen Adressaten innerhalb der ovidischen Heroidendichtung.1349 Die Passage der Verbindung zwischen Kirche und Christus erscheint innerhalb der langen Germania-Heroide als Miniaturskizze der Liebe zwischen einer vorbildlich treuen Heroine und ihrem himmlischen Auserwählten. Es folgen bittere Klagen über zahlreiche Schismen, über falsche Propheten,1350 über die allgemeine Verwirrung der Gemüter und die Verdunkelung des Weges zum Himmel. Diese Klagen entsprechen der Stimmung der Reichstagsbesucher von 1541, welche insbesondere seit der Ständeversammlung von 1523 in Nürnberg immer wieder ihre Forderungen nach einem allgemeinen Konzil auf deutschem Boden zum Ausdruck brachten.1351 Ein solches Nationalkonzil, welches die Stände für den 11. November 1524 nach Speyer ausgeschrieben hatten, um dort unabhängig (und möglichst unbehelligt) vom Papst zu einer religiösen Einigung zu finden, hatte der auf dem traditionellen Glauben beharrende Karl V. strikt untersagt.1352 Dafür oblag allerdings auch ihm die schwere Aufgabe,
1347 Jens Wolff: Ursprung der Bilder. Luthers Rhetorik der (Inter-)Passivität. In: Torbjörn Johansson u. a. (Hrsg.): Hermeneutica Sacra. Studien zur Auslegung der Heiligen Schrift im 16. und 17. Jahrhundert. Studies of the Interpretation of Holy Scripture in the sixteenth and seventeenth centuries. Berlin / New York 2010 (Historia Hermeneutica 9), S. 33–58, hier S. 39 f. 1348 Solus Christus, sola fide, sola gratia, sola scriptura. 1349 Vgl. z. B. Ov. her. 2, 25 (Phyllis an Demophoon); her. 5, 109–110 (Oenone an Paris); her. 6, 109–110 (Hypsipyle an Jason); her. 7, 7–8 (Dido an Aeneas). 1350 Horawitz, S. 49 stößt sich an der nicht aufgedeckten Identität der rätselhaften Pseudo-Propheten. 1351 Vgl. Jedin: Konzil von Trient, S. 232 ff.; Art. Tridentinum (TRE), S. 63; vgl. auch die Kapitel dieser Arbeit 3.1.2 zu Stigelius: Germania ad Carolum und Germania ad Fridericum. 1352 Jedin: Konzil von Trient, S. 173; Armin Kohnle / Eike Wolgast: Art. Reichstage der Reformationszeit. In: TRE. Bd. 27, S. 457–470, hier S. 460.
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entweder den Papst zur Ausschreibung eines für alle Parteien annehmbaren Generalkonzils zu bewegen oder auf einem Reichstag konzilsunabhängig einen endgültigen Konsens zu bewirken.1353 Wenn Bruschius seine Germania über die zunehmende spirituelle Verwirrung und die daraus folgende Gefährdung des Seelenheils klagen lässt, pocht er wie die meisten seiner religiös und politisch engagierten Zeitgenossen auf die Dringlichkeit eines Konzils. Zum zweiten Mal innerhalb des Textes konfrontiert Germania die schreckliche Gegenwart mit einer verklärten Vergangenheit: Statt des friedlichen, gewaltfreien Goldenen Zeitalters unter Tuisto und Mannus beschwört sie nun in gewohnter Manier ihre einstigen militärischen Erfolge gegen auswärtige Gegner.1354 Immer schon sei sie für große Taten berühmt gewesen, Venezianer, Römer, Franzosen und Türken hätten mehrmals ihre Kampfkraft zu spüren bekommen. Nun aber liege sie danieder, nicht nur besiegt, sondern auch ohne irgendwo Mitgefühl zu erregen. Die Gründe sieht sie in der moralischen Verwahrlosung der Deutschen und entwirft einen wahren Lasterkatalog.1355 Der größte Teil der Adligen widme sich bloß noch der Jagd; statt Krieg zu führen, verfolge man Bären, leichtfüßige Hirsche und trächtige Säue. Anstelle von Helm, Lanze und funkelndem Panzer trage man gefüllte Becher. Statt Christus liebe man leichte Mädchen – „Helenen“ –, anstelle von echter Frömmigkeit Rheinwein. Dieser Dekadenztopos deckt sich zum einen mit wirklichen Erfahrungen kritischer Zeitgenossen, steht bekanntlich aber auch in einer langen literarischen Tradition. Zunächst bezieht er sich durchaus auf konkrete Anlässe, insofern als Reichstage durch ausgiebige Feiern und Vergnügungen tatsächlich bisweilen eine ungebührliche Ausdehnung erfuhren und an Effizienz einbüßten.1356 Gerade seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts gewannen Berichte über gesellige Ereignisse immer mehr Beliebtheit. Man veranstaltete Jagden, Spazierfahrten und -ritte, Turniere und Ritterspiele, Bälle und (oftmals allegorisch-mythologische) Schauspiele. Gelegentlich sollten „lebende Bilder“ (tableaux vivants), Dramen oder Pantomimen auf die jeweiligen (gewünschten?) Tugenden oder auf die konfessionspolitische Haltung des jeweiligen Kaisers Bezug nehmen.1357 Aber auch aufwendige Bankette und Gelage, welche diejenigen an italienischen oder spanischen Für-
1353 Luttenberger: Kaiser, Kurie und Reichstag, S. 89 f. 1354 Fol. A 2 r–v. 1355 Fol. A 2 v. 1356 Vgl. Aulinger, S. 264 ff. Auch große Humanisten früherer Generationen wie Enea Silvio Piccolomini und Ulrich von Hutten hatten schon derartige Klagen hervorgebracht. Schubert, S. 207. 1357 Aulinger, S. 275 ff.
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stenhöfen in der Regel übertrafen, trugen zu bestimmten Nationalklischees bei und provozierten das Schlagwort vom „Fressen und Saufen“ der Deutschen.1358 Die Dekadenzkritik, ohnehin seit jeher in der patriotischen Publizistik verankert, hat auch in der Germania-Heroide ihren Raum.1359 Bruschius’ Germania kann ihre Hoffnung nur noch auf das als Adressaten angesprochene pfälzische Brüderpaar richten, welches als einziges unter den Adligen noch an Recht und Frömmigkeit festhalte und die von außen drohenden Gefahren abzuwehren vermöge.1360 Eine lange, durch die Aufzählung nahezu aller geläufigen (weiblichen?) Trauergebärden (Bitten, Seufzen, Tränen, Brustschlagen) explizit Mitleid einfordernde Beschwörungsformel leitet zu dem Argument über, dass die Schreiberin ja an allem Unheil unschuldig sei. Non ego vos contra Mavortia prelia gessi Non loesi factis numina vestra malis. Nec vestras ego sum ditiones depopulata Sed colui semper vos pietate mea. Non ego sum Mahometigenum de stirpe feroci Riphaea nec ego sum genitrici sata.1361 Nicht ich habe Kriege gegen Euch geführt, nicht ich habe Eure Macht durch üble Taten beeinträchtigt. Auch habe ich nicht Eure reichen Besitzungen ausgeplündert, sondern ich habe Euch immer in frommer Liebe großgezogen. Ich stamme nicht vom schrecklichen Volk der Mohammedaner, ich bin nicht die Tochter einer skythischen Mutter.
Mit derartigen Worten wandelt sie auf den Spuren der vergilischen und ovidischen Heldin Dido, welche sich in ihrer Verzweiflung zu diesem letzten, hilflosen Versuch der Mitleiderregung herablässt, um den bereits zum Aufbruch entschlossenen Aeneas wenigstens noch für eine kurze Weile aufzuhalten.1362 Mit offenkundiger Genugtuung spielt Germania nun ihre größte argumentative Trumpfkarte aus:
1358 Ebd., S. 282 ff.; Hirschi: Wettkampf der Nationen, S. 244. Vgl. auch zahlreiche Schriften deutscher Humanisten gegen den stereotypen Vorwurf der Trunksucht. Zum Turnierwesen im Selbstverständnis des Adels und in der scharfen Kritik vonseiten des Klerus vgl. auch Fleckenstein, S. 393 ff.; Krüger, S. 401 ff. Zur Jagd als aristokratischem Zeitvertreib vgl. Franke, S. 191 ff.; Martini / Schernig, S. 138 ff. 1359 Vgl. z. B. Georg Sabinus: Ad Germaniam sowie das diesbezügliche Kapitel 3.1.1 dieser Arbeit. 1360 Fol. A 2 v. 1361 Fol. A 3 r. 1362 Vgl. Verg. Aen. 4, 425 ff. Dido, deren eigene Überredungskünste kurz zuvor versagt haben, hat ihr Selbstvertrauen bereits so sehr eingebüßt, dass sie nun ihre Schwester zu Aeneas schickt. Ov. her. 7, 165–166 greift diese Argumentation auf.
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Si vultis novisse: ego sum Germania vestra Hanc defendere vos & coluisse decet. Hec vobis patria est: illi bona cuncta vicissim Debetis, vitam que dedit hancce bonam. Haec atavos aluit vestros: proavosque patresque Divitias illis lataque regna dedit. Contulit aerijs munitas turribus urbes Sublimes arces, oppida, castra, pagos. Addidit auriferos montes, piscosa fluenta: Et quid non vobis Teutona terra dedi. Ingrati sitis: si non vos nostra vicissim Tristia presenti damna levetis ope.1363 Wenn ihr es wissen wollt: Ich bin euer Deutschland, welches zu verteidigen und in Ehren zu halten euch wohl ansteht. Das ist euer Vaterland, ihm, das euch dieses gute Leben geschenkt hat, schuldet ihr im Gegenzug alle Güter. Dieses hat eure Vorfahren genährt, eure Ahnen und Väter, hat ihnen Reichtum und große Reiche verliehen. Es hat mit ehernen Türmen befestigte große Städte, erhabene Burgen, (kleinere) Städte, Lager und Dörfer erbaut, es hat goldtragende Berge und fischreiche Flüsse hinzugegeben, und was habe ich, das teutonische Land, euch nicht geschenkt. Undankbar seid ihr freilich, wenn ihr nicht im Gegenzug meine schlimmen Schäden durch sofortige Hilfe lindert.
Hier erscheint in Reinform der auf antike Autoritäten, besonders auf Cicero, gestützte humanistische Patria-Diskurs.1364 Hier kommen die Vorteile der auf Affekterregung abzielenden Gattung der Heroidendichtung am besten zum Tragen, insofern der Autor der abstrakten Bezugsgröße patria in Gestalt der leidenden Heroine Germania selbst Gesicht und Stimme verleihen kann. Die Mutterinstanz, an dieser Stelle von sich selbst bald in der ersten, bald in der dritten Person sprechend, ist nicht ausschließlich auf Erregung von Mitleid und Erbarmen angewiesen, sondern kann ihren Anspruch auf Hilfe auch durch Hinweis auf ihre eigenen Verdienste legitimieren. Zu diesen Verdiensten zählt einerseits die bloße Geburt ihrer Söhne, andererseits – und dies scheint größeres Gewicht zu haben – die einzelnen zivilisatorischen Leistungen, welche mit den in humanistischer Literatur geläufigen Kategorien wie Länder- und Städtelob zu erfassen sind. Der Bau von Anlagen, welche dem Schutz und der Verteidigung von Bürgern dienen sollen, entspricht dabei den Forderungen des militärischen Bereiches, die Hervorbringung von materiellen und natürlichen Ressourcen, welche Wohlstand und Nahrung gewährleisten sollen, dem zivilen.
1363 Fol. A 3 r. 1364 Vgl. die einleitenden Kapitel dieser Arbeit; vgl. Hirschi: Wettkampf der Nationen, S. 42 ff.; A. Schmidt: Vaterlandsliebe und Religionskonflikt, S. 12 ff.
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Nach wiederholten wortreichen Beschwörungen des angesprochenen Brüderpaares, welchem der himmlische Vater angeblich sogar die Forderung auferlegt, sich als „Götter“ zu erweisen (Iussit Olympiacus quos pater esse DEOS),1365 kommt Germania in einer strukturell ähnlichen Passage wieder auf die kompromisslose Hingabe gegenüber Christus zu sprechen, welche Abkehr von menschlichen Traditionen bedeute.1366 Etwas schwer vereinbar mit diesem Gebot (aus heutiger Sicht), aber dennoch dem Zeitgeist entsprechend erscheint die folgende Huldigung an den soeben in Regensburg eingetroffenen Kaiser.1367 Diese Verse lassen im Wortlaut (Et quia iam Caesar nostras advenit in oras/ Nititur & rebus consuluisse meis) das in der Panegyrik beliebte Motiv des adventus (regis) anklingen, welches bei der gleichen Gelegenheit, nämlich anlässlich einer Dichterkrönung auf dem betreffenden Reichstag, z. B. Johannes Stigelius zum Gegenstand seiner Germania ad Carolum macht.1368 Diese Passage demonstriert die Hinwendung zu einem augusteisch-stilisierten, quasi-göttlichen Kaiser, der angeblich den gottgewollten Frieden (in reformatorischem Sinne) bringen wird. Wie fast durchweg in der humanistischen Reichstagspoesie üblich,1369 bekundet auch Bruschius hier seinen Wunsch nach Stärkung der kaiserlichen Zentralgewalt, am deutlichsten in Form einer glücklichen Prophezeiung (Tunc unus terra Caesar regnabit in omni/ Cui nemo adversus, nemo rebellis erit). Einige Jahre später sollte der Autor diesen frommen Wunsch tatsächlich für eine Zeitlang verwirklicht sehen: Als Karl 1547 im Schmalkaldischen Krieg seine protestantischen Gegner besiegt hatte und auf dem Höhepunkt seiner Macht stand, ließ es sich Bruschius nicht nehmen, ihn und seinen Bruder in einer panegyrischen Gedichtsammlung zu feiern und deren caesarische Milde gegenüber den lutherischen „Rebellen“ rühmend hervorzuheben.1370 Die Rückkehr des Goldenen Zeitalters, der humanistischen Huldigungstopik zufolge das unmittelbare Resultat der Anwesenheit des Kaisers,1371 bedeutet auch gerade für das pfälzische Brüderpaar einen Zuwachs an Ruhm, da dessen Name nun im Lied verherrlicht werden wird (167 ff.). Bruschius frönt hier dem von den 1365 Fol. A 3 r. 1366 Fol. A 3 v. 1367 Ebd. 1368 Vgl. Kapitel 3.1.2 Stigelius: Germania ad Carolum. 1369 Schubert, S. 180 f. 1370 Ludwig: Gaspar Bruschius als Historiograph, S. 43 f. Ludwig verteidigt Bruschius gegen den insbesondere von Horawitz erhobenen Vorwurf des Opportunismus mit dem Hinweis, dass derartige Panegeyrik durchaus üblich gewesen sei, dass aber die Centuria Prima, anders als zu erwarten, dem wegen seiner Protestantenfreundlichkeit beargwöhnten Erzherzog Maximilian, dem späteren Maximilian II., gewidmet sei. 1371 Vgl. Johannes Stigelius ’Germania ad Carolum, welche mit ihren deutlichen Anklängen an Verg. ecl. 4 unverkennbar augusteische Züge aufweist.
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älteren Humanistengenerationen entwickelten Konzept der prisca theologia,1372 wenn er seine Teutonis ora über die aus ihrem Schoß hervorgegangenen, mit apollinischer Herrlichkeit begabten Dichter frohlocken lässt (181–182).1373 Diese Dichter werden den Namen der Adressaten bis zu den Sternen tragen. Christliches Heilsversprechen und die antik-humanistische Verheißung ewigen Nachruhmes scheinen in dem den Aufstieg zum Himmel betreffenden Distichon harmonisch miteinander zu verschmelzen (175–176). Doch belässt es Bruschius nicht dabei: Die Illusion eines uneingeschränkt optimistischen Endes der Germania-Epistel wird durchkreuzt durch die wohl eher unerwartete Hinzufügung einer vier Verse umfassenden Bedingung, nämlich durch eine Wiederholung der Warnung vor Zeitverschwendung durch Weingenuss, Jagd und Würfelspiel (177–180). Bruschius bekundet in dieser Heroide sein Verständnis von imperialem „deutschem“ Glanz und unversehrter, weil ausschließlich christuszentrierter Rechtgläubigkeit in den geläufigen Topoi der humanistischen Reichstagsoratorik. Lediglich mit der Verherrlichung eines friedlichen quasi-saturnischen Goldenen Zeitalters unter dem Gott Tuisco unterscheidet er sich von den anderen Verfassern von Germania-Heroiden. In ähnlicher Weise wie anderenorts Karl und Ferdinand stilisiert er hier die beiden pfälzischen Fürsten zum quasi-göttlichen heroischen Brüderpaar. Mit ihrer engen Bindung an das Haus Habsburg und einer konzilianten Haltung, welche reformatorische Bestrebungen mit weitgehender Sympathie aufnimmt, aber den offiziellen Bruch mit der römisch-katholischen Kirche noch meidet, dürften sie für Bruschius ein besonderes Solidaritätsangebot dargestellt haben. Mit einem geringeren Aufgebot an mythologisch-panegyrischer Diktion als Stigelius’ Germania ad Carolum dient auch diese Heroide als Appell zur Konsensfindung in religiösen Fragen und zur Einberufung eines von Karl geleiteten Konzils auf deutschem Boden.
1372 Vgl. Hirschi: Wettkampf der Nationen, S. 348 ff. 1373 Insbesondere der florentinische Neuplatoniker Marsilio Ficino und Konrad Celtis hatten jeweils auf eigenem Wege eine Urverwandtschaft zwischen jüdisch-christlicher und griechischheidnischer Weltanschauung zu konstruieren versucht. Demnach sollen Theologie, Philosophie, Poesie, Musik und Gesetzgebung einstmals eine untrennbare Einheit dargestellt haben. Nach Celtis haben eingewanderte Druiden ohne Umweg über das Römische den Germanen die Wohltaten der griechischen Kultur gebracht. Als „archetypische Universalintellektuelle“ (Hirschi: Wettkampf der Nationen, S. 353) gaben sie u. a. auch die ersten „deutschen“ Sänger-Poeten ab. Anders redet Celtis in seiner berühmten, für den Beginn eines deutschen Humanismus gewissermaßen programmatischen Ode Ad Phoebum, ut Germaniam petat. In: Kühlmann: Humanistische Lyrik, S. 68–71. Dort fordert er Apollon auf, aus Griechenland und Italien endlich auch in das noch rohe Deutschland seine Künste zu bringen, um es von der Barbarei zu erlösen.
3.1.10 Nikolaus Reusner (1545–1602): Germania ad Maximilianum et Principes
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3.1.10 Nikolaus Reusner (1545–1602) Germania ad Maximilianum et Principes (1566) [Germania ad Divum Maximilianum Austriacum II. Romanorum Imperatorem invictissimum, caeterosque sacri Imperij illustrissimos Electores ac Principes de Pace et Concordia domi constituenda, deque expeditione in Turcas suscipienda (1566)] Der aus einer renommierten schlesischen Gelehrtenfamilie stammende Nikolaus Reusner war einer der vielseitigsten und produktivsten Autoren der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Als Jurist, Polyhistor, Sammler und Editor alter Texte, Fachschriftsteller und Poet wirkte er an zahlreichen Orten und hinterließ ein umfangreiches, schwer überschaubares Gesamtwerk, das größtenteils der Vergessenheit anheimgefallen ist.1374 Am 2. Februar 1545 kam Reusner als Sohn einer Gelehrtenfamilie in Löwenberg (Lemberg) in Schlesien zur Welt und besuchte zunächst Schulen in Goldberg und Breslau. 1560 entschloss er sich, von Melanchthons Reputation gelockt, zu einem Studium in Wittenberg, musste bei seiner Ankunft aber erfahren, dass dieser soeben verstorben war. Dennoch erwarb er dort umfassende juristische, philosophische, medizinische und naturwissenschaftliche Kenntnisse. Drei Jahre später ging er nach Leipzig, wo er sich auf Anraten eines Verwandten von der Medizin abwandte und auf das juristische Studium spezialisierte. 1565 brach Reusner zum Reichstag nach Augsburg auf, der allerdings um ein Jahr verscho1374 Zu Reusners Biographie vgl. Melchior Adam: Vitae Germanorum jureconsultorum et politicorum qui superiori seculo, et quod excurrit, floruerunt. Heidelberg 1620 (Nachdruck Frankfurt am Main 1705), S. 174–176; Abdruck desselben Artikels in Paul Freher: D. P. F. theatrum virorum eruditione clarorum, in quo vitae et scripta theologorum, jureconsultorum, medicorum, et philosophorum, tam in Germania [] quam in aliis Europae regionibus […] a seculis aliquot ad haec usque tempora florentium […] representantur. Nürnberg 1688, S. 959–961; Johann Sigismund Johnius: Parnassi Silesiaci sive recensionis Poetarum Silesiacorum quotquot vel in patria vel in alia etiam lingua musis litarunt. Centuria 1. Breslau 1728, Nr. 86; Georgius Lizelius: Historia poetarum Graecorum Germaniae a renatis literis ad nostra usque tempora. ubi eorum vitae, poemata et in priscos poetas Graecos merita recensentur. Frankfurt am Main / Leipzig 1730, S. 202–205; Hermann Wiegand: Art. Reusner. In: Killy / Kühlmann. Bd. 9, S. 574–575; Johann August Ritter von Eisenhart: Art. Reusner. In: ADB. Bd. 28, S. 299–303; Flood. Bd. 3, S. 1656–1670. Zu Reusers publizistischen und schriftstellerischen Betätigungen vgl. besonders Friedrich Hermann Schubert: Die deutschen Reichstage in der Staatslehre der frühen Neuzeit. Göttingen 1966 (Schriftenreihe der historischen Kommission bei der bayerischen Akademie der Wissenschaften 7), S. 292–295; Wiegand: Hodoeporica, S. 13–21; Walther Ludwig: Die poetischen Beschreibungen des Herzogtums Wirtemberg durch Hugo Favolinus und Nikolaus Reusner. In: Walther Ludwig (Hrsg.): Litterae Neolatinae. München 1977, S. 145–159; Mertens: Europa, id est patria, S. 42–45; W. Schulz: Reich und Türkengefahr, S. 34–35.
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ben wurde. Währenddessen nahm der gerade einmal 20-Jährige eine Lehrtätigkeit an einer dortigen Schule auf und nutzte die Zeit zur brieflichen und poetischen Werbung um einflussreiche Gönner. Unter zahlreichen Elegien, die er verfasste, ragt eine Germania-Heroide, eine an Kaiser Maximilian II. und die Kurfürsten gerichtete Epistel, hervor, welche ihm besondere kaiserliche Gunst einbrachte. Reusner erhielt das Angebot, auf Kosten des Kaisers eine Reise zur Vertiefung seiner Sprachen- und Menschenkenntnis zu unternehmen, um danach seine frisch erworbenen Fähigkeiten in den Dienst des Hofes zu stellen. Aus nicht mehr feststellbaren Gründen wurde dieser Plan jedoch nicht verwirklicht. Nach Abschluss des Reichstages übernahm der für seine vorzügliche Beherrschung der alten Sprachen überaus geschätzte Reusner noch im selben Jahr erst eine Lehrstelle, dann das Rektorat am Gymnasium in Lauingen. 1583 erwarb er den Grad eines Doktors beider Rechte in Basel, versah eine Professur in Straßburg und erhielt 1588 einen Lehrstuhl in Jena, wo er sein restliches Leben zubrachte. Ein zweites Mal wurden ihm bei einem Reichstag Auszeichnungen durch einen Kaiser zuteil, als Rudolf II. ihn 1594 in Regensburg zum Comes Palatinus und poeta laure atus erhob und ihn in seinem ererbten Adelsstand bestätigte. 1595 nahm Reusner an einer Gesandtschaft an König Sigismund III. nach Krakau teil, um für ein vereintes Truppenkontingent zur Türkenabwehr zur werben, doch das Unternehmen verlief wenig erfolgreich. In der Heimat wurde der Gelehrte in Kompetenz- und Rangstreitigkeiten mit dem Kollegium der Jenaer Juristenfakultät verwickelt, da man ihm das Recht bestritt, aufgrund der Auszeichnung durch den Kaiser Doktoren zu ernennen. Am 12. April 1602 fand Reusners von rastlosen Aktivitäten erfülltes Leben sein Ende. Außer ihm machte sich noch sein jüngerer Bruder Elias (1555–1612) als Mediziner und Hofhistoriograph einen Namen. Es gibt kaum eine Textgattung, an welcher sich diese prominente Gestalt des schlesischen Späthumanismus nicht versuchte.1375 Fünf Bücher lateinische Elegien, ein Buch griechische Elegien, Oden, Epoden, Epigramme, Anagramme, Sylven, Fasten etc. Beachtung in der Forschung fand er mit seinen Icones sive imagines virorum literis & armis illustrium, mit seiner Rätselsammlung Aenig matographia sive syllogae aenigmatum & griphorum convivalium, mit seinen Em blemata partim ethica et physica, partim historica et hieroglyphica sowie mit einer Sammlung von Reisegedichten.1376 Reusners Verdienste um die Reichstagspublizistik und Agitation zum Türkenkrieg fanden ihren Niederschlag in dem 1595 und 1596 veröffentlichten Sam-
1375 Ein ausführliches und übersichtliches Verzeichnis der Schriften bietet Flood. Bd. 3, S. 1658 ff. 1376 Zur Reisedichtung Wiegand: Hodoeporica.
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melwerk Selectissimarum orationum et consultationum de bello Turcico volumina quatuor, in welchem er sowohl die tatsächlich gehaltenen als auch die rein literarischen Türkenkriegsreden früherer humanistischer Autoren neben seinen eigenen Beiträgen nach systematischen Gesichtspunkten zusammenstellte.1377 Reusner suggeriert dadurch eine vollkommene Kontinuität der Reichstagsoratorik durch das 16. Jahrhundert hindurch und stellt sich in eine Reihe mit Vertretern einer früheren Phase des Humanismus wie z. B. Georg Sabinus oder Caspar Ursinus Velius.1378 Anlässlich des Augsburger Reichstages vom 23. März bis zum 30. Mai 1566 machte Reusner mit einer eigenen Publikation auf sich aufmerksam, nämlich mit der zweiteilig konzipierten Heroide Germania ad Divum Maximilianum Aust riacum II. Romanorum Imperatorem invictissimum, caeterosque sacri Imperij illustrissimos Electores ac Principes de Pace et Concordia domi constituenda, deque expeditione in Turcas suscipienda, welche er später in den ersten Band seiner Sammlung von lateinischen Türkenreden aufnahm.1379 Dieser Reichstag interessiert heute in erster Linie unter konfessionspolitischen Aspekten,1380 gilt jedoch auch als einer der elf wichtigen des späten 16. Jahrhunderts, welche der Türkenabwehr gewidmet waren.1381 In der Ausschreibung für diese Veranstaltung waren folgende Hauptprogrammpunkte vorgesehen: die rechte Interpretation der wahren christlichen Religion, der Umgang mit gefährlichen Sekten, die Wahrung des Landfriedens und die Abwehr der wieder einmal drohenden Osmanen.1382 Im Hinblick auf religionspolitische Entscheidungen diente der Augsburger Religionsfriede von 1555 als Orientierungspunkt, doch führten divergierende juristische Auslegungen desselben zu wachsenden Spannungen zwischen den konfessionellen Parteien.1383 Die in Augsburg vereinbarten Regelungen sollten lediglich Katholiken und Lutheranern zu Gute kommen, keinesfalls aber eine Anerkennung weiterer reformatorischer Bewegungen darstellen. Kaiser Maximi-
1377 Vgl. Schubert, S. 292 ff.; Mertens: Europa, id est patria, S. 42 ff.; W. Schulz: Reich und Türkengefahr, S. 34 f. 1378 Schubert, S. 293 f. 1379 Zur systematischen Unterteilung der Reden nach rhetorischem Genus und Anlass in vier Bände Mertens: Europa, id est patria, S. 43 ff. 1380 Walter Hollweg: Der Augsburger Reichstag von 1566 und seine Bedeutung für die Entstehung der reformierten Kirche und ihres Bekenntnisses. Neukirchen-Vluyn 1964; Armin Kohnle: Art. Reichstage der Reformationszeit. In: TRE. Bd. 28, S. 457–470, hier S. 466 f. 1381 W. Schulze: Reich und Türkengefahr, S. 75 ff. 1382 Hollweg, S. 104. 1383 Manfred Rudersdorf: Maximilian II. (1564–1576). In: Anton Schindling und Walter Ziegler (Hrsg.): Die Kaiser der Neuzeit 1519–1918. Heiliges Römisches Reich, Österreich, Deutschland. München 1990, S. 79–97, hier S. 94.
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lian II. (1527–1576), der 1564 die Nachfolge seines Vaters Ferdinand I. angetreten hatte, sah sich mit zahlreichen Herausforderungen konfrontiert.1384 Der für seine Neigung zum Luthertum bekannte und von den Katholiken inklusive der eigenen Angehörigen beargwöhnte Kaiser versuchte auf dem Reichstag gegen den calvinistisch gesinnten Pfälzer Kurfürsten Friedrich III. vorzugehen und diesen aus dem Schutz des Religionsfriedens zu drängen.1385 Dieses Vorhaben scheiterte letztlich am (zögerlichen) Widerstand der protestantischen Stände, insbesondere auch Kursachsens, welche trotz ihrer nicht geringen Vorbehalte gegen Friedrich bestrebt sein mussten, eine allzu große Stärkung der katholischen Partei zu verhindern.1386 Auch in militärischer Hinsicht stellte der Augsburger Reichstag eine Zäsur da, indem er nach dem 1547 vereinbarten und mehrfach verlängerten Waffenstillstand mit den Osmanen eine Wiederaufnahme der kriegerischen Auseinandersetzungen bedeutete.1387 Es handelt sich um den Vorabend der großen Schlacht von Szigetvár, welche als tragisches Ereignis in die europäische Publizistik eingehen und zum Gegenstand zahlreicher literarischer und poetischer Darstellungen werden sollte.1388 Maximilian erlitt bei dieser Unternehmung einen erheblichen Prestigeverlust.1389 Ein Aufstand des Siebenbürger Fürsten Johann II. Sigismund Zápolya,
1384 Zu Maximilian vgl. Rudersdorf: s. o.; Friedrich Edelmayer / Alfred Kohler (Hrsg.): Kaiser Maximilian II. Kultur und Politik im 16. Jahrhundert. Wien 1992 (Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit 19); Notker Hammerstein / Gerrit Walther (Hrsg.): Späthumanismus. Studien über das Ende einer Epoche. Göttingen 2000; Volker Press: Art. Maximilian II. In: NDB. Bd. 16, S. 471–475. 1385 Dazu Albrecht Pius Luttenberger: Kurfürsten, Kaiser und Reich. Politische Führung und Friedenssicherung unter Ferdinand I. und Maximilian II. Mainz 1994. 1386 Rudersdorf, S. 90; Art. Reichstage der Reformationszeit (TRE), S. 466; Art. Maximilian II. (NDB), S. 473. 1387 W. Schulze: Reich und Türkengefahr, S. 66 f. 1388 Zu diesem Feldzug vgl. Alfred Kohler: Vom habsburgischen Gesamtsystem Karls V. zu den Teilsystemen Philipps II. und Maximilians II. In: Friedrich Edelmayer und Alfred Kohler (Hrsg.): Kaiser Maximilian II. Kultur und Politik im 16. Jahrhundert. Wien 1992 (Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit 19), S. 13–37, hier S. 32 ff; Jaroslav Pánek: Maximilian II. als König von Böhmen. In: Ebd., S. 55–69, hier S. 63; Zweder von Martels: On his Majesty’s Service. Augerius Busbequius, Courtier and Diplomat of Maximilian II. In: Ebd, S. 169–181, hier S. 176; Buchmann, S. 102 ff.; Johannes Hendrik Kramers: Art. Sulaiman I. In: Martijn Theodor Houtsma u. a. (Hrsg.): Enzyklopaedie des Islam. Geographisches, ethnographisches und biographisches Wörterbuch der muhammedanischen Völker. Bd. 4. Leiden / Leipzig 1934, S. 565–570, hier S. 567; zur literarisch-poetischen Bearbeitung vgl. die Beiträge aus Wilhelm Kühlmann / Gábor Tüskés (Hrsg.): Militia et litterae. Die beiden Nikolaus Zrinyi und Europa. Tübingen 2009 (Frühe Neuzeit 141). 1389 Dazu Kohler: Gesamtsystem-Teilsysteme, S. 32 ff.; Pánek, S. 63; Buchmann, S. 102 ff; von Martels, S. 176.
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des Sohnes des skrupellos seine Macht ausbauenden Magnaten Johann Zápolya, der in Rivalität zu Erzherzog Ferdinand unter osmanischer Hoheit als ungarischer König in Siebenbürgen regiert hatte, führte zur Wiederaufnahme militärischer Aktionen. Vom 6. bis zum 8. September 1566 belagerten die Osmanen, befehligt von ihrem mittlerweile durch das Alter geschwächten Sultan Süleyman, die von kaisertreuen Truppen unter dem Kommando von Nikolaus Zrinyi verteidigte südungarische Festung Szigetvár (Sigeth). Die den Angreifern zahlenmäßig unterlegene Schar, die vergeblich auf auswärtige Unterstützung gehofft hatte, lehnte trotz größter Bedrängnis jegliche Verhandlung mit den Osmanen ab und stürzte sich heroisch in eine aussichtslose Schlacht, wo sie zwar nicht durch Sieg, aber durch stolzen Untergang und Heldentod Ruhm erlangte. Diese Nachricht erschütterte ganz Europa. Verantwortlich für dieses Unglück machte man den Kaiser, der durch Passivität und schlechte Koordination seiner Streitkräfte keine effiziente Hilfe geleistet und die Soldaten Zrinyis im Stich gelassen habe. Reusners am Vorabend dieses Feldzuges verfasste Heroide teilt sich in zwei auch separat in sich abgeschlossene Germania-Briefe; der eine richtet sich seinem Titel nach explizit an den Kaiser, der andere an die Kurfürsten.1390 Als Adressaten fungieren also die beiden Mächte, welche nach alter Tradition in erster Linie für den Zusammenhalt des Reiches verantwortlich sind. Der 1298 erstmals erwähnte Titel Kurfürsten bezog sich auf ein damals bereits etabliertes Gremium von drei Erzbischöfen und vier weltlichen Fürsten, welche allein zur Wahl des Kaisers bzw. des Römischen Königs berechtigt waren.1391 Diese Privilegien ließ erstmals Karl IV. 1356 in seiner Goldenen Bulle schriftlich fixieren und schuf somit ein Fundament zur Legitimierung der kurfürstlichen Ansprüche.1392 Auch über das Privileg der Kaiserwahl hinaus dominierten die Kurfürsten in Ermangelung anderer alle Reichsstände integrierenden Institutionen die Politik derart, dass sie auch als „Säulen des Reiches“ ein besonderes Prestige genossen.1393 Zeigte ein Kaiser Schwäche oder blieb dem Reich für längere Zeit fern, so konnte es geschehen, dass die Kurfürsten an seiner Statt auf eigens anberaumten „erweiterten Kurfürstentagen“ oder Königlosen Tagen wich-
1390 Zur Rolle und Bedeutung der Kurfürsten Franz-Reiner Erkens: Kurfürsten und Königswahl. Zu neuen Theorien über den Königswahlparagraphen im Sachsenspiegel und die Entstehung des Kurfürstenkollegiums. Hannover 2002 (Monumenta Germaniae Historica 30); Axel Gotthard: Säulen des Reiches. Die Kurfürsten im frühneuzeitlichen Reichsverband. Husum 1999 (Historische Studien 457/1). 1391 Erkens: Kurfürsten und Königswahl, S. 1. 1392 Ebd. 1393 Gotthard, S. 201 ff.
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tige Entscheidungen trafen.1394 Konflikte mit den Kaisern, gerade mit solchen, die einen zentralistischen und autoritären Führungsstil anstrebten, konnten nicht ausbleiben. Maximilian I. und sein Nachfolger, der von burgundisch-spanischem Herrschaftsverständnis geprägte Karl V., versuchten den Einfluss der Kurfürsten zu beschneiden, doch diese bestanden mit mehr oder minder Erfolg auf ihrer Präeminenz.1395 Germania richtet zunächst an den Kaiser selbst ein Schreiben von 340 Versen. Bei dem Adressaten, an welchen Reusner seine Heroine appellieren lässt, handelt es sich um eine ambivalente und umstrittene Herrscherpersönlichkeit.1396 Der seit 1564 regierende Maximilian II. (1527–1576) galt einerseits als großer Förderer der Wissenschaften und Künste; andererseits wurde er wegen seiner ungewöhnlichen Toleranz und Aufgeschlossenheit gegenüber den Lutheranern von katholischer Seite beargwöhnt. Bis heute noch gilt seine Hofhaltung bisweilen als Muster für eine humanistisch-irenische Kultur.1397 Auf jeden Fall baute Maximilian das von seinen Vorgängern eher temporär bewohnte Wien zu einer glanzvollen Residenzstadt aus und bemühte sich, durch die Berufung namhafter Gelehrter die Reputation der Universität zu heben.1398 Sein besonderes Interesse galt den Naturwissenschaften, darunter Gartenbau, Botanik und Zoologie,1399- ein Zug, der einem universal gebildeten und ebenfalls in der Naturkunde bewanderten Autor wie Reusner imponiert haben dürfte. Andererseits geriet die Universität auch bei Hütern der katholischen Tradition in den Ruf, ein Refugium für Häretiker zu bieten, da mehrere Dozenten offen als Protestanten in Erscheinung traten, andere hingegen nicht allzu streng zu ihrer Konfession befragt wurden.1400 Maximilians religiöse Haltung stellte die Zeitgenossen wie auch die heutige Forschung vor ein Rätsel und trug ihm sogar die Bezeichnung „rätselhafter Kaiser“ ein.1401
1394 Ebd., S. 202. 1395 Ebd., S. 202 ff. 1396 Art. Maximilian II. (NDB), S. 471–475; Rudersdorf, S. 79–97; Nicolette Mout: „Dieser einzige Wiener Hof von Dir hat mehr Gelehrte als ganze Reiche anderer“. Späthumanismus am Kaiserhof in der Zeit Maximilians II. und Rudolfs II. (1564–1612). In: Notker Hammerstein und Gerrit Walther (Hrsg.): Späthumanismus. Studien über das Ende einer kulturhistorischen Epoche. Göttingen 2000, S. 46–64. 1397 Vgl. dazu mit kritischem Vorbehalt Mout, S. 49 ff.; Kurt Mühlberger: Bildung und Wissenschaft. Kaiser Maximilian II. und die Universität Wien. In: Friedrich Edelmayer und Alfred Kohler (Hrsg.): Kaiser Maximilian II. Kultur und Politik im 16. Jahrhundert. München 1992 (Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit 1992), S. 203–230. 1398 Mout, S. 51 ff.; Mühlberger, S. 212 ff. 1399 Mout, S. 53 ff. 1400 Mout, S. 51 f.; Mühlberger, S. 217 ff. 1401 Rudersdorf, S. 79; Art. Maximilian II. (NDB), S. 474.
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Von frühester Jugend an sympathisierte er mit der Augsburger Konfession und bekundete später als österreichischer Erzherzog eine solche Nähe zu den protestantischen Reichsfürsten, dass revolutionäre Neuerungen im Verständnis des christlichen Kaisertums möglich schienen. Die Vision eines protestantischen Kaisertums schien der Erfüllung nahe – ein Schrecknis insbesondere für das Haus Habsburg, ein unerhörter Hoffnungsschimmer für die lutherischen Reichsfürsten.1402 Papst Paul IV. beharrte energisch auf dem traditionellen Verständnis eines der römischen Lehre verpflichteten Kaisertums.1403 Innerhalb der Dynastie übten besonders sein vom Papst genötigter Vater Ferdinand I. und sein ungeliebter, in ständiger Rivalität zu ihm stehender, streng katholischer Vetter Philipp II. von Spanien (1527–1598) Druck auf Maximilian aus, jeglichen Verdacht durch öffentliche Bekundungen seiner Rechtgläubigkeit zu entkräften.1404 Dieser scheint den offiziellen Übertritt zur Augsburger Konfession ernsthaft erwogen zu haben; erst 1560, als die protestantischen Fürsten sein diskret formuliertes Gesuch um bedingungslosen Beistand im äußersten Falle ausweichend beantwortet hatten, kam er – zumindest äußerlich – der von den Verwandten erhobenen Forderung nach, um seine Aussicht auf den Kaiserthron nicht zu gefährden.1405 Seine wahre persönliche Haltung zum Glauben blieb bis zuletzt undurchschaubar. Maximilian verlegte sich in zunehmendem Maße auf die Kunst der Dissimulation und betonte je nach Opportunität katholische oder protestantische Züge seines Glaubens.1406 Gegenüber dem vom Papst gesandten ermländischen Kardinal Hosius beanspruchte er für sich einmal ein von Konfessionen unabhängiges Christentum.1407 Maximilian war ein erklärter Feind von fanatischem Dogmatismus und von Ketzerverfolgungen, was ihn in scharfen Gegensatz zur spanischen Kirche und Krone brachte,1408 doch sein ständiges Taktieren kostete ihn letztlich auf beiden Seiten Vertrauen.1409 Bedeutung für Reusners Heroidendichtung scheint Maximilian lediglich in seiner überindividuellen Funktion als Reichsoberhaupt zu haben, indem er eine friedenssichernde Politik nach innen und außen gewährleisten soll. Reusners Germania eröffnet ihren Brief mit einem bei den Humanisten geläufigen Wortspiel, wonach der kaiserliche Name Maximilian – so schon bei Maximilian I. –
1402 Rudersdorf, S. 79 ff.; Art. Maximilian II. (NDB), S. 472. 1403 Rudersdorf, S. 83; Art. Maximilian II. (NDB), S. 472. 1404 Rudersdorf, S. 84; Art. Maximilian II. (NDB), S. 472. 1405 Rudersdorf, S. 84 f.; Art. Maximilian II. (NDB), S. 472. 1406 Rudersdorf, S. 85; Art. Maximilian II. (NDB), S. 472. 1407 Hollweg, S. 62. 1408 Ebd., S. 62 ff., Art. Maximilian II. (NDB), S. 473 ff.; Rudersdorf, S. 85, 93. 1409 Art. Maximilian II. (NDB), S. 474.
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mit Maximus oder Maximus Aemilianus wiedergegeben wurde. Sie beklagt sich in topischen Wendungen über ihr bitteres Schicksal und unerträgliches Leid, welches sie zum Schreiben veranlasse.1410 Für ihre einstigen Leistungen im Kriege, in welchem sie auswärtige Völker geschützt und die Feinde stets bezwungen habe, sei ihr ein übler Dank zuteil geworden, nämlich Isolation im Kampf gegen einen äußeren Gegner und blindwütig tobender Bürgerkrieg. Wer anderen militärische Hilfe bringe, so ihre bittere Bilanz, werde letztlich im Stich gelassen und einsam dem Wüten des Feindes preisgegeben. Hier klingt, diesmal aus Germanias Perspektive, jener antemurale-Topos an, welchen in den Heroiden anderer Autoren die Personifikationen anderer Länder wie z. B. Austria oder Pannonia gegenüber Germania geltend machen. Ein langer Relativsatz hebt mittels eines Kataloges in der Diktion von Horaz’ 16. Epode1411 die einstmals von Germania bezwungenen Gegner hervor: Einzelne herausragende Gestalten der einstigen Großmacht Rom stehen den lediglich namentlich kurz erwähnten Staaten Venedig und Frankreich gegenüber. Quam neque Romani valuerunt perdere fortes, Vexarunt longo qui mea regna metu: Aemula nec virtus Drusi; nec Manlius acer; Carbonisque manus sanguinolenta feri: Scaurus & hostili non fregit strenuus ense Militis aut robur, Vare superbe, tui. Nec Venetus domuit numerosa pube Senatus; Nec vicit Galli vis truculenta levis:1412 Mich, welche weder die starken Römer auszurotten vermochten, welche mein Reich mit langanhaltender Furcht gequält haben, noch das ehrgeizige Heldentum des Drusus noch der feurige Manlius noch die bluttriefende Hand des wilden Carbo, mich, welche auch der wackere Scaurus mit feindlichem Schwert oder deine Kraft, hochmütiger Varus, nicht beugen, welche weder der Rat von Venedig mit zahlreicher Jugend bezwingen noch die grausame Gewalt des nichtsnutzigen Franzosen besiegen konnte,1413
Als Modell dient hier die aus Horaz’ 16. Epode bekannte olim/quondamnunc-Opposition, die inständige Beschwörung des einstmals gegen fremde Völker so siegreichen, gegenwärtig aber von innerer Zwietracht geplagten Roms: quam neque finitimi valuerunt perdere Marsi minacis aut Etrusca Porsenae manus
1410 Fol. A 2 r. 1411 Hor. epod. 16,5–10. 1412 Fol. A 2 v. 1413 Übersetzung T. B.
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aemula nec virtus Capuae nec Spartacus acer novisque rebus infidelis Allobrox, nec fera caerulea domuit Germania pube parentibusque abominatus Hannibal:1414 Es zu zerstören waren weder die marsischen Nachbarn stark genug noch das Etruskerheer des drohenden Porsenna noch das eifersüchtig-kriegerische Capua noch Spartacus in seiner Wut noch die Allobroger mit ihrer revolutionären Tücke; auch das wilde Germanien hat es nicht mit seinen helläugigen jungen Männern überwunden, auch nicht Hannibal, der unseren Vätern den Untergang geschworen hatte.1415
Reusner folgt also dem von Horaz formulierten Katalog, in welchem auch Germania unter den vor Rom einstmals kapitulierenden Gegnern auftaucht, und modifiziert diesen durch Inversion für seine eigenen Zwecke. Der römischen Erfolgsgeschichte wird nach einer bewährten kompetitiven humanistischen Gepflogenheit1416 ein germanisches Ersatzaltertum entgegengesetzt. Mit dieser glanzvollen kriegerischen Vergangenheit kontrastiert die Situation des gegenwärtigen Deutschlands: Impia devoti me perdet sanguinis aetas, In mea quae caeco viscera Marte furit: Regnaque sollicitis vastans viduata colonis Accumulat caedem caede maloque malum.1417 mich wird ein gottloses Zeitalter von verfluchtem Blut zugrunderichten, welches in blindwütigem Krieg gegen meine eigenen Eingeweide tobt. Mit aufrührerischen Bauern mein verwaistes Reich verwüstend häuft es Mord auf Mord, Untat auf Untat.
Die Klage über das fluchwürdige Treiben des Bürgerkrieges lautet bei Horaz: impia perdemus devoti sanguinis aetas ferisque rursus occupabitur solum;1418 Doch wir, ein ruchloses Geschlecht verfluchten Blutes, werden es verderben, und unser Land wird wieder Heimat wilder Tiere sein,
Reusners Germania erachtet es für nötig, auch den Kaiser selbst auf die katastrophalen Zustände im Reich hinzuweisen. Die Schrecknisse werden durch
1414 Hor. epod. 16, 3–8. 1415 Übersetzung nach Horaz: Oden und Epoden. Lateinische und deutsch. Nach der Übersetzung von Will Richter, überarbeitet und mit Anmerkungen versehen von Friedemann Weitz. Darmstadt 2010 (Edition Antike), S. 34 f. 1416 Hirschi: Wettkampf der Nationen, S. 271 ff. 1417 Fol. A 2 v. 1418 Hor. epod. 16, 9–10.
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einen umfassenden Katalog verschiedener Aufstände, Rebellionen und Territorialkonflikte des 16. Jahrhunderts illustriert. Germania beginnt bei den verheerenden Auswirkungen der Bauernkriege: Nondum dedoluit funestos Francia motus; Agrestes acie passa coire manus. […] Pallet adhuc diues laetis Alsatia campis Funeribus passim squalida facta suis.1419 Noch hat Franken die unheilvollen Aufstände nicht verschmerzt, musste es doch hinnehmen, dass Bauernscharen sich zu einem Heer vereinigten. […] Verödet ist noch bis heute das an fruchtbaren Feldern reiche Elsaß, rings umher befleckt durch seine Blutbäder.
Die Inspiration zur Gestaltung dieser Passage, sowohl dem Inhalt als auch dem Wortlaut nach, findet Reusner bei einem erst 1560, also wenige Jahre zuvor, verstorbenen Humanisten, nämlich wiederum bei Georg Sabinus. In seiner Heroide Germania ad Caesarem Ferdinandum (1529), welche Reusner später in seine Sammlung von Türkenkriegspublizistik aufnehmen sollte, hatte dieser seine Heldin klagen lassen: Seruiles acies sumptis heu vidimus armis Nuper, & agrestes rure coisse manus. Testis adhuc extat miserandae Francia cladis, Tota cadaveribus squalida facta suis: Ipsaque fertilibus laudata Alsatia campis, quae fuit in multis caede cruenta locis.1420 Ach, erst kürzlich mussten wir sehen, wie Söldnerscharen in Waffen auf dem Land mit Rotten von Bauern zusammenprallten. Bis heute ist Franken Zeuge eines beklagenswerten Gemetzels, ist es doch vollkommen mit Blut überströmt von seinen eigenen Leichen, ebenso selbst das für seine fruchtbaren Felder gerühmte Elsaß, welches an vielen Orten blutig war vom Morden.
In Bezug auf das Vokabular nimmt Reusner hier gegenüber seiner Vorlage mehr Variationen vor als bei dem intertextuellen Verweis auf Horaz – wo er aus gattungstechnischen Gründen immerhin das Versmaß modifizieren musste –, dennoch erscheinen die Parallelen zu Sabinus evident. Dies zeigt deutlich genug, dass Reusner bei Bedarf die Texte älterer, sogar fast noch zeitgenössischer huma-
1419 Fol. A 2 v–A 3 r. 1420 Poemata Georgii Sabini [Germania ad Caesarem Ferdinandum], S. 15. Vgl. das betreffende Kapitel dieser Arbeit 3.1.1.
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nistischer Autoren schon als „Klassiker“ rezipieren konnte,1421 und so liefert er eine Kostprobe seines von Mertens geschilderten1422 ambitionierten Projektes, ein umfassendes diachrones Corpus von Türkenreden zu erstellen. Es folgt ein gegenüber Sabinus stark amplifizierter Abriss der kriegerischen Auseinandersetzungen der jüngeren Vergangenheit in Deutschland.1423 Lediglich die Namen von Städten, Orten und Flüssen sollen den Zeitgenossen die blutigen Ereignisse in Erinnerung rufen. Die Erwähnung von Westfalen und der Ems zielt offenbar auf die kurze Schreckensherrschaft unter dem Täuferregiment ab, die Erwähnung einer Schlacht in Sachsen und eines gefangenen Herzogs auf den Schmalkaldischen Krieg von 1546/1547, welcher mit der Niederlage der protestantischen Partei endete. Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen wurde damals gefangen genommen, entging knapp der ursprünglich für ihn vorgesehenen Todesstrafe und büßte mit dem Verlust der Kurwürde für sein Haus.1424 Magdeburgs Name (urbs Parthenopaea) steht schon vor dem ganz Europa erschütternden Gemetzel bei der Eroberung der Stadt im Mai 1631 für eine seit Anbeginn ereignisreiche Geschichte. Das von den Ottonen insbesondere zum Zweck der Slawenmission gegründete Erzbistum stieg rasch zur Hansestadt mit einem selbstbewussten Bürgertum auf. Fortwährende Konflikte zwischen Einwohnerschaft und Erzbischof trugen der Stadt beim Basler Konzil 1433 sogar für kurze Zeit die Verhängung des Kirchenbannes ein. Knapp 100 Jahre später war Magdeburg schon eine Hochburg der Reformation. 1548 verweigerte es die vom Erzbischof geforderte Annahme des eher katholikenfreundlichen Interims, wurde deshalb militärisch belagert und von 1550 bis 1562 mit der Reichsacht belegt.1425 In einer bitteren Klage prangert Germania das widernatürliche Wüten des Bürgerkrieges an. Der unbegreifliche Blutdurst (sitis cruoris, caedis amor) ihrer Einwohner führe nur zu Schmach (dedecus) und Untergang (pernicies).1426 Damit einher geht das Motiv der äußeren Bedrohung. Der türkische Erzfeind droht mit schrecklichen Kriegen zu Wasser und zu Land. Wie in den anderen Germania-Heroiden und im Schrifttum des 16. (und ausgehenden 15.) Jahrhunderts generell wird auch hier die Türkengefahr mit der inneren Zwietracht im christlichen Europa in unmittelbaren Zusammenhang gebracht:
1421 Ebenso verhält es sich bei Paulus Rubigallus, der in seinen beiden Heroiden durchweg Bezug nimmt auf die Querela Austriae des Caspar Ursinus Velius. 1422 Mertens, Europa, bes. S. 43, 45. 1423 Fol. A 3 r. 1424 Zu Kurfürst Johann Friedrich dem Großmütigen von Sachsen vgl. das betreffende Kapitel dieser Arbeit. 1425 Wolfgang Ullmann: Art. Magdeburg. In: TRE. Bd. 21, S. 677–686, bes. S. 683 f. 1426 Fol. A 3 r–v.
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Quid? Quod & externo misere nunc vexor ab hoste; Ne sint fortunae damna minora meae: Discordesque coquunt dum bella domestica reges; Exitiumque suis Marte furente parant: Turca ferox, opibusque potens, armisque, virisque; Bella gerit terra noxia, bella mari. Funditus ingentes excindit moenibus urbes, Innocuasque vago destruit igne domos.1427 Was noch? Dass ich nun auch noch von einem auswärtigen Feind jämmerlich geplagt werde, damit der Verlust meines Glückes nicht zu gering ist? Indem die Könige in ihrer Zwietracht Kriege gegeneinander entfachen und mit Kriegswut den Ihren den Untergang bringen, führt der unbändige Türke, mächtig durch Besitz, Waffen und Männer, zu Wasser und Land verderbliche Kriege. Gewaltige Städte reißt er von Grund auf aus ihren Mauern und zerstört durch um sich greifendes Feuer unschuldige Häuser.
Ähnlich wie bei Sabinus und auch anderen Autoren erfolgt hier die Einführung der drohenden türkischen Großmacht, explizit als externus hostis gekennzeichnet, im Anschluss an die bitteren Klagen über die Zwietracht innerhalb des Reiches.1428 Wie einige seiner literarischen Vorgänger, z. B. Caspar Ursinus Velius,1429 lässt auch Reusner seine Heroine in einem umfangreichen Katalog die Erfolgs- und Eroberungsgeschichte des Osmanischen Reiches rekapitulieren.1430 Diese erstreckt sich interkontinental von Siegen in diversen Regionen Griechenlands bis auf phönizisches, syrisches, libysches und ägyptisches Gebiet und von dort nach Europa, zunächst bekanntlich nach Ungarn.1431 Uralte geschichtsträchtige Hochkulturen sind einer barbarischen Zerstörung anheimgefallen, die Kontinuität zur Vergangenheit ist empfindlich gestört. Die Auswirkungen des osmanischen Aufstiegs auf das Römisch-Deutsche Reich des (schon fortgeschrittenen) 16. Jahrhunderts zeigen sich in schrecklicher Weise: Nec satis hoc illi, rabie ferus, & ferus armis; Vrbibus indicit praelia dira meis: Austriacasque plagas ferro praedatur, & igne Perque domos quaerit funera, perque vias:
1427 Fol. A 3 v. 1428 Vgl. Poemata Georgii Sabini: [Germania ad Caesarem Ferdinandum], S. 15: At pars vlla meo ne possit abesse dolori,/ Insuper externo nunc & ab hoste petor./ Turca ferox nostras descendere fertur in oras,/ Alterius nobis altera caussa mali:/ Qui prope cuncta suis cum regna subegerit armis,/ Posse suo sperat me quoque Marte capi. 1429 Z. B. Caspar Ursinus Velius: Querela Austriae, fol. A 2 r. 1430 Fol. A 3 v. 1431 Ein ausführlicher Abschnitt dazu bei Buchmann, S. 20–79.
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Insontesque fugans patria de sede colonos; Enecat indignis discruciatque modis. Quae si despicerem dilectae vulnera natae; Asperior dura rupe fretoque forem.1432 Es genügt ihm [dem Türken] auch nicht, grausam durch Wut und durch Waffen, meinen Städten harte Kriege anzusagen. Mit Feuer und Eisen verheert er Österreichs Landstriche, sucht Todesopfer in den Häusern und auf den Straßen. Er vertreibt unschuldige Bauern von ihrem väterlichen Wohnsitz, mordet und quält sie auf unwürdige Weise. Wenn ich die Wunden der lieben Tochter geringschätzte, wäre ich fühlloser als ein harter Fels oder das Meer.
Indem er Germania auf die von den Türken verübten Plünderungen, Brandschatzungen und Ermordungen hinweisen lässt, welche ihre geliebte Tochter Austria, also Österreich, bereits erleiden musste, betont Reusner die geographische und ideelle, mehr noch dynastische Verbundenheit zwischen dem Reich im engeren Sinne und der von Ferdinand I. hinterlassenen, an das zerstückelte Ungarn angrenzenden habsburgischen Hausmacht. Das wiederholt beklagte Unheil des Bürgerkrieges, nach Germanias Worten schwerer zu ertragen als die Waffen des Türken, wird durch einen bedeutende Namen enthaltenden Exempelkatalog illustriert.1433 Innere Zwietracht habe einst berühmten Großmächten wie Mykene, den makedonischen Reichen und Rom schweren Schaden zugefügt. Trotz aller persönlichen Tugenden und Vorzüge, die sich letztlich als nutzlos erwiesen haben, muss Germania ihrem eigenen Untergang entgegensehen. In gut epischer Tradition äußert sie den Wunsch, sie hätte ihr Leben einst in ehrbarem Kampf gegen frühere Gegner lassen können: Ah melius saeuo cecidissem milite victa, Teutonicam pressit dux vbi Varus humum. Aut aequata solo subuersis vrbibus essem, Cum Scythicus Danaas subididit hostis opes. Quid me vindicibus casuram CAROLE signis Seruabas? Potui dedoluisse semel.1434 Ach, besser, ich wäre vom wütenden Krieger besiegt gefallen, dort wo Varus als Anführer deutsche Erde betrat, oder wäre bei der Zerstörung der Städte dem Erdboden gleichgemacht worden, als der türkische Feind griechische Truppen bezwang. Was musstest du mich mit siegreichen Fahnen retten, Karl, als ich schon untergehen wollte? Mit einem Mal hätte ich den Schmerz beenden können.
1432 Fol. A 3 v–A 4 r. 1433 Fol. A 4 r. 1434 Fol. A 4 v.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
In einer Diktion, welche Verse und Teilverse aus der gemeinsam mit Ovids Heroiden überlieferten Penelope-Epistel des Sabinus1435 und aus der Klage Ariadnes aus Ovids Fasten1436 kombiniert, bringt sie ihr Bedauern darüber zum Ausdruck, weder bei der Varusschlacht im Teutoburger Wald noch bei türkischen Eroberungszügen in Griechenland gefallen, sondern durch einen nicht näher bezeichneten Karl, ohne Zweifel Karl V., gerettet worden zu sein. Bei dieser ihrer Errettung, die sie dem Kaiser zum Vorwurf macht, da sie ihr Leiden verlängert habe, muss es sich wohl um Karls Sieg über Franz I. bei Pavia von 1525 handeln.1437 Im Folgenden lässt Reusner seine Germania im Rückgriff auf die ovidische Heroidendichtung ihre Ängste vor deutlichen Bedrohungen und diffusen, nur vage erahnbaren Schrecknissen zum Ausdruck bringen: Nunc me non tantum matura pericula terrent; Sed mala, quae regio non prius vlla tulit. Infringunt animum pereundi mille figurae; Et mora plus poenae, quam metus hostis, habet. Iam iam venturos aut hac, aut suspicor illac, Qui lacerent caeco regna furore, Scythas:1438 Jetzt aber schrecken mich nicht nur greifbare Gefahren, sondern auch Leiden, welche zuvor keine Umgebung mit sich brachte. Tausend Arten, zugrunde zu gehen, quälen meinen Geist, und der Aufschub stellt eine größere Strafe dar als die Furcht vor dem Feind selbst. Schon argwöhne ich, hier oder dort tauchten die Türken auf, um in blinder Wut mein Reich entzweizureißen.
Dieser Wortlaut revoziert die Klage der ovidischen Heroine Ariadne, welche sich von Theseus verlassen auf der unwirtlichen einsamen Insel Naxos ausgesetzt sieht. Ariadne kann die realen Gefahren in dieser unbekannten Wildnis nicht einschätzen und wird von zahlreichen Schreckensphantasien geplagt:
1435 Vgl. Sabinus/Ps.-Ov.: Ulixes Penelopae 57–60: ah melius, Polypheme, tuo superatus in antro/ finissem ingratos ad mala tanta dies!/ Threicio melius cecidissem milite victus,/ Ismaron errantes cum tenuere rates! 1436 Ov. fast. 3, 479–480: quid me desertis morituram, Liber harenis/ servabas? potui dedoluisse semel. 1437 Karl V. errang während seiner Regierung drei große militärische Siege: den erwähnten Sieg bei Pavia, den Sieg über die Osmanen und die mit ihnen verbündeten Piraten bei Tunis 1535 und den Sieg von 1547 im Schmalkadischen Krieg gegen die protestantische Allianz. Der Tunis-Sieg, wohl der prestigeträchtigste Erfolg und in der Christenheit einhellig gefeiert, dürfte hier aus geographischen Gründen ausscheiden, den Schmalkaldischen Sieg mit seinem bürgerkriegsähnlichen Charakter wird gerade kein die concordia beschwörender Autor, erst recht kein protestantischer, feiern. 1438 Fol. A 4 v.
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Nunc ego non tantum, quae sum passura, recordor, et quaecumque potest ulla relicta pati: occurrunt animo pereundi mille figurae, morsque minus poenae quam mora mortis habet. Iam iam venturos aut hac aut suspicor illac, qui lanient avido viscera dente, lupos.1439 Nun denke ich nicht nur daran, was ich noch leiden muss und was eine verlassene Frau möglicherweise alles überhaupt leiden kann: Tausend Gestalten des Todes kommen mir in den Sinn, und der Tod selbst hat für mich weniger Schrecken als das Warten auf den Tod. Jeden Augenblick fürchte ich, dass Wölfe hier oder dort kommen werden, um mit gierigem Biss meine Eingeweide zu zerfleischen.
Die von Germania gefürchteten, heimtückisch von allen Seiten drohenden Türken erscheinen in direkter Analogie zu den von Ariadne imaginierten Wölfen und unberechenbaren Raubtieren überhaupt. In der folgenden Passage präsentiert sich Germania auch dem äußeren Habitus nach als eine Bittflehende gegenüber dem Kaiser und schildert ihren demütigen Kniefall.1440 Den Appell zur militärischen Hilfe unterstreicht sie durch einen ausgedehnten Katalog von virtutes-Exempla (167–204). Von Arminius bis zu Karl V. zählt sie alle großen Herrschergestalten auf, welche nach humanistischem Verständnis als „deutsch“ galten. Die deutsche Geschichte erscheint somit als eine direkte Kontinuität von den antiken Germanen über die mittelalterlichen Kaiser bis hin zur frühmodernen Habsburgermonarchie. Arminius, der nach mittelalterlichen Theorien aus trojanischem Geblüt stammende Karl der Große, Heinrich der Vogler, die Ottonen und die Stauferkaiser mit dem Namen Friedrich werden jeweils mit einigen Versen als erfolgreiche Kriegsherren charakterisiert. Als Höhepunkt dieser Abfolge erscheint Karl V., welcher den griechischen und römischen Monarchen in nichts nachsteht. Germania präsentiert sich weiterhin als demütig Flehende und gibt sich zum ersten Mal auch namentlich als Muttergestalt zu erkennen (Tu modo tu curam desertae suscipe matris).1441 Sie beschwört den Kaiser mit den in der lateinischen Bitt- und Gebetstopik üblichen, anaphorisch gebrauchten per-Formeln, ihr Beistand zu leisten bei allem, was ihm heilig sei.1442 Er solle endlich handeln: Tu ne cede malis, sed contra audentior ito, Scilicet audentes forsque Deusque iuuat.
1439 Ov. her. 10, 79–84. 1440 Fol. B 1 r. 1441 Fol. B 2 r. 1442 Ebd.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
Audierit pugnas aliquis, laudabimur ambo, Diceris regni fida columna mei. Clarus eris mecum, laudemque merebere victor, Et magnum toto nomen ab orbe feres Tolle moras tantum, nec praelia mota retarda, Non bene differtur, quod male fertur onus.1443 Du aber weiche nicht den Übeln, sondern geh ihnen wacker entgegen, stehen doch Glück und Gott den Tapferen bei. Wenn jemand von unseren Schlachten hören sollte, werden wir beide gelobt, du wirst die treue Säule meines Reiches genannt werden. Du wirst mit mir berühmt sein, als Sieger Lob verdienen und vom ganzen Erdkreis einen großen Namen erhalten. Beende nur Dein Zögern, verschieb nicht mehr die Schlachten, zu seinem Schaden schiebt man eine Last auf, die man nur schwer erträgt.
Auch hier kann sich Reusners Germania wieder die Worte einer ovidischen Heroine zum Modell nehmen: viderit amplexos aliquis, laudabimur ambo; dicar privigno fida noverca meo. […] tutus eris mecum laudemque merebere culpa, tu licet in lecto conspiciare meo. tolle moras tantum properataque foedera iunge – qui mihi nunc saevit, sic tibi parcat Amor!1444 Wenn irgendjemand uns in der Umarmung sieht, werden wir beide gelobt werden; von mir wird man sagen, ich sei eine zuverlässige Stiefmutter für meinen Stiefsohn. […] du wirst sicher sein mit mir und wirst dir durch Schuld Lob erwerben, wenn du auch auf meinem Bett gesehen wirst. Hör nur auf zu zögern und beeile dich, unseren Bund zu schließen, so wird dich Amor schonend behandeln, der jetzt in mir wütet.
