Der Baumgarten im höfischen Roman: Narrative Erzeugung eines Handlungs- und Imaginationsraums 9783110795455, 9783110795387

The orchard is not some arbitrary, topical setting in the courtly romance. As a liminal space, it has a specific potenti

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German Pages 272 Year 2023

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Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Auf der Schwelle
3 Narrative Erzeugung von Raum
4 Strategien der Raumerzeugung
5 Analysen
6 Schlussbetrachtungen: Konflikt- und Handlungspotentiale des Baumgartens im höfischen Roman
7 Abbildungsverzeichnis
8 Literaturverzeichnis
Register
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Der Baumgarten im höfischen Roman: Narrative Erzeugung eines Handlungs- und Imaginationsraums
 9783110795455, 9783110795387

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Theresa Specht Der Baumgarten im höfischen Roman

Literatur | Theorie | Geschichte

Beiträge zu einer kulturwissenschaftlichen Mediävistik Herausgegeben von Udo Friedrich, Bruno Quast und Monika Schausten

Band 28

Theresa Specht

Der Baumgarten im höfischen Roman Narrative Erzeugung eines Handlungs- und Imaginationsraums

Das vorliegende Buch wurde im September 2021 als Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Universität Siegen angenommen. Gedruckt mit Unterstützung der FONTE Stiftung zur Förderung des geisteswissenschaftlichen Nachwuchses.

ISBN 978-3-11-079538-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-079545-5 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-079549-3 ISSN 2363-7978 Library of Congress Control Number: 2023931373 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Umschlagabbildung: Tristan und Isolde mit dem versteckten König Marke im Baumgarten. Spiegelkapsel aus Elfenbein, Paris, Musée de Cluny – Musée national du Moyen Âge, 7 x 7 cm, Mitte des 14. Jahrhunderts. Satz: Integra Software Services Pvt. Ltd. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Vorwort Die vorliegende Studie wurde im September 2021 von der Philosophischen Fakultät der Universität Siegen als Dissertationsschrift angenommen. Für die Drucklegung wurde sie leicht überarbeitet. Ich danke Udo Friedrich, Bruno Quast und Monika Schausten für die Aufnahme in die Reihe Literatur – Theorie – Geschichte. Für die Auszeichnung mit dem Förderpreis 2022 und der damit verbundenen finanziellen Unterstützung bei der Drucklegung danke ich der Dirlmeier Stiftung. Für die gute Zusammenarbeit bedanke ich mich bei Laura Burlon, Robert Forke und Eva Locher vom Verlag. Bekanntlich finden Vorhaben wie dieses ohne Rat und Tat von lieben Kolleginnen und Kollegen nur schwerlich zum Abschluss. Allen, die mich mit Fragen und Diskussionen herausgefordert und durch hilfreiche Lektüren unterstützt haben, danke ich sehr. Besonders herzlich danke ich Hans Velten und Nathanael Busch, dass sie mich und diese Studie mit Rat, Kritik, Zuspruch und Humor begleitet haben. Ihnen wie auch Christian Seebald und Jörg Döring bin ich auch für die Anmerkungen und Hinweise für die Überarbeitung zu Dank verpflichtet. Dass der Text in seiner gegenwärtigen Form vorliegt, verdanke ich außerdem Mareike Klein, Katharina Berking, Hans-Friedrich Schaeder und Charlotte Braun und ihren Lektüre- und Korrekturdurchgängen. Doch der wissenschaftliche und kollegiale Austausch kann nur dann auf fruchtbaren Boden fallen, wenn es auch außerhalb der Wissenschaft Menschen gibt, die die lange Zeit der Entstehung vorbehaltlos begleiten. Meinen Eltern Egbert und Susanne sowie meiner Schwester Alexandra danke ich von Herzen, dass sie immer vom erfolgreichen Abschluss des Projekts überzeugt waren – gerade dann, wenn mir diese Überzeugung abzugehen drohte. Meinem Freund Patrick danke ich für seine Liebe, Geduld und die gemeinsame Seilschaft. Siegen, im Oktober 2022

https://doi.org/10.1515/9783110795455-202

T.S.

Inhaltsverzeichnis Vorwort

V

1

Einleitung

2 2.1 2.2 2.3

Auf der Schwelle 8 Gärten in der mittelalterlichen Literatur Der Baumgarten im höfischen Roman Textauswahl 24

3 3.1 3.2 3.3 3.4

Narrative Erzeugung von Raum 26 Modi von Räumlichkeit 31 Michel de Certeaus Konzept von Raum und Ort Raum in der höfischen Literatur 42 Vorhaben und Fragestellungen 47

4 4.1 4.2 4.3

Strategien der Raumerzeugung Deiktische Prozeduren 58 Blicke 65 Kinästhetische Bewegungen

5 5.1 5.1.1 5.1.2 5.1.3 5.1.4 5.1.5

Analysen 81 Gottfrieds von Straßburg Tristan: Taktiken der Intimisierung 81 Marjodo auf Tristans Spur 84 Brangäne führt Tristan 89 Erste Baumgartenszene 98 Zweite Baumgartenszene 112 Gottfrieds Baumgarten: Dynamisierung eines Konflikts durch Raum 122 Hartmanns von Aue Erec: Taktiken der Exklusion 128 Gestörtes Brandigan 129 Zwischen Burg und Baumgarten 143 Kampf im ander paradîse 155 Joie de la curt: Verräumlichung eines untauglichen Minnekonzepts Konrad Flecks Flore und Blanscheflur: Paradigmatisches Auserzählen 166 Erzählen im Baumgarten 168 Idyllische Kinderminne 176 Baumgarten des Amirals 185 Vervielfältigungen des Baumgartens 198

5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.4 5.3 5.3.1 5.3.2 5.3.3 5.3.4

1

8 14

36

52

73

164

VIII

Inhaltsverzeichnis

5.4 5.4.1 5.4.2 5.4.3 5.4.4 5.4.5

Konrads von Würzburg Engelhard: Taktiken der Immunisierung Instruktion Engelhards durch Engeltrud 206 Heimliches Stelldichein 209 Zufällige Entdeckung 214 Dietrichs plân 222 Konrads Baumgarten und plân: Problematisierung sozialer Exklusion 227 Vielfalt der Baumgärten in der höfischen Literatur 230

5.5 6

Schlussbetrachtungen: Konflikt- und Handlungspotentiale des Baumgartens im höfischen Roman 238

7

Abbildungsverzeichnis

8

Literaturverzeichnis

Register

263

245 247

203

1 Einleitung Erholung ist im boumgarten kaum jemandem vergönnt. Ruhe sucht man meist vergebens und findet man sie, ist sie der Vorbote eines Konflikts. Vielmehr werden hier aktiv die höfischen Normen und Werte strapaziert oder sogar wider besseres Wissen unterlaufen. Wenn im Baumgarten etwa Partner ihrer illegitimen Liebe frönen, wird dort eine Handlung vollzogen, die im umgebenden Raum keinen Platz hat oder nur unter der größten Gefahr einer Entdeckung vollzogen werden kann. Ebenso kommen andere deviante Liebesbeziehungen oder Herrschaftskonzepte im Baumgarten zur Entfaltung, die außerhalb seiner Grenzen nicht denkbar sind, ohne dass sie auf direktem Wege zur Katastrophe führten. Im Baumgarten hingegen können all diese Handlungen, die im umgebenden Raum des Hofes unmittelbar problematisch wären, – wenigstens zeitweilig – bestehen. Dass ein solches Unterminieren der höfischen Verhaltens- und Kommunikationsregeln im Baumgarten überhaupt möglich ist, muss allerdings verwundern. Schließlich gehört der Baumgarten zum Burgkomplex. Als Teil der höfischen Sphäre liegt er in jenem Einzugsbereich, in dem die höfischen Werte und Normen gelten und grundsätzlich ein Primat der Öffentlichkeit herrscht.1 Doch was zeichnet dann den Baumgarten der höfischen Literatur räumlich und semantisch aus, dass er so häufig konfliktträchtige und für den umgebenden Hof problematische Handlungen beherbergt? Offenbar kann er als Raum der Handlung und der Imagination für die Erzählungen etwas leisten, das andere Räume der höfischen Sphäre nicht ermöglichen. Die Hypothese einer solchen funktionalen Beziehung zwischen Raum und Handlung lenkt den Blick auf die Art und Weise, wie die Handlung im Raum und der Raum selbst erzählt werden. Wie wirkt sich das Erzählen des Baumgartenraums auf die Handlung aus und welche Funktion erfüllt der Baumgarten als Raum für die Erzählung? In der mittelalterlichen Traktatliteratur, die freilich überschaubar ist, erscheint der Garten keineswegs konfliktanfällig. Er hat vor allem zwei Funktionen: Als Nutzgarten sichert er die Ernährung seiner Gärtner.2 Texte wie die Lex Bajuvariorum (um 745), das Capitulare de villis3 Karls des Großen (um 800) oder auch der St. Galler Klosterplan (um 820/830) legen nicht nur fest, welche Pflanzen wo anzubauen sind, sondern auch welche

 Vgl. etwa Horst Wenzel: Ze hove und ze holze – offenlîch und tougen. Zur Darstellung und Deutung des Unhöfischen in der höfischen Epik und im Nibelungenlied. In: Höfische Literatur – Hofgesellschaft – Höfische Lebensformen um 1200. Hrsg. von Gert Kaiser, Jan-Dirk Müller. Düsseldorf 1986 (Studia Humaniora. 6); Jan-Dirk Müller: Zwischenräume – Paradoxien höfischer Öffentlichkeit. In: Ders.: Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik. Tübingen 2007, S. 272–316.  Peter Cornelius Mayer-Tasch, Bernd Mayerhofer: Hinter Mauern ein Paradies. Der mittelalterliche Garten. Frankfurt a.M./Leipzig 1998, S. 31.  Vgl. Adriaan E. Verhulst: Art. Capitulare de villis. In: LexMA 2 (1983), Sp. 1482–1483. Verhulst bezweifelt den praktischen Wert der Pflanzenaufzählung, denn sie gehe vermutlich auf das Studium antiker Pflanzenglossare zurück. https://doi.org/10.1515/9783110795455-001

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Einleitung

Konsequenzen etwa Obstdieben drohen.4 In der Form des Lust- bzw. Baumgartens dient der Garten zweitens – so sehen es Gelehrte wie Albertus Magnus und Petrus de Crescentiis5 vor – der Erholung und Erquickung der höfischen Gesellschaft. An diesem Zweck sei auch die Einrichtung des Lustgartens auszurichten. Geruchs- und Gesichtssinn erfreue man durch die Bepflanzung mit geeigneten Blumen und Kräutern, alle schädlichen Einflüsse auf die Gesundheit seien hingegen unbedingt zu vermeiden. Auch pflegeintensive Bepflanzung eigne sich nicht, „[d]electatio enim quaeritur in viridario, et non fructus“,6 so Albertus Magnus in der um 1260 entstandenen Historia Naturalis.7 Auch wenn die Traktate vermutlich nie als praktische Anleitungen gedacht waren, zeigen sie den Lustgarten als Erholungsraum und stellen einen funktionalen Zusammenhang zwischen der Gartenarchitektur und der Zwecksetzung des Raumes her. Die Baumgärten in der mittelalterlichen Literatur treten in ihrer Ausstattung ebenfalls als liebliche Naturorte hervor. Ein Baum im Zentrum oder mehrere Bäume bestimmen neben einer Quelle ihr literarisches Erscheinungsbild. Darüber hinaus schmücken ihn prächtige Blumenwiesen, Vogelgesang ergänzt das Ensemble. Diese Gestaltung des literarischen boumgarten speist sich aus zwei Beschreibungstraditionen.8 Das liebliche Erscheinungsbild der Gärten gründet insbesondere in der topischen Ausgestaltung als locus amoenus. Als „Hauptmotiv aller Naturschilderung“9 führt Ernst Robert Curtius den Topos des lieblichen Naturorts bis auf die griechische Antike, zum Garten des Alkinoos10 und der Grotte der Kalypso11 in Homers Odyssee zurück. Von dort aus bildet die Grundausstattung aus Baum, Wiese und Quelle, die durch Windhauch und Vogelgesang ergänzt sein kann, bis weit in das 16. Jahrhundert

 Vgl. Dieter Hennebo: Gärten des Mittelalters. München/Zürich 1987, S. 17–35; Mayer-Tasch/Mayerhofer, Hinter Mauern ein Paradies, S. 28–44; Ursula Frühe: Das Paradies ein Garten – der Garten ein Paradies. Studien zur Literatur des Mittelalters unter Berücksichtigung der bildenden Kunst und Architektur. Frankfurt a.M./Berlin 2002 (Europäische Hochschulschriften. 103), S. 131–154.  Im 3. Kapitel des Liber VIII verhandelt Petrus unter der Überschrift „De viridariis regum et aliorum illustrium et divitum dominorum“ die Anlage von Lustgärten für verschiedene Gesellschaftsschichten. Vgl. Petrus de Crescentiis: Ruralia commoda. Das Wissen des vollkommenen Landwirts um 1300. Dritter Teil: Buch VII–XII. Hrsg. von Will Richter. Heidelberg 1998 (Editiones Heidelbergenses. 27), S. 14–16.  Albertus Magnus: De vegetabilibus libri VII, historiae naturalis pars XVIII. Unveränderter Nachdruck der Ausgabe Berolini 1867. Hrsg. von Ernst Meyer, Karl Jessen. Frankfurt a.M. 1982, S. 638; Übersetzung d. Clemens Wimmer: „Denn Erquickung (delectatio) sucht man im viridarium [i. e. Lustgarten, T.S.], und nicht Obst“. Clemens Alexander Wimmer: Geschichte der Gartentheorie. Darmstadt 1989, S. 23.  Albertus Magnus thematisiert die Anlage eines Lustgartens im Capitulum XIV des Liber VII, das den 18. Teil seiner Naturgeschichte bildet. Vgl. Albertus Magnus, De vegetabilibus, S. 636–638.  Vgl. Urban Küsters: Garten, Baumgarten. In: Literarische Orte in deutschsprachigen Erzählungen des Mittelalters. Ein Handbuch. Hrsg. von Tilo Renz, Monika Hanauska, Mathias Herweg. Berlin/Boston 2018, S. 163–178.  Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern/München 1948, S. 202.  Gesang 7, V. 112–132. Vgl. Homer: Odyssee. Griechisch – deutsch. 14. Aufl. Übertragen von Anton Weiher. Berlin 2013 (Sammlung Tusculum), S. 180–181.  Gesang 5, V. 55–74. Vgl. Homer, Odyssee, S. 130–132.

Einleitung

3

hinein den zentralen Bestandteil aller Naturschilderung.12 In seiner Eigenschaft als topisches Motiv setzt der locus amoenus eine idealisierte Landschaft ins Bild. Als zweite Beschreibungstradition beeinflusst vor allem das biblische Paradies der Genesis Ausgestaltung und symbolische Aufladung der Baumgärten in der mittelalterlichen Literatur.13 „Seit unvordenklichen Zeiten ist der Mythos vom vergangenen, gegenwärtigen und künftigen Paradies mit der Vorstellung eines nahezu unerreichbar entrückten und wundervoll bestückten Gartens verknüpft.“14 Als „Mittelpunkt der Welt“15 soll der Paradiesgarten mit seinen Bäumen und Paradiesflüssen im zweiten Schöpfungsbericht von Adam und Eva bewahrt werden. Das Verbot, vom Baum der Erkenntnis zu essen, motiviert die Handlung und dynamisiert das stillstehende Paradies. Denn mit dem Genuss des Apfels wird die Einheit zwischen Schöpfer und Geschöpf aufgelöst,16 das Göttliche und das Menschliche, das Heilige und das Profane werden voneinander geschieden. Als Folge des Vergehens muss der Garten Eden verlassen und der Natur nun das Überleben mit Schweiß und Mühe abgetrotzt werden.17 Die symbolischen und heilsgeschichtlichen Implikationen dieser Verlustgeschichte wirken sich nicht nur auf die räumliche Ausgestaltung, sondern auch auf die Semantisierung der literarischen Baumgärten aus. „Aus der Erinnerung an das Paradies speist sich der Wunsch, dorthin zurückzukehren oder doch wenigstens auf Erden ein Abbild dessen zu schaffen, was man – möglicherweise für immer – verloren hat“.18 Im Hohelied Salomos19 wurzelt außerdem die Vorstellung vom Garten als hortus conclusus. Er wird zum Sinnbild für irdische und himmlische Liebe sowie zum Symbol für Maria oder die Kirche selbst und wird in der Kunst des Mittelalters und darüber hinaus zahllose Male abgebildet.20

 Vgl. Ernst Robert Curtius: Rhetorische Naturschilderung im Mittelalter. In: RF 56 (1942), S. 224–225; Curtius, Europäische Literatur, S. 191–209.  Ursula Frühe stellt die christliche Semantik des Paradiesgartens und deren biblische Quellen in den Mittelpunkt ihrer Beschäftigung mit vorwiegend literarischen Gärten des Mittelalters. Vgl. Frühe, Das Paradies ein Garten. Im vorliegenden Kontext finden nur der Garten Eden und das Hohelied Salomos als sehr einflussreiche biblische Gärten Beachtung.  Peter Cornelius Mayer-Tasch: Der Garten Eden. In: Die Geschichte der Gärten und Parks. Hrsg. von Hans Sarkowicz. Frankfurt a.M. 1998, S. 11.  Karin Finsterbusch: Der Garten in Eden. Anmerkungen zur zweiten Schöpfungserzählung der Hebräischen Bibel. In: Ich wandle unter Blumen / Und blühe selber mit. Zur Kultur- und Sozialgeschichte des Gartens. Hrsg. von Lothar Bluhm, Markus Schiefer Ferrari, Christoph Zuschlag. Baden-Baden 2018 (Landauer Beiträge zur Kultur- und Sozialgeschichte. 1), S. 38 (Hervorhebung im Original).  Vgl. Finsterbusch, Der Garten in Eden, S. 39–42.  1. Moses 2,4–3,24. Vgl. Die Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Gesamtausgabe. 3. Aufl. Stuttgart 2017, S. 18–20.  Mayer-Tasch, Mayerhofer, Hinter Mauern ein Paradies, S. 39.  Das Hohelied Salomos 1,1–8,14. Vgl. Die Bibel, S. 757–762.  Vgl. Hennebo, Gärten des Mittelalters, S. 51–58; Vgl. zum Garten als hortus conclusus und dessen allegorischen Spielarten Wolfgang Stammler: Der allegorische Garten. In: Landschaft und Raum in der Erzählkunst. Hrsg. von Alexander Ritter. Darmstadt 1975 (Wege der Forschung. 418), S. 248–261.

4

Einleitung

Betrachtet man den Garten jedoch lediglich als Ausformung des locus amoenus oder als symbolisch-allegorisches Verweissystem auf das Paradies, erschließt sich nicht, warum der Baumgarten in der höfischen Literatur wiederholt zum Raum für zentrale Konflikte der Erzählung wird. Der boumgarten verbleibt bei dieser Betrachtung als ‚stumme Kulisse‘, die sehr gut ohne Personal und Handlung auskommt oder mit beidem höchstens symbolisch-allegorisch verbunden ist.21 Damit aber das besondere Handlungs- und Konfliktpotential erfasst werden kann, ist der Baumgarten in seiner konkret-räumlichen Einrichtung und seiner Funktionalisierung als Raum der Handlung und Imagination zu untersuchen. Der boumgarten soll nicht als Kulisse von Handlung, sondern als Raum der Handlung ins Zentrum des Interesses gestellt werden. Das wichtigste räumliche Merkmal des Baumgartens, das es für dieses Vorhaben zu beachten gilt, ist seine Grenze. Die Umhegung des Gartens gehört zum Bedeutungskern des mittelhochdeutschen Substantivs garte. Es lässt sich bis auf das indogermanische Grundwort *ghêr- zurückverfolgen, das ‚umzäunen‘, ‚einhegen‘ oder ‚umfassen‘ bedeutet.22 Diese Grenze löst den Baumgarten aus der höfischen Sphäre des Burgkomplexes, in dem er gelegen ist. Sie schränkt den Zugang zum Garten räumlich ein und bietet dem Garteninneren Schutz gegenüber seiner Umgebung. Da die Umfriedung des Baumgartens aber – in unterschiedlichem Ausmaß, wie sich zeigen wird – durchlässig ist, ist die Abgrenzung von der höfischen Sphäre nicht hermetisch. Indem sich im Baumgarten die höfische und die außerhöfische Sphäre berühren, entsteht eine dem Baumgarten eigene Spannung. An sie lagern sich weitere Spannungsverhältnisse, etwa zwischen Öffentlichkeit und Heimlichkeit an. Die Spannungsverhältnisse zu explizieren und das ihm zugrunde liegende Vorstellungskonzept des boumgarten in der höfischen Literatur zu bestimmen, ist Aufgabe von Kapitel 2. Die dadurch gewonnenen Erkenntnisse leiten die Auswahl der zu analysierenden Baumgartenszenen der höfischen Romane. Mit Gottfrieds von Straßburg Tristan und Konrads von Würzburg Engelhard werden Baumgärten untersucht, in denen vor allem das Zusammentreffen von Liebenden im Umkreis des Hofes und in Spannung zu diesem erzählt wird. Obwohl die Gärten in ihrer Ausstattung zunächst als Räume der höfischen Zusammenkunft erscheinen, wird das dortige Geschehen für die Figuren wie auch den umgebenden Hof zur Herausforderung. Die Baumgärten in Hartmanns von  Dorothea Klein weist nach, dass sich im dichterischen Umgang mit dem Topos locus amoenus „eine Spielwiese für Kreativität“ auftut und eine spezifische, diskursive Oberfläche erzeugt wird. So lassen sich rhetorische Fähigkeiten und Fertigkeiten der Dichter im Umgang mit den rhetorischen Traditionen herausarbeiten. Eine Vermittlung zwischen der topischen Beschreibung und der Handlung kann diese Herangehensweise jedoch nicht allein leisten. Vgl. Dorothea Klein: Amoene Orte. Zum produktiven Umgang mit einem Topos in mittelhochdeutscher Dichtung. In: Projektion – Reflexion – Ferne. Räumliche Vorstellungen und Denkfiguren im Mittelalter. Hrsg. von Sonja Glauch, Susanne Köbele, Uta Störmer-Caysa. Berlin/Boston 2011, S. 61–83, hier S. 83.  Vgl. Frühe, Das Paradies ein Garten, S. 10–13. Vgl. auch Friedrich Kluge: Art. Garten. In: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Hrsg. von dems. unter Mithilfe von Max Bürgisser und Bernd Gregor völlig neu bearbeitet von Elmar Seebold. 22. Aufl. Berlin/New York 1989, S. 245 f.

Einleitung

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Aue Erec und Konrad Flecks Flore und Blanscheflur zeichnen sich durch ihre ausgeprägte mythische Verfasstheit aus. Der Zusammenfall der Jahreszeiten, mythisch-magische Zutritts- und Wirkmechanismen machen die Gärten zu herausgehobenen Räumen und grenzen sie so zusätzlich gegen den höfischen Raum ab. Ungeachtet dieser stark markierten Abgrenzung zeitigen die mythischen Gärten und die dort angesiedelten Handlungen auch im Zentrum der höfischen Sphäre Wirkungen, die die Herausforderung der höfischen Werte und Normen potenziert. Das besondere Verhältnis des Gartens zu seiner Umwelt, von der er einerseits abgegrenzt ist, auf die er jedoch immer auch bezogen bleibt, beschreibt Michel Foucault, wenn er den Garten als „das älteste Beispiel einer Heterotopie“23 auffasst. Wie alle Heterotopien zeichnet sich der Garten dadurch aus, dass er verschiedenste Räume in sich vereinen kann und zu den Räumen seiner Umgebung in einem spiegelnden, reflektierenden oder suspendierenden Verhältnis zu stehen vermag.24 Auch der höfische Baumgarten lässt sich als Heterotopie beschreiben. So sind etwa seine Grenzen unterschiedlich gestaltet und verschieden permeabel, so dass ihnen ebenso ein „System der Öffnung und Abschließung“ eigen ist.25 Man könnte in Anschluss an dieses Konzept der Heterotopie fragen, wie sich nun der boumgarten der höfischen Romane allgemein oder je einzelne Baumgärten zu den umgebenden Räumen verhalten und inwiefern sie zu diesen Stellung beziehen. So ließe sich die oben ausgeführte Eigenheit der Baumgärten zumindest in Teilen betrachten. Doch es ergeben sich zwei zentrale Problemkomplexe, will man Foucaults Konzept der Heterotopie für das hier angestrebte Vorhaben fruchtbar machen. Problematisch ist erstens Foucaults These, dass sich der mittelalterliche Raum durch Lokalisierung auszeichne.26 Die damit verbundene Vorstellung von Statik und Hierarchie ist zu vereinfachend, als dass sie die Facetten mittelalterlicher Raumvorstellungen adäquat abbilden könnte.27 Da die Heterotopie auf die topologische Untersuchung einer „sozialen Wissensordnung“ durch ein ausgegrenztes Anderes abstellt, eignet sie sich zweitens nicht dazu, die Inszenierung des höfischen Baumgartens als Raum der Handlung im Prozess des Erzählens zu untersuchen. Foucault richtet sein Augenmerk somit auf die Eigenschaften von Heterotopien und ihren Aussagewert für gesellschaftliche Systeme statt Praktiken zu untersuchen, die einen solchen Raum überhaupt erst entstehen lassen.

 Michel Foucault: Die Heterotopien. In: Ders.: Die Heterotopien / Les hétérotopies – Der utopische Körper / Le corps utopique. Zwei Radiovorträge. Frankfurt a.M. 2005, S. 14–15.  Vgl. Michel Foucault: Von anderen Räumen. In: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Bd. 4: 1980–1988. Hrsg. von Daniel Defert. Frankfurt a.M. 2005, S. 931–942.  Foucault, Heterotopien, S. 18.  Vgl. Foucault, Von anderen Räumen, S. 931–942.  Zur Kritik an Foucaults Auffassung des mittelalterlichen Raums vgl. Markus Stock, Nicola Vöhringer: Spatial Practices: Medieval/Modern. In: Spatial Practices: Medieval/Modern. Hrsg. von dens. Göttingen 2014 (Transatlantic Studies on Medieval and Early Modern Literature and Culture. 6), S. 10–14.

6

Einleitung

Für die Untersuchung der sukzessiven Inszenierung des boumgarten als Raum der Handlung, eignet sich Michel Foucaults Konzept der Heterotopie folglich nicht. Ein raumtheoretischer Zugriff muss dagegen zweierlei leisten. Erstens muss mit seiner Hilfe die sukzessive Erzeugung eines Handlungsraums in der Erzählwelt untersucht werden können. Zweitens sollte zugleich die räumliche und semantische Funktion solcher Praktiken erfassbar sein. Zu diesem Zweck entwickelt Kapitel 3, mit Rückgriff auf die phänomenologisch inspirierte Theorie Michel de Certeaus, ein Konzept von Raum und nimmt eine Differenzierung zum Konzept des Ortes vor. Im Anschluss daran entfaltet das Kapitel die performative Erzeugung und Narrativierung von Raum sowie deren Funktion. Diese raumtheoretische Grundlegung erlaubt es, die Erzeugung des boumgarten als konsistenten und plastischen Handlungsraum im höfischen Roman zu untersuchen. Im Zuge von Kapitel 3 werden mit Blick auf den entwickelten, raumtheoretischen Zugang das Vorhaben sowie die daran anknüpfenden Fragestellungen entfaltet. Im Fokus der Arbeit steht zusammen mit der narrativen Raumerzeugung unter anderem die Frage, inwiefern der boumgarten durch sie als Schwellenraum inszeniert und für die Handlung funktionalisiert wird. Kapitel 4 stellt mit Deixis, Blick und kinästhetischer Bewegung ein Instrumentarium von narrativen Strategien zusammen, das es erlaubt zu untersuchen, wie Handlungs-, aber vor allem auch Imaginationsräume im mittelalterlichen Erzählen performativ hervorgebracht werden. Mit Hilfe dieser narrativen Strategien wird im Rahmen der Analysen (Kapitel 5) geprüft, ob und inwiefern die Erzählungen den boumgarten als konsistenten, dreidimensionalen Handlungs- und Imaginationsraum erzeugen. Es wird außerdem zu zeigen sein, welche Funktion der Baumgartenraum für die in ihm inszenierte Handlung hat. Eine besondere Aufmerksamkeit gilt in diesem Zusammenhang der räumlichen wie auch der semantischen Inszenierung des boumgarten als Raum spezifischer Spannungsverhältnisse, wie sie den Baumgarten als Raum der höfischen Erzählwelt auszeichnen. Die Unterkapitel geben zum Abschluss jeder Analyse eine Zusammenfassung ihrer Ergebnisse und nehmen darüber hinaus eine Einordnung der Ergebnisse für die Gesamtdeutung des untersuchten höfischen Romans vor. Im Rahmen der Analyse zu Konrads von Würzburg Engelhard soll am Beispiel eines plân auf Dietrichs Aussatzinsel zudem gezeigt werden, welchen Nutzen die vorgeschlagene Definition von boumgarten für das hier verfolgte Erkenntnisinteresse hat und welche Abgrenzungen sie ermöglicht (Kapitel 5.4.4). Die über die analysierten Baumgärten hinausgehende Vielfalt des höfischen Gartenerzählens wird Gegenstand von Kapitel 5.5. Dort soll nicht nur das Panorama des Erzählens von und im Baumgarten erweitert werden. Zudem sollen die in den Analysen gewonnenen Erkenntnisse zur Vielgestaltigkeit der Baumgärten in den höfischen Romanen in Beziehung gesetzt werden. Auf diese Weise wird reflektiert, welchen Stellenwert die Analyseergebnisse für die Baumgärten der höfischen Romane beanspruchen. Kapitel 6 abstrahiert abschließend von den analysierten Baumgartenszenen und trägt übergeordnete Erkenntnisse zusammen, um die Fragen nach einer spezifischen Raumerzeugung und einem charakteristischen Handlungs- und Konfliktpotential des

Einleitung

7

boumgarten zu beantworten. Die vorliegende Arbeit bietet in Form eines close reading eine systematische Analyse ausgewählter Baumgärten, die im höfischen Roman zu entscheidenden Räumen der Handlung werden. Darüber hinaus leistet sie einen ersten Beitrag zur Untersuchung einer Raumerzeugung, die sich als charakteristisch für die Räume der höfischen Sphäre erweisen könnte. Denn die bewohnten Räume des Hofes wurden – anders als die Räume des Unterwegsseins – bislang von der Forschung nicht umfassender auf ihre räumliche Inszenierung hin untersucht.28

 Der von Hasebrink u. a. herausgegebene Tagungsband zu Innenräumen stellt eine Ausnahme hiervon dar. Allerdings legt er sein Augenmerk vor allem auf topologische Wissensstrukturen sowie Metaphoriken des Innen. Vgl. Burkhard Hasebrink [u. a.] (Hrsg.): Innenräume in der Literatur des Mittelalters. XIX. Anglo-German Colloquium Oxford 2005. Tübingen 2008. Eine erste wichtige Ergänzung fand der Band unlängst durch das Handbuch der literarischen Orte mittelalterlicher Erzählliteratur, das sich unter anderem bewohnten Räumen wie Burg, Saal, Kemenate widmet. Vgl. Tilo Renz, Monika Hanauska, Mathias Herweg (Hrsg.): Literarische Orte in deutschsprachigen Erzählungen des Mittelalters. Ein Handbuch. Berlin/Boston 2018.