Bei dieser ovidischen Heroine handelt es sich ausgerechnet um Theseus’ Gattin Phaedra, die ihrem schönen, überaus keuschen, bloß der Jagdleidenschaft ergebenen Stiefsohn Hippolytos (vergeblich) unsittliche Anträge macht. Dem zweifelhaften Ruhm, welchen der junge Mann laut Phaedras Versprechungen gerade durch schamlose Verletzung von Sitte und Anstand erringen wird, setzt Reusner durch die Schreibfeder seiner Germania echten moralisch unanfechtbaren Ruhm entgegen, und zwar in seinem ursprünglichen militärischen Kontext. Die frivole Argumentation mit Sieg, Ruhm, Ehre, Lob etc. wird in die politisch-heroische Sphäre überführt bzw. rücküberführt, stellen doch Liebeselegie und Frauenbriefe bei Ovid ein oftmals witziges Spiel mit dem rigiden altrömischen Werte-
1443 Fol. B 2 r–v. 1444 Ov. her. 4, 139–148 (Phaedra an Hippolytus).
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kanon dar. Es handelt sich hier um ein schönes Beispiel für die Enterotisierung und – ironisierung der Heroidendichtung, welche im Grunde alle Verfasser von Germania-Episteln und die meisten von allegorisch-patriotischen Sendschreiben generell vornehmen müssen. Maximilian bekommt also von seiner mütterlichen Mahnerin Ruhm bei der Nachwelt in Aussicht gestellt. Lediglich Zögern, Zaudern und mangelnde Entschlusskraft stehen dem Erfolg noch im Weg und stellen die einzige, allerdings nicht zu unterschätzende Gefahr dar. Diesem notorischen Defizit bei der Mobilisierung gegen den äußeren Feind widmet Reusners Heldin Germania – wie auch stets diejenige anderer Autoren – einige allgemeine sentenzhafte Belehrungen. Eine mora longa verursache unabsehbare Übel; Wohltaten kämen nur dann gelegen, wenn sie bald und schnell geleistet würden. In gut humanistisch präskriptiver Manier formuliert Germania ihr Standardrezept zur Bewältigung kultureller und politischer Krisen aller Art: Da puris operam sacris, ac assere veri Dogmata sincero pectore vera Dei: Ingenuasque foue regnis florentibus artes: Pieridum curam nec simulanter habe. Imperij pridem dispersa recollige membra, Inque potestatem suscipe fracta tuam. Nec sine desertas deleri funditus vrbes, Succumbant veteri Rura recepta iugo. Tum sanctas stabili pacis per moenia leges, Praesidijs populos auxilijsque iuua. Vnanimique duces discordes foedere vinci, Regnaque concordi dissita necte fide.1445 Nimm Dich der reinen Lehre Gottes an, schütze die wahren Dogmen des wahren Gottes mit lauterem Herzen, fördere die edlen Künste bei blühender Gelehrsamkeit und trage aufrichtige Sorge um die Musen. Sammle zuvor die verstreuten Glieder des Reiches und nimm die zerbrochenen in Deine Herrschaft auf. Dulde nicht, dass verlassene Städte von Grund auf zerstört werden; die Ländereien sollen, sobald sie zurückgewonnen, wieder unter ihre alte Herrschaft kommen. Dann halte innerhalb der Mauern heilige Gesetze aufrecht, steh Deinen Einwohnern mit Schutzmacht und Hilfstruppen bei. Verbinde zwieträchtige Herrscher durch ein einträchtiges Bündnis und verknüpfe zerstreute Reiche durch ein einträchtiges Treueband.
Diese Herrschaftsdidaxe ist zwar ein unerlässlicher Bestandteil fast aller Germania-Heroiden, doch manifestiert sich hier deutlich die untergeordnete Rolle der
1445 Fol. B 2 v.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
Religion und der Förderung der Künste1446 gegenüber dem Aufruf zur politischen Stabilisierung der Reichseinheit. Der juristisch geschulte Reusner zeigt sich als Autor des Späthumanismus weit weniger an religiös-konfessionellen Fragen interessiert als an einer rein pragmatischen Konsensfindung. Er lässt seine Germania ihre erneuten Appelle zum Waffengang wiederum durch eine ausgedehnte Exempelkette untermauern, und zwar durch die Aufzählung verschiedener antiker Helden aus Mythos und Geschichte, welche durch unerschrockene Verteidigung ihres Vaterlandes unsterblichen Ruhm erlangt haben.1447 Aeneas (Cythe reius Heros), Scipio, Alexander der Große (Ductor Aematius) und Achill (Fortis Aeacides) sollen Maximilian als unmittelbare Vorbilder dienen; dann kehrt sich die Perspektive um, und der zu bekämpfende türkische Feind wird in direkte Analogie gesetzt zu den von weiteren Helden überwundenen Bösewichtern. Der Türke soll ebenso zu Fall kommen wie der von Odysseus und Diomedes auf einem nächtlichen Spähgang im trojanischen Lager erschlagene Dolon, ebenso wie das von Herkules auf dem Aventin wegen Viehdiebstahls erschlagene dreileibige Ungeheuer Cacus und ebenso wie der vom selben Heroen bezwungene thrakische König Diomedes, welcher alle Fremden seinen fleischfressen Stuten vorzuwerfen pflegte.1448 An weitere Appelle schließt Germania glücksverheißende Prophezeiungen an und schildert den künftigen Triumphzug, in welchem der Türke als Gefangener mitgeführt wird: Inter inhumanos longe saeuissimus hostes, Ante triumphales ibit eatque rotas. Quid? quod iusta salus tua, iustaque causa manebit, Impia nec caeco bella furore geres. Tu pia tela feres, sceleratas ille sarissas, Pro signis stabit iusque, piumque tuis. Auspicijs opibusque Dei certamen inibis, Ac opibus vinces auspicijsque Dei. […] Terga Borysthenidum, Germanaque pectora dicam, Telaque conuerso quae iacit hostis equo.
1446 Von Hirschi: Wettkampf der Nationen, S. 254 als Antibarbaries bezeichnet, was den programmatischen Charakter dieser in humanistischen Texten stets wiederkehrenden Forderung treffend zum Ausdruck bringt. 1447 Fol. B 3 r–v. 1448 Ebd. Tamque cadat saeuo Thrax impius ense peremptus,/ Quam perijt Danao caesus ab hoste Dolon./ Quam qui Maenaliae deiectus robore clauae,/ Sparsit Aventini sanguine lustra iugi./ Quam qui pauit equos humano viscere pingues,/ Factus equis tandem praeda cibusque suis.
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Quid fugis, ut vincas? quid deseris improbe victos? Quid timida reddis Barbara signa manu? […] Ergo tempus erit, quo tu, fortissime CAESAR, Inclyta de Getica strage trophaea feres.1449 Der bei weitem grimmigste unter den unmenschlichen Feinden wird und soll vor dem Triumphwagen gehen. Was noch? Weil Dein Heil, Dein Anliegen gerecht bleiben wird, wirst Du keine gottlosen Kriege in blindwütiger Raserei führen. Du wirst fromme Geschosse tragen, er verfluchte Lanzen. Vor Deinen Feldzeichen werden Recht und Frömmigkeit stehen. Unter der Führung und mit Hilfe Gottes wirst Du den Kampf beginnen, mit Hilfe und unter der Führung Gottes wirst Du siegen. […] Von den Rücken der Türken und den Herzen der Deutschen möchte ich künden und von den Geschossen, welche der Feind vom [trügerisch] zur Flucht gewandten Pferd schleudert. Was ergreifst du die Flucht, um zu siegen? Was lässt du, Schuft, die Besiegten im Stich? Was gibst du mit furchtsamer Hand barbarische Feldzeichen zurück? […] Nun also wird die Zeit sein, wo Du, tapferster Kaiser, ruhmreiche Trophäen vom türkischen Blutbad davonträgst.
Es folgt eine kurze Schilderung des Triumphzuges. Reusner durfte damit rechnen, dass der Wortlaut von Germanias frohlockenden Prophezeiungen den humanistisch gebildeten Zeitgenossen durch einen wohlvertrauten Klang schmeichelte. Als Vorlage dient zum einen wieder ein Passus aus der (erotischen) Poesie Ovids: tu pia tela feres, sceleratas ille sagittas: stabit pro signis iusque piumque tuis. […] tergaque Parthorum Romanaque pectora dicam, Telaque, ab averso quae iacit hostis equo. qui fugis ut vincas, quid victo, Parthe, relinques? Parthe, malum iam nunc Mars tuus omen habet. ergo erit illa dies, qua tu, pulcherrime rerum, quattuor in niveis aureus ibis equis. ibunt ante duces onerati colla catenis, ne possint tuti, quae prius, esse fuga.1450 Du wirst fromme Geschosse tragen, er verfluchte Pfeile. Vor Deinen Feldzeichen werden Recht und Frömmigkeit stehen. […] Von den Rücken der Parther und den Herzen der Römer möchte ich künden und von den Geschossen, welche der Feind vom [trügerisch] zur Flucht gewandten Pferd schleudert. Parther, der du fliehst, um zu siegen, was wirst du dem Besiegten zurücklassen? Schon jetzt, Parther, steht dein Krieg unter einem üblen Vorzeichen. Das also wird der Tag sein, an welchem Du, Herrlichster der Welt, im Goldschmuck mit vier
1449 Fol. B 3 v–B 4 r. 1450 Ov. ars 1, 199–216.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
schneeweißen Rossen einherfährst. Vorangehen werden Herrscher, die Hälse in Ketten, damit sie sich nicht wie früher durch Flucht in Sicherheit bringen können.1451
Reusner hat also die Prophezeiungen seiner Germania, teils wörtlich, teils sinngemäß denjenigen aus dem ersten Buch von Ovids Ars Amatoria nachgebildet. Dort gibt der in der ersten Person sprechende Instruktor der elegischen Liebe scherzhaft vor, in patriotischem Stolz zu schwelgen, indem er die künftigen Siege der Caesaren über auswärtige Völker vorhersagt: In erster Linie aber soll der bei Ovid komplizenhaft angesprochene anonyme Leser – ein beliebiger junger Mann – das öffentliche Spektakel eines Triumphzuges zur Kontaktanbahnung mit dem anderen Geschlecht nutzen. Die im Triumphzug mitgeführten Gefangenen und Beutestücke werden dem angehenden amator ergiebigen Gesprächsstoff liefern und ihm die Möglichkeit bieten, mit seinen fachkundigen Erläuterungen derselben fremde Mädchen zu beeindrucken.1452 Reusner transferiert hier wiederum ovidische Motive aus ihrem witzig-frivolen Kontext in die ernsthafte Sphäre der Weltpolitik seiner Zeit. In den folgenden Versen lässt er Germania mit frommer Schadenfreude die öffentliche Demütigung des bezwungenen Feindes ausmalen: Tunc procerum duris liuentia colla cathenis, Perque feras regum vincula nexa manus. Tunc trepidos tandem vultus, turpesque videbis Inuitis lacrymas ire per ora genis. Quos ego tunc plausus edam? Quae gaudia carpam? Augebit summum gaudia summa decus. Consistam laetis oculis, spectaboque passim Strata per obscaenas corpora mille vias.1453 Dann wirst Du die von harten Ketten bläulich gezeichneten Hälse der Adligen und die Fesseln an den Händen wilder Könige, dann wirst Du endlich ängstliche Mienen sehen und schmachvolle Tränen, die ihnen aus widerstrebendem Auge über das Gesicht fließen. Welchen Beifall soll ich dann spenden, welche Freuden genießen? Höchster Ruhm wird die größten Freuden vermehren. Ich werde frohen Auges dabeistehen und ringsumher die tausend über schmutzige Straßen verstreuten Leichen betrachten.
Diesmal bedient sich Reusner eines pseudoovidischen Modells, nämlich eines Passus aus der keinem Autor zweifelsfrei zuzuordnenden Consolatio ad Liviam. Trotz des traurigen Anlasses für diesen Text, nämlich des Todes und der Bestattung des 9 v. Chr. in Germanien bei einem Reitunfall verunglückten Drusus,
1451 Übersetzung T. B. 1452 Ebd. 1, 219–228. 1453 Fol. B 4 r.
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findet die anonym bleibende Redeinstanz auch Gelegenheit zum Optimismus und bekundet ihre Vorfreude auf die Demütigung der bezwungenen Germanen: At tibi ius veniae superest, Germania, nullum. Postmodo tu poenas, barbare, morte dabis. Adspiciam regum liventia colla catenis, duraque per saevas vincula nexa manus et tandem trepidos voltus inque illa ferocum invitis lacrimas decidere ora genis. […] consistam lentisque oculis laetusque videbo strata per obscaenas corpora nuda vias.1454 Aber du hast kein Recht mehr auf Gnade, Germanien. Hernach wirst du mit dem Tode büßen, Barbar. Ich werde die von Ketten bläulich gezeichneten Hälse der Könige sehen, die um die wilden Hände gewundenen harten Fesseln, werde endlich ängstliche Mienen sehen und Tränen, welche gegen deren Willen aus den Augen der Barbaren über ihr Gesicht fließen. […] Ich werde trockenen Auges dabeistehen und mit Freude die Leichen entblößt über die schmutzigen Straßen verstreut sehen.1455
Des weiteren lässt Reusner seine Heldin schildern, mit welchen Anzeichen des Jubels sie selbst sowie auch die von der Sklaverei befreiten anderen Völker, insbesondere Ungarn und Griechen, den Triumphzug begleiten werden (317–330).1456 Germania selbst will sich am Anblick der ringsumher verstreuten feindlichen Leichen und üppig fließenden Blutströme weiden, die in Scharen auftretenden Ungarn werden die Wege mit festlichem Laub bestreuen (319–326). Auch Griechenland und die Donau haben Anlass zur Freude (327–330): Inclyta pacatis gaudebit Achaia regnis, Donaque pro patriae digna salute feret. Cornibus exultans pariter laetabitur altis Ister, & immißis laetior ibit aquis.1457 Das ruhmreiche Griechenland wird sich über die Befreiung seiner Reiche freuen und verdiente Festgaben für die Rettung seiner Heimat bringen. Ebenso wird sich, jubelnd mit aufgerichteten Hörnern, die Donau freuen und ausgelassener fließen mit ungehindertem Strome.
Obgleich das Motiv von der Begeisterung des befreiten Griechenlands und von den Emotionen personifizierter Flüsse durchaus topischen Charakter hat, zeigt
1454 Consolatio ad Liviam, V. 271–280. 1455 Übersetzung T. B. 1456 Fol. B 4 r. 1457 Ebd.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
die nur unwesentlich variierte Diktion, dass Reusner auch hier auf einen Passus in Sabinus’ Germania ad Caesarem Ferdinandum rekurriert. Dort beteuert Sabinus’ Heldin: Inclita gaudebit conversis Graecia rebus, Praebuit inuitas quae tibi victa manus. Exultansque suis laetabitur amnibus Ister, Quem tuus infestum reddidit ante furor.1458 Freuen wird sich über den Wandel des Geschicks das berühmte Griechenland, welches nach seiner Niederlage dir nur widerwillig die Hände darreichte. Freude bekunden und mit all ihren Fluten jubeln wird auch die Donau, welche zuvor dein Wüten unsicher gemacht hat.
Reusners Germania versichert, der Himmel habe schon den Türken den Untergang bestimmt, und schließt ihr Schreiben an Maximilian mit einer aus vergilischen und ovidischen Formulierungen kombinierten Aufforderung, sich Ruhm zu erwerben: Aggredere o magnos, fortissime ductor, honores, En patet in laudes area lata tuas.1459 Wohlan, tapferster Herrscher, tritt die großen Ehren an, Deinem Ruhm eröffnet sich ein weites Feld.
Mit diesem Brief Germanias an den Kaiser verbindet sich, ebenfalls aus ihrer Feder, ein Appell von 120 Versen an die Kurfürsten, auch im Druck kenntlich gemacht durch den Untertitel Germania ad Illustrissimos ac Potentissimos Sacri Imperij Electores ac Principes vniversos. Auf eine Namensnennung und die explizite Charakterisierung eines Verwandtschaftsverhältnisses verzichtet Germania anfangs, doch zeigt sich im Verlaufe des Textes, dass hier wie auch in anderen Fällen eine Beziehung zwischen Mutter und Söhnen beschworen wird. Die Klage setzt schon mit den ersten Versen schroff und unvermittelt ein: Quo mea quo tandem virtus? operosaque cessit Gloria? quo forti milite partus honor?1460 Wohin ist endlich meine Heldenkraft geschwunden? Wohin mein an Taten reicher Ruhm? Wohin meine durch tapfere Soldaten erworbene Ehre?
1458 Poemata Georgii Sabini [Germania ad Caesarem Ferdinandum], S. 17. 1459 Fol. B 4 v. Vgl. Verg. ecl. 4, 48:aggredere o magnos, aderit iam tempus, honores; Ov. trist. 4, 3, 84: En patet in laudes area lata tuas. 1460 Fol. C 1 r.
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Dies evoziert offenbar den Beginn von Sabinus’ kurzer Elegie Ad Germaniam, welche mit den Worten beginnt: Quo tua bellatrix abijt Germania virtus? Dissimilis nostro tempore facta tui. Wohin entschwunden ist deine Tapferkeit, kriegsberühmte Germania? Unähnlich bist du dir selbst geworden in dieser Zeit.1461
Sabinus (wie auch Reusner) wiederum reaktiviert die Eröffnung von Horaz’ berühmter siebter Epode, welche mit ihrem vielzitierten quo, quo scelesti ruitis eine scharfe Verurteilung des Bürgerkrieges einleitet, sowie einen entsetzten Ausruf des Aeneas über den Bruch eines Friedensbündnisses.1462 Reusner verfährt also doppelt intertextuell, indem er seiner Germania den Bezug auf die Verse des älteren Humanisten Sabinus in den Mund legt und zugleich dessen antike Vorlage transparent macht.1463 Der Verlust des einstigen germanisch-deutschen Nationalprestiges und das von Horaz behandelte Motiv der Verblendung, welche zum unheilvollen Bürgerkrieg aufreizt, erscheinen bei Reusner somit in enger Verbindung. Eine captatio benevolentiae (Vos o terrarum Domini, vos numina mundi) leitet Germanias flehentliche Bitte um Gehör ein. Angesichts ihrer drückenden Notlage sei sie auf das Erbarmen und den Beistand der Kurfürsten angewiesen. Germania stellt die indigniert-ironische Frage: Scilicet idcirco praeclaris foeta triumphis Inuicta gessi maxima bella manu? Regnaque terrarum uictrix opulenta coegi, In mea submissas tendere iura manus? Hostibus infestis ut ab omni parte laborem? Neue domi liceat pace, forisque frui?1464 Habe ich freilich durch glanzvolle Triumphe genährt gewaltige Kriege mit unbezwingbarer Hand geführt und als Siegerin die mächtigen Königreiche der Erde gezwungen, sich meiner Rechtsprechung zu beugen, um von allen Seiten unter drohenden Feinden zu leiden und weder zu Hause noch auswärts Frieden zu genießen?
1461 Text und Übersetzung nach Kühlmann: Humanistische Lyrik, S. 126 f. 1462 Vgl. Verg. Aen. 12, 313–314: Quo ruitis, quaeve ista repens discordia surgit?/ o cohibete iras! […]. 1463 Vgl. zu diesem Verfahren R. F. Thomas, S. 171–198, bes. S. 188 ff. 1464 Fol. C 1 r.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
Sie ergeht sich des Weiteren in vorwurfsvollen rhetorischen Fragen und dringlichen Appellen zur Beilegung hitziger Auseinandersetzungen. Bürgerkrieg und innere Zwietracht setzen ihr grausam zu. Heu tandem saeuos irarum condite fluctus, Nec lenta miseram discruciate mora. Exuite o duris immitia pectora saxis, Offensos miserae prosit habere Getas: Parcite uisceribus, lacrymanti parcite matri, Commoueat iustus ferrea corda dolor. Iam satis exhausit ciuilis sanguinis ensis, Commaduit socio saepe cruore solum.1465 Ach, bändigt endlich die wilden Ströme Eures Zorns und quält mich Arme nicht durch Zögern und Zaudern. Löst endlich das harte Gestein von Euren rohen Herzen. Mir Armer soll es nutzen, die Türken zu Feinden zu haben. Schont Eure Eingeweide, schont Eure weinende Mutter, gerechter Schmerz rühre Eure eisernen Herzen. Jetzt hat das Schwert genug Bürgerblut getrunken und der Boden war oft genug nass vom Blut der Gefährten.
Reusners Heroine charakterisiert dieses Unheil ebenso wortreich wie vage mit der auch in den übrigen Germania-Heroiden gebrauchten Bürgerkriegstopik. In ovidischer Diktion unterstreicht sie eindrucksvoll die Fülle ihrer Leiden: Hei mihi quae patior? Non tot post frigora Brumae Vere nouo flores foeta remittit humus. Non tot aues motis nituntur in aera pennis, Totque fouet pisces vnda, nemusque feras. Quot premor aduersis, quae si perscribere coner, Tempore deficiar, deficiarque manu.1466 Weh mir, was muss ich erleiden? Die fruchtbare Erde bringt nach dem Winterfrost zu Frühlingsbeginn nicht so viele Blumen hervor, nicht so viele Vögel schwingen sich mit Flügelschlag in die Luft, das Wasser ernährt nicht so viele Fische und der Wald nicht so viele wilde Tiere, als dass sie der Zahl der Schicksalsschläge gleichkämen, unter welchen ich leide. Wollte ich diese aufzählen, fehlte mir die Zeit und versagte mir die Hand.
Durchweg ist von Unruhe, Raserei, Frevel, Bürgerblut und befleckten Händen die Rede, ohne dass auch nur irgendein klarer Bezug auf zeitgenössische Ereignisse evident würde. Indes fehlte es zur Abfassungszeit des Textes nicht an diversen
1465 Fol. C 1 v. 1466 Ebd. Zur hyperbolischen Aufzählung von Leiden mit Exempeln aus Natur, Tier- und Pflanzenwelt vgl. Ov. trist. 5, 2, 23–28; 1, 5, 45–50. Eine wörtliche Bezugnahme Reusners auf Ovid ist erkennbar mit Blick auf Ov. trist. 5, 2, 27–28: tot premor adversis: quae si comprendere coner,/ Icariae numerum dicere coner aquae.
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Unruhefaktoren innerhalb des Reiches. Zum einen waren auch 1566 religiöse Konflikte virulent. Die divergierende juristische Auslegung des Augsburger Religionsfriedens von 1555 führte zu wachsenden Spannungen zwischen den konfessionellen Parteien.1467 Der Religionsfrieden sollte auf Katholiken und Lutheraner beschränkt bleiben, doch zu Maximilians Ärger kamen zunehmend auch vom Luthertum abweichende reformierte Bekenntnisse auf, welchen es energisch entgegenzutreten galt. Auf hässliche Weise manifestierte sich eine dogmatische Spaltung innerhalb der protestantischen Partei.1468 Zur Eindämmung der beständig um sich greifenden Sekten und zur Gewährung eines dauerhaften Friedens war Maximilian insbesondere auf die Kooperation der Kurfürsten angewiesen. Diese bestätigten ihn in seinem Bestreben, den Calvinismus zu unterdrücken.1469 Der calvinistische pfälzische Kurfürst Friedrich III. erregte nicht nur durch sein persönliches Bekenntnis Anstoß, sondern bewies auch missionarischen Eifer und unternahm sogar einen Versuch zur Einigung aller protestantischen deutschen Fürsten.1470 Trotz zahlreicher Warnungen besuchte er den Reichstag und begab sich somit in ernsthafte Gefahr.1471 Walter Hollweg erläutert das Brisante dieser Situation folgendermaßen: Wenn der Kaiser und ein nicht geringer Teil der deutschen Fürsten Friedrich III. seines Glaubens halber zur Rechenschaft ziehen wollten, so mußten sie sich darüber im klaren sein, daß sie sich gegen den ersten deutschen Fürsten des Reiches nach dem Kaiser wandten. Friedrich III. war Kurfürst und Erztruchseß des Reiches. Dem Rang nach nahm er unter den weltlichen Kurfürsten die erste Stelle ein.1472
Maximilians Versuche, Friedrich III. zu isolieren und aus dem Schutz des Religionsfriedens zu drängen, wurden letztlich durch den (zögerlichen) Widerstand der protestantischen Stände, insbesondere Kursachsens, vereitelt, welche – bei allen persönlichen Vorbehalten gegen Friedrich – einer allzu großen Stärkung der seit dem Tridentinischen Konzil neu geeinten katholischen Partei vorbeugen wollten.1473 Bei der Abfassung der Klagen über bürgerkriegsähnliche Zustände, welche Reusner seiner Germania in den Mund legt, dürfte er einen weiteren Konflikt im Auge gehabt haben, welcher schon geraume Zeit das Reich in Unruhe versetzte, die sogenannten Grumbach’schen Händel.1474 Der ehrgeizige und 1467 Rudersdorf, S. 94. 1468 Ebd., S. 90 f. 1469 Hollweg, S. 107. 1470 Ebd., S. 136 ff. 1471 Ebd., S. 147. 1472 Ebd., S. 245. 1473 Rudersdorf, S. 90; Art. Reichstage der Reformationszeit (TRE), S. 466. 1474 Dazu vgl. Franz Xaver von Wegele: Art. Grumbach. In: ADB. Bd. 10, S. 9–22.
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machtbewusste fränkische Reichsritter Wilhelm von Grumbach (1503–1567) trug über viele Jahre hinweg einen territorialen Konflikt mit dem Hochstift Würzburg aus, bei welchem er auch vor Fehden und Gewalttaten nicht zurückschreckte. Im Verlauf einer jahrzehntelang währenden Auseinandersetzung mit den dort residierenden Bischöfen ging er diverse Bündnisse mit anderen Territorialherrschern ein, deren jeweilige Interessen er geschickt für seine Zwecke zu instrumentalisieren verstand. Gemeinsam mit dem umtriebigen jungen Markgrafen Albrecht Alcibiades zwang er zu Beginn der 1550er Jahre Nürnberg und Würzburg zu für ihn vorteilhaften Verträgen in Bezug auf den Umgang mit Lehensgütern, welche von Karl V. zunächst nicht anerkannt wurden. Nicht zuletzt das ständige Taktieren des Kaisers, welcher nach jeweiligen politischen Opportunitätserwägungen seine Haltung zur Gültigkeit dieser erzwungenen Verträge änderte, führte dazu, dass Albrecht Alcibiades gewaltsam jeglichen Protest seiner zum Kontrakt genötigten Gegner zu ersticken suchte und als Landfriedensbrecher in die Reichsacht geriet. Grumbach, der als Verbündeter des Markgrafen in Mitleidenschaft gezogen wurde, sah keine Möglichkeit mehr zur friedlichen Durchsetzung seiner Ansprüche und entschloss sich zur Selbsthilfe. Kurz nach Albrecht Alcibiades’ Tod gewann er einen neuen Protektor, nämlich Herzog Johann Friedrich von Sachsen, den ältesten Sohn seines gleichnamigen Vorgängers, welcher im Schmalkaldischen Krieg seine Kurwürde eingebüßt hatte. Grumbach plante, den Würzburger Bischof Melchior von Zobel in seine Gewalt zu bringen, und unternahm am 15. April 1554 einen erfolgreichen Überfall auf das Bistum. Die bei dieser Gelegenheit erfolgte Ermordung des Bischofs, deren Urheberschaft Grumbach bestritt, erregte Entsetzen im Reich und verstärkte das allgemeine Misstrauen gegen den rebellischen Ritter. Am 4. Oktober 1563 machte Grumbach das zweite Mal durch die gewaltsame Einnahme Würzburgs von sich reden und verfiel bald darauf selbst der Reichsacht. Er begeisterte sich für den Gedanken eines gemeinsamen Aufstandes der ganzen deutschen Reichsritterschaft gegen die Landesfürsten, verweilte aber zunächst noch bei seinem Gönner in Gotha. Indes machte angesichts der sich zuspitzenden Lage Kurfürst August von Sachsen, der sowohl Grumbach selbst als auch dessen herzoglichem Gönner schon lange feindlich gesinnt war, zunehmend seinen besonderen Einfluss auf das Kaiserhaus geltend. Später, im Jahre 1567, sollte er sogar mit der Leitung der grausamen Hinrichtung Grumbachs und einiger Helfer, der Vierteilung auf dem Gothaer Hauptmarkt, betraut werden. Wenngleich Reusner in seiner Heroide jeglichen expliziten Bezug auf Personen und Ereignisse meidet, so erscheint es doch schwer denkbar, dass er nicht auch diesen zum Flächenbrand auswachsenden Konflikt vor Augen hatte, zumal dieser gerade auf demselben Augsburger Reichstag verhandelt wurde. Dort nämlich bestätigte Maximilian auf kursächsischen Druck hin die Achterklärung
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gegen Grumbach und bedrohte mit ihr auch Herzog Johann Friedrich für den Fall, dass er diesen Unruhestifter weiterhin unterstütze. Wenn Reusner seine Germania bittere Klagen über innere Zwietracht an die Kurfürsten richten lässt, so dürfte er damit sowohl den theologischen bzw. religionspolitischen Konflikt als auch den in Landfriedensbruch kulminierenden territorialen Zwist anprangern, welche beide auf dem betreffenden Reichstag verhandelt wurden. In beiden Konflikten spielten Kurfürsten eine maßgebliche Rolle, auch wenn sie nicht die einzigen Akteure waren. Gerade einem derart privilegierten und mächtigen Gremium aber obliegt nach Ansicht Reusners (und seiner humanistisch geschulten Zeitgenossen) eine besondere Verantwortung für die Geschicke des Reiches. Wie in den Germania-Heroiden der anderen Autoren geht auch hier mit dem nachdrücklichen Appell zur inneren Eintracht die antiosmanische Agitation, der flammende Aufruf zur Bekämpfung der Türken einher. Die kriegerischen Energien der Fürsten sollen umgelenkt werden auf den äußeren Feind. Der agitatorische Teil umfasst etwa die zweite Hälfte des an die Kurfürsten und Fürsten gerichteten Schreibens.1475 Germania beschwört die von ihr zu Rettern auserkorenen Herren: Quod si tantus amor ferri, si tanta cupido Instigat mentes exagitatque feras. Exercere licet vires & robur in hostem, In mea qui valido milite regna furit. Proque focis, arisque meis, uestraque salute Arma pharetratis sumpta mouere Getis.1476 Wenn aber eine solche Liebe, ein solches Verlangen nach dem Schwert Eure wilden Herzen entflammt und umtreibt, dürft Ihr Eure ganze Kraft und Streitmacht gegen den Feind gebrauchen, welcher mit starken Soldaten gegen mein Reich wütet, und für meine Häuser und Altäre und für Euer Heil die Waffen gegen die köchertragenden Türken ergreifen.
Sie charakterisiert deren (selbstmörderische) Kriegsliebe mit einem Pathos, welches sich wohl in erster Linie aus der Kontamination zweier Vergilstellen speist,1477 1475 Fol. C 2 r–C 3 r. 1476 Fol. C 2 r. 1477 Vgl. Verg. Aen. 6, 133–134: quod si tantus amor menti, si tanta cupido/ bis Stygios innare lacus […]; 12, 282: sic omnis amor unus habet decernere ferro. Die erste Stelle bezieht sich auf Aeneas’ kurz bevorstehenden Abstieg in die Unterwelt. Die ihn instruierende und begleitende Sibylle wundert sich über seinen Wunsch, den schrecklichen Ort schon vor seiner Zeit, also vor seinem Tod, einmal zu betreten. Die zweite Stelle bezieht sich auf den menschlich desillusionierenden Umstand, dass sich Trojaner und Rutuler in ihrer Wut zum Bruch eines kurz zuvor geschlossenen Friedensbündnisses hinreißen lassen. Die si tantus amor-Phrase wendet bereits
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und bedient sich der hinlänglich bekannten Formel pro focis, arisque vestraque salute, die bereits seit Enea Silvio Piccolominis berühmtem Dictum Europa, id est patria, domus propria, sedes nostra zur Legitimation des Verteidigungskrieges bemüht wird und dem älteren Kreuzzugsethos ergänzend zur Seite treten soll.1478 Gottesfurcht, Gemeinwohl und Eigeninteresse fallen in eins zusammen und gebieten dieselben Maßnahmen. Germania erlässt eine konkrete politische Handlungsanleitung an die Kurfürsten und Fürsten: Caesaris est testata fides: absistite tantum Auxilijs socijs indubitare Duces. Pro se quisque suum munus praestate libenter, Armaque pugnaci seria ferte manu. Viribus ac vires, castris coniungite castra: Aeraque magnanimo suppeditate duci.1479 Die Treue unseres Kaisers ist erwiesen: Lasst nur ab, Fürsten, an verbündeten Hilfstruppen zu zweifeln. Leistet, ein jeder von Euch, bereitwillig Eure Pflicht, tragt schwere Waffen mit kämpferischer Hand. Vereinigt Kraft mit Kraft und Streitmacht mit Streitmacht und gewährt Eurem großmütigen Herrn finanzielle Hilfe.
Reusners Germania wirbt hier mit besonderer Emphase für eine Stärkung der kaiserlichen Position. Ein jeder soll sich ohne Widerstreben in die heilige Ständeordnung einfügen und bereitwillig seine Aufgaben erfüllen. Als Rezept, als Allheilmittel gegen die Gefahr empfiehlt der Autor durch den Mund seiner Heroine den „Topos der Einheit, der concordia, der „vertraulichkeit“, kurzum das Wunschbild einer konfliktlosen Gesellschaft, deren ganzes Sinnen darauf aus sein sollte, nur den Türken zu bekämpfen und darüber allen inneren Zwist zu vergessen.“1480 Nicht minder deutlich ist auch der Appell zur bereitwilligen Leistung der pekuniären Türkenhilfe. Derartige Argumentationen waren in nahezu allen Sparten der damaligen Publizistik geläufig. Wenn Friedrich Hermann Schubert bezüglich der Programmpunkte der Reichstage der Frühen Neuzeit von der „Konstruktion einer Verpflichtung der Stände zur Türkenhilfe“1481 spricht, so trifft dies auch auf den
Lucan auf das naturwidrige Phänomen des Bürgerkrieges an. Lucan 1, 21–23: tum, si tantus amor belli tibi, Roma, nefandi,/ totum sub Latias leges cum miseris orbem,/ in te verte manus: nondum tibi defuit hostis. 1478 W. Schulze: Reich und Türkengefahr, S. 46 ff., bes .S. 52; Mertens: Europa, id est patria, S. 46, 54 f. sprechen von einer Ablösung; genau genommen aber spielt Enea Silvio die verschiedenen Argumentationsmuster nicht gegeneinander aus, sondern kombiniert sie, soweit eben möglich. 1479 Fol. C 2 r. 1480 W. Schulze: Reich und Türkengefahr, S. 61. 1481 Schubert, S. 293.
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vorliegenden Text zu. Reusner lässt seine Germania also die gängigen politischen Handlungsmaximen in Versen vortragen. Bekräftigt werden die Forderungen durch den ebenso topischen Appell, mit der Abwehr des Feindes den eigenen Lebensraum, aber auch die eigene Ehre, das Nationalprestige, zu retten: Eripite o lethi vestras e faucibus urbes, Vindice tutati meque meosque manu.1482 Entreißt Eure Städte dem Rachen des Todes, schützt mich und die Meinen mit rächender Hand.
Hier scheint Reusner wiederum auf Sabinus zu rekurrieren, der in seinem Aufruf Ad Germaniam (25–26) gemahnt hatte: Ipsa tuas urbes e faucibus eripe lethi Et vetus imperij marte tuere decus. Entreiße du selbst deine Städte dem Schlunde des Verderbens, schütze im Kampf den alten Ruhm des Reiches!1483
Deutlich wird hier das Bestreben, sich in eine bereits bestehende humanistische Tradition einzuordnen, was ja auch zu Reusners ambitioniertem Projekt der Sammlung und Repristinierung der Türkenreden passt. Wahrscheinlich soll wie bei Sabinus auch hier die Schreibweise von letum (Tod) mit h an Lethe, den mythischen Strom, der Vergessen bringt, gemahnen.1484 Versprechen von künftigem Nachruhm und glückliche Prophezeiungen folgen. Der Türke wird mit Gottes gnädigem Beistand besiegt und gedemütigt werden. Bedingung dafür ist jedoch die Beilegung aller internen Streitigkeiten, die noch einmal kurz durch die gängige Leib-Glieder-Metaphorik illustriert wird. Wie ein einzelnes krankes Glied im menschlichen Leib den ganzen Organismus empfindlich stört, so wird auch das Reich Schaden nehmen, wenn nicht das gesamte Gefüge, d. h. die Hierarchie, unangetastet bleibt.1485 Auch zum Abschluss ihres Schreibens an die Kurfürsten formuliert Germania noch einmal die bereits erwähnten Handlungsanweisungen: Auxilijs populos, meritis adiungite regem, Qui gerit arbitrio sceptra superba Dei. […] Quod Deus instituit, non est contemnere tutum: Viribus is minimis sternere summa potest.
1482 Fol. C 2 v. 1483 Text und Übersetzung nach Wilhelm Kühlmann: Humanistische Lyrik, S. 526 f. 1484 Vgl. ebd., S. 1264 (Kommentar). 1485 Fol. C 2 v–C 3 r.
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Quo magis eximium iam vos agnoscere Regem, Officijsque decet demeruisse pijs: Mandatoque Dei cura parere fideli, Caesaris ac certam pluris habere fidem. Quam vel honoratae victricia praemia palmae, Quam vel opes Croesi, divitiasque Midae. Tunc Deus egregijs iustissimis annuet ausis, Immanesque dabit vincere posse Getas.1486 Verpflichtet Euch durch Hilfe die Völker, durch Verdienste den König, welcher nach Gottes Willen das stolze Szepter führt. […] Was Gott beschlossen hat, missachtet man nicht ohne Gefahr: Mit geringsten Kräften kann er das Höchste zu Boden stürzen. Umso mehr geziemt es Euch, unseren vortrefflichen König als Oberhaupt zu ehren und Euch durch fromme Dienste um ihn verdient zu machen, mit treuer Sorge dem Auftrag Gottes zu gehorchen und die Treue zum Kaiser höher zu schätzen als den Gewinn in ruhmreichen Siegen oder als den Reichtum des Krösus und des Midas. Dann wird Gott dem erhabensten und gerechtesten Wagnis stattgeben und Euch den Sieg über die grausamen Türken gewähren.
Nachdrücklich wird hier die besondere Loyalitätspflicht der Untertanen gegenüber ihrem Kaiser eingefordert, die nach der damaligen Vorstellung in der von Gott geschaffenen Ständeordnung fest fundiert ist. Wer den Kaiser missachtet, fordert auch Gott heraus. Die Treue zum Kaiser soll den Kurfürsten mehr bedeuten als alle Siege, die sie in Auseinandersetzungen um kleine Privatinteressen erringen können, und mehr als alle Reichtümer der sprichwörtlich gewordenen mythischen Könige Krösus und Midas. Nicht ohne Grund finden diese beiden Gestalten Erwähnung als warnende Exempel, werden doch beiden Habgier und Hybris beinahe zum Verhängnis. Die Fürsten sollen nicht unter Missachtung kaiserlicher Anordnungen Geld und materielles Eigentum allein für sich horten oder gar noch durch (gewaltsame) Eingriffe in fremde Besitzansprüche vermehren wollen, sondern, soweit zur Türkenabwehr erforderlich, in den Dienst des Reiches stellen. Theologische Positionen und konfessionspolemische Aspekte kommen in Reusners Text fast überhaupt nicht zur Sprache. Gott erscheint hier lediglich als Garant einer 1486 Fol. C 3 r. Den aus Ov. her. 4, 11 (Phaedra an Hippolytus) ins Christliche transformierten Vers Quod Deus instituit, non est contemnere tutum konnte Reusner offenbar schon in der Poesie des älteren Humanismus antreffen. Vgl. Poemata Georgii Sabini, S. 378: Quod Deus instituit, non est contemnere tutum./ Exitium est huius non timuisse minas. Huic, ubi de prima fabricasset origine mundum,/ Hoc opus ut faceret cura secunda fuit. Dabei handelt es sich um ein von Johannes Stigelius verfasstes Epithalamium auf Sabinus’ Hochzeit mit Anna Melanchthon, welches dieser nach einer damaligen Sitte in seinen Liber Adoptivus aufnahm. Stigelius lässt in diesem Text Apoll und die Musen mit jeweils eigenen Ansprachen als Gratulanten auftreten. In dem Urania gewidmeten Abschnitt wird mit den hier zitierten Versen der von Gott begründete Ehestand gegen die (auf zölibatären Idealen basierende?) Skepsis eines fiktiven Gegners verteidigt. Gott habe zunächst die Welt erschaffen, sodann als zweites Werk den Ehestand begründet.
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funktionierenden gesellschaftlichen Ordnung. Wenn auch das 16. Jahrhundert „die Wunschvorstellung eines starken, weil einigen Reiches mit einem mächtigen Kaiser an der Spitze ad absurdum geführt hatte“,1487 so kann sich doch Reusner nicht enthalten, gerade dieses alte Ideal noch einmal eindringlich zu beschwören, indem er es aus dem Mund einer Instanz wie Germania gebieten lässt. Mit dem Verlust einer (wenn auch nur suggerierten) religiösen Einheit bleibt den Herrschaftsträgern nur noch eine eingeschränkte Form der Konsensfindung, und zwar diejenige des Gemeinwohls und der concordia zwischen den einzelnen Ständen.1488 Gerade von protestantischer Seite, insbesondere aus Wittenberg und von Melanchthon gingen Impulse zur Stärkung des Gemeinwesens durch akademisch gebildete Christen aus.1489 Auch Reusner gehört dieser Funktionselite Wittenberger Prägung an. Zur Förderung des Gemeinwohls bedarf es der Anknüpfung an ein früheres (tatsächlich oder vermeintlich) starkes Kaisertum,1490 welches eine optimale Kooperation von Kaiser und Kurfürsten voraussetzt. Insbesondere Mertens und Schubert betonen Reusners Absicht, disziplinarisch auf die Eliten des Reiches einzuwirken,1491 demonstrieren lässt sich das an der zweiteiligen Heroide. Vor diesem Hintergrund erschließt sich nun auch die häufige Bezugnahme des Autors auf ältere Humanisten wie Georg Sabinus. Offenkundig wertet Reusner dessen Heroide Germania ad Caesarem Ferdinandum von 1529 als vielversprechendes Paradigma für die exponierte Rolle des Poeten als ständeübergreifende mahnende Instanz und suggeriert noch Jahrzehnte später eine lückenlose Kontinuität dieser Form der publizistischen Einflussnahme.1492 Zum einen werden in Reusners Germania-Heroide manche gegenüber anderen Humanisten strukturell analogen Exempelketten beträchtlich amplifiziert1493 und heilsgeschichtlich motivierte Argumentationen weitgehend aufgegeben, zum anderen macht der Autor durch den Mund seines personifizierten Vaterlandes deutlich, welche Faktoren über Fortbestand und Untergang des Reiches entscheiden: Alles
1487 W. Schulze: Reich und Türkengefahr, S. 62. 1488 Wartenberg, S. 326 f. sieht insbesondere die zweite Generation der Fürsten der Reformationszeit diese Einstellung vertreten. 1489 Ebd., S. 327. 1490 W. Schulze: Reich und Türkengefahr, S. 62 f.; Mertens. Europa, id est patria, S. 43; Schubert, S. 293; Mout, S. 50. 1491 Mertens: Europa, id est patria, S. 43; Schubert, S. 293. 1492 „Auch sonst zeigt Reusner in interessanter Weise, wie intensiv der Stil des frühen und hohen Humanismus auch am Ende des 16. und Beginn des 17. Jahrhunderts fortwirkte, […].“ Schubert, S. 93. 1493 Z. B. die Passagen über reichsinterne Unruhen in der jüngeren Gegenwart, virtutes-Exempla aller deutschen (bzw. germanischen, aber als „deutsch“ deklarierten) Herrscher von der Antike bis in die eigene Zeit und Exempel antiker Kriegshelden aus Geschichte und Mythos.
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hängt von der Frage ab, ob Kaiser und Kurfürsten als kooperierende oder konkurrierende Instanzen auf den Plan treten.
3.2 17. Jahrhundert. Deutsche Texte 3.2.1 Paul Fleming (1609–1640) Schreiben vertriebener Frau Germanien (1631) [Germaniae exsulis ad suos filios sive proceres regni epistola / Schreiben vertriebener Frau Germanien an ihre Söhne oder die Churfürsten, Fürsten und Stände in Deutschlande. Fast nach dem Lateinischen 1631.] Der sächsische Gelehrte Paul Fleming (1609–1640) gehört zu den wenigen noch heute über einen engen Expertenkreis hinaus bekannten und geschätzten Dichtern des 17. Jahrhunderts.1494 Sein ausschließlich der Lyrik zugehöriges Werk lässt sich auf den ersten Blick mit Stichworten wie Petrarkismus, Neostoizismus und geistlicher Dichtung grob umreißen. Aufgrund seines bisweilen schlichten, liedhaften und sehr eingängigen Tones hat man den in der Nachfolge von Martin Opitz lateinisch und deutsch schreibenden Autor lange Zeit irrtümlich für einen ersten Vertreter der Erlebnislyrik vor Goethe gehalten. Von Herder über die Romantiker bis ins 20. Jahrhundert etablierte sich in der Forschung eine communis opinio, nach welcher Fleming die engen poetischen Konventionen seiner Zeit durch unmittelbaren Ausdruck seines persönlichen Empfindens durchbrochen habe.1495 Heute hingegen wird verstärkt wieder die Verwurzelung des Autors in der humanistischen Tradition des poeta doctus, seine Orientierung auch an zeitgenössischen Vorbildern wie z. B. Martin Opitz und seine souveräne Beherr-
1494 Zu Paul Flemings Leben und Werk vgl. insbesondere Heinz Entner: Paul Fleming. Ein deutscher Dichter im Dreißigjährigen Krieg. Leipzig 1989; Jörg Ulrich Fechner: Paul Fleming. In: Harald Steinhagen und Benno von Wiese (Hrsg.): Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts. Berlin 1984, S. 365–384; Gerhart Hoffmeister: Paul Fleming. In: Gunter E. Grimm und Frank Rainer Max (Hrsg.): Deutsche Dichter. Leben und Werk deutschsprachiger Autoren. Bd. 2. Stuttgart 2000, S. 212–224; Beate Czapla / Volker Meid: Art. Fleming. In: Killy / Kühlmann. Bd. 3, S. 474–477; John Flood: Poets laureate. Bd. 2, S. 570–574; Stefanie Arend / Claudius Sittig (Hrsg.): Was ein Poete kann! Studien zum Werk von Paul Fleming (1609–1640). Berlin / Boston 2012 (Frühe Neuzeit 168). 1495 Lange Zeit maßgeblich für eine solche Interpretation war Hans Pyritz: Paul Flemings Liebeslyrik. Zur Geschichte des Petrarkismus. Göttingen 1963. In neueren Publikationen geht die Wertschätzung seiner Verdienste um die Untersuchung des Petrarkismus mit einer entschiedenen Kritik an seiner allzu moderne Kriterien anlegenden Schilderung von Werdegang, Entwicklung und persönlicher Ausdruckssprache des Dichters einher.
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schung verschiedener Versarten, Motive und Themen herausgestellt. Weniger Neuschöpfung und Erfindung als Verfeinerung und raffinierte Handhabung konventioneller Mittel sind es, welche die besondere durch Jahrhunderte andauernde Wirkung von Flemings Lyrik ausmachen und diesem einen festen Platz in einschlägigen Anthologien sichern.1496 Nicht nur das Werk, sondern auch das bewegte Leben des Dichters, der auf einer weiten Handelsreise Einblick in den Orient erhielt und mit dreißig Jahren fast genauso jung verstarb wie 1803 Friedrich von Hardenberg (Novalis), reizte die Phantasie der Nachwelt und bot sogar Inspiration zu belletristischen Darstellungen: Der Arzt und Poet aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges begegnet daher auch als (romantischer) Novellen- und Romanheld.1497 Am 5. Oktober 1609 kam Fleming in Hartenstein an der Mulde im Erzgebirge als Sohn eines Pastors zur Welt. Über die Mutter, eine ehemalige Kammerjungfer der Gräfin von Schönburg auf Burg Hartenstein, lernte er bereits als Kind Hof und Adel, wenn auch im Kleinformat, als Bezugsgrößen seines Lebens kennen.1498 Nicht zuletzt der Förderung durch diese seine gräfliche Patin ist es wohl zu verdanken, dass der Junge eine seiner Befähigung adäquate Ausbildung erhielt.1499 Nach dem Besuch der Stadtschule von Mittweida trat Fleming mit kaum zwölf Jahren in die Leipziger Thomasschule ein.1500 Diese genoss damals als Kirchenmusikinstitut einerseits ein großes Prestige, galt andererseits aber auch als Armenschule (schola pauperum) im Gegensatz zur Leipziger „Bürgerschule“ St. Nicolai, welche den Söhnen wohlhabender Leute vorbehalten blieb.1501 Auch die Schulzeit selbst dürfte Fleming in verschiedener Hinsicht geprägt haben: Die herausragende musikalische Förderung der Zöglinge, insbesondere deren Ausbildung zu Chorknaben, sollte seiner poetischen Begabung zugute kommen,
1496 Art. Fleming (Killy / Kühlmann), S. 474; Hoffmeister, S. 216 ff.; Fechner, S. 372 ff. 1497 Franz Theodor Wangenheim: Paul Fleming oder die Gesandtschaftsreise nach Persien. Historischer Roman. Leipzig 1842; Clara Gerhard (alias C. Gerlach): Ein getreues Herze wissen. In: Dies.: Aus dem Herzensleben berühmter Dichter. Novellen und Skizzen. Halle 1911, S. 7–13; Werner Legère: In allen meinen Taten. Ein Paul Fleming-Roman. (Ost-)Berlin 1982. Einen Überblick bietet Wilhelm Kühlmann: Erinnerung als Roman. Fleming in der erzählenden Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. In: Stefanie Arend und Claudius Sittig (Hrsg.): Was ein Poete kann! Studien zum Werk von Paul Fleming (1609–1640). Berlin / Boston 2012 (Frühe Neuzeit 168), S. 425–440. 1498 Fechner, S. 367. 1499 Art. Fleming (Killy / Kühlmann), S. 474 f. 1500 Hoffmeister, S. 214; Fechner, S. 368. Zum Leipziger Aufenthalt als Alumnus an der Thomasschule vgl. Entner, S. 32 ff. 1501 Entner, S. 34.
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musste aber durch eine äußerst harte, entbehrungsreiche Lebensweise erworben werden. Ebenso wie in anderen Städten war es auch in Leipzig üblich, dass die jungen Sänger nicht nur bei ihren regulären Schulgottesdiensten mitwirkten, sondern auch einen Teil ihres Lebensunterhalts durch bezahlte Auftritte bei Beerdigungen, Hochzeiten und anderen festlichen Anlässen verdienten, wobei in der sächsischen Metropole allein die Thomaner als quasi professionelle Kräfte Engagements erhielten.1502 Der seit 1615 an der Schule amtierende Kantor Johann Hermann Schein (1586–1630) sollte Flemings Sinn für schlichte Melodik wecken, die sich später in dessen Dichtung niederschlug.1503 Von 1628 bis 1633 absolvierte Fleming sein Studium der artes an der Leipziger Universität, beschäftigte sich aber auch schon mit seinem späteren regulären Fach, der Medizin. In dieser Zeit ließ er sich von den Leichenpredigten seines mittlerweile in Wechselburg als Pastor amtierenden Vaters zu ersten Gelegenheitsdichtungen inspirieren, welche teils gemeinsam mit den geistlichen Texten publiziert wurden und ihm ein Nebeneinkommen verschafften.1504 Das bedeutendste seiner Leipziger Jugendwerke1505 stellt der lateinische Zyklus Rubella seu Suaviorum liber I dar, welcher die auf Catull zurückgehende, von niederländischen Humanisten gepflegte Kussmotivik aufgreift und in petrarkistischer Manier eine (wohl fiktive) vorgeblich von der Pest dahingeraffte Geliebte namens Rubella feiert.1506 Von besonderer Bedeutung wurde für Fleming die drei Jahre bis zu dessen frühem Tod währende Freundschaft mit dem sechs Jahre älteren Schlesier Georg Gloger, welcher ihn auf Martin Opitz und dessen Konzept von einer Überführung der humanistischen Poesie in die deutsche Sprache aufmerksam machte.1507 1630 hatte Fleming sogar die Gelegenheit, den berühmten Dichter selbst auf dessen Durchreise nach Paris kennen zu lernen – eine Begegnung mit weitreichen-
1502 Ebd., S. 45 ff. 1503 Fechner, S. 368. 1504 Ebd. 1505 Vgl. dazu Indra Frey: Paul Flemings deutsche Lyrik der Leipziger Zeit. Frankfurt am Main 2009 (Europäische Hochschulschriften 1987). 1506 Art. Fleming (Killy / Kühlmann), S. 474; Hoffmeister, S. 215; Fechner, S. 369. Das wohl bekannteste Gedicht Flemings, das auf derartige Traditionen Bezug nimmt, auch oft einzeln abgedruckt und interpretiert, ist Wie er wolle geküsset sein. Vgl. auch Beate Czapla. Erlebnispoesie oder erlebte Poesie? Pau Flemings Suavia und die Tradition der zyklusbildenen lateinischen Kußgedichte. In: Dies. u. a. (Hrsg.): Lateinische Lyrik der Frühen Neuzeit. Poetische Kleinformen und ihre Funktionen zwischen Renaissance und Aufklärung. 1. Arbeitsgespräch der Deutschen Neulateinischen Gesellschaft in Verbindung mit der Werner-Reimers-Stiftung Bad Homburg. Tübingen 2003, S. 356–397; Beate Hintzen: Paul Flemings Kußgedichte und ihr Kontext. Bonn 2015 (Super alta perennis. Studien zur Wirkung der Klassischen Antike 16). 1507 Art. Fleming (Killy / Kühlmann), S. 474; Hoffmeister, S. 214; Fechner, S. 369.
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den Folgen für das eigene Schaffen.1508 1633 schloss er sein Studium der artes mit dem Magistergrad ab und gewann ab diesem Zeitpunkt seinen Prüfer Adam Olearius zum Freund.1509 Im Herbst desselben Jahres ergab sich für den noch anstellungslosen jungen Gelehrten eine besondere Gelegenheit, an einem ambitionierten merkantilistischen Projekt mitzuwirken, welches ihm sowohl ein zeitweiliges Entrinnen aus der von anhaltenden Kriegswirren bedrohten Heimat als auch die Kenntnis fremder Länder auf asiatischem Boden ermöglichte. Herzog Friedrich III. von Holstein-Gottorf hatte sich überreden lassen, einen Handelsweg für orientalische Luxusgüter (vermutlich in erster Linie Seide) von Persien über Russland bis zur Ostsee unter Umgehung des Osmanischen Reiches zu erschließen.1510 Dazu waren Verhandlungen mit Moskau und Isfahan, dem Sitz des Schahs, erforderlich. Olearius nahm als Sekretär, Fleming als ad hoc ernannter Hofjunker in einem nicht näher bezeichneten Amt, vielleicht als Reisedichter, an der 34köpfigen Gesandtschaft teil.1511 Beide Freunde kooperierten auch in der literarischen Fixierung ihrer Erlebnisse: Olearius verfasste einen ausführlichen, hohen formalen Ansprüchen genügenden Bericht, welchen Fleming durch teils direkt einzufügende poetische Beilagen illustrierte.1512 Während Heinz Entner den Prosatext des ersteren als stilistisch anspruchsvolle Arbeit und „die erste wissenschaftliche Reisebeschreibung“1513 ästimiert, warnt er den (heutigen) Leser vor allzu großen Erwartungen an Flemings Gedichte in Bezug auf spannende Abenteuergeschichten an exotischen Schauplätzen.1514 Insgesamt scheint die sechs Jahre währende Reise in ihrer Mission weitgehend erfolglos verlaufen zu sein, wenn auch nicht ohne dramatische Ereignisse.1515 Bei einem Zwischenaufenthalt in Reval (Tallinn) 1635 geriet Fleming als Mensch und als Dichter mehr denn je in die Gewalt Amors. Dort kam er nämlich nicht nur mit akademischen
1508 Fechner, S. 369. 1509 Ebd., S. 368. 1510 Ebd., S. 369 f.; Entner, S. 447 ff. 1511 Fechner, S. 370. 1512 Ebd. 1513 Entner, S. 447. 1514 Ebd., S. 451 ff. Einen anderen Eindruck vermittelt Art. Fleming (Killy / Kühlmann), S. 476. 1515 Entner, S. 447, 451. Der Initiator der Reise, ein Hamburger Kaufmann, wurde anschließend sogar für das Scheitern der ambitionierten Pläne verantwortlich gemacht und endete auf dem Schafott. Entner, S. 451. Am 26.08.2019 veröffentlichte die WELT im Rahmen der Serie „Actionszenen in der Weltliteratur“ einen sensationsträchtigen Artikel von Matthias Heine über eine blutige Auseinandersetzung von Flemings Handelsgesellschaft mit einer konkurrierenden indischen, die letztlich einige Todesopfer forderte. https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article199136877/Actionszenen-der-Weltliteratur-24-Als-Paul-Fleming-in-Persien-beinahe-zerstueckelt-wurde.html [zuletzt abgerufen am 12. 07. 2021].
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Kreisen in Kontakt, sondern machte auch die Bekanntschaft der aus Hamburg stammenden Kaufmannsfamilie Niehausen, von deren drei unverheirateten Töchtern die mittlere, Elsabe, ihn bezauberte. Ihr widmete Fleming zahlreiche Gedichte, welche ihren Namen in anagrammatischer Form verewigen.1516 Als ihm die Nachricht zukam, dass sie während seiner Abwesenheit einen anderen geheiratet hatte, beklagte er ihre Untreue und verlobte sich bei seiner Rückkehr im Juli 1639 mit ihrer jüngeren Schwester Anna.1517 Um das ihm in Aussicht gestellte Amt des Revaler Stadtarztes antreten zu können, begab sich Fleming zum Abschluss seiner medizinischen Studien nach Leiden und erwarb dort am 23. Januar 1640 mit einer heute verschollenen Abhandlung über die Syphilis (De lue venerea) den begehrten Doktortitel.1518 Auf der Rückreise gelangte er schwer erkrankt noch bis nach Hamburg. Kurz vor dem Ziel seiner Wünsche wurde er am 2. April 1640, an einem Gründonnerstag, am selben Tag wie der von ihm verehrte lateinisch dichtende polnische Jesuit Casimir Maciej Sarbiewski frühmorgens vom Tod ereilt.1519 Flemings Beinahe-Schwiegereltern ließen ihn am Ostermontag, dem 6. April, in ihrem Familiengrab in der St. Katharinenkirche beisetzen und veranlassten mit Hilfe von dessen Freund Olearius eine Sammelausgabe der Gedichte.1520 Die Schaffenszeit des Poeten umfasst nicht mehr als zehn Jahre. Seine Teut schen Poemata erschienen erst postum 1646 in einer von Olearius redigierten Ausgabe, welche die Texte in konventioneller Weise nach Gattungen („Poetische Wälder“, Epigramme, Oden, Sonette) und innerhalb derer nach Anlässen (Geist liche Sachen, Glückwünschungen, Leichen, Hochzeits, Liebesgedichte) unterteilt.1521 Aus der lateinischen Produktion erschienen 1649 lediglich Epigramme im Druck.1522 Lateinische und deutsche Texte stehen bei Fleming unabhängig von dessen Alter und Lebenssituation gleichwertig und gleichberechtigt nebeneinander: Nicht selten dient der geläufige Wechsel zwischen beiden Sprachen der Variation ein- und desselben Motives.1523 Dass Fleming sich im Gegensatz zu seinem Vorbild Opitz ausschließlich als Lyriker betätigte, gereichte ihm nicht zum Nachteil: Bisweilen wurde er von Zeitgenossen sogar noch höher als dieser einge-
1516 Fechner, S. 371. Als spielerische Varianten des wirklichen Namens begegnen Salvie, Basile, Basilene, Salibene oder Salibande. 1517 Ebd.; Hoffmeister, S. 214. 1518 Hoffmeister, S. 214. 1519 Fechner, S. 365, 372. 1520 Ebd., S. 372. 1521 Art. Fleming (Killy / Kühlmann), S. 476. 1522 Ebd. 1523 Hoffmeister, S. 218.
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stuft.1524 Primär unter dem Aspekt der Liebesthematik und des Petrarkismus, den er in deutscher Sprache einer breiteren Leserschaft darbot,1525 zog und zieht er das Interesse der Forschung auf sich,1526 dennoch spielt in seinem Werk auch der auf den niederländischen Späthumanisten Justus Lipsius zurückgehende Neostoizismus keine unerhebliche Rolle.1527 Das verbindende Element zwischen scheinbar so disparaten Ressorts wie petrarkistischer Liebeslyrik, (christlich gefärbtem) Stoizismus und geistlicher Liederdichtung lässt sich in dem alles dominierenden Motiv unerschütterlicher Treue und Beständigkeit ausmachen.1528 Gerade die Vereinigung dieser drei Stränge mit regelkonformer Handhabung konventioneller künstlerischer Mittel in zwei Sprachen ließ Fleming zum vielleicht bedeutendsten vormodernen Repräsentanten der Darstellung überpersönlicher menschlicher Grundanliegen werden und sicherte ihm einen durchweg unangefochtenen Rang in der Literaturgeschichte.1529 Im Hinblick auf Flemings Wurzeln im lateinischen Humanismus sollte man auch dessen Versuche, in poetischer Form auf die großen weltpolitischen Ereignisse seiner Zeit Einfluss zu nehmen, nicht außer Acht lassen. Dies gilt insbesondere für das turbulente und verhängnisvolle Kriegsjahr 1631.1530 Schon im Winter oder Frühjahr desselben publizierte Fleming als 21-jähriger Student in einer Flugschrift ein pazifistisch-patriotisches Appell-Gedicht, welches bis heute in allen Disziplinen der Barockforschung als besonderes Exempel für politisch-paränetische Gelegenheitspoesie herangezogen wird. Es handelt sich um die ursprünglich lateinisch abgefasste Germaniae exsulis ad suos filios sive proceres regni episto la,1531 welche größere Bekanntheit erlangte in der vom Autor selbst verfertigten, leicht amplifizierten deutschen Version Schreiben vertriebener Frau Germanien an 1524 Art. Fleming (Killy / Kühlmann), S. 476. 1525 Hoffmeister, S. 218. 1526 Dies geht oftmals schon aus den Titeln der wissenschaftlichen Beiträge hervor. 1527 Dies demonstriert exemplarisch anhand von Einzelinterpretationen Wilhelm Kühlmann: Selbstbehauptung und Selbstdisziplin. Zu Paul Flemings An sich. In: Volker Meid (Hrsg.): Gedichte und Interpretationen. Bd. 1: Renaissance und Barock. Stuttgart 1982, S. 159–166, bes. S. 162 ff.; Wilhelm Kühlmann: Sterben als heroischer Akt. Zu Paul Flemings Grabschrift. In: Ebd., S. 168–175. Vgl. auch Dirk Niefanger: „Ich sags auch mir zum Hohne.“ Paul Flemings Kriegslyrik. In: Stefanie Arend und Claudius Sittig (Hrsg.): Was ein Poete kann! Studien zum Werk von Paul Fleming (1609–1640). Berlin / Boston 2012 (Frühe Neuzeit 168), S. 257–271, bes. S. 267. 1528 Hoffmeister, S. 220; Fechner, S. 379 ff. 1529 Hoffmeister, S. 221, Fechner, S. 381. 1530 Das gesamte fünfte Kapitel von Entners Fleming-Biographie S. 179–307 ist diesem Jahr gewidmet; die Bedeutung desselben für Flemings Kriegsdichtung geht auch aus Niefanger, S. 260 ff. klar hervor. 1531 Im Folgenden zitiert nach Paul Flemings lateinische Gedichte. Hrsg. von Johann Martin Lappenberg. Amsterdam 1969 (Nachdruck von Stuttgart 1863), S. 186–192.
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ihre Söhne oder die Churfürsten, Fürsten und Stände in Deutschlande.1532 Dieser Versepistel widmen sich bereits eine längere Passage im Rahmen von Entners Fleming-Biographie1533 wie auch Einzelinterpretationen bis in die letzten Jahre,1534 ansonsten findet sie Beachtung oder zumindest Erwähnung, wo entweder von Fleming generell1535 oder von allegorisch-patriotischer Gelegenheitsdichtung aus dem 17. Jahrhundert bzw. von literarischer Bewältigung des Dreißigjährigen Krieges1536 die Rede ist. Der historisch-politische Kontext dieses Schreibens scheint nicht zuletzt durch den Vergleich mit anderen gleichzeitig in derselben Stadt publizierten Dichtungen mit einiger Sicherheit erschlossen. Vom 6. Februar bis zum 5. April 1631 hielt der sächsische Kurfürst Johann Georg I. (1585–1656) den Leipziger Konvent ab, eine große Zusammenkunft, bei welcher sich die protestantischen Reichsstände, Lutheraner und Calvinisten, über weitere Maßnahmen im Umgang mit Kaiser, konfessionellen Gegnern und auswärtigen Mächten berieten. In der Folge rückte Johann Georg allmählich von seiner seit Generationen gepflegten Loyalität gegenüber dem Kaiser ab und ließ sich von seiner defensiv-abwartenden Haltung zu offensiveren Schritten veranlassen. Der Kongress selbst markiert gewissermaßen den Übergang: Der Kurfürst unternahm einen letzten aussichtslosen Versuch, den offenen Bruch mit dem Kaiser zu vermeiden und diesen zur Rücksichtnahme auf die wichtigsten Anliegen der Protestanten zu bewegen, zugleich traf er erste potentielle Verteidigungsmaßnahmen gegen die kaiserlichen Truppen und warb Söldner für eine Armee an. Nur kurze Zeit später, noch im September desselben Jahres sollte er sogar ein Bündnis mit dem als Retter der Protestanten auftretenden schwedischen König Gustav II. Adolf eingehen und somit seinen aktiven Einstieg in den Krieg besiegeln. Es darf als unstrittig gelten, dass Flemings Text auf die sächsische Politik zur Zeit des Leipziger Kon-
1532 Im Folgenden zitiert nach Paul Flemings deutsche Gedichte. Hrsg. von Johann Martin Lappenberg. Bd. 1. Darmstadt 1965 (Nachdruck von Stuttgart 1865), S. 102–110. 1533 Entner, S. 193–206. 1534 Marian Sperberg-McQueen: Ein Vorspiel zum Westfälischen Frieden. Paul Flemings „Schreiben vertriebener Frau Germanien“ und sein politischer Hintergrund. In: Simpliciana 6/7 (1985), S. 151–172 sowie Marian Sperberg-McQueen: The German Poetry of Paul Fleming. Studies in Genre and History. Chapel Hill / London 1990, S. 53–77; Barbara Becker-Cantarino: Paul Flemings Schreiben vertriebener Frau Germanien. Zu Ikonographie und Konzept von „Germania“ im 17. Jahrhundert. In: Stefanie Arend und Claudius Sittig (Hrsg.): Was ein Poete kann! Studien zum Werk von Paul Fleming (1609–1640). Berlin / Boston 2012 (Frühe Neuzeit 168), S. 233–255. 1535 Art. Fleming (Killy / Kühlmann), S. 475; Frey, S. 95; Niefanger, S. 263, Anm. 26. 1536 Dörrie: Der heroische Brief, S. 469 f.; Brandt: Germania und ihre Söhne, S. 52 f.; A. Schmidt: Vaterlandsliebe und Religionskonflikt, S. 366; Irmgard Weithase: Die Darstellung von Krieg und Frieden in der deutschen Barockdichtung. Weimar 1953, S. 33; Eickmeyer: Der jesuitische Heroidenbrief, S. 145–150; jetzt auch Detering, S. 211–230.