2 Auf der Schwelle 2.1 Gärten in der mittelalterlichen Literatur Das Erzählen vom Garten verfügt, wie ein erster Blick auf Homer und die biblischen Gärten zeigt, über eine weit ausgedehnte Geschichte, auf deren Traditionslinien die mittelalterliche Literatur aufbaut. Der Garten des Alkinoos, der Paradiesgarten der Genesis, der allegorische Garten des Hohelieds oder etwa der Garten, in dem Susanna im Buch Daniel1 badet: Sie alle bilden nur einen Ausschnitt des Gartenerzählens und deuten doch seine Vielgestaltigkeit an. Das Erzählen vom Garten zeigt auch in der mittelalterlichen Literatur eine enorme Vielfalt und noch dazu verblüffende Wandlungsfähigkeit. Über alle literarischen Gattungen hinweg ist der Garten präsent. Vertreten sind nicht nur alle Arten von mittelalterlichen Gartentypen – Gemüsegarten, (Heil-)Kräutergarten und Baumgarten –,2 sondern auch eine je eigene Gewichtung von literaler und allegorischer Ausgestaltung. Einerseits greift die mittelalterliche Literatur so zentrale Traditionslinien auf, andererseits macht sie die Gartenerzählungen in ihrer Darstellungsart und Funktion für ihre unterschiedlichen Zwecke produktiv.3 Im Rahmen der geistlichen Literatur lässt sich dieser Aneignungsprozess beispielhaft an der Wiener Genesis, einem Bibelepos, erkennen. Ausgehend von der biblischen Beschreibung wird der Paradiesgarten als vielfältiger, schöner Naturort heimischen Zuschnitts auserzählt.4 Er ist den Jahreszeiten enthoben und verfügt über eine derartige florale Fülle, dass seine Bewohner nicht nur im übertragenen Sinn durch seine Wonne gesättigt werden. Die über das biblische Arsenal hinausgehenden Ausstattungsmerkmale und Eigenschaften partizipieren deutlich am Topos des locus amoenus, den Ernst Robert Curtius von der Antike bis hinein ins 16. Jahrhundert als bestimmendes Naturmotiv identifiziert. Baum, Quelle und Wiese, optional auch Blumen, Windhauch und Vogelsang, bilden die Ausstattungsmerkmale dieses Lustortes. In den Landschaftsdarstellungen Homers, zum Beispiel dem Garten des Alkinoos aus der Odyssee,5 nimmt die Motivtradition

 Buch Daniel 13,1–64. Vgl. Die Bibel, S. 1045–1047.  Für die Entwicklung und Geschichte der mittelalterlichen Gartenkunst vgl. etwa Hennebo, Gärten des Mittelalters; Mayer-Tasch/Mayerhofer, Hinter Mauern ein Paradies; Wolfgang Teichert: Gärten. Paradiesische Kulturen. Stuttgart 1986 (Symbole).  Vgl. Harald Tausch: Der Garten in der deutschen Literatur. Eine literarturhistorische Skizze vom Mittelalter bis ins Jahr 2010. In: Gartenkunst in Deutschland: Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart – Geschichte – Themen – Perspektiven. Hrsg. von Stefan Schweizer, Sascha Winter. Regensburg 2012, S. 406–409.  Vgl. Die frühmittelhochdeutsche Wiener Genesis. Kritische Ausgabe mit einem einleitenden Kommentar zur Überlieferung. Hrsg. von Kathryn Smits. Berlin 1972 (Philologische Studien und Quellen. 59), S. 232–526.  Gesang 7, V. 112–132. Vgl. Homer, Odyssee, S. 180 f. https://doi.org/10.1515/9783110795455-002

Gärten in der mittelalterlichen Literatur

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ihren Ausgang und dehnt sich über die antike Hirtendichtung in erstaunlich stabiler Weise bis in die mittelalterliche Literatur und darüber hinweg aus. Entworfen wird immer ein „ideal schöner Naturausschnitt“, der zum Sitz von Liebe und paradiesischen Freuden werden kann.6 Eigen ist dem Topos die Flexibilität, Verbindungen mit anderen Naturmotiven, wie eben dem Garten oder dem Paradies, einzugehen oder sich mit dem Motiv des ewigen Frühlings zu verbinden.7 Obwohl es sich beim Paradiesgarten der Wiener Genesis weder um ein Lob des einfachen Schäferlebens, wie in der bukolischen Dichtung der Antike, noch um den Schauplatz eines amourösen Zusammentreffens handelt, findet eine solche Motivkonkreszenz zwischen der Paradiesgartendarstellung, dem locus amoenus und dem Motiv des ewigen Frühlings statt. Dieses Zusammenwachsen ist das Ergebnis einer Transformation. Diente der erotisch konnotierte Lustorttopos im Bibelepos De spiritalis historiae gestis des Alcimus Avitus noch zur Ausgestaltung des Paradieses als erotisch konnotiertem Brautgemach der ersten Menschen, fällt diese Komponente in der Wiener Genesis weg. Stattdessen, so arbeitet Rainer Gruenter heraus, dient die Lustorttopik nun dazu, die paradiesische Unvergänglichkeit in Szene zu setzen. Die überlieferten Darstellungsmittel des Paradiesgartens und des locus amoenus fallen zusammen und bilden einen neuen Funktionszusammenhang. Eine weitere Neuerung besteht im wirklichkeitsbezogenen Gartenvokabular, mit dem die Imagination des Paradiesgartens an die Gestalt heimischer Baumgärten angenähert wird. Wiewohl sie keinen singulären Ausgangspunkt aufzeigen, so offenbaren diese Erkenntnisse Gruenters zum Zusammenfall der Motive und ihrer Anbindung an die heimische Gartenflora doch die gezielte Funktionalisierung einer solchen Motivkonkreszenz. Darüber hinaus machen sie darauf aufmerksam, dass sich das Bibelepos auch eines allgemein verfügbaren Vorstellungskonzepts heimischer Baumgärten bedient.8 Als Garten schildert nicht nur das Evangelienbuch (Kap. 23, V. 273–298)9 Otfrids von Weißenburg das himmlische Reich. Auch Visionsliteratur und Mystik nutzen dieses Anschauungsmodell, um ihre imaginierten Räume erzählbar zu machen. Mechthilds von Magdeburg Das fließende Licht der Gottheit10 kennt neben dem himmlischen auch einen irdischen Paradiesgarten. Nicht nur spirituell, sondern auch räumlich erhält letzterer einen Zwischenstatus zwischen Erde und Himmel.11 Des Weiteren findet im Gar Curtius, Rhetorische Naturschilderung, S. 226.  Vgl. Curtius, Rhetorische Naturschilderung, S. 244–249.  Vgl. Rainer Gruenter: Der paradisus der Wiener Genesis. In: Euphorion 49 (1955), S. 121–144.  Otfrid von Weißenburg: Evangelienbuch. Band 1: Edition nach dem Wiener Codex 2687. Hrsg. u. bearb. von Wolfgang Kleiber. Tübingen 2004.  Mechthild von Magdeburg: Das fließende Licht der Gottheit. Bd. 1: Text. Hrsg. von Hans Neumann. München 1990 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters. 100), VII. Buch, 57. Kapitel.  Vgl. Ulrich Ernst: Virtuelle Gärten in der mittelalterlichen Literatur. Anschauungsmodelle und symbolische Projektionen. In: Imaginäre Räume. Sektion B des internationalen Kongresses Virtuelle Räume, Raumwahrnehmung und Raumvorstellung im Mittelalter. Hrsg. von Elisabeth Vavra. Wien

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ten häufig die unio mystica statt oder er bietet das Bildarsenal, mit dem der seelische Innenraum erzählt wird.12 Überhaupt versifiziert, rhetorisiert und episiert die geistliche Literatur, zu der unter anderem der Saelden Hort13 oder Heinrichs von Neustadt Gottes Zukunft14 zählen, die biblischen Garten-Prätexte auf ihre eigene Weise. Die Gärten der geistlichen Literatur sind nicht nur literal ausdifferenziert, sondern sie werden vor allem ausgiebig allegorisiert. In Anlehnung an das biblische Hohelied dient der Garten als hortus conclusus immer wieder als Allegorie für Maria und ihre Reinheit.15 Die im verschlossenen Garten sitzende Maria wird über die Jahrhunderte hinweg zum Motiv unzählbarer Kunstwerke. Neben der mariologischen Auslegung werden der Garten und das Paradies zum Sinnbild für die Kirche, die Gemeinschaft von Mönchen oder die Seelen der Gläubigen, in denen Gott sich eine Heimstatt nimmt.16 Der Garten erfreut sich auch in der lyrischen Dichtung des Mittelalters großer Beliebtheit und besonderer Vielfalt. Er wird zum Schauplatz für das besungene Geschehen zwischen den Liebenden oder zum Ort des Dichtens selbst. Die Lyrik macht zudem reichhaltigen Gebrauch vom symbolischen und allegorischen Potential des Gartens. Häufig knüpfen die entworfenen Bilder dabei ebenfalls an das Hohelied an. Der Garten und seine Blumen werden nicht nur zum Bild für die Schönheit der verehrten Dame, sondern auch zum Bild für die Minne selbst. Der Beschränkung auf erzählende Literatur ist es geschuldet, dass die große lyrische Vielfalt rund um den Garten innerhalb dieses Panoramas nur angedeutet werden kann.17

2007 (Veröffentlichungen des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. 19), S. 168.  Vgl. Küsters, Garten, Baumgarten, S. 167–168.  Der saelden hort. Alemannisches Gedicht vom Leben Jesu, Johannes des Täufers und der Magdalena. Aus der Wiener und Karlsruher Handschrift. Hrsg. von Heinrich Adrian. Berlin 1927 (Deutschte Texte des Mittelalters. 26), V. 9676–9878.  Heinrich von Neustadt: Apollonius von Tyrland nach d. Gothaer Handschrift. Gottes Zukunft und Visio Philiberti nach d. Heidelberger Handschrift. 2. Aufl. Hrsg. von Samuel Singer. Dublin/Zürich 1967 (Deutsche Texte des Mittelalters. 7), V. 3472–4270.  Vgl. Stammler, Der allegorische Garten, S. 250. Zur theologische Bedeutung des Gartenkonzepts in der Verehrung Marias vgl. Harald Schwillus: Hirtenidylle und hortus conclusus. Gartenkonzepte christlicher Spiritualität und Theologie. In: Gartendiskurse. Mensch und Garten in Philosophie und Theologie. Hrsg. von Arne Moritz, dems. Frankfurt a.M. 2007 (Treffpunkt Philosophie. 7), S. 66–70; Küsters, Garten, Baumgarten, S. 167.  Die Allegorisierung des Gartens bleibt dabei keinesfalls geistlichen Texten vorbehalten, wie Schätzler am französischen Roman de la Rose illustriert. Die Traumerzählung thematisiert „die Liebe in allegorischer Form“. Vgl. Verena Schätzler: Gärten in der mittelalterlichen Literatur. Der hortus conclusus als Schauplatz der Liebe am Beispiel des Roman de la Rose. In: Gärten. Hrsg. von Kurt Röttgers, Monika Schmitz-Emans. Essen 2011 (Philosophisch-literarische Reflexionen. 13), S. 79.  Für erste Eindrücke von den vielfältigen Erscheinungsweisen des Gartens in der mittelalterlichen Lyrik vgl. Hennebo, Gärten des Mittelalters, S. 51–57; Margreth Egidi: ‚Innenräume‘ des Liebesdiskurses. Spiegelungen des Innen am Beispiel der Gartenmotivik in Minnereden. In: Innenräume in der Li-

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Sehr viel weltlicher, zuweilen auch andersweltlicher, geht es in den Gärten der Heldenepik zu. Durch einen seidenen Faden abgegrenzt, nur mit Rosen bepflanzt, deren Schönheit durch Edelstein- und Goldbehang noch potenziert wird, und mit der Drohung versehen, dass jeder Eindringling einen Kampf provoziert, der ihn eine Hand und einen Fuß kosten muss: Diesen Regeln folgt der Rosengarten des Zwergenkönigs Laurin im gleichnamigen Dietrichepos.18 Den prachtvollen Raum in fremdem Besitz können Dietrich und sein Gefährte Witege nicht unangetastet bestehen lassen. Vor allem dann nicht, wenn Dietrichs Erzieher Hildebrand die âventiure als Schlüssel zu unumstößlichem Ruhm propagiert. Anfänglich noch von der Schönheit und den mythischen Wirkungen des Gartens betört, kommt es zum unvermeidlichen Kampfesrausch. Die völlige Verwüstung ist die Folge. Im Rosengarten zu Worms ist Kriemhild Hüterin eines Gartens, der große Ähnlichkeiten zu dem des Laurin hat. Eine kostbare Umzäunung grenzt ihn von der Außenwelt ab. Auch wenn der Garten an sich keine Provokation darstellt, sind verheerende Kämpfe vorprogrammiert.19 Wie der Garten ausgestattet ist und was die Helden um Dietrich von Bern im Kampf erringen können, erzählen die Fassungen des Rosengartens unterschiedlich;20 mal erhält der Sieger Kuss und Rosenkranz von Kriemhild, mal erreicht er die Unterordnung König Gibeches. Unausweichlich ist die den Garten verheerende Kampfesorgie aber immer. Die Dietrichepen entwerfen das Bild eines nur scheinbaren Paradieses. Insbesondere im Laurin ist es die zeitenthobene Künstlichkeit des Gartens, die ihn zur „Verlockung und Herausforderung des heldischen Selbstge-

teratur des Mittelalters. XIX. Anglo-German Colloquium Oxford 2005. Hrsg. von Burkhard Hasebrink [u. a.]. Tübingen 2008, S. 147–156.  Das Aussehen des Rosengartens und die Bedingungen der Herausforderung werden in der Älteren Vulgatversion zum einen von Hildebrand (V. 51–72) und später vom Erzähler geschildert (V. 91–110). Vgl. Laurin. Hrsg. von Henrikje Hartung, Jan K. Hon, Florian Kragl, Ulf Timmermann. Stuttgart 2016 (Relectiones. 4); Laurin. Teilband 1: Einleitung, Ältere Vulgatversion, Walberan. Hrsg. von Elisabeth Lienert, Sonja Kerth, Esther Vollmer-Eiken. Berlin/Boston 2011 (Texte und Studien zur mittelhochdeutschen Heldenepik. 6); Laurin. Teilband 2: Preßburger Laurin, Dresdner Laurin, Jüngere Vulgatversion, Verzeichnisse. Hrsg. von Elisabeth Lienert, Sonja Kerth, Esther Vollmer-Eiken. Berlin/Boston 2011 (Texte und Studien zur mittelhochdeutschen Heldenepik. 6).  Im Rosengarten A sind es beispielsweise zwölf Ritter, die fremdes Eindringen in den von einem seidenen Faden umzäunten Rosengarten verhindern sollen (Str. 5–11,2). Vgl. Rosengarten. Teilband 1: Einleitung, Rosengarten A. Hrsg. von Elisabeth Lienert, Sonja Kerth, Svenja Nierentz. Berlin/München/ Boston 2015 (Texte und Studien zur mittelhochdeutschen Heldenepik. 8); Rosengarten. Teilband 2: Rosengarten DP. Hrsg. von Elisabeth Lienert, Sonja Kerth, Svenja Nierentz. Berlin/München/Boston 2015 (Texte und Studien zur mittelhochdeutschen Heldenepik. 8); Rosengarten. Teilband 3: Rosengarten C, Rosengarten F, Niederdeutscher Rosengarten. Hrsg. von Elisabeth Lienert, Sonja Kerth, Svenja Nierentz. Berlin/München/Boston 2015 (Texte und Studien zur mittelhochdeutschen Heldenepik. 8).  Vgl. Joachim Heinzle: Art. Rosengarten zu Worms. In: 2VL 8 (1992), Sp. 187–192.

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fühls“ macht und die âventiure initiiert.21 Als Schwellenbereich ist der Garten Teil des sonst unterirdischen Reichs des Zwergenkönigs und folgt eigenen Regeln und Besitzverhältnissen. Die zufällige oder gewollte Missachtung dieser Besitzverhältnisse – oder wie im Rosengarten die Annahme der kundgetanen Herausforderung – führt zum Kampf, der das Gartenkunstwerk völlig zerstört. In der Ausgestaltung der Rosengärten verbinden die heldenepischen Erzählungen paradiesische Motivbestände mit der Funktion des Gartens als Kampf- und Richtstätte.22 Noch schillernder ist das Gartentreiben im Rolandslied. Bären kämpfen mit Löwen, Ritter messen ihre Kräfte und die Damen sind in prachtvolle Gewänder gehüllt. Im Zentrum all dessen sehen die heranreitenden, heidnischen Boten Kaiser Karl sitzen. Seine Beschreibung lässt Karl im wahrsten Sinne des Wortes als Lichtgestalt und Fixstern der Szenerie erscheinen. Damit stellt der als höfische Enklave inszenierte boumgarten zugleich die weltliche Idealität des göttlich legitimierten Kaisers aus.23 Im Herzog Ernst D stoßen Ernst und Wetzel bei der Erkundung der Stadt Grippia unter anderem auf einen Garten, der nicht nur durch seine liebliche Natur besticht. Darüber hinaus zeichnet er sich durch eine Badevorrichtung aus, die architektonisch wie technisch nicht nur hochartifiziell ist, sondern auch aus kostbaren Baustoffen, etwa Gold, Silber, Marmor, besteht.24 Der Garten Grippias fungiert so als Bestandteil eines faszinierenden, orientalischen Wunschbildes.25 Wieder eine andere Seite des Erzählens im Garten offenbart die mittelalterliche Novellistik. Der berühmte Erzieher Alexanders, der Philosoph Aristoteles, kriecht mit Sattel und Zaumzeug versehen mit der schönen Phyllis auf dem Rücken auf allen Vieren durch Gras und Blumen. Bis zu ihrer durch Aristoteles verschuldeten Trennung war der Garten für Phyllis und Alexander ein heimlicher Schutzraum ihrer Liebe. Der Gelehrte, auf dessen Hinwirken die Liebenden den wachenden Blicken des Hofes ausgesetzt sind, wird zur Zielscheibe weiblicher Listigkeit. Phyllis’ Verführungskünste

 Mireille Schnyder: Daz ander paradîse. Künstliche Paradiese in der Literatur des Mittelalters. In: Paradies. Topografien der Sehnsucht. Hrsg. von Claudia Benthien, Manuela Gerlof. Köln/Weimar/Wien 2010 (Literatur – Kultur – Geschlecht. Studien zur Literatur- und Kulturgeschichte. 27), S. 71.  Vgl. Josef Billen: Baum, Anger, Wald und Garten in der mittelhochdeutschen Heldenepik. Münster 1965, S. 81–83. Frühe weist darauf hin, dass das Konzept des Rosengartens in seinen Wurzeln und Funktionen nicht eindeutig bestimmt werden kann. Vgl. Frühe, Das Paradies ein Garten, S. 184–186.  Vgl. Das Rolandslied des Pfaffen Konrad. 3., durchgesehene Aufl. besorgt von Peter Wapnewski. Hrsg. von Carl Wesle. Tübingen 1985 (ATB. 69), V. 641–708.  Vgl. Herzog Ernst D (wahrscheinlich von Ulrich von Etzenbach). Hrsg. von Hans-Friedrich Rosenfeld. Tübingen 1991 (ATB. 104), V. 2425–2472.  Mareike Klein zeigt auf, inwiefern die Beschreibung Grippias im Herzog Ernst B als Heterotopie verstanden werden kann und wie ein Phantasma des exotischen Orients konstruiert wird. Vgl. Mareike Klein: Die Farben der Herrschaft. Imagination, Semantik und Poetologie in heldenepischen Texten des deutschen Mittelalters. Berlin/Boston 2014 (Literatur – Theorie – Geschichte. 5), S. 253–268. Dies kann ebenso Geltung für die genannte Passage der D-Fassung, auf die Klein wiederholt verweist, beanspruchen.

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führen Aristoteles in den Garten, in dem diesmal er als Reittier verspottet den Blicken des angrenzenden Hofes und damit unerträglicher Schande ausgesetzt wird.26 Auch der betrogene Ehemann in Hans Rosenplüts Knecht im Garten27 erlebt in diesem Raum sein blaues Wunder. In den Kleidern seiner Frau glaubt der Hausherr, dort wartend den Knecht, der sich mit seiner Frau zum geheimen Stelldichein verabredete, in eine Falle zu locken. Ohne es zu wissen, tappt er jedoch selbst in eine Falle. Er räumt nicht nur den Platz im Ehebett für seinen Knecht. Als Ergebnis einer doppelten List treffen die Prügel den Ehemann, denn der hinzukommende Knecht bestraft die im Garten wartende ‚Ehefrau‘, die er vermeintlich nur auf die Probe habe stellen wollen. Wo Rosenplüt den Ehebruch durch Listen verdeckt hält, wird in der Nachtigall28 eine illegitime Gartenliebe nachträglich legalisiert. Die Tochter eines angesehenen Ritters gibt vor, schrecklich krank zu sein und bittet um Zeit zur Genesung im angrenzenden, vortrefflich ausgestatteten Garten des Vaters. In Wirklichkeit leben die Tochter und der heimlich zu ihr vorgedrungene, junge Mann des Nachts im mit Blumen, Bäumen und Kräutern bepflanzten Gartenraum ihre Liebe aus. Den morgendlichen Blicken aus dem angrenzenden Wohnbereich der Eltern bleiben aber auch sie nicht verborgen und so muss der ‚Vogel‘, den die Tochter in der Nacht gefangen hat, durch Heirat vom ‚Entfliegen‘ abgehalten werden. Das Aussehen der Gärten spielt von ihren meist topischen Ausstattungsmerkmalen abgesehen nur eine untergeordnete Rolle. Inszeniert wird vielmehr die räumliche und semantische Beziehung des Gartens zum umgebenden Raum- und Sozialkomplex des Hofes. Die im Gartenraum platzierten Handlungen, die räumlich gegen das Außen abgegrenzt sind, geraten in Konflikt mit den Werten und Normen ihrer Umgebung. Die dort ausgelebte, heimliche Liebe ist daher selbst ebenso heimlichen Blicken ausgesetzt. Sie zerren das Gartengeschehen beabsichtigt wie bei Aristoteles und Phyllis oder unbeabsichtigt wie in der Nachtigall in das Gesichtsfeld und Bewusstsein der Öffentlichkeit. Probleme werden in diesem Zuge entweder behoben oder gerade erst hervorgerufen, so dass diese selbst wiederum im Garten ausagiert werden können. Doch damit nicht genug. Eine Frau reitet auf einem gesattelten Mann, ein Geliebter schwingt sich mit einer Stange über die Gartenhecke, während die Geliebte am nächsten Morgen dessen wie ein Speer aufragendes Glied umfasst hält: Dass der Garten auch die Lizenz für obs-

 Aristoteles und Phyllis (Nr. 61). In: Deutsche Versnovellistik des 13. bis 15. Jahrhunderts (DVN). Bd. 2: Nr. 57–80. Hrsg. von Klaus Ridder, Hans-Joachim Ziegeler. Berlin 2020, S. 77–98.  Hans Rosenplüt: Der Knecht im Garten. In: Die deutsche Märendichtung des 15. Jahrhunderts. Hrsg. von Hanns Fischer. München 1966 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters. 12), S. 178–187.  Die Nachtigall A (Nr. 101). In: Deutsche Versnovellistik des 13. bis 15. Jahrhunderts (DVN). Bd. 3: Nr. 81–124. Hrsg. von Klaus Ridder, Hans-Joachim Ziegeler. Berlin 2020, S. 577–586; Die Nachtigall B (Nr. 121). In: Deutsche Versnovellistik des 13. bis 15. Jahrhunderts (DVN). Bd. 3: Nr. 81–124. Hrsg. von Klaus Ridder, Hans-Joachim Ziegeler. Berlin 2020, S. 860–864.

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zöne Handlungen bereithält, schöpft die Versnovellistik reichlich aus. Neben Liebe werden Erotik und obszöne Körperlichkeit verhandelt. In seiner erstaunlichen Verfasstheit offenbart der Rosendorn das Potential des Gartens für Erotik und Obszönität. Die Erzählung, zuweilen ebenfalls als heimliche Beobachtung des Erzählers markiert, berichtet von einer Jungfrau, die sich in einen schönen wurzgarten zurückzieht, ihn mit grünen Bändern umgrenzt, hegt und pflegt. In der immer selben Zeremonie salbt sich die nackte Schöne in diesem Garten mit Rosenwasser, bis es sich [V]on einer wurz fugt [...], / das die fut czu der junkfraw (V. 84 f.)29 spricht. Die sprechende Vulva und ihre Herrin geraten in Streit darüber, wem das Wohlwollen bei den Männern zu verdanken sei, und so beschließen sie die Probe aufs Exempel und gehen getrennte Wege. Verschmäht und erfolglos kehren beide zueinander in den Garten zurück und bedürfen nun der Hilfe des heimlichen Beobachters, der die wiedergewonnene Einheit zwischen fut und Frau durch den Geschlechtsakt nachhaltig sichert. Die Themen und Muster der anderen Kurzerzählungen klingen in unterschiedlicher Intensität an. Vor allem aber zeichnet sich der Rosendorn durch ein kaum aufzulösendes Changieren zwischen dem wurzgarten als Handlungsraum und als Umschreibung für die Gestalt und den Umgang mit der Vulva aus. Dieser Schwebezustand zwischen eigentlichem und uneigentlichem Sprechen, den erst das Vorstellungskonzept des Gartens ermöglicht, verstärkt die Vielstimmigkeit der Kurzerzählung. Insbesondere die mittelalterliche Erzählliteratur, auf der in diesem Überblick der Schwerpunkt lag, nimmt unterschiedliche Gartentypen in Anspruch und funktionalisiert deren räumliche und semantische Eigenschaften für ihre jeweiligen Erzählabsichten. Die Gartennatur inszeniert sie, indem sie je nach Bedarf verschiedene Beschreibungstraditionen zusammenführt. Darüber hinaus macht sich die Erzählliteratur die räumliche Abgrenzung des Gartens von seiner Umgebung zunutze. So ermöglicht der Garten als Raum der Handlung zum Beispiel solche Handlungen, die außerhalb des Gartens gegen Werte und Normen der Gesellschaft verstoßen oder diese wenigstens strapazieren. Trotz Abgrenzung bleibt das Geschehen im Garten, wie unter anderem die Beispiele der Versnovellistik zeigen, auf die Umgebung bezogen. Häufig scheint sich gerade aus diesem Konflikt ein besonderes Handlungspotential zu generieren.

2.2 Der Baumgarten im höfischen Roman Während in den anderen erzählenden Gattungen der hochmittelalterlichen Literatur verschiedene Typen von Gärten vorkommen, präsentiert die höfische Epik beinahe ausschließlich den Baumgarten (boumgarte) als Teil der Erzählwelt. Die Quellen, die Aufschlüsse über die mittelalterliche Gartenkunst geben, sind wie bei allen Gartenty-

 Der Rosendorn (Nr. 175). In: Deutsche Versnovellistik des 13. bis 15. Jahrhunderts (DVN). Bd. 4: Nr. 125–175. Hrsg. von Klaus Ridder, Hans-Joachim Ziegeler. Berlin 2020, S. 646–663.

Der Baumgarten im höfischen Roman

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pen des Mittelalters auch für den Baumgarten disparat. Sie stammen nicht nur aus dem Gegenstandbereich der Sachgeschichte, sondern vor allem aus Literatur, Kunst, Kultur- und Sozialgeschichte.30 Archäologische Zeugnisse, die etwas über die konkrete Ausgestaltung der realen Gärten verraten könnten, fehlen beinahe völlig.31 Mit den Fragen, wie ein Lustgarten anzulegen sei und welchen Zwecken er diene, beschäftigten sich allerdings schon die hochmittelalterlichen Zeitgenossen. Traktate zum Gartenbau formulieren in unterschiedlicher Konkretion Einrichtungsmaßgaben und Funktionen des Baumgartens, häufig auch Lustgarten genannt.32 Albertus Magnus bietet in seinem De plantatione viridariorum33 eine bemerkenswert zielgerichtete Schilderung für den Bau eines Lustgartens, auf die Petrus de Crescentiis in seinem De viridariis et rebus delectabilibus ex arboribus et herbis et fructu ipsarum artificiose agendis34 Bezug nimmt.35 Der Lust- oder Baumgarten dient anders als der Gemüseoder Heilkräutergarten nicht der Sicherung des Lebensunterhalts, sondern der delectatio, so dass die Gestalt dieser Bestimmung zuträglich sein muss. Dass die Angaben bei genauerem Hinsehen mehrdeutig und vage sind,36 täuscht nicht darüber hinweg, dass die Einrichtungsanweisungen in unauflöslicher Beziehung zur Funktion des Gartens stehen, wie etwa die Schilderungen des Albertus Magnus zeigen konnten.37 Es wird ein Lustgarten entworfen, der in seiner Anlage und Ausstattung zum multisensorischen Raum für Erholung und Erquickung wird. Bei der Einrichtung eines solchen Gartens geschieht also alles zu einem gewissen Zweck, nichts ist unüberlegt. Als verlässliche Quellen für das Aussehen historischer Lustgärten eignen sich die Traktate jedoch nicht. Es ist nicht auszumachen, ob es sich um Leitfäden für die wirkliche An-

 Zu den Quellen der mittelalterlichen Gartenkunst vgl. Hennebo, Gärten des Mittelalters, S. 7–10; Frühe, Das Paradies ein Garten, S. 8–10.  Pflanzenbestände und gebräuchliche Kultivierungstechniken sind unter anderem Gegenstand der Paläo-Ethnobotanik. Vgl. Walter Janssen: Mittelalterliche Gartenkultur. Nahrung und Rekreation. In: Mensch und Umwelt im Mittelalter. Hrsg. von Bernd Herrmann. Frankfurt a.M. 1993, S. 224–243.  Vgl. Norbert H. Ott: Art. Garten. A. Westliches Europa, I. Zur Überlieferung in Fachliteratur, Dichtung und Bildender Kunst. In: LexMA 4 (1989), Sp. 1121–1122.  Albertus Magnus, De vegetabilibus, S. 636–638.  Dieses VIII. Buch ist Teil von Petrus’ landwirschaftlichem Traktat Ruralia Commoda. Vgl. Petrus de Crescentiis: Ruralia commoda. Das Wissen des vollkommenen Landwirts um 1300. 4 Bände. Hrsg. von Will Richter. Heidelberg 1995–2001 (Editiones Heidelbergenses. 25–30); Petrus de Crescentiis: Erfolgreiche Landwirtschaft. Ein mittelalterliches Lehrbuch. Eingeleitet, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Benedikt Konrad Vollmann. 2 Bde. Stuttgart 2007–2008 (Bibliothek der mittellateinischen Literatur. 3–4).  Zur Traktatliteratur zum Garten ließen sich beispielsweise noch ergänzen: Walahfrid Strabo: De cultura hortorum. Hrsg. von Hans-Dieter Stoffler. Sigmaringen 1978; Capitulare de villis. Cod. Guelf. 254 Helmst. der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel. Hrsg. von Carlrichard Brühl. Stuttgart 1971 (Dokumente zur deutschen Geschichte in Faksimiles. 11). Für einen Überblick über diese und weitere Traktatliteratur zum Garten vgl. auch Hennebo, Gärten des Mittelalters, S. 7–47.  Vgl. Wimmer, Geschichte der Gartentheorie, S. 23–24.  Vgl. Kap. 1, S. 1–2.

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lage eines Lustgartens oder eher um idealtypische Überlegungen handelt, die nie auf Durchführung angelegt waren. Die Einblicke in die erzählende Literatur wie auch die Traktatliteratur des Hochmittelalters deuten auf ein allgemein verfügbares Vorstellungskonzept des höfischen boumgarten hin, das überindividuelle Vorstellungen zu Ausstattung und Funktionszusammenhang des Baumgartens umfasst. Dieses übergreifende Vorstellungskonzept, das mit dem mittelhochdeutschen Substantiv boumgarten38 verknüpft ist, gilt es zu umreißen, indem die zentralen Erkenntnisse der Kultur-, Literatur- und Sozialgeschichte herangezogen werden.39 Ziel ist es, ausgehend von diesem überindividuellen Konzept eine Definition vorzuschlagen, die dem Vorhaben zugrunde gelegt werden kann. Daran anschließend sind die semantischen Spannungsverhältnisse, wie sie sich in der Lage des Baumgartens auf der Schwelle zwischen höfischer und außerhöfischer Sphäre offenbaren, aufzuzeigen. Denn auch sie bilden einen wichtigen Bestandteil des Vorstellungskonzepts ‚Baumgarten‘. Die Bestimmung einer Definition erlaubt eine Abgrenzung von schönen Naturorten, während das nachzuzeichnende Vorstellungskonzept boumgarten den Blick für grundlegende Fragekomplexe der Analysen schärft. Eine erste, zentrale Eigenschaft des (boum-)gartens ist seine Umhegung, die auch seine Bedeutung und Etymologie bestimmt. Die Materialität der Umgrenzung, sei sie natürlich, mythisch oder zauberisch, darf als maximal variabel betrachtet werden.40 Konstitutiv ist lediglich, dass sie den Baumgarten zu einer gegen die Umwelt abgeschlossenen Raumeinheit macht. Nur zum Himmel hin ist der Garten unabgeschlossen.41 Obwohl der Garten durch seine Grenze von der Umgebung unterschieden ist, ist er nicht völlig aus seiner Umgebung gelöst. Der höfische boumgarten ist vielmehr Teil des höfischen Raums. Diese (un-)mittelbare, räumliche und semantische Teilhabe am Hof als räumlichem und sozialem Konstrukt soll der Definition als zweite Bedingung hinzugegeben werden. Vielfach lokalisiert die Literatur den boumgarten in der Nähe der Frauengemächer, ohne dass sich daraus aber ein unbedingtes Ordnungssystem des höfischen Raums ableiten ließe. Der boumgarten ist ein Teil des Hofes, der tendenziell eher in der Peripherie des höfischen Raumkomplexes angesiedelt werden kann. Die Sozial- und Kulturgeschichte hat herausgearbeitet, dass im Verlauf des 12. Jahrhunderts die realgeschichtlichen Gärten, die sich zuvor außerhalb der Mauern befanden,

 Vgl. Kurt Gärtner, Klaus Grubmüller, Karl Stackmann: Art. boumgarte. In: MhdWB 1 (2013), Sp. 955–956. Das Kompositum boumgarte, das den höfischen Lust- bzw. Ziergarten bezeichnet, ist eines von vielen Komposita zum Substantiv garte. Sie dienen der Bezeichnung verschiedener Arten von Gärten (z. B. krûtgarte, rôsegarte, obzgarte, wîngarte, wurzgarte); Vgl. Kurt Gärtner, Klaus Grubmüller, Jens Haustein: Art. garte. In: MhdWB 2 (2021), Sp. 106–108.  Vgl. Teichert, Gärten; Hennebo, Gärten des Mittelalters; Mayer-Tasch/Mayerhofer, Hinter Mauern ein Paradies; Frühe, Das Paradies ein Garten.  Vgl. Hennebo, Gärten des Mittelalters, S. 88–90.  „Jardins resserrés au centre du cloître conventuel, ouverts sue le ciel seul.“ Paul Zumthor: La mesure du monde. Représentation de l’espace au Moyen Âge. Paris 1993 (Poetique), S. 107.

Der Baumgarten im höfischen Roman

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zunehmend in den Burgkomplex integriert wurden. Außerdem verfügte die höfische Gesellschaft dank exorbitanter Ertragssteigerungen in der Landwirtschaft über das Potential, Gärten einzurichten, die keinen Anteil mehr an der Überlebenssicherung hatten, sondern in erster Linie dem höfischen savoir vivre verpflichtet waren. Cornelius Mayer-Tasch und Bernd Mayerhofer resümieren: „[D]em grundbesitzenden Adel [standen, T.S.] erstmals ausreichend Mittel zur Verfügung, seinen gesellschaftlichen Führungsanspruch auch für jedermann äußerlich sichtbar zu dokumentieren.“42 Grenzt das höfisch-ritterliche Standesbewusstsein die höfische Gesellschaft nach außen gegen andere Lebensformen ab, versichert sie sich mithilfe der Gärten nach innen ihres Führungsanspruchs.43 Die Baumgärten dienen der Repräsentation von Herrschaft und höfischem Lebensstil. Sie werden zum festen Bestandteil des Hoflebens und zum Raum geselligen Beisammenseins. Auch in der höfischen Literatur spiegelt sich das breite Spektrum des Gartenlebens, wenn der Baumgarten nicht nur einen Großteil des sommerlichen Hoflebens beherbergt, sondern auch als Tummelplatz, Ort des Festes oder der Erholung dienen kann.44 Weil der Baumgarten der Sicherung des Überlebens enthoben und von der höfischen Umgebung abgegrenzt ist, kann sich dort besonders gut Muße einstellen.45 Das machen sich nicht nur ganze Festgesellschaften zunutze. Auch für einzelne Gruppen oder Paare fungiert der Baumgarten als Rückzugsort. Doch trotz seiner Zugehörigkeit zum höfischen Raumkomplex ist er von ihm insofern unterschieden, als er Schauplatz von Handlungen werden kann, die womöglich in Ausmaß und Wirkung so in keinem anderen Raum des Hofes stattfinden könnten. Seine Gestalt verdankt der Baumgarten drittens einer planvollen Gestaltung des Raums. Er ist so gestaltet, dass er bestmöglich als Raum für Festivität, Aufenthalt, Erholung und Ablenkung eingerichtet ist. Baumgärten sind nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich limitiert, denn sie sind lediglich als temporäre Aufenthaltsorte gedacht. Ein dauerhaftes Bewohnen, darauf macht Petrus de Crescentiis aufmerksam, liefe seinem Zweck zuwider.46 Traktate wie die des Albertus Magnus und des Petrus de Cres-

 Mayer-Tasch/Mayerhofer, Hinter Mauern ein Paradies, S. 50.  Vgl. Hennebo, Gärten des Mittelalters, S. 62–66; Frühe, Das Paradies ein Garten, S. 189–210; Rüdiger Krohn: ein boumgart umb daz hûse lac. Höfische Natur als Schonraum der Liebe in der deutschen Literatur des Mittelalters. In: Burgen, Länder, Orte. Hrsg. von Ulrich Müller. Konstanz 2008 (Mittelalter Mythen. 5), S. 95–97.  Für eine Übersicht über das Gartenleben vgl. Frühe, Das Paradies ein Garten, S. 227–244.  Vgl. Rebekka Becker: Muße im höfischen Roman. Literarische Konzeptionen des Ausbruchs und der Außeralltäglichkeit im Erec, Iwein und Tristan. Tübingen 2019 (Otium. 12), S. 288–292.  „In tali itaque viridario non semper delectetur rex, sed aliquando, cum seriis et necessariis satisfecerit rebus, renoventur in eo, glorificans deum excelsum, qui omnium bonarum et licitarum delectationum principium est et causa“ (Lib. VII, 3, 6). Petrus de Crescentiis: Ruralia commoda, S. 15. Übers. d. Benedikt Konrad Vollmann: „In einem solchen Lustgarten vergnügt sich der König nicht ständig, vielmehr wird er sich von Zeit zu Zeit, wenn er die ernsthaften und notwendigen Dinge erledigt hat, in ihm erholen, wobei er den höchsten Gott preist, der aller guten und erlaubten Vergnügungen Ur-

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centiis verweisen darauf, dass die Anlage des Raums und der angestrebte Zweck in einem funktionalen Verhältnis gedacht wurden. Die Besonderheit des Gartens, so Paul Zumthor, liege darin begründet, dass er aus nicht transformierten natürlichen Elementen gefügt sei. Seine Kunst liege in der harmonischen Proportionierung der Naturelemente.47 In ihrer Ausstattung und Beschreibung partizipieren die Baumgärten der höfischen Literatur stark an den Beschreibungstraditionen des locus amoenus und des Paradiesgartens, so dass deren topische Ausstattungsmerkmale die vierte Bedingung für den Baumgarten der höfischen Literatur darstellen. Die Bäume spenden Schatten, lassen aber genügend Raum für die Nutzung der umgebenden Wiesenflächen. Die Pracht von Blüten und Blumen erstreckt sich meist großflächig über den Garten und wiederholt sich zuweilen in den Baumkronen. Als Schatten- und Erholungsplatz sind die Bäume regelmäßig an Bächen oder Brunnen gelegen. Artefakte wie etwa Zelte oder Lauben sind, folgt man den verschiedenen Quellen, ebenfalls ein gebräuchliches Ausstattungsmerkmal, denn sie schützen vor Sonne und Wind. Vereinzelt sind auch Tische und Liegemöglichkeiten belegt.48 Sicherlich müssen nicht alle denkbaren Merkmale vorhanden sein, damit man davon sprechen kann, dass sich eine Gartenerzählung in eine der beiden – oder in beide – Traditionen einreiht. Inversionen, die den Garten zum locus terribilis machen, sind ebenso denkbar wie etwa seine Erweiterung durch Artefakte oder mythische Eigenschaften des Gartens. Für die folgende Untersuchung wird der Garten als umgrenzter Raum definiert, der in räumlichem wie semantischem Bezug zum Hof steht, dessen Gestaltung insbesondere zum Zweck der Erholung angelegt ist und der Ausstattungsmerkmale des locus amoenus bzw. des Paradiesgartens enthält. Die höfische Epik bezeichnet diese Art von Garten in der Regel mit dem mittelhochdeutschen Substantiv garte, häufiger noch mit dem daraus gebildeten Kompositum boumgarte. Mithilfe der vorgeschlagenen Definition lässt sich der boumgarten von schönen Naturschauplätzen außerhalb des Hofes abgrenzen, an die die Figuren in der höfischen Literatur ebenfalls als Handlungsschauplätze treffen. Die Brunnenlandschaft (V. 543–784) in Hartmanns Iwein,49 Markes Frühlingsaue in Tintajol (V. 525–680) oder die Umgebung der Minnegrotte (V. 16730–16908), beide in Gottfrieds Tristan50 zu finden, sind einige bekannte Bei-

sprung und Ursache ist“ (Buch XIII, Cap. 3). Vgl. Petrus de Crescentiis, Erfolgreiche Landwirtschaft, S. 545.  „Forme incomparable de bâti, le jardin a été construit d’élements non transformés de la nature: l’artifice y règne dans la seule proportion harmonique des unités qui le composent.“ Zumthor, La mesure du monde, S. 107.  Vgl. Hennebo, Gärten des Mittelalters, S. 80–95; Mayer-Tasch/Mayerhofer, Hinter Mauern ein Paradies, S. 50–54; Frühe, Das Paradies ein Garten, S. 210–235.  Hartmann von Aue: Gregorius, Der arme Heinrich, Iwein. 4. Aufl. Hrsg. u. übers. von Volker Mertens. Frankfurt a.M. 2004 (Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch. 29).  Gottfried von Straßburg: Tristan und Isold mit dem Fragment des Thomas. 2 Bde. Hrsg., übers. u. komm. von Walter Haug, Manfred Günter Scholz. Berlin 2011 (Bibliothek deutscher Klassiker. 192).

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spiele für solche schönen Naturorte außerhalb der höfischen Sphäre, die aber keine Baumgärten sind. Sie werden häufig als plân, anger, ouwe, heide oder plaîne bezeichnet. Ihre Beschreibung fokussiert meist Farbigkeit, Ausdehnung und die Wirkung des Orts auf die Sinne. Obwohl sich dort zum Teil ähnliche Handlungen wie in den Baumgärten abspielen können, erfüllen die schönen Naturorte spezifische Funktionen für die Erzählung. Sie sind jedoch nicht mit (Baum-)Gärten gleichzusetzen.51 Die topische Ausstattung des schönen Naturortes steht im Gegensatz zu seiner meist wilden Umgebung. Die Beobachtung dieses Kontrastes veranlasste schon Curtius dazu, für solche Fälle eine Untergruppe des locus amoenus zu bilden, der er im Anschluss an das griechische Tal Tempe den Namen Tempe-Motiv verlieh.52 Selbst wenn man umgebende Wälder als diffuse Grenzzonen versteht, fehlt es an einer klar umrissenen, eindeutig materialisierten Grenze. Des Weiteren mangelt es den schönen Naturorten, auch wenn sie zum Aufenthaltsort des Hofes werden, in räumlicher wie semantischer Hinsicht an dem unmittelbaren Bezug zum höfischen Raum, der den Baumgarten auszeichnet.53 Die Brunnenlandschaft des Iwein erscheint mit Blick auf die kunstvolle Verzierung des Brunnens und die beistehende Linde zunächst wenig natürlich. Mehrfach wird auf den umgebenden Wald verwiesen, in dem unter anderem der Klang der Vögel widerhallt. Hartmann markiert die Brunnenlandschaft als harmonischen Naturort in der Wildnis. Hartmanns Brunnenlandschaft ist darüber hinaus ein Beispiel dafür, dass der schöne Naturort auch andersweltliche Qualitäten zu inszenieren vermag. Das verheerende Unwetter kann keine andauernde Wirkung auf die Natur um den Brunnen zeitigen, sie stellt sich stattdessen auf mythisch-magische Weise kurz darauf wieder her. Weil die Naturorte des räumlichen ‚Draußen‘ zur außerhöfischen Sphäre gehören, besitzen sie, wie an der Brunnenlandschaft des Iwein zu sehen ist, besondere Lizenzen. Diese Gestaltungs- und Handlungsspielräume des schönen Naturortes lassen sich jedoch nicht mit Verweis auf seine Urwüchsigkeit erklären, die der Artifizialität eines Baumgartens gegenüberstünde. Denn das Verständnis, dass Natur und Kultur sich konträr gegenüberstehende, abstrakte Konzepte seien, etabliert sich erst im 18. Jahrhundert. Das Bedeutungsspektrum des mittelalterlichen Konzepts von natûre ist im Vergleich zur neuzeitlichen Konzeption breiter: Natûre meint im Mittelalter nicht (wie es für die Antonymie zu ‚Kultur‘ erforderlich wäre) die – belebte oder unbelebte – Außenwelt des Menschen, soweit sie nicht von ihm selbst erzeugt ist,

 Vgl. Alexander Classen: Heide, Aue, plaine. In: Literarische Orte in deutschsprachigen Erzählungen des Mittelalters. Ein Handbuch. Hrsg. von Tilo Renz, Monika Hanauska, Mathias Herweg. Berlin/Boston 2018, S. 262–270.  Zum Tempe-Motiv als Unterart des locus amoenus vgl. Curtius, Rhetorische Naturschilderung, S. 245–246; Curtius, Europäische Literatur, S. 205–207.  Krohn schreibt dem schönen Naturort, „der entschieden außerhalb der Burg und mithin fern der Gesellschaft inmitten der Wildnis liegt“, wegen seiner Distanz zur höfischen Sphäre ein utopisches Potential und gegenweltliche Freiheit zu. Krohn, ein boumgart umb daz hûse lac, S. 97.

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sondern die in dieser und im Menschen selbst aufgrund ihrer Geschöpflichkeit wirkenden Kräfte und Prinzipien.54

Die Natur ist neben und mit Gott die zentrale Ordnungs- und Legitimationsinstanz. Sie umfasst daher nicht nur das Geborene, sondern auch das Gemachte. Die Natur wirkt auf den Menschen und die Welt. Sie ist kein Feld, in das der Mensch – unserem neuzeitlichen Naturverständnis nach – gestaltend eingreift.55 Die Unterscheidung von schönem Naturort und Baumgarten hat ihren Bezugspunkt indes in der Differenzierung von höfischer und außerhöfischer Sphäre. In Letzterer können höfische Werte und Normen keine Gültigkeit beanspruchen. Doch der Referenzpunkt der außerhöfischen Sphäre bleibt dennoch der Hof: [D]ie wechselnden Anlagerungen an das Spannungsfeld höfischer und nicht-höfischer Existenzformen verweisen darauf, daß die Entwürfe von Zivilisation im höfischen Roman experimentelle Züge tragen. Sie gehen nicht in der Inszenierung eines strikten Gegensatzes von Kultur und Natur auf, erproben vielmehr Verhältnisse, in denen Übergänge, aber auch Diskontinuitäten hervortreten können.56

Aufgrund seiner Lage an der Peripherie des Hofes und der Umgrenzung ist auch der Baumgarten Teil des Spannungsfeldes zwischen höfischer und außerhöfischer Sphäre (die bei Kiening der nicht-höfischen Sphäre entspricht). Seine räumliche Lage separiert ihn und löst ihn zumindest anteilig aus der höfischen Sphäre. Diesem Schwellendasein zwischen höfischer und außerhöfischer Sphäre sowie zwischen Zentrum und Peripherie verdankt der boumgarten besondere Handlungsmöglichkeiten. Dort kann sich zutragen, was höfische Werte und Normen strapaziert oder unterläuft. Doch der Bezugspunkt dieser Handlung bleibt immer die höfische Sphäre, nicht ein ahistorischer Gegensatz zwischen Natur und Kultur.57 Zu dem überindividuellen Vorstellungskonzept boumgarten gehören demnach nicht nur seine räumlichen Merkmale: räumliche Abgeschlossenheit, topische Ausstattung, Nähe und Zugehörigkeit zum Hofkomplex. An sie lagern sich, wie sich abzeichnet,

 Klaus Grubmüller: Natûre ist der ander got. Zur Bedeutung von natûre im Mittelalter. In: Natur und Kultur in der deutschen Literatur des Mittelalters. Colloquium Exeter 1997. Hrsg. von Alan Robertshaw, Gerhard Wolf. Tübingen 1999, S. 3.  Die Natur wird in der volkssprachlichen Dichtung in verschiedenen Funktionszusammenhängen als Legitimationsinstanz herangezogen. Vgl. Udo Friedrich: Die Ordnung der Natur. Funktionsrahmen der Natur in der volkssprachlichen Literatur des Mittelalters. In: Natur im Mittelalter. Konzeptionen – Erfahrungen – Wirkungen. Hrsg. von Peter Dilg. Berlin 2003, S. 70–83; Vgl. auch Udo Friedrich: Menschentier und Tiermensch. Diskurse der Grenzziehung und Grenzüberschreitungen im Mittelalter. Göttingen 2009 (Historische Semantik. 5), S. 9–16.  Christian Kiening: Zwischen Körper und Schrift. Texte vor dem Zeitalter der Literatur. Frankfurt a.M. 2003, S. 61 f.  Der Aussage, dass der Garten „an der Demarkationslinie von Natur und Kultur“ liege, lässt sich vor dem Hintergrund dieser historischen Einordnung und in dieser starken Differenzierung von Natur und Kultur nur schwerlich zustimmen. Küsters, Garten, Baumgarten, S. 163.

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semantische Spannungsverhältnisse unterschiedlicher Art an. Für die semantischen Codierungen des boumgarten stellt insbesondere seine Grenze eine konstitutive Voraussetzung dar. Sie scheidet den Baumgarten von seiner Umgebung und macht ihn so, um mit dem Semiotiker Jurij M. Lotman zu sprechen, zu einem eigenen semantischen Feld. Lotman zufolge organisieren sich entlang von räumlichen Grenzen binäre semantische Oppositionen. Die Teilräume auf beiden Seiten der Grenze werden mit Bedeutungen versehen, die ihrerseits nicht unbedingt räumlich sein müssen, etwa gut – böse oder zahm – wild.58 Insofern die Grenze des Baumgartens jedoch grundsätzlich permeabel ist, weshalb die höfische Sphäre auf ihn wirken kann, können im Baumgarten einerseits semantische Oppositionen zusammenlaufen und in Spannung treten. Die semantischen Spannungsverhältnisse, die zum Vorstellungskonzept des Baumgartens gehören, sind dank der Grenze andererseits zugleich vom umgebenden höfischen Raum unterschieden. Der höfische Baumgarten partizipiert, neben anderen mittelalterlichen Gartentypen, über eine häufig paradiesähnliche Ausstattung (etwa mit dem Baum im Zentrum) hinaus auch semantisch an den biblischen Paradiesschilderungen. Ursula Frühe hat gezeigt, wie facettenreich die semantische Codierung der mittelalterlichen Gärten als „irdische Antizipationen des himmlischen Paradieses“59 ist.60 Der Bezug auf die Gärten der Bibel, vor allem den Garten Eden, aktiviert ein dichtes Verweisnetz, auf das nicht nur die Gartenausstattung, sondern auch die dort inszenierte Handlung referiert. Obwohl der höfische Baumgarten ein menschlicher Raum ist, verweist er auf die gottgegebene Grundlage und das von Gott erteilte Bebauungs- und Kultivierungsgebot.61 Im Garten pflegt der Mensch daher in Ansätzen das, was ihm durch den Sündenfall von Gott auf immer genommen wurde und was er nur in einer möglichen Endzeit wiederzuerlangen hofft.62 Der Mensch ist im Paradies allerdings nicht nur mit dem Gebot der Bebauung konfrontiert. Das Verbot, vom Baum der Erkenntnis zu kosten, motiviert die paradiesische Handlung und verzeitlicht das zunächst stillstehende Geschehen. Die Missachtung dieses Verbots und die daraus resultierende Vertreibung aus dem Paradies produzieren eine im Diesseits nicht mehr aufzulösende Differenz zwischen Gott und Mensch – zwischen Heiligem und Profanem. Die Gärten des Mittelalters – darunter der höfische Baumgarten – spielen diese Wissensbestände ein und ermöglichen als Surrogate eines  Vgl. Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte. 4., unveränderte Aufl. München 1993, S. 311–347.  Mayer-Tasch/Mayerhofer, Hinter Mauern ein Paradies, S. 46.  Vgl. Frühe, Das Paradies ein Garten.  Schulze-Belli identifiziert den Garten Eden vor dem Sündenfall Adams und Evas als „Berührungspunkt zwischen Himmel und Erde“. Paola Schulze-Belli: Garten Eden. In: Burgen, Länder, Orte. Hrsg. von Ulrich Müller, Werner Wunderlich. Konstanz 2008 (Mittelalter Mythen. 5), S. 249.  Der Garten wird zu einem Ort der Sehnsucht nach der Wiedererlangung der Einheit mit Gott. „Aus der Erinnerung an das Paradies speist sich der Wunsch, dorthin zurückzukehren oder doch wenigstens auf Erden ein Abbild dessen zu schaffen, was man – möglicherweise für immer – verloren hat.“ Mayer-Tasch/Mayerhofer, Hinter Mauern ein Paradies, S. 39.

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biblischen Paradieses einen vorübergehenden Rückzug in einen friedlichen und geschützten Raum.63 Ob die Bezeichnung der höfischen Baumgärten als Paradies jedoch wirklich auf das biblische Paradies verweist oder vielleicht eher dessen Semantik für eine nicht-religiöse Lesart in Dienst nimmt, ist im Einzelnen zu klären. Neben dieser religiösen Perspektive ist der Garten räumlich im weltlichen Bereich des Hofes positioniert, auch wenn er in der höfischen Sphäre keinesfalls gänzlich aufgeht. Zwar ist er Teil des Hofkomplexes – er bedarf gemäß der vorgeschlagenen Definition gerade des räumlichen Bezugs zum Hof –, dennoch hat er einen Platz in seiner Peripherie inne. Zwar gehört auch der boumgarten schon durch seine Situierung allgemein zum Geltungsbereich höfischen Komments, aber er liegt doch topographisch und architektonisch ein wenig außerhalb und bietet deswegen eine gewisse Toleranz in Fragen defizitärer gesellschaftlicher Konformität.64

Darüber täuscht auch das zeitweilig in den Baumgarten verlagerte Hofgeschehen nicht hinweg. Der boumgarten gehört weder ganz in das Zentrum der höfischen Öffentlichkeit noch in das Außerhalb des Hofes. Er besitzt stattdessen eine spezifische Liminalität. Das Verhalten innerhalb des Gartens ist, obwohl er zur höfischen Sphäre gehört, nur teilweise von höfischen Konventionen kontrolliert. Seine Lage an der Peripherie des Hofes ermöglicht ebenso Handlungen, die sich den höfischen Werten und Normen entziehen und ihnen zuwiderlaufen. Die semantische Standortbestimmung des höfischen boumgarten zwischen dem Hof als Zentrum und der außerhöfischen Sphäre gewähren dort platzierten Handlungen des höfischen Romans besondere Lizenzen und prädestinieren den Gartenraum für subversives Verhalten gegenüber Normen und Werten, die im Herzen des Hofes nur schwer zu unterlaufen sind. Hierin liegt auch die Nutzungsvielfalt des Baumgartens begründet. Einerseits kann er zum Schauplatz höfischen Lebens werden, etwa in Form von Festen und Mahlzeiten, andererseits handelt es sich um einen Raum, der von wenigen Figuren für exklusive Zusammentreffen genutzt werden kann. Eine solch gegenläufige Nutzung ist möglich, weil der Baumgarten räumlich einerseits vom umgebenden höfischen Raum abgegrenzt werden kann, andererseits aber als Teil dieses Raumkomplexes grundsätzlich auch für die höfische Gesellschaft zugänglich ist. Die Öffentlichkeit oder Intimität der Gartenhandlung hängt, so viel ist bereits zu erkennen, von der räumlichen Gestaltung des Gartenraums ab. Ist der Grad der Öffnung des Gartenraums bzw. die Permeabilität seiner Grenze hoch, kann der Baumgarten der höfischen Gesellschaft als Kollektiv zugänglich sein und für Feste und höfischen Zeitvertreib in Anspruch genommen werden. Er ermöglicht einen gewissen Grad an Öffentlichkeit, die sich im Hören und Sehen der Hofgesellschaft kon So kommt es nicht von ungefähr, dass die Gartenarbeit der Mönche zugleich als kontemplative Arbeit und als ein Dienst an Gott betrachtet wird. Vgl. Mayer-Tasch/Mayerhofer, Hinter Mauern ein Paradies, S. 40–42.  Krohn, ein boumgart umb daz hûse lac, S. 98.

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stituiert, ohne dabei aufgrund seiner Lage und der Existenz einer – wenn auch schwachen – Umgrenzung ein öffentlicher Raum, wie etwa der palas einer ist, zu sein.65 Ein eingeschränkter Zugang und eine damit einhergehende Abgrenzung des boumgarten vom Hof begünstigen wiederum Intimität.66 Was aus der Innensicht als Intimität erscheint, wird von den Exkludierten als Heimlichkeit markiert. Diu heinlîche ist das, was aus dem öffentlichen Raum ausgeblendet wird, vor der Öffentlichkeit verborgen bleibt und bleiben muß, weil es der institutionalisierten Form organisierter Herrschaft nicht entspricht oder im Widerspruch steht zu den Verhaltensmustern, die mit gesellschaftlicher Anerkennung (êre) honoriert werden.67

Die bereits ausgeführten räumlichen und semantischen Spannungsverhältnisse, die den boumgarten kennzeichnen, bieten die Gelegenheit, im Baumgarten subversiv zu handeln und Normen sowie Werte der höfischen Öffentlichkeit zu unterlaufen. Die Lage des boumgarten und seine Zugehörigkeit zum Hof machen eine völlige Intimität jedoch undenkbar.68 An den boumgarten als Teil der höfischen Erzählwelt lagern sich demnach gleich mehrere Spannungsverhältnisse an. Räumlich wie auch semantisch muss der boumgarten als Schwellenraum begriffen werden, der sich zwischen Peripherie und Zentrum, außerhöfischer und höfischer Sphäre sowie Heimlichkeit bzw. Intimität und Öffentlichkeit konstituiert.69 Seine Besonderheit als Teil der höfischen Erzählwelt besteht darin, dass sich der boumgarten als Vorstellungskonzept auf der Schwelle zwischen den beschriebenen Polen befindet. Diese bewegliche Polyvalenz und Dialektik erzählen die höfischen Romane auf je unterschiedliche Weisen aus. Der höfische Roman inszeniert, so die Hypothese, den Schwellenraum boumgarten in seinen räumlichen und semantischen Eigenschaften und bindet ihn so in die dort stattfindende Handlung ein, dass er als Raum für das Geschehen, aber auch die Erzählung insgesamt funktionalisiert wird. Das Zusammenwirken zwischen der räumlichen Ausgestaltung und der semantischen Codierung von Raum und Handlung sowie deren Funktionalisierung für die Handlung der höfischen Romane interessieren die vorliegende Untersuchung daher besonders. Daran schließt die Frage an, inwiefern die räumliche Erzeugung des Gartens als Handlungsraum und die räumliche Inszenierung von Figurenhandeln in diesem Raum den Status des boumgarten als Schwellenraum auserzählen und welche Folgen dies für das Erzählen von und im Garten hat.

 Vgl. Horst Wenzel: Öffentlichkeit und Heimlichkeit in Gottfrieds Tristan. In: ZfdPh 107,3 (1988), S. 339–341.  Vgl. Franziska Hammer: Räume erzählen – erzählende Räume. Raumdarstellung als Poetik. Mit einer exemplarischen Analyse des Nibelungenliedes. Heidelberg 2018 (Beiträge zur älteren Literaturgeschichte. 27), S. 240 f.  Wenzel, Öffentlichkeit und Heimlichkeit, S. 344.  Vgl. Müller, Zwischenräume, S. 298.  Müller und Küsters benutzen für diese besondere Konstitution des boumgarten den Begriff ‚Zwischenraum‘. Vgl. Müller, Zwischenräume, S. 298; Küsters, Garten, Baumgarten, S. 169.

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Eine Beschränkung auf die Semantik des Baumgartens und sein althergebrachtes Symbol- und Motivarsenal erscheinen vor dem Hintergrund dieses Frageinteresses als unzureichend. Denn man darf annehmen, dass der Baumgarten – insbesondere unter Berücksichtigung seines Spannungsreichtums – keine von der Handlung losgelöste Kulisse mit vorwiegend atmosphärischer Funktion ist. Die Wahl des Baumgartens als Handlungsraum darf als funktional durchdacht angenommen werden.70 Dementsprechend muss die sukzessive Inszenierung des boumgarten als Raum untersucht werden. Aufbauend auf diesen Erkenntnissen kann in einem weiteren Schritt die Funktionalisierung des Gartenraums und die semantische Codierung von Raum und Handlung betrachtet werden. Die Frage muss daher sein, welche Handlungen und Konflikte im Garten verhandelt werden und inwiefern die Erzählungen das liminale Potential dieses Handlungsraums für sich produktiv machen.

2.3 Textauswahl Als Gartentypus, der sich vor allem durch seine Zugehörigkeit zum Hof auszeichnet und keinen Beitrag zum Überleben leisten muss, wird der boumgarten vor allem im höfischen Roman zu einem Teil der Narration. Innerhalb dieser zeitlich wie thematisch ausdifferenzierten Gattung präsentieren sich Baumgärten mit verschiedenen Detailgraden und mit unterschiedlich großem Handlungsumfang. Um eine systematische und konsistente Untersuchung zu ermöglichen, bedarf es einer Eingrenzung der zu analysierenden Gartenszenen. Fragt man, wie die räumliche Ausgestaltung für die Handlung genutzt wird, ergeben sich drei Anhaltspunkte, um das Analysekorpus einzugrenzen. Erstens scheint eine möglichst ausgreifende Narrativierung der Garteneinrichtung interessant. Sie bietet nicht nur eine ausführliche Beschreibung der Gärten, sondern lässt damit einhergehend auch einen hohen Grad an räumlicher Ausdifferenzierung vermuten. Die im Garten stattfindende Handlung kann sich in Länge, Gewichtung und Komplexität unterscheiden. Um die Konstruktion des boumgarten als Schwellenraum in seiner Funktion für die Handlung zu untersuchen, kann das Augenmerk daher zweitens auf solche Baumgartenszenen gelegt werden, in denen ein größerer Handlungsumfang platziert ist oder deren Erzählung zentrale Szenen im boumgarten spielen lässt. Drittens kann das mehrfache Auftauchen eines Baumgartens oder aber mehrerer, verschiedener Baumgärten ein Kriterium für die Auswahl des Analysekorpus darstellen.

 Andeutungen, dass auch für den Topos des locus amoenus in der mittelalterlichen Literatur ein sehr viel funktionalerer Einsatz angenommen werden kann als noch für die Antike, legen die in dieser Arbeit gestellte Frage nach der Funktionalisierung des Gartens als Handlungsraum zusätzlich nahe. Vgl. Karin Lichtblau: Locus amoenus. Der „liebliche Ort“ – ein Topos in der Literatur des Mittelalters. In: Burgen, Länder, Orte. Hrsg. von Ulrich Müller, Werner Wunderlich. Konstanz 2008 (Mittelalter Mythen. 5), S. 508–509.

Textauswahl

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Da in solchen Fällen ein Rückbezug auf den Gartenraum und die Handlung oder eine Bezugnahme zwischen mehreren Gartenräumen zu vermuten ist, erscheinen solche höfischen Romane und deren Baumgartenszenen besonders vielversprechend. Es ist dann verstärkt zu untersuchen, welche Funktion die Rückkehr der Erzählung in die Baumgärten hat und wie dies womöglich das räumliche Erzählen des boumgarten beeinflusst. Aus den mittelhochdeutschen höfischen Romanen71 zwischen 1180 und 1350 ergibt sich unter Berücksichtigung der genannten Kriterien wie der oben vorgeschlagenen Definition des Baumgartens, die den Garten von den schönen Naturorten unterscheidet, folgendes Korpus zu analysierender Texte. Den vermutlich bekanntesten Baumgarten des höfischen Romans inszeniert Gottfried von Straßburg in seinem Tristan (um 1210). Mit den Geschehnissen in diesem boumgarten sind die Schicksale von Tristan, Isolde und Marke mehrfach verwoben. Auch die Schluss-âventiure des Protagonisten in Hartmanns Erec (um 1180) findet in einem Baumgarten statt, dessen Bewohner offenbar in ihrer Exklusion auch die Freude des Hofes stören. Gleich mehrere Baumgärten gibt es in Konrad Flecks höfischem Roman Flore und Blanscheflur (vermutlich um 1220). Zu dieser Textauswahl, die sich größtenteils auf die höfische Blütezeit konzentriert, tritt Konrads von Würzburg Engelhard hinzu, für den die Forschung eine Entstehungszeit zwischen 1257 und 1260 vermutet. Engelhard und Engeltrud finden sich im boumgarten am dänischen Hof zu einem heimlichen Stelldichein zusammen. Obwohl alle Vorkehrungen getroffen scheinen, werden beide entdeckt und die heimliche Liebe in die Öffentlichkeit des Hofes gezerrt. Nur mithilfe des Freundes Dietrich können die Folgen der Baumgartenszene gemeistert werden. Während die Szenen in Gottfrieds Tristan und Konrads Engelhard die heimliche Zusammenkunft eines Liebespaares inmitten des Hofs und deren folgenschwere Konsequenzen zum Gegenstand machen, interessieren die Gärten im Erec und in Flore und Blanscheflur vor allem mit Blick auf ihre mythische Verfasstheit. Die Existenz dieser herausgehobenen Räume im höfischen Bereich führt zu je eigenen Herausforderungen und hat ebenfalls Konsequenzen für den umgebenden Hof. Die vorliegenden Analysen tragen dazu bei, besondere narrative Strategien des Erzählens vom boumgarten als Handlungsraum aufzudecken. In Zusammenhang mit der Funktionalisierung der Baumgartenszenen für die Handlung dienen die so erlangten Erkenntnisse als Grundlage, um die Vielfalt des höfischen Gartenerzählens auf dieses spezifische Baumgartenerzählen hin zu befragen. Einen Anfang in diese Richtung unternimmt das Kapitel 5.5, indem es den Blick auf weitere Baumgartenszenen weitet und sie ins Verhältnis zu den Erkenntnissen der Analysen setzt.

 Synonym dazu werden die Begriffe ‚höfische Epik‘ und ‚höfische Literatur‘ verwendet.