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vents Bezug nimmt; schwieriger ist allerdings zu entscheiden, inwieweit er sich diese vollkommen zu eigen macht oder gar propagiert. Für die Einordnung der Versepistel in diesen Kontext sprechen zwei etwa zeitgleich publizierte Einblattdrucke Flemings mit unverkennbaren inhaltlichen Parallelen: eine Gratulation an Herzog Johann Casimir von Sachsen-Coburg zum Namenstag Auf Herrn Johan Casimir, Herzoge zu Sachsen, Namenstag.1537 Einigkeit der Interpreten besteht auch in Bezug auf einen (wahrscheinlichen) Zusammenhang der Germania-Epistel mit einem damals in Leipzig zirkulierenden, ebenfalls zweisprachigen Gedicht aus anderer Feder, welches ein biographisch kaum noch fassbarer, vermutlich als kurfürstlich sächsischer Hofpoet wirkender Autor namens Elias Rudelius (Rudel oder Rüdel) in Umlauf brachte.1538 Dabei handelt es sich um eine lateinisch und deutsch abgefasste Klage einer personifizierten Frau Europa, welche in der für den Leipziger Konvent bezeugten Tendenz für eine überkonfessionelle Friedensund Versöhnungshaltung plädiert.1539 Die eine Fassung, eine Flugschrift im Quartformat ohne Illustration und Datierung, trägt den Titel Querela Europae, ad diversos Imperii Germani proceres, ordines, status, de accepto membrorum suorum vulnere et clade diffamata. Den lateinischen Hexametern ist eine deutsche Version in Alexandrinern beigefügt.1540 Die zweite Fassung, ein immerhin auf das Jahr 1631 datiertes Flugblatt im Folioformat, ist überschrieben als Europa querula et vulnerata, Das ist/ Klage der Europen/ so an ihren Gliedern und gantzem Leibe verletzet/ und verwundet ist/ und nunmehr Trost und Hülffe begehret.1541 In 60 paarweise gereimten, noch unbeholfenen deutschen Alexandrinern wird in einer auch dem einfachen Volk zugänglichen Weise das Leid des Krieges vergegenwärtigt: Die einstmals stolze Königstochter Europa nimmt die bestürzte Frage eines anonymen Sprechers zum Anlass, sich in Klagen über die zerstörte Schönheit ihrer äußeren Erscheinung, über den Furor des Krieges, über Hunger, Not und Verwahrlosung der Äcker zu ergehen.1542 Vor allem die von dem Leipziger Radierer Andreas Bretschneider verfertigte Illustration dieses Flugblattes, welche eine 1537 In: Lappenberg: Paul Flemings deutsche Gedichte. Bd. 1, S. 110–111. 1538 Entner, S. 198 ff.; Sperberg-McQueen: Ein Vorspiel zum Westfälischen Frieden, S. 159 ff.; Becker-Cantarino, S. 242 f. 1539 Zur seit 1534/37 nachweisbaren literarischen Tradition der Europa lamentans vgl. Detering / Pulina, bes. S. 28–30 sowie das Kapitel dieser Arbeit 2.3.4. Dennoch gibt es, soweit ersichtlich, keine Europa-Heroiden, also keine Briefe, die Europa zur Schreiberin oder Empfängerin haben. 1540 Entner, S. 198. Einen Abdruck der ersten 50 lateinischen Verse mit moderner Übersetzung bietet Detering, S. 218 ff. 1541 Ebd.; Sperberg-McQueen: Ein Vorspiel zum Westfälischen Frieden, S. 159 f. geht nur auf diese Fassung ein. Eine ausführliche Analyse bietet Detering, S. 212 ff. 1542 Entner, S. 298 ff.; Sperberg-McQueen: Ein Vorspiel zum Westfälischen Frieden, S. 159 f.; Becker-Cantarino, S. 242 f.
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auf einer Felsklippe stehende und von Soldaten bedrängte Frauengestalt mit aufgelöstem Haar und Flehgebärden präsentiert, lässt vermuten, dass Fleming Rudelius die Inspiration zur detailreichen Schilderung seiner ans Meer verbannten Germania verdankt.1543 Die Ähnlichkeit der beiden allegorischen Gedichte, insbesondere aber diejenige der bei Rudelius begegnenden Illustration und einiger Passagen bei Fleming schließen den Gedanken an Zufall beinahe aus. Entner hält nicht nur eine Bekanntschaft oder zumindest gegenseitige Textkenntnis beider Autoren für wahrscheinlich, sondern gelangt zu dem Schluss, dass Fleming den Hofdichter in politischer oder ästhetischer Hinsicht habe korrigieren und überbieten wollen.1544 Der Leipziger Student sei bemüht gewesen, gegenüber der gesamteuropäischen Situation die auf Deutschland bezogene Problematik stärker herauszuarbeiten.1545 Die naheliegende Frage, wie ein noch unbekannter junger Mann es wagen konnte, sich in Konkurrenz zu einem höfischen Würdenträger zu begeben, beantwortet Entner mit der Theorie, dass Fleming eine (der Nachwelt unbekannte) Protektion genossen haben müsse.1546 Das Schreiben vertriebener Frau Germanien erhält seinem Urteil nach somit das Gepräge einer Auftragsdichtung. Ob dies nun zutrifft oder nicht – zumindest bleibt anzunehmen, dass der Autor sich einen Namen in der Öffentlichkeit machen wollte, vielleicht sogar auf eine Stellung am Dresdener Hof spekulierte.1547 Marian Sperberg-McQueen diskutiert den Forschungsstand zu dieser Versepistel. Dörries Verdikt über „eine Suasorie ohne Programm“,1548 welche den brisanten Fragen der Zeit ausweiche und in ästhetische Spielereien flüchte,1549 stellt er die von älteren Wissenschaftlern vertretene und gewissermaßen zur communis opinio gewordene Deutung gegenüber, es handle sich um eine Appellschrift zur Verteidigung der protestantischen Partei und zur Formation einer deutsch-schwedischen Allianz unter der Ägide Gustav Adolfs.1550 Dörries Befremden über vermeintlich fehlendes parteipolitisches Engagement sei damit zu entschuldigen, dass er eine frühe Sammelausgabe von Flemings Werken benutzt und in Unkenntnis von Erscheinungsjahr und konkretem Anlass der Epistel keinen Zusammenhang mit der sächsischen Politik erkannt habe.1551 Die andere Interpretation des
1543 Becker-Cantarino, ebd.; Sperberg-McQueen: Ein Vorspiel zum Westfälischen Frieden, S. 160. 1544 Entner, S. 201. 1545 Ebd. 1546 Ebd. 1547 Ebd., S. 209; Becker-Cantarino, S. 240. 1548 Dörrie: Der heroische Brief, S. 470. 1549 Ebd. 1550 Sperberg-McQueen: Ein Vorspiel zum Westfälischen Frieden, S. 152 ff. 1551 Ebd., S. 154.
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Textes als Werbeschrift für ein Bündnis mit Schweden weist Sperberg-McQueen als unzulässiges vaticinium ex eventu zurück, da der Kurfürst, Fleming und ihre sächsische Umgebung zu diesem Zeitpunkt noch nicht die wenige Monate später erfolgende politische Entwicklung hätten vorhersehen können. Der spätere Anschluss der deutschen Protestanten an Gustav Adolf und dessen Verklärung zu einer messianischen Heilsgestalt dürfe nicht auf die Zeit des Konvents zurückprojiziert werden.1552 Sperberg-McQueen betont die überparteisch-irenische Tendenz der Epistel, welche vollständig die auf Frieden mit dem Kaiser und auf nationale Eintracht abzielende Politik Johann Georgs widerspiegle.1553 Dieser Interpretation folgt jetzt in einer der neuesten Untersuchungen des Textes Jost Eickmeyer.1554 Ähnlich wie Sperberg-McQueen urteilt Entner, welcher allerdings der protestantischen Protagonistenrolle bei der von Fleming angemahnten Einigung der Stände einen etwas stärkeren Akzent verleiht.1555 Die ältere Deutung des Gedichts als Appell zum Bündnis mit Schweden vertritt in der neuesten Forschung Barbara Becker-Cantarino.1556 Wenn auch ausführliche Interpretationen des Schreibens vertriebener Frau Germanien vorliegen und zumindest die Realien weitgehend erschlossen sind, wird in einem weiteren Kapitel zu diesem Text dennoch der Versuch unternommen, einige Details stärker herauszuarbeiten, um eine der Deutungen zu untermauern, zumindest aber die literarische Struktur in mancher Hinsicht noch zu erhellen. Die formale Zugehörigkeit der Epistel zu der von Ovid begründeten Gattung der Heroidendichtung generell, insbesondere aber zu der patriotisch-allegorischen Ausformung derselben, wie sie sich nach dem frühen Vorbild Petrarcas vor allem im Humanismus des 16. Jahrhunderts großer Beliebtheit erfreute, erläutern Dörrie1557 und (in seinem Gefolge) Sperberg-McQueen1558 sowie der besonders auf (frühneuzeitliche) Heroidendichtung spezialisierte Eickmeyer.1559 Die Tatsache, dass Becker-Cantarino, die ja auf Sperberg-McQueens Arbeiten Bezug nimmt,
1552 Ebd., S. 154 ff. 1553 Ebd., S. 156 ff. 1554 Eickmeyer: Der jesuitische Heroidenbrief, S. 145 ff.; bes. S. 149. 1555 Entner, S. 197, 201. 1556 Becker-Cantarino, S. 236 f. Auf Sperberg-McQueens Ablehnung der Deutung als Appell zugunsten Gustav Adolfs geht sie trotz sonstiger Bezüge auf dessen Aufsatz mit keinem Wort ein; im Gegenteil, sie versteht ihre eigenen Ausführungen nicht als Kritik an Sperberg-McQueen oder Entner, sondern möchte explizit nur deren „Hinweise […] auf die Irenik und den politisch-patriotischen Kontext erweitert und differenziert“ wissen. S. 233. 1557 Dörrie: Der heroische Brief, S. 470. 1558 Sperberg-McQueen: Ein Vorspiel zum Westfälischen Frieden, S. 152. 1559 Speziell unter diesem Aspekt widmet er ihr einige Seiten.
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eine „eindeutige Zuordnung zur Gattung des Kasualgedichtes oder der Elegie“1560 für problematisch hält und wiederholt von einem „reflexive[n] hybride[n] Versgebilde“1561 oder von der „Hybridität des Gelegenheitsgedichtes“1562 spricht, verstärkt den gelegentlich aufkommenden Eindruck, dass die Vertrautheit mit der Heroidengattung selbst in literaturwissenschaftlichen Sparten mit frühneuzeitlicher Ausrichtung nicht mehr überall vorausgesetzt werden kann. Flemings Epistel, genauer gesagt die bekanntere und auf einen breiteren Rezeptionskreis abzielende volkssprachliche Fassung, gilt als das erste Beispiel einer Heroide in deutscher Sprache –1563 ein Beispiel, welches in Hofmannswaldaus Sinnreichen Heldenbrieffen und acht Heldenbriefen in Christoph Friedrich Kienes Hauptwerk Poetische Nebenstunden (1680/1681) eine „re-ovidisierte“ Nachfolge findet.1564 Der lateinischen Version von 104 elegischen Distichen (208 Versen) steht die deutsche mit 300 kreuzweise gereimten elegischen Alexandrinern gegenüber, wobei die auf den ersten Blick nicht unbeträchtlich scheinende Erweiterung eher metrischen Erfordernissen als bemerkenswerten inhaltlichen Modifikationen geschuldet ist. Die folgenden Ausführungen versuchen, beiden Fassungen gerecht zu werden,1565 wobei zu beachten ist, dass nicht alle deutschen Verse eine lateinische Entsprechung haben, da es sich eben nicht um eine Übersetzung nach modernen philologischen Maßstäben handelt.1566 Fleming, der zu dieser Zeit auch sonst in Form von Rollengedichten Position zum Krieg bezieht,1567 legt hier seine Verse einer überindividuellen, beinahe sakrale Autorität beanspruchenden Sprecherinstanz in den Mund. Ganz in der Tradition der ovidischen und humanistischen Heroide lässt er seine Heldin Germania mit einer advocatio und einer mitleiderregenden Schilderung der 1560 Becker-Cantarino, S. 238. 1561 Ebd., S. 237. 1562 Ebd., S. 238. 1563 Sperberg-McQueen: Ein Vorspiel zum Westfälischen Frieden, S. 153. 1564 In seiner Sammlung gestaltet Hofmannswaldau eine in Briefpaaren ausgetragene (teilweise als frivol getadelte) Liebeskorrespondenz zwischen weniger bekannten Gestalten der Historie, wobei ein jeweils vorangestelltes Argumentum die nötigsten Informationen zum Inhalt bietet. 1565 Zitierte Verse werden durch L und D nach ihrer Zugehörigkeit zur lateinischen oder deutschen Version unterschieden. Versangaben bei der Paraphrasierung beziehen sich, soweit nicht anders gekennzeichnet, auf die deutsche Fassung. 1566 Seinem Thema vom jesuitischen Heroidenbrief entsprechend geht Eickmeyer als einziger primär von der lateinischen Fassung aus, wodurch er neue philologische Einsichten insbesondere in die Mikrostruktur des Textes gewinnt. 1567 Niefanger zeigt in seinem Aufsatz, dass die einander scheinbar widersprechenden Einstellungen zum Krieg in den Gedichten Lob eines Soldaten zu Rosse, Lob eines Soldaten zu Fuße und Er beklagt die Aenderung und Furchtsamkeit itziger Deutschen einem artifiziellen Rollencharakter geschuldet sind.
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Schreibsituation einsetzen (1–16).1568 Ähnlich wie ein halbes Jahrhundert zuvor bei Nikolaus Reusner1569 richtet Germania zumindest dem Titel nach ihr Hilfegesuch primär an die Kurfürsten als die eigentlichen Träger des Reiches, explizit mit einbezogen werden aber auch die übrigen auf dem Kongress versammelten (protestantischen) Fürsten und Stände.1570 Dörrie erkennt darin eine Absage an die Autorität des Kaisers, der mit keinem Wort erwähnt werde. Dies stelle das einzige wirkliche Argument der Heroide dar.1571 Dem ist zwar entgegenzuhalten, dass Ferdinand II. in einer späteren Passage (265–272), wenn auch durchgehend in der dritten Person, namentlich genannt wird, doch die Fokussierung auf die Territorialherrscher ist unverkennbar.1572 Germania eröffnet ihre Klagen mit der als Konditionalsatz formulierten Berufung auf das möglicherweise schon in Zweifel gezogene Mutter-Sohn Verhältnis zwischen ihr und den Adressaten und der flehentlichen Bitte um mitleidsvolle Entgegennahme ihres Schreibens. Der klassische Eingangstopos findet sich gewissermaßen zu einer captatio misericordiae gesteigert (L 1–8, D 1–8): Si qua mei vobis cura est et gratia, nati, pignora, si genitrix jam quoque vestra vocor, sumite non grandem sperata fronte tabellam, sumite materna paucula scripta manu. Qua vomit horrisonos spumanti gurgite fluctus oceanus, de me qui sibi nomen habet, heic, procul a vestro cogebar limine, moesta plangere flebilibus tristia verba modis. Ihr meine Kinder, ihr! So ihr mich noch könnt kennen, so euch der Mutter Nam’ erhitzet euren Sinn, ihr Söhne, so ihr noch mich könnet Mutter nennen, so nehmt von meiner Hand diß kurze Büchlein hin! Nehmt hin den Mutterbrief, den ich, wo seine Wellen mit Sturme wirfet aus mein deutscher Ocean,
1568 Teilweise ausführliche Paraphrasen finden sich bereits bei Sperberg-McQueen: Ein Vorspiel zum Westfälischen Frieden, S. 151 f.; Entner, S. 194 ff.; Becker-Cantarino, S. 234 ff. 1569 Nikolaus Reusner: Germania ad Divum Maximilianum Austriacum II. Romanorum Impera torem invictissimum, caeterosque sacri Imperij illustrissimos Electores ac Principes de Pace et Con cordia domi constituenda deque expeditione in Turcas suscipienda. Vgl. das betreffende Kapitel 3.1.10 dieser Arbeit. 1570 Insofern findet sich bei Fleming nicht das erste Modell für eine Hinwendung der Germania an mehrere Söhne. 1571 Dörrie: Der heroische Brief, S. 470. 1572 Eickmeyer: Der jesuitische Heroidenbrief, S. 148 hingegen sieht im Kaiser den wenn auch nur indirekt angesprochenen eigentlichen Adressaten.
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so weit von eurer Stadt, in tiefsten Unglücksfällen, aus Zwange meiner Not und Harms an euch getan!
Weit von eurer Stadt, also dem Ort des Konvents Leipzig, entfernt fristet Germania ein elendes Leben an der Nord- oder Ostsee, mehr noch, sie befindet sich auf der Flucht oder in der Verbannung auf einer Insel oder an einer inselähnlichen Küste und somit im Wortsinne in der Isolation (isola – italienisch Insel). Gerade diese Eingangsverse mit der detaillierten Beschreibung der Heldin lassen eine Inspiration Flemings durch das Flugblatt von Rudelius, besonders durch dessen Illustration,1573 sehr plausibel erscheinen. Dort steht Rudelius’ Königin Europa als bedrohte Frau barfuß, mit aufgelöstem Haar und halb zerrissenem Gewand auf einer erhöhten Felsklippe (so weit erkennbar, wahrscheinlich vor dem Hintergrund eines Meeres oder sonstigen Gewässers), ragt mit dem Haupt in eine Anballung dunkler Gewitterwolken, und halb abgewandt von den mit Pfeilen auf sie schießenden Soldaten richtet sie sich mit deutlichen Flehgebärden halb zu einer idyllischen Landschaft mit einer friedlich diskutierenden Männerversammlung auf der anderen Seite,1574 halb zum Betrachter. Bei aller Evidenz ihrer Notlage strahlt die Figur (vielleicht nicht zuletzt aufgrund ihrer monumentalen Größe) ein gewisses majestätisches Charisma aus. Ähnliche visuelle Vorstellungen mögen die Eingangsverse von Flemings Germania-Epistel wecken, und eine Abhängigkeit ist umso wahrscheinlicher, als es sich bei der genannten Illustration um eine frühe bildliche Darstellung eines Landes oder Kontinents als bedrohte und notleidende Frau handelt.1575 Die mit zahlreichen Details ausgestattete Inszenierung einer Landespersonifikation als gestürzte und in Verbannung
1573 Mit Abbildung und eingehender Beschreibung bei Sperberg-McQueen: Ein Vorspiel zum Westfälischen Frieden, S. 159 ff.; mit Abbildung und ausführlicher Verortung in der literarisch-motivgeschichtlichen Tradition bei Detering, S. 212 ff.; mit Abbildung bei Entner, S. 199, mit eingehender Beschreibung bei Becker-Cantarino, S. 242 f. 1574 Becker-Cantarino, S. 243 erkennt darin eine am locus amoenus sitzende diskutierende Männerversammlung als Darstellung des Fürstenkonvents. Sie folgt somit einer älteren Deutungstradition, welche die Zweiteilung des Bildes – Pfeile auf Europa schießende, teilweise als Jesuiten kenntlich gemachte Soldaten zur einen, in platonischer Tradition friedliche Beratungen abhaltende Männer zur anderen Seite – als konfessionelle Stellungnahme auffasst. Diese Ansicht revidiert Detering, S. 216 f. Der Betrachter soll „die binäre Teilung des Bildprogramms weniger als synchron-konfessionelle denn als zeitliche Dichotomie von Gegenwart und Zukunft verstehen, von Kriegsklage und Friedensprojektion.“ 1575 Sperberg-McQueen: Ein Vorspiel zum Westfälischen Frieden, S. 160. Er verweist auf die ikonographische Tradition, die bis 1631 nur den Typus der Germania triumphans gekannt habe, eine Vermutung, welche einer Relativierung bedarf. Zur römischen Darstellung der Germania capta und zur mittelalterlichen Germania als eine dem Kaiser huldigende Gestalt vgl. die Kapitel dieser Arbeit 2.3.1 und 2.3.2.
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lebende Königin steht einerseits in der Tradition der Roma-Allegorie, verleiht der gesamten Epistel aber auch einen biblischen Anstrich und evoziert die Vorstellung einer leidenden Tochter Zion, wie sie gerade im Alten Testament durchweg begegnet.1576 Anders jedoch als das für seine eigenen Sünden von Gott verdientermaßen gestrafte Jerusalem nimmt Germania eine großenteils unschuldige bzw. moralisch ambivalente Position ein: So beteuert sie mehrfach, dass sie unverschuldet in dieses Leid geraten sei (116–117, 270), um an anderer Stelle hingegen Beschämung über ihre eigene Uneinigkeit mit sich selbst zu bekunden (141–152). Im Hinblick auf die Heroiden-Tradition mag Fleming, vielleicht auch schon Rudelius und Brettschneider, Ovids zehnte Heroide, die Klage der auf Naxos verlassenen Ariadne, als außerbiblisches Modell für den Grundgedanken einer im Exil an der Küste umherirrenden Königstochter geliefert haben. In seiner brillanten Kurzanalyse, die weniger auf eine neue politische Deutung des Textes abhebt – sie folgt im wesentlichen Sperberg-McQueen – als auf die wechselseitige Befruchtung verschiedener literarischer Gattungen, verdeutlicht Eickmeyer anhand von philologischen Einzelbeobachtungen die Nähe zu Ovids Exildichtung.1577 Zunächst vergegenwärtigt Germania ihre prekäre Schreibsituation (L 9–14, D 9–16): Non ego communi pingebam elementa madore, non erat ex caesa penna volucre mihi. Penna levis mihi canna fuit lacrymaeque fluores, quos gleba in rorem miscuit atra nigrum. Haec pinxi curvata genu cortexque papyri scripturae potuit fageus esse vicem. Da seht mein Elend ab! Ich wolt’ und sollte schreiben, doch hatt’ ich gleichwol nicht, was Dint’ und Feder ist. Ich must’ ein schwarzes Kloß in meine Tränen reiben, die Feder war ein Rohr: diß ist mein Schreibgerüst’. Ich kunte kümmerlich von einer Buche schälen Die zache Rinde weg, und diß ist mein Papir. Ich satzte mich alsbald zu einer liechten Höhlen, mein Schreibpult war das Knie. Solch Armsein ist bei mir.
Mit einer aus ihren eigenen Tränen und Humus gemischten Flüssigkeit und einem Schilfrohr schreibt sie auf bröselige Stücke von abgeschälter Buchenrinde, welche sie auf den Knien hält (9–16) – ein Motiv, welches möglicherweise der 1576 Vgl. Ez 16; Jer 22, 20–23; Jes 51, 17–23; Jes 54, 4. 1577 Eickmeyer: Der jesuitische Heroidenbrief, S. 148 attestiert Flemings Germania-Brief, dass „seine Makrostruktur weitaus mehr diesem Vorbild aus Ovids Exildichtung entspricht als einem Heroidenbrief oder Panegyrikus“.
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italienischen Concettodichtung geschuldet ist,1578 aber durchaus auch an die auf dem Felsen sitzende ovidische Ariadne1579 gemahnen kann, welcher der Brief beinahe vom (als Schreibtisch dienenden) Knie rutscht.1580 Die besondere Pointe dieser Darstellung erläutert Eickmeyer: Doch Fleming spielt auch auf Ovids Heroides an, etwa wenn Germania ihre Schreibsituation thematisiert […]. Schon Venantius Fortunatus hatte Ovid zu übertreffen gesucht, indem er die liebende Nonne nicht nur unter Tränen, sondern mit ihren Tränen hatte schreiben lassen […]. Fleming nutzt hier die gleiche Strategie, erweitert um den Erdklumpen, der für die schwarze Farbe der Schreibflüssigkeit sorgen muss: […] Germania nimmt von ihrer Erde („gleba“), um zu schreiben, schreibt also gleichsam mit sich selbst, um ihr Anliegen vorzubringen.1581
Als mögliche Inspiration Flemings für die Vergegenwärtigung der gebeugt und auf ihr Knie gestützt sitzenden Germania hat man auch zeitgenössische Darstellungen von Melancholie in Betracht gezogen.1582 Germanias Hinweis auf ihre unzureichende Behausung – eine selbsterbaute, hinfällige Schilfhütte ist bei jeglicher Witterung ihre einzige Zuflucht –, lenkt möglicherweise den Blick des Lesers über die bloße Misere und Baufälligkeit hinaus auf den Zug der aus Ägypten fliehenden Israeliten zurück, welche auf Moses Geheiß an dem bis heute nicht sicher lokalisierbaren „Schilfmeer“ ihr Nachtlager aufschlugen,1583 woraus sich der Brauch des Hüttenbaus an bestimmten jüdischen Festtagen entwickelte.1584 In den nächsten Versen klagt Germania, wie sich der soziale Abstieg von der einstigen Königin zur Bettlerin in ihrer Kleidung und Nahrung widerspiegelt (L 19–24, D 25–32):
1578 Dörrie: Der heroische Brief, S. 469. 1579 Vgl. Ov.her. 10, 49–50: aut mare prospiciens in saxo frigida sedi,/ quamque lapis sedes, tam lapis ipsa fui. 1580 Ebd., 139–140: corpus, ut inpulsae segetes aquilonibus, horret,/ litteraque articulo pressa tremente labat. 1581 Eickmeyer: Der jesuitische Heroidenbrief, S. 146. Vgl. die entsprechende Passage zu einem Heroidenmerkmale adaptierenden geistlichen Gedicht des Venantius Fortunatus ebd., S. 57 ff., zum Motiv der Tränen als Schreibflüssigkeit, S. 60. Wiederholt hebt Eickmeyer auch die Bedeutung der ovidischen Ariadne-Epistel (Ov. her. 10) für die Gestaltung von Venantius’ geistlicher Brautmetaphorik hervor. 1582 Sperberg-McQueen: The German Poetry of Paul Fleming, S. 65: „The postures of the two figures are different: standing elevated and exposed to her enemies’ arrows, Europa recalls Saint Sebastian, while Germania, bent over her knee as she writes, recalls, appropriately, traditional depictions of acedia and melancholy best known from Dürer’s Melencolia I.“ 1583 Ex 13, 18 ff. 1584 Zum Laubhüttenfest vgl. Lev 23, 39–44; Neh 8, 13–28; Sach 14, 16.
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Nec secura tamen, sed circumfusa periclis Millibus, hinc terror me ferit, inde ferae. Sola vagor, famulabus egens ignaraque mundi, scissa comas, lacera veste, squalore nigra. Daps mihi radices et tractus ab arbore muscus Curvaque turbatam palma ministrat aquam. Ich leb’ in steter Furcht. Hier schläget mich das Schrecken, dort ängstet mich ein Wild. Ich muß alleine sein, von Zofen unbedient. Ich kann mich nährlich decken mit dem geflickten Rock’. Hin ist mein erster Schein. Der Wald, der muß mich itzt mit rohen Wurzeln nähren, mir ist der nasse Moos anstatt Citronensaft. Ich schöpfe mit der Hand, dem Durste nur zu wehren, das trübe Wasser auf. Diß soll mir geben Kraft.
Anders, als es eine lange Tradition eremitischer oder pagan-philosophischer Lebens- und Tugendkonzepte nahelegen könnte, erscheint der notgedrungene Verzicht auf Hofstaat, Luxusgüter und Statussymbole – Zofe, Prachtkleid und (ohne Entsprechung im Lateinischen) Zitronensaft – angesichts eines auf Repräsentation bedachten Zeitalters als Defizit, als Ausdruck eines aus den Fugen geratenen Daseins. In einer schonungslos drastischen Schilderung beweint Germania den Umschlag ihrer äußeren Schönheit in abstoßende Hässlichkeit (L 25–32, D 33–40): Pendula carnivoro flaccescunt membra marasmo curaque tabividam me fera fecit anum. Horreo, strigosos dum specto corporis artus, ruga ut callosum plurima corpus aret. Frons senuit, densis horrescunt tempora canis, nec, quo condatur, dens gelasinus habet. Ah mihi, qualis eram! Sed qualis, heu mihi, nunc sum! Hei! cedici miseris regia nata modis! Die Glieder werden welk, das Fleisch ist abgeschwunden, die Sorge macht mich alt, eh’ es noch Zeit ist doch. Es ekelt mir für mir, der Runzeln schlaffe Wunden verstellen meine Haut. Die Schwindsucht frißt mich noch, die Stirne schrumpelt aus, die tiefen Schläfe grauen, die Augen fallen ein, die Zähne stehen los. Ach! ach! Ich Schöneste der allerschönsten Frauen, wie bin ich so verjagt, so ungestalt, so bloß!
Das Schwinden ihrer physischen Attraktivität beklagen die meisten allegorischen Heldinnen, diesbezüglich aber übertrifft Fleming seine Prätexte noch. Der eigenen Schilderung ihrer Gebrechen zufolge, welche eine Kontrafaktur zum
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Muster petrarkistischer Schönheitsbeschreibungen darstellt,1585 erfüllt Germania äußerlich alle Kriterien, um sich in die Schar der hässlichen alten Vetteln1586 einzureihen, welche schon in der Topik der römischen Versinvektive1587 eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen. Gewöhnlich korrelieren dabei mit dem widerwärtigen Äußeren ein schlechter Charakter und eine lasterhafte Lebensweise. In Bezug auf die allegorische Deutschland-Darstellung in der lateinischen Poesie des 16. Jahrhunderts hat Nathan Cythraeus dieses Stereotyp in seinem Epigramm mit dem beinahe schon gattungsprägenden Titel Germania degenerans effektvoll in Szene gesetzt.1588 Dass Germania hier die gleichen Attribute, die normalerweise zu ihrer (immer auch moralischen) Inkriminierung durch andere Sprecher angeführt werden, zur Demonstration ihrer Notlage in aller Schonungslosigkeit auf sich selbst anwendet, scheint ein radikaler Kunstgriff Flemings zu sein. Neuartig erscheint gegenüber den vorigen Heroiden auch Germanias doppelte Rolle in Bezug auf die hierarchisch gegliederten, metaphorischen Familienbande zwischen Herrschern, Ländern und Territorien: In traditioneller Weise präsentiert sich Germania zwar als Mutter ihrer Adressaten (Kurfürsten, Fürsten, Stände) und (eher nachträglich) des Kaisers, ebenso aber auch als Tochter einer mehrfach genannten Königin Europa, ein Aspekt, welchem Nicolas Detering zu Recht mehr Geltung zu verschaffen sucht.1589 Schon die bloße Erwähnung Europas, mehr noch deren zumindest ansatzweise begegnende Stilisierung zu einer allen Machthabern und Ländern übergeordneten, wenn auch abwesenden allegorischen Muttergestalt dürfte die These von einer Inspiration Flemings durch das zur Debatte stehende Flugblatt von Rudelius/Brettschneider stützen.1590 Dabei basiert auch letzteres auf einer ikonographischen Tradition. Die Verschmelzung geographischer und allegorischer Europa-Darstellungen begegnet schon seit Johannes Putschs Modellen aus den 1530er Jahren auf separat publizierten oder der Buchillustration dienenden Kupferstichen und Holzschnitten, wo Landkarten die dem damaligen Europa zugerechneten Territorien präsentieren, welche durch die Umrisse einer mit königlichen Attributen ausgestatteten Frauengestalt begrenzt sind.1591 Wenn Flemings Germania sich in wehmütiger Retrospektive 1585 Eickmeyer: Der jesuitische Heroidenbrief, S. 146. 1586 Marina Warner: Altes Weib und alte Vettel. Allegorien der Laster. In: Sigrid Schade u. a. (Hrsg.): Allegorien und Geschlechterdifferenz. Köln 1994 (Literatur – Kultur – Geschlecht: Grosse Reihe 3), S. 51–63. 1587 Z. B. Hor. epod. 8 und 12. 1588 Vgl. das Kapitel dieser Arbeit 2.3.3. 1589 Detering, S. 223 f. 1590 Ebd. 1591 Marie-Louise von Plessen (Hrsg.): Idee Europa – Entwürfe zum „Ewigen Frieden“. Ordnungen und Utopien für die Gestaltung Europas von der pax romana zur Europäischen. Union.
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als Europas einstige Lieblingstochter bezeichnet, die sich durch eine besondere Wohlgestalt und Tapferkeit in einer zwölfköpfigen Schwesternschar hervorgetan habe (41–46), erscheint die im deutschen Humanismus vielfach propagierte Vorstellung von Deutschland als dem Herzen Europas in Verse gefasst.1592 Parallelen aus Flemings sonstiger im Zusammenhang mit dem Leipziger Konvent publizierten Dichtung wurden bereits entdeckt.1593 Dieses Motiv der allegorischen Mutter-Tochter-Beziehung leitet nahtlos zu einem Argumentationsstrang über, der schon seit Huttens Italia Maximiliano (1516) und Sabinus’ Germania ad Caesarem Ferdinandum (1529) in kaum einer Germania-Heroide fehlt: demjenigen des germanischen Ersatzaltertums oder der Antiromanitas (L 35–50, D 47–68): Quot reges invicta tuli, quot Caesares1594 armis Reppuli et a nostris finibus esse dedi. Non ego bellicrepae metuebam classica turmae. Tunc levis Ausonii militis ira mihi. Non animum fregere meum, quae Caesar habebat Praemia, blanditiis non ego falsa fui. Foemina sum, sed quoque viro mage fortior adsto, foemina foemineum nil nisi schema tuli. Non timui vario stipatas Marte Phalangas, cuncta putans gestis inferiora meis. Roma nihil, nil Cajus erat, cui paruit orbis, hunc stravi meritis, Arioveste, tuis. Trina mihi legio Varo cum principe capta est. Terruit Arminius hostica lata meus. Libertatis amor famaeque cupido tuendae Me facit aeternos vivere posse dies.
Ausstellungskatalog Deutsches Historisches Museum Berlin 2003, S. 114 f., Abb. IV/16 und IV/17. Abb. IV/16, ein Kupferstich von Matthias Quad von 1587, zeigt anlässlich der Verlobung Kaiser Rudolfs II. mit der spanischen Infantin Isabella Clara Eugenia eine mit Krone, Szepter und Reichsapfel ausgestattete Königin, welche den erweiterten künftigen Machtbereich des Herrschers versinnbildlicht. Vgl. auch das Kapitel dieser Arbeit 2.3.4. 1592 Vgl. ebd. Abb. IV/17. Dort greift die Europa-Karte aus einem Buch über die biblischen Reisen den zuvor genannten Kupferstich Quads auf: Während die äußeren Umrisse der königlichen Frauengestalt beibehalten werden, wird der Inhalt entsprechend der gewandelten politischen Lage aktualisiert. Der Stirnreif der Krone ist mit Spanien überschrieben, die Herzregion nehmen Deutschland, Österreich und (explizit durch einen Kreis umschlossen) Böhmen ein. 1593 Becker-Cantarino, S. 240 verweist in diesem Zusammenhang auf eine Passage aus der Huldigung an Herzog Johan Casimir: Wo uns das Hertze liegt, da liegt das Teutsche Reich/ In Fraw Europens Brust: das Reich, dem keines gleich./ […]/ Wie mancher, mancher Ort, der jetzt ist ohne Ruh/ Schickt tausend heisser Wündsch auf unser Leipzig zu. 1594 Im Text Caesaras, ohne Zweifel ein Druckfehler.
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Ich war ie mehr beherzt, ie mehr man auf mich drunge. Das war mir eine Lust, wenn man zu Felde blies. Ihr Römer, wart mir nichts. Ich war mit Nichts zu beugen; Geschenke schlug ich aus, die mir der Kaiser bot. Ihr Feind’, ihr müsset selbst beständig von mir zeugen, daß ich durch Hinterlist bin nie gemachet rot. Ich zwar bin nur ein Weib, doch war ich so beherzet, als wol kein Man nicht ist. An mir als die Gestalt war sonsten weibisch nichts. Wenn man zu Felde scherzet’, hielt ich mich, wie man weiß. Ich siegte mannigfalt. Rom und ihr Julius, der doch zu Sclaven machte Ihm alles Volk und Land, die musten büßen ein, als ich sie unter mich durch meine Manheit brachte. Doch wollte Varus noch ein bessrer Ritter sein, und rächen Cajus Spott. Er zoge mit Verlangen auf meinen Boden zu. Ich furchte mich nicht sehr. Ich schickt’ Arminius, der nahm den Prinz gefangen, und tribe für sich her sein dreigeduppelt Heer. Der güldnen Freiheit Lieb’ und deutsches Lob zu mehren, das war mein steter Zweck, drauf zielt’ ich ieder Frist. Drum hatt’ ich solche Furcht. Das gilt auch mir zu Ehren, daß meine deutsche Treu’ein Sprichwort worden ist.
Die einstmals so erfolgreiche Opposition gegen Rom, insbesondere der als clades Variana in die Geschichte eingegangene Überfall auf die drei Legionen als wesentlicher Bestandteil des deutschen Nationalprestiges wird somit auch unter gegenüber dem 16. Jahrhundert veränderten politischen Bedingungen beschworen. Ob es sich in diesem Fall lediglich um einen schon erstarrten Topos oder doch um eine antikatholische Spitze des für den Leipziger Konvent schreibenden Autors handelt, ist schwierig zu entscheiden. In jedem Fall konnte Fleming auf die von den Humanisten mit Vorliebe in Umlauf gebrachten Gemeinplätze von deutscher Freiheitsliebe und ehrlicher Kampfbereitschaft zurückgreifen. „Deutsch“, so betont Barbara Becker-Cantarino zu Recht, „erscheint im Text als ethische, menschliche Qualität:“1595 – insofern enthält hier die volkssprachliche Fassung mit den Versen von der sprichwörtlich gewordenen deutschen Treue, die im Lateinischen fehlen, eine noch kühnere Behauptung. Das Motiv von der einstmals so heroisch verteidigten Freiheit bildet hier den Übergang zu der Klage über den vom Rad der unbeständigen Fortuna verschuldeten Sturz in tiefstes Elend (69 ff.). Die Tatsache, dass Germania mindestens an einer Stelle die gegenwärtige Unterdrückung oder Bedrohung der Freiheit ihrer Bewohner auf das Wirken ausländischer Mächte zurückführt, nimmt Sper1595 Becker-Cantarino, S. 238.
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berg-McQueen als Beleg für seine Deutung, wonach die Epistel den Appell zu einer konfessionsübergreifenden Einheit innerhalb des Reiches darstellt.1596 Germania begründet ihr (offenbar nicht ganz unfreiwilliges) Exil (L 53–56, D 73–76): Ecce! Meis me jam subduxi sedibus ipsa. Non poteram in tantis longius esse clathris. Momine quoque meas lassabat subditus aureis, funestis ululans querquera verba sonis. Ich kunte länger nicht in meinen Schlössern bleiben. Wie kunt’ ich fürderhin das Elend schauen an, wie mir mein freies Volk die fremden Herrscher treiben, wie vor mir täglich weint mein armer Untertan!
Es folgt eine durch die Schilderung von Tod und Verheerung angereicherte Aufzählung der vom Kriegsleid betroffenen Bürger und Regionen, welchen die liebende Mutter zu ihrem eigenen Schmerz keine Hilfe leisten kann (77–100). Schlesier (77), Sachs’ (78) und die nach einem paronomastischen (freilich nur im Deutschen möglichen) Wortspiel gar entmarkte Mark (79), also Vertreter des protestantischen Bekenntnisses, erscheinen hier als weinende und hoffnungslose Bittsteller. Mit dem lutherischen Sachsen und dem reformierten Brandenburg finden gerade diejenigen Mächte Erwähnung, welche die Veranstaltung des Leipzigers Konvents initiiert hatten.1597 Die in jeglicher Form der Kriegsklage geläufigen Topoi von den mit Blut gefärbten Flüssen, vom mit Leichen bedeckten Erdboden, von Brandschatzung, Vertreibung der Bauern und Verwilderung von Äckern und Gärten (81–100) können zwar das eine oder andere Detail Martin Opitz’ schon vor 1633 in handschriftlicher Form zirkulierendem Trostgedicht und anderen (etwa zeitgleich entstandenen) Texten verdanken,1598 begegnen aber auch fast durchweg schon in der humanistischen Publizistik, besonders in früheren Germania-Heroiden. Zwei Flüsse müssen in ansatzweise personifizierter Form bei diesem traurigen Geschehen mitwirken, die an Flemings Heimat Hartenstein gemahnende Mulde und die wahrscheinlich Sachsen repräsentierende Saale. Die Klagen über die Zerstörung und Verödung der einstmals blühenden Lustgärten dürften auch auf reale visuelle Eindrücke des jungen Fleming zurückgehen, der in den Vorstädten Leipzigs die zumindest in zeitgenössischen Chroniken gepriesenen kultivierten Landschaften in Augenschein nehmen konnte.1599
1596 Sperberg-McQueen: Ein Vorspiel zum Westfälischen Frieden, S. 156 f. 1597 Entner, S. 186. 1598 So Becker-Cantarino, S. 235. Gerade die Bedrohung der Bauern wird dann später ein prominentes Thema in Grimmelshausens Abenteurlichem Simplicissimus Teutsch sein. 1599 Entner, S. 58.
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Germania sieht in einer abstrahierenden Betrachtung ihren Untergang unausweichlich und unaufhaltsam nahen (101–108). In der Absicht, jegliche allzu deutliche Schuldzuweisung an ihre Adressaten zu vermeiden, macht die auf Einigkeit der Stände sinnende Schreiberin hier wie auch an anderen Stellen (153–162) ein überpersönliches Schicksal, eine personell schwer fassbare Götterzunft (107), eine hohe Rach’ (161) oder Gottes Szepter (162) verantwortlich.1600 In der anschließenden Klage über den einstigen Raub ihrer Mutter durch den falschen Stier und deren daraus resultierende erste Schwangerschaft (109–112) fallen mythische und allegorische Gestalt der Europa in eins zusammen. Das Bild einer zwölf christliche Länder oder Reiche hervorbringenden Muttergestalt erscheint in direkter Kontinuität zu der seit alters her stets tradierten Sage von der auf dem Stierrücken nach Kreta entführten phönizischen Königstochter.1601 Die nicht ohne weiteres begreifliche Zwölfzahl der Länder führt Detering in plausibler Weise auf Flemings Lektüre eines zu seiner Zeit noch renommierten historischen Lehrbuches zurück. Der Leipziger Universitätsprofessor und –rektor Matthäus Dresser hatte 1586 eine fünfbändige Isagoge Historica publiziert, welche noch mehrfache Auflagen erfuhr und weit über seinen Tod hinaus als Standardwerk galt. Im fünften Teil findet sich eine Aufzählung der angeblich 12 Königreiche Europas: Dort erscheint Deutschland – nach welchen Ordnungskriterien auch immer – an dritter Stelle nach Spanien und Frankreich.1602 In der deutschen Fassung nehmen sich Germanias Worte in Bezug auf ihren familiären Rang als (Erb-)Tochter und Schwester widersprüchlich aus (D 41–44, 109–112): Ich, königliches Kind, wie bin ich so gefallen! Die ich die zärtste war in meiner Schwestern Schar, da ich die zwölfte bin, ich, die ich vor für allen der Mutter höchste Lust, die allerliebste war, […] Es war ein böser Fall, als von dem falschen Stiere die Mutter ward geraubt. (Und, wie sie oft erzählt, war sie gleich mit mir schwer!) Daher ich, wie ich spüre, bin, eh’ ich bin geborn, zum Räuberpreis erwählt.1603
1600 Ebd., S. 197; Sperberg-McQueen: Ein Vorspiel zum Westfälischen Frieden, S. 158. 1601 Zu den bekanntesten Darstellungen dieses Mythos in der augusteischen Poesie gehören Ov. met. 2, 843–875; Hor. carm. 3, 27, 25–76. 1602 Detering, S. 225 ff. Möglicherweise geht die von Dresser behauptete Zwölfzahl auf die zwölf Stämme Israel zurück. 1603 Unproblematisch hingegen ist die lateinische Fassung. Vgl. L 31–34, 81–84: Ah mihi, qualis eram! Sed qualis, heu mihi, nunc sum!/ Hei! cecidi miseris regia nata modis!/ Illa ego bis senas inter pulcerrima nymfas,/ illa ego delicium matris amorque meae,/ […]/ Omen erat, falso
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Ist Germania nun die jüngste oder die älteste Tochter Europas?1604 Wenn sie auf ihrem in den zuletzt zitierten Versen beanspruchten Status als Erstgeborener besteht, betont sie offenbar ihre herausgehobene Position innerhalb der Christenheit als Inhaberin des Kaisertums. Dies entspricht einem nicht ungewöhnlichen Überlegenheitsgestus der deutschen Humanisten in Bezug auf das Prestige des Reiches. Germania glaubt sich zum Räuberpreis für die als sündhaft empfundene Verbindung ihrer Eltern (Europa und Stier) auserkoren (111–112). Dazu bemerkt Detering: „Neu ist allerdings die Andeutung einer Vererbung von Europas Schicksal: Deutschland scheint unter falschem Zeichen geboren und durch die „europäische“ Liederlichkeit besonders belastet.“1605 Trotz persönlicher Unschuld muss Germania Strafe durch ihre fortgesetzte Zerfleischung von außen erleiden, welche sie in unpersönlichen und gleichnishaften Wendungen schildert (113–118). Wehrlos wie das Schaf dem Wolf oder das Geflügel dem Geier sieht sie sich dem gewalttätigen Treiben der Welt ausgeliefert und, was für sie nicht weniger Gewicht zu haben scheint, von der Königin zur Magd erniedrigt. Inmitten dieser bitteren Klagen begegnet in der deutschen Fassung eine rätselhafte Anspielung auf einen nicht namentlich genannten Peiniger (D 119–124): Ich muß zu meinem Leid’ auch Einen mir versühnen, der mich nicht Mutter heißt, der mich ohn’ Ende plagt. So vieler Herren Grim, so viel Uneinigkeiten, die töten vollends mich, die vor ich röchle schon. Es ist kein Trauen mehr. Mich schmerzt auf allen Seiten Der dreigespaltne Riß in der Religion.
raperetur ut a grege, tauro/ mater (et hoc retulit saepius.) omen erat./ Mole mea tunc foeta fuit. Sic protinus haeres/ fatalis miserae conditionis eram. Germania präsentiert sich zunächst als einstmals schönste und liebste, dann als älteste Tochter Europas. Vgl. Didos ersten Auftritt in Verg. Aen. 1, 494–504, wo die junge Königin einerseits ausdrücklich an Schönheit (pulcherrima) ihre Begleiterinnen übertrifft (ebenso wie Diana ihre Nymphen), andererseits allen Anlass zur Hoffnung auf eine segensreiche Regierung bietet. 1604 Diesen Widerspruch sieht auch Detering, S. 228. Er versucht, den Sinn des Verses 111 davon abhängig zu machen, welches Wort der Leser betont. „Liest man die Stelle mit Betonung auf „sie war gleich mit mir schwer“, wäre Deutschland dann doch nicht die „zärtste“ „Zwölfte“, sondern die Erstgeborene unter den Schwestern. Betont man hingegen die Rascheit des Prozesses („sie war gleich mit mir schwer“), wird Mutter Europa mit dem Stigma sexueller Freigebigkeit behaftet – wer derart bald schwanger wird, kann sich so heftig nicht gesträubt haben.“ Dem ist m. V. entgegenzuhalten, dass Europa, die es ja immerhin mit Zeus persönlich zu tun hat, sehr wohl auch gegen ihren Willen sofort schwanger werden kann – in Bezug auf Vergewaltigung oder Verführung treffen die Mythen oftmals keine eindeutige Aussage –, andererseits impliziert ja auch die sofortige Schwangerschaft Europas mit Germania (unmittelbar nach der Entführung), dass Europa nicht zuvor schon 11 andere Töchter zur Welt gebracht hat. 1605 Ebd.
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Das einprägsame Diktum vom dreigespaltne[n] Riß, also von der Zersplitterung der einstmals ihre Universalität verteidigenden lateinischen Kirche des Mittelalters in römisch-katholische, lutheranische und schweizerisch reformierte Partei, reflektiert ex negativo den das 16. und 17. Jahrhundert dominierenden, bis zum Fanatismus auswachsenden religiösen Eifer, welcher der Überzeugung entspringt, es gebe nur eine einzige wahre und richtige Auslegung der christlichen Lehre, welche bewahrt, durchgesetzt oder wiederhergestellt werden müsse. Dieser Absolutheitsanspruch rivalisierender Gruppen bot Stoff für ernsthafte und satirische Flugblattpublizistik.1606 Es überrascht nicht, dass die Verse vom dreigespaltne[n] Riß die meistzitierten aus Flemings Epistel sind und oftmals als deren Kernaussage gelten. Umstritten aber bleibt die Identität des namenlosen Einen – dieser fehlt übrigens in der lateinischen Fassung1607 –, der Germania ohne Ende quält. Entner vermeidet jegliche Festlegung: „ […] und der Leser darf nach Geschmack einsetzen, wen er für gemeint halten will – Spanien, Frankreich, Dänemark, Schweden … ).“1608 Möglicherweise ist eine von Fleming intendierte Mehrdeutigkeit angesichts der sich gerade wandelnden Position der Kurfürsten und der sich allmählich zuspitzenden Lage nicht auszuschließen. Becker-Cantarino erkennt in dem bösen Fremden eine Anspielung auf den Kaiser.1609 Wie plausibel diese Deutung ist, hängt nicht zuletzt davon ab, wie man Vers 120 versteht: Der mich nicht Mutter heißt kann bedeuten „ich bin nicht seine Mutter, er ist Ausländer“ oder „ich bin seine Mutter, aber er verweigert mir die gebührende Anrede, er verleugnet mich“. Den Kaiser bezeichnet Germania an späterer Stelle ja ausdrücklich als ihren Sohn (272) –, ihm könnte sie also nicht etwa einen Fremdheitsstatus, durchaus aber grobe Missachtung der familiären Bande vorwerfen. In Erwägung zu ziehen wäre vielleicht auch die Möglichkeit, dass Fleming mit etwas diplomatischem Kalkül nicht das Reichsoberhaupt selbst, sondern einen von dessen ranghöchsten Untergebenen aus Hofstaat oder Militär durch die Feder seiner Heldin zum Hauptschuldigen erklären lässt. Der (nicht nur von den Prote1606 Vgl. Johannes Burkhardt: Konfessionsbildung und Staatsbildung. Konkurrierende Begründungen für die Bellizität Europas? In: Andreas Holzem (Hrsg.): Krieg und Christentum. Religiöse Gewalttheorien in der Kriegserfahrung des Westens. Paderborn u. a. 2009 (Krieg in der Geschichte [KRiG]50), S. 527–552, hier S. 529 ff. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang ein 1617 publiziertes Flugblatt mit dem Titel Geistlicher Raufhandel, in welchem die personifizierte fromme Einfalt über den fortwährenden, die einfachen Gemüter verwirrenden Dreikampf zwischen Papst, Luther und Calvin klagt und letztlich Jesus um Beistand für die Kirche anfleht. Ebd., S. 534 f. 1607 Vgl. L 89–92: Inscia servitii quondam jam servio serva./ Quos ego non genui, dant mihi iura duces./ Tot iuga me lapsam procerum dissensio truncat/ rimaque de triplici relligione triplex. 1608 Entner, S. 195. 1609 Becker-Cantarino, S. 243.
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stanten) weithin gefürchtete kaiserliche Generalissimus Albrecht von Wallenstein steht an dieser Stelle nicht zur Debatte, da er auf Druck der Reichsfürsten beim Regensburger Kurfürstentag im August/September 1630 (vorläufig) abgesetzt worden war, aber in Betracht kommt dessen Rivale, der andere große Feldherr auf katholischer Seite. Gemeint wäre der aus einem niederländischen Geschlecht stammende, nach jesuitischer Doktrin erzogene Johann ’t Serclaes Graf von Tilly (1559–1632), der sich über viele Jahre als Kommandant der Liga bewährte, nach Wallensteins Absetzung zusätzlich dessen Befehlsgewalt über das kaiserliche Heer erhielt und als „Schwert des Kaisers“ weithin Schrecken verbreitete. Sperberg-McQueen bringt die Passage mit der schon zitierten Klage Germanias über die unheilvolle Einmischung fremder Völker in deutsche Angelegenheiten (73–76) in Zusammenhang und tendiert, da Dänemark und Frankreich zu dieser Zeit im Krieg keine prominente militärische Rolle spielten, – Dänemark war nach dem Frieden von Lübeck (1629) ausgeschieden, Frankreich begnügte sich mit der finanziellen Unterstützung der Schweden – nach dem Ausschlussverfahren zur Identifikation jenes gefürchteten Fremden mit Schweden.1610 In jedem Fall wird zumindest deutlich, dass diese Verse eine Schlüsselposition für die Interpretation des gesamten Schreibens darstellen. Nach einer weiteren lamentatio über Pest, Seuchen, Hungersnot und Mangel jeglicher Art (125–136) offenbart Germania, worin für sie das größte Unheil besteht (L 99–102, D 137–144): Per toties tot ducta vices modo defuit unum: jam quoque debebam Martia jussa sequi. Hei! sequor, hei! rapior, sed non quo bellica virtus Me vocat, ad (miserum!) civica bella trahor. Ich dacht’, es wären nun all’ Unheil überstanden, ich hofft’ auf Sonnenschein nach solcher rauhen Luft. So stößt mir, Gott erbarms! Das größte noch zu Handen, das mich in Harnisch jagt und zu den Waffen ruft. Da soll und muß ich dran, mich mit dem Feinde schlagen. Und wollte, wollte Gott, es wäre nur der Feind, den ich noch nie gescheut! So muß allein’ ich klagen, daß ich an diese soll, die meine Kinder seind.
Hier wieder unterscheiden sich beide Versionen nicht unwesentlich. Das seit alters her in schwärzesten Farben gezeichnete Übel der discordia, in den übrigen Germania-Heroiden häufig in die auf Livius (Fabel des Menenius Agrippa)1611 und
1610 Sperberg-McQueen: Ein Vorspiel zum Westfälischen Frieden, S. 156 f. 1611 Liv. 2, 32, 8–12.
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Paulus1612 zurückgehende Metapher von den gegeneinander streitenden Gliedern eines kranken Leibes übersetzt, erscheint in der lateinischen Fassung als Bürgerkrieg (civica bella), in der deutschen als widernatürlicher Kampf einer Mutter gegen ihre eigenen Kinder. Letzteres mag latente Assoziationen mit der als Monstrum im griechisch-römischen Mythos verewigten Medea-Gestalt, aber auch mit Passagen aus dem Alten Testament wecken, wo bisweilen Kindermord und Kannibalismus miteinander einhergehen, wo Menschen in Kriegs- und Hungersnot ihre eigenen Kinder verzehren.1613 Realpolitisch ist diese in der deutschen Fassung stärker affektbetonte Passage schwer zu deuten, wenn Germania die Gesamtheit mehrerer auf horizontaler Ebene miteinander rivalisierender deutscher Parteien verkörpert. Identifiziert man sie mit der (wahrscheinlich) von Fleming bevorzugten Partei, also mit den Vertretern und Befürwortern von Johann Georgs Politik, könnte mit der Nötigung zum Kindermord die schreckliche – und vorerst noch abgewiesene – Option gemeint sein, Gustav Adolfs militärische Hilfe anzunehmen und gegnerischen Allianzen unter den eigenen Landsleuten Gewalt anzutun. Die bittere Klage über die Zwietracht wird ähnlich wie in dem zuvor schon erwähnten Gleichnis von den Raub- und Beutetieren (113–118) durch die kurze, aber drastische Metapher des Welttheaters illustriert (D 157–162): Ich bin der Götter Spiel und Kurzweil, ihr Behagen und lustiger Ballon, den immer himmelan bald die, bald jene Faust, bald hin, bald her tut schlagen, bis er wird atemlos und nicht mehr steigen kann. So hat die hohe Rach’ es über mich verhangen. Den Scepter giebet Gott und nimmt ihn, wenn er will.1614
Die Inspiration zur Formulierung dieser Passage führt Entner auf persönliche Eindrücke des jungen Fleming zurück, der zumindest die Möglichkeit gehabt habe, ein besonderes Publikumsspektakel mitzuerleben, nämlich die anlässlich des Konvents auf dem Leipziger Markt abgehaltenen Schlagballspiele des Adels.1615 Wie schon Sabinus über 100 Jahre zuvor, so lässt auch Fleming seine Germania die in Spätmittelalter und Früher Neuzeit geläufige Translationstheorie1616 aufgreifen und ihre Zukunft anhand des Schicksals der im Buch Daniel, Kapitel 2 und 7 genannten vier Weltreiche prognostizieren (163–176). Athen und das (bloß 1612 1 Kor 12, 26. 1613 Zu der im Alten Testament wiederkehrenden Vorstellung, dass derartige Gräueltaten in Notsituationen mindestens möglich erscheinen, Dtn 28, 53–57; Klgl 2, 20; Klgl 4, 10. 1614 In der lateinischen Fassung ist die Ballspielmetapher nur knapp angedeutet. Vgl. L 105– 106: Ut ruerem graviore modo, tollebar in altum./ Sic ego lusuris sum pila facta deis. 1615 Entner, S. 205 f. 1616 Zur Translationstheorie vgl. als maßgebliche Gesamtdarstellung Goetz.
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mythische) Troja dienen als Exempel für einstmals kulturprägende, untergegangene Städte, Syrien bzw. Assyrien (so korrekt nach der lateinischen Fassung 113), Persien, Griechenland (das Alexanderreich) und Rom als Exempel für den sich nach himmlischem Willen wiederholenden Untergang mächtiger Reiche. Der Hinweis auf deren Blüte und Niedergang als mahnendes und warnendes Exempel ist zunächst nichts Ungewöhnliches.1617 Flemings Germania hegt die schlimmsten Befürchtungen für die Zukunft (D 169–176): Vielleicht wird nun die Reih’ und das Verhängnüß kommen auf unser krankes Reich. Denn auch, was groß kan sein, wie ich bisher gesagt, wird allzeit abgenommen, und ist durch seine Last auf sich gefallen ein. Diß Unglück ahnt mir auch. Mein Scepter tut sich beugen, die Kräfte nehmen ab, das Mark ist alle hin. Ich muß, ich muß mich schon zum Untergange neigen und trösten, daß ich auch vor hoch gewesen bin.1618
Germania, hier auf Nebukadnezzars Traum von dem aus Gold, Silber, Erz, Eisen und Ton bestehenden Standbild aus Daniel 2 rekurrierend,1619 gelangt zu dem pessimistischen Fazit, dass die vorhergehenden Schicksalsschläge ihren eigenen Sturz ankündigen. Spätestens seit Luthers Vorrede zum Buch Daniel wurde Deutschland bzw. das Römisch-Deutsche Reich als legitime Fortsetzung des antiken römischen auf das in Daniel 2 und 7 geschilderte vierte Reich bezogen.1620 Da demnach das Römisch-Deutsche als das letzte, nicht mehr ablösbare irdische Reich bis zu Weltuntergang und Wiederkehr Christi bestehen sollte, bedeutet dies: Entweder geht Germania, die Verkörperung dieses Reiches, tatsächlich unter und leitet somit die Apokalypse ein oder das glückliche Ausbleiben der Katastrophe widerlegt die Translationstheorie, und Germania büßt ihre exponierte Stellung im göttlichen Heilsplan ein. Sie wäre somit nichts weiter als „merely one more emblem of vanitiy“.1621 1617 Sabinus’ Germania hatte in direktem Bezug auf die bei Dan 7 geschilderten monströsen vier Tiere die der gelehrten communis opinio des 16. Jahrhunderts entsprechende Deutung von den Weltreichen Assyrien, Persien, Griechenland und Rom vorgenommen und (zudem) das mit menschlicher Zunge fluchende Horn des vierten Tieres mit dem osmanischen Erzfeind gleichgesetzt, welchen es im Auftrag Gottes mutig zu vernichten gelte. Vgl. das betreffende Kapitel dieser Arbeit 3.1.1. 1618 Dieser Passage entspricht in der lateinischen Fassung kein zusammenhängender Abschnitt, wenn auch einzelne über den Text verteilte Verse durchaus die Rolle der Fortuna und den Untergang des Reiches thematisieren, z. B. L 77–78, 109–110, 117–118. 1619 Sperberg-McQueen: Ein Vorspiel zum Westfälischen Frieden, S. 167. 1620 Ebd., S. 167 f. 1621 Sperberg-McQueen: The German Poetry of Paul Fleming, S. 71.
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Ihren eigenen tiefen Sturz sieht Germania in Analogie zu einem ebenfalls im Buch Daniel geschilderten Exempel von tragischer Fallhöhe (L 119–122, D 177–188): Fortis eram, non jugis eram. Jam foemina princeps associor brutis profuga facta feris. Sic quoque de patriae proles Nimrodia sede pulsus in insuetum dicitur esse nemus. Gewesen und nicht sein, das macht mich Speise lesen, mich reich erzogne Frau, wie sonst ein wildes Tier. Wär’ ich so ewig auch als mächtig nur gewesen, so wäre mir noch wol, und läge nicht allhier. So muste Babels Herr auch seine Sitze meiden und in der Wüstenei zu Früh- und Abendzeit wie ander’ wildes Vieh im Wald’ und Grase weiden, und war sein weites Reich dort in der Einsamkeit.
In Daniel 4 erfüllt sich der unheilverkündende Traum des babylonischen Königs Nebukadnezzar von einem hochgewachsenen, prachtvollen Baum, welchen ein Engel bis auf den Wurzelstock abhauen lässt. Gemäß der Auslegung, welche Daniel als königlicher Traumdeuter vornimmt, muss Nebukadnezzar zur Strafe für seine Überheblichkeit gegenüber Gott eine zeitweilige Verbannung aus der menschlichen Gemeinschaft erleiden. Von seinen Untertanen (aus nicht genannten Motiven) vertrieben, haust er sieben Jahre lang wie ein Tier in der Wildnis und nährt sich von Tau und Gras. Flemings Germania beruft sich auf dieses biblische Exempel, verschweigt allerdings den glücklichen Ausgang desselben. So wie im Traum die Wurzel des Baumes ausdrücklich verschont wird, so erlangt auch der König, nachdem er endlich Gottes Allmacht anerkannt hat, seine Herrschaft wieder und beschließt seine Tage sowohl in Frömmigkeit als auch in irdischem Ruhm. Germania jedoch zieht nicht die zu erwartenden optimistischen Konsequenzen aus ihrer Analogie zu Nebukadnezzars Unglück, welche ihr Hoffnung auf Erlösung bieten könnten. Weiter im Tenor der Klage verharrend, kommt sie auf die soziale Komponente ihrer schrecklichen Isolation zu sprechen und schildert ihre Erfahrungen mit der eigenen Einsamkeit und – so verlangt es das rhetorische Verfahren der pathetic fallacy1622 – mit den Reaktionen durch die nichtmenschliche Umwelt (185–196). Weinen und beweint werden wird ihr zum Bedürfnis. Als Gefährten in der Wildnis fungieren nur Tiere und Pflanzen, die in unterschiedlicher Weise auf Germanias Leid reagieren. Hase und Elster verspotten sie,1623 und
1622 Vgl. das Kapitel dieser Arbeit 3.1.6 Paulus Rubigallus: Querela Pannoniae. 1623 Die unvermeidliche Erfahrung des Notleidenden, dass sein Elend stets den Spott seiner Feinde, aber bisweilen auch seiner nächsten Mitmenschen herausfordert, findet sich schon in
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der Baum, ein Instrument der göttlichen Rache, so will es eine raffinierte Kontamination des Tantalus-Mythos mit dem alttestamentarischen Buch Jona, entzieht ihr boshaft den ersehnten Schatten (L 123–134, D 189–194). Heic mea millenis vario lamenta figuris. Heic soli, heic miserae jam licet esse mihi. Rupibus in nigris, inter spelaea ferarum Vagio luctificis foemina moesta modis. Me lepus audaci ludit per gramina saltu, provocat et lacrymas impia pica meas. Invida contractis spernit me frondibus arbor, odit et adventus arctior umbra meos. Scilicet est aliquid lacrymis habuisse soldales. Nae! Gemitus socii molle levamen habent. Quis mihi collacrimat? Toto jam deseror orbe. O quam sum patriis invidiosa deis! Ach, ich bin so veracht! Ja, auch dem leichten Hasen sitz’ ich zu Hohn’ allhier, die Elster spottet mein. Will ich mich setzen denn auf einen dürren Rasen, so weicht der wilde Baum und zeucht den Schatten ein. Ja freilich ists ein Trost, wenn einer in dem Weinen Beweiner um sich hat! Ich lern’ es itzt an mir. Wer weinet aber doch um mich? Ich sehe keinen. Ach, ach! Von aller Welt steh ich verlassen hier.
Inmitten dieser Resignation fährt Germania überraschend fort (L 135–138, D 195– 204): Delphini nostrum miserati saepe dolorem, quod mihi condoleant, signa diserta ferunt. Quin mea compassae modulantur fata volucres. Quaevis et hoc loquitur tilia caesa malum. Ja auch vom Himmel selbst! Doch läßt sich noch erweichen der Menschenfreund, Delphin, wenn ich am Ufer klag’ er schwimmet zu mir zu, gibt manches Trauerzeichen, und wartet bei mir aus so manchen ganzen Tag, wie auch das Federvolk, das stets ist vorn und hinden um mich verlassnes Weib. Hier wird kein Vogel sein, der nicht singt, was ich wein’. Ich hab’ an alle Linden mein Leid mit eigner Hand bisher geschnitten ein.
Ijob 30, 9–10 und fast durchweg in den Klagepsalmen, z. B. Ps 22, 7–9; Ps 31, 12; Ps 44, 14–15; Ps 55, 13–15.