3 Narrative Erzeugung von Raum Die Raumbereiche innerhalb und außerhalb des Hofes, die die höfische Erzählwelt umspannen, sind nicht nur topographisch, sondern auch personell und semantisch voneinander unterschieden.1 Die mediävistische Forschung zum Raum hat insgesamt die Beschäftigung mit den außerhöfischen Räumen in den Vordergrund gestellt. Am Beginn der Auseinandersetzung mit dem Raum stand unter anderem die Erkenntnis Rainer Gruenters, die Nutzung von raumgesättigten Wörtern – etwa walt, wilde oder sê – und deren Verbindung mit Präpositionen ließen nur einen vagen und allgemeinen Raumeindruck entstehen. Bezeichnungen wie walt, sê oder eben auch boumgarte sind insofern raumgesättigt, als sie eine grundlegende und überindividuelle Raumvorstellung evozieren. Sie rekurrieren auf kollektiv verfügbare Vorstellungskonzepte, differenzieren aber den Raum der jeweils erzählten Welt nicht aus: Sie „beschreiben den Raum nicht, in dem sich die bezeichneten Objekte befinden oder den sie selbst in ihrer Lage und Beschaffenheit einnehmen, sondern sie suggerieren Raumvorstellungen, die sie nicht konkretisieren.“2 Die so zustande kommenden Raumeindrücke kennzeichneten daher vor allem Diskontinuität, logische Brüche, Standortlosigkeit und Sprunghaftigkeit, so dass den mittelalterlichen Erzählwelten ein ästhetischer ‚Raum-Reiz‘ abgehe und keine konkret-räumliche Funktion des Raumes für die Handlung erkennbar sei.3 Gruenter erklärt den Raum so zur ‚stummen Kulisse‘ der Handlung und spricht ihm eine Funktion für das Erzählen ab. Die weitere Forschung arbeitete vor allem das Unterwegssein des Helden als raumbestimmenden Modus des höfischen Romans heraus.4 Die Räume des Unterwegsseins erweisen sich in ihrer Persistenz und Ausgestaltung als radikal auf die Figuren und ihre Bewegung bezogen. Ähnlich einem Teppich, der sich vor der Figur aus- und hinter ihr

 Walter Haug prägte die Forschung zu Raum und Raumdarstellung im höfischen Roman mit der Formulierung dieses Dualismus. Vgl. Walter Haug: Literaturtheorie im deutschen Mittelalter von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts. 2., überarb. und erw. Aufl. Darmstadt 1992, S. 91–107. Nachfolgende Arbeiten differenzierten die beiden unterschiedlichen Sphären der höfischen Erzählwelt sowohl topographisch, personell als auch semantisch immer weiter aus. Vgl. Wenzel, Ze hove, S. 277–300; Armin Schulz: in dem wilden wald. Außerhöfische Sonderräume, Liminalität und mythisierendes Erzählen in den Tristan-Dichtungen: Eilhart – Béroul – Gottfried. In: DVjs 77,4 (2003), S. 515–547.  Rainer Gruenter: Zum Problem der Landschaftsdarstellung im höfischen Roman. In: Euphorion 56 (1962), S. 297.  Vgl. Rainer Gruenter: Das wunnecliche tal. In: Euphorion 55 (1961), S. 341–404; Gruenter, Problem der Landschaftsdarstellung, S. 248–278.  Die an Gruenter angelehnte These einer Defizienz mittelalterlicher Raumdarstellung findet sich jedoch auch noch in jüngeren Arbeiten. Vgl. etwa Andrea Glaser: Der Held und sein Raum. Die Konstruktion der erzählten Welt im mittelhochdeutschen Artusroman des 12. und 13. Jahrhunderts. Frankfurt a.M. 2004 (Europäische Hochschulschriften. 1888), S. 56. Kritisch anzumerken ist neben der fehlenden narratologischen Fundierung und begrifflichen Unschärfe bei Glaser auch, dass es nicht gelingt, den „Eigenwert“ (S. 18) mittelalterlicher Raumvorstellungen zu erfassen. https://doi.org/10.1515/9783110795455-003

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wieder einrollt, entfalten sich die Räume entlang des Wegs der Figuren. Diese Bezogenheit des Raumes auf die Figuren bedeutet auch, dass der Raum der Figur weder in seiner ontologischen Existenz noch in seinem Erzählen vorgängig ist: „Raum und Landschaft sind im mittelalterlichen Roman nicht ontologisch früher als der Held, nicht schon als vorhanden gedacht [...], sondern gleichrangig mit ihm und mit seiner Bewegung.“5 Raumdetails oder auch ganze Räume tauchen daher ohne großes Aufheben in den Momenten auf, in denen sie für die Handlung benötigt werden. Dementsprechend ist dem Unterwegssein, obwohl es in der außerhöfischen Erzählwelt auch personelle oder räumliche ‚Merkorte‘ geben kann, keine durchgängige räumliche Kontinuität eigen.6 Die Bedeutung der Figurenbewegung für die Raumdarstellung der höfischen Literatur, die schon die Arbeit von Ingrid Hahn7 konstatiert, hat den Blick unter anderem auf den Weg als zentrales Verbindungselement einzelner âventiuren und Raumeinheiten gelegt und ihn auf seine symbolischen Gehalte hin befragt.8 Weiter differenziert sich das Verständnis von den Räumen des Unterwegsseins aus, wenn großräumige Reise-, Transit- oder Schwellenbewegungen9 sowie räumliche Bestandteile der Erzählwelten, wie etwa das Meer,10 der Wald11 oder Anderswelten,12 untersucht werden.

 Uta Störmer-Caysa: Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen. Raum und Zeit im höfischen Roman. Berlin/New York 2007, S. 238.  Vgl. Störmer-Caysa, Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen.  Vgl. Ingrid Hahn: Raum und Landschaft in Gottfrieds Tristan. München 1963 (Medium Aevum. 3).  Vgl. Wolfgang Harms: Homo viator in bivio. Studien zur Bildlichkeit des Weges. München 1970 (Medium Aevum. 21); Ernst Trachsler: Der Weg im mittelhochdeutschen Artusroman. Bonn 1979 (Studien zur Germanistik, Anglistik und Komparatistik. 50).  Vgl. etwa Glaser, Held und sein Raum; Claudia Brinker-von der Heyde: Zwischenräume: Zur Konstruktion und Funktion des handlungslosen Raums. In: Virtuelle Räume. Raumwahrnehmung und Raumvorstellung im Mittelalter. Akten des 10. Symposiums des Mediävistenverbandes, Krems, 24.–26. März 2003. Hrsg. von Elisabeth Vavra. Berlin 2005, S. 203–214; Kai Tino Lorenz: Raumstrukturen einer epischen Welt. Zur Konstruktion des epischen Raumes in Ulrichs von Zatzikhoven Lanzelet. Göppingen 2009 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik. 752); Hammer, Räume erzählen.  Vgl. etwa Carola Susanne Fern: Seesturm im Mittelalter. Ein literarisches Motiv im Spannungsfeld zwischen Topik, Erfahrungswissen und Naturkunde. Frankfurt a.M. 2012 (Kultur, Wissenschaft, Literatur. Beiträge zur Mittelalterforschung. 25); Ingrid Kasten: Raum, Leib, Bewegung: Aspekte der Raumgestaltung in Gottfrieds Tristan. In: Transkulturalität und Translation. Deutsche Literatur des Mittelalters im europäischen Kontext. Hrsg. von ders., Laura Auteri. Berlin/Boston 2017, S. 127–144; Hammer, Räume erzählen, S. 178–183.  Vgl. etwa Marianne Stauffer: Der Wald. Zur Darstellung und Deutung der Natur im Mittelalter. Zürich 1958; Christian Schmid-Cadalbert: Der wilde Wald. Zur Darstellung und Funktion eines Raumes in der mittelhochdeutschen Literatur. In: Gotes und der werlde hulde. Literatur in Mittelalter und Früher Neuzeit. Festschrift für Heinz Rupp zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Rüdiger Schnell. Stuttgart 1989, S. 24–47; Schulz, in dem wilden wald, S. 515–547; Elisabeth Vavra: Der Wald im Mittelalter. Funktion – Nutzung – Deutung. Einführung. In: Der Wald im Mittelalter. Funktion – Nutzung – Deutung. Hrsg. von ders. Berlin 2008 (Das Mittelalter. 13,2), S. 3–7.  Vgl. etwa Pia Selmayr: Der Lauf der Dinge. Wechselverhältnisse zwischen Raum, Ding und Figur bei der narrativen Konstitution von Anderwelten im Wigalois und im Lanzelet. Frankfurt a.M. 2017

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Vielfach liegt das Hauptaugenmerk dabei auf ihren Semantiken sowie ihrer Stellung im Raumgefüge der gesamten Erzählwelt. Während Uta Störmer-Caysa für das Unterwegssein „die raumkonstituierende Bewegung des Helden als chronotopisches Spezifikum“13 herausstellt, fehlt es bislang an ähnlich systematischen Beobachtungen zur narrativen Raumerzeugung innerhalb des bewohnten, höfischen Raumbereichs. Global betrachtet kann der Hof als ein ortsfestes Sozialsystem, mit dem der Held bei seinem Aufenthalt auf der Burg in Interaktion tritt, verstanden werden.14 Über den Aufenthalt des Helden auf der Burg hinweg können etwa Fenster, Zinne oder Turm in Verbindung zur Erzählwelt außerhalb des Hofes stehen.15 So ergeben sich je spezifische Konstellationen zwischen Innen und Außen. Der unterschiedlichen, räumlichen Verfasstheit der Binnenräume am Hof sind semantisch entsprechend unterschiedliche Zugangs-, Handlungs- und Kommunikationsbeschränkungen zugeordnet.16 Die Forschung hat die architektonischen Innenräume außerdem besonders auf ihre Organisation und räumliche Abbildung von topologischen Wissensbeständen hin untersucht. Inwiefern Innenräume Differenz, Grenze und Überschreitung verhandeln, wurde daher zwar unter anderem mit Blick auf ihre räumliche Anlage, vor allem aber auf ihre semantische Codierung hin untersucht.17 Einen Dualismus zwischen den außerhöfischen Räumen des Unterwegsseins und den höfischen Räumen des ‚Bleibens‘ konstatiert auch der Schweizer Mediävist Paul Zumthor, wenn er sich in seiner Studie La mesure du monde18 dem Wandel der Raum-

(Mikrokosmos. Beiträge zur germanistischen und allgemeinen Literaturwissenschaft. 82); Thomas Poser: Raum in Bewegung. Mythische Logik und räumliche Ordnung im Erec und im Lanzelet. Tübingen 2018 (Bibliotheca Germanica. 70).  Hammer, Räume erzählen, S. 115.  Lorenz verhandelt diesen Raumtyp unter dem Begriff ‚Gesellschaftsraum‘. Vgl. Lorenz, Raumstrukturen, S. 69–73.  Vgl. etwa Karina Kellermann: Der Blick aus dem Fenster. Visuelle Âventiuren in den Außenraum. In: Virtuelle Räume. Raumwahrnehmung und Raumvorstellung im Mittelalter. Akten des 10. Symposiums des Mediävistenverbandes, Krems, 24.–26. März 2003. Hrsg. von Elisabeth Vavra. Berlin 2005, S. 325–341; Pia Selmayr: Tor, Tür, Treppe, Fenster. In: Literarische Orte in deutschsprachigen Erzählungen des Mittelalters. Ein Handbuch. Hrsg. von Tilo Renz, Monika Hanauska, Mathias Herweg. Berlin/Boston 2018, S. 519–531; Christian Schneider: Turm, Zinne, Mauer. In: Literarische Orte in deutschsprachigen Erzählungen des Mittelalters. Ein Handbuch. Hrsg. von Tilo Renz, Monika Hanauska, Mathias Herweg. Berlin/Boston 2018, S. 532–546. Ebenso rücken Aufenthaltsorte außerhalb der Burg in den Fokus vornehmlich raumsemantischer Untersuchungen. Vgl. Mirna Kjorveziroska: Im Naturraum. Poetologische Untersuchungen über mittelhochdeutsche Erzähltexte 1270–1320. Heidelberg 2022 (Studien zur historischen Poetik. 33).  Vgl. Hammer, Räume erzählen, S. 195.  Vgl. Nikolaus Staubach, Vera Johanterwage (Hrsg.): Außen und Innen. Räume und ihre Symbolik im Mittelalter. Frankfurt a.M. 2007 (Tradition – Reform – Innovation. 14); Hasebrink [u. a.] (Hrsg.): Innenräume.  Zumthor, La mesure du monde. Zumthors Studie, die aus dem Jahr 1993 stammt, wurde in der deutschsprachigen, mediävistischen Forschung zum Raum bislang kaum eingehender zur Kenntnis genommen. Sie böte aber Erweiterung und Vertiefung in der Frage, wie die Erzählwelt der höfischen

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erfahrung und ihrer Repräsentation in Kultur und Kunst des Mittelalters (1100–1500) widmet. Denn das spezifisch mittelalterliche Raumerleben sei mitnichten wie in der Moderne dreidimensional, homogen und quantifizierbar: „L’espace médiéval est moins perçu que vécu“.19 Es zeichne sich vielmehr durch eine Heterogenität der Räume und ihre individuelle und unmittelbare leibliche Gegebenheit aus. Der Raum sei aufgrund seiner Rückbindung an den Leib gewissermaßen personalisiert20 und stark affektiv aufgeladen.21 Der Leib diene daher nicht nur als Messinstrument, sondern auch als Ausgangspunkt für eine Semantisierung des Raums: „Autour du corps et relativement à lui, l’étendue s’organise ainsi en système. Celui-ce, dès la naissance, s’ordonne selon un axe quadruple opposant dedans à dehors [...], plein à vide, puis ici à ailleurs qui très tôt diversifie en près et loin“.22 Dieser Axialität ordnet Paul Zumthor zwei Existenzweisen im Raum zu: das Unterwegssein (chevauchée) und das Bleiben (demeure). Das Unterwegssein, für das paradigmatisch der chevalier errant der höfischen Literatur steht, charakterisiert gerade die Abwesenheit des unmittelbaren und vertrauten Hier, das der Ritter manchmal gezwungenermaßen, manchmal freiwillig aufgegeben hat. Der chevalier errant begibt sich in das räumlich und semantisch unbekannte Draußen, in dem ihn das potentiell Böse erwarten kann.23 Er überwindet Grenzen und kann so zeitweilig in Räume der demeure eintreten, ohne dass sie zu einem eigenen Hier werden.24 In diesem raumkonstituierenden Bewegungsmodus, den vor allem Uta Störmer-Caysa ausarbeitet, erschließt der Ritter die außerhöfischen Räume.25

Romane organisiert ist und welche kulturgeschichtlichen Entwicklungen der Organisation der Erzählwelt in höfische und außerhöfische Sphäre zugrunde liegen. Die Forschung geht auf Zumthor häufig höchstens ein, indem sie seine Raumkonzepte nennt, ohne sie genauer zu spezifizieren oder in den Kontext der Studie einzuordnen. Als Ausnahmen hiervon dürfen betrachtet werden: Hans Rudolf Velten: Sprache und Raum. Anmerkungen zur Baumgartenszene in Gottfrieds Tristan. In: ZfdPh 133,1 (2014), S. 23–47; Kasten, Raum, Leib, Bewegung, S. 127–144.  Zumthor, La mesure du monde, S. 36.  Vgl. Zumthor, La mesure du monde, S. 35.  „Le Moyen Âge perçoit et se représente un espace hétérogène; on dirait, sans presque exagérer, qu’il perçoit plusieurs espaces, de nature totalement différente. Chaque être humain possède son espace vital, caractérisé par son immédiateté et sa très forte charge affective: ce que j’appelle ‚l’ici‘.“ So äußerte sich Paul Zumthor in einem Interview mit Jean-Marcel Parquette selbst zu einer seiner grundlegenden Thesen. Jean-Marcel Paquette: Paul Zumthor. La mesure du monde. In: EtLitt 26,3 (1994), S. 151; Vgl. auch Zumthor, La mesure du monde, S. 35–36.  Zumthor, La mesure du monde, S. 18–22, hier S. 20 (Hervorhebung im Original).  Vgl. Zumthor, La mesure du monde, S. 79 sowie S. 91 f. Wenn er über den Ursprung der räumlichen Achsen spricht, erläutert Zumthor, dass mit dem ici zugleich das ailleurs negiert wird und zum ignorierten Raum klassifiziert wird (vgl. S. 59 f.).  Vgl. Zumthor, La mesure du monde, S. 208. Diese Feststellung liegt sehr nah an Lotmans Charakterisierung des Helden, dem allein die Fähigkeit zur Grenzüberschreitung und damit die Erzeugung von Sujets eigen ist. Vgl. Lotman, Stuktur literarischer Texte, S. 340–347.  Vgl. Zumthor, La mesure du monde, S. 145–216.

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Die Unmittelbarkeit und affektive Aufladung eines Hier zeichnet hingegen die Räume des Bleibens (demeure) ureigentlich aus. Die Mensch-Raum-Komplexe der demeure – Zumthor bezeichnet sie auch als „territoire“26 – hat der Mensch im Akt des Bauens der Natur entzogen. So ordnet er das für ihn empfundene räumliche Chaos und sozialisiert den Raum mithilfe von Normen, Werten und Geschichte.27 Ein solcher räumlich und semantisch geordneter Raum des Aufenthalts ist beispielsweise der Hof. Weil ihre räumliche und soziale Ordnung gekannt wird, bieten die Räume der demeure Schutz und Vertrautheit. Sie trennen das Hier (ici) vom Dort (ailleurs), das Drinnen (dedans) vom Draußen (dehors) und entlarven Fremde durch ihre Unkenntnis der Ordnung. Der Hof mit all seinen Binnenräumen, semantischen Ordnungen und sozialen Reglements ist ein solcher Raum der demeure. Als Teil dieses geordneten höfischen Raums gehört auch der boumgarten zu den Räumen des Bleibens (demeure). Das Unterwegssein (chevauchée) wurde unter anderem auf seine räumliche Konstitution und die Funktion des Raums für den Protagonisten hin befragt. Die Bewegung des Helden auf âventiure wurde dafür ebenso beleuchtet wie die Persistenz der einzelnen Räume sowie ihre Stellung und Funktion in der höfischen Erzählwelt. Die Räume des Bleibens (demeure) hat die Forschung hingegen vor allem mit Blick auf ihre semantische Ordnung sowie auf ihre Handlungszusammenhänge analysiert. Mit welchen narrativen Mitteln die Räume der demeure jedoch als Imaginations- und Handlungsräume erzeugt werden, wie also der erzählte ‚Nahraum‘ inszeniert wird, findet kaum je systematische Betrachtung und darf als Desiderat betrachtet werden. So wäre etwa zu fragen, welche Rolle Bewegung für die narrative Raumerzeugung außerhalb des Unterwegsseins spielt? Inwiefern ist das Erzählen des bekannten, unmittelbaren und vertrauten Hier vielleicht vom Raumerzählen des Unterwegsseins verschieden? Steht der Flüchtigkeit und Fremdheit des außerhöfischen Raums vielleicht eine höhere räumliche und imaginative Stabilität der Räume des Bleibens (demeure) gegenüber? Im Anschluss an Zumthors Erkenntnisse zum Raumerleben der mittelalterlichen Kultur und Kunst wäre des Weiteren zu analysieren, inwiefern die Leiblichkeit der Figuren oder gar des Rezipienten auf das Erzählen von Raum wirken. Wenn die vorliegende Untersuchung die narrative Erzeugung des boumgarten als Handlungsraum untersucht und im Anschluss daran nach der Funktionalisierung des Gartenraums für die Handlung fragt, leistet sie damit auch einen Beitrag zur Beantwortung der Frage nach einem spezifischen Erzählen der Räume des Bleibens (demeure). Zu bedenken ist dabei allerdings, dass der boumgarten als Schwellenraum eine besondere Stellung innerhalb des höfischen Raums hat. Er ist Teil des Hofes und damit der demeure, ohne jedoch in dieser Zugehörigkeit räumlich oder semantisch vollständig  „L’union de l’homme et de l’espace fonde le ‚territoire‘, espace civilisé de qui, par son travail, se l’est approprié et y a créé un droit.“ Zumthor, La mesure du monde, S. 78.  „C’est là peut-être sa fonction première [du bâtiment, T.S.]: donner ce signal indubitable, qui introduit l’ordre dans le chaos spatial.“ Zumthor, La mesure du monde, S. 91.

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aufzugehen. Denn auch der Baumgarten etabliert wiederum ein Hier und Drinnen, das sich – intensiviert durch seine konstitutive Umgrenzung – vom Dort und Draußen des Hofes unterscheidet. Wie verhält sich der boumgarten zum Hof, der ein Raum der demeure ist und in dessen Komplex der boumgarten eingebunden ist? Bietet der Baumgarten vielleicht Schutz für Handlungen, die im Dort des Hofes nicht möglich oder zulässig sind? Zumthor zumindest weist dem Garten prädestinierte Handlungszusammenhänge zu: „jardin, lieu de désir et d’échange, de rencontres et d’heureux loisir“.28 Bevor diese Fragen zum Verhältnis des Baumgartens, zu seiner Umgebung und möglichen typischen Handlungszusammenhängen beantwortet werden können, bedarf es einer raumtheoretischen Grundlage, die es ermöglicht, die narrative Raumerzeugung des boumgarten zu untersuchen und die aufgeworfenen Fragen mit Blick auf das Erzählen von Raum zu präzisieren. Ziel ist es jedoch nicht, den ontologischen Status des Gartenraums in der mittelalterlichen Literatur oder Kultur zu ergründen. Vielmehr soll dargelegt werden, wie sich im Erzählen der boumgarten als Raum und seine Funktionalisierung raumtheoretisch sinnvoll erfassen lassen. Anhand zweier Baumgartenszenen sollen Modi der narrativen Ausgestaltung von Räumlichkeit unterschieden werden. Von dieser Differenzierung ausgehend soll ein Raumkonzept vorgeschlagen werden, auf dessen Grundlage im folgenden Kapitel ein methodisches Instrumentarium zu bestimmen ist.

3.1 Modi von Räumlichkeit Auf der Flucht vor dem inzestuösen Begehren ihres Vaters landet das Schiff der Königstochter Beaflor im Lande des Fürsten Mai. Schnell entbrennt der Fürst in Liebe zur keuschen Fremden, die in seinen Heiratswunsch einwilligt. Nach Schwertleite und Hochzeit diniert die Festgesellschaft um Mai und Beaflor, deren Namen den Titel des sogenannten Minne- und Âventiureromans aus dem 13. Jahrhundert bilden,29 unweit der Burg: ein bumgarte lit vil nach rosse laufes wit vnder der wurch. da wurden in sedel gemachet uf den sin,

 Zumthor, La mesure du monde, S. 108.  Christian Kiening und Katharina Mertens Fleury veröffentlichten außerdem im Jahr 2008 eine nur online verfügbare Edition. Vgl. Mai und Beaflor. Minneroman des 13. Jahrhunderts. Hrsg. von Christian Kiening, Katharina Mertens Fleury. Abrufbar unter: http://www.ds.uzh.ch/kiening/Mai_und_Bea flor/MaiundBeaflor.pdf [Zugriff: 31.10.2022]. Sie sehen in der Edition von Classen aufgrund von editorischen Inkonsequenzen und zahlreichen Verlesungen keine zitierfähige Ausgabe gegeben. Diesen Mangel wollen die Herausgeber mit der eigenen Editon beheben, um der Forschung einen gesicherten und zitierfähigen Text zur Verfügung zu stellen (vgl. S. viii–ix); vgl. Mai und Beaflor. Hrsg. u. übers. von Albrecht Classen. Frankfurt a.M. 2006 (Beihefte zur Mediävistik. 6).

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daz arm vnd riche da azzen alle geliche. [...] hin in si gingen gemeinichlich. der boum ir chleide waren rich, gar wunechlich si grunden, gelaubet wol si stunden. di este gar waren gedechet, ouch het sich schone enblechet daz suzze blat wiz vnd rot, daz den ougen suzze bot. die sidel waren gemachet wit. nv was ez ouch ezzen zit. der furste selbe satz si do, alle gemein des waren si vro. swas armer leute dar quam, ze vlizze er der war nam vnd satzte si selbe mit siner hant. spise, phenning vnd gewant hiez er in miltechlichen geben, dar um gechronet wart sin leben, daz er sich vber di armen chunde wol erbarmen. des wart sin heil gemeret vnd ouch hoch geeret von got vnd von den luten. (V. 3454–3459 u. 3514–3536)30

Der Baumgarten wird zunächst verortet und in ein räumliches Verhältnis zur Burg gesetzt. Dies stellt die Zugehörigkeit zur Burg her, unabhängig davon, dass der Baumgarten in einiger Entfernung unterhalb der Burg angesiedelt ist. Im Garten befinden sich Sitzgelegenheiten für das gemeinsame Festmahl. Mai und Beaflor bewegen sich in Richtung des boumgarten und stoßen dabei zu einer sich freudig vergnügenden Festgesellschaft. Alle – Buhurt, Spielleute, Ritter und Damen – befinden sich jedoch noch außerhalb des Baumgartens, denn si riten ysa / gein dem boumgarten (V. 3509–3510). Der Baumgarten wird von seiner Umgebung abgegrenzt. Die Erzählung weist ihn durch die Präposition in (V. 3514) als ein Innen aus. Der Erzähler etabliert so eine Grenze zwischen dem Innen des boumgarten, das gemeinichlich (vgl. V. 3514) betreten wird, und dem Außerhalb, in dem sich die Festgesellschaft zunächst noch aufhält. Als topisches Ausstattungsmerkmal wird der große Baum mit seinen ausladenden Ästen und Blüten beschrieben, doch eine Positionierung des Baumes bleibt aus. Ein weiteres für den locus amoenus typisches Merkmal ist neben dem Baum der Vogelgesang, der bereits in der Annäherung an den Garten vernommen werden kann:31

 Die gesamte Baumgartenszene erstreckt sich auf V. 3455–3591.  Vgl. Curtius, Rhetorische Naturschilderung, S. 202.

Modi von Räumlichkeit

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mange suzze wise / hort man von vogelsange da, / want si riten ysa / gein dem boumgarten (V. 3507–3510). Die Plätze an der Tafel sind gemachet wit (V. 3522). Die Vögel, der Baum und die Tafel mit den dazugehörigen Sitzgelegenheiten werden allesamt im boumgarten verortet. Den beiden Letzteren wird sogar eine gewisse Ausdehnung zugesprochen. Dennoch treten die Elemente weder in konkrete Relation zueinander noch sind sie in die Erzählung der rudimentären Figurenbewegung eingebunden. Die Lage, das Verhältnis zum Außerhalb und der Burg sowie seine Ausstattung und Nutzung weisen den Schauplatz, den die Erzählung für das Festmahl wählt, gemäß der hier vorgeschlagenen Definition als boumgarten aus. Auf dem Weg zum Baumgarten berichtet der Erzähler von allerlei Getümmel (vgl. V. 3489–3506), wohingegen die Szenerie im Inneren selbst auffällig bewegungsarm erscheint. Zwar weiß der Erzähler zu berichten, dass Mai den Gästen Sitzplätze zuweist und später auch von einem zum anderen geht (vgl. V. 3573), doch diese Bewegungen werden jeweils nur unter ein Bewegungsverb subsummiert. Sie werden aus einer übergeordneten Perspektive des Erzählers beschrieben, so dass sie vom Rezipienten ‚gesehen‘, also vorgestellt, werden können, ohne aber dynamisch auserzählt zu werden. Dem Raumerleben der Figuren, ihrer Orientierung und Raumwahrnehmung des boumgarten misst der Erzähler keine Aufmerksamkeit bei. Sehr wohl macht der Erzähler allerdings auf das Verhalten Mais aufmerksam. Wiederholt betont er die Gleichbehandlung der Gäste – egal, ob arm oder reich – durch deren Herrscher Mai (vgl. V. 3458–3459 u. 3524 f.), wie auch dessen vorbildlich ausagierte Tugend der milte (vgl. V. 3529 f.). In seiner Rolle als Herrscher und Gastgeber verhält sich Mai so, wie es in der Gegenwart des Erzählers zu dessen Bedauern unüblich geworden ist. In einer laudatio temporis acti, wie sie in Mai und Beaflor vermehrt vorkommen,32 beklagt der Erzähler die gegenwärtige Volksferne der Herrscher, denen es pi den luten leide (V. 3479) ist und die ihren Untertanen statt Freude nur Kummer und Unterdrückung bereiten (vgl. V. 3461–3480). Diese defizitäre Gegenwart überstrahlt Mai, den der Erzähler als barmherzigen und freigiebigen Herrscher inszeniert. Die räumliche Gestaltung des boumgarten, seine Anordnung und die Wahrnehmung der darin befindlichen Figuren sind dafür nicht von Relevanz. Die topische Umgebung gewinnt jedoch in ihrer Symbolik an Bedeutung. Der höfische Baumgarten ist literatur- wie wohl auch kulturgeschichtlich gesehen einerseits bevorzugter Platz für solche Mähler und Zusammenkünfte,33 gleichzeitig „stehen auch die hochmittelalterlichen Gärten symbolisch für das Paradies“.34 Gottgleich sorgt Mai im boumgarten für das Wohlergehen seiner Untertanen, unabhängig von deren Ausmaß an weltlichen Besitztümern. Der boumgarten dieser Szene ist ein friedlicher, beinahe utopischer Ort

 Vgl. Werner Fechter: Art. Mai und Beaflor. In: 2VL 6 (1987), Sp. 1165.  Vgl. Frühe, Das Paradies ein Garten, S. 251.  Frühe, Das Paradies ein Garten, S. 202.

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gerechter und gütiger Herrschaft, der eine Kontrastfolie zur Gegenwart des Erzählers bildet. Weder seine räumliche Auserzählung noch Dynamik und Figurenperspektiven stehen im Vordergrund. Das Erzählen des boumgarten zielt nicht darauf ab, dass in der Imagination ein komplexer Eindruck vom Baumgarten als Raum, also ein Imaginations- bzw. Vorstellungsraum35 entsteht. Indem der Erzähler die Szenerie in einer Art distanzierter ‚Draufsicht‘ schildert, entwirft er einen semantisch aufgeladenen Ort, der die Vorbildlichkeit des Herrschers und auch seiner Braut gewissermaßen emblematisch abbildet. Einen Baumgarten anderer Couleur erzählt Gottfried von Straßburg in seinem Tristan.36 Schon bevor es zu den bekannten Baumgartenszenen zwischen Tristan, Isolde und ihren Widersachern kommt, wird der Garten fast eher beiläufig als Schauplatz von Handlung etabliert. Aufgeschreckt von seinem Ebertraum sucht Marjodo seinen Freund Tristan, kann ihn in dessen Bett jedoch nicht finden. Er begibt sich kurzerhand buchstäblich auf dessen Fährte: Marjodoc stuont ûf zehant und leite an sich sîn gewant. er sleich vil lîse hin zer tür unde wartete dervür und sach Tristandes spor dervor. hie mite sô volgete er dem spor hin durch ein boumgertelîn. ouch leitete in des mânen schîn über snê und über gras, dâ er vor hin gegangen was, unz an der kemenâten tür. dâ gestuont er vorhtende vür und misseviel im al zehant, daz er die tür als offen vant. (V. 13559–13572)

Man kann dieses boumgertelîn, das man durch eine Kemenatentür verlassen kann, als abgetrennten Raum innerhalb des Hofkomplexes verstehen. Zwar erfährt der Rezipient erst später mehr über seinen Verwendungszweck und seine Ausstattung, doch es ist nicht nur aufgrund der Bezeichnung gerechtfertigt von diesem Raum als einem Baumgarten zu sprechen. Der Erzähler berichtet nicht einfach nur, dass zunächst Tristan den Baumgarten durchquert habe und Marjodo ihm folge. Vielmehr folgt der Rezipient Marjodos Bewegung durch den Garten. Wie sich Marjodo bewegt, wird ebenso erzählt, wie und was er sieht sowie was er denkt. Eine descriptio des Gartens und eine ‚Draufsicht‘ auf die Szenerie wie bei Mai und Beaflor findet man nicht. Zwar  Die Begriffe ‚Imaginationsraum‘ und ‚Vorstellungsraum‘ werden synonym verwendet, um den Raum zu bezeichnen, der mithilfe des hier untersuchten Erzählens von Raum in der Sukzession der Erzählung in der Imagination bzw. Vorstellung entsteht.  Gottfried von Straßburg, Tristan.