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In dieser Passage setzt Fleming dem Motiv einer schadenfrohen, Germania feindlich gesinnten Natur das einer solidarischen, freundlichen entgegen. Indem er Germania Botschaften auf Baumrinde, hier von Linden, einritzen lässt, folgt er dem altbewährten Topos des dendroglyphs, der schon in der griechischen und römischen Poesie gut bezeugt ist.1624 Liebesgedichte vom Hellenismus (Kallimachos, Theokrit) bis zu Calpurnius Siculus spielen mit der Fiktion, sie selbst seien auf Rinde verewigte Liebesdokumente, oder enthalten eine Figur, die behauptet, ihre Emotionen auf Rinde verewigt zu haben. Beispiele, die in besonders pikanter Weise das Verhältnis von Schreibmaterial und Inhalt thematisieren,1625 finden sich zu augusteischer Zeit in den per se erotischen Textgattungen wie Bukolik, römischer Liebeselegie und Heroide.1626 Flemings Germania begnügt sich mit der bloßen Erwähnung ihrer Baumbeschriftung, ohne Inhalt oder Form näher zu erläutern; ihr Leid ist politischer, nicht erotischer Natur. Der Delphin als Tröster oder Retter – dieses hier so unerwartet auftauchende Motiv hat schon in der griechischen Mythologie eine lange Tradition.1627 Bedeutende Autoren wie Herodot, Plutarch, Plinius und Aelian bezeugen die selbstlosen Dienste, welche die für ihre Schnelligkeit, Gewandtheit und Klugheit bewunderten Wesen schiffbrüchigen oder heimtückisch über Bord geworfenen Menschen leisten. Nicht selten kommt es sogar zu engen Freundschaften zwischen Mensch und Tier, zwischen Meeresbewohner und kleinem Jungen. Am meisten Wirkung entfaltete wohl der in verschiedenen Fassungen kursierende Mythos von dem begnadeten Sänger und Kitharaspieler Arion, welcher bei einer Schifffahrt mit seinem durch die Kunst erworbenen Reichtum den Neid der mitreisenden Kaufleute erweckt, von ihnen beraubt und ins Meer geworfen, aber auf Apollons Befehl von einem Delphin aufgegriffen und an Land getragen wird. Als Begleiter der Götter und Liebhaber der Musen wurden die „Könige der Meere“ in Wort und Bild verewigt. Ob es sich bei der Erwähnung der genannten Tiere in Germanias Klage – in der lateinischen Fassung ist im Plural von delphini die Rede – bloß um Staffage für ein poetisch reizvolles Naturbild handelt, ist zumindest fraglich; der tröstlich nahende Delphin wurde schon von Interpreten des ausgehenden 19. Jahr-
1624 Vgl. Peter Kruschwitz: Writing on Trees. Restoring a lost facet of the Graeco-Roman epigraphic habit. In: ZPE 173 (2010), S. 45–62. 1625 Etwa die gespielt naive Vorstellung, dass mit den (noch jungen) Bäumen die Inschrift wachsen werde, oder die vollmundige Behauptung, dass bereits vollendete Gedichte auf einem Buchenstamm als Vorlage für einen Singwettstreit dienen könnten. 1626 Zu Verg. ecl. 5, 10–15; Verg. ecl. 10, 51–53; Prop. 1, 18, 19–22; Ov. her. 5, 21–30 (Oenone an Paris) ebd., S. 49–52. 1627 Vgl. Marion Giebel: Tiere in der Antike. Von Fabelwesen, Opfertieren und treuen Begleitern. Darmstadt 2003, S. 170 ff.; Max Wellmann: Art. Delphin. In: RE. Bd. 8, 1, Sp. 2504–2509.
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hunderts als Metapher für den von der protestantischen Bevölkerung als Retter ersehnten Schwedenkönig Gustav Adolf gedeutet.1628 Becker-Cantarino, welche sich dieser Tradition implizit anschließt, macht auf eine mögliche Wortspielerei, auf eine anagrammatische Umstellung des Namens Adolphus aufmerksam.1629 Zudem bezeichnet das französische Wort dauphin sowohl einen Delphin als auch seit dem späten 15. Jahrhundert aufgrund einstmals beliebter Delphin-Symbolik in der Heraldik einen französischen Kronprinzen – möglicherweise waren Flemings Zeitgenossen für derartige Analogien, selbst wenn sie einem Schweden gelten sollten, sensiblisiert. Grundsätzlich eignet sich die Delphin-Metapher vorzüglich zur Verherrlichung eines auf dem Seeweg anreisenden Herrschers, der in der Bedrängnis Hilfe zu bringen verspricht. Aus verschiedenen Motiven beschloss Gustav Adolf seinen Einstieg in den schon allmählich abflauenden Krieg und eröffnete somit, wahrscheinlich unbeabsichtigt, eine neue Phase, welche auch als Schwedischer Krieg (1630–1635) in die Geschichtsbücher einging. Als er am 6. Juli 1630 termingerecht zum hundertjährigen Jubiläum der Confessio Augustana mit seinem Heer in Peenemünde auf der Ostseeinsel Usedom landete, hatte ihm eine mit ungeheurem Aufwand betriebene Propaganda bereits die Herzen der (einfachen) protestantischen Bevölkerung gewonnen.1630 Zahlreiche Flugblätter feierten den schwedischen König als Retter der (natürlich lutherisch dargestellten) Kirche, als Reinkarnation alttestamentarischer Propheten, mythischer Helden oder des spätrömischen Kaisers Konstantin.1631 Manche priesen ihn in anagram-
1628 Sperberg-McQueen: Ein Vorspiel zum Westfälischen Frieden, S. 153. 1629 Becker-Cantarino, S. 236. Dass es sich dabei um eine schon etablierte und umstrittene Deutung handelt, wie sie aus dem auch von ihr konsultierten Beitrag von Sperberg-McQueen erfahren konnte, macht sie nicht kenntlich. 1630 Vgl. Konrad Repgen: Art. Dreißigjähriger Krieg. In: TRE. Bd. 9, S. 169–188, hier S. 173 ff.; Johannes Burkardt: Konfessionsbildungen und Staatsbildung. Konkurrierende Begründungen für die Bellizität Europas? In: Andreas Holzem (Hrsg.): Krieg und Christentum. Religiöse Gewalttheorien in der Kriegserfahrung. Paderborn u. a. 2009 (Krieg in der Geschichte [KRiG] 50), S. 527–552, hier S. 532 ff.; Diethelm Böttcher: Propaganda und öffentliche Meinung im protestantischen Deutschland 1628–1636. In: Hans Ulrich Rudolf (Hrsg.): Der Dreißigjährige Krieg. Perspektiven und Strukturen. Darmstadt 1977 (Wege der Forschung 451), S. 325–367, hier S. 335 ff., Geoffrey Parker: Der Dreißigjährige Krieg. Aus dem Englischen von Udo Rennert. Frankfurt am Main / New York 1991, S. 199 ff.; Entner, S. 184 ff., Wolfgang Harms: Gustav Adolf als christlicher Alexander und Judas Makkabaeus. Zu Formen des Wertens von Zeitschichte in Flugschrift und illustriertem Flugblatt um 1632. In: Wirkendes Wort 35 (1985), S. 168–183; Kerstin te Heesen: Das illustrierte Flugblatt als Wissensmedium der Frühen Neuzeit. Opladen / Farmington Hills (Mi) 2011, S. 198–203; Silvia Serena Tschopp: Heilsgeschichtliche Deutungsmuster in der Publizistik des Dreißigjährigen Krieges. Pro- und antischwedische Propaganda in Deutschland 1628 bis 1635. Frankfurt am Main u. a. 1991 (Mikrokosmos 29), bes. S. 94–104. 1631 Burkardt: Konfessionsbildung und Staatsbildung, S. 532.
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matischer Umstellung seines Namens Gustav(us) als neuen und besseren, weil christlichen August(us) und formten aus Sued (Schwede) das Palindrom deus.1632 Auch Flemings glühende Verehrung für den tatsächlichen oder vermeintlichen Glaubenshelden aus dem hohen Norden ist gut dokumentiert,1633 nicht zuletzt durch einen poetischen Nachruf, den er nach dessen Tod auf dem Schlachtfeld von Lützen 1632 verfasste. Das Tier, mit welchem Gustav Adolf sowohl in der Heraldik als auch in den Flugschriften gewöhnlich identifiziert wurde, war ein Löwe; wurde er selbst doch wegen angeblicher Übereinstimmung mit den Helden aus alten Prophezeiungen als „Löwe aus Mitternacht“ gerühmt.1634 Insofern hätte Fleming eine allseits verständliche Tiermetapher zur Hand gehabt, um seine Germania für den Schwedenkönig werben zu lassen, was allerdings eine mögliche Neigung, sich einer eigenen innovativen Bildersprache zu bedienen, nicht grundsätzlich ausschließt. Einspruch gegen die erwähnte Deutung des Delphins erhebt Sperberg-McQueen, indem er aus der Rückschau getroffene historische Beurteilungen entschieden ablehnt und die politische Situation schildert, wie sie sich im Winter und Frühling 1631 den deutschen protestantischen Kurfürsten dargeboten haben muss.1635 Er geht von der Prämisse aus, dass sich Fleming zu hundert Prozent den bereits beschriebenen Standpunkt der kurfürstlichen Politik zu eigen gemacht habe. Diese der Tradition seines Hauses entsprechende Entscheidung Johann Georgs, aus Loyalität zum Kaiser im Konfliktfall wenigstens Neutralität zu wahren, zahlte sich insofern aus, als Kursachsen noch bis zum betreffenden Jahr weitgehend unbehelligt von direkten Kriegseinwirkungen Frieden und Wohlstand genoss.1636 Dennoch blieb auch diese Beziehung nicht unbelastet: Am 6. März 1629 hatte der in religiösen Fragen unerbittliche Ferdinand II. – nicht selten auch als Marionette seiner jesuitischen Beichtväter geschmäht – auf dem Höhepunkt seiner Macht in einseitiger Auslegung des Augsburger Religionsfriedens das Restitutionsedikt erlassen, welches unter anderem die Rückgabe der seit 1552 säkularisierten Kirchenbesitztümer, darunter etwa 500 Klöster und Stifte, sowie weitere Maßnahmen im Zuge der Gegenreformation vorschrieb. Dieser Beschluss stellte eine ungeheure Provokation für die Protestanten dar und trieb
1632 Harms: Gustav Adolf, S. 173; Tschopp, S. 119. „Ein letztes Anagramm – „Auß den acht Buchstaben ADOLPHUS kömpt Ah plus do“ betont die Überlegenheit des protestantischen Helden über seine heidnischen Vorgänger.“ Tschopp, S. 120. 1633 Entner, S. 186, 257 ff. 1634 Harms: Gustav Adolf, S. 170 f.; Tschopp, S. 229–247 (Kapitel „Der Löwe aus Mitternacht“); te Heesen, S. 198 ff. Diese Benennung geht wohl auf Jer 4, 6–7 zurück. 1635 Sperberg-McQueen: Ein Vorspiel zum Westfälischen Frieden, S. 154 ff. 1636 Ebd., S. 155.
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sie langfristig zu einer (wenn auch widerwilligen) Annäherung an die Schweden, gereichte aber als rechtlich problematischer Eingriff in die ständische Libertät auch den katholischen Reichsfürsten zur Sorge.1637 Zu einer Zeit, da Gustav Adolf längst schon auf dem Festland unerwartete Erfolge feierte, von Pommern siegreich nach Mecklenburg und Brandenburg vordrang und sich gemäß dem Vertrag von Bärwalde vom 13. Januar 1631 französischer Finanzhilfen erfreute, unternahmen die zum Teil miteinander rivalisierenden protestantischen Reichsstände, Lutheraner wie Calvinisten, erstmals den Versuch einer effizienten Einigung. Von Anfang Februar bis Anfang April suchten die in Leipzig versammelten Konventsteilnehmer nach einer möglichst irenisch ausgerichteten Konfliktlösung, welche ihnen den offenen Bruch mit dem Kaiser ersparte. In einer gemeinsam abgefassten Bittschrift beschwor man Ferdinand, das Restitutionsedikt zu widerrufen und von Zwangsbekehrungen und Repressalien abzusehen.1638 Kursachsen, (später) zunehmend von Gustav Adolf und Tilly in die Zange genommen und von beiden zum Bündnisschluss gedrängt, versuchte so lange als möglich eine neutrale Position beizubehalten. Da es aber kein unbeträchtliches Risiko darstellte, ausschließlich auf den Erfolg friedlicher Verständigung zu vertrauen, erfolgten erste Aufrüstungen eines Heers, wenn auch lediglich zum Zweck einer potentiellen Verteidigung gegen Habsburg.1639 Mit einem üppig bemessenen Handgeld warb Johann Georg Söldner an und gewährte verurteilten Verbrechern eine Amnestie, sofern sie sich zur Kooperation bereit zeigten.1640 Welche Bedeutung Ferdinand diesen für ihn so provokanten Unternehmungen beimaß, lässt sich daran erkennen, dass er jeden, der den Heereswerbungen Folge leistete, mit Strafen an Leib und Leben bedrohte.1641 Der Leipziger Konvent stellt also eine Etappe des Wandels und Überganges dar: Gegenüber dem Kaiser kommen ambivalente Strategien zum Einsatz; ein überaus strapazierter Versuch, den äußeren Schein der Treue zu wahren, sowie erste Anzeichen eines Selbstbehauptungswillens, der im äußersten Fall auch vor militärischen Maßnahmen nicht zurückschreckte. Die Historiker sind sich allerdings darin weitgehend einig, dass diese erste Aufrüstung noch keine Einladung an Schweden darstelle.1642 Sperberg-McQueens Warnungen vor einer ex eventu-Deutung des historischen Kriegsverlaufes erweisen sich als berechtigt. Die Interpretation der wahr-
1637 Ebd., S. 155; Art. Dreißigjähriger Krieg (TRE), S. 172 f.; Albrecht, S. 134 f.; Böttcher, S. 33 f. 1638 Sperberg-McQueen: Ein Vorspiel zum Westfälischen Frieden, S. 156. 1639 Entner, S. 187. 1640 Ebd., S. 213. 1641 Ebd., S. 187. 1642 Ebd.; Parker, S. 204; ganz dezidiert Art. Dreißigjähriger Krieg (TRE), S. 176: „Der Leipziger Abschied war ebenso antischwedisch wie antikaiserlich.“
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scheinlich metaphorisch aufzufassenden Passage mit den Häme oder Mitleid bekundenden Tieren hängt nicht unwesentlich davon ab, inwieweit Fleming die politische Position seines Landesherrn teilte. Wenn er also tatsächlich linientreu und ohne jegliche Abweichung die kursächsische Politik zu jener Zeit propagiert, wie Sperberg-McQueen voraussetzt, dann kann mit dem von Germania anvisierten freundlichen Delphin keinesfalls Gustav Adolf gemeint sein. Andererseits muss man in Rechnung stellen, dass Gustav Adolf auf Reichsfürsten und Bevölkerung eine unterschiedliche Wirkung ausübte. Die meisten Reichsfürsten hegten von Anfang an berechtigtes Misstrauen gegenüber dem machtbewusst auftretenden Schwedenkönig, der seinen Bitten und Wünschen mit unmissverständlichen Methoden Nachdruck zu verleihen wusste; die Bevölkerung aber, unter ihnen Fleming, hatte nur begrenzten Einblick in die Staatsgeschäfte und wurde zudem fast täglich mit neuer Propaganda traktiert.1643 Entner möchte den jungen Dichter ohne Zweifel als Stimme der einfachen protestantischen Bevölkerung verstanden wissen1644 und weist darauf hin, dass dieser – allerdings erst im September desselben Jahres – Gustav Adolf ausdrücklich verteidigte gegen die (mögliche) Unterstellung eigennütziger Motive beim Einstieg in den Krieg.1645 Als am 7. September 1631 in der Schlacht von Breitenfeld bei Leipzig Tilly von den Schweden und Johann Georg besiegt und leicht verwundet worden war, griff Fleming in Anlehnung an die Epistel in einem zweisprachigen Epigramm Laudes Gustavi Adophi auf die Figur der personifizierten Germania zurück und ließ diese jubeln: Est ita! Divinae non emanet ultio dextrae, stat revolubilibus sors fugitiva rotis. Tot sum moesta dies, tot languida vulneror annos, nec potuit nostri quem miserere mali. Nunc relevor veteresque sinunt sub corde dolores, autor et intentum jam mihi vulnus habet. Quam bene, quam juste, quam non sine numine factum! Quam mihi non poteram, fert mihi Suecus opem! Ja freilich ist es so, Gott löst nichts ungerochen, das glatte Glücke steht auf einem leichten Rad; so lange bin ich krank, so, so alt ist mein Schad. Und niemand hat mir Trost im minsten zugesprochen. Kein Beileit war umb mich. Itzt fühl’ ich, läst nicht wenig der alte Schmerze nach. Der nach mir zielt’ auf Blut.
1643 Böttcher, S. 338 f.; Entner, S. 186. 1644 Entner, S. 186, 257. 1645 Ebd., S. 257.
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hat nun die Wunde selbst. Wie wol! wie recht! wie gut! Kan ich mir helfen nicht, so hilft mir jener König.1646
Dies birgt selbstverständlich die Gefahr einer ex-eventu-Interpretation, wäre aber aufschlussreich, wenn man bei Fleming eine konstante Haltung in konfessionspolitischen Belangen annehmen dürfte. Die Verwerfung der schwedenfreundlichen Interpretation wird dadurch erschwert, dass Sperberg-McQueen keine Vorschläge macht, wer statt Gustav Adolf mit dem freundlichen Delphin gemeint sein könnte.1647 Leider scheinen bislang noch überhaupt keine Versuche unternommen worden zu sein, die übrigen, demnach wohl ebenfalls metaphorisch aufzufassenden Tiere zu identifizieren. Es ist durchaus möglich, dass Fleming bei seinen gebildeten Zeitgenossen ein feines Gespür für lediglich vage Andeutungen voraussetzen konnte. Ob der leichtfüßig springende Hase vielleicht die oftmals mit dem Stereotyp der charakterlichen Unbeständigkeit geschmähten Franzosen symbolisiert? Ob die Elster mit ihrem schwarzen Gefieder und ihrer allbekannten Gier nach glänzenden Metallen aus protestantischer Sicht den römisch-katholischen Klerus repräsentiert?1648 Dies bleibt leider im Bereich des Spekulativen1649 ebenso wie die Frage nach der Funktion dieser vermuteten Allegorie, welche sowohl eine verschleiernde als auch eine für jedermann stichwortartig erhellende Wirkung bezwecken könnte. Von daher scheint es angebracht, zumindest auf dem bisherigen Kenntnisstand nicht allzu sehr eine allegorische Deutung der Tiere zu forcieren. Germania wendet nun ihren Blick von den sie umgebenden Tieren auf ihre eigenen familiären Konstellationen (L 139–146, D 205–212): O quot ego quondam felix stipabar amicis! Ipsa nec auxilio jam mihi mater erit.
1646 Beide Fassungen, Teil eines Kranzes von Epigrammen und anderen kürzeren Gedichten auf den Sieg vom September, in: Paul Flemings lateinische Gedichte, S. 13–14. 1647 Es wird nicht einmal deutlich, ob er den Delphin überhaupt metaphorisch verstanden wissen will. 1648 Ornithologische (Schmäh-)Metaphern scheinen nicht unüblich gewesen zu sein. Hans Sachs hatte 1546 in seinem fiktionalen Dialog Ein klagred teutsches lands mit dem treuwen Eck hart den römisch-katholischen Klerus als lichtscheue Nachtvögel dargestellt, welche den Adler (Kaiser) mit einigem Erfolg gegen die von Luther mit neuem Glaubenslicht beschenkte Germania aufhetzen. Vgl. das Kapitel dieser Arbeit 2.3.3. 1649 Möglicherweise hat die ovidische Arion-Erzählung Inspirationen zu Flemings Natur-und Tierbild geliefert. Vgl. Ov. fast. 2, 83–118. Auch dort kommen neben dem wohltätigen Delphin Vögel, Hasen und Schatten vor. Die Freund-Feind-Thematik spielt ebenfalls eine Rolle, allerdings dergestalt, dass alle von Natur aus verfeindeten Tiere (durch Arions Musik) zu Frieden und Eintracht gestimmt sind. So sitzt die Krähe freundschaftlich neben der Eule und ist sine lite loquax.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
Non mea Germanas angunt tormenta sorores. Forte quid auxilii condoluisse fuit. Ignibus ipsa suis me prima Bohemia adussit Inde fuit tantae prima favilla pyrae. Tot menses combusta flagro, tot concremor annos Perque vices nostrum crescere cerno rogum. Wie war ich freundereich, als ich noch stund im Glücke! Itzt will mir selbsten nicht die Mutter springen bei. Der Schwestern ganze Zunft tritt von mir ab zurücke, es jammert keine nicht mein kläglich Angstgeschrei. Ja, Böhmen, Böhmen selbst, die hat die ersten Funken auf mich, die Nachbarin, unschwesterlich gespeit. Von so viel Jahren her bin ich in Brand gesunken, und niemand löscht ihn mir. Ich brenne noch zur Zeit.
Germanias soziale Isolation wird noch übertroffen durch die familiäre. Fleming macht sich hier in der Tradition früherer Autoren von Germania-Heroiden den Kunstgriff der doppelten Allegorisierung zunutze und auch dies in zweierlei Hinsicht. Jeweils zwei personifizierte Länder bzw. Gebiete stehen einander einmal in einer schwesterlichen, einmal in einer Mutter-Tochter-Beziehung gegenüber. Germanias Klage über den hässlichen Angriff von seiten der Schwester Böhmen bewegt sich in den Bahnen der kursächsischen Politik und reflektiert die Entrüstung Johann Georgs über die antikaiserliche Rebellion, welche 1618 jene nicht abreißende Kette von Kriegen ausgelöst hatte.1650 In seiner loyalen Haltung zu Habsburg verweigerte der Kurfürst den Aufständischen in der Folge nicht nur jegliche Solidarität, sondern leitete auch die Reichsexekution gegen die mit ihnen verbündeten Schlesier und Lausitzer, was ihm beide Lausitzen als vorläufige Entschädigung für seine Kriegsaufwendungen eintrug. In seinem ganzen Land setzte er eine Sprachregelung durch, wonach die Erhebung in Böhmen ausschließlich als „böhmisches Unwesen“ zu bezeichnen war,1651 und mied bis 1630/1631 alle Bündnisse mit anderen Protestanten, insbesondere mit den Calvinisten, um sich das Wohlwollen des Kaisers zu erhalten.1652 Indem Fleming das am Kriegsausbruch schuldige Böhmen nicht als Sohn Germanias, etwa in Gestalt des kurze Zeit als böhmischer (Gegen-)König regierenden Pfälzer Kurfürsten Friedrich V. („Winterkönig“), sondern als deren Schwester in seinen Text integriert, vermeidet er eine namentliche Beschuldigung der Briefadressaten.1653
1650 Sperberg-McQueen: Ein Vorspiel zum Westfälischen Frieden, S. 158. 1651 Entner, S. 184. 1652 Sperberg-McQueen: Ein Vorspiel zum Westfälischen Frieden, S. 154. 1653 Ebd., S. 158 f.
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Die Beschwörung der allegorischen Familienbande findet ihre Fortsetzung, indem Germania sich nach wiederholten Klagen über die Lieblosigkeit ihrer Mutter Europa (213–220) wieder explizit ihren Söhnen zuwendet (221–238). Dies beginnt mit dem Ausdruck der Sehnsucht nach ihren zu Hector und Achill stilisierten Helden Friedrich und Moritz, dem Brandenburger Kurfürsten Joachim II. und dessen Bruder Markgraf Johann, welche sich durch die Einführung der Reformation in ihren Territorien Verdienste erworben hatten.1654 In der folgenden supplicatio oder petitio legt Germania ihre ganze mütterliche Autorität in die Waagschale.1655 Die herzgeliebten Erben (225), welche Tag und Nacht schlafen (228), sollen sich auf das natürlich Recht der Mutter und die alte deutsche Treu’ (231–232) besinnen und der kaum noch Lebensfähigen (D 235 Ich lieg´ in letzten Stunden) Beistand leisten. Ein wohlbeherztes Herz – welches mit der zum Sprichwort gewordenen deutsche[n] Treu’ (68) korreliert – habe sie ihnen ja verliehen. Ganz in der Tradition der Germania-Heroiden des 16. Jahrhunderts, welche die Türkenkriegsagitation zum Inhalt haben, gebraucht Fleming das seit Ilias und Aeneis vor allem im Epos geläufige Motiv des Heereskatalogs und lässt seine Heldin mit Nachdruck ihre militärischen Wünsche äußern (L 175–182, D 239–248): Saxo, tibi, tibi, Brenne, tibi, Palatine, fuerunt, queis steterunt meritis ara focusque suis. Inclyta magnanimis heroibus Hassia stabat, noster et a Guuelpho sanguine crevit honos. Stirpis Anhaldinae cara est mihi bellica virtus. Ex Heneto clari germine dantur avi. Quot Badena dabat, quot Wurttenberga celebres Hectoras! His celebris Teutona mater eram. Aus Sachsen sind ihr Viel’, die noch im Lobe schweben, die mir so manches Mal erleichtert meinen Schmerz. Das hohe Brandenburg, das muß ich ewig preisen, wie auch die schöne Pfalz von wegen ihrer Treu’; an Hessen hab ich Trost; die dapfern Taten weisen, was Lüneburg verdient, was Anhalt würdig sei. Das frische Mechelburg, das weitbelobte Baden, das teure Würtenberg sind alten Lobes voll. Ach, folgt den Ahnen nach, so euch der Mutter Schaden, so eurer Freiheit Tod euch leid sein kann und soll!
1654 Becker-Cantarino, S. 237, Anm. 6. 1655 Zur Propagierung von Patriotismus als Erfüllung von naturgewollten Kindespflichten gegenüber der Mutter vgl. A. Schmidt: Vaterlandsliebe und Religionskonflikt, S. 31 ff., bes. S. 40.
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Diese Empfehlungen nehmen Bezug auf die sächsischen Söldnerwerbungen und beinhalten selbstredend nur protestantische Mächte. Wie nicht anders zu erwarten, sollen Kursachsen und Brandenburg, die Initiatoren des Leipziger Konvents, den mit optimistischer Phantasie beschworenen illustren Zug anführen. Unter den für ihre besonderen Vorzüge gepriesenen Teilnehmern befinden sich auch das teilweise calvinistische Hessen1656 und die reformierte (damals allerdings bayerisch besetzte) Pfalz, offenbar zeigt sich darin ein Reflex des neuen versöhnlichen Kurses der sächsischen Politik gegenüber den Calvinisten.1657 Letztlich sollen alle folgen, die von der kaiserlichen Partei etwas zu befürchten haben. Germania begnügt sich nicht mit der Aufzählung der gewünschten Söldnertruppen, sondern verweist auf ein imposantes Exempel der Gegenwart (L 183–190, D 249–258): Cernite concordes bene nexo federe Belgas. Erubet immensum terra pusilla solum. Divitis exspoliant aeraria fulva Philippi, quas et opeis geminus miserat Indus, habent. His invicta cadunt et tanto principe vinci Laudibus apponunt moenia tanta suis. Hos imitabimini, si libertatis avitae Pectora, si patriae vestra subibit amor. Ach, Meine, seht doch an die starken Niederländer; Ihr obwol kleines Land beschämt die weite Welt. Sie führen Taten aus durch ihrer Bündnüß Bänder, die über Hoffen sind. Der Spanier, der fällt, muß lassen Schiff’ und Schätz’. Es brechen solche Mauren, die manchen Feind verhönt, durch ihre kluge Macht. Die Bürger freuen sich anstatt da Andre trauren, daß sie ein solcher Prinz in sein Gebiete bracht. Auf euch, allein auf euch, muß sich mein Hoffnung steifen, ihr meine liebsten Söhn’! Ihr seid ihr Grund und Stein. Ihr deutschen Herzen müßt der Deutschen Wolfart greifen Selbst unter ihren Arm, soll sie erhalten sein.
Diese Passage hat in der Forschung nicht zu Unrecht für Aufsehen gesorgt. Entner spricht gar von einem „Fauxpas,“ der Fleming in seinem Eifer unterlaufen sei, aber im Folgenden schnell abgebogen werde.1658 Das Lob auf die Rebellion der Niederländer musste dem sächsischen Kurfürsten, der ja zu dieser Zeit
1656 Hessen-Kassel war calvinistisch, Hessen-Darmstadt lutherisch. 1657 Sperberg-McQueen: Ein Vorspiel zum Westfälischen Frieden, S. 62 f. 1658 Entner, S. 204.
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trotz Söldnerwerbung noch krampfhaft versuchte, den Schein der Loyalität gegenüber dem Kaiser zu wahren, aufs Äußerste missfallen, stellte es doch eine ungeheure Provokation gegenüber dem spanischen Zweig der Habsburger dar. Die niederländische Erhebung hatte übrigens auch als Modell für den Böhmischen Aufstand gedient, welchen Johann Georg in rein politischer Auslegung als Empörung gegen die rechtmäßige Obrigkeit verurteilte. Entner mutmaßt, dass der junge Fleming, im Lektürefieber unbekümmert um die potentielle Wirkung auf die Herrschenden, aus literarischen Quellen, vielleicht aus Julius Wilhelm Zincgrefs Vermahnung zur Tapferkeit und aus dem dritten Buch der Opitz’schen Trostgedichte in Widerwärtigkeit des Krieges zusammengetragen habe, was ihm eine Steigerung des poetischen Effekts versprach.1659 Sperberg-McQueen hingegen nimmt diese Passage zum Beweis, dass Fleming ebenso wie sein Landesherr trotz expliziter Verurteilung des Böhmischen Aufstandes keine anticalvinistischen Ressentiments hegte, dass sich im Gegenteil darin sogar der neue versöhnliche Kurs Johann Georgs gegenüber den Calvinisten widerspiegle.1660 Wenn man Fleming einen wohlüberlegten Rekurs auf die Erhebung der Niederländer zutraut (mit oder ohne Berücksichtigung des aktuellen kurfürstlichen Standpunktes),1661 käme dies der proschwedischen Deutung der Delphin-Metapher zugute und die Indizien für die protestantische Ausrichtung der Epistel erhielten zusätzliches Gewicht. Mit dem heldenmütigen Prinzen ist offensichtlich Friedrich Heinrich von Oranien gemeint, der jüngste Sohn Wilhelms von Oranien, welcher seit 1625 Statthalter der Niederlande war und sich im Freiheitskrieg besonders hervortat. Spätestens seit den grandiosen Eroberungen von Gol 1627 und Den Bosch 1629, der Hauptstadt von Nordbrabant, war sein Name in ganz Europa berühmt. Der Regent, der seit 1631 finanzielle Unterstützung von ihm erhielt, war kein Geringerer als Gustav Adolf. Es hätte nahegelegen, dass Fleming auch diese so signifikante Passage metaphorisch gestaltete, etwa indem er seine Germania einen prachtvollen Löwen, den in der niederländischen Kartographie jener Zeit omnipräsenten Leo Belgicus, als Hoffnungsträger feiern ließ – ein Kunstgriff, der gut mit den leider rätselhaft bleibenden Tieren der bereits erörterten Passage harmoniert hätte. Obgleich ein
1659 Ebd. 1660 Sperberg-McQueen: Ein Vorspiel zum Westfälischen Frieden, S. 159. Becker-Cantarino, S. 237 sieht in dem direkten Anschluss des Exempels der Niederländer an die aufzurüstenden protestantischen Mächte offenbar kein Problem. 1661 Kühlmann: Selbstbehauptung und Selbstdisziplin, S. 172 führt diese Passage als Beleg für eine dezidiert antispanische und antikatholische Haltung des Norddeutschen Fleming an, der seine Hoffnung grundsätzlich auf die protestantischen Stände des Reiches sowie auf die Wehrhaftigkeit der Niederländer gerichtet habe.
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allegorisches Verfahren an dieser Stelle ein in ganz Europa diskutiertes politisches Phänomen keineswegs verschleiert, sondern poetisch effektvoll illustriert hätte, scheint der Autor dennoch mit der expliziten Nennung von Land, Volk und Prinz die Wendung zu einer rein realistischen Ebene zu bevorzugen. Möglicherweise ist diese Entscheidung dem Umstand geschuldet, dass die gesamte Epistel etwa ab Vers 221 ff. aus dem Bereich der Bildlichkeit wieder vermehrt in die Bahnen der politischen Wirklichkeit zurückkehrt. In den folgenden Versen fordert Germania ihre Söhne erst mit allgemein gehaltenen Worten zur beherzten Nachfolge der Niederländer auf (257–260) und erteilt dann eine direkte Verhaltensanweisung (L 191–194, D 257–265): Vos uni spes una mihi, spes una salutis, pignora, credimini, Teutona, Teutonicae. Numina per vestra mihi propitiantur acerras. Restitui patriae sic quoque quibo meas. Auf euch, allein’ auf euch, muß sich mein’ Hoffnung steifen, ihr, meine liebsten Söhn’! Ihr seid ihr Grund und Stein. Ihr deutschen Herzen müßt der Deutschen Wolfart greifen selbst unter ihren Arm, soll sie erhalten sein. Ja, soll für meinem End’ ich noch zu Porte länden und meine Kinder sehn, so müßt ihr Alle stehn mit Räuch- und Opferkwerk’ und aufgehabnen Händen und eurer Seufzer Brunst von Herzen lassen gehen zu Gott und himmelan. […]
Es überrascht nicht, dass diese Verse auf Dörrie zunächst wie ein hilfloses Ausweichen vor politischen Konsequenzen in den allgemeinen Bereich der Frömmigkeit wirken und somit zu seinem Verdikt über die gesamte Epistel als „Suasorie ohne Programm“ beitragen. Dem ist entgegenzuhalten, dass diese hier zitierte Forderung Germanias ganz dem Tenor des von den Konventsteilnehmern verfassten Schlussdokuments entspricht. Dort werden die Verheerungen und Leiden Deutschlands auf die allgemeine Sündhaftigkeit und Unbußfertigkeit der Menschen zurückgeführt. Die in Leipzig versammelten Landesherren einigten sich darauf, in ihren Territorien eine neue Bußpraxis durchzusetzen, d. h. bestimmte Buß- und Bettage einzuführen und Volksbelustigungen zu untersagen.1662 Fleming, der in diesem Zusammenhang ohnehin eine ähnliche Thematik behandelte und Versparaphrasen der sieben Bußpsalmen ausarbeitete,1663 scheint sich
1662 Entner, S. 210 f. mit dem Hinweis auf die einseitige Restriktionspolitik gegenüber der einfachen Bevölkerung. Vgl. auch Luthers Anweisungen zum Türkenkrieg. 1663 Ebd.
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in der hier zitierten Passage eng an den Wortlaut des fürstlichen Schreibens anzulehnen.1664 Er lässt seine Germania fortfahren (L 195–198, D 265–272): Dicite Caesario, Fernando dicite nostro, cui dedimus patrii regia sceptra soli, quas patiar non digna cruces, quas irruo mortes. Sit, precor, in matrem mitior ille suam. […] Klagt auch von meinetwegen mein großes Herzeleid dem hohen Ferdinand’, als dem ich anvertraut mein liebes Volk zu pflegen, ja, der beschützen soll mich, Scepter, Kron und Land! Sagt ihm, er wolle doch nur diß bei ihm gedenken, wie ich ohn’ alle Schuld ersterb’ in solcher Pein, er woll’ ihm doch durch euch das Herze lassen lenken und als ein treuer Sohn mir Mutter gnädig sein!
Hier also ist zum ersten und einzigen Mal namentlich und explizit die Rede vom Reichsoberhaupt, welches nach Eickmeyers Urteil den eigentlichen Adressaten von Germanias Klage darstellt und in ähnlicher Weise um Erbarmen angefleht wird wie Augustus in Ovids Exildichtung.1665 Dörrie hatte schon die Aussparung des Kaisers als einziges mögliches Indiz für irgendeine politische Tendenz der Epistel gelten lassen – allerdings mit dem irrtümlichen Argument, dieser werde überhaupt nicht genannt –, andererseits bemerkt er zutreffend, dass der Kaiser hier ausdrücklich in die Schar von Germanias Söhnen einbezogen werde. Dies lässt sich zwar nicht abstreiten, doch die Mutter apostrophiert ihn nicht direkt wie die übrigen, sondern nennt ihn innerhalb weniger Verse in der dritten Person, was eine erhebliche Distanzierung erkennen lässt.1666 Jegliche Form von Herrscherlob – sonst in nahezu jeglichem Kontext üblich – entfällt,1667 und die insistierenden Mahnungen zur Erfüllung seiner Sohnespflichten lassen keinen Zweifel daran, dass Ferdinands Regierungsstil in ihren Augen sehr zu wünschen übrig lässt. Inhaltlich beziehen sich diese Mahnungen auf die in der fürstlichen Bittschrift formulierten Anliegen, d. h. auf die Rücknahme des Restitutionsedikts, auf die Einstellung des Kontributionswesens sowie auf weitere restriktive Maßnahmen im Zuge der Gegenreformation. Germania beendet ihren Brief mit einer an die pietas ihrer Söhne appellierenden Darstellung ihrer elenden Schreibsituation, welche strukturell den Eingangs1664 Vgl. Zitat ebd. 1665 Eickmeyer: Der jesuitische Heroidenbrief, S. 148. 1666 Auch das in der Poesie generell wie auch in der Heroidendichtung überaus beliebte Stilmittel der Apostrophe hätte Fleming zu Gebote gestanden. 1667 So auch Becker-Cantarino, S. 237.
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versen entspricht (273–300). Wieder ist von Wildnis, Buchenrinde und Tränen die Rede; wie zuvor am notdürftig improvisierten Material ihres Schreibens (Tränen, Erde, Schilfrohr), so ist nun am Stil desselben ihre Seelenlage abzulesen. Nach einer uralten, schon bei Ovid geläufigen Topik will sie ihre als kunstlos und mangelhaft bezeichneten Worte als Auswirkung ihrer Herzensnot verstanden wissen. Germania wiederholt ihre durchgehenden Mahnungen zum unverbrüchlichen Zusammenhalt der Fürsten untereinander, und in den letzten vier Versen spricht sie, des Ausgangs ihres Schicksals noch ungewiss, in aller Vorsicht zum ersten Mal von Hoffnung. Mit seinem Schreiben vertriebener Frau Germanien reiht sich Fleming in die Tradition der allegorisch-patriotischen (lateinischen) Germania-Heroiden des 16. Jahrhunderts ein. Während diese zum größten Teil antiosmanische Agitationsschriften darstellten, steht hier die Klage über den Krieg als solchen ohne Aufruf zur Bekämpfung eines namentlich genannten Feindes im Mittelpunkt. Daher erklären sich die Versuche, die Tendenz des Schreibens mit dem Begriff der Irenik zu fassen und den Appell zu einer ständeübergreifenden deutschen concordia aufzuzeigen. Die Interpretation hängt im wesentlichen von der Deutung der folgenden bereits genannten Schlüsselstellen ab: 119–120: Die Frage nach dem nicht namentlich genannten oder eindeutig charakterisierten Peiniger, der Germania nicht Mutter heißt und sie ohne Ende plagt. 195–200: Die Frage nach der Identität des trostbringenden Delphins. 249–260: Der Verweis auf das strahlende Exempel der erfolgreich rebellierenden Niederländer. 265–272: Die indirekt vermittelte Botschaft an Kaiser Ferdinand. Für die Interpretation der Heroide spielt zum einen die Bedeutung des Leipziger Konvents als politischer Wendepunkt eine besondere Rolle, zum anderen die Frage, wie sich Flemings Standpunkt zu demjenigen seines Fürsten verhält. Bei aller Schwierigkeit der genauen Abwägung der ambivalenten Haltung der Fürsten scheint heute die communis opinio vorzuherrschen, dass der Konvent noch nicht als Einladung an Schweden verstanden werden dürfe. Sperberg-McQueen hat die von Loyalitätskonflikten und diplomatischen Verrenkungen geprägte kurfürstliche Politik zu jener Zeit überzeugend dargelegt; der einzige mögliche Schwachpunkt seiner Argumentation scheint in der selbstverständlichen Gleichsetzung der Flemingschen Verse mit der Position des Landesherrn zu bestehen. Zieht man die Möglichkeit in Erwägung, dass Fleming zwar weitgehend der kursächsischen Ausrichtung folgt, aber weniger Einblick in die von Interessen geleiteten Staatsgeschäfte hat und daher empfänglicher für eine geschickt lancierte konfessionelle Propaganda ist, bietet sich ein anderes Bild. Ob Fleming mit dem Delphin
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Gustav Adolf meint, mit dem namenlosen Peiniger den Feldherrn Tilly oder jemand anderen aus der kaiserlichen Partei, und ob er bei aller Sehnsucht nach dem Frieden in ganz Deutschland in der kompromisslos betriebenen Gegenreformation eine Gefahr sieht und daher – entgegen ansonsten weitgehender Übereinstimmung mit der sächsischen Politik – die noch immer zögernden Fürsten zum Bündnisschluss mit dem nahenden Retter Gustav Adolf bewegen möchte – dies alles ließe sich nur mit Hilfe verlässlicherer Textzeugnisse sicher beantworten. Weniger zweifelhaft scheint jedoch, dass Flemings Germania, auch wenn ihr Schreiben dem Titel nach an alle Kurfürsten gerichtet ist, lediglich die protestantischen von ihnen – Lutheraner wie Calvinisten – anspricht oder erwähnt. Der einzige namentlich genannte Sohn katholischer Ausrichtung ist Kaiser Ferdinand, und auch dies lediglich in seiner Funktion als Reichsoberhaupt. Die insbesondere von Sperberg-McQueen vertretene Deutung, dass Germania alle Kurfürsten und Fürsten des Reiches vollkommen ungeachtet ihrer Konfession als gleichermaßen geliebte Söhne zu vereinigen sucht, lässt sich, obgleich dies der Titel ihres Schreibens suggeriert, nicht unbeschränkt aufrechterhalten. Dessen ungeachtet stellt das Schreiben vertriebener Frau Germanien in poetischer Hinsicht ohne Zweifel den Höhepunkt der politisch-patriotischen Germania-Heroiden des 17. Jahrhunderts dar. Gerade die im Gegensatz zu vielen abstrakt bleibenden Germania-Personifikationen des 16. Jahrhunderts1668 mit der Aufzählung äußerst anschaulicher Details betriebene Vergegenwärtigung der überpersönlichen Sprecherinstanz ist von den Interpreten gewürdigt worden.1669 Fleming lässt mehrere Bildbereiche harmonisch ineinandergreifen. Sperberg-McQueen betont „die leitmotivische Familienmetapher in dem Gedicht“.1670 In der Tat wurde die (wahrscheinlich von Georg Sabinus) in der humanistischen Germania-Heroide begründete und von Fleming verstärkt eingesetzte allegorische Mutter-Sohn-Beziehung zwischen Germania und Adressat(en) immer wieder hervorgehoben; nicht beachtet wurde allerdings der Umstand, dass Germania innerhalb eines weiten Familiengeflechts nicht nur als Mutter in Erscheinung tritt. Wiederholt präsentiert sie sich auch als Tochter einer zur königlichen Mutter stilisierten, wenn auch abwesenden Europagestalt, was eine – wahrscheinlich von dem Rudelius/Bretschneiderschen Flugblatt inspirierte – signifikante Neuerung in der allegorischen Heroidendichtung darstellt, wo bislang nicht einmal 1668 Hier wäre an Autoren zu denken, welche nicht primär durch poetische Leistungen von sich reden machten, wie z. B. Michael Helding oder Nikolaus Reusner. 1669 Besonders Sperberg-McQueen: Ein Vorspiel zum Westfälischen Frieden, S. 166 und ebenso auch Sperberg-McQueen: The German Poetry of Paul Fleming, S. 66: „Fleming exploits this characteristic of the heroic epistle significantly more than his predecessors in the genre.“ 1670 Sperberg-McQueen: Ein Vorspiel zum Westfälischen Frieden, S. 158.
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der Name Europa fiel. Strenggenommen könnte man in der einen kurzen Klage über das aggressive, funkenspeiende Böhmen auch den Aspekt einer schwesterlichen Beziehung der Länder untereinander geltend machen. Trotz der Dominanz der Familienmetapher begegnet Germania auch in den Rollen der Königin, der Bettlerin und der unschuldigen Büßerin, welche trotz allem Züge der im Alten Testament durchweg präsenten Personifikation Zions bzw. Jerusalems trägt. Becker-Cantarino spricht von „religiöser Konnotation“ und dem „Bild einer mater dolorosa“1671 – ein Eindruck, welcher auf das erklärtermaßen unverdiente, stellvertretende Leiden der liebenden Muttergestalt zurückgehen dürfte. Der Gebrauch verschiedener, ineinandergreifender Bildebenen ist keine Neuerung Flemings, sondern tritt bei diesem nur plastischer hervor. Der Poet bedient sich aus einem möglichst reichen Arsenal geläufiger Assoziationsmuster seiner Zeit und versucht, mit feinen Anklängen an biblische, antike und zeitgenössische Texte ein möglichst weites Publikum anzusprechen. Die Übergänge zwischen den verschiedenen Bildbereichen müssen freilich flüssig und ohne scharfe Brüche erfolgen. Vielleicht besteht nicht zuletzt darin der große Reiz des Schreibens ver triebener Frau Germanien.
3.2.2 Justus Georg Schottelius (1612–1676) Lamentatio Germaniae Exspirantis (1640) [LAMENTATIO GERMANIAE EXSPIRANTIS. Der numehr hinsterbenden Nymphen GERMANIAE elendeste Totenklage (1640)] In direktem Zusammenhang mit Paul Flemings Schreiben vertriebener Frau Ger manien nennen Heinrich Dörrie und Alexander Schmidt eine umfassende allegorisch-patriotische Dichtung des Sprachforschers und Grammatikers Justus Georg Schottelius.1672 Mit diesem Autor richtet sich der Fokus auf eine der prominentesten Gestalten des deutschen Sprachpatriotismus des 17. Jahrhunderts.1673 Nicht als der 1671 Becker-Cantarino, S. 244. 1672 Dörrie: Der heroische Brief, S. 470; A. Schmidt: Vaterlandsliebe und Religionskonflikt, S. 366 ff. 1673 Zu Biographie und Werk Jörg-Jochen Berns: Justus Georg Schottelius. In: Harald Steinhagen und Benno von Wiese (Hrsg.): Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk. Berlin 1984, S. 415–435; Jörg Jochen Berns (Hrsg.): Justus Georg Schottelius 1612–1676. Ein Teutscher Gelehrter am Wolfenbütteler Hof. Katalog zur Ausstellung der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel vom 23. Oktober 1976 bis 2. Januar 1977. Wolfenbüttel 1977; Tuomo Fonsén: Kunstlöbliche Sprachverfassung unter den Teutschen. Studien zum Horrendum Bellum Grammaticale des Justus Georg Schottelius (1673). Frankfurt am Main 2006 (Finnische Beiträge zur Germanistik
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größte Poet seiner Epoche,1674 aber als der bedeutendste Grammatiker der deutschen Sprache vor Jacob Grimm, als Sprach- und Moralphilosoph, Lexikograph, Poetologe, Jurist, Pädagoge und Theologe bietet Schottelius ein eindrucksvolles Beispiel für die vielseitige Ausrichtung der Gelehrsamkeit vor der im 19. Jahrhundert aufkommenden Unterteilung der Wissenschaft in strikt getrennte Fachdisziplinen.1675 Dennoch kann er nicht als Polyhistor gelten, da sich alle seine Schriften in der einen oder anderen Weise auf „Spracharbeit“ beziehen.1676 Am 23. Januar 1612 kam er in der niedersächsischen Hansestadt Einbeck zur Welt, ebenso wie Fleming als Sohn eines lutherischen Pastors. Schon früh bekam er die Folgen des 1618 ausgebrochenen Dreißigjährigen Krieges zu spüren, als er mit noch nicht einmal 15 Jahren den Vater durch die Pest verlor.1677 Da er schon damals einen Hang zur akademischen Gelehrsamkeit verspürte und das für ihn vorgesehene Metier eines Handwerkers oder Krämers verschmähte, begab er sich schon im darauffolgenden Jahr, 1627, auf den Weg zu höheren Schulen und Universitäten, was er durch Präzeptorentätigkeiten finanzieren musste.1678 Nach einem Besuch des Gymnasium Andreanum in Hildesheim und der Universität Helmstedt gelangte er 1630 nach Hamburg, wo der Krieg noch keine Zer-
17); Tuomo Fonsén: Art. Schottelius. In: Killy / Kühlmann Bd. 10, S. 571–572; Sprachhelden und Sprachverderber. Dokumente zur Erforschung des Fremdwortpurismus im Deutschen (1478– 1750). Ausgewählt und kommentiert von William Jervis Jones. Berlin / New York 1995 (Studia Linguistica Germanica 38). 1674 Berns: Schottelius: Justus Georg Schottelius, S. 415. Zur Unterscheidung von Berns’ beiden Abhandlungen, welche beide Schottelius’ Namen im Titel tragen, wird diejenige von 1984 künftig unter dem Kurztitel „Justus Georg Schottelius“, diejenige von 1977 unter dem Kurztitel „Ein Teutscher Gelehrter“ genannt. Zu Schottelius’ Schriften auch grundlegend Markus Hundt: „Spracharbeit“ im 17. Jahrhundert. Studien zu Georg Philipp Harsdörffer, Justus Georg Schottelius und Christian Gueintz. Berlin / New York 2000 (Studia Linguistica Germanica 57); Stefanie Stockhorst: Ethische Aufrüstung. Zur Konvergenz von Landlebensdichtung und Neostoizismus im Zeichen des Dreißigjährigen Krieges am Beispiel von J. G. Schottelius’ Lamentatio Germaniae Exspirantis (1640). In: Euphorion 105/1 (2011), S. 1–18; Ferdinand van Ingen: Sprachpatriotismus im Europa des Dreißigjährigen Krieges. In: Klaus Garber u. a. (Hrsg.): Der Frieden. Rekonstruktion einer europäischen Vision. Bd. 1: Erfahrung und Deutung von Krieg und Frieden. Religion – Geschlechter – Natur und Kultur. München 2001, S. 943–956; Sebastian Rosenberger: Satirische Sprache und Sprachreflexion. Grimmelshausen im diskursiven Kontext seiner Zeit. Berlin / Boston 2015 (Studia Linguistica Germanica 121). 1675 Berns: Justus Georg Schottelius 1612–1676. Ein Teutscher Gelehrter, S. 6. Zur Unterscheidung von der anderen Abhandlung Berns von 1984, welche ebenfalls mit Schottelius’ Namen betitelt ist, wird diese künftig unter dem Kurztitel „Ein Teutscher Gelehrter“ genannt. 1676 Berns: Justus Georg Schottelius, S. 415. 1677 Fonsén, S. 13. 1678 Ebd.
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störungen angerichtet hatte.1679 Dort fand er im folgenden Jahr Aufnahme in das Akademische Gymnasium unter dem Rektorat des berühmten Philosophen, Mathematikers und Naturkundlers Joachim Jungius. Möglicherweise verdankte er diesem erste Anregungen für die Erforschung der deutschen Sprache.1680 1633 ging er in die Niederlande und immatrikulierte sich 1635 an der prestigeträchtigen Universität Leiden, wo er namhafte Professoren wie Daniel Heinsius und Petrus Cunaeus hörte.1681 Im Jahr darauf lehnte er bei seinem Heimatbesuch in Einbeck das ihm angebotene Konrektorat an der dortigen Ratsschule ab, reiste weiter nach Leipzig und von dort nach Wittenberg.1682 1638 musste er die Stadt wegen der drohenden Ankunft der schwedischen Armee verlassen und gelangte so nach Braunschweig, wo sich ihm ein großes Wirkungsfeld eröffnete, welches sein weiteres Leben bestimmen sollte. Nach einer kurzen Hauslehrertätigkeit bei einer adligen Familie erregte er nämlich, obgleich damals noch ohne akademischen Grad, die Aufmerksamkeit des Herzogs August von Braunschweig und Lüneburg. August, der selbst schriftstellerische Ambitionen besaß, engagierte den gerade einmal 26-Jährigen, der sich durch sein Studium bei großen Autoritäten empfahl und wohl damals schon durch sein besonderes Interesse für die deutsche Sprache von sich reden machte, als Präzeptor für seinen zweitältesten Sohn Anton Ulrich und dessen Schwestern.1683 Fortan sollte Schottelius’ Name (vor Gottfried Wilhelm Leibniz und Gotthold Ephraim Lessing) eng mit der kulturellen Geschichte Braunschweigs und Wolfenbüttels verknüpft sein: Der Gelehrte verblieb bis zu seinem Tod am Hofe des Herzogs und partizipierte an dessen Aufstieg zum literarischen Zentrum des protestantischen Deutschlands. Die Bedeutung dieses Umstandes für sein gesamtes Werk und für seine Wertschätzung bei der deutschen Bildungselite kann überhaupt nicht hoch genug veranschlagt werden: Nur der uneingeschränkte Gebrauch der schon damals legendären fürstlichen Bibliothek, die Protektion durch den Herzog und das Netzwerk von literarischen Kontakten versetzten Schottelius in die Lage, gewissermaßen zu einem Wegbereiter der Germanistik zu werden.1684 1640 erschienen die beiden ersten selbstständigen Schriften Die hertzliche Anschawunge Unsers gecreutzigten Hey landes und LAMENTATIO GERMANIAE EXSPIRANTIS. Der nunmehr hinsterbenden Nymphen GERMANIAE elendeste Todesklage, im folgenden Jahr die Erstfassung seiner Grammatik Teutsche Sprachkunst. 1642 avancierte Schottelius in zweifa1679 Ebd. 1680 Ebd.; Berns: Schottelius: Ein Teutscher Gelehrter, S. 23. 1681 Fonsén, S. 13. 1682 Ebd., S. 14; Berns: Ein Teutscher Gelehrter, S. 23. 1683 Berns: Justus Georg Schottelius, S. 416. 1684 Berns: Ein Teutscher Gelehrter, S. 8 f.
3.2.2 Justus Georg Schottelius (1612–1676): Lamentatio Germaniae Exspirantis
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cher Hinsicht. Unter dem Pseudonym „Der Suchende“ fand er als 397. Mitglied Aufnahme in die 1617 gegründete Fruchtbringende Gesellschaft (auch Palmenorden genannt), die älteste und wichtigste deutsche Sprachsozietät des Barock unter dem Vorsitz des Fürsten Ludwig von Anhalt-Köthen.1685 Gemeinsames Ziel all dieser keineswegs homogenen kulturpatriotischen Vereinigungen waren die Förderung der deutschen Sprache und der Wiederbelebungsversuch einer als alte deutsche Tugend propagierten Moral, zwei Anliegen also, welche, dem Verständnis der Zeit gemäß, einander bedingten.1686 Unter den letztlich 890 Mitgliedern der Fruchtbringenden Gesellschaft dominierte der Adel, so dass die Aufnahme des bürgerlichen Schottelius als Beglaubigung der nicht geringen Reputation des Gelehrten gelten konnte.1687 Zu den durch eigenes Verdienst zur Prominenz aufgestiegenen Mitgliedern zählten u. a. Martin Opitz, Georg Philipp Harsdörffer und Sigmund von Birken.1688 Um die sozialen Schranken zwischen adligen und bürgerlichen Mitgliedern zu überbrücken, wies man jedem Neuankömmling einen Namen, eine Pflanze als Sinnbild und einen Sinnspruch zu. Schottelius erhielt als sichtbares Attribut eine Gemsenwurzel mit dem Sinnspruch „Reine Dünste“ und wurde zum „Suchenden“ ernannt, was offenbar auf seine selbstkritische Haltung gegenüber den eigenen Forschungen zurückzuführen ist.1689 In Braunschweig beförderte man ihn unterdessen zum ordentlichen Hofgerichtsassessor.1690 In diesem Jahr begann auch mit dem anlässlich des Goslarer Separatfriedens komponierten allegorischen FriedensSieg1691 seine bislang eher wenig beachtete und nur lückenhaft überlieferte Schauspieldichtung, in welcher die verschiedensten Aspekte seiner poetischen, spekulativen, theologischen und didaktischen Schriftstellerei eine bemerkenswerte Synthese eingingen.1692 Sechs nachweislich
1685 Ebd., S. 24; Fonsén, S. 15. Ausführlich zur Fruchtbringenden Gesellschaft Fonsén, S. 22 ff.; Christoph Stoll: Sprachgesellschaften im Deutschland des 17. Jahrhunderts. Fruchtbringende Gesellschaft, Aufrichtige Gesellschaft von der Tannen, Deutschgesinnte Genossenschaft, Hirten- und Blumenorden an der Pegnitz, Elbschwanenorden. München 1973 (List-Taschenbücher der Wissenschaft 1463); mit Blick auf diverse Sozietäten unter besonderer Berücksichtigung der Fruchtbringen Gesellschaft vgl. Wilhelm Kühlmann: Sprachgesellschaften und nationale Utopien. In: Dieter Langewiesche und Georg Schmidt (Hrsg.): Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg. München 2000, S. 245–264. 1686 Kühlmann: Sprachgesellschaften, S. 250 ff.; Fonsén, S. 23. 1687 Fonsén, S. 25. 1688 Ebd., S. 26. 1689 Ebd., S. 25. 1690 Ebd., S. 15. 1691 Vgl. Johann Rist: Das Friedewünschende Teutschland (1647) und Andreas Gryphius: Horri bilicribrifax (um 1648). 1692 Berns: Justus Georg Schottelius, S. 425.
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von ihm verfasste Stücke – bei anderen ist die Urheberschaft umstritten – verfolgten sowohl höfisch-repräsentative als auch pädagogische Zwecke. Entsprechend der tatsächlichen sozialen Hierarchie übernahmen die am Hof und im näheren Umkreis lebenden Kinder von den Prinzen bis hin zu den Bauernsöhnen die nach Prestige und Bedeutung abgestuften Rollen. Somit handelte es sich auch um eine spielende Einübung der rangniederen Kinder in die künftige Unterordnung unter die Prinzen.1693 Indes begnügte man sich nicht mit einer kindlichen Laiendarbietung, sondern gewährleistete die Qualität der Aufführung durch die zusätzliche Einbindung professioneller Kräfte. Dies galt insbesondere für einen Bestandteil, der bei keinem Schauspiel fehlen durfte, nämlich die Musik. Mindestens ein Stück verdankt seine (heute nicht mehr erhaltene) musikalische Ausstattung keinem Geringeren als Heinrich Schütz.1694 Schon im FriedensSieg, dem ersten Stück, behandelt Schottelius eines seiner fortwährend begegnenden Lieblingsthemen, den Sprachpurismus. Der Autor lässt idealisierte historische Gestalten wie Arminius oder Henricus Auceps (Heinrich der Vogler) auftreten, welche dezidierte Positionen zum Gebrauch oder Missbrauch der deutschen Sprache beziehen.1695 In religiöser Hinsicht wurde Schottelius von seinem Herzog mit mystischschwärmerischem Gedankengut in Berührung gebracht. Die Mitglieder des Hofes pflegten innerhalb eines noch weitgehend unerforschten und wohl absichtlich verdunkelten Netzwerkes zum Teil politisch brisante Kontakte zu charismatischen Gestalten, welche sich den Argwohn der lutherischen Orthodoxie zugezogen hatten. So erwog man 1642 die Gründung einer (geheimen?) christosophischen Sozietät namens Unio Christiana.1696 1643 publizierte Schottelius die Fürst Ludwig von Anhalt-Köthen gewidmete lehrhaft-allegorische Schrift Der Teutschen Sprach Einleitung/ Zu richtiger gewis heit und grundmeßigem vermügen der Teutschen Haubtsprache.1697 Dort erteilt er der personifizierten deutschen Sprache das Wort, welche, mittlerweile zur Bettlerin und Hure degradiert, in heroischen Alexandrinern ihren elenden gegenwärtigen Zustand beklagt, aber dennoch der Resignation widersteht.1698 1644 gelang es Herzog August, seine seit vielen Jahren von dem katholischen Heer besetzte Residenzstadt Wolfenbüttel zurückzuerobern und wieder in Besitz zu nehmen. Dorthin überführte er auch seine berühmte Bibliothek. Schottelius sollte ebenfalls in der zum norddeutschen Musenhof aufsteigenden Stadt den 1693 Berns: Ein Teutscher Gelehrter, S. 14 ff. 1694 Ebd.; Berns: Justus Georg Schottelius, S. 426. 1695 Jones, S. 165. 1696 Ebd., S. 11 ff. 1697 Dazu Jones, S. 16 f. 1698 Ebd.; Berns: Justus Georg Schottelius, S. 420 f.
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Rest seines Lebens zubringen.1699 1645 wurde er zum Konsistorialrat ernannt.1700 1646 schloss er seine kriegsbedingt unterbrochene akademische Ausbildung ab und ließ sich an der Universität Helmstedt zum Doktor beider Rechte promovieren. Dabei dürfte ihm der Umstand zugute gekommen sein, dass er einige der dortigen Professoren bereits als Kollegen in wichtigen höfischen Verwaltungsämtern kannte.1701 Im selben Jahr trat Schottelius als zehntes Mitglied unter dem Namen Fontano auch dem Pegnesischen Blumenorden, einer prestigeträchtigen Dichtergesellschaft in Nürnberg, bei.1702 Diese 1644 von Georg Philipp Harsdörffer und Johann Klaj gegründete, rein bürgerliche Sozietät zählte höchstens knapp über hundert Mitglieder, war auch Frauen zugänglich und förderte vor allem die Produktion von Schäferdichtung.1703 Sie dürfte die literarisch bedeutendste jener Vereinigungen gewesen sein, musste aber, wie die meisten anderen auch, ohne die Patronage einer politisch wirkmächtigen Persönlichkeit auskommen.1704 Dort wie auch in der Fruchtbringenden Gesellschaft erlangte Schottelius maßgeblichen Einfluss, von welchem die Braunschweiger und Wolfenbütteler Hofkultur profitierte, wenn auch Spannungen und Konflikte zwischen beiden Gesellschaften nicht immer ausblieben.1705 1647 gelangte sein Fruchtbringender Lustgarte in die Öffentlichkeit, eine Sammlung von weltlichen und geistlichen Gedichten, welche den Mitgliedern der Fruchtbringenden Gesellschaft zugeeignet waren.1706 Schottelius’ bedeutendstes Werk hingegen erschien 1663 mit einer Widmung an Herzog August unter dem Titel Ausführliche Arbeit von der Teutschen HaubtSprache. In dieser fünf Bücher umfassenden, auch als „barocke Summa Philologica“ bezeichneten Schrift kumuliert er alle bereits zuvor einmal geäußerten Argumente zugunsten eines puristischen Sprachgebrauchs und der damit einhergehenden Wiederbelebung einer besseren deutschen Vergangenheit. Als ein bis heute weitgehend unbekanntes, aber dennoch eindrucksvolles Zeugnis der teils düsteren, mystisch gefärbten Frömmigkeit des Wolfenbütteler Hofes verdienen Schottelius’ in sieben Büchern publizierte theologisch-erbauliche Schriften Erwähnung, welche Anfang und Ende seines Schaffens markie-
1699 Berns: Ein Teutscher Gelehrter, S. 24; Fonsén, S. 14 f. 1700 Fonsén, S. 15. 1701 Berns: Ein Teutscher Gelehrter, S. 10. 1702 Ebd., S. 26; Fonsén, S. 15. Zum Pegnesischen Blumenorden Fonsén, S. 28 f. 1703 Ebd. 1704 Kühlmann: Sprachgesellschaften, S. 255 f. Eine Aufzählung derartiger Gesellschaften bietet Kühlmann ebd. 1705 Berns: Ein Teutscher Gelehrter, S. 10. 1706 Fonsén, S. 46 f.
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ren.1707 Eine ausgesprochen schwer verständliche, verdunkelnde Diktion mit zahlreichen Wortneubildungen – Jörg Jochen Berns spricht von „sprachlicher Gewalt, nein: Gewaltsamkeit“,1708 von „eine[r] nicht nur schreckensvolle[n], sondern gelegentlich auch schreckliche[n] Poesie“1709 – soll den Leser zu besonderer Andacht und Bußfertigkeit veranlassen.1710 In Schriften, welche von der Kreuzigung Jesu, von der menschlichen Seele nach dem Tod, vom Weltgericht und von den ewigen Höllenqualen handeln, gibt sich Schottelius einer befremdlichen Lust an expressiven Leidensschilderungen hin. Anders als Mystiker wie Spee, Böhme, Czepko oder Angelus Silesius (Johannes Scheffler) schreckt er auch nicht davor zurück, aus dem Gefühl eigener Heilsgewissheit heraus die von ihm prophezeite Höllenfahrt fremder Sünder mit Erleichterung und Genugtuung zu kommentieren.1711 Ein besonders ehrgeiziges Projekt, das ihn in Widerspruch zur Orthodoxie bringt, stellt seine Concordia seu Harmonia quatuor Evangelistarum dar, worin er den Wortlaut der Lutherbibel durch poetische Aufbereitung gefälliger zu gestalten versucht.1712 1669 erschien Schottelius’ neben der Haubtspra che bedeutendste, allerdings kaum rezipierte, fast unbeachtete Schrift Ethica. Die Sittenkunst oder Wollebenskunst, welche mit ihren drei Büchern zu Glück, Seele und Tugenden den ersten Versuch einer Moralphilosophie in deutscher Sprache darstellt.1713 Der Popularisierung der zeit seines Lebens erworbenen Einsichten dient die 1673 publizierte allegorische Grammatiksatire Horrendum Bellum Gram maticale Teutonum antiquissimorum. Dort treten verschiedene Wortarten, insbesondere Nomina und Verba, wie menschliche Akteure zum Krieg gegeneinander an. Möglicherweise ist die Schrift auch als Mahnung an die nach Herzog Augusts Tod gemeinsam regierenden, untereinander zerstrittenen Söhne verfasst.1714 Ebenso wenig wie bei seinen Zeitgenossen fehlt es auch bei Schottelius an Casualgedichten, welche einigen Aufschluss über die Größe seines Bekanntenkreises geben. Das meiste Interesse dürften diejenigen erregen, welche sich an
1707 Berns: Ein Teutscher Gelehrter, S. 17 ff.; Berns: Justus Georg Schottelius, S. 422 ff. 1708 Berns: Ein Teutscher Gelehrter., S. 17. 1709 Berns: Justus Georg Schottelius, S. 423. 1710 Ebd., S. 18. 1711 Berns: Justus Georg Schottelius, S. 423 f. 1712 Ebd., S. 425. 1713 Art. Schottelius (Killy / Kühlmann) S. 572.; Hundt, S. 129 f.; Guillaume van Gemert: Schottelius’Affektenlehre und deren Vorlage bei Coornhert. In: Jean-Daniel Krebs (Hrsg.): Die Affekte und ihre Repräsentation in der deutschen Literatur der Frühen Neuzeit. Bern u. a. 1996 (Jahrbuch für Internationale Germanistik 42), S. 73–92, hier S. 76. 1714 Berns: Justus Georg Schottelius, S. 418; Hundt, S. 128; Art. Schottelius (Killy / Kühlmann), S. 572.