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erfährt man vorerst sowieso nur wenig über die Ausstattung des Gartens, doch was man erfährt, geht – anders als im ersten Beispiel – der Handlung nicht voraus. In diesem Punkt, wie auch mit Bezug auf die Handlung selbst, ist die Szene viel dynamischer. Welchen Einfluss haben aber erzählte Bewegung und Wahrnehmung für den boumgarten? Können sie, ohne etwa Abmessungen und Gartenelemente dezidiert zu schildern, einen plastischen Imaginationsraum, das heißt eine konsistente, räumliche Imagination des boumgarten, hervorrufen? Welche Rolle spielt die Verteilung der Garteninformationen über die Szene hinweg? Auch wenn Marjodo auf niemanden trifft, nicht mal auf den gesuchten Freund Tristan, wirkt es, als könne er das alles nicht ohne Zutun von außen erfahren. Schnee und Mondschein erweisen sich als unbelebte Naturhelfer, indem sie Tristans Spur erst so im boumgarten einschreiben, dass Marjodo sie sehen kann, als Tristan längst nicht mehr zu sehen ist. Die Bewegung durch den Baumgarten – hin zer tür (V. 13561) und hin durch ein boumgertelîn (V. 13565) – ist nur deshalb so zielgerichtet möglich, weil der Garten von oben für Marjodo ausgeleuchtet wird und der Schnee die Richtung festhält, in die Tristan entschwunden ist. Statt einer passiven Natur, die im ersten Beispiel von einer anscheinend übergeordneten Warte aus wahrgenommen wird, wirkt es im Tristan, als werde die Natur selbst zum entscheidenden Teil der Handlung. Um dies und auch die Wirkung der Bewegung für die Raumimagination zu verstehen, muss man auf die Suche nach sprachlichen und narrativen Realisierungen gehen. Mit welchen sprachlichen Mitteln wird die Bewegung erzählt? Wie kommt Dynamik zustande? Wie, wenn überhaupt, kann dabei ein plastischer Imaginationsraum entstehen? Wie werden die Elemente des boumgarten erzählt und welchen Einfluss haben sie selbst auf das Geschehen dort? Selbst die Informationen zum boumgarten scheinen – im Vergleich zum ersten Beispiel – im Verlauf der Narration anders organisiert. Darüber hinaus stellt sich auch die Frage nach der semantischen Codierung des boumgarten. Kann oder soll man auch den boumgarten an Markes Hof als sehnsuchtsvollen Bezug auf das verlorene Paradies verstehen? Welche Rolle spielt diese Szene für die Handlung insgesamt? In Mai und Beaflor illustriert die Szenerie im Baumgarten etwas, das ihr gewissermaßen vorgängig ist – nämlich Mais vorbildhafte Gesinnung. Diese Erkenntnis hat keine unmittelbare, logische Konsequenz für den Fortgang der Erzählung. Im Tristan wirkt es hingegen so, als werde durch die Szene gerade erst etwas hervorgebracht oder angestoßen, das noch abzuschließen sei. Die unheilvolle Andeutung, die der Erzähler bei Tristans nächtlichem Aufbruch macht, darf offenbar längerfristige Gültigkeit beanspruchen: dô haete im Misselinge / ir stricke, ir melde, ir arbeit / an den selben pfat geleit (V. 13492–13494). Beide Szenen gestalten die Erzählwelt auf verschiedene Weise und mit unterschiedlichen Zielsetzungen aus. Um die Ausgestaltung der erzählten Welt in einem solchen, allgemeinen Sinne zu bezeichnen, soll ‚Räumlichkeit‘ als vorwissenschaftlicher Oberbegriff verwendet werden, ohne dass eine theoretische oder ontologische Implikation vorgenommen würde. Zwar handelt es sich sowohl in Mai und Beaflor als auch im Tristan

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eindeutig um Baumgärten der höfischen Romane, dennoch deutet sich eine Differenz in den Erzählweisen, dem räumlichen Detailreichtum und der Funktion der erzählten Baumgärten an. Das Festmahl, das Fürst Mai veranstaltet, kennzeichnet eine auffallende Statik, wobei die Gartenelemente nur rudimentär zueinander positioniert werden. Wahrgenommen wird anscheinend aus einer übergeordneten Perspektive, die die Festmahlszenerie als Ganzes im Überblick hat. Die Erzählung grenzt den boumgarten von seiner Umgebung ab und betont seinen symbolischen und topischen Bedeutungsgehalt. So illustriert die Szene eine aus Sicht des Erzählers besonders lobenswerte und selten gewordene Art von Herrschaft. Bereits eine erste Sichtung hat gezeigt, dass im Tristan stattdessen Dynamik, Bewegung und Wahrnehmung die Szene im boumgertelîn bestimmen. Sicher schließen sich die skizzierten Modi narrativer Ausgestaltung von Räumlichkeit nicht gegenseitig aus und finden sich nicht in jeder Erzählung in dieser Konsequenz ausgeführt. Zu sehen ist jedoch, dass beide Szenen spezifische Wahrnehmungsstrategien nutzen und ihren boumgarten mit unterschiedlichen Mitteln erzählen. Den Szenen, genauer noch deren Räumlichkeit kommen damit im erzählten Nahraum aber auch auf der Ebene der Handlung unterschiedliche Funktionen zu. Der Modus, Räumlichkeit zu erzählen, ist offenbar eng mit dem Einfluss des Raums auf das Erzählsyntagma verknüpft. Innerhalb der Baumgartenszenen des höfischen Romans kristallisieren sich so unterschiedliche Modi der narrativen Ausgestaltung des boumgarten heraus.

3.2 Michel de Certeaus Konzept von Raum und Ort Die vorausgegangenen Beispiele illustrieren einen je anderen narrativen Umgang mit der Erzählwelt. Während das erste Beispiel den boumgarten maßgeblich aus einer übergeordneten Warte erzählt und die Existenz sowie Position von Ausstattungsmerkmalen konstatiert, ist das Erzählen der Räumlichkeit im zweiten Beispiel stark von Bewegungen und Wahrnehmungen geprägt. Inwiefern die ausgestaltete Erzählwelt für die Handlung funktionalisiert wird, hängt von diesen unterschiedlichen narrativen Verfahrensweisen ab. Die Erzählwelt dient im ersten Beispiel mehr als Kulisse, ihre Ausgestaltung ist von der Handlung unabhängig und besitzt nur in ihrer semantischen Codierung Bedeutung für die erzählte Szene. Währenddessen entfaltet sich die Erzählwelt im zweiten Beispiel in der dynamischen Sukzession des Erzählens. Die erzählte Gartennatur spielt eine funktionale Rolle für die Handlung. Im Rahmen einer „Alltagskulturgeschichte“37 untersucht der französische Soziologe und Philosoph Michel de Certeau unter anderem Handlungsweisen moderner Städter mit und in dem sie umgebenden Raum. Mithilfe der Begriffe ‚Ort‘ und ‚Raum‘ formu-

 Marian Füssel: Zur Aktualität von Michel de Certeau. Einführung in sein Werk. Wiesbaden 2018 (Aktuelle und klassische Sozial- und Kulturwissenschaftler|innen), S. 114.

Michel de Certeaus Konzept von Raum und Ort

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liert Michel de Certeau in der Kunst des Handelns38 unterschiedliche Umgangsweisen mit Räumlichkeit, denen jeweils Modi der Aneignung und Repräsentation von Ort bzw. Raum eigen sind. Die beiden so gewonnenen Konzepte lassen sich, wie im Folgenden darzulegen sein wird, für eine literaturwissenschaftliche Analyse der beobachteten Umgangsweisen der höfischen Literatur mit Räumlichkeit fruchtbar machen. Der Ort (lieu) im Sinne Michel de Certeaus wird durch die Existenz von Objekten bestimmt, die sich zu genau einem Zeitpunkt an genau einer Stelle befinden. So entsteht ein eigener Bereich, der durch die dort positionierten Elemente definiert wird. Das macht den Ort zu einer „Ordnung (egal, welcher Art), nach der Elemente in Koexistenzbeziehungen aufgeteilt werden“.39 In dieser Hinsicht besitzt der Ort Stabilität und Eindeutigkeit.40 Raum (espace) ist hingegen „un lieu pratiqué“,41 denn „die Erzeugung eines Raums scheint immer durch eine Bewegung bedingt zu sein“,42 so de Certeau. Aktivität und Bewegung vermögen also aus dem Ort einen Raum zu machen, indem sie ihm eine Gerichtetheit verleihen und ihn verzeitlichen. Auch deshalb fehlt es dem Raum aus de Certeaus Sicht an jener Stabilität und Eindeutigkeit des Ortes. Ort und Raum sind bei de Certeau unterschiedliche Typen von Räumlichkeit, die dynamisch aufeinander bezogen sind und sich nicht gegenseitig ausschließen.43 Indem Ort und Raum als Varianten im Umgang mit Räumlichkeit aufgefasst werden, trifft de Certeau keine Aussagen über den ontologischen Status von Raum (oder Ort), wie es im Zuge anderer Theorien oder im Rückgriff auf sie häufig geschieht. Es geht demnach nicht darum, welche Art Ding der Raum oder der Ort ist. Ausgehend von Raum und Ort theoretisiert Michel de Certeau Formen der Aneignung und Repräsentation dieser Räumlichkeiten. Die Stadt als Ort (lieu) etwa ist von übergeordneten Instanzen planvoll angelegt. Indem sich ihre Bewohner aber innerhalb der Stadt bewegen und sich auf spezifische Weise zur Ordnung verhalten, verleihen sie ihr Gerichtetheit und verzeitlichen sie. So machen die Bewohner aus der Stadt einen Raum (espace). Der Fußgänger, der abseits des vorgesehenen Weges über eine Rasenfläche den Park durchquert, unterläuft – ja, kommentiert sogar – die etablierte Ordnung und nutzt den städtischen Raum gewissermaßen subversiv zu seinen eigenen Zwecken,

 Michel de Certeau: Die Kunst des Handelns. Berlin 1988.  De Certeau, Kunst des Handelns, S. 217 f.  Vgl. de Certeau, Kunst des Handelns, S. 217–219.  Michel de Certeau: L’ invention du quotidien I: Arts de faire. Paris 1980, S. 208 (Hervorhebung im Original).  De Certeau, Kunst des Handelns, S. 219.  Vgl. Manfred Zmy: Orte des Eigenen – Räume des Anderen: Zugänge zum Werk von Michel de Certeau aus raumphilosophischer Perspektive. Göttingen 2014, S. 55; Kirsten Wagner: Im Dickicht der Schritte. ‚Wanderung‘ und ‚Karte‘ als epistemologische Begriffe der Aneignung und Repräsentation von Räumen. In: Topographien der Literatur. Hrsg. von Hartmut Böhme. Stuttgart 2005 (Germanistische Symposien. Berichtsbände. 27), S. 192.

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Narrative Erzeugung von Raum

um beispielsweise noch pünktlich am Treffpunkt anzugelangen.44 Mit diesen Praktiken eignen sich die Städter die etablierte Machtstruktur des Ortes ‚Stadt‘ zu eigenen Zwecken vorübergehend immer wieder an. Indem sich de Certeau den Alltagspraktiken widmet, zeigt er, dass Gesellschaft und Raum nicht nur von der Machtausübung der Institutionen bestimmt werden. In diesem Verständnis von gesellschaftlichen Machtstrukturen und ihrer Erzeugung und Verfestigung durch Praktiken im Raum ist Michel de Certeau einerseits vom Konzept der Disziplinarmacht aus Foucaults Überwachen und Strafen beeinflusst, geht andererseits jedoch darüber hinaus.45 Denn während Foucault die Macht und die Eigenschaften von bestimmten Orten in das Zentrum seines Interesses stellt, liegt der Fokus bei de Certeau auf den Praktiken, mithilfe derer Akteure Raum schaffen und der Macht somit „zumindest temporär widerspenstige Praktiken entgegensetzen“.46 Entscheidend ist die Performativität47 von Raum; „Raum entsteht“ im Vollzug, während der „Ort ist“.48 So sind Raum (espace) und Ort (lieu) als Raumtypen nicht nur unterschiedlich verfasst, sondern ihnen entsprechen auch spezifische Modi der Aneignung, also des Umgangs mit ihnen. Durch Sehen eignet man sich den Ort und seine etablierte Ordnung an. Dies ist jedoch nur von einer distanzierten Warte aus möglich, die aus der Ordnung selbst herausgelöst ist. Die Betrachtung New Yorks vom World Trade Center aus dient de Certeau als Beispiel hierfür. Das Bild, das sich bei dieser Betrachtung bietet, ist ein panoptisches, gewissermaßen eine ‚Draufsicht‘. Allerdings erscheine dieses Bild, so de Certeau, zwangsläufig immer nur als Trugbild, da die übergeordnete Perspektive nur zustande kommen könne, wenn man von allen praktischen Vorgängen absehe und sich der menschlichen Eingebundenheit in die Welt entziehe. Die Aneig-

 Beispiel in Anlehnung an Marian Füssel: Tote Orte und gelebte Räume. Zur Raumtheorie von Michel de Certeau S.J. In: HSR 38,3 (2013), S. 30.  Zu weiteren Einflüssen auf de Certeaus Werk vgl. auch Ian Buchanan: Raum und Ort. Eine Verhältnisbestimmung mit Michel de Certeau. In: Michel de Certeau. Geschichte – Kultur – Religion. Hrsg. von Marian Füssel. Konstanz 2007; Zmy, Orte des Eigenen, S. 78–92; Füssel, Aktualität von Michel de Certeau, S. 113–114.  Zmy, Orte des Eigenen, S. 80; vgl. Füssel, Aktualität von Michel de Certeau, S. 116.  Den Begriff ‚Performativität‘ verstehe ich im Sinne Austins und verwende ihn daher in der Prägnanz, die Velten (2009) dem englischen Begriff ‚performativity‘ zuspricht. Raum kann dann als etwas verstanden werden, das erst im sich vollziehenden sprachlichen Akt erzeugt und wirksam wird. Nichtsdestotrotz soll nicht nur nach der funktionalen, auf den Rezipienten bezogenen Performativität gefragt werden, sondern es sollen auch die Textstrategien untersucht werden, die Präsenz und Körperlichkeit im Text selbst verankern (strukturelle Performativität). Vgl. Hans Rudolf Velten: Performativitätsforschung. In: Methodengeschichte der Germanistik. Hrsg. von Jost Schneider, Regina Grundmann. Berlin/ New York 2009 (de Gruyter Lexikon), S. 549–571; Hans Rudolf Velten: Performativity and Performance. In: Travelling Concepts as a Model for the Study of Culture. Hrsg. von Birgit Neumann, Ansgar Nünning. Berlin/Boston 2012 (Concepts for the Study of Culture. 2), S. 249–261.  De Certeau, Kunst des Handelns, S. 217–218 (Hervorhebung T.S.).

Michel de Certeaus Konzept von Raum und Ort

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nung des Ortes im Sehen ist damit gewissermaßen ein sekundärer Akt, der das abstrahierte Bild eines „‚geometrischen‘ oder ‚geographischen‘“ Raumes voraussetzt.49 Die Aneignung des Raumes hingegen erfolgt durch das Gehen. Es ist ein performativer Akt, der im Vollzug eine „räumliche Realisierung des Ortes“ darstellt.50 In seinen Ausführungen zum Gehen werden die phänomenologischen Anleihen augenscheinlich, die de Certeau vor allem bei Maurice Merleau-Ponty macht. Was das Subjekt im Gehen erfasst, bezeichnet de Certeau in Anlehnung an Merleau-Ponty als die „‚anthropologische‘ [...] Erfahrung des Raumes“.51 Das wahrnehmende Subjekt ist Teil des durch die Bewegung erzeugten Raumes und Zentrum bzw. Subjekt der Wahrnehmung des Raumes. Merleau-Ponty betont diese leibliche Erfahrung des In-der-Welt-Seins als grundlegend für die menschliche Fähigkeit der Raumwahrnehmung.52 Die im wörtlichen Sinne raumschaffende Bewegung spielt mit der Struktur des Ortes. Sie gibt dem Ort eben jene Richtungsvektoren und Geschwindigkeitsgrößen, die es braucht, um einen lieu pratiqué, einen Raum, entstehen zu lassen. Dem Gehen kommen dabei einerseits die Eigenschaften der Aktualisierung und andererseits der Selektion zu.53 Im performativen Vollzug werden nur einige von unzähligen Möglichkeiten, die der Ort für Bewegung zur Verfügung stellt, aktualisiert. Indem sich die Bewegung so zu Möglichkeiten und Verboten des Ortes verhält – egal, ob regelkonform oder subversiv – wird eine Selektion innerhalb dieser Möglichkeiten des Ortes vorgenommen. Das Subjekt verhält sich damit zur Ordnung auf eine spezifische Weise.54 So findet eine Ermächtigung des Subjekts statt, das sich den Ort für eigene Zwecke aneignet und nutzt. „Das Gehen bejaht, verdächtigt, riskiert, überschreitet, respektiert etc. die Wege, die es ‚ausspricht‘“.55 Die Handlungsweisen oder Praktiken, die Ort und Raum hervorbringen, beschreibt de Certeau ebenfalls mit einem Begriffspaar. Zwar knüpft er dieses nicht unmittelbar an Ort und Raum, wie es mit den Aneignungsmodi geschieht, nichtsdestotrotz lassen

 De Certeau, Kunst des Handelns, S. 179–182, hier S. 182. Kirsten Wagner weist darauf hin, dass mit den Aneignungsmodi auch unterschiedliche Referenzsysteme einhergehen. Die Aneignung des Ortes im Sehen fordert ein positional-ortsfestes Referenzsystem, das Objekte zueinander verortet. Vgl. Wagner, Dickicht der Schritte, S. 195–196.  De Certeau, Kunst des Handelns, S. 189 (Hervorhebung im Original).  De Certeau, Kunst des Handelns, S. 182.  Vgl. Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin 1966 (Phänomenologischpsychologische Forschungen. 7); Maurice Merleau-Ponty: Das Auge und der Geist. In: Das Auge und der Geist. Philosophische Essays. Hrsg. von dems., Christian Bermes. Hamburg 2003; vgl. zu den Anleihen de Certeaus bei Merleau-Ponty außerdem Zmy: Orte des Eigenen, S. 86–89.  Vgl. de Certeau, Kunst des Handelns, S. 190–191.  Vgl. de Certeau, Kunst des Handelns, S. 190–192.  De Certeau, Kunst des Handelns, S. 192. Das Sprachbild der ausgesprochenen Wege ankert im Vergleich von Ort und Raum bzw. Bewegung mit den Kozepten von langue und parole. Wie der Sprechakt (parole) die ungezählten Kombinationsvarianten eines Sprachsystems (langue) aktualisiert und selektiert, so ist auch die Bewegung eine Aktualisierung des Ortes. Der Weg durch den Raum ist daher sozusagen ein ausgesprochener Ort. Vgl. dazu de Certeau, Kunst des Handelns, S. 14–15 und S. 189.

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Narrative Erzeugung von Raum

sich die Begriffe ‚Strategie‘ und ‚Taktik‘ jeweils Ort und Raum zuweisen.56 Die Strategie trennt einen Ort als „etwas Eigenes“ von der Außenwelt ab und setzt ihn in Beziehung zum Außen. Das Eigene wertet de Certeau als Sieg des Ortes über die Zeit, denn so werden eigene Ordnungen abhängig vom Fortschreiten der Zeit.57 Mithilfe von Strategien wird also ein Ort als eigener Ort mit Eindeutigkeit und Stabilität etabliert. „Orte werden so als Ablagerungen kultureller Regelmäßigkeiten akzentuiert, die bestimmte soziale Handlungen normalisieren“ und an denen sich symbolische Praktiken verdichten.58 Diese Verdichtung kultureller Ablagerungen im Ort kann mit Hartmut Böhme als kulturelle Topographie verstanden werden. Solche kulturellen Topographien oder Architekturen59 bedürfen nicht erst der schriftlichen Fixierung, sondern sind in die Struktur des Ortes gebannt. So kann der Ort etwa Handlung und Bewegung präfigurieren.60 Anders die Taktiken: Ihnen fehlt der eigene Ort, so dass sie fremde Orte nutzen. Vor allem mithilfe von Bewegung eignet sich das Subjekt in der Taktik einen fremden Ort zeitweise für eigene Zwecke an, ohne ihn vollkommen in Anspruch zu nehmen.61 Die Bewegung kann sich zur kulturellen Architektur des Ortes bestätigend verhalten, indem etwa vorgefundene Strukturen genutzt werden, oder sie unterminieren. Somit

 Vgl. Zmy, Orte des Eigenen, S. 55–56; Kirsten Wagner: Raum, Ort, Lage. Konzepte des Räumlichen. In: Raum, Ort, Topographien der Annette von Droste-Hülshoff: Tagung der LWL-Literaturkommission für Westfalen und der Annette-von-Droste-Gesellschaft. Hrsg. von Jochen Grywatsch. Hannover 2009, S. 38. De Certeau entlehnt seine Begriffe einem kriegstheoretischen Diskurs, weshalb sie in ihrer Verwendung nicht mit den herkömmlichen Bedeutungen und Konnotationen des alltäglichen Sprachgebrauchs übereinstimmen.  Vgl. de Certeau, Kunst des Handelns, S. 23.  Johan Frederik Hartle: Der geöffnete Raum. Zur Politik der ästhetischen Form. München 2006, S. 155. Vgl. auch Zmy, Orte des Eigenen, S. 55–78.  Obwohl Böhme die schriftliche Fixierung nicht als notwendig erachtet, verdeutlichen die von ihm der kulturellen Topographie zugeschriebenen Eigenschaften doch, dass es ihm vorrangig um eben solche schriftlichen Niederlegungen geht. Um aus diesem Verständnis von Topographie resultierende Missverständnisse für den vorliegenden Kontext zu vermeiden, soll der Begriff ‚kulturelle Architektur‘ vorgezogen werden. Böhme selbst versteht die Raumordnungen als Architekturen: „Kulturen sind nur als stabilisierte Raumordnungen denkbar, also im weiten Sinn: als Architekturen.“ Hartmut Böhme: Raum – Bewegung – Grenzzustände der Sinne. In: Möglichkeitsräume. Zur Performativität von sensorischer Wahrnehmung. Hrsg. von Christina Lechtermann, Kirsten Wagner, Horst Wenzel. Berlin 2007 (Allgemeine Literaturwissenschaft. 10), S. 58.  Vgl. Böhme, Raum – Bewegung – Grenzzustände der Sinne, S. 58–65; Hartmut Böhme entwickelt ein kulturwissenschaftliches Raumkonzept, das das Verhältnis einer kulturell codierten Raumordnung zu möglichen Formen der Bewegung erfasst. Da Böhme keine begriffliche Differenzierung zwischen Ort und Raum vornimmt, werden alle Charakteristika der kulturellen Topographien unter dem Schlagwort ‚Raum‘ verhandelt. Doch Böhmes Charakterisierungen der kulturellen Topographie liegt letztlich jedoch nah an dem bei de Certeau beschriebenen Verhältnis zwischen Ort und Raum, Sehen und Gehen, Strategie und Taktik. Mit Blick auf die notwendige Erschließung des Raums durch Bewegung und Erleben referiert Böhme selbst auf die Repräsentationsmodi carte und parcours. Vgl. Böhme, Raum – Bewegung – Grenzzustände der Sinne, S. 53–72.  Vgl. de Certeau, Kunst des Handelns, S. 23; vgl. auch Füssel, Tote Orte, S. 28–29.

Michel de Certeaus Konzept von Raum und Ort

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können Taktiken kulturelle Ordnungen des Ortes räumlich wie semantisch völlig neu oder umcodieren. Man denke zur Verdeutlichung hier noch einmal an das Beispiel des querfeldein laufenden Fußgängers. Manfred Zmy versteht die Taktik als einen „Raumbegriff, der durch einen praktischen Umgang mit dem Ort einen Raum eröffnet.“62 Strategie und Taktik sind daher als Oberbegriffe für diejenigen Praktiken zu verstehen, die Orte etablieren oder Räume erzeugen. Michel de Certeau fragt nicht nur auf der Ebene der physischen Bewegungen nach Alltagspraktiken im Umgang mit dem städtischen Raum. Auch die Narrativierung von Räumlichkeit spielt in seiner Kunst des Handelns eine Rolle. Er beobachtet, dass sich die Konzepte Ort und Raum mit ihren zugehörigen Aneignungsmodi – Sehen und Gehen – auch auf das Erzählen von Räumlichkeit auswirken. Apartmentbeschreibungen dienen ihm in ihrer unterschiedlichen Gestalt als Gegenstand, um eigene Repräsentationsweisen respektive Erzählweisen von Ort und Raum zu erfassen. Die dem Ort zugehörige Erzählweise der Karte (carte) postuliert die Existenz von Objekten an spezifischen Orten; sie repräsentiert und beschreibt die Ordnung des Ortes.63 Aus den Apartmentbeschreibungen zitiert de Certeau dazu folgende, beispielhafte Aussage: „‚Neben der Küche ist das Mädchenzimmer.‘“64 Die Existenz des Mädchenzimmers wird behauptet und es wird in Relation zur Küche positioniert. Diese Konstellation von Objekten kann durch eine ‚Draufsicht‘, etwa das Sehen eines Wohnungsgrundrisses erfasst werden. De Certeau bezeichnet die Karten daher auch als „Schaubilder mit ablesbaren Resultaten“.65 „‚Du wendest dich nach rechts und kommst ins Wohnzimmer‘“.66 Diese Erzählweise funktioniert anders als die der Karte. Der Rezipient erhält Handlungsanweisungen, die ihn durch Bewegung zum gewünschten Zimmer führen könnten. Das Referenzsystem, das den Rezipienten navigiert, ist egozentrisch und damit an der Axialität seines eigenen Leibes ausgerichtet, denn das Gelingen einer Wendung nach rechts setzt voraus, dass der Rezipient sich imaginativ in diese spezifische Origo hineinversetzt.67 Unter Origo versteht Karl Bühler den Nullpunkt eines egozentrischen Referenzsystems, aus dessen Warte die Referenz auf Bewegungen oder Positionierungen im Raum, beispielsweise mithilfe von deiktischen Prozeduren, überhaupt erst verständlich wird.68 Diese Art der

 Zmy, Orte des Eigenen, S. 35.  Vgl. de Certeau, Kunst des Handelns, S. 221–225.  De Certeau, Kunst des Handelns, S. 221.  De Certeau, Kunst des Handelns, S. 225 (Hervorhebung im Original).  De Certeau, Kunst des Handelns, S. 221.  Kirsten Wagner ordnet dem Gehen bzw. dem Raum daher ein egozentrisches Referenzsystem zu, bei dem der axiale Leib des wahrnehmenden Subjekts die Origo der Referenz ist. Vgl. Wagner, Dickicht der Schritte, S. 195–196.  „Zwei Striche auf dem Papier, die sich senkrecht schneiden, sollen uns ein Koordinatensystem andeuten, O die Origo, den Koordinatenausgangspunkt: Ich behaupte, daß drei Zeigwörter an die Stelle von O gesetzt werden müssen, [...] nämlich die Zeigwörter hier, jetzt und ich.“ Karl Bühler: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. 3. Aufl. Stuttgart 1999, S. 102 (Hervorhebung im Original).

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Narrative Erzeugung von Raum

Narrativierung von Bewegung nennt de Certeau Wegstrecke (parcours).69 Hier werden raumbildende Handlungen auf performative Art und Weise versprachlicht. Was auf Ebene des physischen Daseins einen Ort zum Raum macht, Bewegung, wird versprachlicht. Somit gehört die Wegstrecke als Repräsentationsmodus zum Konzept des Raums.70 Auch wenn Wegstrecke und Karte heute als zwei völlig differente Modi erscheinen, rekonstruiert de Certeau eine Entwicklungsgeschichte der beiden Erzählweisen, bei der sie bis zum Mittelalter in engem Verhältnis stehen. Denn aus der Reisebewegung, der Wegstrecke (parcours), die der Reisende sich im Raum bahnt, lässt sich erst die Karte (carte) erstellen, die eben diesen Weg stillstellt und darstellbar macht. Michel de Certeau legt dar, dass die Karte mit der Verwissenschaftlichung dieses Diskurses zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert immer mehr den performativen Charakter der Wegstrecke verliert. So entwickeln sich die zwei Repräsentationsmodi als unterschiedliche Herangehensweisen an Räumlichkeit, die ihre frühere Abhängigkeit nur noch vage erahnen lassen.71 Der auseinander driftenden Entwicklung zum Trotz changieren die Apartmentbeschreibungen erstaunlicherweise zwischen den Erzählweisen von Wegstrecke und Karte, so dass die Erzählung „unaufhörlich Orte in Räume und Räume in Orte verwandelt“.72 Allerdings dominiert die Repräsentation als Wegstrecke deutlich, wobei sie von der Karte dort unterbrochen wird, wo etwa auf eine Wirkung des Geschilderten hingewiesen wird, zum Beispiel die Möglichkeit etwas zu sehen, oder auf die Existenz eines Objektes.73 De Certeau konstatiert: „Die Kette von raumschaffenden Handlungen scheint also mit Bezugspunkten markiert zu sein, die auf das hinweisen, was sie produziert (eine Vorstellung von Orten) oder was sie beinhaltet (eine lokale Ordnung)“.74 Diese Verwobenheit der Repräsentationsmodi führt zu einer „umfassenden Erschließung“ von Räumlichkeit.75

3.3 Raum in der höfischen Literatur Die Studie Michel de Certeaus mag zwar in erster Linie soziologisch und kulturphilosophisch sein. Raum und Ort weist er als Ergebnis der Handlungen von Stadtbewohnern aus. Indem er aber die Aneignungs- und Repräsentationsmodi dieses Umgangs

 Die Forschung nimmt gelegentlich mit dem Begriff ‚Wanderung‘ Bezug auf das, was Michel de Certeau Wegstrecke (parcours) nennt. Vgl. Wagner, Dickicht der Schritte, S. 177–206.  Vgl. de Certeau, Kunst des Handelns, S. 221–225.  Vgl. de Certeau, Kunst des Handelns, S. 222–226. Vgl. auch Wagner, Dickicht der Schritte, S. 198–200; Füssel, Aktualität von Michel de Certeau, S. 117.  De Certeau, Kunst des Handelns, S. 220.  Vgl. de Certeau, Kunst des Handelns, S. 221–222.  De Certeau, Kunst des Handelns, S. 222.  Wagner, Dickicht der Schritte, S. 205.

Raum in der höfischen Literatur

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mit Räumlichkeit der umgebenden Welt in den Blick nimmt, zeigt de Certeau auf, inwiefern die Praktiken rund um Raum und Ort Einfluss auf das Erzählen und Wahrnehmen von Räumlichkeit nehmen. De Certeau widmet sich damit abgesehen von einer Ebene der physischen Durchquerung auch der Narrativierung solcher Alltagspraktiken, so dass ein Transfer seines Begriffsclusters in die Literaturwissenschaft durchaus plausibel und vielversprechend erscheint. Indem bei de Certeau Praktiken und nicht Subjekte oder Orte/Räume im Zentrum stehen, kann die Literaturwissenschaft fragen, welche Praktiken denn literarische Texte nutzen, um unterschiedliche Ausprägungen von Räumlichkeit herzustellen. Auch Literatur kann – wie schon gesehen – physische Durchquerung narrativieren: Mithilfe von Sprache erzählt sie eine Verfahrensweise mit Räumlichkeit, die sich der Rezipient als eine von Figuren ausgeführte Praktik vorstellen kann. Unter Rückgriff auf die kognitionswissenschaftlichen Arbeiten, auf die Michel de Certeau seine Erkenntnisse zur Narrativierung stützt, nutzt Katrin Dennerlein den Begriff ‚Wanderung‘ für ihr narratologisches Instrumentarium. Obwohl Dennerlein selbst ein statisches Raumkonzept zugrunde legt, benutzt sie das Konzept der Wanderung, um mobile Wahrnehmungsinstanzen zu bezeichnen. Diese nehmen im Laufe ihrer Bewegung physische Ausstattungsmerkmale wahr, so dass der Containerraum narrativ ausdifferenziert wird. Den Begriff der ‚Karte‘ lehnt Dennerlein für die narratologische Analyse von Raum ab, weil er den Einsatz von kartographischem Vokabular und kartographischer Verfahren suggeriere.76 In der These, dass Erzählen und Kartographie beziehungsweise das Sprechen darüber getrennte Umgangsweisen mit Raum sind, ist Dennerlein zuzustimmen. Die Kartographie wirkt, wie de Certeau verdeutlicht, auf eigene Weise auf die Raumvorstellung von Rezipienten.77 Obwohl sich Dennerleins Arbeit nicht auf die performative Erzeugung von Raum konzentriert und ihr Instrumentarium daher höchstens in Auszügen Verwendung findet, gibt ihr Konzept der Wanderung einen ersten Hinweis darauf, inwiefern de Certeaus Konzept der ‚Wegstrecke‘ (parcours) für eine literaturwissenschaftliche Analyse fruchtbar gemacht werden kann. Wenn Michel de Certeau davon ausgeht, dass das Konzept der Karte (carte) historisch erst aus der erstarrten und entindividualisierten Wegstrecke (parcours) entsteht, wird außerdem deutlich, dass er seine Begriffe als historisch gewordene Größen begreift. Kirsten Wagner nutzt das Begriffscluster de Certeaus für die Analyse moderner

 Vgl. Katrin Dennerlein: Narratologie des Raumes. Berlin/New York 2009 (Narratologia. 22), S. 153–155.  Michael Cuntz: Deixis. In: Handbuch Literatur und Raum. Hrsg. von Jörg Dünne, Andreas Mahler. Berlin/Boston 2015 (Handbücher zur kulturwissenschaftlichen Philologie. 3), S. 65 f. Legt man jedoch diesen kartographischen Anspruch bei der Untersuchung von Räumlichkeit in Literatur an, dann vermischt man die verschiedenen Systeme der Raumauffassung und -vorstellung in Literatur und Kartographie. Das Ergebnis eines solchen Ausgangspunkts läuft in den meisten Fällen zwangsläufig auf eine Variante der Defizienzthese von literarischer (mittelalterlicher) Räumlichkeit hinaus.

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Narrative Erzeugung von Raum

und frühneuzeitlicher Wissensstädte, die Informationen räumlich organisieren und im Aneignungsmodus des Sehens wie auch des Gehens verfügbar machen. Sowohl an computergestützten Wissensstädten der Moderne wie auch an denen der Neuzeit – Tommaso Campanellas Città del Sole (1602/1623) und Johann Valentin Andreaes Christianopolis (1619) – kann Wagner zeigen, dass die Räumlichkeit der Städte und das darin codierte Wissen jeweils mithilfe von Karte (carte) und Wegstrecke (parcours) erfahrbar gemacht werden. Die unterschiedlichen Aneignungs- und Repräsentationsmodi ergänzen sich und ermöglichen so eine umfassende Erschließung von konkreten und imaginären Räumen. Obwohl die Wissensstädte der Computermoderne und der Neuzeit historisch und medial deutliche Unterschiede aufweisen, bedienen sie sich doch derselben Praktiken im Umgang mit Raum und Imagination. Wagner betrachtet daher eine universelle Anwendbarkeit von de Certeaus Begriffen, sowohl im historischen wie auch gattungstheoretischen Transfer, als gerechtfertigt.78 In Fortsetzung dieser Thesen unternehmen einige jüngere mediävistische Arbeiten einen Transfer der Begriffe de Certeaus in unterschiedlich produktivem Ausmaß. Analog zur Betrachtung der Stadt als Ort versteht Kai Tino Lorenz das übergeordnete und kommentierende Verhältnis des Erzählers zur poetischen Welt in Ulrichs von Zatzikhoven Lanzelet. Bewegung ist bei Lorenz für den Helden, der als Figur in die Raumstruktur eingebunden ist, wie bei de Certeau ein zentrales Merkmal. Weiter definiert Lorenz drei Raumtypen (Transitraum, Schwellenraum und Gesellschaftsraum) mit spezifischen Bewegungsmustern, denen er einen funktionalen Zusammenhang mit der Figurenentwicklung zuschreibt. Für die Ausprägung der Raumtypen wird jedoch keine Differenzierung mehr zwischen Ort und Raum vorgenommen.79 Die Theorie Michel de Certeaus steht damit mehr in Form einer grundsätzlichen Analogie Pate. In die Analyse der Raumtypen findet sie keinen Eingang. Ein 2014 erschienener Sammelband von Markus Stock und Nicola Vöhringer80 untersucht räumliche Praktiken (‚spatial practices‘) in Literatur und Kultur. Foucaults Verständnis von mittelalterlichem Raum erachten die Herausgeber als zu undifferenziert und hierarchisch, so dass sie in der Theorie Michel de Certeaus die Chance sehen, dem performativen Charakter von Raum und den sich darauf auswirkenden hierarchischen Machtstrukturen gleichermaßen Rechnung zu tragen.81 Über Beispielanalysen solcher Praktiken will der Band eine Historisierung von Raum in Literatur und benachbarten Feldern (z. B. Architektur) erreichen.82 In diesem Rahmen nutzt Christina Lechtermann de Certeaus Repräsentationsmodi von Räumlichkeit, um die Schlacht bei Alischanz in

 Vgl. Wagner, Dickicht der Schritte, S. 205 f.  Vgl. Lorenz, Raumstrukturen.  Vgl. Markus Stock, Nicola Vöhringer (Hrsg.): Spatial Practices: Medieval/Modern. Göttingen 2014 (Transatlantic Studies on Medieval and Early Modern Literature and Culture. 6).  Zum begrenzten Nutzen des Heterotopie-Konzepts für das vorliegende Vorhaben vgl. Kap. 1, S. 5–6.  Vgl. Stock/Vöhringer, Introduction Spatial Practices, S. 7–24.

Raum in der höfischen Literatur

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Wolframs Willehalm zu analysieren. Eine Panoramaperspektive auf Schlachtbewegungen inszeniere Alischanz im Modus der carte als topographischen Fixpunkt der Erzählung. Plötzliche Perspektivwechsel auf einige Kämpfer heben – im Modus des parcours – die Umwendung im Kampf als zentrale Bewegung der Kämpfer und als Merkmal von Schlachten überhaupt hervor. Lechtermann zeigt, dass dem Raum mithilfe der verwendeten Repräsentationsweisen eine narrative Kohärenz zukommt, die dem sehr sprunghaften Erzählen Wolframs ansonsten abgeht.83 Jüngst nutzte Franziska Hammer die sekundäre Raumerzeugung durch Praktiken als theoretische Grundlage für ihre Konzeption von intimen Räumen. Auch ohne die begriffliche Differenzierung zwischen Ort und Raum wird gezeigt, dass das Nibelungenlied narrative Praktiken – unter anderem in Form von Perspektivwechseln – anwendet, um etwa aus öffentlichen Räumen erst intime Räume für Intrige oder Verrat herzustellen.84 In ihrer je eigenen Reichweite zeugen insbesondere die Arbeiten von Stock/Vöhringer, Lechtermann und Hammer davon, dass sich de Certeaus Theorie für die literaturwissenschaftliche Untersuchung mittelalterlicher Literatur fruchtbar machen lässt. Ein Transfer von de Certeaus Theorie in die mediävistische Literaturwissenschaft hat sich also bislang als durchaus fruchtbar erwiesen. So eröffnet sich auch für die Gartenszenen ein phänomenologisch orientierter Zugang, der die Erzählung von dynamischen Wahrnehmungs-, Bewegungs- und Handlungsvollzügen von leiblichen Subjekten, hier Figuren, in den Blick nimmt. Bei der Untersuchung von Raumimagination gehen Haiko Wandhoff und Carsten Morsch ähnlich vor und folgen damit außerdem der Arbeit von Erwin Kobel85 aus dem Jahr 1951, die Raum und Leiblichkeit im Konzept des erlebten Raums in einen engen Zusammenhang setzt. Den Gattungen Heldenepik, Mystik und dem Minnesang weist Kobel je spezifische Ausprägungen dieses Raumerlebens zu. Sein im Vergleich zur damaligen Forschung „gänzlich andere[r] Ansatz“86 zeichnet sich durch ein reflektiertes Verständnis von Raumkonzepten aus, wurde jedoch nur wenig rezipiert. Haiko Wandhoff stellt bei der Untersuchung mittelalterlicher Kunstbeschreibungen fest, dass ihnen häufig architektonisch realisierte Räumlichkeit eigen ist und dass das Betrachten des Beschriebenen dem motorischen Durchwandern von Räumlichkeit nachgebildet ist. Er betont, wie zentral Leib- und Bewegungsorientierung für Raum-

 Vgl. Christina Lechtermann: Topography, Tide and the (Re-)Turn of the Hero. Battleground and Combat Movement in Wolfram’s Willehalm. In: Spatial practices. Medieval/Modern. Hrsg. von Markus Stock, Nicola Vöhringer. Göttingen 2014 (Transatlantische Studien zu Mittelalter und Früher Neuzeit. 6), S. 89–122.  Vgl. Hammer, Räume erzählen. Für Konzeption und Ergebnisse zu intimen Räumen, vgl. S. 128–130 und S. 240–287.  Vgl. Erwin Kobel: Untersuchungen zum gelebten Raum in der mittelhochdeutschen Dichtung. Horgen-Zürich 1951.  Glaser, Held und sein Raum, S. 32.

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Narrative Erzeugung von Raum

imagination sind. Literatur hat demnach die Fähigkeit, mithilfe von Erzählen und Bildlichkeit Imaginationen zu stimulieren, die denen des Kinos ähnlich sind.87 Wandhoff spricht daher von der Literatur auch als Pré-Cinema.88 Leiblichkeit, Bewegung und Raum stehen bei ihm in ähnlich enger Verbindung wie bei de Certeau. Auch Carsten Morsch betont die Verfasstheit des Leibes als zentrale Voraussetzung für Raumempfinden und Raumimagination. Überzeugend erscheint seine Feststellung, dass Literatur mit real vorhandenen Wahrnehmungsroutinen spielt und dies in Verbindung mit Blickwendungen nutzt, um Raum zu imaginieren. Brüche der Routinen sorgten dafür, dass die reale leibliche Verortung des Rezipienten jedoch immer präsent bleibe, wodurch Leiblichkeit nicht nur im Erzählen selbst, sondern auch in der Rezeption und Imagination zentral werde. Spannungen zwischen Wahrnehmungs- und Erzählfeld macht die Literatur so produktiv nutzbar.89 Der von Morsch beobachteten Raumerzeugung sind darüber hinaus Immersionseffekte eigen, nach denen man auch mit Blick auf die Gartenszenen fragen sollte.90 Obwohl die zuletzt genannten Arbeiten keinen direkten bzw. ausführlichen Bezug auf Michel de Certeau nehmen, akzentuieren sie ebenfalls, aber mit dem konkreten Blick auf den höfischen Roman, die Rolle von Bewegung und Wahrnehmung für die Erzeugung von Raum. Weiterhin zeichnet diese phänomenologisch inspirierten Arbeiten, die nach der Erzeugung von Raumimagination in kleinen Erzählausschnitten – etwa einzelnen Szenen oder Beschreibungen – fragen, ein performatives Verständnis von Raum aus, so dass sie sich als durchaus anschlussfähig für die Erkenntnisse Michel de Certeaus erweisen. Raum wird hier wie dort als etwas verstanden, das erst im sich vollziehenden körperlichen oder narrativen Akt erzeugt beziehungsweise wirksam wird.91 Daher bedürfe der Raum, so Morsch, einer fortwährenden Aktualisierung.92 In ihrer phänomenologischen Ausrichtung und dem performativen Verständnis von Raum stellen Arbeiten wie diese einen wichtigen Konnex zwischen der Nutzung von de Certeaus Begriffscluster und den spezifischen Bedingungen des höfischen Erzählens innerhalb einer Kultur der Sichtbarkeit her. Die referierten Arbeiten untersuchen

 Vgl. Haiko Wandhoff: Ekphrasis. Kunstbeschreibungen und virtuelle Räume in der Literatur des Mittelalters Berlin/New York 2003 (Trends in Medieval Philology. 3).  Vgl. Wandhoff, Ekphrasis, S. 330.  Das zeigen Morsch und Lechtermann in einem gemeinsamen Aufsatz für die Gawan-Partien des Parzival. Die massiven Orientierungsschwierigkeiten und räumlichen Störungen, denen Gawan und mit ihm der Rezipient ausgesetzt ist, zeichnen diese Partien nach Meinung der Autoren aus. Vgl. Christina Lechtermann, Carsten Morsch: auf spiegelglattem Estrich – Irritation in literarischer Raumerfahrung. In: SuL 35,2 (2004), S. 64–89.  Vgl. Carsten Morsch: Blickwendungen. Virtuelle Räume und Wahrnehmungserfahrungen in höfischen Erzählungen um 1200. Berlin 2011 (Philologische Studien und Quellen. 230).  Perfomativität wird hier im Anschluss an John L. Austin gebraucht. Vgl. Velten, Performativitätsforschung, S. 550.  Vgl. Morsch, Blickwendungen, S. 31–33.

Vorhaben und Fragestellungen

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allerdings in erster Linie narrative Verfahren, etwa im Kontext des Blickes oder im Rahmen von Kunstbeschreibungen. Sie können die narrative Raumerzeugung des erzählten Nahraums daher immer höchstens anteilig behandeln. Dem Aufbau eines homogenen Handlungs- und Wahrnehmungsraums in der Sukzession des Erzählens widmet sich Hans Rudolf Velten am Beispiel der ersten Baumgartenszene des Tristan. Grundlage der Erkenntnisse ist eine detaillierte Textlektüre, die nach der Funktion von deiktischen Prozeduren, Raum- und Richtungswörtern, Bewegungsverben und Präpositionen für die Raumerzeugung fragt.93 Für Velten steht somit die sprachliche Vermittlung im Vordergrund, mit deren Hilfe Raum performativ erzeugt wird. Ähnlich überzeugen auch die Arbeiten von Hartmut Beck,94 Andrea Glaser95 – wenn auch narratologisch wenig fundiert – und Lea Braun96 darin, dass die Betrachtung dieser erzählten Nahräume der Frage nach deren Semantisierung unbedingt vorausgehen sollte. Unerlässlich ist das gerade, wenn man wie Velten feststellt, dass dem Raum selbst eine gewisse Handlungsmacht zukommt.97 Die mediävistische Auseinandersetzung mit dem Raum hat Michel de Certeaus Überlegungen zu Ort und Raum, ihren Aneignungs- wie Repräsentationsformen demnach bereits in Ansätzen und vor allem für die auszugsweise Untersuchung der Narration des erzählten Nahraums fruchtbar gemacht. Studien zur raumkonstituierenden Wirkung des Blicks und zur Rolle der Raumimagination in der mittelalterlichen Ekphrasis verfügen ähnlich wie de Certeau über einen phänomenologischen Zugang und ein performatives Verständnis von Raum. Sie legen gemeinsam mit den Erkenntnissen Paul Zumthors nahe, dass die narrative Erzeugung von Raum in der mittelalterlichen Erzählliteratur unter anderem durch die Einbindung des Leibes bewerkstelligt wird. Der Zugang Michel de Certeaus eignet sich daher offenbar besonders für eine Erzählliteratur, die in eine Kultur der Sichtbarkeit eingebettet ist, in der performative, leibliche Vollzüge und Visualisierung eine herausragende Rolle spielen.

3.4 Vorhaben und Fragestellungen Kehrt man mit dieser theoretischen Grundlegung durch das Begriffscluster Michel de Certeaus nun zu den Beispielen vom Anfang des Kapitels zurück, ergeben sich für beide Baumgärten aufschlussreiche Einordnungen für das Erzählen von Räumlich-

 Velten, Sprache und Raum, S. 23–47.  Vgl. Hartmut Beck: Raum und Bewegung. Untersuchungen zu Richtungskonstruktionen und vorgestellter Bewegung in der Sprache Wolfams von Eschenbach. Erlangen/Jena 1994 (Erlanger Studien. 103).  Vgl. Glaser, Held und sein Raum.  Vgl. Lea Braun: Transformation von Herrschaft und Raum in Heinrichs von Neustadt Apollonius von Tyrland. Berlin/Boston 2018 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte. 95).  Vgl. Velten, Sprache und Raum, S. 44–47.

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Narrative Erzeugung von Raum

keit. In der Gartenszene aus Mai und Beaflor wird ein Ort (lieu) initialisiert. Über die symbolische Aufladung und die Abgrenzung nach außen wird ein eigener Ort etabliert, der die besonders lobenswerten Herrschereigenschaften in Perfektion abbildet. Dem Ort kommt damit eine eindeutige und stabile Bedeutung im Text zu. Der Wahrnehmung aus der übergeordneten Warte entspricht die Aneignung im Sehen, denn wie dargelegt spielt die Bewegung innerhalb des Gartens fast keine Rolle. Der Erzähler berichtet aus einer panoptischen Perspektive über das Treiben im boumgarten, wobei die Raumbewegung und das Raumerleben der Figuren nicht zu bestimmenden Themen der Szene werden. Im Gegensatz dazu eignen sich sowohl Tristan, der Marjodo vorausgeht, als auch Marjodo selbst den boumgarten in ihrer Durchgangsbewegung an. Die Figurenbewegung dynamisiert den Baumgarten, verleiht ihm Gerichtetheit und erzeugt so im Sinne Michel de Certeaus einen Raum (espace). Indem sie den boumgarten durchqueren eignen sich Tristan und Marjodo offenbar einen Raum an, dessen kulturelle Architektur normalerweise durch Aufenthalte von Liebenden, Festteilnehmern oder Höflingen auf der Suche nach Zerstreuung bestimmt ist. Die verfolgte Spur im Schnee scheint von einer subversiven Nutzung des Baumgartens als Durchgangsraum zu künden. Das nächtliche Geschehen wird aber nicht vom entrückten Standpunkt eines Erzählers geschildert. Vielmehr wirkt es, als versetze sich der Rezipient in die Position von Tristans Freund, begleite ihn und vollziehe dessen Wahrnehmungen nach. Das Sehen spielt in dieser Szene aus einer teilnehmenden, bewegten Perspektive eine wichtige Rolle. Die Gartennatur wirkt offenbar selbst an einer Dynamisierung des Raums in der Imagination mit, wenn sie erst zentrale Wahrnehmungen für Marjodo ermöglicht. Ausgehend von den skizzierten Überlegungen Michel de Certeaus steht die performative Erzeugung des boumgarten als Raum (espace), ihre Auswirkung auf die Handlung und womöglich auch auf die Erzählung als Ganzes im Fokus der vorliegenden Untersuchung. Das Vorstellungskonzept des boumgarten als Schwellenraum bildet eine kulturelle Architektur, die das Erzählen von und im Baumgarten ebenso inszeniert wie ausdifferenziert und zu der es sich auf spezifische Weise verhält. Der phänomenologische Grundgedanke, der in de Certeaus Trias Raum – Gehen – Wegstrecke steckt, soll die Untersuchung leiten. Er lenkt die Konzentration auf die narrativen Mittel, mithilfe derer Raum durch dynamische Wahrnehmungs-, Bewegungs- und Handlungsvollzüge von leiblichen Subjekten, hier Figuren, entsteht. Da sich das Raumerleben vom 10. bis zum 15. Jahrhundert, wie Paul Zumthor darlegt, vor allem durch das individuelle, oft affektiv aufgeladene Verhältnis des Körpers zum konkreten Raum auszeichnet,98 spielen die Reflexe von Leiblichkeit in der mittelalterlichen Literatur eine wichtige Rolle.

 „Pour l’homme du Xe siècle, du XVe encore, son corps n’était pas autre que son mode spatiotemporel d’existence, exemple physique et conceptual de tout ce qui, dans l’espace, se pose ou se meut.“ Zumthor, La mesure du monde, S. 18 f.

Vorhaben und Fragestellungen

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Leibliche Bewegung und sinnliche Wahrnehmung der Figuren werden narrativiert und an den Rezipienten übergeben. Er kann über die Erfahrungen dieses subsidiären Leibs der Figur eine Raumvorstellung entwickeln: Stellvertretend für die Rezipienten bewegt er [der subsidiäre Leib, T.S.] sich durch räumliche Anordnungen, handelt in ihnen und hat währenddessen vielfältige Sinneseindrücke. Über die gelungene Vermittlung des von ihm eingenommenen Wahrnehmungsfeldes werden die Rezipienten unmittelbar in die beschriebenen oder dargestellten Räume einbezogen. Mit ihrem Leib versetzen sie sich in die Räume hinein.99

Im Vorfeld der Analyse sind narrative Strategien zu identifizieren, die multimodale Wahrnehmung, Perspektive, Blick, Bewegung und Sequenzialität, kurzum die Wahrnehmungs- und Erlebnisqualitäten der Wegstrecke,100 auserzählen. Es ist zu zeigen, inwiefern das leibliche In-der-Welt-Sein auch für die narrative Ausgestaltung der Baumgartenszenen von Bedeutung ist, beispielsweise indem die Erzählung eine Versetzung der Origo in den erzählten Raum hinein ermöglicht. Dieses Instrumentarium dient dazu, die narrative Erzeugung des boumgarten als Handlungs- und Imaginationsraum zu analysieren. Eine systematische Untersuchung der ausgewählten Baumgartenszenen, wie sie hier angestrebt wird, leistet darüber hinaus dreierlei. An die Analyse der narrativen Erzeugung des boumgarten als Raum schließt erstens die Frage nach der Funktionalisierung des so erzeugten Baumgartenraums an. Ausgehend von der räumlichen Ausgestaltung der Baumgärten wird die semantische Codierung des Raums und der dort angesiedelten Handlung thematisiert. Wie wirken die Ausdifferenzierung des Baumgartens als Raum und die semantische Codierung von Raum und Handlung zusammen und welche Funktion kommt ihnen für die Handlung im Baumgarten zu? Das Beispiel aus Gottfrieds von Straßburg Tristan hat etwa gezeigt, dass auch die Gartennatur selbst Handlungsmacht entwickelt und so direkten Einfluss auf das Geschehen nimmt. Es gilt zu verdeutlichen, ob und wie die Erzählung den boumgarten als Schwellenraum auserzählt und sich zu seiner kulturellen Architektur verhält. Wie bereits angedeutet ist es denkbar, dass sich der boumgarten aufgrund seiner besonderen räumlichen und semantischen Stellung als Raum innerhalb der höfischen Erzählwelt herausstellt, dem ein besonderes Handlungs- oder Konfliktpotential eigen ist. Zweitens sollen die Baumgartenszenen jeweils am Ende der Analysen auch auf ihre Funktion für die gesamte Handlung betrachtet werden. Lässt sich die obige Hypothese, dass der boumgarten ein besonderes Handlungs- oder Konfliktpotential besitzt, belegen, liegt die Vermutung nahe, dass sich im boumgarten Handlungen zutragen, die auch für die Makrostruktur der Erzählung von Bedeutung sind. Wenn sich im boumgarten als zunächst allgemein verfügbarem, überindividuellen Vorstellungskonzept

 Wagner, Dickicht der Schritte, S. 203.  Vgl. Wagner, Dickicht der Schritte, S. 199.

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Narrative Erzeugung von Raum

kulturelle Ordnungen niederschlagen, verhalten sich die Taktiken, die den boumgarten dynamisieren und zum Raum machen, immer auf eine bestimmte Art und Weise zu dieser Ordnung. Wertvorstellungen oder implizite Verhaltensnormen finden Bestätigung, können aber ebenso gut unterlaufen und in Frage gestellt werden. Wie wirkt sich die räumliche und semantische Inszenierung des polyvalenten Schwellenraums möglicherweise also über die Szene hinaus auf die gesamte Erzählung aus? Als Teil der demeure, der sich gleichzeitig durch diesen Schwellencharakter auszeichnet, käme dem Baumgarten dann womöglich das Potential zu, wiederkehrende Konflikte und Probleme der höfischen Gesellschaft innerhalb des höfischen Romans ins Bild zu setzen. So ist etwa an der Baumgartenszene des Erec zu überprüfen, inwieweit die Konstruktion des boumgarten als Handlungsraum die räumliche und soziale Isolation des Paares als Problem für die Isolierten und auch die höfische Gesellschaft markiert. Verhandelt die Erzählung durch die Konstruktion des boumgarten die Frage, wie viel Isolation oder Heimlichkeit innerhalb der höfischen Gesellschaft tolerabel oder aber gefährlich ist? Ausgehend von den Erkenntnissen zu den oben erläuterten Analysekomplexen lässt sich schließlich drittens beurteilen, ob und inwiefern ein Raumerzählen auszumachen ist, das spezifisch für Räume der demeure ist. Zumthor betont die Stabilität und Vertrautheit des Hier, das die Räume der demeure im mittelalterlichen Raumerleben auszeichne. Die Analyseergebnisse sind entsprechend darauf zu befragen, ob sich der boumgarten als Teil der demeure ebenfalls durch eine besondere Stabilität auszeichnet. Eine solche Persistenz kann zum einen die Erzählwelt betreffen. Während die Räume des Unterwegsseins (chevauchée) flüchtig und stark auf die Bewegung des Helden hin funktionalisiert sind, kann der boumgarten als Handlungsraum erzeugt werden, der auch außerhalb der eigentlichen Szene als Teil der Erzählwelt für die Narration verfügbar gehalten wird und auf den zurückgegriffen wird. Eine solche Form der räumlichen Stabilität ginge auch mit einer erhöhten Stabilität des Imaginationsraums boumgarten einher. Wird in der Baumgartenszene ein Raum erzeugt, den der Rezipient im Verlauf der weiteren Handlung erneut aufrufen kann oder gar muss? Paul Zumthor und Michel de Certeau betonen, vor allem in Anlehnung an Maurice Merleau-Ponty, den großen Einfluss der Leiblichkeit auf die menschliche Wahrnehmung und Repräsentation von Raum.101 Dass dies insbesondere für die mittelalterliche Kultur und Literatur gilt, zeigt Zumthors Studie. Für die Beantwortung dieser Frage scheint interessant, wie die Szenen die leibliche Verankerung der Figuren in der Erzählwelt narrativieren, wie und mit welchem Effekt die Erzählung die Figuren zu subsidiären Leibern für den Rezipienten macht. Sorgt die Versetzung des Rezipienten in die Origo einer Figur, als Ausgangspunkt der räumlichen Orientierung, für eine konsistentere Raumimagination, die längerfristig reaktiviert werden kann?

 Vgl. auch Böhme, Raum – Bewegung – Grenzzustände der Sinne, S. 53–72.

Vorhaben und Fragestellungen

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Die vorliegende Arbeit bietet somit zum einen eine systematische Untersuchung zur narrativen Erzeugung des boumgarten als Handlungs- und Imaginationsraum im höfischen Roman und beleuchtet die Funktionalisierung des boumgarten für die Baumgartenszene auch mit Blick auf die Makrostruktur der Erzählung. Zum anderen kann dieses raumtheoretische Vorhaben einen Beitrag zur Frage nach einer spezifischen Konstruktion der sprachlich-narrativen Raumerzeugung von Räumen des höfischen Bleibens (demeure) leisten.

4 Strategien der Raumerzeugung Raum (espace) wird im Anschluss an Michel de Certeau durch Bewegung, Richtung und Dreidimensionalität erzeugt. Der Modus der Wegstrecke (parcours) erzeugt in der bewegten und gerichteten Handlung Raum. Diese „raumbildende[n] Handlungen“1 werden von einem im erzeugten Raum befindlichen Standpunkt aus, in einer Art ‚Mitsicht‘ also, narrativiert. Im Transfer der Überlegungen de Certeaus auf die narrative Erzeugung des boumgarten als Raum bedeutet das: Wird der boumgarten als Raum im höfischen Roman erzählt, so wird er mithilfe solcher narrativer Strategien erzählt, die ihm im Verlauf des Erzählens als Imaginationsraum eben jene Richtung, Ausdehnung und Dynamik verleihen und ihn aus einer teilnehmenden Perspektive plastisch und dreidimensional vorstellbar machen. Da die Figuren analog zum Menschen in seiner realen Lebenswelt Teil der Erzählwelt sind, erzählen die narrativen Strategien damit das In-der-(Erzähl-)Welt-Sein der Figuren. Indem der boumgarten als Raum erzeugt wird, verhält sich die Erzählung in der narrativen Ausgestaltung seines polyvalenten Schwellencharakters auch zur kulturellen Architektur des Baumgartens. Die kulturelle und semantische Ordnung wird dynamisiert und für die vorliegende Szene funktionalisiert. So kommentiert die Erzählung die Ordnung gewissermaßen und kann sie sogar konterkarieren oder in Frage stellen. Der Gartenraum und die Aktivität, die zu seiner Erzeugung führt, sind an der semantischen Codierung der erzählten Szene und ihrer Handlung beteiligt. Ein mit Richtung und Relationen versehener und als gemeinsamer Wahrnehmungsraum erzeugter Raum hat demnach eine wichtige Funktion für die mit und in diesem Raum erzählte Handlung. Die performative Erzeugung von Bedeutung in Zusammenhang mit dem Raum ist in der mittelalterlichen Kultur und Literatur in einem besonderen Maße ausgeprägt. Nicht nur die referierten Versuche, de Certeaus Begriffscluster für die literaturwissenschaftliche Analyse mittelalterlicher Literatur fruchtbar zu machen, rechtfertigen daher den Transfer dieses Raumkonzepts. Es ist die Beschaffenheit der mittelalterlichen Kultur selbst und der große Einfluss von körperlichen und raumgebundenen Vollzügen, die ein performatives Verständnis von Raum legitimieren. In der mittelalterlichen Kultur der Sichtbarkeit werden Macht, Status, Herrschaft und Öffentlichkeit durch körperliche Vollzüge ausagiert und so visualisiert. Gebunden an den Körper und den Raum werden beispielsweise zunächst unsichtbare, aber immens wichtige Beziehungsgeflechte und Konfliktpotentiale nicht einfach nur vorgeführt. Im Raum der gemeinsamen Präsenz werden sie – für alle Teilnehmer multisensorisch wahrnehmbar – erst hergestellt. Diese Eigenschaften der mittelalterlichen Kultur verlangen ihren Teilnehmern die elementare

 De Certeau, Kunst des Handelns, S. 221. https://doi.org/10.1515/9783110795455-004

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Fähigkeit ab, Bewegungen, Haltungen, Blicke und räumliche Verhältnisse zu lesen, damit Kommunikation gelingt.2 Der historische Sitz der höfischen Literatur in dieser Kultur der Sichtbarkeit wirkt maßgeblich auf ihr Erzählen.3 Die „dialogische Struktur der leibgebundenen Kommunikation“4 wird – als ‚Repräsentation der Repräsentation‘ – in ein poetisches Programm der höfischen Literatur überführt. All die raum- und leibgebundenen Aspekte, die für das Verstehen einer Handlung in der face-to-face-Kommunikation so zentral sind, werden textuell und in ihrer Dynamik für den Verstehensprozess des Rezipienten eingesetzt. Mithilfe narrativer (Vertextungs-)Strategien sorgt die höfische Literatur dafür, dass die ‚Lesbarkeit der Körper‘, wie sie im Raum der gegenseitigen Wahrnehmung gegeben ist, bewahrt wird.5 Um einen gemeinsamen Wahrnehmungsraum in der Imagination zu erzeugen, richtet das Erzählen sein Augenmerk auf körperliche und im Raum situierte Vollzüge. Die Figuren und ihre Bewegungen dienen dem Rezipienten als Origo der Wahrnehmung. Die Erzählstrategien appellieren an das sensomotorische Körpergedächtnis der Rezipienten und die Figuren werden zu subsidiären Leibern.6 Ihre Verortung und Be-

 In Form einer unabgeschlossenen Auswahl sei unter anderem hingewiesen auf Horst Wenzel: Hören und Sehen, Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter. München 1995 (Öffentliche Vorlesung. 46); Christina Lechtermann: Berührt werden. Narrative Strategien der Präsenz in der höfischen Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts. Berlin 2005 (Philologische Studien und Quellen. 191); Horst Wenzel, C. Stephen Jaeger (Hrsg.): Visualisierungsstrategien in mittelalterlichen Bildern und Texten. Berlin 2006 (Philologische Studien und Quellen. 195); Horst Wenzel: Spiegelungen. Zur Kultur der Visualität im Mittelalter. Berlin 2009 (Philologische Studien und Quellen. 216); Hans Rudolf Velten: Visualität in der höfischen Literatur und Kultur des Mittelalters. In: Handbuch Literatur & Visuelle Kultur. Hrsg. von Claudia Benthien, Brigitte Weingart. Berlin/Boston 2014 (Handbücher zur kulturwissenschaftlichen Philologie. 1), S. 304–320.  Carsten Morsch formuliert diesen Umstand sehr pointiert so: „[i]nsbesondere die volkssprachige Literatur kann nur dann angemessen begriffen werden, wenn sie vor dem Hintergrund einer auf das Körpergedächtnis hin orientierten Interaktion in raumzeitlicher Kopräsenz gelesen wird.“ Morsch, Blickwendungen, S. 110.  Horst Wenzel: Beidhändigkeit. Schauplätze und deiktische Gebärden in Bildern und Texten der Vormoderne. In: Deixis und Evidenz. Hrsg. von dems., Ludwig Jäger. Freiburg i. Br./Berlin/Wien 2008 (Scenae. 8), S. 14.  „Die Schrift zielt darauf ab, die Sichtbarkeit der nonverbalen Zeichen und die ‚Lesbarkeit‘ der Körper zu bewahren, wie sie uns im Raum der wechselseitigen Wahrnehmung gegenübertreten.“ Christina Lechtermann, Horst Wenzel: Repräsentation und Kinästhetik. Teilhabe am Text oder die Verlebendigung der Worte. In: Paragrana 10,1 (2001), S. 203.  Gebräuchlich ist für diesen Umstand in der Forschung auch der Begriff ‚Assistenzfigur‘, den unter anderem Horst Wenzel in seinen Arbeiten zu Visualisierungsstrategien benutzt. Vgl. dazu beispielhaft Wenzel, Spiegelungen, S. 122–164. Synonym zu ‚Assistenzfigur‘ wird hier der Begriff ‚subsidiärer Leib‘ (einer Figur) benutzt. Die Assistenzfigur bzw. der subsidiäre Leib wirken als Appell an das sensomotorische Körpergedächtnis des Rezipienten und reizen so zur Versetzung in den Schauraum. Mit Bezug auf Christiane Voss spricht Michael Cuntz außerdem von der wahrnehmenden Figur als Leihkörper. Vgl. Cuntz, Deixis, S. 62 f.

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wegung im Raum kann der Rezipient imaginativ nachvollziehen. Das Ziel dieser narrativen Strategien ist es, darauf hat Horst Wenzel in seinen Studien zu Visualisierungsstrategien und Visualität höfischer Literatur mehrfach hingewiesen, den Rezipienten multisensorisch am Erzählten partizipieren zu lassen.7 Der Raum und die Bewegung der Körper im Raum werden so erzählt, dass sich in einem Prozess der Aneignung für den Rezipienten ein literarischer Schauraum konstituiert, in den sich der Rezipient imaginativ hineinversetzen kann. Bevor im Rahmen dieses Kapitels narrative Strategien bestimmt und in ihrer Auswirkung auf die Raumimagination diskutiert werden, lohnt ein kurzer Blick auf die Imagination als Verarbeitungsinstanz dieser Strategien. Der Platz, an dem der Schauraum der Literatur entsteht und seine Wirkung entfaltet, ist die imaginatio. Sie zählt man seit dem Frühmittelalter neben der ratio und der memoria zu den grundlegenden Geistesvermögen. Gemäß der Rhetorik bewerkstelligt die imaginatio das innere Sehen und macht aus Gelesenem eine bildliche Vorstellung. Nicht nur die antike Rhetorik und die mittelalterliche ‚Kognitionspsychologie‘, sondern ebenso moderne neurowissenschaftliche Erkenntnisse nehmen an, dass Lesen und Sehen die Imagination auf vergleichbare Weise anregen.8 Auch wenn der Sehsinn bei den inneren Bildern sehr prominent ist, vermag es die imaginatio, sie zu einer multisensorischen Wahrnehmung zu machen. Evidentia als eine rhetorische Technik, die den Hörer oder Leser zum Augenzeugen machen will, zielt darauf ab, mit sprachlichen Mitteln Augenscheinlichkeit so überzeugend zu fingieren, dass die Adressaten meinen, das Dargestellte selbst wahrzunehmen.9

Eine vermehrte Übersetzungstätigkeit beispielsweise von Aristoteles’ oder Avicennas Werken sorgt im 12. Jahrhundert für eine gesteigerte Beachtung der Überlegungen zur „bildgenerierenden Instanz“ der imaginatio. Diese Entwicklung hat wohl auch auf die Dichter der höfischen Literatur gewirkt.10 Dass die Imagination multisensorische und dynamische Vorstellungsbilder hervorbringt, liegt zwar dem Vermögen nach in ihrer Natur. Nichtsdestotrotz bedarf es der angesprochenen narrativen Strategien, um dieses Vermögen zu aktivieren. Indem die Erzählung Sinneswahrnehmungen der Figuren und deren körperliche Bewegung

 Vgl. Wenzel, Spiegelungen, S. 136.  Zeitgenössische Imaginationslehren verorten den ‚echten‘ Wahrnehmungseindruck im Gehirn an der gleichen Stelle wie die aus Gelesenem erzeugten Vorstellungsbilder. Vgl. Carsten Morsch: Bewegte Betrachter. Kinästhetische Erfahrung im Schauraum mittelalterlicher Texte. In: Kunst der Bewegung. Kinästhetische Wahrnehmung und Probehandeln in virtuellen Welten. Hrsg. von Christina Lechtermann, dems. Bern/Berlin/Brüssel 2004 (Publikation zur Zeitschrift für Germanistik N.F. 8), S. 68.  Ludwig Jäger/Horst Wenzel: Einleitung. In: Deixis und Evidenz. Hrsg. von dens. Freiburg i. Br./Berlin/Wien 2008 (Scenae. 8), S. 8 (Hervorhebung im Original).  In dieser knappen Darstellung zur imaginatio orientiere ich mich an den Darstellungen Haiko Wandhoffs, dem es gelingt, präzise und pointiert einen Bogen von der antiken Rhetorik über die mittelalterliche Kognitionslehre bis hin zu modernen Neurowissenschaften zu schlagen. Vgl. Wandhoff, Ekphrasis, S. 20–30.