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prominente Poeten wie Harsdörffer, Johann Rist und von Sigmund von Birken richten.1715 Nach langwierigen Krankheiten erlag Schottelius einem Schlaganfall und verstarb am 25. Oktober 1676 in Wolfenbüttel im Alter von 64 Jahren. Am 23. November wurde er in der welfischen Grabkirche Beatae Mariae Virginis in derselben Stadt beigesetzt.1716 Die eigentümlichen Züge seines Werkes ließen sich nicht ohne sein Wirken in der Wolfenbütteler Hofkultur erklären. Schon zu Lebzeiten feierte man ihn als „teutschen Varro“ und im 19. Jahrhundert als „Jacob Grimm“ des 17. Jahrhunderts. Heutzutage beansprucht unter Schottelius’ poetischen Erzeugnissen die 1640 publizierte LAMENTATIO GERMANIAE EXSPIRANTIS. Der numehr hinsterbenden Nymphen GERMANIAE elendeste Todesklage die größte Aufmerksamkeit in der Forschung, da sie auf eindrucksvolle Weise bestimmte weltanschauliche Positionen und moralische Reflexionen der deutschen Gelehrten in der Spätphase des Dreißigjährigen Krieges dokumentiert.1717 Angesichts der schon früh sich verselbständigenden und spätestens nach dem Prager Frieden von 1635 zunehmend undurchschaubar gewordenen Kriegsführung zeichnete sich im ganzen Reich eine stetig anwachsende Friedenssehnsucht ab. Es entstand eine wahre Flut pazifistisch ausgerichteter Schriften jeglicher Gattung, welche mit mehr oder minder deutlichem Rekurs auf Erasmus’ 1517 verfasste und 1521 erstmals auch in deutscher Übersetzung publizierte Querela Pacis1718 die Gräuel des Krieges schilderten und zur Beendigung desselben mahnten.1719 Zur Diskussion standen fortan weniger die konfessionellen Konflikte und Parteien innerhalb des Reiches 1715 Berns: Justus Georg Schottelius, S. 420. 1716 Fonsén, S. 16. 1717 Dazu vgl. ausführlich Nicola Kaminski: Ex bello ars oder Ursprung der „Deutschen Poeterey“. Heidelberg 2004 (Beiträge zur Neueren Literaturgeschichte 205), S. 294 ff.; A. Schmidt: Vaterlandsliebe und Religionskonflikt, S. 366 ff. Eine die damaligen affektphysiologischen Lehren miteinbeziehende Darstellung bietet Stockhorsts Abhandlung im Ganzen. 1718 Zum erasmianischen Pazifismus vgl. Friedhelm Krüger: Politischer Realismus und Friedensvision im Werk des Erasmus von Rotterdam. In: Klaus Garber u. a. (Hrsg.): Der Frieden. Rekonstruktion einer europäischen Vision. Bd. 1: Erfahrung und Deutung von Krieg und Frieden. Religion – Geschlechter – Natur und Kultur. München 2001, S. 145–156; Klaus Garber: Der Frieden im Diskurs der europäischen Humanisten. In: Klaus Garber u. a. (Hrsg.): Der Frieden. Rekonstruktion einer europäischen Vision. Bd. 1: Erfahrung und Deutung von Krieg und Frieden. Religion Geschlechter – Natur und Kultur. München 2001, S. 113–143, zu Erasmus S. 113–121. 1719 Stockhorst, S. 2 erwähnt „mehrere personifizierte Friedensklagen“. Erasmus’ Querela Pacis war zunächst keine uneingeschränkte Erfolgsgeschichte beschieden; sie wirkte in kuriennahen Kreisen, zumindest in den volkssprachlichen Übersetzungen, sogar äußerst provokant. So wurde die spanische Fassung auf den Index gesetzt und die französische Erstausgabe öffentlich verbrannt. Zur diskursgeschichtlichen Wirkung vgl. ebd., S. 3 ff.
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als vielmehr die Konfrontation mit auswärtigen Mächten, insbesondere die als Bedrohung empfundene Beeinflussung der deutschen Sprache und Kultur durch den großen Rivalen Frankreich. Zunehmendes Unbehagen deutscher Patrioten an der Neigung ihrer Zeitgenossen, einen luxuriösen französischen Lebensstil zu kopieren und ihre Sprache mit zahlreichen Gallizismen zu durchsetzen, manifestierte sich in oftmals satirisch-beißender Alamode-Kritik.1720 Hierzu konnten die unter der Gegenwart leidenden Gelehrten des 17. Jahrhunderts bewährte humanistische Konzepte von nationaler Ehre, d. h. Einfachheit, Reinheit, Treue, Genügsamkeit und Mannhaftigkeit,1721 aufgreifen und, wenn auch in einer aus Resignation resultierenden Ironisierung, den Erfordernissen der eigenen Zeit anpassen.1722 Schottelius’ schon durch ihren bloßen Umfang schier überwältigende Schrift mit dem bemerkenswert chiastisch verschränkten lateinisch-deutschen Doppeltitel LAMENTATIO GERMANIAE EXSPIRANTIS. Der numehr hinsterbenden Nymphen GERMANIAE elendeste Todesklage erschien 1640 in Braunschweig,1723 nicht lange nach dem Tod des als „Vater der deutschen Dichtkunst“ verehrten Martin Opitz im August 1639.1724 Sie nimmt unverkennbar Bezug auf zeitgenössische Texte wie z. B. das berühmte, seit 1621 handschriftlich zirkulierende, seit 1633 gedruckte Trostgedichte in Widerwertigkeit des Krieges von Martin Opitz sowie auf die daran anknüpfende Trawrklage des verwüsteten Deutschlandes (besser bekannt unter dem späteren Titel Thränen des Vaterlandes) aus der 1637 publizierten Sammlung der Lissaer Sonnete von Andreas Gryphius. Schottelius’ Lamentatio ist eine Widmungsvorrede an Herzog August von Braunschweig-Lüneburg vorangestellt. Diese enthält ein argumentum des Textes und eine Würdigung von Augusts Verdiensten um die Förderung der deutschen Sprache. […] Und darumb hat E. F. G. Weltkündige und höchstersprießliche Befoderunge und Liebe zu unserer aller=herrlichsten Teutschen Sprache/ und derselben vollkommene Kündigkeit mir eine zuverleßliche Hoffnunge gemacht/ es werde dasselbe/ was zu besserer Ausübunge 1720 Dazu Jacob Falke: Monsieur Alamode. Der Stutzer des dreißigjährigen Krieges. In: Zeitschrift für deutsche Kulturgeschichte. Bilder und Züge aus dem Leben des deutschen Volkes 1 (1856), S. 157–188; A. Schmidt: Vaterlandsliebe und Religionskonflikt, S. 363 ff.; Jörn Münker: Eingreifen und Begreifen. Handhabungen und Visualisierungen in Flugblättern der Frühen Neuzeit. Berlin 2008. Zur damaligen Vorstellung vom Zusammenhang von Sprache, Ethik, Nation und Patriotismus sowie zu der dafür vielgebrauchten Leib- und Krankheitsmetaphorik vgl. van Ingen passim. 1721 Hirschi: Wettkampf der Nationen, S. 280 ff. 1722 Kühlmann: Sprachgesellschaften, S. 260 f. 1723 LAMENTATIO GERMANIAE EXSPIRANTIS. Der numehr hinsterbenden Nymphen GERMANI AE elendeste Todesklage. Braunschweig 1640. 1724 Kaminski, S. 294.
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und Anleitunge unserer süssesten Poesi allhie fürgebracht/ deroselben gnädigen Augen gewürdigt sein. Und eben wie von E. F. G. als von dem Lobwürdigsten Außbreiter und mechtigsten Beforderer die Muttersprache selbst jhre vollkommende Zier und reineste Bestendigkeit erwartet/ also wird und sol deroselben unsterblicher Ruhm/ […] in die greise Ewigkeit eingeschrieben sein […].1725
Nicola Kaminski diskutiert den über die bloße Bezeichnung Trawrklage bei Gryphius hinausgehenden Titel der Lamentatio, welcher mit Todesklage endet, in mehrfacher Hinsicht. Dieser erscheint zunächst in auffallender Analogie zur Widmungsvorrede des sechsten Bandes eines im 17. Jahrhundert populären Geschichtswerkes, nämlich des Theatrum Europaeum, wo von vier Stadien eines sterbenden personifizierten Deutschlands die Rede ist.1726 Die Germania florens et vivida der Vorkriegsjahre 1617–1618 erleidet demnach einen stufenweisen Abstieg bis zur Germania agonizans et moribunda des letzten Kriegsjahrzehnts.1727 Deutschland scheint von einem ähnlichen Schicksal geschlagen wie die Heldin eines zu jener Epoche so beliebten Trauerspiels, wenn auch der unerlässliche fünfte Akt, der in diesem Fall nur eine Wiedergeburt der verstorbenen Germania zum Gegenstand haben könnte, zu fehlen scheint. Für problematisch erachtet Kaminski, dass die Heldin als Sterbende eine Todesklage auf sich selbst ankündigt, welche ja im Grunde genommen erst nach ihrem Ableben, also nicht durch ihren eigenen Mund Ausdruck finden kann.1728 Ein ähnliches Paradox findet sich schon in der Widmungsvorrede, wo Schottelius ankündigt, seine Heldin werde fast Sprachlos und ersticket äußern, wozu keine gnugsame Worte/ noch arten zu reden verhanden seien. Der eigentliche, nach der Widmungsvorrede einsetzende Text ist überschrieben mit Der höchstbetrübten GERMANIAE JammerKlage. Dies überrascht nach dem ungleich drastischeren Titel auf dem Frontispiz. Die in schärfsten Tönen mit ihrem Zeitalter abrechnende Schrift weicht formal in einigen Punkten nicht unwesentlich von der noch stark ovidisch geprägten humanistischen Germania-Heroide ab. Statt elegischer Distichen in (primär) von der augusteischen Poesie geprägtem Latein enthält sie 872 heroische (paargereimte) deutsche Alexandriner in vierzeiligen Strophen. Es dominieren die rhetorischen Figuren der Barockdichtung. Zudem entfällt die nahezu unerlässliche explizite Brieffiktion, auch erscheint zu Beginn kein namentlich genannter oder anderweitig näher bestimmter Adressat, welcher sich der notleidenden Frau bzw.
1725 Fol. A 3 r. 1726 Kaminski.; S. 294 f. 1727 Ebd., S. 295. 1728 Ebd., S. 295 f.
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Mutter erbarmen soll.1729 Äußerst heterogene Passagen, welche auf den ersten Blick nur bedingt kompatibel erscheinen, verleihen dem Text eine schwer überschaubare Fülle: Zu höchstem Pathos gesteigerte Klagen über Krieg und Verfall, Zivilisationskritik, Sprachpatriotismus, Alamode-Kritik und längere psalmartige Anrufungen Gottes reihen sich aneinander. Heinrich Dörrie kann der Lamenta tio wenig abgewinnen. Er charakterisiert sie gemeinsam mit Paul Flemings als „Suasorie ohne Programm“ verworfenem Schreiben vertriebener Frau Germanien als wort- und bilderreiches, aber politisch vollkommen bedeutungsloses Produkt der Klagepoesie.1730 Stefanie Stockhorst präsentiert die Lamentatio als Beispiel für eine damals geläufige Tendenz, dem Schrecken der Zeitläufte mithilfe des als tröstlich empfohlenen Neostoizismus zu begegnen. Dieser Versuch einer Adaptation der stoischen Philosophie, welcher bekanntlich auf das Ideal einer christlich geprägten con stantia abzielte, werde in dem vorliegenden Text mit zwei anderen in der Frühen Neuzeit beliebten Argumenten kombiniert: mit der Irenik und der Affektphysiologie des Herzens.1731 Bei aller grundsätzlichen Verwerfung des Kriegswesens unterscheide sich die Lamentatio in einem Punkt ganz wesentlich von Erasmus’ Anliegen, nämlich durch ihre Forcierung nationalpatriotischer Überlegenheitsansprüche gerade auch gegenüber den europäischen Nachbarn. Im Gegensatz zur kosmopolitisch konzipierten Friedensallegorie des niederländischen Humanisten differenziere Schottelius’ per definitionem parteiisch gebundene Germania in scharfer Weise zwischen teutsch und unteutsch.1732 Anderen Interpreten erscheint Schottelius in erster Linie als Galionsfigur für Sprachpatriotismus und Alamode-Kritik.1733 Gleich in den ersten 12 Versen, welche inhaltlich auf den Eingang der Trawr klage von Gryphius1734 Bezug nehmen,1735 manifestiert sich ein Charakteristikum der Barockdichtung, die Repetition und insistierende Nennung.1736 Die Identität der Briefschreiberin – hier wohl eher der sprechenden Instanz – wird in Form einer (rhetorischen) Frage thematisiert (Ach weh! Ach mehr als weh! Wer 1729 Vgl. dazu die gängigen, auf dem beliebten Wortspiel mit salus beruhenden Eingangsfloskeln. 1730 Dörrie: Der heroische Brief, S. 470. 1731 Stockhorst, S. 2. 1732 Ebd., S. 6. 1733 Anhand der Lamentatio Germaniae A. Schmidt: Vaterlandsliebe und Religionskonflikt, S. 366 ff.; mit Bezug auf dessen theoretische Schriften van Ingen, S. 943 ff. 1734 Andreas Gryphius: Trawrklage des verwüsteten Deutschlandes: Wir sind doch numehr gantz/ ja mehr alß gantz vertorben. 1735 Kaminski, S. 297. 1736 Vgl. Szyrocki, S. 56 f.; Conrady, S. 129 ff., bes. S. 153 ff.
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ist doch/ der mich kennen/ und recht durchschawen kann?) und zum Gegenstand charakterisierender Anspielungen gemacht. Mehrfache Anaphern und anaphorisch gereihte Relativsätze1737 Ich bins, ich, die ich […], ich/ die man […] zögern die Beantwortung der Frage hinaus und verweisen auf die glanzvolle Vergangenheit der leidenden allegorischen Figur als Kontrastfolie zum Hier und Jetzt.1738 Dieses in einem gehetzten Wortschwall sich selbst zerredende Sprechersubjekt1739 offenbart schließlich: Ich bin es/ Ich ach ja// Todtängstlich/ mehr als Todt/ Ich die Ger mania. In dem „verbalen Spießrutenlauf“ des atemlos repetierten Pronomens Jch „von einer unbetonten Versposition zur nächsten“1740 findet die ausweglose Lage des bedrängten Deutschlands ihren adäquaten formalen Ausdruck. In der nächsten Passage beklagt Germania in bekannter Manier als einstige Königin den sozialen Abstieg und den Verfall ihrer äußeren Erscheinung.1741 Formulierungen wie Mein gantzes Angesicht ist voller Rauch und Aschen revozieren möglicherweise ein Modell aus der Bildpublizistik, an welchem sich auch Paul Fleming offensichtlich schon orientierte bei der Abfassung des Schreibens Ver triebener Frau Germanien. Dabei handelt es sich um das von Elias Rudelius und Andreas Bretschneider verfertigte Flugblatt EUROPA QUERULA ET VULNERATA, welches im Umkreis des Leipziger Konventes von 1631 kursierte. Dort richtet eingangs ein anonymer Sprecher an eine personifizierte Europa die bestürzte Frage: Wie ist dein Angesicht / und Cörper so zerschlagen/ Du Königstochter/ die vorhin ohn alle Plagen/ Die vor der Fürsten Lust/ die jederman geliebt; So nun verwundet und mit schaden sehr betrübt?
Diese Entsetzen bekundende Rede vom entstellten (königlichen) Angesicht, welches sowohl die betreffende Königin Europa als auch Schottelius’ Germania beinahe unkenntlich macht, ist von einem sakralen Pathos geprägt, welches in Paul Gerhardts berühmtem Kirchenlied O Haupt voll Blut und Wunden die größte Wirkung entfalten wird. Das Leid der beiden allegorischen Gestalten lässt sich in ähnlicher Weise veranschaulichen wie die Passion Christi. Wenn Germania allerdings erläutert, sie habe ihr Gesicht mit Menschenblut gewaschen und Menschen fleisch zermalmt,1742 bedient sie sich derselben Komposita, mit welchen sie an späterer Stelle1743 die Nahrungsmittel des Mars bezeichnet. Es scheint, als wäre 1737 Vgl. Conrady, S. 154 ff. 1738 Fol. A 3 v. 1739 Kaminski, S. 297. 1740 Ebd., S. 298. 1741 Fol. A 3 v–A 4 r. 1742 Fol. A 3 v. 1743 Fol. B 2 v.
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Germania hier durch die widernatürliche Sünde der Anthropophagie gegen ihren Willen mit dem verabscheuten Kriegsgott im Bunde. In pervertierter petrarkistischer Manier schildert sie ihr Äußeres. Ihre Wangen sind mit Eiter beklebt, ihre Augen verweint und ihr Goldhaar verbrannt. Ihr von Striemen und Beulen entstellter Leib gemahnt wieder an Bilder, wie sie in Bezug auf die Passion Christi geläufig sind. Germania klagt: Mein Königlicher Schmuck/ mein Purpur/ Gold und Seiden Ist nun mehr weg/ darin sich meine Feinde kleyden: Ich eine Königin/ bin nun ein Bettelweib/ Kann kaum umbhüllen mit dem Sacke meinen Leib.1744
Sprachlich nehmen diese Verse Bezug auf die im Alten Testament gebrauchte Bildlichkeit, wo Jerusalem oder Zion immer wieder als gestürzte und gedemütigte Königin für ihre Sünden büßt, inhaltlich auf das in der Schlacht am Weißen Berg von 1620 unterlegene böhmische Königspaar, welches die Flucht antreten musste und Gegenstand von Spott und Häme in zahlreichen Liedern und Flugblättern wurde.1745 Elisabeth Stuart, die Frau des zum böhmischen König („Winterkönig“) auserkorenen Pfalzgrafen Friedrich V., stammte zudem als Tochter von Jakob I. von England tatsächlich aus königlichem Geschlechte. Ähnliche Klagen über den Sturz vom Thron in größte Armut hatte auch Paul Fleming seine vertriebne Frau Germanien formulieren lassen.1746 Die visuelle Inszenierung der leidenden Frauengestalt, deren Leib entblößt, durch Krankheiten, Fäulnis, Blut entstellt ist, wird im Text noch weitere Male aufgegriffen.1747 Eine prominente Bedeutung erhält auch das Todes- und Angstmotiv: Das mattes Hertze will für meiner Seelen heulen Sich dringen außer mir: Ich fühl’ ein Todtesgifft/ Das kräfftigleich in mir noch alle Adren trifft. […] O Grawsamkeit! Weil ich hie wollte gern erzehlen/ Mein Höllengleiche Angst/mein Achtzen und mein quelen/
1744 Fol. A 4 r. 1745 Kaminski., S. 308 f. Zahlreiche Belege für damals kursierende Spottlieder, S. 308, Anm. 165. 1746 Vgl. z. B. Paul Fleming: Schreiben vertriebener Frau Germanien, V. 17–40: Hier muß ich arme Frau, von meinen schönen Sitzen,/ von meinem großen Reich und Völkern ausgejagt,/ zu äußerst meines Lands bei kaltem Winde schwitzen. […]/ Ich muß alleine sein,/ von Zofen unbedient. Ich kan mich nährlich decken/ mit dem geflickten Rock’. Hin ist mein erster Schein. […]/ Ach! ach! ich Schöneste der allerschönsten Frauen,/ wie bin ich so verjagt, so ungestalt, so bloß!/ ich, königliches Kind, wie bin ich so gefallen! 1747 Vgl. fol. C 2 v, D 4 r.
3.2.2 Justus Georg Schottelius (1612–1676): Lamentatio Germaniae Exspirantis
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Nun bleibet meine Seel/in mir verstaunet stehn/ Und will nicht/und will doch/mit Schlucken von mir gehn.1748
Germania thematisiert das Herz als Zentrum der menschlichen Empfindung und moralischen Beeinflussbarkeit: Doch will ich gleichwol noch ein Bündlein meiner Schmerzen Mit Thränen fassen ein/ und schüttens von dem Hertzen/ (Dem Hertzen das hinstirbt mit tausendfachem Todt’ Und unendpfindlich ist der allergrösten Noth) […] Ein Deamanten Hertz/ ein Hertz von Stall und Steinen/ Ein Hertz/ das keine Angst/ noch Elend will beweynen/ Sol werden weich und matt in meiner Thränenfluth/ Sol werden kranck und schwach durch meiner Seufftzer gluth.1749
Die kumulative Verwendung des Wortes Herz, inklusive aller Komposita wie Herzloß, trewherztig, Christenhertz oder Hertzeleyd, beobachtet Stockhorst.1750 Sie erkennt einen Zusammenhang zwischen Germanias wiederholter Beschwörung des Wohnsitzes der Affekte und Schottelius’ medizinisch-physiologischem Interesse am Körperorgan Herz, wie es in seiner Ethica zum Ausdruck kommt. In seinem Bestreben, das neostoische Ideal der Affektkontrolle zu propagieren, befasst sich der Autor dort auch mit den körperlichen Ursachen der Affekte.1751 Schottelius ist mit der aristotelischen Vier-Säfte- und Temperamentslehre sowie mit der zeitgenössischen Rezeption derselben vertraut, beruft sich letztlich jedoch auf die Autorität der Heiligen Schrift, welche das Herz gleichfalls als Sitz der Empfindungen kennt.1752 Auch in der Barockdichtung spielt gerade das diamantene Herz eine nicht zu unterschätzende Rolle.1753 Der Vergleich dieses Körperorgans mit Diamant oder Stahl (adamas) geht schon auf das Alte Testament, nämlich auf Zacharia 7,12 zurück, wo er die Unempfänglichkeit der Menschen für Gottes Gebot veranschaulicht.1754 Mit Bezug auf die Liebe zwischen Mann und Frau begegnen ähnliche Formulierungen in der griechischen und römischen Literatur.1755 Diese wurden insbesondere von Petrarca aufgegriffen und bekannt 1748 Fol. A 3 v–A 4 r. 1749 Fol. A 4 r. 1750 Stockhorst, S. 12 ff. 1751 Ebd., S. 15 ff. 1752 Ebd., S. 14; van Gemert, S. 80. 1753 Erich Trunz: Das Herz aus Diamant. In: Hartmut Laufhütte (Hrsg.): Literaturgeschichte als Profession. Festschrift für Dietrich Jöns. Tübingen 1993, S. 119–126. 1754 Ebd., S. 120. 1755 Ebd.
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gemacht.1756 In zahlreichen Beispielen aus der Liebesdichtung von Hoffmannswaldau, Opitz, Weckherlin, Dach, Fleming und Gryphius bezeichnet das diamantene Herz die Unerbittlichkeit der Geliebten.1757 Der Topos der Grausamkeit und Hartherzigkeit gegenüber der (verlassenen) Geliebten kursiert durchweg in der antiken Liebesdichtung, insbesondere aber in der ovidischen bzw. ovidisch geprägten Heroide. Schottelius konnte diesen hier in die ursprünglich biblische, typisch barocke Formulierung vom Herzen aus Diamant1758 überführen. Stockhorst sieht das Wort Herz jeweils an Schlüsselstellen des Textes gebraucht und erkennt darin ein dreiteiliges rhetorisches Überzeugungsprinzip, dessen Schottelius sich bedient. Germania argumentiert mit ihrer wiederholten Rede vom Herzen innerhalb der Kategorien pathos, ethos und logos.1759 Das erste, bereits zitierte Beispiel vom Deamanten Hertz1760 soll den Adressaten emotional beeinflussen. Das zweite – Wer nach dem Himmel strebt/ und will ein Christe heissen/ Der muß die Kriegessucht jhm aus dem Hertzen reissen1761 – gemahnt an die ethischen Grundwerte, deren Missachtung schreckliche Konsequenzen mit sich bringt.1762 Das dritte – Man mag zweyertzig seyn/ man mag politisiren/ Und mit unteutschem Witz die teutsche Trew auszieren – appelliert an die Ratio der Verantwortlichen.1763 Germania eröffnet eine kosmisch-apokalyptische Perspektive.1764 Die erste Anrede im gesamten Text erfolgt, untypisch für einen Heroidenbrief, an ein anonymes Kollektiv, nämlich an den liebe[n] Leser, welcher die Elemente befragen soll. Himmel, Wasser, Luft und Erde – man hätte innerhalb dieser Reihe noch das Feuer erwartet – sollen die Verschwörung eines Unglücks =Höllenheers gegen Germania bezeugen. Der Himmel erscheint zum einen als aggressive Macht, welcher sowohl Feuer und Flammen als auch das entgegengesetzte Element, Regen und Hagel, vermischt mit Blut und Gift ausschüttet. Die beiden prominenten Himmelskörper, Sonne und Mond, bekunden in guter biblisch-epischer Tradition ihr Entsetzen, indem sie ihr Antlitz verhüllen und bestenfalls noch blutig getrübtes Licht spenden. Zwischen Himmel und Erde tobt das luftige Element in Gestalt ent-
1756 Ebd., S. 121. 1757 Ebd. passim. 1758 Vgl. Sach 7, 12; Jer 17, 1. 1759 Stockhorst, S. 17. 1760 Fol. A 4 r. 1761 Fol. B 2 v. 1762 Stockhorst, S. 17. 1763 Ebd. Zur Verankerung von Schottelius’ Affektenlehre in der aristotelisch-scholastischenTradition vgl. auch van Gemert, S. 73 ff. 1764 Fol. A 4 r–v.
3.2.2 Justus Georg Schottelius (1612–1676): Lamentatio Germaniae Exspirantis
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fesselter Winde und Stürme. Bäume und Wassergraben versprühen Bluttropfen, das Erdreich selbst reagiert, indem es schreckliche Missgeburten hervorbringt.1765 Es folgt ein Verweis auf die literarischen Autoritäten der griechischen und römischen Antike, namentlich auf den römischen Historiker Livius, (den weisen Pataviner): Solche Sünden, wie sie das Deutschland der Gegenwart beherrschen, finden sich weder zu irgendeiner anderen Zeit noch an einem anderen Ort. Krieg als göttliche Strafe für Sünden und Glaubensabfall – dieses Argument dominiert die öffentliche Meinung insbesondere seit dem Reformationszeitalter. Zum ersten Mal erläutert Germania den konkreten Anlass ihres Leidens: Nun/ zwanzig Jahre seins/ daß man mich hat genetzet Mit meiner Kinderblut/ und meiner Seel versetzet So manchen Todtes =Stich: und brennet noch die Gluth Dazu doch meine Hand das Fewr und Schwefel thut.1766
Die Heldin nimmt an dieser Stelle eine dezidiert protestantische Position ein, insofern als sie den Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges nicht auf den als „Prager Fenstersturz“ bekannt gewordenen böhmischen Aufstand von 1618,1767 sondern auf die für Böhmen verhängnisvolle Schlacht am Weißen Berg von 1620 datiert.1768 Die vergangenen 20 Jahre erscheinen als eine Zeit rein destruktiver Taten, als eine einzige Verwüstung des eigenen Bodens. Germania – welche sich in diesem Text bemerkenswerter Weise als Nymphe, also Jungfrau (?) präsentiert – beklagt die Befleckung ihrer selbst mit dem Blut ihrer Kinder, also auch ihre verhängnisvolle Doppelrolle als Täterin und Opfer zugleich. Insofern folgt sie der Tradition ihrer literarischen Vorgängerinnen. Am nächsten liegt hier der Vergleich zu Paul Flemings Schreiben vertriebener Frau Germanien. Dort klagt die Heldin: Und wollte, wollte Gott, es wäre nur der Feind, den ich noch nie gescheut! So muß allein’ ich klagen, daß ich an diese soll, die meine Kinder seind.1769
Schottelius’ Germania selbst beschuldigt sich der tatkräftigen Mitwirkung an ihrem eigenen Untergang, ein Gedanke, der in zahlreich variierten Formulierungen wiederkehrt.1770 Auf diese Weise wird jegliche Inkriminierung einer konfessionell-politischen Partei vermieden, das feindliche Aufeinanderprallen deutscher 1765 Fol. A 4 v. 1766 Ebd. 1767 Vgl. allerdings dagegen fol. B 1 r, wo sie gerade doch Böhmen beschuldigt. 1768 Kaminski, S. 307. 1769 Paul Fleming: Schreiben vertriebener Frau Germanien, V. 142–144. 1770 Fol. B 1 v.
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Kräfte erscheint als unüberschaubares Chaos. Den Widersinn, welchen ein Krieg um angeblicher Einigkeit willen mit sich bringt, charakterisiert Germania in Form von Paradoxa: Schaw wie umb Einigkeit Ich so uneinig sey/ Wie mich der fester band/ zerbunden gantz entzwey.1771
Auf den rhetorischen Effekt des Paradoxons wird sie im Verlauf der Lamentatio noch einige Male zurückgreifen. Dieses durchzieht wie ein roter Faden den gesamten Text.1772 Germania verwirft gleich zwei konfessionspolitische Bündnisse: Sol ich der Einigkeit etwa ein Urtheil geben/ Sol ich die Heiligkeit des Bundes auch erheben/ Itzt will ich beydes nicht: Ihr beyde/ sag ich wahr/ Seyd worden erst in mir/ ein grosses Unglückspaar.1773
Die Einigkeit bezieht sich auf den Namen der 1608 gegründeten protestantischen Union, welche 1620 in ihrem Neutralitätsstreben eine Intervention zugunsten Böhmens abgelehnt hatte,1774 die Heiligkeit auf die katholische Liga, deren Heer der weithin gefürchtete Feldherr Johann t’ Serclaes Graf von Tilly kommandiert hatte. Beide Bündnisse waren schon lange vor 1640 aufgelöst worden, hatten aber weitreichende Folgen in Bezug auf die Verschärfung konfessioneller Konflikte. Germania, gleichermaßen Distanz wahrend zu katholischen und protestantischen Militärbündnissen, benennt die Ursache des Krieges durch Schuldzuweisung an eine andere allegorische Gestalt. Zechillis, Nachbarin/ du hast nicht wol gebuhlet Nach frömbder Herren Gunst/ du hast zu erst gefühlet/ Hernach geworffen aus/ des Kriegesgottes macht/ Der nunmehr mich mit dir in Staub und Aschen bracht. […] Weil ober dein Gebürg/ da hastu hergetrecket Was Zunderähnlich war: es schlug das Höllenfewr Mit dicken Flammen nach/ noch brennend ungehewr.1775
Das als Zechillis oder Czechillis bezeichnete Böhmen wurde als Hauptaggressor für den Ausbruch des Krieges von 1618 verantwortlich gemacht und insofern im
1771 Fol. B 1 r. 1772 Eine systematische Zusammenstellung aller in diesem Text refrainartig wiederkehrenden Paradoxa bietet Kaminski, S. 300. 1773 Fol. B 1 r. 1774 Kaminski, S. 309. 1775 Fol. B 1 r.
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metaphorischen Sinne auch der Brandstiftung bezichtigt.1776 War diese Metaphorik auch damals weithin geläufig,1777 so legen doch einige Signalwörter auch hier einen Bezug zu Flemings Schreiben nahe. Dort heißt es (209–212): Ja, Böhmen, Böhmen selbst, die hat die ersten Funken Auf mich, die Nachbarin, unschwesterlich gespeit. Von so viel Jahren her bin ich in Brand gesunken, und niemand löscht ihn mir. Ich brenne noch zur Zeit.1778
Schottelius bedient sich des schon fast 10 Jahre zuvor von Fleming gebrauchten Bildes einer heimtückisch Brandsätze auf die Heldin werfenden Nachbarin, auch wenn er auf die Erweiterung der Familienmetapher1779 verzichtet. Das von Böhmen ausgelöste Unheil manifestiert sich bei Schottelius ebenso wie bei Fleming in einem ungeheuren Brand, anders als bei Fleming aber auch in Unglücks =reichen Fluten, also in dem Wüten des entgegengesetzten Elementes.1780 Von dort erfolgt ein fließender Übergang von den Bildern der Naturkatastrophe zur Charakterisierung menschlicher und moralischer Übel (102–104 Widerspenstigkeit, Tyranney, Lasterfrey). Germania ergeht sich in einer bitteren Kultur- und Zivilisationskritik, welche ihre Wurzeln bereits in der Antike hat.1781 Ehrgeiz und Streben nach Reichtum verleiten die Menschen zu Neid, Heimtücke und Gewalt. Gold und Silber, in großen Mengen aus Südamerika importiert, korrumpieren sogar ihre eigene Moral. Dieser Passage respondieren einige spätere Verse, welche in aller Schärfe die Entdeckung der Bodenschätze als Beginn jeglichen Unheils brandmarken: Mein Aderreichs Gebürg ach were es geblieben/ Wie vormals/ unbekant/ man würde nicht so lieben
1776 Kaminski, S. 309, auch Anm. 167. 1777 Kaminski verweist hier auf Georg Greflingers wenige Jahre nach Kriegsende publizierte Verschronik. Dort wird der Prager Fenstersturz kommentiert: […] da flog sogleich mit ihnen [den kaiserlichen Abgeordneten]/ Diß Feuer in die Welt. Ach! Daß uns dessen Macht| Nicht grössern Schaden hett’in unser Reich gebracht| Als ihnen dieser Sturz. Sie blieben bei dem Leben| uns Deutschen aber hat ihr Fall den Tod gegeben| Wier zappeln nur noch was. Georg Greflinger: Der Deutschen Dreyßig-Jähriger Krieg. Kommentiert und mit einem Nachwort von Peter Michael Ehrle. München 1983 (Nachdruck von 1657), S. 12. Vgl. auch das Ende des ersten Teils dieser Darstellung: Aus diesem Siege gieng das Feuer vollends auf| Und nahm von Böhaimb ab nach Deutschland seinen Lauff. Ebd., S. 18. 1778 Paul Fleming: Schreiben vertriebener Frau Germanien, V. 9–12. Alle Hervorhebungen T. B. 1779 Vgl. ebd., 210 die Formulierung ex negativo unschwesterlich. 1780 Zur apokalyptischen Funktion beider Elemente vgl. auch 50–51. Vgl. auch Greflinger, S. 13: Es war als wie ein Meer/ je stärcker daß es wäht| Je größer solches sich mit seinen Wellen bläht. 1781 Bes. fol. B 1 r–v.
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Den Gold =und Silberdurst: Geld lieben/ ey das kann Uns ziehn die Tugend aus/ die Lastre wieder an.1782
Hier befindet sich Schottelius’ Germania in scharfem Kontrast zur laus ruris bzw. fertilitas ruris-Topik, von welcher einige ihrer literarischen Vorgängerinnen im 16. Jahrhundert Gebrauch machen. So erscheint in Paulus Rubigallus’ Querela Pannoniae der Reichtum an Bodenschätzen unter dem rhetorischen Gesichtspunkt der Nützlichkeit (utile) als Argument für die Verteidigung des von der Natur gesegneten Ungarns gegen die türkischen Aggressoren. Ebenso kann Schottelius hier aber auch Bezug nehmen auf das 1623 publizierte deutschsprachige, mehr als 500 Alexandriner umfassende Poem Zlatna, Oder von ruhe des gemüttes von Martin Opitz.1783 Dort ergeht sich Opitz in Erinnerungen an seinen Aufenthalt in Siebenbürgen und an das berühmte Bergwerk Zlatna, dessen Anblick ihm oftmals Erholung von den Mühen und Verdrießlichkeiten des Alltags gewährte. Das Lob auf Land und Leute im Zeichen moralischer Integrität verbindet sich mit einer großen Wertschätzung der edlen Metalle, welche als Geschenk einer wohlmeinenden Natur erscheinen: Doch lachet sonderlich vor andern Oertern allen Mich ewer Zlatna an/ vnd pflegt mir zu gefallen/ […] Dann Zlato das heist Goldt auff Windisch/ da die Stadt Zwar kleine/ doch nicht arm/ darvon den Vrsprung hat.1784
Der Tenor bleibt unverändert optimistisch: Wer weiß so wol als jhr die heimligkeit der Erden/ Vnd alle Tugenden die in jhr funden werden? Deß Ertzes Vnterscheid an Farben vnd gestalt/ Die doch so mancherley/ erkennet jhr alsbald. Die Künstliche Natur hat selber euch erzeiget/ Hat selber euch ernehrt/ an jhrer Brust gesäuget/ Vnd bald von Wiegen an gelehrt die wissenschafft Durch die jhr nun erforscht der tieffen Gründe krafft/ Vnd zieht die Seel’ heraus. […]1785
1782 Fol. B 4 v. 1783 In: Martin Opitz: Gesammelte Werke. Hrsg. von George Schulz-Behrend. Bd. 2/1: Die Werke von 1621 bis 1626. Stuttgart 1978 (Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart 300), S. 60–106. Opitz im Folgenden zitiert nach der Verszählung dieser Ausgabe. 1784 Martin Opitz: Zlatna, V. 9–16. 1785 Ebd., S. 257–265.
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Der Ehr =und Silbergeitz (119), so behauptet hingegen Schottelius’ Germania, stellt ein von auswärtigen Mächten eingeschlepptes Laster dar, welches die Deutschen entkräften und in deren Gewalt bringen soll. Die korrumpierenden Gold- und Silbergaben kontrastieren mit den angeborenen Tugenden als natürlicher Ausstattung der Deutschen. Schottelius lässt seine Heroine auch hier die bereits Ende des 15. Jahrhunderts entwickelten und besonders im 16. Jahrhundert gepflegten Eigen- und Fremdstereotype bekräftigen. Den Zusammenhang von Krieg und materiellem Reichtum hat bereits Opitz thematisiert in seinem 1628 publizierten ironischen Enkomion Laudes Martis. Lob des KriegesGotte oder Lob des Kriegs gottes.1786 Dort wird der Krieg als segenspendende Macht verherrlicht, welcher durch seine gewaltsamen Umverteilungen von Bevölkerung und Gütern eine belebende Dynamik in die Gesellschaft bringe. Die dortige Sprechinstanz betont: Geldt muß beym krieger seyn; man nennet jhn von kriegen, Dieweil er offtmals kriegt auch außer schlacht vndt siegen Was andern zuegehört: Dann wächset jhm der muth, Dann fordert er den feindt. Der menschen seel vndt blut ist geldt vndt rotes goldt. Wem diß nicht ist gegeben, Der wandelt todt herumb bey denen, die da leben, Vnd fleucht den hellen tag.[…]1787
Der Sprecher weiß dieser Behauptung sogar noch durch ein etymologisches Argument Gewicht zu verleihen, indem er Krieg von kriegen (bekommen) herleitet.1788 Schottelius hingegen lässt seine Heldin die Hab- und Geldgier in konventioneller Weise anprangern. Dazu bedient er sich drastischer Bilder wie z. B. in folgendem Gleichnis: Gleich wie die Wassersucht pflegt immer außzuquellen Ein schwärtzlich-bleiches nas/ der Leib mus dick auff schwellen Biß daß die Seel außgeht/ weil solcher krancker Mann Die Sauff =und Schwelgelust nicht lassen will noch kann.1789
1786 In: Martin Opitz: Gesammelte Werke. Hrsg. von George Schulz-Behrend. Kritische Ausgabe. Bd. 4/1: Die Werke von Ende 1626 bis 1630. Stuttgart 1989 (Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart 312), S. 129–189. 1787 Martin Opitz: Lob des Kriegsgottes, V. 661–667. 1788 Zur Etymologie Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. Bd. 1: A–L. Erarbeitet unter der Leitung von Wolfgang Pfeifer. 2. Auflage, durchgesehen und ergänzt von Wolfgang Pfeifer. Berlin 1993, S. 734 f. Dort wird kriegen von Krieg hergeleitet. Opitz liegt also beinahe richtig. 1789 Fol. B 1 v.
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Das moralische Übel wird mit der Wassersucht verglichen, welche als Folge einer allzu üppigen Lebensweise den menschlichen Leib hässlich aufquellen und verenden lässt. Derartige Betrachtungen knüpfen an Gemeinplätze aus der antiken Dichtung an.1790 In den folgenden Versen kommt Germania auf ein besonders signifikantes Phänomen des Dreißigjährigen Krieges und des 17. Jahrhunderts zu sprechen, nämlich auf das Ratio Status-Wesen: […] man lest mich sterben hin/ Fewr/Pulver/Eysen/Bley/ist meine Medicin So heist das Hülff und Trost/ das morden/schänden/brennen? In aller Sündenlust mit Grimmigkeit fortrennen? Man gibt mir/wie man meynt/erbarme dich O Gott! Durch Blindheit das Gesicht/das Leben durch den Todt.1791
In äußerst effektvoller dramatischer Ausgestaltung findet sich dieses Motiv in einem allegorischen Schauspiel, welches ein mit Schottelius befreundeter Dichter, ebenfalls ein Mitglied des Pegnesischen Blumenordens, verfasste. Es handelt sich dabei um Johann Rists 1649 in Hamburg publiziertes Stück Das Friedewünschende Teutschland, in welchem das personifizierte Deutschland als hochmütige, in fremdländischem Luxus schwelgende Königin sich von der heimtückischen Beraterin Wollust verleiten lässt, ihre langjährige treue Dienerin, den Frieden, zu vertreiben. Das Unglück folgt auf dem Fuß. In II, 5 wird die durch Krieg und Pest fast zugrunde gerichtete Herrscherin von einem berühmten italienischen Wundarzt aufgesucht, welchen ihr Mars persönlich empfohlen hat. Meister Ratio Status, wie er sich unter prahlerischer Hinzufügung etlicher griechisch-lateinischer Titel nennt, bietet ihr mit sarkastischem Bezug auf die konfessionspolitischen Bündnisse der Zeit sowohl das Emplastrum Ligae als auch das Emplastrum Unionis an, welche beide sie jedoch als unverträglich zurückweist. Schließlich verabreicht er ihr in einem Apfel die von geistlichen und weltlichen Herrschern gleichermaßen geschätzten Pillulae Hypocriticae, die der Betroffenen zumindest namentlich bekannten Heuchelpillen. Mit einiger Neugier nimmt Königin Teutschland sie ein und muss bald feststellen, dass diese ihr beinahe die Eingeweide zerreißen. Diese Zuflucht zur Medizin der Heuchelei geißelt auch Schottelius’ Germania:
1790 Vgl. Ov. fast. 1, 209–216: at postquam fortuna loci caput extulit huius/ et tetigit summo vertice Roma deos,/ creverunt et opes et opum furiosa cupido,/ et cum possideant plurima, plura petunt./ quaerere ut absumant, absumpta requirere certant,/ atque ipsae vitiis sunt alimenta vices:/ sic quibus intumuit suffusa venter ab unda,/ quo plus sunt potae, plus sitiuntur aquae. 1791 Fol. B 2 r.
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Falsch und zweizüngig seyn/mit Friedensworten zieren Den durst nach Menschenblut/Gott und sein Recht verliehren Auß Liebe zur Gewalt; sich schmücken nur mit schein Das heist ohn Christenhertz ein Christenmensche seyn.1792
Einige Strophen später rückt eine dem Ratio Status übergeordnete Gestalt in den Blick, nämlich der große Zerstörer Mars persönlich, welcher bei allen gegenwärtigen Ereignissen in schaudererregender Weise Regie führt: Mars hat von Kintbein auff nur Menschenblut gesogen Und ist mit Menschenfleisch und marckte aufgezogen/ Mit Menschenfett´ und Schweiß wascht sich das ungehewr Und wenn er Odem läst/so bläst er dampff und Fewr.1793
Schottelius’ Lamentatio ist die erste Germania-Heroide, in welcher der Name Mars nicht lediglich eine metonymische Funktion erfüllt, sondern zumindest die Umrisse einer leibhaftigen Gestalt erahnbar macht. Der bereits bei Homer mit schrecklicher Wut in die Schlacht vor Troja eingreifende Kriegsgott Ares avancierte bei den Römern zum Vater des Stadtgründers Romulus, indem er die Vestalin Rhea Silvia bzw. Ilia vergewaltigte. Seinen besonderen kultischen Status verdankt er demnach der Gewalt gegen eine Frau, wodurch sich der Zusammenhang zwischen sinnlichem Begehren und Grausamkeit vorzüglich illustrieren ließ. Nicht zuletzt aber wegen der ihm nachgesagten ehebrecherischen Affäre mit Aphrodite/Venus erfreute er sich sowohl in der Dichtung als auch in der bildenden Kunst der griechisch-römischen Antike einer großen Beliebtheit.1794 Im Mittelalter unterzog man die Mythen einer allegorischen Deutung. Mars wurde als Götze des paganen Irrglaubens feindlicher Völker von den epischen Dichtern, als Stern oder Planet von den Astrologen und Astronomen in den Blick genommen.1795 In der Frühen Neuzeit stellte man insbesondere die ambivalenten Züge dieser Gottheit heraus: Mars erschien einerseits als Unglücksstern und Zerstörer aller menschlichen Zivilisation, andererseits auch als Katalysator neuer produktiver Kräfte, nicht zuletzt als Begründer einer militärischen Parallelwelt mit sämtlichen quasi-zivilen Strukturen.1796 In Opitz’ bereits erwähnter Verssatire wird der 1792 Ebd. 1793 Fol. B 2 v. 1794 Jan-Henrik Witthaus: Art. Ares. In: Maria Moog-Grünewald (Hrsg.): Mythenrezeption. Die antike Mythologie in Literatur, Musik und Kunst von den Anfängen bis zur Gegenwart (Der Neue Pauly, Supplemente Bd. 5). Stuttgart / Weimar 2008, Sp. 132–138, hier Sp. 132 ff. 1795 Manfred Kern: Art. Mars. In: Manfred Kern und Alfred Ebenbauer (Hrsg.): Lexikon der antiken Gestalten in den deutschen Texten des Mittelalters. Berlin / New York 2003, Sp. 373–377. 1796 Jutta Nowosadtko / Matthias Rogg: Gedanken über Krieg, Kunst und Kultur in der Frühen Neuzeit (Einleitung). In: Jutta Nowosadtko und Matthias Rogg (Hrsg.): „Mars und die Musen“.
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umtriebige Kriegsgott unter zahlreichen Namen und Titeln als neuer Kulturstifter, als unparteiischer Reformer der ständisch geprägten Gesellschaft und als Frauenfreund (Weibergast) besungen. Auch dort begegnet mit ausdrücklichem Bezug auf Mars das Kompositum Menschenblut, welches dieser als Opfergabe erhält und mit welchem er das brachgelegte Land düngt. Während Opitz in über 800 Versen den gesamten ihm bekannten Mythos durchleuchtet und allen Facetten einen Gegenstand für sein (ironisches) Lob abzugewinnen sucht, skizziert Schottelius’ Germania Mars lediglich mit wenigen Strichen als ein der mythologischen Sphäre entzogenes Ungeheuer. Der Waffenlärm des Kriegsgottes entlockt den personifizierten Mächten Gerechtigkeit, Unschuld und Frömmigkeit erbärmliche Schreie (177–180). In einer längeren Passage betont Germania in Übereinstimmung mit einer wesentlichen Position des Erasmus die Unvereinbarkeit von Christentum und Kriegsbegierde.1797 Krieg sei lediglich zur Verteidigung des Lebens oder zur Wiedergewinnung entrissener Güter zulässig, gegenwärtig aber sei er unter Verdrehung von Gottes Wort zum Selbstzweck geworden. Die moralische Weltordnung werde von Grund auf verkehrt, Unrecht zu Recht erklärt. In der bewährten nuncolim/quondam-Topik stellt Germania der einstigen Blüte ihres Bodens die gegenwärtigen Spuren der Verheerung gegenüber. Anstelle der früheren Weinberge, Städte und Dörfer wuchert nun überall Unkraut, glimmt Asche, herrscht Leere – dies alles erinnert im Ton an das berühmte Sonett Es ist alles eitel von Andreas Gryphius. In dieser Lage ruft Germania all ihre großen Flüsse als Zeugen des allgemeinen Elends an.1798 Rhein, Elbe und Donau sind jeweils mehrere Strophen gewidmet. So verschiedene Strecken die Flüsse auch zurücklegen, alle sind sie, entsprechend der die Kriegsdichtung prägenden Topik, blutgefärbt, transportieren unzählige Leichen und beobachten ein grauenhaftes Gemetzel an ihren Ufern. Gleiches gilt für Weser, Lech, Oder, Neckar, Ems und Main. Nirgends, so Germania, finde man so viele klare und schöne Flüsse wie auf ihrem Boden. Doch auch mit diesen großzügigen mütterlichen Gaben habe sie ihre Kinder nicht zu Liebe und Treue bewegen können. Das von Gott bewirkte apokalyptische Spiel der entfesselten Naturgewalten resultiert aus dem Umstand, dass der Krieg längst zum Selbstzweck geworden ist Germania resümiert:
Das Wechselspiel von Militär, Krieg und Kunst in der Frühen Neuzeit. Berlin 2008 (Herrschaft und soziale Systeme in der Frühen Neuzeit 5), S. 7–30, hier S. 7 ff. 1797 Fol. B 3 v. 1798 Fol. B 3 v–B 4 v.
3.2.2 Justus Georg Schottelius (1612–1676): Lamentatio Germaniae Exspirantis
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Mich trifft das Widerspiel: man krieget nur nach kriegen Nach Friede kriegt man nicht: wann Gott gibt das obsiegen Das dient zu kriegen nur: man zwinget also Gott Zur straffe/ und man treibt mit Gottes Güte spott. Drumb muß Gott grawsam seyn/ Gott kann sich nicht erbarmen/ Er fasset seinen Pfeil mit eyfer =starcken Armen/ Und zihlet zorniglich: Er trifft und schlegt mich fest Mit Krieg/ mit Hungersnoth/ mit Fewr und mit der Pest.1799
Sie greift hier die damals weithin vertretene theologische Argumentation auf, nach welcher der Sündenfall der gesamten Christenheit ein Strafgericht Gottes in Form von Krieg und Zerstörung herausfordert. Deutlicher könnte sie es kaum zum Ausdruck bringen als in dem Bild des eigenhändig Pfeile abschießenden Gottes, welches hier ein wenig an den ersten Auftritt des erzürnten Apoll zu Beginn der Ilias gemahnt.1800 In den folgenden drei Strophen werden die jeweiligen Reaktionen der Betroffenen (fewrige Gedancken, heisse Seufftzer, Weinen und Winseln der Gejagten) unbarmherzig mit dem Kehrvers von der wachsenden Krieges- bzw. Unglückslast und Halsstarrigkeit konfrontiert.1801 Eine pervertierte Erziehung schon im Elternhaus lässt wenig Gutes für die heranwachsende Generation hoffen, welche nichts als Sünden und Verbrechen kennen lernt (349–352). In wiederum drei Strophen bemüht Germania zur Illustration ihrer eigenen Zerfleischung den in der Antike geläufigen Topos vom Staatsschiff im Seesturm. Während die Besatzung um die Führungsposition am Ruder streitet, fällt das Schiff den entfesselten Wogen zum Opfer (353–364).1802 Der eigentliche Grund aller menschlichen Übel, die Uneinigkeit, wird in Form mehrerer Gleichnisse illustriert. Eine Laute wird unbrauchbar durch den Verlust nur einer Saite, ein Wagen gerät außer Kontrolle, wenn man die Pferde anfeuert und wahllos in verschiedene Richtungen rennen lässt (389–392): Die Laute ist ohn Laut wenn eine Seite springet: Wenn an den Wagen man vorn/ neben/ hinten bringet Der Pferde tolle macht/ und läst zugleiche zihn/ Ey dencke/ wo wird doch der Wage kommen hin?1803
1799 Fol. C 1 r–v. 1800 Vgl. Hom. Il. 1, 43–52. 1801 Fol. C 1 v. 1802 Fol. C 1 v–C 2 r. 1803 Fol. C 2 v.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
Mit der Wagenfahrt als Gleichnis des menschlichen Lebens1804 greift Schottelius einen schon auf Platon1805 zurückgehenden und im Neostoizismus geläufigen Topos auf, mit welchem er später in seiner Abhandlung Ethica. Die Sittenkunst oder Wollebenskunst (1668) die Notwendigkeit der Affektkontrolle bekräftigen wird.1806 Bereits das Frontispiz dieser Schrift bringt dies in einer eindrucksvollen Illustration zur Geltung.1807 Zu ebener Erde lenkt eine schöne Frau, die personifizierte Vernunft, ein zahmes Löwengespann, von einem steilen Berghang jagt ein Pferdegespann in halsbrecherischem Tempo in den Abgrund. Der Fahrer, ein junger Mann, greift vergebens nach den zerrissenen Zügeln.1808 Größer könnte der Kontrast zwischen beiden Fahrweisen kaum sein. Eine Kette bricht entzwei, wenn ihre Glieder ungleich stark sind, einen Schnitt mit dem Messer in den Finger empfindet der ganze Leib (389–400). Die Resultate eines staatsklugen politischen Kalküls verwirft Germania als unwahrhaft (zweyhertzig) und undeutsch. Drei Strophen setzen die menschliche Einigkeit in Analogie zur Harmonie in der Natur (409–420): Die Einigkeit die ist ein Gottesband und Liebe Der durchvermischten Welt: […] GOTT hat dis grosses all auff einigkeit gegründet Durch solchen Himmelschlus/ ja durch sich selbst verkündet/ Das/ was nicht einig sey/ in sich zerfallen sol/ Und endlich nichts mehr seyn. […]1809
Die kriegerischen Energien der Deutschen sollen sich gegen die alten Erbfeinde richten, gegen die Türken, Spanier und Franzosen: Ach daß du Teutsches Hertz den strengen Degen zücken Müchst wider Thracien! Ach das du uberbrücken Erst solst den Hellespont/ und daß ich sollte sehn Auff den halb =Türcken Mond die weisen Creuze gehen! Es küne Mir gewis der trotziger Marane Der Harffen gantzer Schall; die Lylien =schöne Fahne/ Der kalter Nordenstrich/ nicht nehmen uberall Wenn Meine einig seyn sie schlagen sie zumahl.1810
1804 Vgl. Johann Wolfgang von Goethe: An Schwager Kronos. In: HA. Bd. 1, S. 47–48. 1805 Plat. Phaidr.246a–257d. 1806 Stockhorst, S. 9. 1807 Ebd. 1808 Abbildung und Zitat der von Schottelius selbst gegebenen Erläuterung ebd., S. 10 f. 1809 Fol. C 2 v–C 3 r. 1810 Fol. C 3 r.
3.2.2 Justus Georg Schottelius (1612–1676): Lamentatio Germaniae Exspirantis
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Mit dieser Kampfansage greift Schottelius’ Germania in wenigen Versen das Thema auf, welches ihre literarischen Vorgängerinnen zum alleinigen oder dominierenden Gegenstand ihrer Klagebriefe machen. Über mehrere Strophen hinweg ergeht ein flammender Appell an die einstmals als Helden berühmten Deutschen. Diese sollen alle auswärtigen Feinde in die Flucht geschlagen haben und von Gott zur besten Verteidigung der Christenheit auserkoren worden sein.1811 Die Deutschen, die nicht näher definierten tapffren Leute, gelten der Heroine als Haubt der gantzen Welt, als Europens Krafft und der Türcken gegentrutz1812 – derartige Selbstzuschreibungen lassen noch etwas vom agitatorischen Potential der lateinisch abgefassten humanistischen Germania-Heroiden des 16. Jahrhunderts erkennen. Die Auszeichnung der Adressaten mit derartigen Attributen an dieser Stelle könnte als Beleg dafür dienen, dass sich ausschließlich, vorrangig oder zumindest als ein Teil der Leserschaft die Reichsfürsten angesprochen fühlen sollen.1813 Immerhin genossen schon seit dem Mittelalter die Kurfürsten ein besonderes Prestige als „Säulen des Reiches“.1814 Dennoch verzichtet Germania weiterhin auf eine eindeutige Bezeichnung von sozialem Rang oder Dynastie und stellt weiterhin, als bedeute dies allein schon Ehre genug, die Nationszugehörigkeit (jhr Teutschen) in den Vordergrund. Zur weiteren Gegenüberstellung von Vergangenheit und Gegenwart bedient sich Schottelius eines im Humanismus beliebten Kunstgriffes, der redivivus-Fiktion, in welcher berühmte Helden aus vergangenen Jahrhunderten für kurze Zeit auf die Erde zurückkehren dürfen, um ihren einstigen Wirkungsstätten oder sonstigen Orten ihrer Wahl einen Besuch abzustatten.1815 Schottelius lässt hier seine Heroine eher summarisch vorwegnehmen, was er zwei Jahre später ausführlicher auf der Bühne darstellen wird.1816 In seinem 1642 erstmals aufgeführten Friedens Sieg kehren der vielleicht in einem suggestiven Sinne als Harminius bezeich-
1811 Fol. C 3 r–v. 1812 Fol. C 3 v. 1813 Stockhorst, S. 5.geht selbstverständlich von einem Appell an die Fürsten aus. 1814 Gotthard, S. 201 ff. Vgl. auch das Kapitel dieser Arbeit 3.1.10 Nikolaus Reusner: Germania ad Maximilianum et Principes . 1815 Das vielleicht prominenteste Beispiel stellt die 1583 in Tübingen erstmals aufgeführte und 1585 im Druck publizierte Komödie Julius Redivivus des schwäbischen Späthumanisten Nicodemus Frischlin dar. Dort lässt der Autor die beiden großen römischen Staatsmänner und Prosaschriftsteller Cicero und Caesar sein zeitgenössisches Deutschland besichtigen und in neidvolle Bewunderung über dessen zivilisatorische Fortschritte ausbrechen. Caesar zeigt sich insbesondere von der neuen effizienten Waffentechnik fasziniert, Cicero von der Pflege der litterae – dies alles gestaltet Frischlin im Zeichen eines im späten 16. Jahrhunderts noch präsenten Bildungsoptimismus. 1816 Fol. C 3 v–C 4 v.
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nete Cheruskerfürst und der ostfränkische König Henricus Auceps (Heinrich der Vogler) ins Deutschland des Dreißigjährigen Krieges zurück, wo sie insbesondere an der ihnen unverständlich gewordenen, von Gallizismen durchzogenen Sprache der späteren Landsleute Anstoß nehmen. Das Motiv der wiederkehrenden einstigen Helden ist im Schauspiel noch enger als in der Heroide mit dem der Alamode-Kritik verbunden, insofern als diese selbst ihren Unwillen über die unheilvollen neuen Modetorheiten artikulieren. Obgleich es sich bei der Sprachkritik um ein von Schottelius in mehreren Schriften vertretenes Hauptanliegen handelt, sei dennoch kurz auch auf einen anderen, bereits mehrfach erwähnten Autor verwiesen. Als besonders effektvolle Einleitung zur eigentlichen Handlung findet sich eine derartige redivivus-Fiktion in Rists Friedewünschendem Teutschland.1817 Diese erscheint wie eine amplifizierte theatralische Ausgestaltung der bei Schottelius begegnenden Motive. In Rists Schauspiel begeben sich vier Helden aus verschiedenen Zeiten, Herzog Ehrenfest (Ariovist), Herzog Hermann (Arminius), Kaiser Claudius Civilis und Herzog Wedekind (Widukind), von Merkur geleitet, an den Hof der Königin Teutschland, um ihr in bester patriotischer Absicht ihre Dienste anzubieten, werden aber wegen ihres unkultivierten Äußeren und ihrer rohen, altertümlichen Sprache unter Spott und Hohn verjagt. Schon bei ihrer Ankunft hatten sie ihr Vaterland kaum wiedererkennen können. Eine derart böse Überraschung thematisiert Schottelius schon in der Lamentatio. Die Erkenntnis, dass sie ihren einstigen Helden fremd geworden sein müsse, legt der Autor allerdings seiner Heroine Germania in den Mund. Die großen Männer werden hier nicht namentlich genannt, sind aber unschwer durch den expliziten Bezug auf Caesar, Tacitus und neuere, d. h. humanistische Autoren zu identifizieren. Die Heroide enthält eine längere Binnenrede, in der Germania die Worte zitiert, mit welchen die vergebens nach Deutschen Ausschau haltenden Helden ihr Befremden zum Ausdruck bringen.1818 Zunächst sind letztere geneigt, das Land für den Wohnsitz der Skythen oder Tartaren zu halten, stellen dann aber fest: Nein/ es muß Teutschland seyn/ die Sternen uns nicht triegen Der Rhein und Elb’ ist hie; die Lufft selbst kann nicht liegen.1819
Nur die Natur und unveränderliche Gegebenheiten des Geländes gewährleisten demnach eine sichere Identifikation des Landes mit seinem Namen. Ähnlich formuliert es der Cheruskerfürst im FriedenSieg:
1817 Vgl. dazu auch das Kapitel dieser Arbeit 2.3.4. 1818 Fol. C 3 v–C 4 r. 1819 Fol. C 4 r.
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HARMINIUS: […] Aber was! Sol dies Land auch wol das Teutschland seyn? […] Die Sternen in der Luft und die bekante Himmelszeichen waren und sind mir vor Augen, es kann nicht anderes seyn, es muß dieses Land das Teutschland seyn. […]1820
Nicht anders verhält es sich mit der besonderen Ineinssetzung von Geographie und Moral, wie sie die idealisierten alten Deutschen vornehmen. In der Lamenta tio konstatieren diese: Es ist das Land/ da wir geboren und erzogen Und mit der ersten Milch die Tugendlust gesogen/1821
Mit ähnlichem Pathos belehrt im FriedensSieg Harminius seinen Reisegefährten Henricus Auceps: HARMINIUS: […] wir seyn jzzo annoch an dem Orte der Welt, da ich für 1600 Jahren, du aber nunmehr für 700 Jahren mit der Milch die Tugend und die Liebe zum Vatterlande eingesogen. […]1822
Den größten Anstoß erregt bei den in der Lamentatio zitierten Helden die schon weithin ins Auge stechende Präsenz von Fremden fast jeglicher größeren europäischen Nation: Gallier, Welscher, Spanjer, Schotte, Schwede, Finn und Engelsmann okkupieren die öffentlichen Plätze und stiften Zwietracht unter den Fürsten. Indigniert resümieren die Helden: Das Unglück herrschet hie: die Falschheitvolle Trew/ Die Hertzenlose Gunst wechst hie in Teutschland new/ Ein Unstern böser art muß haben dir geleuchtet: Ein gifftigreicher Thaw hat durch und durch befeuchtet Dich/ liebstes Vaterland/ bistu nun so veracht Erbettelst recht und Schutz vom Glück und frömbder macht.1823
Die von Germania als Tugendexempel angeführten Sprecher bedienen sich zweier Oxymora zur Würdigung nur scheinbarer Wohltaten für das Vaterland (Falschheitvolle Trew, Hertzenlose Gunst). Alexander Schmidt erläutert „Doch es sind nicht so sehr die Fremden, die hier für das eigene Unglück verantwort-
1820 Justus Georg Schottelius: FriedensSieg. Ein Freudenspiel. Hrsg. von Friedrich E. Koldewey. Halle an der Saale 1900, S. 41. 1821 Fol. C 4 r. 1822 Schottelius: FriedensSieg S. 43. Dieser Konnex von Muttermilch und Muttersprache scheint zumindest bei der Fruchtbringenden Gesellschaft überhaupt en vogue gewesen zu sein. So geht es dieser laut ihren Statuten um „unsere uralte und vollkommene Teutsche Muttersprache/ so uns gantz rein in der ersten Milch gleichsam eingetreufelt/“. Van Ingen, S. 947. 1823 Fol. C 4 r.
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lich gemacht werden. Mit der Körpermetapher vom sich selbst verstümmelnden Vaterland werden vielmehr die eigenen Landsleute als Urheber von Bürgerkrieg und herbeigerufener fremder Invasion identifiziert.“1824 Ähnlich wie die anonym bleibenden Helden in der Lamentatio schimpft im FriedensSieg Harminius: HARMINIUS: […] Ich sehe Spanier und Ungeren, Crabaten, Franzosen und Welsche, Lappen und Finnen, Sweden und Denen, Polen, Irren, Schott= und Engellender durch und durchziehen. Feinde dieses Landes künnen sie ja nicht seyn, alldieweil ich auch bey jedem Fremden Volke die treuliebenden Teutschen sehe, denen sich noch niemals einiges Volk an Heldenmuth, treuem Hertzen und tapfferster Vertheidigung ihres Vaterlandes verglichen hat. […]1825
Nun wieder in ihrer eigenen Rede fortfahrend, bedient sich Germania erneut der Sterbe-, Suizid- und Medizinmetaphorik, um noch einmal ihrer strikten Ablehnung ausländischer Interventionen Ausdruck zu verleihen. Aus allen europäischen Hauptstädten schicke man ihr als Arznei deklariertes Gift. Die Fremden, die man zu Hilfe hole, erwiesen sich stets als die heimtückischsten Feinde.1826 Ohne Schonung mit sich selbst beklagt Germania ihre eigene unglückliche Rolle auf dem Gebiet des Fortschritts von Krieg- und Waffentechnik: Das schreckliches Geschütz/ so donnerkeile speyet/ Der Büchsen starcker Knall/ so dicken Hagel strewet Von Eysen und von Bley/ lest Blitz und dampff hergehn. Dadurch man weder Sonn/ noch Himmellicht kann sehn: Die mordenvolle Kunst/ des Pulvers Höllenschwärtze/ (zu des verfluchten fund der Teuffel mit der Kertze Und lehrkunst vorgeleucht) ist in mir auffgebracht/ Drumb ubets wider mich/ stets seine höchste macht. Der Welt hab’ ich gelehrt/ wie Blitz/ ein Fewr zuschiessen/ Und wie man künstlich kann das Christenblut vergiessen/ So kompt aus Danckbarkeit die Welt nun zu mir her/ Erscheust und tödtet mich durch meine eigne Lehr.1827
Diese bislang wenig beachtete Passage thematisiert und verdammt die Erfindung des Schießpulvers, welche neben derjenigen des Buchdrucks als nationale Errungenschaft den Deutschen zugeschrieben wurde, anders als diese jedoch bei den Humanisten durchaus moralisch umstritten war. Manche Autoren, darunter Jakob Wimpfeling, feierten den Gebrauch der Kanone als Prestigezuwachs für das als Kriegernation beschworene Deutschland, andere, darunter Konrad Celtis und 1824 A. Schmidt: Vaterlandsliebe und Religionskonflikt, S. 367 f. 1825 Schottelius: FriedensSieg, S. 41. 1826 Fol. D 1 r. 1827 Fol. D 1 r–v.
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Erasmus, brandmarkten die tödliche Erfindung mit scharfen Worten als Teufelswerk.1828 Germania präsentiert sich in diesem Zusammenhang als Täterin und Opfer zugleich. In der folgenden Passage von beinahe 100 Versen lässt Schottelius – anders als Fleming im Schreiben vertriebener Frau Germanien – seine Heroine wieder sein bereits angesprochenes Hauptanliegen artikulieren, nämlich die in Gelehrtenkreisen während der 1620er und 1630er Jahre aufgekommene Alamode- und Sprachkritik.1829 Das Schlagwort Alamode (mit den Varianten À la mode, Allo mode, Allmodo) charakterisierte zunächst die im Wetteifer betriebene Imitation französischer Sitten, Kleidung und Sprache.1830 Als Selbst- und Fremdbezeichnung erstreckte es sich auf nahezu alle sinnlich wahrnehmbaren Bereiche des Lebens sowie auch auf Geisteshaltung und moralische Eigenschaften.1831 Mit Fortschreiten des Krieges hatten Prunk und Zügellosigkeit die im späten 16. Jahrhundert dominierende, steifes Hofzeremoniell widerspiegelnde spanische Mode verdrängt.1832 Ein neuer gesellschaftlicher Typus bildete sich heraus, der als Inbegriff aller lächerlichen und verwerflichen Eigenschaften Kritik und Spott auf sich zog. Allein der launischen Fortuna und dem bloßen Schein verhaftet, scheute dieser weder Geld noch Aufwand, um Bewunderung für Gaben zu erregen, deren Besitz er durch einzelne materielle Requisiten oder einstudierte Attitüden vorspiegelte. Dieses Imponiergehabe sollte Adel, Reichtum, Bildung, Schneid und militärische Tapferkeit vorstellen.1833 Auf Flugblättern, aber auch in diversen Gattungen der Literatur zirkulierte, mit oder ohne explizite Namensnennung, die Karikatur eines höfischen Kavaliers, der berüchtigte Monsieur Alamode.1834 Nicht nur dessen parasitäres und gottloses Leben, sondern sogar auch dessen (unbußfertiger) Tod inspirierte die Publizisten zu drastischen Darstellungen.1835
1828 Hirschi: Wettkampf der Nationen, S. 287 f. 1829 Fol. D 1 v–D 3 r. 1830 Mit zahlreichen Literaturverweisen Münker, S. 104. 1831 „Alamode war jetzt das Schlagwort geworden, womit die Eitelkeit in jeder Gestalt alles das zu bezeichnen pflegte, was ihr auf dem Höhepunkt der Zeit zu stehen schien, was ihr der Wünsche, der Nachahmung und des Strebens würdig galt; im Munde der Gegenpartei aber, der Wenigen, die vom verderblichen Einfluß des Krieges sich frei zu halten bemüht waren und Sittenstrenge, Offenheit, Aufrichtigkeit und Ernst dem losen Wesen entgegensetzten, bezeichnete es kurzweg alles Verkehrte und Thörichte, alles Neue und Maßlose, alles Zucht = und Ehrwidrige.“ Falke, S. 164. 1832 Im Tenor erkennbar noch der Schwarzen Legende verhaftet ebd., S. 157 ff., 173 f. 1833 Ebd., S. 159 ff. 1834 Mit zahlreichen Textbeispielen und Beschreibungen von Flugblättern (leider ohne Illustration) Falke passim; A. Schmidt: Vaterlandsliebe und Religionskonflikt, S. 365 f.; Münker, S. 105. 1835 Falke, S. 169.
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Auf einem Kupferstich zelebriert der Möchtegern-Kavalier in vollendeter Eleganz sein Ableben und vermacht in einem feierlichen Testament seinen Bewunderern die Utensilien seiner exzessiven Körperpflege.1836 Um die abschreckende Wirkung dieses Negativexempels zu erhöhen, ließ man ihn bisweilen in vollem Ornat das Höllentor passieren, wo ihn alamodisch gekleidete Teufel unter liebenswürdigsten Ehrbekundungen in Empfang nehmen.1837 Auch Schottelius’ mit dem Tode ringende Germania kommt verständlicherweise nicht umhin, diesem verabscheuten Menschentypus, welchen der Dreißigjährige Krieg hervorgebracht hat, einige Aufmerksamkeit zu widmen. In nicht weniger als 15 Strophen beklagt sie die alamodisch verunstaltete deutsche Sprache,1838 im Anschluss daran ergeht ein vernichtendes Urteil über die Imitation fremder Sitten bezüglich Habitus, Auftreten, Kleidung und Speise.1839 Wie sehr dieses Ärgernis Schottelius beschäftigt haben muss, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass er in seinem FriedensSieg auch die mit der redivivus-Fiktion untrennbar verknüpfte Alamode-Kritik fast wörtlich wieder aufgreift. In der Lamentatio lässt er Germania zunächst die Sprachvermengung rügen, d. h. die neu aufgekommene Sitte, jeden einzelnen deutschen Satz mit französischen Einsprengseln aufpolieren zu wollen. Den sich daraus ergebenden Duktus imitiert bzw. parodiert sie folgendermaßen: (Er allomodisirt, kann complementen machen/ Und courtisiret wol/ parlert brav von den Sachen) Ey schemet euch der Wort/ und sagt es teutsch recht her/ Er schneidet auff/ ist falsch/ ein Geck/ und noch wol mehr.1840
Bei der Imitation der Gallizismen verfährt Germania keineswegs willkürlich, da diese sich alle auf die (mit Argwohn betrachtete) höfische Sphäre und Selbstrepräsentation beziehen. Dabei ist zu beachten, dass gerade das Kompliment ein besonderes Reizwort für die Sprachpuristen darstellte. Dieses galt als Ausweis der Verlogenheit im Gegensatz zu der angeblich so klaren und aufrichtigen Sprache einer besseren Vergangenheit, welche sich in jeder Lebenslage eindeutig mit ja oder nein artikuliert habe.1841 Nach gängiger Ansicht bewirkte das Kompliment genau das, was es eigentlich nur ausdrücken sollte; es erzeugte die mora-
1836 Ebd., S. 170 f. 1837 Ebd., S. 171. 1838 Fol. D 1–D 3 r. 1839 Fol. D 3 r. 1840 Fol. D 1 v. 1841 Vgl. Gardt, S. 170 mit Beispielen von Christoph Schorer aus dem Vnartig Teutschen Sprach =Verderber (1643).
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lisch korrumpierte Haltung bei allen, die mit ihm zu tun hatten, und vertrieb die guten Eigenschaften wie Glauben, Treue und Redlichkeit. Es handelte sich somit um eine fatale Umkehrung des kausalen Verhältnisses von Realität, Denken und Sprache.1842 Die Puristen differenzierten dabei nicht zwischen der Sprache selbst als Wiedergabesystem und ihrem Gebrauch bzw. Missbrauch.1843 Wenn innerhalb der oben zitierten Verse Schottelius’ Germania zum teutsch, d. h. zum Klartext reden mahnt, wird daraus ersichtlich, dass der Vers Er schnei det auff/ ist falsch/ ein Geck/ und noch wol mehr als Übersetzung der unmittelbar zuvor genannten höfischen Betragensweisen gemeint ist. Allomodisiren, complemente machen, courtisiren und parlern stellen mit ihrem französischen Wohlklang im Grunde Verbrämungen oder Euphemismen für die Untugend des Aufschneidens dar. Gerade auch dieses Aufschneiden oder Auffschneiden im buchstäblichen Sinne visualisierten Flugblätter als bevorzugte Aktivität des Alamode-Kavaliers.1844 Ganze Scharen des betreffenden Typus wurden mit einem großen, manchmal schon abgestumpften Messer ausgestattet – ein klarer Hinweis auf ihre immer mehr entlarvten Schwindel- und Täuschungsmanöver. Abhilfe versprach dann ein ebenfalls über die Fertigkeiten der Alamode-Diktion verfügender Meister mit einem Wetzstein.1845 Schottelius lässt seine Germania fortfahren: Seht/ ewre schönste Sprach/ ein Zeichen der Freyheiten/ Voll Pracht/ voll Süssigkeit/ voll der Glückseligkeiten Die jemals eine Sprach gehabt hat in der Welt/ Wird so geschändet/ und von euch hindan gestelt.1846
Die Vorstellung von der Existenz eines deutschen Sprachideals an sich, einer lingua ipsa Germanica, inspirierte zahlreiche Autoren des 17. Jahrhunderts zu regen Diskussionen. Dieses Ideal hatten lediglich die besten Autoren und nur einzelne Institutionen ansatzweise realisieren können.1847 Schottelius, wie die meisten Mitglieder der barocken Sprachgesellschaften ein Vertreter der ontologisierend-patriotischen Sprachreflexion,1848 glaubte in quasi-platonischem Sinne an eine naturgegebene Übereinstimmung der deutschen Wörter mit den
1842 Ebd. 1843 Ebd. 1844 Falke, S. 172. 1845 Ebd. 1846 Fol. D 2 r. 1847 Gardt, S. 140. 1848 Ebd., S. 129.
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von ihnen bezeichneten Gegenständen.1849 Als „Suchender“, wie ihn die Fruchtbringende Gesellschaft nannte, versuchte er seinem Pseudonym nicht zuletzt dadurch gerecht zu werden, dass er das theoretische Gerüst zur Prestigesteigerung des Deutschen lieferte.1850 Das höchste jemals realisierte Niveau seiner Sprache attestierte er Luther und seinen Anhängern.1851 Der Reformator selbst schätzte am Deutschen seine schnörkellose Klarheit, seine besondere Eignung zum anspruchslosen Vehikel wahrhafter und bedeutender Botschaften.1852 Anders als z. B. Franciscus Irenicus, welcher dem Deutschen ein höheres Alter als dem Lateinischen und eine größere Würde als dem Griechischen (und ohnehin dem Italienischen) bescheinigte,1853 verwahrte sich Luther gegen eine sakrale Verklärung desselben.1854 Sein Zugriff auf die Sprache, selbst auf das Hebräische, war rein pragmatisch motiviert; die Worte durften durch keinerlei ästhetischen Reiz von der Sache ablenken.1855 Schottelius hingegen legt seiner Germania ähnliche Positionen in den Mund, wie er sie durchweg auch in seinen theoretischen Schriften vertritt. Ähnlich wie in der Vorrede zum 1643 publizierten Traktat Der Teutschen Sprach Einleitung1856 wird auch hier in den folgenden Versen1857 der bloße Ablauf der Zeiten als ein Grund unter mehreren für den Wandel der Sprache angeführt.1858 Zwei Strophen widmet Schottelius’ Heroine dem auch in den lateinischen Germania-Heroiden des 16. Jahrhunderts durchweg begegnenden Argument der Antibarbaries. Künste, Gelehrsamkeit und Sprachpflege jeglicher Art fallen dem Untergang der Zivilisation zum Opfer, selbst Griechisch und Latein
1849 Ebd., S. 132, 136; Hundt, S. 122. 1850 Hundt, S. 122 f. 1851 Gardt., S. 141 f. 1852 Hirschi: Wettkampf der Nationen, S. 425 ff. 1853 Ebd., S. 313 f. 1854 Ebd., S. 426 f. 1855 Ebd., S. 427. 1856 In Exzerpten abgedruckt bei Jones, S. 170 ff. 1857 Fol. D 2 r. 1858 Im Kurtze[n] Vorbericht an den Teutschliebenden wolgeneigten Leser, welcher Der Teutschen Sprach Einleitung vorangestellt ist, gibt Schottelius folgende Erklärungen: „ES sind dreierlei Haubtuhrsachen/ wordurch der Abgang und die Enderungen einer jeden Sprache zugeschehen pflegen: und zwar die erste ist der Ablauf und Hingang der Zeiten selbst/ […]. Die andere Haubturhsache ist die vermischung und < A6 > vermengung der Voelcker und Einwoehner/ dadurch gemeiniglich die alte Landsprache erfroemdet/ guten theils erstirbet/ und in Unacht zugerahten pflegt/ wegen einstrewung mitgebrachter newer unlandueblicher Woerter und Redarten/ […]. Die dritte Haubthuhrsache der Veraenderung in den Landsprachen ist die befreite unacht/ un< A7 > bedacht und unbetrachtete Ungewisheit der gemeinen Rede/ die sich fast in jeder Stat und jedem Lande mit der Zeit vrrzeucht/ und nach aller beliebung des Poebels zu Enderungen komt.“ Jones, S. 170 f. Hervorhebungen im Original.
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werden vom Parnass vertrieben und büßen ihre einstmals überragende Bedeutung ein.1859 Anders als in den humanistischen Texten jedoch nimmt Germania die aktuellen europäischen Volkssprachen in den Blick und brandmarkt diese als vermengtes Werck. Was Frantzos, Spanier, Engelsman und Welscher auf prahlende, trotzige und bellende Weise von sich geben, so ihre polemische Umschreibung für sprechen, sind Hurenkinder nur. Die Vorwürfe an die Deutschen, also an ihre eigenen Kinder, formuliert Germania noch drastischer: Doch wer was fremdes kann mit halber Zungen lallen/ Der muß sein hochgeehrt: Es kützelt euch für allen/ Wann jhr aus Unverstand/ die teutsche Zier beschmirt Auffsuchend fremdbdes Roht/ und euch bey euch verlihrt. Wann jhr die Zungen nicht kündt schlanck und krümmig machen/ Wie sehr jhr euch bemüht; seht/ wie euch außzulachen Der leichter Frantzman pflegt: So solden/ dencket doch/ Ewr teutscher trewer Mund seyn ein Französisch Loch.1860
Auf äußerst anschauliche Weise wird hier der physische Akt des (Französisch-) Sprechens selbst karikiert. Die bloße Lautbildung in französischer Sprache erscheint gewissermaßen als ein Zirkuskunststück und bedarf einer Zungenakrobatik, welche die Deutschen schon rein technisch überfordert. Die angeblich notwendigen Krümm-und Schlängelbewegungen der Zunge korrespondieren offensichtlich mit dem auch durch Beugen des Körpers ausgeführten Kompliment, was den Charakter des Künstlichen und Unwahren unterstreichen soll. Wenn die Deutschen zur korrekten französischen Artikulation im Grunde unfähig sind, resultiert dies aus ihrer naturgegebenen Bestimmung, ihrer eigenen altehrwürdigen Sprache die Treue zu halten.1861 Germania fährt fort: Die schönste Reinligkeit der Sprache wird beflecket
1859 Fol. D 2 r. 1860 Fol. D 2 v. 1861 Eine derartige konträre moralische Bewertung der beiden Sprachen lässt noch Goethe eine Figur in Wilhelm Meisters Lehrjahren Buch 6, Kapitel 15 vornehmen. Die von ihrem Geliebten verlassene Aurelie erläutert gegenüber dem Titelhelden ihre Abneigung gegen das Französische: „Während der Zeit unserer freundschaftlichen Verbindung schrieb er [Lothario] deutsch, und welch ein herzliches, wahres, kräftiges Deutsch! Nun, da er mich los sein wollte, fing er an, französisch zu schreiben, das vorher manchmal nur im Scherze geschehen war. Ich fühlte, ich merkte, was es bedeuten sollte. Was er in seiner Muttersprache zu sagen errötete, konnte er nun mit gutem Gewissen hinschreiben. Zu Reservationen, Halbheiten und Lügen ist es eine treffliche Sprache; sie ist eine perfide Sprache! Ich finde, Gott sei Dank! kein deutsches Wort, um perfid in seinem ganzen Umfange auszudrücken. […] Französisch ist recht die Sprache der Welt, wert, die allgemeine Sprache zu sein, damit sie sich nur alle untereinander recht betrügen und belügen können!“ HA. Bd. 7, S. 342.
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Mit frömbden Bettelwerck: ja/ schendlich wird zertrecket Die eingepflantzte Art, der redet Teutsch nicht recht Der den Allmodo =Mann nicht in dem Busen trägt. Die Sprache/ die da kann die Kron’ Europens nehmen Die will man Henckergleich zerstücklen und verlähmen: Wer sie nicht ausgeübt/ und nur nach Fransch verdreht/ Der gläube nur/ das er davon noch nichts versteht.1862
Ähnliche Erfahrungen müssen Harminius und Henricus Auceps im FriedensSieg machen. Sie treffen nacheinander auf drei Vertreter des vom Krieg geplagten Deutschlands. Der erste, ein Bauer – und somit eigentlich der Typus des naturnah lebenden, unverdorbenen Menschen –, spricht eine drollig-groteske Mischung aus Plattdeutsch und Französisch,1863 ohne sich dessen auch nur bewusst zu sein. Fernab jeglicher Reflexion ist er unfähig, darin etwas anderes zu sehen als die in seinem Dorf geläufige Alltagssprache; zudem vermag er nicht anzugeben, welche Nation oder welcher Heerführer der eigentliche Feind der Deutschen sei. In diesem Maße hat sich der Krieg bereits verselbständigt. Der zweite, Bolderian, ein selbstverliebter Soldat, gebraucht ein mit französischem Vokabular durchsetztes Schriftdeutsch und hält sich viel auf seine moderne Redeweise zugute. BOLDERIAN: Ei, Monsieurs, die Frage ist nicht meiner profession. Die heutige manier zu paliren, wie sie die Damen und Cavalieri sauhaitiren und belieben ist a la modo und die delicateste, darin ich mich auch mit contentement kann delectiren.1864
Die mehrfachen Bitten der beiden Helden an ihn, sich in verständlichem Deutsch zu artikulieren, entlocken ihm lediglich Verwunderung und Unwillen über die ungewohnte Zumutung. Erst der dritte Mann, welchem sie begegnen, erweist sich, nicht nur seiner Bezeichnung nach, als wahrer Deutscher. Er bedient sich als einziger der vertrauten Sprache und ist in der Lage, über das Unglück, welches das Vaterland getroffen hat, in ebenso verständlichen wie emotionalen Worten Auskunft zu erteilen. Schottelius stattet ihn fast bis ins Detail mit der gleichen Diktion aus wie seine Heroine Germania. TEUTSCHER: […] Krieg und Uneinigkeit hat mir Adern und Sehnen gelähmet, meine Siegeszeichen bestrikken mich und das innerste Mark in meinen Knochen ist durch und durch von verhostem Kriegesglükk vergiftet worden. Aus meinem Lande ist das alte Vertrauen und Teutsche Redligkeit meistentheils vertrieben, […], also daß ich dahin sinke, dahin sterbe
1862 Fol. D 2 v. 1863 Thomas Mann-Leser mögen sich hier an den alten Johann Buddenbrook erinnert fühlen. 1864 Schottelius: FriedensSieg, S. 48.
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und verderbe, wo nicht die höchsterfreuende Friedensgöttinn ein erquikkendes Laabtrünklein mir bald, bald mit gütiger Hand dareichen wird.1865
Gemeinsam mit den beiden Helden begibt er sich zu Gottes Thron, um dort mit allen Äußerungen von Demut und Zerknirschung die Rückkehr des Friedens ins Vaterland zu erflehen, ein Unterfangen, welches letztlich auch Erfolg hat. Im Schauspiel demonstriert der Autor wohl am effektvollsten, wie die Konfrontation der guten und „echten“ alten Deutschen mit den (in unterschiedlichem Grade) vom Alamode-Wesen korrumpierten Landsleuten zu einer Störung der Kommunikation führt, welche jeglichen patriotischen Zusammenhalt und damit die Erlangung des Friedens (aus eigener Kraft) unmöglich macht.1866 Schottelius’ Germania geißelt weiterhin den Missbrauch ihrer Sprache: Und wer so jhre Zier mit flickerey durchlappet Mit eckelvollem Maul nach frömbden Worten schnappet/ Ist seines Namens feind/ ein schlüngel und ein Geck/ Nimbt/ Mir zur schande/ an für Gold nur lauter Dreck.1867
Bei dem letzten der eben zitierten Verse bedient sie sich einer schon Luther geläufigen Metaphorik. Dieser fällte in seinem provokanten Traktat De servo arbitrio über Erasmus’ Schriften das vernichtende Urteil, sie seien Dreck oder Kot in goldenen oder silbernen Schüsseln.1868 Von der bloßen Sprachkritik geht Germania allmählich zu einem allgemeinen Verdikt des Nachahmens fremder Sitten über: So pflegt der Odem euch nach frembder Art zu stincken/ Der gantzer Leib muß sich fein lencken/ schmiegen/ hincken/ Der wolgesätzter Fuß mus schleiffen seinen schrit Wie der Ausländer euch mit Gauckely für trit.1869
Die Deutschen, welche ebenso wie der Frantzos ihre Kleidung aus reiner Willkür ständig dem Schneider zur Änderung übergeben, werden, so höhnt sie, stracks ein Affe mit jhm seyn. Die Übernahme fremder Speisegewohnheiten erzeugt in hässlicher Vermischung des Unvereinbaren einen Spansch =Welsch =Fransch =Teut sche[n] Sinn. Durch ihre ganze in der Nachahmung des Fremden sich erschöpfende Lebensweise machen die Deutschen, begrifflich vom Menschsein ausgeschlos-
1865 Ebd., S. 53 f. 1866 Vgl. auch Hundt, S. 134: „Die Figuren des Arminius und des Königs Heinrich leiten den Tugendverfall aus dem Sprachverfall ab, nicht umgekehrt.“ 1867 Fol. D 2 v. 1868 Hirschi: Wettkampf der Nationen, S. 427. 1869 Fol. D 3 r.
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sen und wiederum als Kindergleiche Affen geschmäht, aus ihrem Vaterland das größte nur vorstellbare Übel, nämlich ein unteutsches Teutschland.1870 Nachdrücklicher als zuvor erinnert Germania daran, dass der Alamode-Kult nicht lediglich als Geschmacksverirrung und private Ausschweifung zu verwerfen ist, sondern unmittelbar zu Sünden verleitet, welche einen das Vaterland vernichtenden Krieg heraufbeschwören. In einer umfangreichen Tirade geht sie mit der fatalen Verblendung und dem irrationalen Fortuna-Glauben ihrer (Landes-)Kinder ins Gericht.1871 Die blindwütige Jagd nach dem wandelbaren Glück, die Hintansetzung von Gott und Christentum, das Vergießen von Christenblut, die Verkehrung aller Werte und Moralvorstellungen, die Heuchelei – das Maß menschlicher Sündhaftigkeit scheint erfüllt. Germania wendet sich direkt an Gott und erfleht in einem längeren Gebet von ihm allein Rettung, Trost und Frieden.1872 Dabei bedient sie sich ähnlich wie die Sprecherinstanz in Opitz’ Trostge dicht einer psalmähnlichen Diktion, nicht zuletzt durch ihre zahlreichen Benennungen Gottes als höchster Gott (745), allerhöchster Gott (748), Friedensfürste (749) und Seelentröster (764). Bei aller Verzweiflung angesichts ihres nahen Todes beharrt sie doch auf ihren Bitten und Forderungen. Es scheint, dass Schottelius seine Heldin hier das Ideal einer christlichen constantia demonstrieren lässt.1873 Wenngleich auch die Todes- und Krankheitsmetaphorik den gesamten Text durchzieht, so verdichtet doch Germania derartige Vorstellungen in einem Gleichnis, welches als besonderes Argument ihr Flehen um Frieden untermauern soll. Wie ein Kranker, der schon zu ersticken droht, seine vollkommen unerwartete, den Naturgesetzen widersprechende Rettung mit grenzenloser Dankbarkeit aufnehmen wird, so möchte auch sie ihrem Gott danken.1874 Dieses Gleichnis leitet zu dem Hinweis über, dass es noch immer gottesfürchtige und tugendhafte Deutsche gebe (Du sihst die deinen noch/ die dich so kräfftig bitten). Ähnlich wie in den Germania-Heroiden der früheren Autoren beruft sich auch Schottelius’ Heroine auf die strahlenden Exempel der einstigen deutschen virtus. Sie wendet sich jedoch an Gott selbst und preist ihm ihren eigenen Boden als das Land an, aus welchem Helden wie Arminius, Henricus Auceps, die Ottonen und Lotharius hervorgegangen seien, ja sogar als dasjenige, welches Gott in eigener Person betreten habe.1875
1870 Ebd. 1871 Fol. D 3 r–D 4 v. 1872 Fol. D 4 v–E 1 r. 1873 Kaminski hingegen, welche den refrainartig geäußerten paradoxen Wünschen der Germania nach Apathie im größten Leid mehr Gewicht beimisst, erkennt darin „den letzten Akt radikaler Selbstaufgabe“. Kaminski, S. 301. 1874 Fol. E 1 r. 1875 Fol. E 1 v.
3.2.2 Justus Georg Schottelius (1612–1676): Lamentatio Germaniae Exspirantis
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Überraschend ist die konkrete Vorstellung, welche Germania von ihrer Rettung hegt. Sie verlässt die metaphysische Sphäre des Gebetes und des Göttlichen und richtet ihren Blick auf einen realen irdischen Ort: Da auch des Bruno Wick/ die gröste Stadt in Sachsen/ Den Kornbawm läst für sich und die verjagten wachsen/ […] Ein anders meine Ich/ drumb Braunschweig kann erheben Das Haupt in Mir empor/ und lasen dabeneben Ein stoltzes Auge aus/ vorn/ biß hin nach Tarent/ Und ruckwerts weiter weg wo sich die Wallis endt:1876
Kaminski erfasst die Pointe zutreffend: „Der Deus ex machina aber, dem dieser unversehens bewirkte Umschwung zu verdanken ist, heißt nicht etwa Gott, sondern – Herzog August […]. Das Paradies, das sich vor den „halbgebrochenen Augen“ der Todsiechen öffnet, ist nicht im Jenseits zu suchen, sondern – in „des Bruno Wick“, Braunschweig […].“1877 Die Bedeutung dieser Stadt für ihr eigenes Heil spezifiziert Germania folgendermaßen: Und fragen/ nur ohn Schew/ ob Oxfort was kann haben/ Dar viele Länder zu gereicht die besten Gaben: Deßgleichen Leiden auch/ die allerschönste Stadt/ Darin der Musen Volck itzt jhr Athen noch hat: Das prächtiges Florentz/ obs wird ein bessers haben/ Ob schon das Grichenland gebracht dahin die Gaben: Ob auch wol zu Pariß/ ob auch zu Rom itzund Ein mehrers stehe (das zu Heidelberg vor stund) Den schönsten Bücher =Schatz/ den Schatz voll Ewigkeiten/ Der ists/ den meine ich: Was je/ von allen Zeiten Gott von uns hat gewolt/ der Menschen Geist erdacht/ Ist aus der gantzen Welt in Braunschweig hergebracht.1878
Mithilfe der geläufigen humanistischen Überbietungstopik beruft sich Germania auf die weithin berühmte, von Herzog August zusammengetragene Bibliothek. Wenn man bei der ersten nachweislichen Zählung des Buchbestandes von 1649 die beeindruckende Zahl von 60 000 Werken konstatierte,1879 werden auch die Dimensionen der Sammlung von 1640 zumindest erahnbar. Die Fokussierung der als Landespersonifikation auftretenden Heroine auf eine Teilregion Deutsch-
1876 Fol. E 1 v–E 2 r. 1877 Kaminski, S. 301. 1878 Fol. E 2 r. 1879 Kaminski, S. 301.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
lands und deren (wenn auch imposanten) Bücherschatz als Ausgangsort der Rettung mag zunächst seltsam anmuten. Es scheint, als ob Schottelius, der ja bekanntlich in jeder Hinsicht von seinem Gelehrtenrefugium in Braunschweig profitierte, seine Germania zur Advokatin seiner eigenen persönlichen Anliegen macht.1880 Kaminski warnt allerdings davor, die Lamentatio (oder zumindest diese erst nach 800 Versen einsetzende Passage) auf eine panegyrische Funktion gegenüber Herzog August zu beschränken, dazu hätte es des kompositorischen Aufwandes und der Allegorisierung der Sprechinstanz nicht bedurft.1881 Zudem hätte Schottelius dann die Diskrepanz zwischen effizientem politischem Wirken und dem Rückzug in eine abgeschiedene Gelehrtenexistenz entweder umgehen oder diskreter behandeln müssen.1882 Nicht ohne besonderen Grund aber lässt er Germania unter mehreren anderen auch eine römische Bibliothek erwähnen, welche – so will es eine „Rhetorik ostentativer Beiläufigkeit“1883 – zuvor in Heidelberg gestanden hatte. Dabei handelt es sich um die renommierte, calvinistisch ausgerichtete Bibliotheca Palatina, welche während des böhmisch-pfälzischen Krieges 1620–1623 beschlagnahmt und in den Vatikan verschleppt worden war.1884 Die Büchersammlung wurde somit einerseits dem Zugriff ihrer rechtmäßigen Besitzer und Nutzer entzogen, diente andererseits aber auch zur Dokumentation der in der Pfalz herrschenden Häresie. Selbstverständlich erregte dieses Ereignis großes Aufsehen in protestantischen Kreisen und provozierte sogar konfessionspolitische Rückeroberungspläne.1885 Im April 1632 entstand in Heidelberg unter der Ägide des Gelehrten Ludwig Camerarius der Plan, sowohl die Palatina als auch den besiegten und exilierten König Friedrich von Böhmen ins Reich zurückzuholen. Wenn Schottelius seine Heroine die Überlegenheit der Braunschweiger Bibliothek über die anderen herausstellen lässt, kann es ihm nicht darum gehen, die von ihm stets beklagte Uneinigkeit und Zerstrittenheit innerhalb Deutschlands durch Erzeugung neuer Rivalitäten zu schüren.1886 Vielmehr soll die Bibliotheca Augusta in kulturpatriotischer Hinsicht die Nachfolge der geraubten und außer Kraft gesetzten Palatina antreten.1887 Kurz nach dem Tod der großen Galionsfigur des protestantischen Kulturpatriotismus, des schlesischen Poeten und Dichtungsreformers Martin Opitz, entwickelt Schottelius den
1880 Ebd., S. 302. 1881 Ebd. 1882 Ebd. 1883 Ebd., S. 306. 1884 Ebd., S. 303 ff. 1885 Ebd., S. 304 f. 1886 Ebd. 1887 Ebd., S. 306.
3.2.2 Justus Georg Schottelius (1612–1676): Lamentatio Germaniae Exspirantis
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Ehrgeiz, durch unermüdliche Förderung und Kultivierung der Muttersprache das Fundament auch zur moralischen und politischen Rettung Deutschlands zu schaffen. Für dieses ambitionierte Unternehmen muss er seinen Herzog gewinnen.1888 In diesem Sinne ist Germanias Lob auf die Bücher zu verstehen, welche im Gegensatz zu dem sie beherbergenden Schloss Dankwarderode die Unbilden der Zeit überstehen (825–844), als auch die besondere Hoffnung, welche sie auf das großzügige Mäzenatentum des Herzogs setzt (845–860). Am deutlichsten formuliert sie ihre Erwartungen folgendermaßen: Der endlich selber wird Mir noch zu grösten ehren Die Muttersprache erst auff einen Schawplatz fuhren/ Wovon sie trotzig wird Europen ubersehn Mit dem Erheber selbst hindurch die Wolcken gehen.1889
Wenn bereits konstatiert wurde, dass Schottelius durch den Mund seiner Germania versucht habe, den Herrscher „offensichtlich nicht nur für pazifistische, sondern auch für sprachpolitische Interessen zu gewinnen,“1890 so ist diese Beobachtung insofern zu vervollständigen, als die Bestrebungen der Sprachpatrioten an sich immer zugleich auf den Kampf um moralische und politische Wiederherstellung des Vaterlandes abzielten. Was in der Lamentatio zuvor ex negativo anhand der Alamode-Kritik demonstriert worden war, erscheint nun zum Abschluss in Positive gewendet als Forderung an den Herzog. In den letzten drei Strophen ihrer Klage wendet sich Germania wieder direkt an Gott selbst.1891 Dieser könne noch einige wahre fromme und vaterlandsliebende Deutsche entdecken, die der Erbarmung und Gnade wert seien. Sie selbst verspricht ihm Lob und Dankeslieder und antizipiert, die Eingangsworte ihrer Lamentatio wiederaufgreifend, die Erleichterung über ihre Rettung und Selbstfindung: Nun wol mir/ mehr als wol! daß ich mich wieder kennen Und recht durchschawen kann: Nun wol mir/ ich kann nennen Mich selbst die ich selbst bin. Nun seh’ ich daß es soll Mir und den Meinen seyn Nun wieder mehr als woll.1892
1888 Ebd. 1889 Fol. E 2 v. 1890 Stockhorst, S. 7. 1891 Fol. E 3 r. 1892 Ebd. Kaminski, S. 301 konstatiert zwar mit Recht, dass sich „die wehklagenden Eingangsverse in ihr genaues Gegenteil verkehren“, wenn sie aber ihre Überraschung darüber äußert, dass „eine Germania renascens et repullulans quasi, sive rediviva den Plan betritt“, scheint sie zu übersehen, dass Germania nur vorwegnimmt, was sie nach ihrer (erhofften) Rettung zu Gott sagen wird.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
Schottelius hat mit seiner Lamentatio wohl die ambitionierteste Germania-Heroide verfasst. Ebenso wie Paul Fleming neun Jahre zuvor schreibt er in heroischen deutschen Alexandrinern, ebenso wie dieser fasst er angesichts eines sich verselbständigenden Krieges den allgemeinen Kriegsüberdruss und die stetig zunehmende Friedenssehnsucht in Worte. Im Gegensatz zu den Heroiden anderer Autoren fehlt das klarumrissene fiktionale Konstrukt, nach welchem ein ausdrücklich in seiner Materialität erwähnter Brief an einen namentlich genannten Adressaten bzw. an ein namentlich, dynastisch oder sozial kenntlich gemachtes Adressatenkollektiv gerichtet ist. Zwar stellt die Vorrede zur Lamentatio eine Widmung derselben an Herzog August von Braunschweig dar, doch wird dieser im Text selbst erst nach 800 Versen genannt, und auch dann nur in der dritten Person. Zuvor gilt die unmittelbare Ansprache einer moralisch und kulturpatriotisch definierten Leserschaft von Deutschen sowie (in psalmähnlicher Gebetsform) Gott selbst. Mit einigem Aufwand betreibt Schottelius die Allegorisierung seiner Heroine, die sich wie bei Fleming als gestürzte und verelendete Königin präsentiert. Die Beschreibung ihres entstellten Äußeren erfolgt an verschiedenen Stellen mit schaudererregenden Details, welche bisweilen an Darstellungen der Passion Christi erinnern. Durchweg bedient sich Germania einer Metaphorik des Sterbens, Todes und Suizides, was an sich nicht neu ist, aber doch mit einer bis dahin noch nicht beobachteten Intensität geschieht. Hinzu kommt angesichts eines virulenten Ratio Status-Diskurses das Diktum von der todbringenden Medizin und den Fremden, welche als vermeintliche Freunde Deutschland den Tod bringen. Germania zeigt eine beunruhigende Neigung zu paradoxen Formulierungen, wie sie in den refrainartig wiederholten Versen von der Apathie im Leid als größtem Glück ihren Ausdruck findet. Zahlreiche Komposita mit Mensch und Christ, darunter bevorzugt Menschenfleisch, Menschenfett, Christenblut gehen möglicherweise auf Opitz zurück. Der in den lateinischen humanistischen Germania-Heroiden unerlässliche Antibarbaries-Topos wird hier zu einem umfangreichen Plädoyer für den Sprachpatriotismus ausgebaut. Die äußerst drastische Alamode-Kritik und das Lob der Braunschweiger Bibliothek sind als Protreptik zur Pflege der Muttersprache aufzufassen, einem Unterfangen, das die kulturell-moralische Wiederherstellung Deutschlands und somit sukzessive auch den Frieden bewirken soll. Zur Lamentatio lassen sich zahlreiche Parallelen aus Schottelius’ anderen Werken anführen, aber auch solche aus den Texten seiner deutsch schreibenden Zeitgenossen. Als Referenzmodelle erscheinen Gedichte von Martin Opitz, Andreas Gryphius, und Paul Fleming, als Fortschreibung und Weiterentwicklung einzelner Konstrukte (z. B. der zunächst desillusionierenden redivivus-Fiktion) Johann Rist. Auch wenn Schottelius’ Bedeutung eher auf seinen sprachtheoretischen und philologischen als auf seinen poetischen Leistungen beruht, wird man der
3.2.3 Hans Aßmann von Abschatz (1646–1699): Alrunens Warnung
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Lamentatio zugestehen müssen, dass sie in einem aufwendigen Panorama die damalige Verflechtung von scheinbar disparaten Diskursen demonstriert. Theologische und ästhetische, pazifistische und antifranzösische, sprachpuristische und patriotische Argumentationsmuster gehen eine seltsame Symbiose ein – und dies nicht zufällig aus dem Mund des personifizierten Deutschlandes.
3.2.3 Hans Aßmann von Abschatz (1646–1699) Alrunens Warnung an Deutschland (nicht datiert) Der Name Hans Aßmann von Abschatz begegnet meist im Zusammenhang mit der sogenannten Zweiten Schlesischen Schule, als deren Häupter Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau und Daniel Casper von Lohenstein gelten. Zu Lebzeiten kannte und schätzte man Abschatz hauptsächlich als Übersetzer italienischer und französischer Dichtungen; erst nach der postumen Veröffentlichung seiner eigenen Produktionen 1704 durch Christian Gryphius, den Sohn des berühmten Lyrikers und Dramatikers Andreas Gryphius, wurde ein über den engeren Freundeskreis hinausgehendes Publikum auch auf den Poeten aufmerksam.1893 Im Gegensatz zu seinen beiden berühmten Landsleuten stammte Hans Aßmann von Abschatz aus einem alten schlesischen Adelsgeschlecht, welches bis 1294 urkundlich nachweisbar ist, möglichweise aber noch früher schon durch besondere kriegerische Leistungen hervorgetreten war.1894 Bereits im 16. Jahrhundert hatte die Familie den protestantischen Glauben angenommen und sich fortan die Pflege und Verteidigung desselben zur vornehmsten Aufgabe gemacht.1895 Am
1893 Noch heute maßgeblich Hans Aßmann von Abschatz: Poetische Übersetzungen und Gedichte. Faksimiledruck nach der Gesamt-Ausgabe von 1704 mit der Vorrede von Christian Gryphius. Hrsg. von Erika Alma Metzger. Bern 1970 (Nachdrucke deutscher Literatur des 17. Jahrhunderts). 1894 In seinem monumentalen Roman Arminius lässt Lohenstein den König Marbod einen Vorfahren von Abschatz zum Ritter schlagen – wahrscheinlich eine liebenswürdige Reverenz des Autors gegenüber seinem Freund. Eine Teilnahme dieser Familie an der Mongolenschlacht bei Liegnitz 1241 liegt dagegen durchaus im Bereich des Möglichen. Bernhard Asmuth: Hans Aßmann von Abschatz. In: Helmut Neubach und Ludwig Petry (Hrsg.): Schlesische Lebensbilder. Bd. 5: Schlesier des 15. bis 20. Jahrhunderts. Würzburg 1968, S. 51–62, hier S. 52. 1895 Erika A. Metzger: Art. Abschatz, Hans Aßmann Frhr. von. In: Killy / Kühlmann. Bd. 1, S. 15– 16, hier S. 15; Erika A. Metzger: Hans Aßmann von Abschatz. In: James Hardin (Hrsg.): German Baroque Writers. 1661–1730. Detroit 1996 (Dictionary of literary biography 168), S. 19–25, hier S. 20; Asmuth, S. 52; Rudolf Alexander Schröder: Hans Aßmann von Abschatz. Ein vaterländischer Dichter des schlesischen Barock. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 3. Berlin / Frankfurt am Main 1952, S. 722–738, hier S. 726.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
4. Februar 1646, wenige Monate vor Gottfried Wilhelm Leibniz, kam Abschatz als jüngstes von sechs Kindern des Liegnitzer Landesbestellten Johann Erasmus Abschatz zur Welt. Sein Geburtsort ist umstritten: Gegenüber dem elterlichen Gut Würbitz1896 führt man in neuerer Zeit eher Breslau1897 an. Über die folgenden Ereignisse, oftmals Todesfälle in der Familie, ist die Nachwelt nicht zuletzt durch ein 53-strophiges, von fromm-erbaulichen Sentenzen durchzogenes Gedicht unterrichtet, welches im Tenor an die Confessiones des Kirchenvaters Augustinus erinnert und als Beispiel einer poetischen Autobiographie gelten kann, nämlich durch die Betrachtung funffzigjährigen LebensLauffs. In diesen Strophen, welche einmal mehr, einmal weniger exakt einem Lebensjahr zugeordnet sind, bringt der Autor durchweg das Wissen um seine grundsätzliche (nicht näher geschilderte) Sündhaftigkeit und das Bedürfnis nach Vergebung derselben zum Ausdruck. Bereits in frühester Jugend wurde Abschatz zum Waisen. Mit vier Jahren verlor er seinen Vater (und beinahe sein eigenes Leben) bei einer Brandkatastrophe, mit 13 Jahren die Mutter durch eine schwere Krankheit, eine Lähmung der linken Körperhälfte. Sein Onkel Georg Friedrich nahm ihn freundlich auf und ermöglichte ihm seine weitere Bildung.1898 Von 1658 bis 1664 besuchte Abschatz das Gymnasium in Liegnitz, wo er auch bei Schultheateraufführungen mitwirkte und einmal sogar in einem allegorischen lateinischen Drama, welches von der Versuchung und Rettung einer menschlichen Seele handelte, die Liebe Gottes darstellen durfte.1899 Auf den Tod seines Onkels im Dezember 1662 reagierte der 17-jährige Schüler mit dem Druck seiner ersten Verse unter dem Titel TrauerZypressen.1900 Von 1664 bis 1666 studierte Abschatz gemeinsam mit seinen alten Schulfreunden, den Brüdern Hermann Georg und Hans Christoph von Schweinitz, Rechtswissenschaft in Straßburg, das damals bereits entweder als Ausbildungsstätte oder als Wirkungsfeld mit den Namen großer Poeten wie Andreas Gryphius, Johann Fischart und Johann Michael Moscherosch verbunden war.1901 1666 setzten die drei Freunde ihr Studium an der Universität in Leiden fort, welche durch ihr wissenschaftliches Prestige und die in politisch-konfessioneller Hinsicht vergleichsweise liberale Atmosphäre eine große Attraktivität für Deutsche, insbesondere aber für schlesische Protestanten, besaß. Namhafte Rechtsgelehrte
1896 Vgl. R. A. Schröder: Hans Aßmann von Abschatz, S. 726. 1897 Carl Hanns Wegener: Hans Aßmann Freiherr von Abschatz. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Literatur im 17. Jahrhundert. Berlin 1919 (Forschungen zur neueren Literaturgeschichte 38), S. 7; Metzger, S. 52; Art. Abschatz (Killy / Kühlmann), S. 15; Asmuth, S. 52. 1898 Art. Abschatz (Killy / Kühlmann), S. 15; Metzger, S. 20; Wegener, S. 8 f.; Asmuth, S. 53. 1899 Wegener, S. 9; Asmuth, S. 53. 1900 Wegener, S. 10; Asmuth, S. 53. 1901 Wegener, S. 11; Asmuth, S. 54.
3.2.3 Hans Aßmann von Abschatz (1646–1699): Alrunens Warnung
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wie Justus Lipsius und Hugo Grotius hatten dort gewirkt, aber auch Abschatz’ Landsleute Gryphius, Hoffmannswaldau und Lohenstein waren dort miteinander oder mit anderen Autoritäten der Zeit in Kontakt gekommen. Als die Holländer im Juni 1666 einen Seesieg über die Engländer errungen hatten, demonstrierten die schlesischen Studenten ihre Solidarität mit den Niederlanden, indem sie von einem Schiff aus vor Tausenden von Zuschauern ein Feuerwerk veranstalteten und die Sieger mit „Vivant Batavi“-Rufen feierten. Dies trug ihnen Danksagungen durch den Rektor der Universität und eine lobende Erwähnung in der Zeitung ein.1902 Nach nur einem Semester unternahm Abschatz mit seinen beiden Begleitern eine dreijährige Bildungsreise durch die spanischen Niederlande, Frankreich (Paris) und Italien (Rom, Terracina, Neapel, Florenz, Venedig, Verona, Brescia, Gardasee).1903 Glaubt man seinen eigenen lateinischen Kommentaren, war es ihm weniger um die Besichtigung von Gebäuden, Monumenten und Raritäten zu tun als um das Studium fremder Sprachen, Sitten und Gebräuche.1904 Rom, das er schon vor Weihnachten 1667 erreicht hatte, erlebte er zu einer Zeit, als gerade ein Papstwechsel anstand und die Stadt, insbesondere durch Bernini und dessen Ausgestaltung des Petersplatzes, ihr bis heute dominierendes barockes Erscheinungsbild erhielt.1905 Seine vielfältigen Reiseeindrücke verarbeitete Abschatz in lateinischen und deutschen Gedichten.1906 Möglicherweise hatte er noch in Italien die Gelegenheit, Gianbattista Guarinis berühmtes Schäferspiel Il Pastor Fido zu sehen, welches er schon dort in deutsche Verse zu übertragen begann – die Leistung, welche ihm die größte Anerkennung zu Lebzeiten einbringen sollte.1907 1669 begann für Abschatz mit der Rückkehr nach Schlesien ein neuer, teils als beschwerlich empfundener Lebensabschnitt. Er übernahm die Bewirtschaftung eines von seiner Tante geerbten Gutes, eine Arbeit, die er nicht ohne schwarzen Humor als Eremitentum, banalisierte Königsherrschaft und Verlust seiner bisherigen Freiheit beklagt.1908 Im selben Jahr noch heiratete er die ihm schon länger bekannte Anna von Hund, welche er in Liebesgedichten unter dem Pseudonym
1902 Wegener, S. 12; Asmuth, S. 54 f. 1903 Wegener, S. 13; Asmuth, S. 55. 1904 Asmuth, S. 55. 1905 Ebd., S. 55. 1906 Art. Abschatz (Killy / Kühlmann), S. 15. 1907 Wegener, S. 13; Asmuth, S. 55. 1908 Wegener ebd.; Asmuth ebd.; R. A. Schröder: Hans Aßmann von Abschatz, S. 728; Metzer, S. 21. Vgl. Betrachtung funffzigjährigen LebensLauffs. In: Abschatz: Poetische Übersetzungen und Gedichte. [Himmel =Schluessel], S. 144–150, hier S. 146: Es soll die Lebens-Art izt gantz geändert seyn/ GOtt will mich in das Joch der Wirthschafft spannen ein/ Was meinen Eltern hat entzogen Krieg und Brand/ Gewährt mir seine Gunst durch fremde Mutter =Hand.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
Anemone oder Amaranthe verherrlichte.1909 Dem Paar, das die nächsten Jahre abwechselnd auf verschiedenen eigenen Landgütern verbrachte, sollten eine harmonische Ehe von 30 Jahren und sechs Kinder, aber auch wiederholte Gefahren (Brände in der Nachbarschaft), wirtschaftliche Misserfolge und Todesfälle in der Familie beschieden sein.1910 Eine scharfe Zäsur (nicht nur) in Abschatz’ Leben bedeutete der unerwartete Tod des letzten schlesischen Herzogs Georg Wilhelm im November 1675. Mit dem erst 15-jährigen Jungen erlosch die uralte, seit Jahrhunderten in Polen und Schlesien regierende Dynastie der Piasten, und die verwaisten Gebiete Brieg, Wohlau und Liegnitz wurden von Kaiser Leopold I., der auch König von Böhmen war, in Besitz genommen. Dies bedeutete, wie Abschatz richtig vorhersah, das Ende der konfessionellen und ständischen Freiheit Schlesiens, da der Habsburger auch dort nun energisch die Gegenreformation vorantrieb.1911 Jeder, der Ehrgeiz auf poetischem Gebiet besaß, verfasste Klageverse auf den Tod des jungen Georg Wilhelm, darunter auch Hoffmannswaldau und Abschatz.1912 Letzterer nahm von da an ebenso wie sein Vater politische Betätigungen auf. 1679 wurde er zum Landesbestellten des Herzogtums Liegnitz und Deputierten bei den Fürstentagen in Breslau ernannt. 1683 reiste er als Syndikus der Liegnitzer Stände, im Jahr darauf als Gesandter von ganz Schlesien an den Kaiserhof nach Wien (auch darin Lohenstein vergleichbar), wo er die Interessen seiner protestantischen Landsleute mit großem Engagement vertrat.1913 Dies trug ihm sowohl bei der Bevölkerung als auch bei Hofe großes Ansehen ein. Wegen seines diplomatischen Geschicks und seiner erfolgreichen Vermittlung in Streitfällen ernannte ihn Kaiser Leopold am 26. 08. 1695 zum Freiherrn mit erblichem Titel.1914 Das Leben scheint sich für Abschatz in seinen letzten 15 Jahren verdüstert zu haben. In seiner Betrachtung funffzigjährigen LebensLauffs klagt er über Missernten, erhöhte Steuern, Lebensmittelknappheit, schwindende Gesundheit und den Tod von Kindern und Familienangehörigen.1915 Als Abschatz seine erkrankte Frau von einem auswärtigen Gut zur Gesundung nach Liegnitz gebracht hatte, erlag er am 22. April 1699 mit nur 53 Jahren einem Schlaganfall.1916 Zwei Tage später verstarb die Frau. Diese bemerkenswerte Koinzidenz inspirierte die Hinterbliebenen zum Vergleich dieser beiden Eheleute mit großen Paaren
1909 Art. Abschatz (Killy / Kühlmann), S. 15; Metzger, S. 21. 1910 Wegener, S. 14 f.; R. A. Schröder: Hans Aßmann von Abschatz, S. 728 f. 1911 Wegener, S. 15; R. A. Schröder: Hans Aßmann von Abschatz, S. 731. 1912 Wegener, S. 15. 1913 Wegener, S. 16; R. A. Schröder: Hans Aßmann von Abschatz, S. 731. 1914 Art. Abschatz (Killy / Kühlmann), S. 15. 1915 Asmuth, S. 57. 1916 Ebd.
3.2.3 Hans Aßmann von Abschatz (1646–1699): Alrunens Warnung
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aus Geschichte und Mythos, welche für ihre eheliche Liebe und Treue berühmt waren. Mann und Frau wurden am 26. April in der Peter- und Paul-Kirche in Liegnitz bestattet. Das Geschlecht der Abschatz existierte noch bis 1828.1917 Das von Hans Aßmann von Abschatz hinterlassene Werk, in einer Sammelausgabe gemeinsam mit der Trauerschrift FreyherrlichAbschatzisches EhrenGedächt niß publiziert von Christian Gryphius, umfasst sowohl dessen Übersetzungen als auch eigene Dichtungen. Zu ersteren zählen Alexandri Adimari SchertzSonnette, als besonders gelungen gelten Die angenehme Wüsteney nach Marc Antoine de Saint-Amants Ode La Solitude und vor allem der wesentlich bekanntere Teutschre dende Treue Schäffer nach Giovanni Battista Guarinis Il Pastor Fido, eine Übersetzungsleistung, welche selbst Hoffmannswaldau, der sich an demselben Sujet versucht hatte, über seine eigene stellte. Abschatz’ eigene Poesie besteht aus den Liebesgedichten Anemons und Adonis Blumen, aus der Sammlung Himmelschlüs sel oder Geistliche Gedichte, aus den SchertzGrabschrifften und den Vermischten Gedichten, welche sich wiederum in die sogenannten Ehren und Leichengedichte untergliedern. Sowohl die Zuordnung zu einer bestimmten stilistischen Richtung als auch der poetische Rang des Schlesiers sind umstritten: So kann er als Vertreter der galanten Dichtung oder aufgrund seiner fortwährend begegnenden hofkritischen Reflexionen auch als deren Antipode erscheinen. Ebenso besteht Uneinigkeit, ob er bloß ein Epigone von Lohenstein und Hoffmannswaldau, ein ambitionierter Poet von begrenztem Talent oder sogar eine verkannte Begabung sei.1918 Alrunens Warnung an Deutschland ist das vierte der sechs Ehren =Gedich te.1919 Eröffnet wird dieser kurze Zyklus mit der panegyrischen Schrift Zu Herrn Daniel Caspars von Lohenstein Deutschem Arminius, einer Würdigung der patriotischen Dichtung im Allgemeinen, der eines besonders ambitionierten Romanprojektes im Besonderen. Letzteres meint Lohensteins monumentalen, 18 Bücher und ca. 3000 Seiten umfassenden Liebes- und Abenteuerroman Grossmüthiger Feldherr Arminius, welcher quasi ein Kompendium aller damaligen Wissensge1917 Asmuth, S. 58; Wegener, S. 25. 1918 Vgl. Art. Abschatz (Killy / Kühlmann), S. 15–16; Metzger, S. 19–25; Asmuth, S. 51–62; R. A. Schröder: Hans Aßmann von Abschatz, S. 722–738; Wegener; Erdmann Neumeister: De poetis Germanicis (1695). Hrsg. von Franz Heiduk. Bern / München 1978 (Nachdruck von 1695), S. 131–133; Johann Siegmund John: Parnassus Silesiacus Sive Recensio Poetarum Silesiacorum. Centuria I. Breslau 1728, S. 8–11 [FB Gotha: Magazin: Biogr. 8°00756/01(04,01)]; Franz Heiduk: Die Dichter der galanten Lyrik. Bern / München 1971, S. 23–25; Angelo George de Capua: German Baroque Poetry. Interpretive Readings. Albany (New York) 1973, S. 134–142; Arno Lubos: Geschichte der Literatur Schlesiens. Bd. 1. München 1960, S. 128–129. 1919 Hans Aßmann von Abschatz: Ehren =Gedichte. In: Abschatz: Poetische Übersetzungen und Gedichte, S. 47–60.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
biete darstellte und nicht zuletzt wegen seiner Eignung zum Fürstenspiegel bis ins 18. Jahrhundert hinein mancher Generation von jungen Adligen als Pflichtlektüre auferlegt wurde.1920 Somit ist für die nicht datierten (und näher datierbaren) Ehren =Gedichte das Jahr 1683, Lohensteins Tod, als terminus post quem gegeben, zumal die Lobschrift eine Würdigung des gerade verstorbenen Romanautors darstellt und in der postumen Erstausgabe des Arminius von 1689/1690 dem Text vorangestellt ist. Sowohl der Arminius als auch die Ehren =Gedichte verdanken ihre Entstehung den langwierigen deutsch-französischen Auseinandersetzungen und der damit einhergehenden patriotischen Begeisterung im Reich.1921 Seit den 1660er Jahren hatte Ludwig XIV. in dem Bestreben, den Habsburgern die Vormachtstellung in Europa streitig zu machen, erst die Spanischen Niederlande, dann die Niederländischen Generalstaaten angegriffen und schließlich den Kaiser herausgefordert.1922 Von 1674 bis 1678 dauerte der Krieg zwischen dem französischen König und Leopold I. samt ihren Verbündeten. Auch nach den Friedensschlüssen von Nimwegen (1678) und St. Germain (1678) verbesserte sich das Verhältnis zwischen den beiden Nationen nicht wesentlich. Als Frankreich 1681 Straßburg annektierte, löste dies im Reich eine Welle der Empörung aus, welche einem reichsständisch-patriotischen Solidaritätsgefühl zustatten kam. Die Furcht vor einer Spaltung des Reiches wurde dadurch noch verschärft, dass sich immer wieder einzelne deutsche Fürsten zur Allianz mit Frankreich bereit fanden, um ihre eigennützigen Interessen zu fördern. Im tagespolitischen Schrifttum dominierte die Forderung nach einem über konfessionelle und partikulare Zwistigkeiten hinaus wirksamen, einträchtigen Vorgehen der Stände unter einem starken Kaiser. Vor diesem politischen Hintergrund ist Lohensteins Arminius, auf welchen sich Abschatz immer wieder mehr oder minder explizit bezieht, als Schlüssel-
1920 Klaus Kösters: Mythos Arminius. Die Varusschlacht und ihre Folgen. Münster 2009, S. 109. 1921 Vgl. Thomas Borgstedt: Reichsidee und Liebesethik. Eine Rekonstruktion des Lohensteinschen Arminiusromans. Tübingen 1992 (Studien zur deutschen Literatur 121), S. 17 ff.; Volker Meid: Im Zeitalter des Barock. In: Walter Hinderer (Hrsg.): Geschichte der politischen Lyrik in Deutschland. Würzburg 2007, S. 97–121, hier S. 112 ff. 1922 Martin Wrede: Das Reich und seine Feinde. Politische Feindbilder in der reichspatriotischen Publizistik zwischen Westfälischem Frieden und Siebenjährigem Krieg. Mainz 2004 (Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz 196), S. 349 ff.; Martin Wrede: Türkenkrieger, Türkensieger. Leopold I. und Ludwig XIV. als Retter und Ritter der Christenheit. In: Christoph Kampmann u. a. (Hrsg.): Bourbon – Habsburg – Oranien. Konkurrierende Modelle im dynastischen Europa um 1700. Köln u. a. 2008, S. 149–165; Brigitte Hamann: Die Habsburger, S. 252–255; Anton Schindling: Leopold I. 1685–1705. In: Anton Schindling und Walter Ziegler (Hrsg.): Die Kaiser der Neuzeit 1519–1918. Heiliges Römisches Reich, Österreich, Deutschland. München 1990, S. 170–185; G. Schmidt: Geschichte des Alten Reiches, S. 181 ff.
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roman angelegt. Die zeitgenössischen Konflikte werden in die augusteische Zeit zurückprojiziert. Nach einem äußerst komplizierten, minutiös konstruierten Analogieschema finden die maßgeblichen Akteure der Auseinandersetzung zwischen Ludwig XIV. und dem Reich ihr Pendant in den Vertretern der römischen Weltmacht (Augustus, Varus usw.) und denen des freiheitsliebenden Germaniens (Hermann, Flavius, Segesth usw.). Das erste von Abschatz’ Ehren =Gedichten vermittelt zunächst den Anschein von Resignation. In 30 Strophen von jeweils sechs Alexandrinern erklingt ganz im Sinne der zeittypischen Vanitas-Topik eine ausgedehnte Klage über die Vergänglichkeit menschlichen Ruhmes. Das Fortleben der Helden im Gedächtnis der Nachwelt, so die Argumentation, ist abhängig von der Bekundung durch einen Dichter. Sowohl Römer als auch Griechen haben teils aus Unkenntnis, teils aus Missgunst und Eifersucht nur unzulänglich über die Germanen berichtet. Die Franzosen (Franken) verkennen oder leugnen ihre einstige Zugehörigkeit zu den Deutschen und streben nun in der Nachfolge Roms nach alleiniger Weltherrschaft. Ebenso wenig sind Spanier und Italiener in irgendeiner Weise bereit, die Verdienste der Bewohner dieses als kulturlos geschmähten Landes anzuerkennen. Da also von keiner auswärtigen Nation ein gerechtes Urteil zu erwarten ist, müssen die Deutschen – in berechtigter Zuversicht angesichts der bereits vollzogenen translatio artium – ihre Geschichte selbst schreiben. Diesem Bedürfnis ist Lohenstein mit seinem monumentalen, wenn auch unvollendeten Roman Grossmüthiger Feldherr Arminius gerecht geworden. Leider war es ihm nicht mehr vergönnt, die ruhmreiche Geschichte bis zu den Kaisern der Gegenwart fortzuführen. Diesen bedauerlichen Umstand deutet Abschatz jedoch zu dem hoffnungsvollen Vorzeichen um, dass deren Siege ebenso wie Lohensteins Buch kein Ende nehmen werden. Mit dem zweiten Gedicht aus dieser Sammlung setzen die sogenannten Bardenlieder ein. Der nicht näher erläuterte Titel Ißbrands Barden =Lieder/ in der Drachen =Insel zwischen der Oder und Bartsch in der weit =berühmten schönen Eiche gefunden/ und nach itziger Mund =Art verbessert. Winter =Grün verstorbe ner Helden scheint die Kenntnis einer bestimmten germanischen Mythologie bei den Rezipienten vorauszusetzen. Die Form dieses Gedichts ist bemerkenswert: 11 Strophen zu jeweils vier Alexandrinern werden von einem langen Namenskatalog ohne Strophenform abgelöst. Zu Beginn verkündet der Sprecher, ein (den gebildeten Zeitgenossen bekannter?) Barde namens Ißbrand, er habe ein uraltes germanisches Adelsdokument, ein mit dem Schwert auf Birkenholz geritztes Verzeichnis alter Heldennamen, im Stamm einer berühmten Eiche verborgen. Der Barde rekapituliert die ruhmreiche Geschichte der Vorfahren, welche sich einst unter Hermanns Leitung gegen die Römer behauptet hätten, wobei er sich zur Darstellung der Kämpfe drastischer Tiermetaphern bedient. Fast die Hälfte des
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Gedichts wird – unter Aufgabe der Strophenform – von einem 44 Verse umfassenden Katalog beansprucht, welcher die Namen der zeitgenössischen deutschen Adelsgeschlechter enthält, die der Behauptung Ißbrands zufolge schon damals bei der Vertreibung der Römer erfolgreich mitgewirkt haben. Ziemlich in der Mitte erscheint Abschatz’ eigener Name, unmittelbar gefolgt vom Geschlecht Knobelsdorff, aus welchem ebenfalls ein Verfasser einer Germania-Heroide hervorgegangen war. Dieses Namensverzeichnis soll gemäß der im Humanismus konstruierten origo-Theorie die Kontinuität von Germanen und Deutschen verbürgen, aber auch die Nachwelt motivieren, sich durch eigene Leistungen als würdige Nachkommen der alten Helden zu legitimieren. Inhaltlich ähnlich, aber formal stark abweichend, präsentiert sich das dritte Gedicht Deutscher Ehren =Preiß als beinahe modern anmutendes Kampflied in sieben Strophen zu je sechs kurzen Versen, welche wiederum in einen Paarreim und einen umarmenden Reim gegliedert sind. In einem wesentlich sangbareren und somit einprägsameren Rhythmus ruft Ißbrand hier die deutsche Jugend auf, ihr müßiges Wohlleben im blutigen Kampf mit einem nicht näher bezeichneten Feind gegen Kriegsruhm einzutauschen und sich den Ehrentitel Edles Blutt zu verdienen. Ein derartiges Kampflied stellt auch das fünfte Gedicht mit dem Titel Eisen = Hüttel dar. In vier Strophen, welche jeweils aus einem Kreuzreim und zwei Paarreimen bestehen, begegnet wiederum der eindringliche Appell, in den Krieg zu ziehen, wobei diesmal eher die Notwendigkeit der Grenzsicherung zur Gewinnung eines dauerhaften Friedens im Fokus steht. Aus der auch hier gebrauchten Tier-Metaphorik (Krötten/ die unsern Rhein betreten […] Des Hahnes Prahlerei) lässt sich allerdings entnehmen, dass der heimtückische und zu Bestechungsmethoden greifende Feind im französischen Lager zu suchen ist. Topik und Diktion dieser Kampflieder scheinen schon auf das Pathos der Freiheitskriege des 19. Jahrhunderts vorauszudeuten. Das letzte der Ehren =Gedichte gehört nicht mehr den Ißbrand-Liedern an, sondern ist ein lateinisches Gratulationsepigramm auf die Geburt des siebten Kindes einer nicht näher bezeichneten vornehmen Familie. In acht elegischen Distichen liefert der Autor witzige Belege für die angeblich glücksbringende Bedeutung der ungeraden Zahl sieben und gibt lediglich in einer einzigen Anspielung (Heic septem Franci culmina Montis habes) Frankenberg als den Namen der Familie zu erkennen. Das vierte der Ehren =Gedichte und zugleich dritte der Ißbrand-Lieder trägt den Titel Alrunens Warnung an Deutschland und besteht aus 76 heroischen
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Alexandrinern.1923 Schon der Titel suggeriert, dass hier eine weitere Sprechinstanz ins Spiel kommt, und zwar ebenfalls eine mit übernatürlichen Fähigkeiten. Alrune – dies verweist auf Alraune oder Mandragora, eine faszinierende Nachtschattenpflanze, deren wie eine menschliche Gestalt geformte Wurzel von biblischen Zeiten an bis ins 19. Jahrhundert die Phantasie zu Wunderglauben und magischen Praktiken inspirierte.1924 Die Schriftsteller von der Antike bis zu den Brüdern Grimm schrieben der Pflanze heilsame oder schädliche, oftmals berauschende Wirkungen zu, empfahlen sie als Aphrodisiakum und Fruchtbarkeitsmittel oder verwarfen sie als Gegenstand von heidnischem Götzendienst oder Teufelsanbetung. Als dämonische Variante der Begeisterung für die Alraune kursierte in Mittelalter und Früher Neuzeit der volkstümliche Glaube an die wundertätigen Kräfte eines sogenannten Galgenmännleins. Dieses Männlein war nichts anderes als eine Alraune, welche unter einem Galgen aus dem Harn oder Sperma eines Gehenkten wuchs und demjenigen, der sie nachts unter streng einzuhaltenden Vorkehrungen (und unter großer Gefahr) herauszog und wie ein menschliches Wesen pflegte, nie versiegenden Reichtum bescherte.1925 Gelehrte Schriftsteller wie z. B. Johann Rist oder Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen berichteten von derartigen Bräuchen, um den Leser vor Geldgier, Teufelspakt und dem Verlust des Seelenheils zu warnen. Zieht man in Betracht, dass man dem Wurzelmännchen bisweilen auch die Fähigkeit zur Weissagung zuschrieb,1926 wird der Zusammenhang mit einem weniger verwerflichen Aspekt des Alraunenglaubens einsichtig. Noch die akademische Gelehrsamkeit des frühen 18. Jahrhunderts befasst sich mit Begriff, Etymologie und Bedeutung des Wortes alruna.1927 Demnach verehrten einst die Germanen unter dem Namen Alrune heilige Frauen, Priesterinnen und Prophetinnen.1928 Die Namensbestandteile führte man in
1923 In: Abschatz: Poetische Übersetzungen und Gedichte. [Ehren =Gedichte], S. 57–59. Aufgrund dieser Kürze erscheint es zulässig und ratsam, im Folgenden nach einer selbsteingeführten Verszählung zu verfahren. 1924 Vgl. Alfred Schlosser: Die Sage vom Galgenmännlein im Volksglauben und in der Literatur. Nachdruck der Ausgabe von Münster i. W. 1912 mit einem Beitrag von Claudia Müller-Ebeling über „Die Alraune in der Bibel“. Berlin 1987 (Ethnomedizin und Bewußtseinsforschung: Historische Materialien 4); Claudia Müller-Ebeling / Christian Rätsch: Zauberpflanze Alraune. Die magische Mandragora. Solothurn 2004 (Die Nachtschattengewächse – Eine faszinierende Pflanzenfamilie). 1925 Schlosser, S. 9 ff., 52 ff.; Ebeling / Rätsch, S. 100 ff. 1926 Schlosser, S. 9. 1927 Vgl. Johannis Samuel Schmidii Commentatio Epistolica de Alrunis Germanorum, […], qua de feminis et imagunculis sacris disseritur. Halle 1739. 1928 „Habebant veteres Germani inter se alrunas, hoc est, feminas sacras, ceu sacerdotes & prophetissas.“ Schmid, S. 5 f. „Alrunae erant feminae sagae, oracula reddentes & quae multa
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gelehrten Spekulationen zurück auf runa –Geheimnis,1929 runen –raunen, also geheime Dinge flüstern,1930 rune – weissagende Person, ob männlichen oder weiblichen Geschlechts.1931 Selbst Tacitus, der große Gewährsmann für die Lebensweise der angeblichen Vorfahren der Deutschen, soll sich in seinem die Religion betreffenden Kapitel1932 ausdrücklich auf Alrunen bezogen haben.1933 Während es strittig blieb, ob der römische Autor unter Alrune einen Eigennamen oder eine sakrale Amtsbezeichnung verstanden habe,1934 wurden die besondere Machtposition und Autorität dieser germanischen Seherinnen kaum angezweifelt.1935 Hans Aßmann von Abschatz orientiert sich in Bezug auf die germanische Vergangenheit offenbar am akademischen Kenntnisstand seiner Zeit, insbesondere aber an seinem literarischen Vorbild Lohenstein. Wie viel ihm an der seit dem Humanismus ohnehin geläufigen Behauptung einer Kontinuität von Germanen und zeitgenössischen Deutschen gelegen ist, bringt er zum Ausdruck, indem er diesmal eine Gestalt namens Alrune, wenn auch auf indirekte Weise, zur sprechenden Instanz seines Gedichtes macht. Somit nimmt er wahrscheinlich Bezug auf das achte Buch von Lohensteins Arminius, in welchem Hermann und Thusnelda ihre Hochzeit mit einem großen Aufwand an Zeremoniell und mit hochsymbolischen Riten begehen. Im Rahmen dessen stimmen dort zunächst Barden einen Lobgesang an, daraufhin erfolgt der Auftritt einer cimbrischen Wahrsagescire volebant, ut Tullius loquitur.“ Ebd., S. 22. 1929 „Oraculum itidem a Germanis appellatum esse runa, ex antiquitate satis constat.“ Ebd., S. 20. 1930 „Runen, ait sive raunen vox est ex intimo Germanorum antiquario, significatque magice susurrare, secreto loqui […]“ Ebd., S. 18. „Satis igitur, ut opinor, probavi, runa & runen, sive raunen propriissime denotare murmur & murmurare.“ Ebd.,S. 20. 1931 „Atque porro oracula eloquens aut interpretans, sive mas esset sive femina, a Germanis perinde vocabatur rune, Belgice een mommelaer. Adeoque feminae istae sacrae, […], quia in omnibus rebus oraculi instar erant patribus nostris, vocitabantur alrunae, praefixa particula al, omne. […] Oracula sunt mysteria.“ Ebd., S. 20. 1932 Vgl. Tac. Germ. 8, 3: vidimus sub divo Vespasiano Veledam diu apud plerosque numinis loco habitam; sed et olim Auriniam et complures alias venerati sunt, non adulatione nec tamquam facerent deas. 1933 „Aurinia illa, de qua TACITO multus sermo est.“ Schmidt, S. 57. „Altera alruna, cuius nomen antiquitatum monumentis consignatum est, salutabatur Velleda, virgo.“ Schmid, S. 59. 1934 „Auriniam vero, sive Alironiam, non ceu nomen proprium a TACITO recitari, sed muneris & honoris vocabulum semper fuisse, credo. De Aurinia igitur quadam, sive femina sacra, sermo est, cuius nomen proprium e memoria elapsum est TACITO.“ Ebd., S. 58. 1935 „Feminae Germanorum sanctae discrepabant ab extraneis. Nam illae sacerdotio pleno fungebantur, sic ut principes maiorem dignitatem sitire non possint, quam nonnullo tempore obtinuerunt alrunae vetulae. Feminae sacrae autem ceterarum gentium, ut imperarent, ut stata sacra, sacerdotibus propria peragerent, nusquam sibi sumserunt. Neque tanta prosperitas eas unquam consecuta est, ut cum alrunis nostris decernere possint de palma.“ Ebd., S. 61.