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durch den Raum auserzählt, appelliert sie an das Körpergedächtnis. Der Rezipient wird dazu animiert, seinen eigenen imaginierten Körper in die Origo einer wahrnehmenden oder sich bewegenden Figur hineinzuversetzen.11 Diese Vorstellung vom eigenen Körper als zusammengehörigem Ganzen, seiner Haltung und seinem Verhältnis zur Welt bezeichnet Maurice Merleau-Ponty in seiner Phänomenologie der Wahrnehmung als Körperschema.12 Es ermöglicht die Nachahmung und den Nachvollzug von fremden oder beobachteten körperlichen Vollzügen und ist unmittelbar für die Erfahrung der Welt und des eigenen In-der-Welt-Seins verantwortlich. Denn: „[S]o müssen wir doch, um den Raum uns vorstellen zu können, zuvor allererst durch unseren Leib in ihn eingeführt sein“.13 In einem beständigen Vermittlungsprozess zwischen dem realen Körper und dem imaginierten Körper, dem Körperschema, werden erzählte Erfahrungen so zu Erfahrungen am eigenen Leib.14 Die Figuren werden zur Origo von Wahrnehmungen, Blicken und Bewegungen, in die sich der Rezipient hineinversetzen kann. Durch seine Verankerung im Raum – unmittelbar im Raum der realen Welt, mittelbar durch die Figuren im Raum der Erzählwelt – hat der Leib15 unter anderem in seiner Axialität und seinem egozentrischen Referenzsystem entscheidenden Einfluss auf die narrative Erzeugung von Raum.16 Auf das performative Potential von höfischer Literatur haben insbesondere Christina Lechtermann, Carsten Morsch und Horst Wenzel hingewiesen. Denn: „Die Körperenergie der performativen Akte fördert auch aufseiten der (literarischen) Beobachter eine multisensorische Bewegung, die affektive Teilhabe des Körpers als eine Wahrneh-

 Vgl. Wenzel, Spiegelungen, S. 47.  Merleau-Ponty betont dabei den umfassenden und organischen Charakter des Körperschemas, das mehr als eine Ansammlung von einzelnen Körperteilen ist: „In gleicher Weise ist auch mein Körper für mich kein Gerüst räumlich zusammengestellter Organe. Ich habe ihn inne in einem unteilbaren Besitz, und die Lage eines jeden meiner Glieder weiß ich durch ein sie alle umfassendes Körperschema.“ Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 123 (Hervorhebung im Original).  Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 171.  Vgl. Morsch, Bewegte Betrachter, S. 65. Matthias Däumer nutzt für seine Studie Jacques Lacans Konzept des Körperschemas. Er untersucht dabei, inwiefern performative Potentiale eines Textes in der Aufführungssituation aktualisierbar sind: „Dabei ist es [das Körperschema, T.S.] vom Wesen her imaginiert, also ein Repräsentant, der jedoch die Tendenz besitzt, eng am realen Leib geführt zu werden und […] von der Repräsentation zur wahren Präsenz der leiblichen Erfahrung führen kann.“ Matthias Däumer: Stimme im Raum und Bühne im Kopf. Über das performative Potential der höfischen Artusromane. Bielefeld 2013 (Mainzer Historische Kulturwissenschaften. 9), S. 93.  Die Begriffe ‚Leib‘ und ‚Körper‘ werden begrifflich nicht weiter differenziert und synonym verwendet.  Morsch konzentriert seine Untersuchungen auf Szenen der höfischen Literatur, in denen es zu einem Wechselspiel aus Immersion in die Erzählwelt und Reflexion – in Form einer Rückwendung auf die aktuelle Rezeptionssituation – kommt. Immersion könne nie vollständig sein, denn die Erzählwelt und die reale Welt der Rezeptionssituation blieben beständig in Spannung. Vgl. Morsch, Blickwendungen, S. 9–17.

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mung im extensiven Sinne von ‚Partizipation‘.“17 Unter den Begriffen ‚Kinästhetik‘ und ‚kinästhetische Wahrnehmung‘ fragen Lechtermann und Morsch danach, wie Medien jemanden als Wahrnehmenden in Bewegung versetzen, also welche Wahrnehmungsangebote etwa mittelalterliche Literatur macht, um den Rezipienten auf körperlichsinnlicher Ebene zu affizieren und in diesem Zusammenspiel mit dem Körper Sinn herzustellen.18 Kinästhetische Wahrnehmung bezieht sich auf narrative Strategien, die „über körperlich oder geistig ‚bewegte Teilhabe‘ einen solchen ‚rezipierenden Modus‘“ herbeiführen.19 Eine Untersuchung der performativen Erzeugung von Raum, wie sie hier angenommen wird, muss demnach unbedingt solche kinästhetischen Wahrnehmungsangebote der Erzählung beachten. Besonders vielversprechend erscheinen für die Raumimagination kinästhetische Bewegungsangebote, die es vermögen, den Rezipienten imaginativ im Raum in Bewegung zu bringen. Sich bewegende Figuren stellen dann subsidiäre Leiber dar, in die sich der Rezipient hineinversetzen kann. Systematisch bedeutet das: Je detaillierter eine Bewegung etwa in Bewegungsart, Startpunkt, Endpunkt und Weg erzählt wird, desto differenzierter kann die entstehende Raumimagination sein. Neben narrativen Verfahren, die an das sensomotorische Körpergedächtnis appellieren, sollen auch Blickbewegungen dem Instrumentarium hinzugefügt werden. Sie sind an eine Origo gebunden und durchmessen den Raum, selbst wenn der Blickende unbewegt bleibt. Blickbewegungen in ihren verschiedenen Ausformungen, die es im Folgenden zu differenzieren gilt, verleihen der Erzählung Dynamik und dimensionieren Raum. Blicke wurden im Rahmen von Visualisierungsstrategien bereits als narrative Strategien identifiziert,20 so dass sich auf diesen Erkenntnissen aufbauen lässt. Es gilt zu präzisieren, inwiefern Blicke nicht nur als Visualisierungsstrategie,

 Lechtermann/Wenzel, Repräsentation und Kinästhetik, S. 193. Christina Lechtermann und Carsten Morsch weisen in der Einleitung ihres Sammelbandes darauf hin, dass ein medientheoretischer Diskurs, der versucht, einem Medium einen je spezifischen Sinn zuzuweisen, Gefahr läuft, die Beteiligung des gesamten Körpers am Imaginationsprozess und die Synthese mehrerer Medien zu übersehen. Besonders fatal sei dieser Umstand angesichts der mittelalterlichen Medienkonstellationen. Vgl. Christina Lechtermann, Carsten Morsch: Einführung. In: Kunst der Bewegung. Kinästhetische Wahrnehmung und Probehandeln in virtuellen Welten. Hrsg. von dens. Bern/Berlin/Brüssel 2004 (Publikation zur Zeitschrift für Germanistik N.F. 8), S. V–VI. Der gesamte Band bietet theoretische Einordnungen und Analysen, die zeigen, wie solche blinden Flecken erhellt werden können.  Die Erkenntnis, dass auch Wahrnehmung selbst historisiert werden muss, stellt eine Grundüberzeugung des Sammelbandes dar. Eine solche Historisierung könne zeigen, dass Wahrnehmung und Bewegung, und damit auch der Körper, vor allem in der mittelalterlichen Kunst und Literatur untrennbar zusammengehören und sich Sinn nicht erst auf einer abstrakten Ebene jenseits der Wahrnehmung konstituiert. Vgl. Lechtermann/Morsch, Einführung Kunst der Bewegung, S. II–V.  Däumer, Stimme im Raum, S. 114. Matthias Däumer untersucht die medialen Bedingungen einer Bindung des Rezipienten an die fiktive Erzählwelt und befragt seine Texte auf eben solche kinästhetischen Wahrnehmungsangebote. Indem Däumer von einer performativen Umsetzung der Texte ausgeht, stehen theaternahe Aufführungspraktiken im Zentrum der Arbeit.  Vgl. hierzu vor allem Horst Wenzel: Augenzeugenschaft und episches Erzählen. Visualisierungsstrategien im Nibelungenlied. In: 800 Jahre Nibelungenlied. Rückblick – Einblick – Ausblick. Hrsg. von

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sondern auch als narrative Strategie zur Raumimagination verstanden werden können. Wiewohl Strategien, die an den Tast- oder Geruchssinn appellieren, methodisch nicht detaillierter ausgeführt werden, bedeutet es nicht, dass sie generell zu vernachlässigen wären. Auch sie können auf die Raumimagination und die semantische Codierung der Szene einwirken. Nicht immer treten die narrativen Strategien so separat auf, wie es die analytische Trennung suggeriert. Blicke und Bewegungen können ebenso gut kombiniert sein, wenn sich beispielsweise der Blickende durch den Raum bewegt oder sich das Objekt des Blicks bewegt. Ebenso wenig hiervon isoliert ist in der Regel eine dritte narrative Strategie, die auf Wort- und Satzebene zu finden ist. Deiktische Prozeduren stellen Beziehungen von Dingen im Raum her und sind doch immer an ihre Origo rückgebunden. Die Verwendung von deiktischen Prozeduren bietet dem Rezipienten, das hat schon Bühler konstatiert, eine Möglichkeit sich in die gebotene Origo zu versetzen, um nachzuvollziehen, was von ihrem Standpunkt aus geschildet wird.21 Im Gefolge der narrativen Strategien bilden die deiktischen Prozeduren gewissermaßen die kleinste Einheit. Sie helfen Blicke und Bewegung zu erzählen und ihre Verortung im Raum zu präzisieren, können jedoch auch in Form von descriptiones dazu beitragen, dem entstehenden Wahrnehmungsraum Struktur zu verleihen. Diese Herangehensweise schwingt sich allerdings nicht zu Mutmaßungen oder Vorhersagen über einen normativen Rezeptionsprozess auf. Die Analysen decken vielmehr auf, welche Techniken die Erzählungen anwenden, die Raumimagination zu lenken vermögen. Anhand eines close readings soll analysiert werden, wie die Erzählung den boumgarten sukzessive als Handlungs- und Imaginationsraum erzeugt und für die Handlung funktionalisiert.22 Da das performative Potential der Raumerzeugung eng mit der Rolle des Raums für die Handlung verknüpft ist, erscheint eine strikte Trennung zwischen der Analyse der räumlichen Ausgestaltung des Baumgartens und ihrer semantischen Codierung der Handlung nicht zielführend.23 Im Rahmen der Analyse sollen dementsprechend die Erkenntnisse zur Erzeugung des boumgarten als Wahrnehmungsraum immer auch auf ihre semantische Codierung hin untersucht werden. Grundlage hierfür bilden die Thesen Jurij M. Lotmans, dass Handlung in

Klaus Zatloukal. Wien 2001 (Pöchlarner Heldenliedgespräche. 6), S. 215–234; Wenzel, Spiegelungen; Morsch, Blickwendungen.  Die deiktischen Prozeduren sind ebenfalls im Kontext der Visualisierungsstrategien bereits als Angebot an den Rezipienten erkannt worden, eine Position innerhalb der Erzählwelt zu übernehmen. Vgl. Lechtermann/Wenzel: Repräsentation und Kinästhetik, S. 191–213. Gleichwohl wurden die deiktischen Prozeduren kaum ausführlich hinsichtlich ihrer Wirkung auf die Raumimagination analysiert.  Eine ähnliche Verortung der Herangehensweise betonen Starkey/Wenzel in ihrer Studie zur Wahrnehmung im Mittelalter. Vgl. Kathryn Starkey, Horst Wenzel: Einleitung. In: Imagination und Deixis. Studien zur Wahrnehmung im Mittelalter. Hrsg. von dens. Stuttgart 2007, S. 9.  Mit Bezug auf Dennerleins Studie plädiert auch Franziska Hammer dafür, die Analyse der Raumkonfiguration – anders als Dennerlein, die sich allein darauf konzentriert – mit der Semantisierung der Raumkonfiguration zu verbinden. Vgl. Hammer, Räume erzählen, S. 88 f.

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Erzählung auf grundlegende Weise räumlich strukturiert ist und dass sich an Räume der erzählten Welt jeweils semantische Felder mit nichträumlichen Bedeutungen anlagern.24 Solche nichträumlichen Codierungen von Raum können dazu beitragen, die Ausgestaltung der kulturellen Architektur des polyvalenten Schwellenraums boumgarten zu erfassen. Die makrostrukturelle Perspektive, die nach dem Stellenwert des Gartenraums und der Gartenszenen für die Gesamtinterpretation der Erzählung fragt, bildet den Abschluss der jeweiligen Analysen.

4.1 Deiktische Prozeduren In realen Räumen lassen Zeigegesten und die Verwendung von Deiktika, also Zeigewörtern, den Raum nicht erst entstehen. Vielmehr helfen sie dem Zuhörer, sich im Raum seiner körperlichen Anwesenheit zu orientieren, indem sie zum Beispiel mit hier auf den Ort des Sprechers im Raum zeigen. Auch in der Literatur kann gezeigt werden.25 Vor allem Karl Bühler und Konrad Ehlich untersuchten in grundlegender Weise, wie und mit welchen Veränderungen gegenüber der Sprechsituation das möglich ist. Denn in der Literatur ist der Raum, in dem auf etwas verwiesen werden soll, nicht präexistent, sondern wird erst im Rahmen der sprachlichen Zeigehandlung erzeugt. Sie macht kenntlich, worauf gezeigt wird und von wo die Zeigehandlung ausgeht. Bühler nennt diesen Nullpunkt, aus dem heraus die deiktische Prozedur26 erst verständlich und vollstellbar wird, die Origo. Stärker noch als in der face-to-face-Kommunikation greift die Literatur in der ‚zerdehnten Sprechsituation‘ zum Zwecke der Orientierung im Raum auf die „anthropologische Konstante ihrer Leiblichkeit“27 zurück.28 Das heißt, die Setzung und Versetzung der Origo in der Literatur involviert den Körper des Rezipienten

 Vgl. Lotman, Stuktur literarischer Texte. Dass Lotman selbst über die vermeintlich strenge Dichotomie zweier, gegensätzlicher semantischer Felder, die durch eine Grenze getrennt werden, hinausgeht und eine „Polyphonie der Räume“ (S. 328 f.) annimmt, betont Hammer in ihrer Einordnung von Lotmans Theorie. Vgl. Hammer, Räume erzählen, S. 71–75.  Sprachlich vermittelte Anschaulichkeit wirkt, darauf wurde bereits hingewiesen, genau wie eine Anschaulichkeit, die durch unmittelbare Sinneswahrnehmung ausgelöst wird. Vgl. auch Dietrich Krusche: Zeigen im Text. Anschauliche Orientierung in literarischen Modellen von Welt. Würzburg 2001, S. 80–81.  Mit Konrad Ehlich verstehe ich die ‚deiktische Prozedur‘ als Einbindung von Deiktika in sprachliches Handeln und somit als deren funktionale Einheit im Rahmen von Erzählungen. Vgl. Konrad Ehlich: Literarische Landschaft und deiktische Prozeduren: Eichendorff. In: Sprache und Raum. Psychologische und linguistische Aspekte der Aneignung und Verarbeitung von Räumlichkeit. Hrsg. von Harro Schweizer. Stuttgart 1985, S. 246–261.  Krusche, Zeigen im Text, S. 85.  Harald Weinrich zeigt auf, inwiefern sich Sprache an leiblichen Bedingungen und der Beschaffenheit der kommunikativen Dyade zwischen Hörer und Sprecher orientiert. Vgl. Harald Weinrich: Über Sprache, Leib und Gedächtnis. In: Materialität der Kommunikation. Hrsg. von Hans Ulrich Gumbrecht, K. Ludwig Pfeiffer. Frankfurt a.M. 1988 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft. 750), S. 80–93.

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in höherem Maße als bereits in der Kommunikation innerhalb einer geteilten Wirklichkeit. Sein Körperschema – Bühler spricht vom Körpertastbild, „d. h. der eigene imaginierte Körper“29 – wird bei der Verwendung von deiktischen Prozeduren in Literatur in einen imaginierten Vorstellungs- bzw. Imaginationsraum versetzt. Bühler bezeichnet diesen Vorstellungraum, in dem ebenfalls gezeigt werden kann, als ‚Phantasma‘ und den Akt des Zeigens im Vorstellungsraum als ‚Deixis am Phantasma‘. Das Körperschema sorgt dafür, dass der Rezipient die „Positionszeigwörter hier, da, dort und die Richtungsangaben vorn, hinten, rechts, links genauso am Phantasma wie in der primären Wahrnehmungssituation“30 verstehen kann. Die ‚Verdauerung‘ von sprachlichem Handeln in Literatur führe, so Konrad Ehlich, zur Veränderung deiktischer Prozeduren, wobei deren Leistungsfähigkeit und Funktionsweise erhalten und somit rekonstruierbar blieben.31 Indem der Erzähler eine deiktische Prozedur nutze, nehme er eine Fokussierung der Aufmerksamkeit innerhalb des zu entwerfenden Verweisraums vor. Dadurch fordere er den Rezipienten auf, seine Aufmerksamkeit auf einen speziellen Aspekt des Vorstellungsraums zu konzentrieren und einen gemeinsamen Fokus einzunehmen.32 Mit dieser Aufmerksamkeitsfokussierung nimmt die Deixis am Vorstellungsraum die Phantasie des Rezipienten gewissermaßen in einer captatio imaginationis33 gefangen. Indem sich die deiktischen Prozeduren der Leiblichkeit des Rezipienten bemächtigen und auf eine performative Wahrnehmung bei diesem zielen,34 tragen sie maßgeblich zu einer detaillierten und plastischen Raumvorstellung bei. Die Analyse deiktischer Prozeduren spekuliert aber nicht über

 Wenzel, Spiegelungen, S. 47. Mithilfe von deiktischen Prozeduren wird das Körpertastbild in den Vorstellungs- bzw. Schauraum der Literatur versetzt. In diesem Raum kann sich der Rezipient ausgehend von seinem eigenen Körperschema dann als subsidiärer Leib im Raum orientierten. Der von Bühler selbst verwedendete Begriff ‚Körpertastbild‘ darf im vorliegenden Kontext als synonym zu ‚Körperschema‘ (Merleau-Ponty) verstanden werden. Im Folgenden wird dem Begriff ‚Körperschema‘ aufgrund seiner phänomenologischen Fundierung und der direkteren Verknüpfung von Raum und Leiblichkeit der Vorzug gegeben.  Bühler, Sprachtheorie, S. 137 (Hervorhebung im Original).  Vgl. Konrad Ehlich: Deixis und Dichtung – Linguistische Überlegungen. In: Gesprochen, geschrieben, gedichtet: Variation und Transformation von Sprache. Hrsg. von Monika Dannerer. Berlin 2009 (Philologische Studien und Quellen. 218), S. 67–71.  Vgl. Ehlich, Literarische Landschaft, S. 246–261; Vgl. auch Konrad Ehlich: Deixis und Anapher. In: Sprache und sprachliches Handeln. Band 2: Prozeduren des sprachlichen Handelns. Hrsg. von dems. Berlin/New York 2007, S. 5–24, hier S. 19.  Vgl. Velten, Sprache und Raum, S. 32.  Vgl. Horst Wenzel: Wahrnehmung und Deixis. Zur Poetik der Sichtbarkeit in der höfischen Literatur. In: Visualisierungsstrategien in mittelalterlichen Bildern und Texten. Hrsg. von dems., C. Stephen Jaeger. Berlin 2006 (Philologische Studien und Quellen. 195), S. 18 f.

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Vorgänge beim Rezipienten. Sie sucht im Gegenteil nach Techniken, mit deren Hilfe der Text die Aufmerksamkeit und Imagination eines Rezipienten steuern kann.35 Raum erzeugen die deiktischen Prozeduren auf zweifache Weise. Erstens leisten sie die Versetzung des Körperschemas an eine Stelle innerhalb des vorzustellenden Raums. Das stellt eine Grundvoraussetzung dar, denn schon Bühler weist darauf hin, dass die eigentlichen Zeigwörter hier, jetzt und ich keine feststehende Bedeutung haben, also keine Nennwörter sind, sondern ihre Bedeutung immer nur im Zeigfeld der Sprache zu verstehen ist. Zu wissen, von wo aus also auf etwas verwiesen wird, ist elementar für das Verständnis und Gelingen der deiktischen Prozedur. Diese stellt zweitens eine räumlich spezifizierte Beziehung zwischen Origo und Verweisobjekt her. Das Verweisobjekt kann sich beispielsweise von der Origo wegbewegen oder in einem Raum positioniert sein, der vom Raum der Origo unterschieden ist. Im Syntagma der Erzählung können wiederholt räumliche Beziehungen hergestellt werden, die in ihrem Zusammenwirken einen plastischen Schauraum erzeugen, innerhalb dessen der Rezipient zum teilnehmenden Beobachter wird. Als narrative Strategie verleiht die deiktische Prozedur dem Schauraum Gerichtetheit und dynamisiert ihn. Auf diese Weise dient sie im Modus der Wegstrecke (parcours) der Erzeugung von Raum durch Bewegung und Richtung.36 Ehlich demonstriert diesen Effekt deiktischer Prozeduren in Analysen zu Eichendorffs Schloss Dürande. Neben Deiktika tragen auch Verben der sinnlichen Wahrnehmung zur Evokation einer Landschaft bei, die den Leser „in eine Unmittelbarkeit des vorstellenden Nachvollzuges“37 versetzen. Häufig bildet ‚man‘ das Subjekt der Wahrnehmungsverben, wodurch der Rezipient zum Relat der erzählten Wahrnehmungen gemacht wird. Im Kontrast zu Goethes Novelle zeigt Ehlich, dass erst die Kombination von Deiktika und Wahrnehmungsverben zur beobachteten Unmittelbarkeit führt. In den Verwendungsweisen dieser Elemente kristallisieren sich „prozedurale […] Profile des Autors und seiner charakteristischen Schreibweise“ heraus.38 Es ist denkbar, dass sich in den zu untersuchenden Gartenszenen ebenfalls prozedurale Profile abzeichnen, die den Szenen – vielleicht sogar genuin dem boumgarten – ge-

 Vgl. Starkey/Wenzel, Einleitung Imagination und Deixis, S. 9. Freilich liegt es unter anderen in der Kooperationsbereitschaft der Rezipienten begründet, ob diese Techniken auf fruchtbaren Boden fallen.  „Der Raum ist ein Geflecht von beweglichen Elementen. Er ist gewissermaßen von der Gesamtheit der Bewegungen erfüllt, die sich in ihm entfalten. Er ist also ein Resultat von Aktivitäten, die ihm eine Richtung geben, ihn verzeitlichen“. De Certeau, Kunst des Handelns, S. 218.  Ehlich, Literarische Landschaft, S. 260.  Ehlich, Deixis und Dichtung, S. 73. Nicht nur innerhalb von Literatur zeigen sich spezifische Profile von Raumerzeugung durch etwa deiktische Prozeduren. Anhand von Reiseführern und Romanen untersucht Karin Wenz die Techniken, die diese Textsorten nutzen, um London als Gegenstand bzw. Kulisse räumlich zu erzeugen. Vgl. Karin Wenz: Raum, Raumsprache und Sprachräume. Zur Textsemiotik der Raumbeschreibung. Tübingen 1997 (Kodikas/Code. 22). Für die Analysen zu Eichendorff und Goethe vgl. auch Ehlich, Literarische Landschaft, S. 246–261; Ehlich, Sehen und Zeigen, S. 323–368.

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mein sind oder von Autor zu Autor differieren können. Die Analyse deiktischer Prozeduren dient als grundlegendes Instrument, um zu ermitteln, auf welche Art und Weise der boumgarten als Raum der Handlung imaginierbar wird. Der performative Charakter der deiktischen Prozeduren eignet sich weiter dazu, die Entwicklung und Anreicherung eines solchen Imaginationsraums im Syntagma der Erzählung zu verfolgen. Darüber hinaus sind sie Bestandteil anderer narrativer Strategien. Im Erzählen von Blicken oder Bewegungen verorten sie Figuren ebenso im Raum wie den Rezipienten, den sie zu einem teilnehmenden Beobachter des Erzählten im Raum machen. „Die Verweisungen darin [im Vorstellungsraum, T.S.] organisieren einen Erfahrungsraum, an dem der Leser weder als Sprecher, noch als Hörer teilhat, sondern dem er als teilnehmender Beobachter gegenübertritt.“39 In der mediävistischen Forschung zum Raum hat die Untersuchung von deiktischen Verfahren bisher weniger Platz eingenommen, als man vermuten mag. Immer wieder fragen aber Arbeiten auch nach den sprachlichen Mitteln von Raumerzeugung. Manche von ihnen konzentrieren sich in der Analyse allerdings mehr auf die Semantisierung und Funktionalisierung von bestimmten Raumtypen.40 In den anderen Fällen hängen Umfang und Ergiebigkeit einer Untersuchung der Deiktika vom untersuchten Raumausschnitt der Erzählwelt ab. Für die Herrschaftsräume in Heinrichs von Neustadt Apollonius von Tyrland spielt Deixis beispielsweise keine prominente Rolle.41 Hartmut Beck hingegen zeigt, wie stark die Erzählwelten Wolframs von Eschenbach über Deiktika, Bewegung und Lokal- wie Richtungssysteme organisiert sind. Mit ihrem Einsatz werde die Erzählwelt über menschliches Handeln statt über messbare Gegenstände aufgespannt.42 Dieser Befund unterstreicht, wie wichtig die Setzung von Origo und Relationsobjekten für die Wirkung der Deiktika in der Imagination ist. Im erzählerischen Nahraum können deiktische Prozeduren – wie Hans Rudolf Velten und Christian Schneider zeigen – den Erzählraum bühnenähnlich inszenieren, so dass das Geschehen sehr konsistent zu lokalisieren ist.43 Dies sieht Schneider in der medienhistorischen Stellung

 Krusche, Zeigen im Text, S. 73 (Hervorhebung T.S.). Im Rahmen der Frage, wie Literatur Welt erzeugt, darin eine Orientierung ermöglicht und Bezug auf die reale Welt nimmt, verhandelt Krusche die Ausführungen Bühlers, Weinrichs und Ehlichs zur Deixis und macht sie für Analysen der modernen Literatur fruchtbar. Vgl. Krusche, Zeigen im Text, S. 67–107.  Vgl. etwa Glaser, Held und sein Raum; Lorenz, Raumstrukturen.  Lea Braun orientiert sich begrifflich an dem Konzept von Raumreferenzen, das Katrin Dennerlein vorschlägt. Sie untersucht für die Analyse der Herrschaftsräume allerdings insbesondere Städte und geographische Großräume, für die deiktische Referenzsysteme keine prominente Rolle zu spielen scheinen. Vgl. Braun, Transformation von Herrschaft und Raum, S. 24–31.  Vgl. Beck, Raum und Bewegung.  Vgl. Velten, Sprache und Raum, S. 23–47; Christian Schneider: Welt ir nu gerne schowen, so hoeret vil bereit. Raumwahrnehmung und Wahrnehmungsräume in der frühen höfischen Epik. In: Narratologie und mittelalterliches Erzählen. Hrsg. von Eva von Contzen, Florian Kragl. Berlin/Boston 2018 (Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung. Beihefte. 7), S. 193–231. Die Untersuchung von Chrisitan Schneider schließt methodisch teils an die Untersuchung von Velten an, sucht den Aus-

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der Texte zwischen Verschriftlichung und Vortrag begründet. Die deiktische Art des Referierens unterstütze die Vergegenwärtigung durch den Hörer.44 Der medienhistorische Zugang eröffnet ein weiteres Feld, in dessen Rahmen Deixis zum Thema wird.45 Carsten Morsch demonstriert in seiner Untersuchung zur Blickführung, dass die Texte mit der Spannung zwischen dem realen Raum der Vortragssituation und dem im Erzählen evozierten Vorstellungsraum spielen. Mithilfe von deiktischen Prozeduren und kinästhetischen Wahrnehmungen, die das sensomotorische Körpergedächtnis der Rezipienten ansprechen, wird ein besonders immersiver Vorstellungsraum erzeugt. Gebrochen wird dieser Effekt, indem die Blickführung abrupt die Vermitteltheit der Situation in Szene setzt. Auf diese Weise entsteht ein Spiel zwischen Immersions- und Reflexionseffekten.46 Morschs Erkenntnisse sollen zum Anlass genommen werden, die Baumgartenszenen in einem textimmanenten Zugang auf Immersionseffekte durch die Verwendung von deiktischen Prozeduren und kinästhetischen Wahrnehmungsangeboten47 hin zu befragen und deren Funktion für die Erzählung zu klären. Für die Analyse bedarf es noch einiger terminologischer Bemerkungen, die nicht zuletzt nötig sind, weil die linguistische Forschung das Phänomen der Deixis zahllose Male unter oft differierenden Begriffen unter die Lupe genommen hat. Mit Konrad Ehlich sollen als deiktische Prozeduren sprachliche Handlungen verstanden werden, in denen Deiktika verwendet werden. Sie führen beim Rezipienten im oben beschriebenen Sinne zu einer Fokussierung der Aufmerksamkeit.48 Je nach theoretischem Bezugspunkt wird der Skopus der deiktischen Ausdrücke unterschiedlich eng oder weit gefasst.49 Pronomina wie dieser und jener, ebenso die Demonstrativadverbien hier, da, dort, hin und her sind unbestritten (primäre) deiktische Ausdrücke, da sie „nicht im Symbolfeld, sondern im Zeigfeld der Sprache die Bedeutungserfüllung und Bedeutungspräzision“50 finden. Wörter wie oben/unten, links/ rechts, vorn/hinten sowie vor/hinter nehmen für ihre Bedeutung jedoch auch andere Bezugsysteme als das Zeigfeld in Anspruch. Nichtsdestotrotz können sie origorelativ

löser für ihre Befunde aber in der besonderen mediengeschichtlichen Konstellation der höfischen Texte zwischen Verschriftlichung und Vortrag (u. a. Rolandslied, Orendel, Herzog Ernst).  Vgl. Schneider, Raumwahrnehmung, S. 222 f.  Horst Wenzel hat sich in diesem Kontext mehrfach mit der Rolle von Deixis in Text-Bild-Verhältnissen von illustrierten Handschriften gewidmet. Vgl. dazu unter anderem Wenzel, Wahrnehmung und Deixis, S. 28–43; Wenzel, Beidhändigkeit, S. 13–42; Horst Wenzel: Visio und Deixis. Zur Interaktion von Wort und Bild im Mittelalter. In: MDGV 51,2 (2004), S. 136–152.  Vgl. Morsch, Blickwendungen.  Vgl. Kap. 4.3.  Vgl. Ehlich, Literarische Landschaft, S. 250.  Ich beschränke mich hier auf Phänomene der lokalen Deixis und vernachlässige Ausdrücke der Personal- und Temporaldeixis.  Bühler, Sprachtheorie, S. 80 (Hervorhebung im Original). Vgl. auch Gisela Zifonun, Ludger Hoffmann, Bruno Strecker: Grammatik der deutschen Sprache. Band 1. Berlin/New York 1997 (Schriften des Instituts für deutsche Sprache. 7.1), S. 311 f.