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rin, welche sich ein wenig später zur freudigen Überraschung aller Anwesenden als Hermanns totgeglaubte Mutter Asblaste zu erkennen geben wird: Dieser Art Weiber haben ihren Nahmen von ihrer Uhrheberin Alironia/ pflegen die gefangenen Feinde abzuschlachten/ in den Schlachten auf ausgespannten Häuten mit gewissen Klöppeln ein Geräusch zu machen/ und so wol aus denen Eingeweiden der geschlachteten Thiere/ als andern Zufällen künfftige Begebenheiten zu verkündigen.1936
Nach einem verzückten Tanz prophezeit die Seherin in zwei gereimten Strophen die künftige Bewährung des Brautpaares. Thusnelda werde mit ihrer (Leibes-) Frucht alle Gaben der Natur, der Bräutigam mit seiner Befreiungstat die Labsal aller Wasserquellen übertreffen.1937 Für Abschatz liegt es nahe, auf ein bereits von Lohenstein zur Geltung gebrachtes Figurenarsenal zurückzugreifen und somit zugleich dem verstorbenen Freund eine Reverenz zu erweisen. Anders, als der Titel vermuten lässt, meldet sich hier dieselbe autoritäre Instanz wie in den meisten übrigen Ehren =Gedichten zu Wort, nämlich der Priester Ißbrand, welcher die Prophezeiung der Alrune zitiert. Sowohl in seinem martialischen Tenor als auch in seiner protreptischen Form erinnert Abschatz’ Text am meisten an Georg Sabinus’ etwa 150 Jahre zuvor publizierte Elegie Ad Germaniam.1938 In beiden Fällen ist eine Heroidenform im strengen Sinne nicht gegeben, da die obligatorische Brieffiktion fehlt. In beiden Fällen richtet sich ein (weitgehend) im Hintergrund bleibendes lyrisches Ich mit einer Sittenpredigt und Kriegsparänese an den in Dekadenz versinkenden deutschen Adel, der sich als würdiger Abkömmling edler Krieger erweisen soll. Der Sprecher argumentiert meritokratisch; d. h. der Adel muss sein ererbtes privilegiertes Dasein durch eigene Leistungen, durch Heldentaten im Krieg, legitimieren. Alrune bzw. der sie zitierende Ißbrand wendet sich mit einer direkten Anrede an Deutschland und bringt dabei deutlich seine Unzufriedenheit zum Ausdruck. Mein Deutschland! mercke wohl/ was ich dir mit Verdruß/ (Doch hats der Himmel so verhangen) melden muß?1939
1936 Daniel Casper von Lohenstein: Grossmüthiger Feldherr Arminius. Mit einer Einführung von Elida Maria Szarota. Hildesheim / New York 1973, S. 1182. 1937 Ebd. 1938 Damit soll allerdings keine Abhängigkeit von Sabinus behauptet werden. 1939 Vgl. Georg Sabinus: Ad Germaniam, V. 1–2: Quo tua bellatrix abijt Germania virtus?/ Dissi milis nostro tempore facta tui.
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Die ersten acht Verse nehmen Bezug auf die soeben gewonnene Varus-Schlacht, also auf ein glückliches Ereignis, doch in relativierender Form (3 zwar izt), die einen folgenden Einwand erahnen lässt. Dein Herman hat zwar izt der Römer stoltze Pracht Durch wohlerfochtnen Sieg zu unsern Füssen bracht/ Die Wölffin ist erlegt durch deinen kühnen Arm/ Der Affter =Gott August frist sich in Leyd und Harm. Der frey =gemachte Rhein hebt nun sein Haubt empor/ Die Weser dringet sich der frechen Tyber vor:1940
Der bekanntlich aus dem Hinterhalt erfolgte Überfall auf die Legionen des römischen Statthalters Varus wird in komprimierter und euphemistisch nivellierender Darstellung auf einen wohlerfochtnen Sieg (4) reduziert, was ähnlich wie bei den Germania-Heroiden anderer Autoren,1941 aber auch wie im ersten Buch von Lohensteins Arminius den Eindruck einer offen ausgetragenen regulären Feldschlacht evoziert.1942 Rom erscheint in Gestalt der sprichwörtlichen Wölfin. Augustus, dessen bestürzte Reaktion dank Suetons drastischer Darstellung die Nachwelt als geflügeltes Wort im Munde führt,1943 wird als Affter =Gott, d. h. als heidnischer Abgott oder Götze gebrandmarkt. In knappster Form bedient sich Abschatz des im Humanismus beliebten Kunstgriffes, den Kampf zwischen zwei feindlichen Mächten durch Flussallegorien zu veranschaulichen.1944 Der seit jeher Germanien bzw. Deutschland repräsentierende Rhein und die Weser sind die beiden Flüsse, welche das Gebiet der Cherusker am weitläufigsten umfassen. Die Verse 9–14 enthalten den Einwand, dass der soeben erfolgte Sieg nur ein kurzfristiges Glück beschert habe, das weiterhin und stets aufs Neue verteidigt werden müsse. Die in allen Germania-Heroiden begegnende nachdrückliche Mahnung zur Einigkeit und Warnung vor Zwietracht, hier innerhalb der litera1940 Vgl. Abschatz: Sieghaffte Bestürm =und Eroberung des Türckischen Lagers bey Senta an der Theisse/ den 11. Septembr. An. 1697. In: Von Abschatz: Poetische Übersetzungen und Gedichte [Glückwünschungen an bekrönte und erlauchte Häubter] S. 24–26, hier S. 24. Dort gestaltet Abschatz eine Wechselrede zwischen den Flüssen Donau und Theiße. Die Donau eröffnet ihren Jubelgesang: Töchter/ auff Triumph zu singen! / Hebt eur schilfficht Haubt empor/ Lasst der feuchten Nimphen Chor/ Siegs = und Freuden =Lieder klingen! 1941 Vgl. Poemata Georgii Sabini: [Germania ad Caesarem Ferdinandum], S. 15 f.: Nil potuere tuae praestantes, Vare, cohortes,/ quas meus Arminius depulit ense suo. 1942 Zur Problematik von Verrat und Eidbruch bei Arminius vgl. Ralf-Peter Märtin: Die Varusschlacht. Rom und die Germanen. 4. Auflage. Frankfurt am Main 2009, S. 177 f. 1943 Vgl. Suet. Aug. 23, 2: adeo denique consternatum ferunt, ut per continuos menses barba capilloque summisso caput interdum foribus illideret vociferans: „Quintili Vare, legiones redde!“ diemque cladis quotannis maestum habuerit ac lugubrem. 1944 Vgl. Dörrie: Der heroische Brief, S. 458.
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rischen Fiktion an die Germanen gerichtet, betrifft in Wirklichkeit die in ihren partikularen Interessen aufgehenden deutschen Reichsfürsten. Abschatz lässt Ißbrand (und durch dessen Mund Alrune) noch schärfer formulieren (15–20): Man neidet Hermans Mutt/ verkleinert seinen Ruhm/ Gibt für/ er achte dich sein dienstbars Eigenthum: Es will jedweder Fürst bey dir ein König seyn/ Und fragt nicht/ ob dazu die Mittel treffen ein. Drauff folget Neyd und Haß/ samt Zwietracht/ Mord und List Biß du der Tummelplatz auch fremder Waffen bist.
Diese Verse nehmen somit Bezug auf Tacitus’ Behauptung, Arminius habe durch sein Streben nach der Königsherrschaft selbst seine eigenen Verwandten gegen sich aufgebracht und sei einem Anschlag zum Opfer gefallen.1945 Ob derartige nach römisch-republikanischem Ethos als verwerflich geltende Ambitionen tatsächlich Arminius’ Handeln motiviert haben, ist umstritten,1946 Abschatz lässt seine Sprecherinstanz(en) jedenfalls klagen, dass es sich um eine Verleumdung handle, die lediglich zu selbstzerstörerischen Streitigkeiten unter den germanischen Stämmen führe. Unschwer sind auch hier die Bezüge auf die Zwietracht der deutschen Fürsten des 17. Jahrhunderts zu erkennen. Die folgenden Verse über die schändliche Knechtung der Deutschen bzw. Germanen in fremden Diensten, welche zwar rein äußerliche Ehrbekundungen, aber keine angemessene Belohnung, im Gegenteil sogar Verderben und Krankheiten mit sich bringe (21–34), sind als harsche Kritik am römischen Söldnerwesen zu verstehen. Die literarische Ausgestaltung einer sogar innerfamiliär geführten Diskussion für und wider eine Kooperation mit den Römern findet sich bereits bei Tacitus, der ein Streitgespräch zwischen den auf unterschiedlicher Seite kämpfenden Brüdern Arminius und Flavus referiert.1947 Arminius, der den in der römischen Armee dienenden Bruder zum Kampf für die Freiheit des eigenen Volkes zurückgewinnen möchte, mokiert sich über eine Entstellung in Flavus’ Gesicht
1945 Vgl. Tac. ann. 2, 88, 2: ceterum Arminius, abscedentibus Romanis et pulso Maroboduo regnum adfectans, libertatem popularium adversam habuit, petitusque armis cum varia fortuna certaret, dolo propinquorum cedidit: liberator haud dubie Germaniae et qui non primordia populi Romani, sicut alii reges ducesque, sed florentissimum imperium lacessierit, proeliis ambiguus, bello non victus. 1946 Diese Sicht vom primär, wenn nicht ausschließlich aus persönlichem Ehrgeiz handelnden Arminius vertritt Märtin, S. 169. 1947 Vgl. Tac. ann. 2, 9–10. Beide Brüder positionieren sich ideell wie räumlich als Gegner, indem sie an den gegenüberliegenden Ufern der Weser stehend über den Fluss hinweg ihre pround antirömischen Standpunkte diskutieren.
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und fragt nicht ohne Hohn, welchen Lohn er denn für den Verlust seines Auges empfangen habe. Flavus aucta stipendia, torquem et coronam aliaque militaria dona memorat, inridente Arminio vilia servitii pretia.1948 Flavus erwähnt den erhöhten Sold, eine Halskette, einen Kranz und andere Geschenke für Soldaten, indes Arminius hohnlachend entgegnet, das sei ein billiger Lohn für die Knechtschaft.1949
Schon C. Iulius Caesar soll in seinen gallischen Kriegen die ersten germanischen Freiwilligen um sich geschart und somit das Fundament zu einer stets anwachsenden Söldnerzahl gelegt haben. Von Anfang an konnten diese in Italien wenigstens auf eine besondere Wertschätzung ihrer Körperkraft und ihrer äußeren Erscheinung rechnen.1950 In der späteren Kaiserzeit ging Rom zunehmend dazu über, auswärtige Könige oder Heerführer mitsamt deren Truppen als Föderaten anzunehmen und zur Unterstützung der eigenen Armeen gegen andere als Barbaren erachtete Völker und Volksstämme zu verpflichten. Die Germanen gerieten somit in die prekäre Situation, teilweise gegen ihre eigenen Landsleute oder Nachbarn kämpfen zu müssen.1951 Zwischen 275 und 375 n. Chr. stellten sie etwa die Hälfte des römischen Heeres und konnten zu den höchsten Ämtern gelangen.1952 Abschatz bezieht sich offenbar auf die Diskrepanz zwischen einer großen faktischen Bedeutung der germanischen Söldner für Rom und deren niedrigem offiziellem Status als unterworfenes Volk, wenn er räsoniert (25–30): Du dringest Kayser aus/ und setzest Kayser ein/ Doch must du fremder Macht Gehülff und Werckzeug seyn. Die Beute/ die du hast erfochten/ ziehet Rom/ Die Wölffin nährt dein Blutt/ dein Schweiß den Tiberstrom/ Sie führt dich durch die Welt in Kriegen hin und her/ Macht dich an Ruhme reich/ an Volck und Tugend leer.
Die Wölfin, welche nach dem römischen Gründungsmythos die ausgesetzten Zwillinge, zwei artfremde und hilflose Menschenkinder, säugt und somit bei aller natürlichen Wildheit eine gattungsübergreifende mütterliche Fürsorge praktiziert, erscheint hier durch eine ins Negative verkehrte Nahrungsmetapher als Vertreterin einer parasitären Existenz. Möglicherweise hat Abschatz hier eine 1948 Ebd., 2, 9, 3. 1949 Übersetzung T. B. 1950 Otto Stäckel: Die Germanen im römischen Dienste. Berlin 1880. 1951 Wolfram, S. 93 f. 1952 Stäckel, S. 12.
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Formulierung aus Lohensteins Arminius vor Augen. Dort beklagen im ersten Buch die germanischen Herrscher das Schicksal einer edelgesinnten jungen Fürstin, die sich vor den schamlosen Nachstellungen des Publius Quintilius Varus in den Freitod gerettet hat. In einer feurigen Rede spornt Arminius kurz darauf die um ihn versammelten Helden zum ohnehin schon beschlossenen Freiheitskampf an und argumentiert: Auch hat nicht nur er [Varus] sich mit unserm Schweiß und Blute angefüllet; sondern zu Befestigung seines ungewöhnlichen Richterstuls uns den durstigen Aegeln der Zancksüchtigen Sachredner zum Raube übergeben; welche die Deutschen nicht nur biß auffs Blut ausgesogen/ sondern ihnen mit ihren gifftigen Zungen durch Seel und Hertz gedrungen.1953
Abschatz bemüht in sehr allgemeiner Form die spätestens seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert geläufige antirömische Dekadenztopik (Antiromanitas).1954 Die Passage 31–44 ist von den Versen 53–60 inhaltlich kaum zu unterscheiden: Nicht Wortwahl und Diktion, sondern lediglich die Annahme, dass der als Prophezeiung gestaltete Text chronologisch verfahren soll, legt nahe, dass das Feindbild zunächst das antike Rom, im zweiten Passus aber die römische Kurie des 17. Jahrhunderts neben dem zeitgenössischen Frankreich bezeichnet. Die noch aus der vorreformatorischen Zeit stammende Antiromanitas und die während des Dreißigjährigen Krieges aufgekommene Alamode-Kritik1955 greifen ineinander. Ein moralisierendes Vokabular wie falsch vermummter Sinn (30), Lüste fremder Welt (30), Pest (33) und Pfützen geiler Lust (57) setzt Deutschland als gefährdeten „Hort der Reinheit und Männlichkeit“1956 von der gefährlichen romanischen Einflusssphäre ab.1957 Die bereitwillige Hingabe der Jugend an alle vom Ausland winkenden Verlockungen führt zum Ruin eines angeblich klar definierten und einheitlichen deutschen Reiches, dessen Existenz nicht ohne Nostalgie bereits in Antike und Frühmittelalter zurückprojiziert wird (35–44). Der untragbare Zustand der Zersplitterung des Landes kann mit Hilfe eines bedeutenden Mannes für eine Zeitlang behoben werden (45–48): Biß sich ein Grosser Carl zur Francken Krone sschwingt/ 1953 Lohenstein: Arminius, S. 19. Hervorhebungen T. B. 1954 Zur Antiromanitas vgl. Hirschi: Wettkampf der Nationen, S. 320 ff. 1955 Vgl. dazu Kapitel 3.2.2 Schottelius. 1956 Zu einem derartigen Konzept vgl. Hirschi: Wettkampf der Nationen, S. 326 ff., 338 ff. 1957 Der stereotype Vorwurf einer Verseuchung der naturgegebenen deutschen Gesundheit durch ausländische Einflüsse – welcher Art auch immer – wurde u. a. von Konrad Celtis und Martin Luther erhoben. Die schärfsten Töne des Protestes gegen die Einfuhr ausländischer Waren, welche seiner Ansicht nach die kraftvollen deutschen Leiber und Gemüter schwächen sollen, fand Ulrich von Hutten. Schließlich feierte er sogar die Raubritter als die letzten Verteidiger der nationalen Gesundheit. Hirschi: Wettkampf der Nationen, S. 338 ff.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
Und den zertheilten Leib zusammen wieder bringt. Der goldne Kayser =Stuhl bleibt dir von solcher Zeit: Wo aber bleiben Fried? Und Macht? und Einigkeit?
Wo auch immer in humanistischen oder barocken Texten die deutsche bzw. germanische Vergangenheit zur Sprache kommt, dient Karl der Große als idealisierte nationale Bezugsfigur.1958 Im Gegensatz zu vielen anderen Verfassern von Germania-Heroiden verzichtet Abschatz auf eine explizite Stilisierung Karls zum vollkommenen Herrscher und begnügt sich damit, ihn mit einer kurzen ehrenvollen Erwähnung als Urheber der (grundsätzlich heilbringenden) translatio imperii zu würdigen. Die Übertragung des Kaisertums auf die Deutschen, so der unmissverständliche Tenor, ist eine unerlässliche Maßnahme zur Sicherung oder Wiederherstellung des alten Ruhmes, entbindet die Deutschen aber nicht von der Pflicht zu eigenem aktivem Einsatz für ihr Vaterland. Die ererbte Würde kann und wird laut Prophezeiung durch schlechte Amtsführung leider auch verspielt werden (49–52): Dein eigen Eingeweyd ist deine liebste Kost: Offt bistu allzufaul/ die Waffen frist der Rost. Wenn Fremde sie/ auff dich zu schmeissen/ ziehen aus/ Offt bistu allzu gach und stürmst dein eigen Hauß.
Auf ähnliche Weise bringt in Lohensteins Arminius der Titelheld seine Unzufriedenheit zum Ausdruck: Die Augen gehen mir über/ wenn ich bedencke: daß unsere Waffen vom Roste gefressen werden/ wenn wir selbsten nicht ausputzten; daß wir unsere Schwerdter im Blute unserer eigenen Bluts=Verwandten waschen/ und sie wie uns unter das Joch der Römer müssen spannen helffen.1959
Der schon seit jeher auch von römischen Autoren als Laster gebrandmarkte Müßiggang einerseits,1960 innere Zwietracht andererseits führen notwendigerweise zur Selbstzerstörung (48–60). Erst jetzt lässt Abschatz’ Sprecher, der Priester, die Maske fallen und gibt seine Worte als diejenigen einer höheren Instanz zu erkennen (61–64): 1958 Ebd. passim, besonders S. 271, 315 ff., 319, 374, 394 f. 1959 Lohenstein: Arminius, S. 18. 1960 Vgl. in diesem Zusammenhang das hier von Abschatz ausgeblendete Kapitel des Tacitus über die Trägheit der Germanen in allen nichtmilitärischen Angelegenheiten. Der Historiker bekundet in seiner Formulierung ein feines Gespür für das Paradoxe. Tac. Germ. 15: Quotiens bella non ineunt, multum venatibus, plus per otium transigunt, dediti somno ciboque, fortissimus quisque ac bellicosissimus nihil agens […] ipsi hebent, mira diversitate naturae, cum iidem homines sic ament inertiam et oderint quietem.
3.2.3 Hans Aßmann von Abschatz (1646–1699): Alrunens Warnung
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Alrune hat mir diß/ als künfftig/ offenbahrt/ Und ich/ auff ihr Geheiß/ in diesem Stamm verwahrt. Ach/ daß wenn diese Schrifft wird kommen an den Tag/ Sie für manch deutsches Hertz ein Wecker werden mag!
Ähnlich wie einige andere Autoren von Germania-Heroiden bekundet auch Abschatz das Bedürfnis, seinen Worten ein gewisses numinoses Charisma zu verleihen, indem er diese einer mit übermenschlichen, weissagenden Kräften begabten Gestalt in den Mund legt. Die Seherin Alrune erscheint hier – nicht unwesentlich nach dem unmittelbaren Vorbild Lohenstein – gewissermaßen als germanisches Pendant zu den anderweitig gern zitierten schicksalskundigen Greisen, zum alttestamentarischen Daniel oder zu den Sibyllen der griechisch-römischen (und jüdischen) Antike. Ähnlich wie in den Sibyllinischen Büchern das römische Schicksal1961 wird auch das germanische in schriftlicher Form1962 für die Nachwelt fixiert. Indem Abschatz einen Priester die Worte der Seherin vortragen lässt, würdigt er sowohl die (für die Germanen historisch nicht verbürgte, bei Lohenstein allerdings gegebene) schriftliche Kultur als auch die bis in die Frühe Neuzeit hinein bedeutsame Unmittelbarkeit des (rituell) gesprochenen Wortes.1963 Vers 65 bringt eine scharfe Zäsur mit sich, insofern als Alrune in der Anrede von der zweiten Person Singular zur zweiten Peron Plural wechselt. Die Deutschen, als Helden =Kinder apostrophiert (65), sollen endlich aus ihrer Trägheit erwachen und sich nicht länger auf ererbtem Ruhm, der Ahnen lange[r] Zahl (77), ausruhen. In martialischer Abwandlung des geläufigen biblischen Diktums vom Haus, welches nicht auf Sand, sondern auf festem Grund errichtet werden müsse,1964 setzt Alrune eine zu gewalttätigen Zwecken gebrauchte Materie, harten Stahl (68), in positiven Kontrast zu Sand und Moos, welche in ihrer Weichheit die Vergänglichkeit repräsentieren. Die Vanitas-Motivik wird verstärkt durch den schon in
1961 Nach einer alten Legende soll einst die Sibylle von Cumae neun Bücher mit Weissagungen dem König Tarquinius Priscus zum Verkauf angeboten haben. Jedesmal, wenn dieser den geforderten Preis als zu hoch erachtete, verbrannte sie drei Bücher. Die letzten drei kaufte Tarquinius schließlich und ließ sie auf dem Kapitol aufbewahren. 1962 Vgl. Tac. Germ. 19: litterarum secreta viri pariter ac feminae ignorant. Tacitus bescheinigt den Germanen offenkundig nicht nur sittsame Enthaltung von heimlichen Liebesbriefen, sondern generell Analphabetismus. 1963 Hirschi charakterisiert die Frühe Neuzeit als „semi-orale“ Kultur und spricht von gesellschaftlichen Eliten, „für die rituelle Sprechakte und vor allem die zu Schrift erstarrte Sprache einen magischen Charakter hatten. Die Sprache war hier kein Schlauch, der Informationen transportierte, kein Abbild einer ihr äußerlichen Welt, sondern „ein Stigma auf den Dingen“, eine Verkörperung heiliger Traditionen und Trägerin einer Macht, die ihren eigenen Zeichen entsprang.“ Hirschi: Höflinge der Bürgerschaft, S. 46. 1964 Mt 7, 26–27.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
der antiken Topik verankerten Vorwurf an die Jugend, sie trage eine lediglich zu Prunkzwecken dienende Bewaffnung (57–71): Dein junges Volck ersäufft in Pfützen geiler Lust/ Bedeckt an Eisen statt mit Golde seine Brust/ […] Was ist es/ daß ihr dann mit vielem Schmucke prahlt?
Sowohl im Alten Testament als auch in der römischen Literatur erfreut sich das Motiv des Zweikampfs zwischen zwei (äußerlich) sehr ungleichen Kontrahenten, welche stellvertretend für ihr Volk um Freiheit oder Versklavung streiten, einiger Beliebtheit. Dort erleidet jeweils der vermeintlich stärkere Herausforderer, der sich auf Körpergröße und prunkvolle Bewaffnung viel zugute hält, zu aller Überraschung eine Niederlage. Der riesige Philister Goliath erliegt einem schlichten Steinwurf des scheinbar unkriegerischen Hirten David,1965 bei Livius provoziert ein hünenhafter namenloser Gallier nicht ungestraft den gerechten Stolz der römischen Jugend.1966 Der augusteische Historiker betont den Kontrast zwischen dem siegesgewiss prahlenden Aggressor und dem die Ehre seiner Vorfahren verteidigenden Titus Manlius: Tum eximia corporis magnitudine in vacuum pontem Gallus processit […] Corpus alteri magnitudine eximium, versicolori veste pictisque et auro caelatis refulgens armis: media in altero militaris statura modicaque in armis habilibus magis quam decoris species.1967 Da trat ein Gallier von außerordentlicher Körpergröße vor auf die unbesetzte Brücke […] Der eine war auffallend groß gewachsen, blitzte in seinem bunten Gewand und mit bemalten und goldverzierten Waffen, der andere hatte eine durchschnittliche Soldatenstatur und ein gewöhnliches Aussehen in seinen eher handlichen als schönen Waffen.1968
Der nüchtern und klug agierende junge Manlius bringt durch reine Geschicklichkeit den in seiner bloßen Stärke schwerfälligen Gallier zu Fall und erbeutet dessen bevorzugtes Prunkstück, eine Halskette (torquis), welche ihm den Beinamen Torquatus einbringt. Wahre kriegerische Tugend, so das Exempel, bedarf nur geringer äußerer Hilfsmittel, um im gerechten Kampf zu siegen. Ein ins Positive gewendetes Nachleben erfährt die Waffenprunktopik in den höfischen Romanen des Mittelalters, wo der jeweilige junge Held, von dem große Taten zu erwarten sind, in Form eines feierlichen Zeremoniells, der Schwertleite, in seine ritterliche Laufbahn eingeführt wird. Dort korreliert (nicht ohne allegorische Ausdeutungen) der äußere Glanz der Ausstattung mit der hohen Geburt und der edlen Gesinnung 1965 1 Sam 17. 1966 Liv. 7, 9, 6–10, 8. 1967 Ebd., 7, 9, 8–10, 8. 1968 Übersetzung T. B.
3.2.3 Hans Aßmann von Abschatz (1646–1699): Alrunens Warnung
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des angehenden Kriegers. In Abschatz’ Text jedoch werden Eisen als Inbegriff für militärische virtus und Gold als materielle Manifestation einer verwerflichen luxuria miteinander kontrastiert (58 Bedeckt an Eisen statt mit Golde seine Brust). Möglicherweise soll sich der Leser unter der von Alrune geschmähten goldenen Brustbedeckung einen torquis, eine (aus Gold gefertigte?) Kette vorstellen, zumal Tacitus und Livius, die beiden wohl prominentesten römischen Historiker, gerade diesen Gegenstand als Auszeichnung für kriegerische Leistungen nennen. Drei Verse widmet die germanische Seherin einem der wenigen unentbehrlichen kriegerischen Ausstattungsstücke, dem Schild (72–74): Sie haben ihren Schild mit eigner Faust gemahlt. Das unverzagte Roth/ das unbefleckte Weiß/ Das treu =beständge Schwartz behielt den besten Preiß.
Gerade dieser spielt seit jeher eine kaum zu überschätzende Rolle: Seit Homer gehört die Ekphrasis eines Schildes zu den unerlässlichen Topoi im antiken Epos. Sowohl in der Ilias als auch in der Odyssee wird der Leser Zeuge, wie Hephaistos bzw. Vulcanus einen solchen eigens für einen bestimmten Helden auf Bestellung der jeweiligen (göttlichen) Heldenmutter anfertigt. Weit mehr Raum als die rein zweckmäßige Beschaffenheit des Schildes nimmt dabei die äußerst aufwendige und kunstvolle bildliche Ausgestaltung ein, welche mit Bedeutung und Status des auserwählten Trägers korreliert. Auf dem Schild des Achill sind Natur, Elemente, Menschen und Tiere sowie menschliches Wirken in Krieg und Frieden dargestellt: Es handelt sich um nicht weniger als um ein mikrokosmisches Abbild der damaligen Kultur.1969 Nach einem teleologischen Gestaltungsprinzip verfertigt, weist der Schild des Aeneas weit über die Lebenszeit des Helden in die Zukunft hinaus und verherrlicht die Taten von dessen römischen Nachkommen bis zu der für Octavian siegreich endenden Schlacht von Actium.1970 Sowohl gegen den materiellen Aufwand als auch gegen die symbolische Überhöhung dieser Kunstwerke – clipei non enarrabile textum1971 – sticht die von Alrune gepriesene Schlichtheit der selbstverfertigten germanischen Schilde scharf ab. In der Germania des Tacitus finden sich lediglich knappe Hinweise, in seinem Kapitel über das Kriegswesen bemerkt der Autor: Nulla cultus iactatio; scuta tantum lectissimis coloribus distinguunt.1972
1969 Hom. Il. 18, 478–608. 1970 Verg. Aen. 8, 443–453, 626–731. 1971 Ebd. 8, 625. 1972 Tac. Germ. 6.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
Es gibt keine Prahlerei mit der Ausstattung; ihre Schilde unterscheiden sie nur durch eine besondere Auswahl von Farben.1973
Unter welchen Gesichtspunkten die sorgfältige Auswahl der Farben vorgenommen wurde, bleibt unklar.1974 In seinem Abriss über die einzelnen germanischen Volksstämme beschreibt Tacitus die ohnehin schon schrecklich aussehenden Harier, welche mit ihren schwarzen Schilden und bunt bemalten Leibern (nigra scuta, tincta corpora) jeden Feind in die Flucht zu schlagen vermögen.1975 Zudem berichtet Plutarch1976 von Kimbern, welche weiße Schilde tragen. Auch Lohenstein schickt noch im ersten Buch seinen Titelhelden mit einer Ausstattung, die er als typisch germanisch verstanden wissen will, in die Schlacht: In der rechten Hand führte er [Hermann] eine Lantze/ im lincken Arm einen länglichen Schild/ auff welchem ein springendes Pferd geetzt war/ welches die Cheruskischen Hertzoge noch vom alten Hermion her/ aus besonderer Liebe zu den Pferden zu führen gewohnt waren.1977
Abschatz lässt seine Alrune Schilde von idealisierter Zweckmäßigkeit empfehlen, welche man sich offenbar als rot-weiß-schwarz gestreifte Bretter ohne gegenständliche Abbildungen oder Ornamente vorzustellen hat. Diese drei Farben – welche erstmals 200 Jahre später, von 1871 bis 1919 und von 1933 bis 1945, allerdings in anderer Reihenfolge, die Flagge des Deutschen Reiches zieren werden – macht er durch entsprechende Attribute zum visuellen Ausdruck menschlicher Tugenden. Gerade der als Symbol der persönlichen Ehre von den Germanen so hochgeschätzte Schild, besonders der farbig bemalte, bildete die Grundlage für das im Mittelalter aufkommende Wappenwesen.1978 Spätestens seit dem 14. Jahrhundert hatte sich dieses von seiner ursprünglichen Funktion emanzipiert: Es bekundete nicht länger die individuelle Tapferkeit eines Einzelnen im Krieg oder Ritterturnier, sondern diente als erbliches Ehrenzeichen erst für adlige, später auch für bürgerliche oder sogar bäuerliche Familien.1979 Die äußerst fein ausdifferenzierte Wappenkunst war zum bloßen Dekor geworden und wurde von ca. 1650 bis 1850 – also auch zu Abschatz’ Zeiten – nicht mehr in ihrer ursprünglichen 1973 Übersetzung T. B. 1974 Alfred Gudemann schließt ohne nähere Erklärung, nur mit Verweis auf andere Textstellen den „Begriff des Grellen oder Buntfarbigen“ ausdrücklich aus. P. Cornelii Taciti de Germania. Erklärt von Alfred Gudemann. Berlin 1916, S. 74. 1975 Tac. Germ. 43. 1976 Plut. Mar. 26. 1977 Lohenstein: Arminius, S. 31. 1978 Adolf Matthias Hildebrandt: Handbuch der Heraldik. Wappenfibel. bearbeitet von Ludwig Biewer. 19., verbesserte und erweiterte Auflage. Neustadt an der Aisch 2002, S. 23. 1979 Ebd., S. 23 ff.
3.2.3 Hans Aßmann von Abschatz (1646–1699): Alrunens Warnung
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Bedeutung verstanden.1980 So nimmt es kaum wunder, wenn der (sonst durchaus adelsstolze) Autor seine Alrune indirekt die zahlreichen, fast bis zur Unkenntlichkeit stilisierten Darstellungen von Himmelskörpern, Pflanzen, Säugetieren, Vögeln, Bauwerken, Fabelwesen und allegorisierten Tugenden1981 als Ausweis einer sinnlosen Renommiersucht anprangern lässt. Die germanische Seherin beendet ihre Prophezeiung mit dem Appell (75–76): Folgt ihren Tritten nach/ verlangt ihr ihren Ruhm/ Sonst ist kein deutsches Blutt eur wahres Eigenthum.
Alrune schwört also in gut humanistischem Sinne auf die nobilitierende Kraft deutschen Geblütes, deren Besitz durch individuelle Leistungen bewiesen werden muss. Der Anspruch, von einem bestimmten Geblüt zu sein, wurde zunächst im Zusammenhang mit den Dynastien des frühen Mittelalters formuliert. Die Berufung auf eine consanguinitas diente manchen Adligen sogar als Rechtfertigung, wenn sie ihrem Herrn und Kaiser untreu wurden und sich mit dessen Gegnern verbündeten, mit welchen sie in irgendeiner Form verwandt waren oder verwandt zu sein behaupteten.1982 Als im Europa der Frühen Neuzeit der gelehrte Wettstreit um nationales Prestige einsetzte, versuchten Heinrich Bebel, vor allem aber Jakob Wimpfeling und Thomas Wolf, Deutschland als die maßgebliche, weil ursprünglichste Adelsnation auszuweisen. Den Namen Germania leiteten sie von germen (Keim/Stamm) oder germinare (sprießen) ab und übersetzten ihn als „wahren Keim des Adels.“1983 „Germania a germine dicitur, est enim verum germen Nobilitatis“ hatte bereits im 13. Jahrhundert Johannes Teutonicus in einer Glosse zu Isidor von Sevilla: Etymologie 9, 2, 97 formuliert.1984 Somit konnten interessierte deutsche Humanisten nahezu alle Träger „edlen Blutes“ als Abkömmlinge ihres Landes und insbesondere virtus als vererbbare mütterliche Gabe desselben für sich in Anspruch nehmen.1985 Alrune setzt zum Schluss ihr wirksamstes Druckmittel ein. Der bei ausbleibenden Heldentaten aufkommende Zweifel an der rechtmäßigen Zugehörigkeit 1980 Ebd., S. 25. 1981 Ebd., S. 59 ff. 1982 Karl Schmid: Geblüt, Herrschaft, Geschlechterbewusstsein. Grundfragen zum Verständnis des Adels im Mittelalter. Aus dem Nachlaß herausgegeben und eingeleitet von Dieter Mertens und Thomas Zotz. Sigmaringen 1998 (Vorträge und Forschungen 44), S. 18. 1983 Hirschi: Das humanistische Nationskonstrukt, S. 392, Anm. 117; Hirschi: Wettkampf der Nationen, S. 572; Krebs: Ein gefährliches Buch, S. 133 f. 1984 Hirschi: Wettkampf der Nationen, S. 275, Anm. 65. 1985 Hirschi: Das humanistische Nationskonstrukt, S. 392, Anm. 117. Vgl. zur ebenfalls beliebten Herleitung des Namens Germania von germanus (verwandt, Bruder, Schwester) Krebs: Ein gefährliches Buch, S. 103, 133 f.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
zu dem als Adelsnation deklarierten Deutschland soll die größte Drohung für die Angesprochenen darstellen. Abgesehen von ein paar wenigen allgemeinen Erwähnungen des bedrohten oder zerrissenen „Leibes“ (9–14, 45–46) verzichtet der Autor fast vollkommen auf die Allegorisierung seines Gegenstandes sowie auf spezifische Elemente der ovidischen Heroidendichtung. Der Name Deutschland erscheint hier – verdeutlicht auch durch den Wechsel in der Anrede ab Vers 65 – lediglich als Kollektivbegriff und bezieht sich auf den Adel, von welchem man ein entschlossenes Vorgehen gegen die französischen Expansionsbestrebungen erhofft. Eine konfessionelle Position des (bekanntlich protestantischen) Autors kommt nicht zum Ausdruck, es sei denn, dass Alrune und der Priester in verschlüsselter Form irgendeine Art von Geistlichkeit oder Pastorenwesen repräsentieren. Einiges von dem, was er in Lohensteins Roman vorfindet, überträgt Abschatz gewissermaßen aus dem Epischen ins Lyrische, wenn er seine Leser in eine fiktive germanische Welt versetzt und sie zu Teilnehmern an einer kultischen Feier macht. Alrunens Warnung an Deutschland ist zwar von der Gattung der Heroidendichtung weiter entfernt als die meisten anderen in diesem Zusammenhang behandelten Texte, bekundet jedoch die engagierteste Auseinandersetzung mit dem von Tacitus (und Caesar) geprägten und im späten 17. Jahrhundert von Lohenstein nobilitierten Germanenbild.
3.2.4 Christoph Friedrich Kiene (1655–nach 1721) Die klagende Germanie (1680/1681) Die Reihe der hier vorgestellten Autoren endet mit Christoph Friedrich Kiene, einem norddeutschen protestantischen Juristen, dessen Lebenszeit die Hochphase der Barockdichtung umfasst und noch bis in die Frühaufklärung des 18. Jahrhunderts reicht.1986 Am 12. März 1655 wurde er in Lübeck geboren (nicht in Halle an der Saale)1987 und erwarb seine ersten Kenntnisse der alten Sprachen am dortigen Gymnasium. Von Seelen zitiert eine 64 Verse umfassende lateinische
1986 Noch zu seinen Lebzeiten, kurz vor seinem Tod, gewürdigt und in beachtlichem Umfang zitiert wurde Christoph Friedrich Kiene in einem Kapitel von Johann Heinrich von Seelen: Athen arum Lubecensium Pars II. Sectio II. Lübeck 1720, S. 60–67. Eine noch ältere zeitgenössische lateinische Würdigung – mittlerweile freilich mit moderner Übersetzung – findet sich bei Neumeister: De Poetis Germanicis, S. 60, 196, 390 f. Desweiteren vgl. Carl Schröder: Mecklenburg und die Mecklenburger in der schönen Literatur. Berlin 1909, S. 52–55; Dörrie: Der heroische Brief, S. 188 f., 310 f.; Ingeborg Springer-Strand / Red.: Christoph Friedrich Kiene. In: Killy / Kühlmann. Bd. 6. Berlin / New York 2009, S. 401–402; Eickmeyer: Der jesuitische Heroidenbrief, S. 17, 657 ff. 1987 Von Seelen, S. 60 korrigiert hier Erdmann, S. 60, 196.
3.2.4 Christoph Friedrich Kiene (1655–nach 1721): Die klagende Germanie
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Elegie, die der junge Mann 1674 auf den Tod eines verehrten Lehrers verfasste.1988 Von 1675 bis 1677 studierte Kiene Jurisprudenz in Rostock und erlebte dort als Augenzeuge einen großen Brand, der ihn zu einem seiner poetischen Hauptwerke inspirierte: Rostockische FeuersBrunst, auf der Rostockischen hohen Schul öffentlich bethränt.1989 Beeindruckt von diesem Gedicht bot ihm der Herzog von Mecklenburg Gustav Adolph eine Professur für Poesie an, welche Kiene jedoch, obwohl sie für ihn unter pragmatischen Aspekten ideal gewesen wäre, aus Verlangen nach noch höheren Zielen ablehnte.1990 Es folgten weitere Beschäftigungen mit Jurisprudenz und Politik in Leipzig. Anschließend begab er sich auf Reisen, zunächst an die renommiertesten deutschen Universitäten (Jena, Erfurt, Wittenberg, Kiel), Fürstenhöfe und Freie Reichsstädte, dann ins Ausland, in die Niederlande, nach Frankreich und England. Über Paris kehrte er in seine Heimat Lübeck zurück, wo er noch einige Jahre blieb. Dort nahm er Kontakt mit berühmten Gelehrten seiner Zeit auf, insbesondere mit dem Polyhistor und Begründer der deutschen Literaturhistorie Daniel Georg Morhof (1639–1691). Ab 1692 wirkte er erst als Referendar, dann als Justizrat in Schwerin. Aus seiner Rostocker Zeit finden gelegentlich einige „Schäfer =Gedichte“ und mindestens zwei Hochzeitscarmina Erwähnung,1991 sein religiöses Verständnis dokumentiert das Poema sacrum, sive credendorum liber primus und liber secun dus.1992 In diesem stilistisch an Vergils Aeneis orientierten Hexametergedicht legt er ausführlich das Apostolische Glaubensbekenntnis dar, indem er einzelne Stellen aus Bibel und Patristik in ansprechender Weise zusammenstellt.1993 Sein meistbeachtetes Werk bleibt indessen Poetische Nebenstunden / Heroischen Gei stern zu sonderbahrer Belustigung verfertiget.1994 Dieses besteht aus vier Büchern: Das erste vereinigt Gedichte verschiedener Gattungen und entzieht sich einer eindeutigen Kategorie, das zweite enthält Elegien, das dritte Sonette, das vierte Grabschriften. Auf das erste und zweite Buch verteilen sich acht Heldenbriefe,
1988 Vgl. von Seelen, S. 60 ff. 1989 Rostockische FeuersBrunst, auf der Rostockischen hohen Schul öffentlich bethränt. Rostock 1677, 1710. 1990 Von Seelen, S. 63 f.: „Hoc carmen Serenissimo Principi GVSTAVO ADOLPHO, Duci Mecklenburgensi, adeo placuit, vt ei iam tunc Professionem P. Poeseos clementissime obtulerit, quam tamen iuuenis & ad vlteriora iturus deprecatus est, licet maxime ad eam fuisset aptus.“ 1991 C. Schröder, S. 53. 1992 Poema sacrum, sive credendorum liber primus. Lübeck 1703 (liber secundus ebd. 1710). 1993 Von Seelen, S. 67: „Coepit carmine Heroico, ad modum Aeneidos Virgilii, fuse explicare Symbolum Apostolicum, vsus quidem ad sacrum hoc argumentum phrasibus ex sanctissimo codice & Patrum scriptis desumtis, ita tamen, vt genium & decus poeticum simul obseruarit.“ 1994 Poetische Nebenstunden / Heroischen Geistern zu sonderbahrer Belustigung verfertiget. Frankfurt / Leipzig 1680 (2. Auflage 1681).
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
also Heroiden, bzw. wie Dörrie mit vorsichtiger Einschränkung anmerkt, heroidenähnliche Gedichte.1995 Kiene, der sowohl dem Vertreter der lateinischen jesuitischen Heroide Andreas Alenus als auch dem Hauptvertreter der deutschen galanten Heroidendichtung Hofmannswaldau ausdrücklich seine Reverenz erweist und implizit auch auf zeitgenössische italienische Vorbilder rekurriert,1996 deckt mit seinen eigenen heroischen Gedichten ein breites thematisches Spektrum ab. Die klagende Germanie (I, 6), Phryne an den Xenokrates (I, 10), Eva zu Adam im Paradies (II, 2), Joseph zu Potiphars Gemahlin (II, 3), Bathseba an Uria (II, 4), Justina an ihre Eltern (II, 8) sowie das Briefpaar Candaulens Gemahlin an Gyges (II, 10 a) und Gyges an Candaulens Gemahlin (II, 10 b). Drei Briefe basieren auf biblischen Stoffen, drei auf Stoffen der vorchristlichen antiken Historie, der Germania- und der Justina-Brief stellen Sonderfälle dar. Kiene nutzt die in seinem Fall äußerst ergiebige Möglichkeit, das Thema leidenschaftlicher erotischer Liebe aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten. Seine antiken Gestalten vertreten mit raffinierter Argumentation einen hedonistischen Standpunkt: Die Gemahlin des lydischen Königs Candaules ist erbost darüber, dass dieser in indiskreter Weise mit ihrer Schönheit prahlt und in seiner Renommiersucht selbst vor kupplerischen Manövern nicht zurückschreckt. So hat er gerade erst seinen Günstling, den Hofrat Gyges, heimlich in ihr Schlafgemach beordert, um ihn von ihren verborgenen Reizen zu überzeugen – eine Ehrverletzung, die sie sehr wohl mitbekommen hat und nicht hinzunehmen gewillt ist. Mit moralisierenden Appellen, jegliche Schändung der Institution Ehe zu rächen (Die Lieb und Herrschaft weiß von keinem Mitgenossen), unter Drohungen, aber auch mit eher diskret angedeuteten erotischen Verheißungen überredet sie den gegen seinen Willen zum Voyeur erniedrigten Höfling, ihren Gatten zu ermorden, um dessen Platz einzunehmen. Die weithin für ihre Schönheit gefeierte und begehrte Hetäre Phryne zeigt sich fassungslos darüber, dass der ob seiner extremen Askese berühmt-berüchtigte Philosoph Xenokrates als einziger für ihre Reize unempfänglich bleibt. Dies erscheint ihr als Verstoß gegen die seit jeher geltende Weltordnung, und so schmäht sie ihn wiederholt als Marmorsäule, die an der menschlichen Natur keinen vollen Anteil habe. Der nach Ägypten verschleppte Joseph des Alten Testaments begegnet Potiphars lüsterner Frau, die ihn verführen will, mit Entsetzen. Er profiliert sich ihr gegenüber als glühender Verteidiger eines gottgefälligen Lebenswandels und
1995 Vgl. Dörrie: Der heroische Brief, S. 188. 1996 Ebd., S. 189; Eickmeyer: Der jesuitische Heroidenbrief, S. 658 f.
3.2.4 Christoph Friedrich Kiene (1655–nach 1721): Die klagende Germanie
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beharrt auf seinen jüdischen – und avant la lettre christlichen – Moralvorstellungen.1997 Die vielleicht interessanteste und pikanteste inventio enthält der Bathseba-Brief, da er eine Leerstelle innerhalb der biblischen Erzählung ausfüllt.1998 Im Alten Testament erscheint Bathseba, die schöne Frau des tapferen Kriegers Uria, lediglich als passives Objekt von König Davids ehebrecherischen Begierden und Taten. Die Frage nach ihrer eigenen Mitschuld und Untreue stellt sich dort nicht; ob sie sich bereitwillig oder lediglich unter Zwang und Nötigung dem Herrscher hingibt, bleibt offen. Kiene lässt die Frau, die bereits von ihrer aus dem Ehebruch resultierenden Schwangerschaft weiß, eine dringliche Einladung an den allzu pflichtbewussten Gatten richten, seinen Urlaub nicht länger freiwillig im Lager seiner Kameraden, sondern bei ihr zu verbringen. Ihre heuchlerischen Liebesschwüre und Vorwürfe – immerhin will sie den Gemahl verführen, um ihm die Schwangerschaft unterzuschieben – enthalten für den eingeweihten Leser an mancher Stelle eine vielleicht unfreiwillige, vielleicht aber auch ironisch zu verstehende Doppeldeutigkeit: Der fromme König hat mein Elend angesehen/ Und wie ich treues Weib mich grämte um den Mann. Drumb ließ er gnädig das/ warumb ich bat/ geschehen: Es nahm/ der gute Herr/ sich meiner treulich an.1999
Wie der Fortgang des Briefes zeigt, meint sie jedenfalls vordergründig Davids Aufforderung an Uria, endlich wieder einmal seine Frau aufzusuchen. Kiene stattet seine Bathseba mit allen rhetorischen Finessen der römischen Heroidendichtung aus und lässt sie an mancher Stelle fast wörtlich aus Ovids Penelope- und Dido-Heroide zitieren. Vollkommen anders geartet ist der düster-verzweifelte Justina-Brief. In einem historisch und räumlich nicht näher definierten Milieu2000 schreibt eine schöne, adlige junge Frau nicht an, sondern über ihren Gatten, und zwar an ihre Eltern. Der frischgebackene Ehemann quält sie beständig mit Szenen grundloser Eifersucht und droht, gewalttätig zu werden. Mit deutlichen Worten beklagt Justina 1997 Über das extreme Pathos angesichts einer Situation, die schnelles Handeln erfordert, mokiert sich C. Schröder, S. 54: „Und wer wird sich eines Lächelns erwehren können, wenn in der Elegie „Joseph zu Potiphars Gemahlin“ der keusche Joseph dem geilen Weibe, das ihn zu verführen trachtet, erst eine wohlgesetzte Standrede von 300 Versen hält, bevor er sich zu dem Entschlusse aufrafft, mit Hinterlassung seines Mantels zu entfliehen?“ 1998 Vgl. 2 Sam 11. 1999 Kiene: Poetische Nebenstunden, S. 178. 2000 Dörrie: Der heroische Brief, S. 189 erkennt dem Brief eine Sonderstellung zu, weil er nicht aus einem der üblichen Stoffgebiete schöpft, d. h., aus Bibel, Kirchengeschichte oder Historie.
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die eigentlichen Ursachen ihrer fatalen Situation, zum einen die unkontrollierten Affekte des Mannes, die verdammte Seelen =Pest, zum anderen die Verantwortungslosigkeit ihrer Eltern, die nur nach dem Vermögen, nicht aber nach Verstand und Charakter den Bräutigam erwählt haben. Sie zieht eine bittere Bilanz: Diß heißet ja wohl recht: Die Freyheit ist verfreyet! Das Weh wird von der Eh nur durch ein W getrennt/ Das Weh und Weinen dräut. Wer ist/ die den nicht scheuet/ Der mehr von Eifer; als von wahrer Liebe brennt?2001
In der festen Überzeugung, dass der Mann sie bei einem weiteren Wutausbruch töten werde, nimmt die Unglückliche von ihren Eltern für immer Abschied. Ihr Schreiben präsentiert sich als ein leidenschaftliches Plädoyer für Vernunft und Wertschätzung weiblicher Tugend, die auf echtem Seelenadel, nicht auf Zwang und ständiger Kontrolle beruhe. Eine ideale Versöhnung von sinnlicher Liebe und vorbildlicher Gottesfurcht präsentiert Kiene in seinem Eva-Brief. Seine Protagonistin darf sich unverhohlen an Adams körperlicher Schönheit freuen und ihn mit deutlich lockenden Worten zum Liebesvollzug einladen, da Gottes Schöpfungsplan dies ausdrücklich fordert. Die noch jugendliche Mutter der künftigen Menschheit bezeichnet sich explizit als Braut und preist wie eine gut unterwiesene Protestantin aus Kienes Zeit den legitimen Ehestand als naturgewollte und segenspendende Einrichtung. Adam und Eva sind die einzigen Helden, deren Liebe (zumindest vorerst) glücklich ausfällt, da sie beide rechtmäßig und unschuldigen Herzens ihren Bund eingehen. Noch stört keine Vorausdeutung auf Sündenfall und Vertreibung die auch im Wortsinne paradiesische Harmonie. Einen Sonderfall stellt in dieser Sammlung sowohl inhaltlich als auch formal Die klagende Germanie2002 dar. Zum einen handelt es sich um ein den biblischen Buß- und Klagepsalmen2003 nachempfundenes Klagegebet im Gewand der bereits etablierten patriotisch-allegorischen Heroide, zum anderen überrascht das Metrum. Statt aus Alexandrinern, welche seit Flemings Schreiben vertrie bener Frau Germanien für die Heroidengattung in deutscher Sprache eigentlich typisch sind, besteht das Gedicht aus 288 achthebigen Trochäen in Paarreimen. In der Tradition einer büßenden Zion/Jerusalem, Roma oder Maria Magdalena fleht die unter Kriegswirren leidende Germania ihren himmlischen Vater um Ver-
2001 Kiene: Poetische Nebenstunden, S. 213. 2002 Ebd., S. 77–86. 2003 Zu den Psalmen, in denen ein sich unschuldig wähnendes oder schuldbewusstes Ich Gott um Errettung vor Not und Verfolgung anfleht, zählen z. B. Ps 5–7; 22, 31, 42, 51, 54–57, 69, 79, 86, 88, 130.
3.2.4 Christoph Friedrich Kiene (1655–nach 1721): Die klagende Germanie
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zeihung und Erbarmen an. Den politischen Hintergrund ihrer Klage bilden die deutsch-französischen Auseinandersetzungen seit den 1670er Jahren. 1681, im Jahr der unveränderten Zweitauflage der Poetischen Nebenstunden, hatte Frankreich Straßburg annektiert und den deutschen Reichspatriotismus herausgefordert.2004 Der politisch-historische Anlass kommt in diesem Gedicht kaum zur Sprache; stattdessen wird das überzeitliche Phänomen von Krieg und Not, resultierend aus Sittenverfall und Gottlosigkeit, in den schwärzesten Farben geschildert. Die Einordnung in die (wenngleich noch junge) Tradition der deutschen Germania-Klage des Dreißigjährigen Krieges zeigt sich eindrucksvoll an mehreren deutlichen Rekursen auf Flemings Schreiben vertriebener Frau Germanien von 1631 sowie an einigen strukturbedingten Ähnlichkeiten mit Justus Georg Schottelius’ Lamentatio Germaniae Exspirantis von 1640. Kienes Text ist die erste und nach bisherigem Kenntnisstand einzige Germania-Heroide, in welchem Germania ihrem Adressaten als Tochter gegenübertritt, was sich verständlicherweise aber aus dem Umstand ergibt, dass es sich inhaltlich um ein Gebet, also eine Zwiesprache mit Gott selbst, handelt. Dass Germania dennoch stets auch eine Muttergestalt bleibt, geht aus einzelnen Passagen hervor, in welchen sie sowohl um als auch über ihre eigenen Kinder klagt. Der Text strukturiert sich durch appellative und deskriptive Passagen, die fließend ineinander übergehen und ähnlich wie bei Schottelius die Möglichkeiten des insistierenden Sprechens2005 stark ausreizen. Germania beginnt ihre Anrufung Gottes mit einer emphatischen Beschwörung der familiären Vater-Kind-Beziehung, auf die sie keinen Anspruch mehr habe. Zunächst soll ihr ein bloßer Blick des erzürnten Vaters, ein sichtbares Zeichen von Aufmerksamkeit und Hinwendung, genügen. Dies wird unterstrichen durch eine anaphorische Struktur der Verse: Auf die mehrfach wiederholte Anrede Vater folgen anaphorische Relativsätze, in denen Germania die mangelnde Ehrfurcht gegenüber Gott beklagt und ihre Schuld beteuert (Dich/, an dessen […]/ Dich/, den […]/ Mich/ die ich […] /) oder Konditionalsätze, in welchen sie ihre eigene Würdigkeit, ihren Anspruch auf väterliches Erbarmen in Frage stellt. Ebenso bedient sie das semantische Feld des Visuellen durch eine Häufung von Substantiven wie Blick, Auge, Angesicht, Gnaden =Augen und entsprechende Verben. Dies zeigt sich schon innerhalb der ersten 16 Verse: Vater! So mir noch vergönnt dich/ O Vater! anzuflehen/ Dich/ den vor mein Läster =Maul unbesonnen pflag zu schmähen:
2004 Vgl. das Kapitel dieser Arbeit 3.2.3 Hans Aßmann von Abschatz: Alrunens Warnung an Deutschland. 2005 Zum insistierenden Sprechen vgl. Szyrocki, S. 56 f. sowie die entsprechend bezeichneten Kapitel bei Conrady.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
Dich/ an dessen Lebens =Worten sich mein Leben nicht gekehrt: Dich/ den meine lose Kinder haben Kindlich nicht geehrt. Vater! Kann dein Vater =Herz […] […] Vater! Wo dein Angesicht mich noch würdigt anzublicken/ Mich/ die ich zur Friedens =Zeit dir gegeben offt den Rücken: Mich/ die ich ohn Reu begangen manche frevle Ubelthat: Mich/ die deiner Allmacht Zepter ohne Furcht verspottet hat. Vater! So laß einen Blick deiner Gnaden auf mich schiessen/ Wende dein Gesicht zu mir/ die ich falle dir zu Füssen: Laß mich deine Gnaden =Augen freundlich wieder schauen an/ Meine fast verdorrte Zunge sonst kein Wort mehr machen kann.2006
Germania beredet Gott durch den wiederholten Imperativ schau! all ihre von Mars verhängten Leiden und Gebrechen wahrzunehmen, die sie in die Nähe des Todes bringen. Vom Scheitel bis zu den Sohlen fühlt sie sich von Schmerzen geplagt. Ihr geschundener Leib scheint ihr nur noch aus einer einzigen Wunde zu bestehen. Germanias bittere Selbstbetrachtungen kulminieren – wie üblich in dieser Textgattung – in der schockierenden Erfahrung der Selbstentfremdung: Ich ach leider! Bin mir selber gantz und gar nunmehr nicht gleich.2007
Die Heldin führt dies im Detail aus ohne Schonung ihrer selbst: Ja/ es grauet mir für mir/ daß ich kaum mich selbst mag schauen Meine Wangen hängen welck/ meine güldnen Haare grauen: Die gepflügte Stirne runtzelt/ beyde schläfe fallen ein/ Und die tieffe Augen haben fast verlohren allen Schein.2008
An dieser Stelle drängt sich der erste Vergleich mit Flemings Germania auf, die ebenfalls in antipetrarkistischer Topik ihre Entstellung und Hässlichkeit beschreibt: Die Glieder werden welk, das Fleisch ist abgeschwunden, die Sorge macht mich alt, eh’ es noch Zeit ist doch. Es ekelt mir für mir, der Runzeln schlaffe Wunden verstellen meine Haut. Die Schwindsucht frißt mich noch, die Stirne schrumpelt aus, die tiefen Schläfe grauen, die Augen fallen ein, die Zähne stehen los.2009
2006 Kiene: Poetische Nebenstunden, S. 77, Hervorhebungen T. B. Vgl. dagegen die ersten 12 Verse von Justus Georg Schottelius: Lamentatio Germaniae Exspirantis, fol. A 3 v. Dort thematisieren anaphorisch gereihte Relativsätze Germanias Identität, die aufgrund schrecklicher Schicksalsschläge zunächst fragwürdig erscheint. 2007 Ebd., S. 78. 2008 Ebd. 2009 Paul Fleming: Schreiben vertriebener Frau Germanien, V. 33 ff.
3.2.4 Christoph Friedrich Kiene (1655–nach 1721): Die klagende Germanie
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Noch deutlicher aber wird Kienes sowohl motivische als auch sprachliche Anlehnung an Fleming in Germanias folgender Klage über die Willkür höherer Mächte: Himmel! Bin ich denn dein Spiel? Hastu an mir dein Behagen/ Daß du mich/ wie einen Ball/ lässest hin und wieder schlagen? Hat es so die hohe Rache über mich O GOtt! verhängt/ Daß ich muß von allen Seiten seyn zu allerzeit bedrängt?2010
Bei Fleming heißt es: Ich bin der Götter Spiel und Kurzweil, ihr Behagen und lustiger Ballon, den immer himmelan bald die, bald jene Faust, bald hin, bald her tut schlagen, bis er wird atemlos und nicht mehr steigen kann. So hat die hohe Rach’ es über mich verhangen. Den Zepter giebet Gott und nimmt ihn, wenn er will.2011
Daraufhin greift Kienes Germania auf die seit der Antike geläufige Metapher vom Staatsschiff zurück und vergleicht sich selbst mit einem orientierungslos der Brandung preisgegebenen Wasserfahrzeug, das einen rettenden Kapitän oder Steuermann nötig hätte. Zudem beweint sie als einstmals gefeierte Königin den Verlust ihrer privilegierten Stellung innerhalb ihrer Familie, besonders unter ihren Schwestern: Ich die ich vor Zeiten war mit dem schönsten Schmuck geschmücket Unter meiner Schwestern Schaar/ ach! wie bin ich so zerstücket/ Wie so scheußlich bin ich worden! ward ich darumb reich und schön/ Daß ich sollte ärmer werden/ und den Buhlern Geldteil stehn? […] Ich die ich so mächtig war/ und so prächtig saß für allen/ Ich beglückte Königinn/ ach! wie bin ich so gefallen?2012
Bei Fleming jammert Germania: Ach! ach! ich Schöneste der allerschönsten Frauen, wie bin ich so verjagt, so ungestalt, so bloß! Ich, königliches Kind, wie bin ich so gefallen! Die ich die zärtste war in meiner Schwestern Schar, da ich die zwölfte bin, ich, die ich vor für allen der Mutter höchste Lust, die allerliebste war, […]
2010 Kiene: Poetische Nebenstunden, S. 78. 2011 Paul Fleming: Schreiben vertriebener Frau Germanien, V. 157 ff. 2012 Kiene: Poetische Nebenstunden, S. 78 f.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
Ach, warum war ich reich! Ach, warum war ich schöne! Ach, warum buhlte doch so mancher Fürst um mich!2013
Anders als bei Fleming kommt bei Kiene Germania zwar an keiner Stelle auf ihre eigene Mutter, nämlich Europa, zu sprechen, doch scheint dieser Gedanke implizit ebenso präsent. Die folgenden rund 50 Verse enthalten eine gattungstypische Schilderung von Kriegsgräueln. An einer einzigen Stelle wird der Kriegsfuror manieristisch durch eine asyndetische Häufung von Verben der Gewalttätigkeit charakterisiert, die sich, aufgeteilt in zwei Gruppen, aufeinander reimen:2014 Ach! wie klingt die rothe Klinge: O wie schlägt das Wetter ein! Mavors ficht/ sticht/ bricht/ vernichtet/ rennt/ brennt/ schändt/ erwecket Pein.2015
Schöne Städte, Wälder und Wiesen fallen durchziehenden Soldaten zum Opfer, Felder werden verheert, Kirchen in Pferdeställe verwandelt. Germanias Schlösser dienen ihren Worten nach als Wohnsitz nicht näher bezeichneter Verbrecher, welche lediglich als wilde Tiere charakterisiert werden, nämlich der Eulen, giftger Drachen, grauser Straussen und geharnschte[r] Wespen. Der Lärm von Trompeten und Kanonen hält Germania in ständigem Schrecken. Am härtesten trifft sie aber Leid und Tod ihrer eigenen Kinder, welchen sie als Mutter weder Abhilfe noch Linderung bringen kann: Meiner Kinder Schmertze will mein gequältes Hertze brechen/ Daß ich ihnen nicht ins Hertz Muth und Hertz und Trost kann sprechen: Wäre mir nur noch vergönnet/ daß ich einen Abschieds =Kuß Ihren Lippen geben möchte/ die ich traurig lassen muß: Daß ich ihren bleichen Leib möchte in die Erde graben? Ach! diß läst der Krieg nicht zu. Wilde Wölfe/ Räuber, Raben Graben ihnen aus die Augen. […]2016
Fortgesetzt wird diese Passage durch teils makabere Schilderungen vom qualvollen Sterben bzw. vergeblichen Sterben-Wollen tödlich getroffener Soldaten. Angesichts der sie umgebenden Verwesung glaubt sich Germania fast lebendig todt. Wie sie in einem Rückblick beteuert, muss sie nach einer trügerischen kurzen Freude über den Westfälischen Frieden erneut im Staub niederknien und Gott um Gnade anflehen. Schließlich legt sie ein förmliches Schuldbekenntnis ab: Nun ich beichte: Alle Laster sind bey mir geschlichen ein/ Und ich kann in keinem Stücke/ HERR! für dir unsträflich seyn.
2013 Paul Fleming: Schreiben vertriebener Frau Germanien, V. 39 ff.; 213 ff. 2014 Zu diesem Stilmittel vgl. Conrady, S. 149 ff. 2015 Kiene: Poetische Nebenstunden, S. 79. 2016 Ebd., S. 80.
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Tugend hab ich ausgejagt/ und die Lüste eingenommen: Ich bin von der Tugend Bahn auf der Laster Pfad gekommen. Ach! so arg war mir kein arges/ das mein Rasen nicht vollbracht/ Und kein Böses war so böse/ das nicht meiner Sinnen Nacht Hat mit toller Lust vollführt. Die Begierden spielten Meister/ Und die Königin Vernunft/ und die Göttlich =weisen Geister Musten seyn wie Unterthanen. Was die Wollust anbefahl/ Muste Geist und Leib ausrichten: Ich bin Ursach meiner Quaal.2017
Germania erkennt und akzeptiert also ihre eigene ambivalente Rolle als Opfer und Täterin zugleich. In bester humanistischer Tradition geißelt sie den Sittenverfall der Deutschen. Diese sind verweichlicht, lassen sich von schönen Frauen – geschmückten Helenen – die Kräfte rauben und erinnern kaum noch an Hermanns Zeitgenossen. Ebenso ergeben sie sich dem Trunk, führen Krieg mit Gläsern und beginnen teils mörderischen Streit miteinander, was Germania zu etymologischen Spielereien veranlasst (Weinen folgt nun auf dem Wein). Wer kann, bringt unrechtmäßigen Besitz an sich. Bittere Klagen gelten der Korruption im Rechtswesen, wo die Hoffart die Gerechtigkeit verdrängt, und dem verabscheuungswürdigen Alamode-Wesen. Die Großen der Welt werden mit Giganten verglichen, die in wahnwitziger Überschätzung ihrer eigenen Kräfte gegen den Himmel anstürmen und Gott herausfordern. Das gemeine Volk flucht und missachtet den besonderen Charakter von Sonn- und Feiertagen. Angesichts dieser vollkommen aussichtslosen Lage beschließt Germania, gemeinsam mit ihren Kindern zur Versöhnung Gottes aktiv zu werden: Kinder! wo ihr mich noch wollt/ wo ihr mich noch könnet kennen: Wo ihr mich bedrückte Frau noch müßt eure Mutter nennen: So müßt mit gebognen Häuptern ihr für Gottes Throne stehn/ Und von Hertzen Reu und Seufzer nach dem Himmel lassen gehn. Beuget Gottes Hertz mit mir/ eh das Urtheil wird gesprochen/ Das euch Licht und Freyheit raubt. Wenn bereits der Stab gebrochen/ Ist die Gnaden Zeit zu Ende: Wenn das Richt =Schwert ist gezückt/ Gilt bey diesem Richter nichtes; als daß man sich beugt und bückt.2018
Kiene nimmt hier deutlich Bezug auf zwei Passagen von Fleming: Ihr meine Kinder, Ihr! So ihr mich noch könnt nennen, so euch der Mutter Nam’ erhitzet euren Sinn. Ihr Söhne, so ihr noch mich könnet Mutter nennen, […]
2017 Ebd., S. 82. 2018 Ebd., S. 84 f.
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3 Allegorische Germania-Heroiden: Einzelinterpretationen
Ja, soll für meinem End’ ich noch zu Porte länden und meine Kinder sehn, so müßt ihr Alle stehn mit Räuch- und Opferwerk’ und aufgehabnen Händen und eurer Seufzer Brunst von Herzen lassen gehen zu Gott und himmelan. […]2019
Sowohl die Anrede der Kinder, die nur noch bedingungsweise so heißen dürfen, als auch die dringlich empfohlene Bußhandlung entsprechen einander fast wörtlich. Als Inspiration für derartige Aufforderungen dürfte eine Passage aus dem Buch Baruch2020 gedient haben, wo Jerusalem ihre Kinder beschwört, zu Gott zu schreien und zehnfachen Eifer in der Reue und Umkehr zu beweisen. Im Folgenden richtet Kienes Germania jeweils separate Ermahnungen an ihre Töchter und Söhne. Die prachtvoll herausgeputzten Töchter sollen äußerem Glanz und Eitelkeit entsagen2021 und stattdessen ihrer Mutter Krieger und weise Berater gebären. Die Söhne – auch hier wieder mit einer deutlichen Referenz auf den Beginn von Flemings Gedicht angesprochen: Söhne! Wo die Mutter =Lieb eure Sinnen noch erhitzet; – sollen sich auf den Heldenmut ihrer Ahnen besinnen und Germania mit dem Schwert verteidigen. Weitere vier Verse gelten den Säuglingen und Kleinkindern, welche noch nicht der Sprache mächtig sind. Diese sollen Gott mit ihrem noch kaum artikulierten Lallen und Stammeln um Gnade anflehen und durch ihre noch unversehrte Unschuld sein Herz rühren. In der abschließenden Passage wendet sich Germania wieder mit direkten Appellen an ihren Vater. Diesmal mischt sie Vorwürfe in ihr Flehen und beschwört Gott, nachdem er reichlich Vergeltung geübt habe, nun endlich von seinem Zorn abzulassen: HERR! wie lange soll noch bleiben deine Sehne aufgespannt?2022 Wenn wird deines Grimmes Ruthe/ die mich stäupet/ seyn verbrannt? Wiltu deine Tochter denn gantz zu nicht zu nichte machen? Wehe! wehe! wehe mir! von mir überwundner Schwachen Kannstu wenig Ehre haben. Es ist ja ein schlechter Sieg/ Den der Vater trägt von Kindern. Friedens =Fürst! Verjag den Krieg. […] HERR! bezeuge/ daß du beugest/ und dennoch nicht gantz zerstückst/ HERR! bezeuge/ daß du schlagest/ und dennoch nicht gantz zudrückst. Vater! gib nach Kriegen Fried/ und laß/ O du GOTT der Götter/
2019 Paul Fleming: Schreiben vertriebener Frau Germanien, V. 1 ff.; 261 ff. 2020 Bar 4, 21–29. 2021 Zur Hoffart der Töchter Zions vgl. Jes 3,16–4,1; Jes 32, 9–14. 2022 Zu Gott als strafendem Bogenschützen vgl. Klgl 2, 4; Klgl 3, 12–13.
3.2.4 Christoph Friedrich Kiene (1655–nach 1721): Die klagende Germanie
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Mir die Sonne gehen auf nach dem steten Donnerwetter; Alsdenn soll die todte Zunge neu belebet regen sich/ Und/ O ewig guter Vater! immer ewig preisen dich.2023
Ähnlich wie in Schottelius’ Lamentatio Germaniae Exspirantis wird Germanias Tonfall gegen Ende ihrer Klage zuversichtlicher, und sie nimmt bereits vorweg, in welcher Weise sie im Falle ihrer Erhörung Gott Lob und Dank aussprechen will. Kiene führt Tendenzen fort, die er bei Fleming und Autoren wie Schottelius vorgefunden hat: bei Fleming das Motiv der Verbannung und Einsamkeit, bei Autoren wie Schottelius das alttestamentarische Motiv der verdienten und dennoch unerträglichen Buße sowie das auf die Spitze getriebene Pathos, das geradezu wollüstige Schwelgen in Todes- und Schreckensszenarien. Schottelius flicht in seinen Text von über 800 Versen gebetsartige Passagen, direkte Anrufungen Gottes, ein; Kiene geht darüber deutlich hinaus, indem er eine ganze Heroide als Gebet gestaltet.
2023 Kiene: Poetische Nebenstunden, S. 85 f.
4 Resümee Die von deutschen Humanisten des 16. Jahrhunderts verfassten Germania-Heroiden erscheinen mit ihrer adhortativen Ausrichtung und ihren plakativ formulierten Appellen als poetisches Pendant zu propagandistischen Schriften jeglicher Gattung, welche auf antiosmanische Agitation und patriotische Unterweisung abzielen wie z. B. Reden, historiographische Werke, politische Traktate, Predigten, Schauspiele, illustrierte Einblattdrucke und Flugschriften. Sie bringen zwei komplementäre Kernforderungen zum Ausdruck, welche sowohl die gelehrte lateinische als auch die volksnahe deutschsprachige Publizistik der damaligen Epoche prägten: Der Appell zur entschlossenen Abwehr der Türkengefahr geht einher mit dem Aufruf zur brüderlichen Einheit und concordia der deutschen Reichsstände untereinander. In ideologischer Hinsicht stellen die Germania-Heroiden eine Fortführung von Argumentationsmustern und rhetorischen Strategien dar, welche auf der Reichstagsoratorik der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts basieren, in ästhetischer Hinsicht verdanken sie ihre Gestalt der wahrscheinlich von Petrarca geschaffenen und von Hutten und Hessus maßgeblich weiterentwickelten patriotisch-allegorischen Versepistel. In welcher Weise der die ganze Christianitas erschütternde Fall Konstantinopels (1453) und die Wiederentdeckung der taciteischen Germania (1455) zunächst hochrangige und politisch aktive italienische Humanisten wie Enea Silvio Piccolomini und Giannantonio Campano zur Entwicklung dezidierter Germanien/ Deutschland- und Europa-Konzepte inspirierte, wurde in Kapitel 2.1.4 erläutert. Festzuhalten ist, dass beide Konzepte jeweils auf ihre Weise zur Einbindung der Deutschen in den Türkenkrieg dienten, also von Anfang an interessengeleitet und höchst ideologisch aufgeladen waren. Gerade dieser Umstand erweist sich als zweischneidiges Schwert. Ohne es zu wissen oder zu wollen, lieferten die Italiener somit den deutschen Humanisten ein wertvolles ideologisches Instrument, um sich gegen das immer weniger als maßgebliche Instanz akzeptierte Rom/ Italien und dessen kulturelle Überlegenheitsansprüche zu behaupten. Hutten, Hessus und Sabinus führen als erste zwei bislang separate Stränge, einen ideologischen und einen ästhetischen, zusammen, indem sie die bis auf Enea Silvio zurückgehende Topik der zeitgenössischen Germanen- und Türkenpublizistik in die wahrscheinlich von Petrarca geschaffene (oder zumindest maßgeblich beeinflusste) Form der patriotisch-allegorischen Heroide transferieren. Hutten und Hessus leisten dies in Bezug auf Italia/Roma (bzw. Ecclesia Romana), Sabinus verfasst selbst eine heroidenähnliche Roma-Klage. Dies geschieht teilweise unter dem Eindruck des Sacco di Roma, also wiederum eines unheilvollen, durchaus auch apokalyptisch gedeuteten Ereignisses. In den erwähnten Texten war schon https://doi.org/10.1515/9783110788754-004
4 Resümee
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das ambivalente Verhältnis zwischen Italien/Rom und Germanien/Deutschland angeklungen – wenig überraschend, da ersteres das Kaisertum hervorgebracht, zweiteres eben dieses Kaisertum – laut gängiger Translationstheorie – „geerbt“ oder okkupiert hat. Zudem stellt Rom als Sitz des Papsttums weiterhin explizit oder implizit eine Herausforderung für das nicht ausschließlich, aber überwiegend germanisch-deutsche Selbstverständnis dar. Anlässlich von Melanchthons geplantem Kommentar zum Buch Daniel, auf welchem ja die Translationstheorie basiert, und anlässlich konfessioneller Spannungen hat Sabinus den Einfall, den von Melanchthon zum Adressaten der Widmungsschrift bestimmten König Ferdinand zur Abwehr der stets mehr oder weniger präsenten Türkengefahr zu mahnen, was an sich nichts Neues wäre – doch in diesem Falle nicht in eigenem Namen, auch nicht auf bloße Bitten eines personifizierten Deutschlands hin, sondern zum ersten Mal durch einen Brief aus dessen eigener Feder. Somit war die Idee einer Germania-Heroide geboren. Auf dieses eher kurze Gedicht folgen bald weitere von anderen Autoren, in denen bestimmte, bereits aus anderen Textgattungen bekannte Topoi der Germanen- und Türken-Thematik in weitgehend systematischer Weise abgearbeitet werden. Mit anderen Worten: Die Topik der Reichstagsoratorik wird in die Form der Heroide gefasst. Die von Enea Silvio Piccolomini erstmals vorgenommene, bald schon die communis opinio beherrschende Gleichsetzung von Germanen und Deutschen lässt sich in den vorliegenden Heroiden ebenso wie in anderen Textgattungen (meist unter expliziter Vereinnahmung der von Hutten in die Literatur eingeführten Arminius-Gestalt) zum Mythos einer glanzvollen, in manchem sogar der römischen Zivilisation überlegenen germanischen Vergangenheit ausbauen, an welche es durch Rückbesinnung auf alte Tugenden unverzüglich wieder anzuknüpfen gelte. Dieser unablässigen Forderung entspricht der eindringliche Appell zum Türkenkrieg, welcher unter Aufbietung aller nur verfügbaren Legitimationsstrategien sowohl mit der Semantik der Vaterlandsverteidigung und des bellum iustum als auch mit derjenigen des religiös motivierten Kreuzzugs zur Rettung und Ehre des nomen Christianum propagiert wird. Zur Inkriminierung des großen Gegners steht ein bewährtes Arsenal an Feindstereotypen bereit, welches sich teils aus apokalyptischen Bibelpassagen, teils aus römisch-antiken Barbarentopoi, nicht zuletzt aber auch aus der mittelalterlichen Darstellung der das Heilige Land okkupierenden Araber und Sarazenen speist. Die Türken erscheinen bei Sabinus einmal als Verbündete des Antichristen, ansonsten auch anderweitig generell als heimtückisch aus dem Hinterhalt ihre Pfeile abschießende, dem negativen antiken Asiatenklischee entsprechende Krieger (Parther, Geten, Skythen), bisweilen als meineidige Vertragsbrecher, fast immer jedoch als Mörder, Vergewaltiger und Kirchenschänder, welche vor keiner Perversion zurückschrecken. Der eigenen Kultur, die sich über den christlichen Glauben, antike Bildung, ritterliche
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4 Resümee
Ideale und strenge Moralvorstellungen definiert, steht in konsequenter SchwarzWeiß-Zeichnung die Verkörperung des Bösen gegenüber. Die Osmanen des 16. Jahrhunderts füllen dabei in direkter Kontinuität zu den Arabern des Hochmittelalters die alte Rolle des islamischen Erbfeindes aus. Eine Ausnahme von dem Modell der antiosmanischen Agitation stellen dabei lediglich zwei Heroiden des Johannes Stigelius dar, nämlich die beiden an den sächsischen Kurfürsten Johann Friedrich und den hessischen Landgrafen Philipp adressierten Schreiben der Germania, welche jeweils einen Konflikt zwischen europäischen Mächten thematisieren und im ersten Fall durch explizite Polemik, im letzteren implizit eine konfessionelle Positionierung demonstrieren.1 Gegenüber den ovidischen Heroiden und den nach ihrem Modell verfassten literarisch-unterhaltenden Briefen, die in einem ästhetisch reizvollen, raffinierten Spiel mit rührenden, tragischen und trotz allem auch humorvollen Elementen bestehen, dominiert in den Germania-Heroiden die pragmatische Appell-Funktion. Direkte und plakative Appelle, in der Regel durch eine detaillierte Aufzählung mythologischer und historischer Exempel gestützt, durchziehen in zahlreichen Wiederholungen den meist mehrere hundert Verse umfassenden Text. Strategien zur Affekterregung und Sympathielenkung sowie anspielungsreiche Demonstrationen von Gelehrsamkeit dienen nicht mehr in erster Linie der Unterhaltung eines anspruchsvollen Lesers, sondern sind eindeutig einer bestimmten moralischen Didaxe, einer patriotisch-politischen Disziplinierungsabsicht untergeordnet. Grob unterscheiden lassen sich in den behandelten Texten zwei Arten der Figurenperspektive: Germania erscheint entweder selbst als Schreiberin und beinahe zu einer Art „Pseudo-Gottheit“ erhobene (königliche) Muttergestalt, die in einer existentiellen Notlage von ihrem Sohn (Kaiser, König, Landesfürst) bzw. ihren Söhnen (Kurfürsten, Reichsständen) Rettung vor den Türken und die Wiederherstellung ihrer alten Würde einfordert (Germania afflicta), oder als Adressatin in der Rolle einer starken, aber moralisch degenerierten, pflichtvergessenen und gegenüber einstigen Wohltätern undankbaren Kriegerin (Germania dege nerans). Diese zweite Art der Darstellung steht nicht unwesentlich in der alten Tradition der Mahnung an ein in Dekadenz versinkendes Rom oder ein von Gott abgefallenes Jerusalem. Ob Germania nun als Verkörperung der Reichsstände von einem anonymen lyrischen Ich zur moralischen Besserung und zur Rückbesinnung auf alte Tugenden angehalten wird oder ob sie selbst als Notleidende in 1 Die übliche Zeichnung der Osmanen als Erbfeinde, welche es zu bekämpfen gilt, stellt dort nicht das (Haupt-)Argument dar, wird aber, wie aus beiläufigen Erwähnungen innerhalb der Exempelketten deutlich genug hervorgeht, keineswegs in Frage gestellt. Vielmehr bietet die andauernde Osmanengefahr den als selbstverständlich vorauszusetzenden Hintergrund für eine rundum beklemmende Situation.
4 Resümee
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dieser Weise an den/die Mächtigen appelliert, scheint für die ideologische Ausrichtung des Textes keinen wesentlichen Unterschied auszumachen. Mahnungen von und Mahnungen an Germania laufen im Grunde auf das Gleiche hinaus: auf Eintracht im Inneren und auf entschlossene Abwehr von außen drohender Gefahren. Dabei ist nicht immer eindeutig zu unterscheiden, ob die Türkengefahr um der inneren Eintracht willen oder die innere Eintracht um der Türkengefahr willen beschworen wird. Fast jeder Text enthält bittere Klagen über Germanias selbstzerstörerische Neigungen (notorische Zwietracht, Dekadenz, Abfall von Gott), die ihr größeren Schaden zufügen als jeder äußere Feind. Mittels einer doppelten Allegorisierung gestalten manche Autoren sogar eine explizit schwesterliche Korrespondenz zwischen zwei personifizierten Ländern bzw. zwischen Land und Kirche. In solchen Fällen erscheint die mit dem traditionellen ehrenvollen Epitheton bellatrix beschworene Germania als Adressatin eines flehentlichen, ja sogar vorwurfsvollen Hilfegesuchs und nimmt als stärkere, aber hartherzige Schwester entsprechend der ursprünglichen ovidischen Paarkonstellation (trotz aller dezidiert weiblichen Zuschreibungen) gewissermaßen die Rolle des männlichen Helden ein, welcher sich grausamer Treulosigkeit schuldig gemacht hat. Einige der in fast allen Heroiden ausgiebig gebrauchten Topoi, z. B. derjenige vom germanischen Ersatzaltertum und der mittelalterlichen Reichsherrlichkeit, lassen sich in doppeltem Sinne funktionalisieren, d. h. sie können sich im Munde der klagenden Schreiberin Germania mitleiderregend ausnehmen, ebenso lassen sie sich aber auch zur Inkriminierung einer hartherzig ihre Hilfe verweigernden angesprochenen Germania umkehren. Ausschließlich in den Schreiben des letzteren Typus jedoch begegnet, ja dominiert durchweg der warnende Hinweis auf die lieblos und leichtsinnig unterschätzte Bedeutung des jeweiligen bedrohten Nachbarlandes als Schutz und Schirm des eigenen Bodens gegen die Türken. Wo der moralische Appell an die verwandtschaftliche Solidarität nicht ausreicht, so die Argumentation, soll Germania wenigstens im eigenen Interesse dem flehentlichen Hilfegesuch nachkommen, um den Feind nicht erst bis an ihre Grenzen gelangen zu lassen. Der Auftritt personifizierter Schreibinstanzen wie Austria, Pannonia oder Ecclesia dient offenbar in erster Linie der emotionalisierenden Vergegenwärtigung des auch in der sonstigen Publizistik hinreichend bemühten propugnaculum- oder antemurale-Topos. In diesem Kontext nimmt Ungarn/Pannonia auch abwesend eine maßgebliche Rolle ein, insofern als sich auch andere Briefpartnerinnen Germanias für das bedrohte Land an der Peripherie einsetzen (Austria, Ecclesia). Somit klingt das Motiv eines Dreiecksverhältnisses an, wird jedoch nicht näher ausgeführt. Die poetisch raffiniertesten Germania-Heroiden stammen aus der Feder der prominenteren Melanchthonschüler. Sabinus gebührt der Ruhm des Archegeten. Der andere namhafte poeta doctus an Melanchthons Seite, Sabinus’ Freund
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4 Resümee
und einstiger Kommilitone Johannes Stigelius, gestaltet die inventio seiner Episteln variationsreich aus und lässt in teils aufwendigem mythologischem Apparat mehrere Sprecherinstanzen zu Wort kommen. Auch die Querelae von Caspar Ursinus Velius und Paulus Rubigallus vermitteln noch dem heutigen humanistisch interessierten Leser eine Ahnung von der wirkungsmächtigen adhortativen Ausrichtung dieser Sendschreiben, während bei anderen Autoren die Textgestaltung wesentlich schlichter ausfällt. Teils handelt es sich dabei um Jugendwerke, poetische Übungen oder kleine Huldigungsgaben an (erhoffte) Mäzene von Männern, welche sich später primär als Amtsträger auf anderen Gebieten einen Namen machen sollten (Michael Helding, Sebastian Glaser, Eustachius von Knobelsdorff, Nikolaus Kistner, Nikolaus Reusner), teils scheint das Bestreben, sich in eine gerade erst von den vorhergehenden Generationen etablierte literarische Tradition einzuschreiben, ästhetisch-künstlerischen Gesichtspunkten übergeordnet.2 Bei Stigelius lässt sich ein bevorzugter Rekurs auf Ovids Penelope-Heroide beobachten, Rubigallus verarbeitet den Grundgedanken von einseitiger Schwesterliebe mit effektvoller Bezugnahme auf das von Vergil und Ovid maßgeblich geprägte Dido-Aeneas- und Dido-Anna-Verhältnis. Ovids Exildichtung sowie zusammenhanglos tradierte Einzelverse werden von allen ausgiebig als Modell genutzt. In manchen Fällen nehmen auch die Humanisten explizit aufeinander Bezug: Rubigallus auf Ursinus Velius, Reusner auf Sabinus. Insgesamt aber bleibt die Suche nach eigenen fiktionalen Gestaltungsprinzipien (über die Grundfiktion der Germania-Allegorie und Briefsituation hinaus) bei den weniger namhaften Poeten begrenzt, dafür werden die mittlerweile bereits bewährten Gemeinplätze in stetiger Wiederholung und mit Hilfe ausgedehnter Exempelketten aneinandergereiht. Im Zusammenhang mit dem Appell zur concordia wird stets das typisch humanistische Kulturprogramm formuliert: Wenn der Herrscher Religion, Rechtsprechung, Wissenschaften und Künste zu neuer Blüte bringe, sei ihm Gottes Beistand im Kampf gegen den Feind gewiss. Der (tatsächliche oder vorgebliche) Versuch, auf die Großen im Reiche Einfluss zu nehmen, und somit auf die Weltpolitik, generell ein Charakteristikum für die Literatur dieser Epoche, scheint sich als eine Art Mode etabliert zu haben. Der zumindest theoretische Anspruch der Autoren, belehrend und erzieherisch auf eine breite Öffentlichkeit einzuwirken (wie realistisch oder illusorisch auch immer), findet hier eine plakative Umsetzung. So ist auch bei den Heroiden außer dem 2 Hier wäre insbesondere an Nikolaus Reusner zu denken, der das ambitionierte Projekt der Sammlung aller ihm nur irgend zugänglichen Türkenreden vom ausgehenden 15. Jahrhundert bis zu seiner eigenen Zeit verfolgte. In einem vierbändigen Monumentalwerk publizierte er sowohl tatsächlich gehaltene als auch rein literarische Reden, welche er durch einen eigenen Beitrag, den an Kurfürsten und Kaiser adressierten Doppelbrief der Germania, quantitativ anreicherte.
4 Resümee
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explizit genannten Adressaten (Kaiser, König, Kurfürsten) jeweils ein weiteres Publikum miteinbezogen, welches im günstigsten Fall aus politisch einflussreichen Personen besteht, zumindest aber aus anderen Humanisten, aus Kollegen, Freunden und Rivalen des jeweiligen Autors. Der Rollencharakter dieser von Ovid einst auf die Darstellung größter Intimität zugeschnittenen poetischen Gattung bietet den Humanisten eine hochwillkommene Möglichkeit, im Namen des personifizierten (und sakralisierten) Vaterlandes mit einer überpersönlichen Autorität ihre reichspolitischen und kulturpatriotischen Positionen in Umlauf zu bringen. Die patriotisch-allegorischen Germania-Heroiden des 16. Jahrhunderts dienen der emphatischen Revokation der allgemein theoretisch beschworenen, aber in der politischen Realität wenig beachteten Maxime, dass der Friede im Reich (und in Europa) und die Umlenkung kriegerischer Energien gegen den äußeren Feind, nämlich die Türken, einander wechselseitig bedingen. Die deutschsprachigen Heroiden des 17. Jahrhunderts, begründet von Paul Fleming, auf dessen Schreiben vertriebener Frau Germanien die jüngeren Autoren Justus Georg Schottelius und Christoph Friedrich Kiene deutlich Rekurs nehmen, führen in vielem die humanistische Topik fort. Sie verstehen sich nun als Ausdruck der traumatischen Erfahrungen des Dreißigjährigen Krieges bzw. der expansionistischen Bestrebungen Frankreichs unter Ludwig XIV. Als neue aktuelle Anliegen kommen hinzu die Alamode- und Sprachkritik sowie ein grundsätzliches tiefes Misstrauen in die Staatskunst oder Staatsräson. Das Alamode-Wesen bezeichnet die wahllose Imitation und Aneignung französischer Sitten (Kleidung, Speisen, Komplimente), insbesondere die Verunstaltung der zu neuer Wertschätzung erhobenen deutschen Muttersprache durch französische Worte und Wendungen. Durch „Nachäffung des Franztums“, so der geläufige Vorwurf, werde die gottesfürchtige, einfältig-fromme Reinheit der Deutschen verdorben. Sprachreinheit und Speisegewohnheiten erscheinen solchermaßen als Träger moralischer Integrität. Durch den Schmähtopos der Unaufrichtigkeit und Lüge lässt sich an das Alamode-Verdikt die Kritik an Staatskunst und Staatsräson anschließen. Erfahrungsgemäß hatten die stets wechselnden Allianzen und Bündnisschlüsse das Ende des fürchterlichen Krieges keineswegs beschleunigt. So verurteilt in den Heroiden Germania immer wieder die Staatskunst, welche unter ausgiebigem Gebrauch pathologischer Metaphorik als vergiftete todbringende Arznei für den Reichskörper diskreditiert wird. Hinzu kommt eine ausgeprägte Friedenssehnsucht. Christoph Friedrich Kiene zieht die größten Konsequenzen aus den religiös überformten Heroiden seiner Vorgänger und lässt seine Germania nach dem alttestamentarischen Modell einer Zion/Jerusalem Klage vor Gott erheben und Buße versprechen. Wie es scheint, ist der Heroidenbrief die am ehesten zur Emotionalisierung politischer Anliegen sowie zur Harmonisierung konfessioneller Spannungen dienende und konsensstiftende Textgattung.
5 Nachbemerkung In das Textcorpus dieser Arbeit konnten entgegen meiner ursprünglichen Absicht nicht alle Texte aufgenommen werden, welche die Kriterien einer Germania-Heroide erfüllen oder diesen nahekommen. So wird man vielleicht beim Sichten von Gedichtsammlungen auch immer wieder zufällig auf Gedichte stoßen, die eine ähnliche Beachtung verdienten. Diese Arbeit soll Schnittstellen zwischen Germanistik und Latinistik abdecken, was auch methodisch einige Herausforderungen mit sich bringt. Da sie in erster Linie sehr umfangreiche lateinische Texte behandelt, aber sich nicht nur an Leser mit den Lateinkenntnissen eines Klassischen Philologen richtet, werden als Verständnishilfen Übersetzungen beigefügt. Die Heroiden aus meinem ausgewählten Corpus sowie sporadisch herangezogene Vergleichstexte biete ich mit eigenen Übersetzungen, sofern nicht – wie in einigen wenigen Fällen – schon solche verfügbar sind. Um mich in quantitativer Hinsicht zu entlasten, hatte mir Oberstudienrat i. R. Georg Burkard, der seine eigenen poetischen Fähigkeiten schon erfolgreich in humanistische Forschungsprojekte eingebracht hatte, für einige der äußerst langen Texte sehr gelungene handschriftliche Versübersetzungen zur Verfügung gestellt. Diese betrafen die Kapitel zu Johannes Stigelius, Caspar Ursinus Velius und Eustachius von Knobelsdorff und wurden für die als Dissertation eingereichte Fassung genutzt. In der vorliegenden Fassung habe ich sie um der Einheitlichkeit willen durch eigene Prosaübertragungen ersetzt. Längere Zitate von Klassikern werden in der Regel nach zweisprachigen Ausgaben zitiert und übersetzt. Der Rückgriff auf die benutzerfreundliche Ausgabe der Heroides von Detlev Hoffmann u. a. hat einen weiteren Grund. Die modernen textkritischen Editionen unterscheiden sich derart eklatant von den Ausgaben, welche die Humanisten genutzt haben müssen, dass Verweise auf Intertextualität kaum möglich sind ohne umständliche textkritische Erörterungen, die nichts zu interpretatorischen Fragen beitragen, ja sogar eher davon ablenken. Die von den Humanisten gebrauchten Ausgaben jeweils einzeln zu ermitteln, dürfte kaum möglich sein. Im Zentrum meiner Arbeit steht weniger die nach der communis opinio des 20. und 21. Jahrhunderts authentische Fassung der antiken Texte als die Frage, in welcher Weise die Humanisten die Klassiker in der ihnen bekannten Gestalt zur Formulierung ihrer eigenen patriotischen Anliegen genutzt haben. Nicht alle der hier behandelten Texte sind in Drucken, Editionen oder Forschungsliteratur bisher unter einheitlichen Titeln verfügbar, manche sind nur mit Huldigungen an ihren Adressaten überschrieben, d. h. mit einer Anrede, die nicht selten aufgrund einer Länge von mehreren Zeilen zu Abkürzungen herausfordert. Ein anschauliches Beispiel dafür bieten die drei Heroiden von Johannes https://doi.org/10.1515/9783110788754-005
5 Nachbemerkung
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Stigelius, besonders der Brief an Karl V. (Ad invictissimum imperatorem Carolum quintum […] Germaniae epistola gratulatoria). Daher war es aus pragmatischen Gründen nötig, nach dem Vorbild von Heinrich Dörrie für manche der Texte überhaupt erstmals Titel zu wählen, zumindest griffige, möglichst kurze Arbeitstitel (Germania ad Carolum). Allein diese erscheinen auch im Literaturverzeichnis. Die Schreibweise der jeweiligen Textvorlage wurde weitgehend beibehalten (z. B. foemina, lachryma, Ausonij, Poematvm Liber), in Buchstaben ausgeschrieben wurden diakritische Zeichen und Ligaturen außer &. Artikel aus den geläufigen literatur-, geschichts- und altertumswissenschaftlichen Lexika sowie bloße Hinweise auf weiterführende Literatur, welche nicht in die Arbeit eingeflossen ist, werden aus Platzgründen nur an der betreffenden Stelle, nicht mehr im Literaturverzeichnis vermerkt. Antike Autoren werden nach dem Verzeichnis des Lexikons der Alten Welt abgekürzt, alle Referenzen auf die Bibel erfolgen nach Die Bibel. Altes und Neues Testament. Einheitsübersetzung. Freiburg u. a. 1980.
Abkürzungsverzeichnis ADB CR DKP DNP EdN HWPh HWRh LAW LexMA LThK MBW R MBW T NDB OLD RAC RE RGA RLW RTA TRE ZPE
Allgemeine Deutsche Biographie Corpus Reformatorum Der Kleine Pauly Der Neue Pauly Enzyklopädie der Neuzeit Historisches Wörterbuch der Philosophie Historisches Wörterbuch der Rhetorik Lexikon der Alten Welt Lexikon des Mittelalters Lexikon für Theologie und Kirche Melanchthon Briefwechsel, Regesten Melanchthon Briefwechsel, Texte Neue Deutsche Biographie Oxford Latin Dictionary Reallexikon für Antike und Christentum Pauly Realencyclopädie Reallexikon der germanischen Altertumskunde Reallexikon der Literaturwissenschaft Deutsche Reichstagsakten Theologische Realenzyklopädie Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik
https://doi.org/10.1515/9783110788754-006
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Personenregister Abailard i.e. Pierre Abelard 112 Abschatz, Georg Friedrich von 560 Abschatz, Hans Aßman von (Alrunens Warnung an Deutschland) 168, 559–575, 577–578, 580, 585 Abschatz, Johann Erasmus von 560 Achill(eus) 109, 128, 213, 267, 462, 511, 577 Acontius 103, 226, 404 Acontius, Melchior 351 Adam 582, 584 Adrian von Utrecht, siehe Hadrian VI. 244 Aegidius, Petrus 80 Aelian 504 Aelius Aristides 42, 47 Aeneas 86, 108, 137, 174, 211, 261, 295, 319, 365–366, 382–383, 385–386, 393, 439, 441, 462, 467, 471, 577, 596 Aesticampianus (Sommerfeld), Johannes Rhagius 322 Agamemnon 225 Agricola, Rudolf, d. Jüngere 323 Aischylos 30 Ajax 129, 243 Al Kamil i.e. Al-Malik-al Kamil Muhammad, Sultan von Ägypten 177 Alarich 44 Albrecht Alcibiades, Markgraf 470 Albrecht II., röm.-dt. König 319, 355 Albrecht von Brandenburg, Kardinal und Erzbischof von Mainz 84, 88, 169, 279, 317 Albrecht von Preußen, Herzog 138 Albrecht, Markgraf von BrandenburgAnsbach 317 Aleander, Hieronymus 138 Alenus, Andreas 112, 582 Alexander der Große, König von Makedonien 61, 149, 156, 170, 200, 462 Alexander Severus, röm. Kaiser 200 Alexander VI., Papst 239 Alighieri, Dante 10, 58 Alkaios 32 Ambitio (Personifikation) 100 Ambrosius, Kirchenvater 43 https://doi.org/10.1515/9783110788754-008
Ammianus Marcellinus 45, 192, 389 Amor 288, 460, 479 Anchises 206 Andromeda 100, 201 Angelus Silesius (Johannes Scheffler) 524 Anna von Cleve 185 Anna, Schwester der Dido 382, 383, 385, 393 Annius von Viterbo (Giovanni Nanni) 436–437 Antilochus 262–263 Antonius siehe Marc(us) Anton(ius) 211 Apelles, griech. Maler 199–200 Aphrodite siehe Venus 539 Apoll(on) 49, 208, 243, 316, 378, 504, 541 Archilochos 85 Ares siehe Mars 32, 539 Aretino, Pietro 244 Ariadne 103, 376, 393, 458–459, 489–490 Arion 504, 509 Ariovist 98, 544 Aristides 200 Aristoteles 200, 414 Arminius 2, 24, 90, 98, 100–101, 143, 148–151, 199, 296–297, 377, 459, 493–494, 522, 544, 554, 563–565, 568–571, 573–574, 578, 589, 593 Arnold von Brescia 57 Asblaste, Arminius‘ Mutter 569 Athene, Pallas 32, 46, 129, 213, 335, 422 Atossa, Witwe des Dareios 30 August, Herzog von Braunschweig und Lüneburg 520, 522–524, 526, 555–556, 558 Augustinus, Aurelius, Kirchenvater 44–45, 237, 560 August, Kurfürst von Sachsen 470 Augustus, röm. Kaiser 32, 39, 50, 65, 69, 102, 130, 133, 153, 160, 185, 200, 209, 211, 220, 275, 277, 295, 392, 515, 565, 570, 577 Ausonius, Decimus Magnus 45 Avaritia (Personifikation) 100 Aventin, Johannes 416, 427, 437 Avitus, Eparchius, weström. Kaiser 49, 51
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Personenregister
Balassi, Bálint 356 Balde, Jacob 112 Barbarossa siehe Friedrich I. Barbarossa 57 Bartholomäus (de) Cotton 387 Bathseba 582–583 Baudri de Bourgueil 109 Bebel, Heinrich 8, 24, 76–79, 84, 86, 437, 579 Beda Venerabilis 85 Bellona 421–422 Bembo, Pietro 138, 164, 323 Ben Muley Hassan, König von Tunis 210 Benedikt von Sant‘ Andrea 53 Benedikt XII., Papst 59, 116–119, 398 Berekynthia 268 Bernhard von Morlas 57 Bernini, Gian Lorenzo 561 Berosus 436 Bessarion, Kardinal 290 Bidermann, Jakob 112 Birgitta von Schweden, Hl. 220 Birken, Sigmund von 521, 525 Bockelson, Jan siehe Leyden, Jan van 230 Bodmer, Johann Jakob 111 Böhme, Jakob 524 Bolderian 552 Boyd, Mark Alexander 102, 107, 110 Brecht, Bertolt 2–3 Breitinger, Johann Jakob 111 Brennus, gall. Heerführer 129 Bretschneider, Andreas 483, 517, 529 Briseis 109 Brückner, Christine 114 Bruschius, Caspar (Querela afflictae Germaniae) 194, 426–434, 437, 439–441, 443–444 Bruschius, Johann 433 Bucchemer(us), Philipp 84 Bucer(us), Martin 230, 251, 255, 413–414 Burckhardt, Franz 184–185, 224 Cacus 410, 462 Caesar, Gaius Julius 23–24, 36, 39–40, 50, 64–65, 265, 544, 572, 580 Caesarius, Johannes 193 Caligula, röm. Kaiser 66 Callimachus (Buonaccorsi), Philipp 312
Calpurnius Siculus 504 Calvin, Johannes 414 Camerarius, Joachim 169, 225, 268–270, 349, 374, 427 Camerarius, Ludwig 556 Camilla, Kriegerin 174 Camillus, Marcus Furius, röm. Feldherr 152–153 Campano, Giannantonio 8, 23, 90, 154, 592 Canace 217, 379, 384, 404 Candaules, lydischer König 582 Carafa, Oliviero, Kardinal 243 Carbo, Gnaeus Papirius, röm. Feldherr 424, 452 Cassander, Georg 302 Catilina, Lucius Sergius 34, 36, 257 Cato Maior 33, 287, 309 Catull(us), Gaius Valerius 105, 213, 376, 478 Celtis, Konrad 8, 24, 136, 172, 188, 203, 267, 322, 428, 432, 444, 546, 573 Chaireddin Barbarossa, osman. Admiral 210–211 Charles III., Herzog von Bourbon 127 Christoph von Württemberg, Herzog 276 Chytraeus, Nathan 91–92, 168, 418 Cicero, Marcus Tullius 10, 21–22, 33–38, 45, 58, 63, 90, 131–135, 162, 172, 203, 287, 414, 442, 543 Clasen, Lorenz 101 Claudian(us), Claudius 45–48, 191–192, 265 Claudius Civilis i.e. Gaius Iulius Civilis, Bataverführer 98, 544 Clemens VI., Papst 59, 118–119, 398 Clemens VII., Papst 126–128, 169, 217–218, 237, 239, 248, 252, 325, 390–391 Cleopatra VII. 211 Cochlaeus, Johannes 433 Cola di Rienzo 60–62 Colardeau, Charles-Pierre 112 Collimitius (Tannstetter), Georg 323 Commodus, röm. Kaiser 68 Constantius II., röm. Kaiser 192, 389 Contarini, Gasparo 433 Coritius (Göritz), Johannes 323 Crassus, Marcus Licinius 160–161 Crusius, Martin 429
Personenregister
Csezmiczei, János, siehe Pannonius, Janus 353 Cunaeus, Petrus 520 Cuspinian(us), Johannes 323, 356 Cydippe 103, 226, 404 Czepko, Daniel von 524 Dach, Simon 532 Daniel, Prophet 97, 139, 141–142, 155–159, 167, 500–502, 569, 575, 593 Dantiscus, Johannes 164, 300–304, 306, 316, 400 Dareios, pers. Großkönig 30 David 11, 231, 576, 583 Deianira 217, 297 Demophoon 108, 137, 385, 439 Demosthenes 290 Dessau, Paul 3 Diana 497 Dido 103, 106, 108, 121, 211, 221, 227, 261, 365–366, 376, 379, 380–383, 385–386, 393, 439, 441, 583, 596 Dietrich, Veit 190 Diomedes, griech. Held 462 Diomedes, König von Thrakien 462 Dioskuren 389, 434 Dolon 273, 462 Dolus, Personifikation 360 Domitian, röm. Kaiser 50, 67–68, 151, 207 Drayton, Michael 110 Dresser, Matthäus 496 Drusus, Nero Claudius, röm. Feldherr 151, 452, 464 Dürer, Albrecht 75, 200, 490 Eck, Johannes 433 Eckhart, Waldbruder, legend. Figur 88 Einhard 199 Enceladus, Gigant 213 Encina, Juan del 207 Ennius 85, 286, 287 Enoch von Ascoli 20 Erasmus (von Rotterdam), Desiderius 27, 138, 167–168, 191, 279, 322, 324–325, 329, 433, 525, 528, 540, 547, 553 Erinna 113 Euander 319
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Euripides 288, 374 Eurystheus 320 Eva 582, 584 Ezechiel, Prophet 52–53 Fabius Maximus, i.e. Quintus Fabius Maximus Verrucosus „Cunctator“ 287 Fabri (Faber), Johann 141, 433 Favolius, Hugo 349 Ferber, Mauritius, Bischof 301 Ferdinand I., röm.-dt. Kaiser 93, 127, 136, 139–144, 146–147, 152–154, 159–160, 163–164, 166–168, 171, 174–175, 182–183, 209, 253, 256, 258–259, 261, 263, 275, 280–282, 303, 305, 319, 325–329, 331, 334, 340–341, 343–344, 346, 351–352, 356, 360, 369, 373–374, 386, 402, 421, 427, 429–430, 432, 434, 444, 448–449, 451, 454, 457, 466, 475, 493, 593 Ferdinand II., röm.-dt. Kaiser 94, 487, 506–507, 515–517 Ferdinand III., röm.-dt. Kaiser 96 Ferdinand von Aragon, König von Spanien 207 Ficino, Marsilio 444 Fides, Personifikation 62, 360–361 Fincelius, Hiob 186, 188 Fischart, Johann 560 Flacius Illyricus, Matthias 185–186, 280 Flavius Josephus 436 Flavius siehe Flavus 565 Flavus, Bruder des Arminius 571 Fleming, Paul (Schreiben vertriebener Frau Germanien) 112, 143, 476–482, 484–496, 498, 500–502, 504–506, 508–519, 528–530, 532–533, 535, 547, 558, 584–591, 597 Florus 24 Fontanus, Jacobus 169 Fortitudo, Personifikation 200, 203 Fortuna (Personifikation) 63, 95, 116–117, 124–125, 381, 494, 547 Francesco II. Sforza, Herzog von Mailand 390 Franz I., König von Frankreich 24, 80, 87, 120, 125, 127, 196, 213, 218, 237, 248,
640
Personenregister
257–258, 325, 352, 368, 390, 392, 396, 458 Fraus, Personifikation 360 Friedrich Heinrich von Oranien 513 Friedrich I. Barbarossa, röm.-dt. Kaiser 57–58, 204, 315, 370–371 Friedrich I., der Freidige, Landgraf von Thüringen 387 Friedrich II., der Weise, pfälz. Kurfürst 414, 434 Friedrich II., Stauferkaiser 177–178, 204, 207, 370–371, 388, 416 Friedrich III., der Weise, Kurfürst von Sachsen 223, 249 Friedrich III., Herzog von HolsteinGottdorf 479 Friedrich III., pfälz. Kurfürst 415, 448, 469 Friedrich III., röm.-dt. Kaiser 22, 122, 187–188, 220, 364, 409 Friedrich V. von der Pfalz, böhm. König 93, 510, 530, 556 Frischlin, Nicodemus 97, 543 Frisius, Gemma 301 Gallus, Gaius Cornelius 104 Gebwiler, Hieronymus 81–83 Geiserich, König der Vandalen 49 Gelous Torda, Sigismund 374 Gent, Heinrich von 10, 196, 203 Georg von Sachsen, Herzog 252–253 Georg Wilhelm, Herzog von Schlesien 562 Gerhardt, Paul 529 Germanicus, Nero Claudius, röm. Feldherr 149, 151, 153 Geszti, László 356 Giese, Tiedemann 303 Glaser, Sebastian (Epistola Ecclesiae) 393–397, 399–400, 407–408, 410, 412, 596 Gloger, Georg 478 Goethe, Johann Wolfgang 2, 8, 113–114, 476, 542, 551 Goliath 576 Göritz siehe Coritius 323 Gottfried von Straßburg 13 Gottsched, Johann Christoph 101–111 Granvelle, Nicolas Perenot de 434
Greflinger, Georg 535 Gregor I., der Große, Papst 52–53, 70 Gregor IX., Papst 178 Grimm, Jacob 519, 525, 567 Grimmelshausen, Johann Jakob Christoffel 519, 567 Grotius 561 Grumbach, Wilhelm von, Reichsritter 469, 470–471 Gryphius, Andreas 31, 55, 97, 521, 526, 527, 528, 532, 540, 558, 559, 560, 561 Gryphius, Christian 559, 563 Guarini, Gianbattista 561, 563 Gustav Adolf, Herzog von Mecklenburg 581 Gustav II. Adolf, König von Schweden 482, 484–485, 500, 505–509, 513, 517 Gyges 582 Hadrian, röm. Kaiser 42, 67, 68 Hadrian VI., Papst 244, 324, 325 Ham, Noahs Sohn 437 Hannibal 41–42, 61, 149, 287, 424, 453 Hardenberg, Friedrich von 477 Harsdörffer, Georg Philipp 521, 523, 525 Hasdrubal 41–42 Hector 262, 273, 511 Heinrich der Vogler 459, 522, 544 Heinrich VII., röm.-dt. Kaiser 61 Heinrich VIII., König von England 185, 343, 352 Heinsius, Daniel 104, 520 Helding, Michael (Epistola Germaniae) 278–282, 285–287, 289, 290, 293, 294, 295, 296, 299, 517, 596 Helena 103, 109, 377 Heloise 112 Herder, Johann Gottfried 114, 476 Hermann siehe Arminius 98, 100 Herodot 504 Hesiod 85, 392 Heß, Johannes 268 Hessus, Helius Eobanus 38, 111–112, 119–120, 124–125, 131–133, 135–136, 144–146, 148, 186, 193, 200, 225, 259, 263–267, 273, 276, 321, 398, 592 Hieron II., König von Syrakus 318
Personenregister
Hieronymus, Kirchenvater 15, 44, 237 Hieronymus von Prag 17, 350 Hildebert von Lavardin 31, 55–57 Hildebrand, Petrus 351 Hoffmann von Hoffmannswaldau, Christian 532, 559, 561–563 Holbein, Hans 200 Homer 58, 165, 171, 184, 209, 262, 264–265, 267, 272, 292, 306, 309, 334–335, 376, 408, 411, 539, 577 Honorius III., Papst 178 Honorius, weström. Kaiser 191–192 Horaz, i.e. Quintus Horatius Flaccus 38, 56, 66, 85, 91–92, 110, 115, 167, 172–173, 328, 418–424, 426, 434–435, 452–454, 467 Hosius, Stanislaus 300, 303, 451 Hund, Anna von 561 Hunyadi, Johannes 311–312, 320, 362–363, 369, 370, 378 Hus, Jan 17, 350 Hutten, Hans von 255 Hutten, Ulrich von 27–28, 119–120, 123–125, 135, 144, 149–150, 152, 168, 172, 181, 191, 199, 243, 256, 280, 287, 296, 440, 493, 573, 592–593 Hypsipyle 108, 120, 439 Innozenz IV., Papst 178 Irenicus, Franciscus 550 Isabella von Kastilien, Königin von Spanien 207 Isidor von Sevilla 579 Isokrates 30, 169, 170–171, 190 Ißbrand, Barde 565–566, 569, 571 Iulus Ascanius 319 Jakob I., König von England 530 Jason 120, 137, 227, 360 Jeremia, Prophet 1, 3, 172, 183, 397 Joachim II., Kurfürst von Brandenburg 138, 511 Joachim von Fiore 220 Johann Casimir, Herzog von Sachsen-Coburg 483 Johann der Beständige, Kurfürst von Sachsen 140, 249
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Johann Friedrich I., der Großmütige, Kurfürst von Sachsen 187, 222–224, 230, 238–240, 245–246, 249, 250–251, 254, 258–260, 276–277, 455, 594 Johann Friedrich II., Herzog von Sachsen 470–471 Johann Georg I., sächs. Kurfürst 482, 485, 500, 506–508, 510, 513 Johannes Teutonicus 579 Johannes XII, Papst 13 Johannes XXIII., Papst 354 Johannes XXII., Papst 116 Johannes, Evangelist 438 Johann II. von Ungarn, siehe Zápolya 352 Jona, Prophet 279, 503 Julius II., Papst 128 Jungius, Joachim 520 Jupiter 39, 49, 51, 82, 133, 204, 208, 268, 389 Justitia (Personifikation) 83, 200, 201–203, 222, 249, 275 Kadmos 381 Kallimachos 85, 504 Kallinos von Ephesos 171 Karl der Große, Kaiser 11–12, 14, 69, 81, 83, 90, 152, 175, 198–199, 207, 437, 459, 574 Karl IV., röm.-dt. Kaiser 60–61, 449 Karl IX., König von Frankreich 93 Karlstadt, Andreas 229 Karl V., röm.-dt. Kaiser 11, 24–26, 28, 79–81, 87, 89, 95, 125–127, 130–131, 139–140, 166, 170, 185, 187–189, 191–192, 194–207, 209–223, 225, 239, 246–250, 253, 256–259, 261, 263, 275–276, 279–280, 318, 325, 327, 342–344, 358, 360, 368, 386, 390–393, 396, 430, 432–434, 439, 443–444, 450, 457–459, 470 Karl von Geldern, Herzog 257 Katharina von Aragon, Königin von England 343 Kekrops 381 Kiene, Christoph Friedrich (Die klagende Germanie) 486, 580–591, 597
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Personenregister
Kistner (Cisner(us)), Nikolaus (Querela Germaniae Ad Principes et Status Imperij) 413–426, 596 Klaj, Johann 523 Kleist, Heinrich von 1 Knobelsdorff, Eustachius (Eustathius) von 300–312, 314, 316–321, 328, 398–399, 404, 411, 566, 596 Knobelsdorff, Georg von 300 Konrad 74 Konrad III., „der Schwabe“, röm.-dt. Kaiser 370 Konrad von Megenberg 73 Konradin, letzter Staufer 388, 416 Konstantin I., röm. Kaiser 204, 207, 387, 388–389, 391–392, 405, 505 Kopernikus, Nikolaus 301, 303 Krösus 474 Kybele 29 Labeo, Q. Fabius, röm. Statthalter 32 Laelianus, röm. Gegenkaiser 68 Laktanz, i.e. Lucius Caedilius Firmianus Lactantius 207, 392 Lamparter von Gryphenstein, Hieronymus 281–282 Lampert, Adam 399 Lang, Matthäus, Bischof von Gurk 323 Laodamia 104, 106 Laski, Jan 312 Laurentius, Hl. 176 Leibniz, Gottfried Wilhelm 520, 560 Lemnius, Simon 136, 184 Leo, Bischof von Vercelli 54 Leo I., der Große, Papst 52 Leo III., Papst 12 Leo X., Papst 122, 124, 217, 236, 323–324 Leopold, Hl. 328 Leopold I., röm.-dt. Kaiser 100, 562, 564 Lessing, Gotthold Ephraim 520 Leyden, Jan van 230–231 Lichtenberger (Claromontanus), Johannes 220 Lipsius, Justus 481, 561 Livius, Titus 40, 58, 87, 152–153, 172, 499, 533, 576–577
Lohenstein, Daniel Casper von 97, 100, 111, 559, 561–565, 568–570, 573– 575, 578, 580 Lotichius Secundus, Petrus 186 Lucan(us), Marcus Annaeus 39, 40, 45, 59, 63, 78–79, 264, 472 Lucretia 377 Luder, Peter 428 Ludwig II., König von Ungarn 324–325, 351–352, 357–358, 378, 402 Ludwig IV., der Bayer, röm.-dt. Kaiser 70, 72–74 Ludwig IV., pfälz. Kurfürst 415 Ludwig V., „der Friedfertige“, pfälz. Kurfürst 434 Ludwig XIV., König von Frankreich 7, 93, 100, 564–565, 597 Ludwig, Fürst von Anhalt-Köthen 521–522 Luna 422 Lupold von Bebenburg 13 Luther, Martin 26–27, 139, 141, 145–146, 155, 157, 159, 168, 184–186, 203, 215, 217–218, 220, 223, 227–230, 234–236, 239, 243, 248–251, 253, 255, 258, 268, 275, 289, 301, 318, 323–324, 398, 430, 438–439, 498, 501, 509, 550, 553, 573 Luxuria (Personifikation) 100 Macareus 384 Macedonius, Nicolaus 378 Majorian, weström. Kaiser 51 Manlius, i.e. Titus Manlius Torquatus 452, 576 Mannus 436–437, 440 Marc(us) Anton(ius) 133, 211 Margarete I. von Holland, Gemahling Kaiser Ludwigs IV., des Bayern 73 Maria Magdalena 99, 111, 584 Mark Aurel, röm. Kaiser 68 Markus, Evangelist 243 Mars 32, 83, 98, 127, 157, 243, 260, 307, 406, 421, 463, 529, 538–540, 586 Martial(is), Marcus Valerius 172, 207 Martinuzzi, György 374 Matthäus, Evangelist 438 Matthias Corvinus, König von Ungarn 311, 353, 363
Personenregister
Matthys, Jan 231 Mauersberger, Rudolf 1 Maurus, Hartmann 281 Maurus, Rhabanus 71 Maximilian I., röm.-dt. Kaiser 11, 24–25, 74–80, 87, 120–125, 144, 148–149, 180, 188, 191, 196, 200, 209, 220, 255–256, 287, 323, 325, 434, 450, 493 Maximilian II., röm.-dt. Kaiser 191, 304, 350, 445–451, 461–462, 466, 469, 470 Maximus, Paullus Fabius, Freund Ovids 275 Medea 100, 103, 227, 360, 500 Medici, Lorenzo di 122, 324 Megenberg, Konrad von 70, 71–73 Mehmed II., Sultan 21, 363, 410 Melanchthon, Anna 138 Melanchthon, Philipp 84, 129, 137–146, 155, 157–159, 164–169, 178, 184–186, 190, 193, 203, 215, 222, 225, 228, 230, 239–240, 242, 246–247, 250–251, 253, 255, 258, 263, 268–270, 275–276, 300–302, 347–349, 351, 357, 374, 394, 396, 399, 403, 412–414, 430–433, 445, 474–475, 593 Melinno 32 Menelaos 243, 288, 335 Menenius Agrippa 499 Mercur(ius) 98–99 Metanoia, Personifikation 417 Methodius von Saloniki, Hl. 220 Micyllus, Jakob 186, 193 Midas 474 Minerva siehe Athene 422 Minturno, Antonio Sebastiano 193 Mohammed, Religionsstifter 20, 154, 159, 337 Morhof, Daniel Georg 581 Mörike, Eduard 113 Moritz von Sachsen, Kurfürst 280 Moscherosch, Johann Michael 560 Moses, Prophet 115, 490 Münzer, Thomas 229–230, 252 Mutianus Rufus, Conrad 184 Nausea, Friedrich 433 Naves, Johann de, kaiserl. Vizekanzler 189
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Nebukadnezzar, babylon. König 158, 162, 501–502 Negligentia (Personifikation) 100 Neptun 39, 212 Nero, röm. Kaiser 39 Nestor 209, 273, 306, 309, 312, 321 Niehausen, Anna 480 Niehausen, Elsabe 480 Niklas Graf zu Salm der Ältere 339 Nikolaus V., Gegenpapst 116 Noah, bibl. Patriarch 436–437 Novalis, siehe Friedrich von Hardenberg 477 Numa Pompilius, röm. König 47 Occasio, Personifikation 417 Octavian, siehe Augustus 133, 211, 577 Odysseus 103, 108, 110, 120, 137, 197, 205, 213, 262–263, 272, 295, 462 Oenone 108, 137, 288, 439, 504 Olahus, Nikolaus, Erzbischof von Gran 350 Olearius, Adam 479, 480 Olybrius 46 Opitz, Martin 112, 476, 478, 480, 495, 513, 521, 526, 532, 536–537, 539, 540, 554, 556, 558 Oporinus, Johannes 428 Orest 198, 227, 289, 374 Orpheus 38, 243, 362 Osman I., Begründer des Osman. Reiches 330 Ossietzky, Carl von 2–3 Ottheinrich, pfälz. Kurfürst 415, 429 Otto I., der Große, Kaiser 12–13, 54, 175–177 Otto II., Kaiser 70 Otto III., Kaiser 54, 69, 70, 416 Overbeck, Friedrich 101 Ovid, i.e. Publius Ovidius Naso 5–6, 38, 45, 65–66, 85, 87, 102–105, 107–114, 117, 124, 130, 137–150, 161–162, 167, 174, 186, 197, 217, 221, 224, 226–227, 234, 241, 263–267, 272, 275, 277, 284–285, 288, 293–295, 297, 299, 308, 361, 366, 374, 376, 382, 384, 408, 417–418, 458, 460, 463–464, 468, 485, 489, 490, 515–516, 596–597 Ozora, Philippus (Pipo) de 379
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Personenregister
Pack, Otto von 253 Pallas Athene, siehe Athene, Pallas 32, 46 Pallas, Sohn des Euander 319 Pannonius, Janus 353 Pantaleon, Heinrich 429 Paris 53, 103, 108–109, 110, 137, 144, 226, 288, 335, 426, 439, 504 Parzen 32, 51, 198, 220, 269, 319 Pasquillus, siehe Pasquino 243–244 Pasquino 243–245, 249 Patroklos 243, 376 Paul III., Papst 218–219, 235, 239, 279, 433 Paul IV, Papst 451 Paul(l)us, Lucius Aemilius 32 Paulus, Apostel 54, 62, 397, 438, 500 Pehnt, Annette 114 Penelope 103, 106, 108, 110, 116, 120, 197–198, 205, 209, 222, 231–232, 250, 262–263, 272, 277, 458, 583, 596 Penthesilea 174 Perseus 201 Petrarca, Francesco 58–63, 85, 89, 115–120, 124–125, 132, 135, 144, 174, 187–188, 398, 432, 485, 531, 592 Petrus de Ebulo 207 Petrus, Apostel 54, 62, 118–119, 369 Peutinger, Conrad 328 Pflug, Julius 90–91, 279 Phaedra 103, 108, 144, 227, 286, 288, 291, 460, 474 Phaethon 30, 271 Phalaris von Agrigent 256 Phaon 137, 227 Philipp I. von Österreich, der Schöne 170 Philipp I., der Großmütige, Landgraf von Hessen 187, 222–223, 250–255, 257–260, 262–270, 272–277, 280, 594 Philipp II., König von Makedonien 169–170, 290 Philipp II., König von Spanien 451 Philipp Pfalzgraf bei Rhein, „der Streitbare“ 339 Philippus (Pipo) de Ozora 378 Phoebus siehe Apoll(on) 49, 208, 378 Phryne 582 Phrysius, Acturus 351
Phyllis 108, 221, 238, 376, 379, 380, 385, 393, 439 Piccolomini, Enea Silvio alias Pius II., Papst 8, 20, 85, 90, 128, 154, 163, 187–188, 290, 311–312, 336, 353, 354, 355, 363, 366, 407, 409, 411, 440, 472, 592–593 Pietas, Personifikation 200, 202–203, 313 Pippin, fränk. König 11 Piso, Jakob 325 Piso, Lucius Calpurnius 37 Pius II., Papst, siehe Piccolomini 20, 85 Platon 200–201, 233, 542 Plinius, i.e. Gaius Plinius Caecilius Secundus, der Ältere 436, 504 Plinius, i.e. Gaius Plinius Caecilius Secundus, der Jüngere 49, 191–192 Plutarch 422, 504, 578 Pontanus, Johannes Jovianus i.e. Giovanni Pontano 86 Pope, Alexander 110, 112 Poppo von Henneberg, Graf 399 Porsenna 424, 453 Porsius, Henricus 349 Potiphar 582–583 Prat, Hieronymus von 189–190 Priamos 381 Probinus 46 Prometheus 100 Properz, i.e. Sextus Aurelius Propertius 38, 85, 104–105 Protesilaos 104, 106 Putsch, Johannes 93, 96 Quintilian(us), Marcus Fabius 107 Quirinus 133 Ragusinus, Ianus 312, 378 Ransanus, Petrus 347 Ratio Status, Personifikation 98, 100, 538–539 Regulus, Marcus atilius, röm. Feldherr 212 Reusner, Elias 446 Reusner, Nikolaus (Germania ad Maximilianum et Principes) 171, 421–424, 426, 428, 430, 445–447, 449, 450–451, 453–454, 456–458, 460– 475, 487, 517, 543, 596
Personenregister
Reuter, Quirinus 413 Rhenanus, Beatus 24, 324, 328 Rhesus, thrakischer König 273 Riemer, Johannes 100 Rist, Johann 96–97, 99–100, 521, 525, 538, 544, 558, 567 Romulus 539 Rotaller, Georg 374 Rubella 478 Rubigallus, Paulus (Querela Pannoniae ad Germaniam + Epistla Pannoniae ad Germaniam recens scripta) 502 Rubigallus, Paulus (Querela Pannoniae ad Germaniam + Epistola Pannoniae ad Germaniam recens scripta) 290, 307, 310, 311–312, 314–317, 321, 328–329, 347–350, 357–358, 360, 362, 364–367, 369, 372–377, 380–382, 384, 386–393, 396, 397, 401, 403–404, 406, 412, 455, 536, 596 Rubigallus, Paulus (Querela Pannoniae ad Germaniam + Epistola Pannoniae ad Germaniam recens scrpta) 371 Rudel(ius), Elias 483–484, 488–489, 492, 517, 529 Rudolf II., röm.-dt. Kaiser 446, 450, 493 Rudolf von Fulda, Abt 71 Rudolf von Habsburg, röm.-dt. Kaiser 89 Rusdorf, Johann Joachim von 94 Ruskin, John 362 Rutilius Namatianus, Claudius 45, 47–48 Sabinus, Georg (Germania ad Caesarem Ferdinandum + Ad Germaniam) 84–88, 125–130, 135–140, 142–153, 155–159, 161–178, 180–184, 186, 192, 282, 296, 374, 421–423, 425, 433, 447, 454–456, 458, 466–467, 473, 475, 493, 500, 517, 569, 592–593, 595–596 Sabinus, i.e. Angelus de Curibus Sabinis 108 Sabinus, unbekannter Freund des Ovid 108, 137 Sachs, Hans 88 Saint-Amant, Marc Antoine de 563 Sallust, i.e. C. Sallustius Crispus 36–37, 44, 63, 172 Salomon, bibl. König 432
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Sanders-Brahms, Helma 3 Sandrart, Johann Jacob von 100 Sappho 32, 103, 108, 110, 113, 226, 227 Sarbiewski, Casimir Maciej 480 Scaurus 424, 452 Schede Melissus, Paul 267 Schein, Johann Hermann 240, 478, 530 Schilling, Johannes 64, 101 Schlaher, Quirinus 374 Schlegel, August Wilhelm 114 Schönaich, Christoph Otto Freiherr von 101 Schottel(ius), Justus Georg (Lamentatio Gerrmaniae Expirantis) 518–529, 531–533, 535–540, 542–550, 552–554, 556–558, 573, 585–586, 591, 597 Schradin, Johannes 89 Schütz, Heinrich 1, 97 Schütz, Michael (Toxites) 321, 398–399 Schweinitz, Hans Christoph von 560 Schweinitz, Hermann Georg von 560 Scipio, i.e. Publius Cornelius Scipio Aemilianus Africanus, der Jüngere 59, 61, 149, 212, 287, 462 Scudéry, Georges de 110 Scudéry, Madeleine de 110 Sebastian von Heusenstamm, Erzbischof 279 Seneca, Lucius Annaeus, der Ältere 107, 137 Seneca, Lucius Annaeus, der Jüngere 58, 162 Sibylle(n) 47, 219–220, 222, 387, 575 Sickingen, Franz von 251 Sidonius Apollinaris 45, 48, 49, 51 Sigismund I., der Alte, König von Polen 301, 303–307, 309, 310–312, 314–321, 326 Sigismund II. August, König von Polen 303, 306, 319, 399 Sigismund III., König von Polen 446 Sigismund, röm.-dt. Kaiser 354, 363, 378 Silius Italicus 40, 63 Skanderbeg, Georg Kastriota 320 Skylla 246 Solanas, Valerie 115 Solon 30, 171 Spartacus, Führer des Sklavenaufstandes 421, 424, 453 Spee, Friedrich von 524 Spiegel, Jakob 80–81
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Personenregister
Statius, Publius Papinius 45 Stephan(us), Hl. 350 Stigelius, Johannes (Germania ad Carolum + Germania ad Fridericum + Germania ad Philippum) 136, 139, 184–191, 193–194, 196–197, 199, 200–203, 205–207, 211, 215–222, 224–231, 234, 236–239, 241, 244–245, 248–249, 250, 255, 259, 261–270, 272–278, 282–283, 396, 432–433, 439, 443–444, 474, 594, 596 Stilicho, Flavius 46 Stobaios 32 Strabo 23 Strigel, Viktorinus 185 Stuart, Elisabeth 530 Sturm, Johannes 414 Sueton, i.e. Gaius Suetonius Tranquillus 199, 570 Süleyman I., „der Prächtige“, osman. Sultan 209, 328, 341, 349, 352, 373–374, 402, 406, 432, 449 Symmachus, Quintus Aurelius, röm. Stadtpräfekt 31, 42–43, 49 Sysang, Johann Christoph 101 Tacitus, Publius Cornelius 4, 8, 20–21, 23–24, 64, 67, 71, 79, 90, 98, 149, 151, 172–173, 199, 336, 346, 436, 544, 568, 571, 574–575, 577–578, 580 Tannstetter (Collimitius), Georg 323 Tatius Alpinus, Marcus 194 Tellus 39 Temperantia, Personifikation 200, 203 Terra mater 33 Theodosius, röm. Kaiser 45–46 Theokrit 504 Theseus 286, 458, 460 Thomas von Aquin 10 Thurzó, Johannes V., Bischof von Breslau 322–323 Thurzó, Stanislaus, Bischof von Olmütz 323 Thusnelda 100–101, 568–569 Tiberius, röm. Kaiser 50, 151 Tibull(us), Albius 38, 104–105 Tilly, Johann ‚t Serclaes Graf von 499, 507–508, 517, 534
Titus, röm. Kaiser 67 Tityos 129 Tizian 200, 215 Trajan, röm. Kaiser 50, 67–68, 191–192 Tuisto (Tuisco) 86, 435–437, 440, 444 Tyche, Personifikation 29, 30, 32 Tyrtaios 171 Ulrich von Augsburg, Hl. 176 Ulrich von Württemberg, Herzog 254–259, 268, 274, 276, 427 Urban VIII., Papst 94 Uria 582–583 Ursinus Velius, Caspar (Querela Austriae, sive Epistola ad reliquam Germaniam) 147, 167, 209, 290, 311, 316–317, 321–334, 337–344, 346–347, 356–359, 365–369, 372, 401, 447, 455–456, 596 Ursinus, Zacharias 322 Vadian(us), Joachim 322–323, 327 Valentinian III., röm. Kaiser 49, 51 Varus, Publius Quinctilius, röm. Feldherr 65, 148, 149, 150–151, 153, 452, 457, 458, 494, 565, 570, 573 Varus, Quinctilius, röm. Ritter 328 Velleius Paterculus 24, 150 Venantius Fortunatus 108, 490 Venus 49, 200, 288, 539 Vergerio, Pietro Paolo 239 Vergil, i.e. Publius Vergilius Maro 38, 40, 44–45, 49, 58–59, 121, 202, 206, 208, 215, 220, 222, 241, 265, 268–287, 335, 344, 346, 366, 372, 392, 419, 471, 581, 596 Vespasian, röm. Kaiser 62, 67 Victoria (Personifikation) 42–43, 208, 212–214 Vida, Girolamo 323 Virtus (Personifikation) 68, 201 Vitellius, röm. Kaiser 50 Vorst, Peter van der 240 Walther von Coventry 388 Walther von der Vogelweide 13 Weck, Matthias 1
Personenregister
Weckherlin, Georg Rudolf 532 Werböczy, István 356 Werner, Anna Maria 101 Widukind von Corvey 176–177 Widukind, Sachsenfürst 98, 176–177, 544 Wieland, Christoph Martin 113 Wilhartitz, Wenzel von 328 Wilhelm IV., Graf von Henneberg 394 Wilhelm von Hessen 280 Wilhelm von Oranien 513 Wimpfeling, Jakob 12, 24, 80, 174–175, 546, 579 Wladislaw III., König von Polen 311–312, 354, 364 Wolf, Thomas 579 Wyclif, John 17
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Xenokrates 582 Xerxes, pers. Großkönig 30 Zacharia, Prophet 531 Zaimoglu, Feridun 115 Zápolya, Johann 321, 326, 349, 352, 358, 361, 373–374, 402, 449 Zápolya, Johann II. Sigismund, Sohn des Johann Zápolya 373–374, 448 Zincgref, Julius Wilhelm 513 Zippora, Ehefrau des Moses 115 Zobel, Melchior von, Bischof 470 Zrinyi, Nikolaus 449 Zwingli, Ulrich 229, 253, 255