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gebraucht werden51 und erfordern für das Verständnis ihres konkreten Gebrauchs ein hohes Maß an Subjektivität.52 Wird man beispielsweise vom Fahrlehrer angewiesen, doch bitte vor dem roten Auto am Seitenstreifen einzuparken, reicht es nicht aus, die Bedeutung von vor zu kennen, man muss die Situation interpretieren, um an der richtigen Stelle zu parken.53 Ein weiter Deixis-Begriff, wie er hier genutzt wird, akzeptiert beide beschriebenen Arten – manchmal als primäre und sekundäre Deixis unterschieden54 – als deiktische Ausdrücke. Hinzu sollen sich paradeiktische Ausdrücke (Ehlich) wie zum Beispiel nah/ fern gesellen. Sie partizipieren sowohl am Zeigfeld wie auch am Symbolfeld der Sprache.55 Zusätzlich soll auch die Referentialisierung durch metrische Systeme oder das Geosystem, wo relevant, Eingang in die Analyse finden,56 da diese Art von absoluter Raumreferenz die performative Raumerzeugung ergänzen kann. Das vorgeschlagene Begriffsverständnis von deiktischen und paradeiktischen Prozeduren eignet sich für die Analyse des Baumgartenraums, weil so komplexe, räumliche Verweisprozeduren erfasst werden können, die über die Verwendung von hier, da, dort hinausgehen und zur Ausgestaltung und Versetzung in einen Imaginationsraum wesentlich beitragen. Sie bie-

 Ellen Fricke gibt zu bedenken, dass die sprachliche Systemebene von einer Verwendung im Kontext differenziert werden muss. Wörtern, wie den oben exemplarisch aufgeführten, kommt zwar keine strikt origorelative Bedeutung zu, sie können aber im sprachlichen Handeln – in deiktischen Prozeduren – origorelativ gebraucht werden. Vgl. Ellen Fricke: Origo, Geste und Raum. Lokaldeixis im Deutschen. Berlin/New York 2007 (Linguistik – Impulse & Tendenzen. 24), S. 88.  Vgl. Wolfgang Klein: Überall und nirgendwo. Subjektive und objektive Momente der Raumreferenz. In: Sprache und Raum. Hrsg. von dems. Göttingen 1990 (Special Issue LiLi. 78), S. 9–42.  Eine ähnliche Situation nimmt zum Beispiel Grabowski zum Anlass, die Produktion, Rezeption und Kommunikation von Richtungspräpositionen zu untersuchen. Vgl. Joachim Grabowski: Raumrelationen. Kognitive Auffassung und sprachlicher Ausdruck. Opladen 1999, S. 13–17.  In der linguistischen Forschung begegnet man regelmäßig auch dem Begriff ‚intrinsisch‘; manchmal in Opposition zu deiktisch oder als andere Art mit gleicher Funktionsweise gebraucht. Der Gebrauch des Begriffs sowie seine Stellung hängen mit dem theoretischen Bezugspunkt in der Deixistheorie zusammen. Bei Bühler kann die Origo aus dem Sprecher in andere Dinge oder Personen versetzt werden, die auch eine intrinsische Ausrichtung haben (ein Auto hat zum Beispiel ein intrinsisches Vorne, nämlich in der vorgesehenen Fahrtrichtung). Bei Miller/Johnson-Laird kann die Origo nicht aus dem Sprecher versetzt werden. Alle Aussagen, deren Bezugspunkt in einem Nicht-Sprecher-Objekt liegen, gehören in ein sog. instrinsisches System. Ellen Fricke erläutert sehr instruktiv diese verschiedenen theoretischen Ausgangslagen sowie die Schwierigkeiten, die Miller/Johnson-Lairds Vorschlag mit sich bringen. Vgl. dazu Fricke, Origo, Geste und Raum, S. 229–233. Vgl. weiter Theo Herrmann: Vor, hinter, rechts und links: das 6H-Modell. Psychologische Studien zum sprachlichen Lokalisieren. In: Sprache und Raum. Hrsg. von Wolfgang Klein. Göttingen 1990 (Special Issue LiLi. 78), S. 121–124; Grabowski, Raumrelationen, S. 125–130.  Vgl. Ehlich, Literarische Landschaft, S. 251.  Vgl. Dennerlein, Narratologie des Raumes, S. 78–83. Katrin Dennerlein nimmt im Anschluss an die Systematik Heinz Vaters eine Differenzierung zwischen deiktischen und absoluten Referenzsystemen vor. Das intrinsische und topologische Referenzsystem, das Dennerlein unter absoluter Referenz klassifiziert, gehört nach meiner Terminologie zu den deiktischen Ausdrücken.

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ten die Möglichkeit, zu erkennen, inwiefern die Erzählung den boumgarten performativ als Schauraum erzeugt. Für die präzise Analyse der Deixis und ihrer Bedeutung für die Gartenimagination ist eine Systematik der deiktischen Ausdrücke nützlich. Ellen Fricke nimmt eine Differenzierung für die Lokaldeixis vor, deren Übernahme sich für die vorliegenden Zwecke anbietet.57 Es stellt sich jedoch die Frage, welche mittelhochdeutschen Begriffe für die Lokaldeixis von Interesse sind. Hartmut Beck, der die Rolle von Richtungs- und Lokaladverbien für die Konstruktion von Erzählwelten untersucht, wertet Wolframs Sprache quantitativ aus und gewinnt so eine Reihe von mittelhochdeutschen deiktischen Begriffen. Für eine erste Orientierung auf der Suche nach möglicherweise relevanten, deiktischen Ausdrücken ordne ich die bei Beck gewonnenen Begriffe in Frickes Systematik der Lokaldeixis ein. Das Ergebnis ist eine vorläufige Heuristik, die den Ausgangspunkt für die Analyse der Baumgärten darstellt. Mit den Deiktika hie, dâ, dort und den Adverbien vor, vore, vüre und hinder kann auf Raumbereiche verwiesen werden, die nicht klar abgegrenzt sein müssen. Die Origo kann in diesen Raumbereich eingeschlossen sein (z. B. hie) oder aber von ihm differenziert werden (z. B. dort). Eine solche origoexklusive Raumbereichsdeixis kann möglicherweise in Verbindung mit Toponymika oder metrischen Referenzen auftreten, so dass sie das Objekt der Deixis oder dessen Entfernung von der Origo spezifiziert. Mithilfe von (para-)deiktischen Ausdrücken können zudem Bewegungen versprachlicht werden. Die Wegdeixis bringt die Direktionalisierung einer Bewegung zum Ausdruck. Da das vorgeschlagene Raumverständnis und seine Aneignung bzw. Repräsentation zentral von Dynamik und Orientierung bestimmt sind, könnte die Wegdeixis ein wichtiges Instrument für den sprachlichen Repräsentationsmodus von Raum sein. Im Fall von hin, dar oder hinnen ist die Bewegung von der Origo abgewendet. Im Gegensatz dazu wird mit her eine Bewegung erzählt, die in Richtung der Origo stattfindet. Das Richtungsadverb dan/dannen besetzt eine Zwischenposition, indem es zwar eine Bewegung impliziert, die die Origo als Ausgangspunkt hat, aber – im Sinne von ‚von diesem Punkt weg‘ – rückwärts auf den verlassenen Ort hin orientiert ist.58 Zur Wegdeixis gehören darüber hinaus alle Arten von Komposita oder Verbindungen, deren Bestandteil her oder hin sind (z. B. hervür, her ûf, hinvür, hin abe, wie auch dervür). Natürlich schließt das Bewegungsverben mit integrierter Richtung (etwa komen oder gân) ebenso ein wie Kompositionen mit den obigen Richtungsadverbien.

 Vgl. Fricke, Origo, Geste und Raum, S. 97–105. Heinz Vater unterscheidet in seiner Klassifikation raumreferentieller Bezeichnungen zwischen Positionierung und Direktionalisierung, die jeweils deiktisch oder nicht-deiktisch sein können. Sie kann prinzipiell ebenfalls Ausgangspunkt für die Analyse von deiktischen Prozeduren sein. Für die vorliegende Arbeit bietet sie sich jedoch – auch aufgrund der Differenzierung zwischen deiktischer und intrinsischer Perspektive – weniger an. Vgl. Heinz Vater: Einführung in die Raum-Linguistik. 3. Aufl. Hürth 1996 (Kölner Linguistische Arbeiten – Germanistik. 24). Für das sehr anschauliche Schema der für Vater möglichen Raumreferenzen vgl. S. 45.  Vgl. Beck, Raum und Bewegung, S. 92.

Blicke

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Um eine mögliche Dynamik der Gartenimaginationen zu erfassen, reicht die Analyse der (para-)deiktischen Prozeduren nicht aus. Die Untersuchung der Szenen muss unter anderem Verben, die Bewegung oder aktive Wahrnehmungsvorgänge bezeichnen, einbeziehen.59

4.2 Blicke Zur Entstehungszeit der höfischen Romane gingen mittelalterliche Gelehrte und Autoren wie beispielsweise Wilhelm von Conches oder Konrad von Megenberg davon aus, dass der Blick und damit das Sehen eine aktiv berührende Qualität sei. In der Tradition der Platonischen Strahlenwurftheorie nahm man an, dass sich der Blick aus dem Auge als Sehstrahl ergieße und das Gesehene aktiv berühre, bevor er dann in das Auge zurückkehre, um den Seheindruck zu erzeugen.60 Zwar kannte das europäische Hochmittelalter auch die aus dem arabischen Gelehrtenraum stammende und bis heute weitgehend gültige Immissionstheorie, doch genoss die Platonische Theorie (noch) den Vorrang.61 Der Blick wurde gewissermaßen als Verlängerung von Körper und Seele verstanden. „Er entsteht im Körper und kehrt in ihn zurück, um ihn zu verändern.“62 Aus diesem Grund wurden ihm nicht nur taktile Qualitäten, sondern darüber hinaus zum Beispiel auch pharmakologische Wirkungen zugesprochen.63 Die physikalischen und physiologischen Erforschungen zur Funktionsweise des Sehsinns haben die im Hochmittelalter vorherrschende Strahlenwurftheorie widerlegt. Die mittelalterliche Annahme, dass der Blick aktive Eigenschaften besitze, lässt sich in gewisser Hinsicht dennoch durch neurowissenschaftliche Experimente stützen. Denn fällt der Blick des Gegenübers auf etwas Drittes, reizt er den Interaktionspartner ganz unmittelbar zum Nachvollzug der Blickbewegung. In der Folge entsteht ein geteilter Wahrnehmungsraum, in den sich das räumliche Verhältnis zwischen Blicksubjekt, Blickobjekt und einem möglichen Beobachter einschreibt. Die Blickbewegung durchmisst den Raum und verleiht ihm Dreidimensionalität und Gerichtetheit. In dieser ‚im-

 Vgl. Kap. 4.2 und Kap. 4.3.  Vgl. Christina Lechtermann: Nebenwirkungen: Blick-Bewegungen vor der Perspektive. In: Wissen und neue Medien. Bilder und Zeichen von 800 bis 2000. Hrsg. von Ulrich Schmitz, Horst Wenzel. Berlin 2003 (Philologische Studien und Quellen. 177), S. 93–100.  Vgl. Wenzel, Spiegelungen, S. 124; Michael Camille versucht, die theoretische Behandlung des Sehens im 13. und 14. Jahrhundert mit den zeitgenössischen Darstellungen in Kunst und Kultur in Verbindung zu setzen. Vgl. Michael Camille: Before the Gaze. The Internal Senses and Late Medieval Practices of Seeing. In: Visuality Before and Beyond the Renaissance. Seeing as Others Saw. Hrsg. von Robert S. Nelson. Cambridge 2000.  Lechtermann: Nebenwirkungen, S. 99.  Christina Lechtermann zeigt am Beispiel von Wolframs von Eschenbach Willehalm, dass dem Blick Alîses vielfältige Wirkungen, darunter auch pharmakologische, zugesprochen werden. Vgl. Lechtermann, Nebenwirkungen, S. 93–111.

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perativen Kraft‘64 ähnelt der Blick den deiktischen Prozeduren, denn wie jene fokussiert er die Aufmerksamkeit der Kommunikationsteilnehmer sowohl im Raum der unmittelbaren Wahrnehmung65 als auch im Imaginationsraum. Blicke, Gegenblicke und Blickbewegungen spinnen in höfischer Literatur enge interaktive Netze. Der Appell, der von Blicken ausgeht, wirkt nicht nur auf die textinternen Beobachter, sondern richtet sich vor allem an den Rezipienten. Die höfische Literatur setzt die Blickverhältnisse als performative Strategien ein, die das Ziel haben, den Rezipienten am Dargestellten partizipieren zu lassen.66 Die Blicke fungieren als medial vermittelter Appell an das sensomotorische Körpergedächtnis. Wie auch die deiktischen Prozeduren bemächtigen sich die Blicke der Leiblichkeit des Rezipienten und führen zu einer Versetzung des Körperschemas. In diesem geteilten Blick ermöglicht diese Versetzung des Körperschemas eine performative Erzeugung von Raum in der Vorstellung des textexternen Beobachters. „Blicke, Gesten und Gebärden in ihrem Raumbezug und in ihrer dynamischen Qualität werden literarisch dargestellt.“67 Eine Kopplung von leiblicher Erfahrung und mentaler Repräsentation im literarischen Schauraum ist die Folge. Indem Blickverhältnisse literarisch ausgestaltet werden, entsteht im imaginativen Nachvollzug ein Schauraum des erzählten Geschehens.68 Durch die Imagination einer ‚Mitsicht‘ mit den textinternen Figuren wird die Erzählwelt als gerichtet und dreidimensional imaginiert, es wird Raum erzeugt. Dieser Umstand mag ein weiterer Grund für das hohe Immersionspotential sein, das Carsten Morsch konstatiert.69 Die mittelalterliche Literatur narrativiert die visuelle Wahrnehmung. Dass diese Strategien gezielt für den Verstehensprozess der Rezipienten eingesetzt werden, hat die Forschung vor allem unter den Schlagworten Visualisierung, Visualität und Sichtbarkeit herausgearbeitet.70 Die höfische Literatur offenbart durch diese narrativen

 Vgl. Gisela Fehrmann, Erika Linz: Der hypnotische Blick. Zur kommunikativen Funktion deiktischer Zeichen. In: Deixis und Evidenz. Hrsg. von Horst Wenzel, Ludwig Jäger. Freiburg i. Br./Berlin/ Wien 2008 (Scenae. 8), S. 267–270.  Vgl. Fehrmann/Linz, Der hypnotische Blick, S. 261–288.  Morsch hält dies als ein zentrales Ergebnis seiner Studien fest und beleuchtet außerdem, inwiefern sich die mediale Vermittlung in das Erzählen der höfischen Literatur einschreibt. Vgl. Carsten Morsch: Lektüre als teilnehmende Beobachtung. Die Restitution der Ordnung durch Fremderfahrung im Herzog Ernst (B). In: Ordnung und Unordnung in der Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Wolfgang Harms, C. Stephen Jaeger, Horst Wenzel. Stuttgart 2003, S. 109–128.  Horst Wenzel: Visualität. Zur Vorgeschichte der kinästhetischen Wahrnehmung. In: ZGerm 9,3 (1999), S. 551.  Vgl. Wenzel, Spiegelungen, S. 11–12.  Vgl. Morsch, Blickwendungen.  Die Untersuchung solcher Visualisierungsstrategien richtet ihr Augenmerk bei der Funktionsbestimmung häufig auf die medienhistorische Situierung der höfischen Literatur. Für einige zentrale, wenn auch längst nicht alle Arbeiten vgl. Haiko Wandhoff: Der epische Blick. Eine mediengeschichtliche Studie zur höfischen Literatur. Berlin 1996 (Philologische Studien und Quellen. 141); Wenzel, Visualität, S. 549–556; Haiko Wandhoff: velden und visieren, blüemen und florieren. Zur Poetik der

Blicke

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Strategien ihren ‚Sitz im Leben‘ einer schriftlosen Kultur, die ihre Ordnungs- und Funktionsweisen über Sichtbarkeit, Präsenz und körperliche Vollzüge organisiert.71 Macht, Agon, Öffentlichkeit oder Recht inszeniert das Mittelalter als ‚Kultur der Sichtbarkeit‘ maßgeblich über Sichtbarkeit und Nicht-Sichtbarkeit. Die Literatur nimmt teil an dieser spezifisch mittelalterlichen Kultur der körperlich-oralen Sichtbarkeit und Hörbarkeit, wenn sie die multimediale Rezeptionssituation von kulturellen Aufführungen in die medialen Dimensionen von Schrift und Bild überträgt.72

Die Inszenierung der Sichtbarkeit eröffnet den Rezipienten Einblicke in Szenen und Räume, die sich im Fall von âventiure-Fahrten oder Brautwerbungsunternehmungen normalerweise gerade durch die Abwesenheit von Beobachtern auszeichnen. Horst Wenzel beschreibt die Verfahrensweise der höfischen Literatur als „Poetologie der Visualisierung“.73 Als Indikator für die vielfältigen Visualisierungsstrategien kann die weit ausdifferenzierte Lexik des Sehens gelten. Innerhalb des relevanten Wortfeldes identifiziert Wenzel sehen, ersehen, schouwen, war nemen, erkennen und merken als zentrale Verben.74 Wichtige Erkenntnisse zur Blickführung und ihren Funktionen liefert Sarah Stanbury in ihrer Analyse von Sir Gawain and the Green Knight. Die Erzählung aus dem arthurischen Stoffkreis nutze ‚visual alignments‘, um narrative Umschlagpunkte zu markieren. Außerdem beanspruchen Wahrnehmungsprozesse von Figuren und Rezipienten im Kontext von Beschreibungen besondere Aufmerksamkeit, was dazu führe, dass dem textexternen Beobachter die Interpretation des Gesehenen aufgenötigt werde. Die Blickführung lenke den Rezipienten und strukturiere so nicht nur die Urteilsprozesse, sondern auch die Raumstruktur.75 Stanburys Beobachtungen systematisiert Horst Wenzel und setzt sie in Bezug zur Teilhabe der Literatur an der mittelalterlichen ‚Kultur der Sichtbarkeit‘.76 Die Systematisierung von Blickkonstellationen, die den Analysen der Baumgartenszenen zugrunde gelegt werden soll, orientiert sich maßgeblich an der Wenzels, präzisiert sie aber bezüglich ihrer Funktion für die Raumimagination. Der Blick eines textinternen Betrachters, in der Regel einer Figur, in den Raum oder auf eine Figur bzw. ein Geschehen soll im Folgenden als monofokaler Blick be-

Sichtbarkeit in den höfischen Epen des Mittelalters. In: ZGerm 9,3 (1999), S. 586–597; Wenzel, Augenzeugenschaft und episches Erzählen, S. 215–234; Morsch, Lektüre als teilnehmende Beobachtung, S. 109–128; Lechtermann, Nebenwirkungen, S. 93–111; Lechtermann, Berührt werden; Wenzel, Spiegelungen; Morsch, Blickwendungen; Ricarda Bauschke, Sebastian Coxon, Martin H. Jones (Hrsg.): Sehen und Sichtbarkeit in der Literatur des Mittelalters. Berlin 2011; Velten, Visualität, S. 304–320.  Vgl. Velten, Visualität, S. 304–320.  Velten, Visualität, S. 305.  Wenzel, Spiegelungen, S. 205.  Vgl. Wenzel, Spiegelungen, S. 127 f.  Vgl. Sarah Stanbury: Seeing the Gawain-Poet. Description and the Art of Perception. Philadelphia 1991 (Middle Ages Series).  Vgl. Wenzel, Spiegelungen, S. 130 f.

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zeichnet werden. Sofern das Blickobjekt eine andere Figur ist, kann diese sich der Beobachtung bewusst sein, muss es aber wohl nicht. Der Rezipient wird im monofokalen Blick zu einem Beobachter zweiter Ordnung, denn er nimmt den Raum mit den Augen des textinternen Beobachters wahr, ist aber realiter außerhalb der erzählten Welt positioniert.77 Die wahrgenommene räumliche Organisation und die Bewegungen im Raum sind an die Origo des textinternen Beobachters zurückgebunden. Diese beobachtende Figur wird zum subsidiären Leib des Rezipienten. Mit seiner imperativen Kraft reizt der Blick den Rezipienten dazu, sein Körperschema in der Imagination in die angebotene Origo hineinzuversetzen. Im Nachvollzug der Beobachtung nimmt er den Raum als egozentrisch orientiert, gerichtet und dreidimensional wahr. Der erzählte Blick ist zwar aus sich heraus schon deiktisch, kann aber in seiner Erzählung zusätzlich mit deiktischen Prozeduren angereichert werden, mit deren Hilfe einzelne Raumbegebenheiten auf die Origo hin oder zueinander in Relation gesetzt werden. Das Erzählen von monofokalen Blicken erzeugt einen Raum, der gerichtet und dreidimensional ist. Er konstituiert sich im imaginativen Nachvollzug einer Blickbewegung. Vermittelt über das Blicksubjekt wird der Rezipient zum Bezugspunkt des Raumerzählens. Diese Erzählstrategie ermöglicht es, im Sinne Michel de Certeaus Raum (espace) mithilfe von Bewegung und Gerichtetheit performativ zu erzeugen. Der monofokale Blick kann auf einer Stelle verharren, er kann aber ebenso gut dynamisch durch den Raum gleiten. Letzteres hat das Potential, den Raum in seiner Anlage noch differenzierter darzustellen. Ähnlich der Technik des Schnitts im Film kann der monofokale Blick auch springen.78 Sofern der Text aber keine Anhaltspunkte für die Änderung der Origo bietet, ist davon auszugehen, dass der subsidiäre Leib für den textexternen Beobachter nicht wechselt, so dass damit auch die Origo konsistent bleibt. In diesem Kontext können Bewegungsverben und deiktische Prozeduren besonders aufschlussreich sein, um darzustellen, wie sich der Blicksprung auf die Raumimagination auswirkt. Obgleich der Baumgarten ein durch eine Grenze abgetrennter Raum ist, kann sich die Grenze für Eintretende wie für Beobachter als permeabel erweisen. Der Blick von außen in den boumgarten wäre ebenfalls als monofokaler Blick einzuordnen. Die Origo, auf die sich das Gesehene hin orientieren lässt, läge in einem solchen Fall schlicht außerhalb des abgetrennten Gartenraums. Beachtenswert erscheint insbesondere in solchen Fällen die semantische Codierung des Blicks. Wird der Blick über die Grenze hinweg, in das Innere des Baumgartens als übergriffig oder enttarnend dargestellt und welche Folgen hat der Blick für den Beobachter und die im boumgarten beobachteten Figuren? Der einseitigen Beobachtung einer Figur oder eines Geschehens kann eine Blickkonstellation entgegengesetzt werden, die sich durch die Wechselseitigkeit der Blicke auszeichnet. Bei solchen bifokalen Blicken sind die betroffenen Figuren zugleich

 Vgl. Wenzel, Augenzeugenschaft und episches Erzählen, S. 216–220.  Vgl. Wenzel, Spiegelungen, S. 130 f.

Blicke

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Blicksubjekt und -objekt. Der Blick auf der einen Seite wird mit dessen Gegenblick auf der anderen Seite beantwortet. Für die Raumimagination besitzen die Blicke für sich zunächst die Qualitäten eines monofokalen Blicks. Ferner wird der Rezipient jedoch dazu aufgefordert, den Blick zu wechseln. Im Gegenblick nimmt der Rezipient eine Origo im Raum ein, deren Stelle im Raum eben noch Gegenstand des Blickes war. Wenzel, der diese Blickkonstellation insbesondere in Adventus-, Kampf- und Minneszenen realisiert sieht, spricht davon, dass bifokale Blicke ein agonales Sehen konstruieren und so ein Spannungsverhältnis zwischen den Beobachtern etablieren.79 In jedem Fall dienen die bifokalen Blicke dazu, die Raumimagination auszudifferenzieren. Indem die Sichtachse zwischen den Blickpartnern von beiden Seiten her durchmessen wird, etabliert sich eine dynamische Raumrelation zwischen den Blicksubjekten und -objekten, die unter Umständen eine ausdifferenziertere Raumimagination ermöglicht als ein Blick, der nicht erwidert wird. Indem der Rezipient dazu aufgefordert wird, die Blicke mehrerer Figuren zu teilen, erweitert sich sein Sichtfeld. Das räumliche und auch semantische Wissen, das mit den jeweiligen Blicken vermittelt wird, überschreitet die Horizonte der jeweiligen Figuren.80 Es lässt sich vermuten, dass die Bewegung der Figuren und die Distanz zwischen ihnen in solchen Blick-Gegenblick-Konstellationen eine gesteigerte Aufmerksamkeit erfahren. Zusätzlich zur Grenze, die den boumgarten als einen homogenen Innenraum ausweist, versetzt die gegenseitige Sichtbarkeit die blickenden Figuren und mit ihnen den Rezipienten in einen Raum der geteilten Wahrnehmung. Um die Auflösung des Spannungsverhältnisses zu erzählen, kann die Bewegung der Figuren im Raum und ihre jeweilige Positionierung dort erzählerisch ausgestaltet und genutzt werden. Analog zum monofokalen Blick kann der Beobachterstandpunkt bei bifokalen Blicken mobil oder räumlich fixiert sein. Das agonale Blickverhältnis muss allerdings immer gegeben sein, damit man von bifokalen Blicken sprechen kann. Beobachtet eine Figur eine andere, ohne dabei von dieser selbst angesehen oder beobachtet zu werden, muss man von einem monofokalen Blick sprechen. Die dritte Blickkonstellation ist der kollektive Blick. Das Subjekt des kollektiven Blicks ist in der Regel das unpersönliche man. Das Blicksubjekt kann zum Beispiel aber auch als Hof spezifiziert werden. Zentral ist der kollektive Anspruch, den das Subjekt der Blickbewegung zum Ausdruck bringt. Der kollektive Blick ist in der Narratologie und in der Diskussion um Raumimagination wohl bislang am häufigsten bedacht worden. Bereits Dieter Röth bemerkt, dass das Subjekt man keine individuellen (Raum-)Eindrücke zum Ausdruck bringe, sondern vielmehr einen allgemeinen Anspruch für das Gesehene impliziere.81 Gert Hübner spricht bei den man-sach-Konstruktionen von sogenannten ‚leeren oder kognitiven Zentren‘. Sie funktionierten ähnlich wie Reflektorfi Vgl. Wenzel, Spiegelungen, S. 225–228.  Vgl. Wenzel, Spiegelungen, S. 225.  Das Pronomen ‚man‘ „bezieht sich nicht auf subjektive Eindrücke eines Er oder Ich, ist nicht auf einmalige und damit zufällige Situationen abgestellt, sondern drückt Verhältnisse aus, die eine Allgemeinheit betreffen und die mustergültig sind.“ Diether Röth: Dargestellte Wirklichkeit im frühneu-

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Strategien der Raumerzeugung

guren, bildeten aber ein unpersönliches Bewusstseinszentrum. Unbenommen seines allgemeinen Anspruchs kann dieses Bewusstseinszentrum in der Erzählwelt angesiedelt oder bloß hypostasiert sein.82 Mithilfe der leeren Zentren wird dem Rezipienten vor Augen gestellt, „was alle hätten sehen können“.83 Mit Bezug auf die Raumkonstruktion lassen sich solche kollektiven Blicke auf die mediale Vermittlung einer Erzählung zurückbeziehen. Die man-sach- und verwandte Konstruktionen behaupten so einerseits eine primäre unmittelbare Wahrnehmungssituation, die im performativen Akt in eine zweite näherungsweise überführt wird, und sind mithin auf eine Situation der medialen Unmittelbarkeit transparent.84

Ohne die kollektiven Blicke an die Aufführungs- und Vortragssituationen zurückzubinden, wie es Christian Schneider tut, lassen sich die kollektiven Blicke, analog zu den monofokalen und bifokalen, als Anreiz verstehen, den Standpunkt der Beobachter und damit ihre Raumwahrnehmung im Blick nachzuvollziehen. Das Kollektiv als Blicksubjekt stellt eine höhere Verbindlichkeit für das Gesehene her. Ob das Kollektiv textintern durch Figuren besetzt oder hypostasiert ist, spielt nur eine untergeordnete Rolle. In beiden Fällen wird es zur Origo der Raumwahrnehmung. Was der kollektive Blick sieht, kann theoretisch jeder sehen.85 Im Falle eines hypostasierten Blicksubjekts teilt der Rezipient ein Blickfeld, das über dasjenige der Figuren hinausgehen kann. Die Erzählung kann dem Rezipienten so gerade in Kombination mit anderen Blickverhältnissen einen übergeordneten Blick ermöglichen. Nichtsdestotrotz wird die Übernahme einer BlickOrigo und der Nachvollzug einer Blickbewegung konstruiert, wodurch sich diese Fälle deutlich von den Erzählweisen der Karte (carte) unterscheiden. In ihrem Nachvollzug gehen die kollektiven Blicke immer von einem spezifischen Standpunkt aus, für den sie eine hohe Verbindlichkeit erzeugen. Die Frage, ob die Baumgartenszene mit dem kollektiven Blick normative Urteile oder Erzählerkommentare verknüpft, ist dabei ebenso interessant wie die möglichen Effekte einer solchen Verbindung.

hochdeutschen Prosaroman. Die Natur und ihre Verwendung im epischen Gefüge. Göttingen 1959, S. 180.  Vgl. Gert Hübner: Erzählform im höfischen Roman. Studien zur Fokalisierung im Eneas, im Iwein und im Tristan. Tübingen/Basel 2003 (Bibliotheca Germanica. 44), S. 43 f.; Gert Hübner: Fokalisierung im höfischen Roman. In: WolfSt 18 (2004), S. 131. Hübner nutzt den Begriff des ‚leeren Zentrums‘ in Anlehnung an die narratologische Arbeit von Ann Banfield, die annimmt, dass diese Sätze mit ‚empty center‘ keiner Sprecherrolle zuzuweisen seien, wohl aber ein Bewusstsein repräsentieren. Hübner übernimmt diesen theoretischen Rahmen jedoch nicht. Vgl. Hübner, Erzählform, S. 43 f.  Armin Schulz: Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive. 2. Aufl. Berlin/München/Boston 2015 (de Gruyter Studium), S. 385 (Hervorhebung im Original).  Schneider, Raumwahrnehmung, S. 228 (Hervorhebung im Original).  Friedrich Michael Dimpel weist außerdem darauf hin, dass leeren Zentren auch Emotionen beigegeben sein können. Vgl. Friedrich Michael Dimpel: Die Zofe im Fokus. Perspektivierung und Sympathiesteuerung durch Nebenfiguren vom Typ der Confidante in der höfischen Epik des hohen Mittelalters. Berlin 2011 (Philologische Studien und Quellen. 232), S. 27 f.

Blicke

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In allen drei Blickkonstellationen – monofokal, bifokal und kollektiv – sind es Figuren, die den Raum und das in ihm angesiedelte Geschehen wahrnehmen. Selbst die hypostasierten Zentren machen in der Regel eine imaginierte Figurengruppe zum Blicksubjekt. Wenzel nennt diese Figuren, deren Blicke und somit Raumwahrnehmungen vom Rezipienten geteilt werden, Assistenzfiguren. Anhand der Magd in Hartmanns von Aue Gregorius oder am Beispiel des armen Heinrich, der heimlich die Tötungsvorbereitungen des Arztes ausspäht, zeigt Wenzel, dass die Assistenzfiguren vom Rezipienten auf textexterner Ebene dabei beobachtet werden, wie sie innerhalb der Erzählung andere oder anderes beobachten.86 Die Assistenzfiguren stellen dem Rezipienten subsidiäre Leiber zur Verfügung und ermöglichen eine dreidimensionale und gerichtete Raumimagination. Sie sind eine narrative Strategie der Teilhabe, durch die sich das poetische Programm der höfischen Literatur im Geiste der Sichtbarkeit auszeichnet.87 Während alle bisherigen Blickkonstellationen ein textinternes Wahrnehmungssubjekt benötigen, kommen die auktorialen Blicke ohne einen textinternen Beobachter aus. Der Erzähler bietet dem Rezipienten hier eine Sicht auf den Raum und das Geschehen darin an, die den Figuren verborgen bleibt und ihre Blickfelder übersteigen kann. Der Rezipient übernimmt die auktoriale Perspektive des Erzählers und bildet in gewisser Weise die Allsicht Gottes nach.88 In der Regel ist der Ausgangspunkt des Blickes räumlich wenig spezifiziert, so dass er höchstens indirekt erschlossen werden kann. In dieser Form des Blickes spielen daher die deiktischen Prozeduren und die im Raum beobachtete Bewegung eine besondere Rolle für die Raumimagination. Obwohl die Origo unspezifisch sein kann, gelingt es mithilfe dieser Verfahren, räumliche Begebenheiten oder Figuren zueinander in Relation zu setzen oder Bewegungen im Raum zu verorten. Die Abgrenzung zum kollektiven Blick mit hypostasiertem Zentrum muss jeweils sorgfältig geprüft werden, indem man beispielsweise versucht, das Subjekt der Blicke zu identifizieren. Die Frage nach damit verknüpften Werturteilen wäre auch hier von Interesse, bleibt doch der Blick, den der Erzähler bietet, allein auf den Rezipienten hin orientiert. Jede dieser Blickkonstellationen verfügt über hohes Imaginationspotential für die räumliche Konstruktion des boumgarten und das in ihm situierte Geschehen. Indem der Rezipient zum Augenzeugen (zweiter Ordnung) wird, nimmt er an der Raumwahrnehmung der Figuren und dem erzählten Geschehen vermittelt Anteil. Die appellative, deiktische Funktion der Blicke sorgt dafür, dass der Rezipient dazu animiert wird, den textinternen Beobachter als subsidiären Leib zu nutzen, in den das eigene Körperschema verlagert wird. Die Blicke der Figuren reizen zum Nachvollzug und fokussieren die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf den Raum und sein Geschehen.

 Vgl. Wenzel, Spiegelungen, S. 136 f. sowie S. 149–152.  Vgl. Wenzel, Spiegelungen, S. 136.  Vgl. Wenzel, Spiegelungen, S. 228–230.

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Strategien der Raumerzeugung

Insbesondere in der Kombination der verschiedenen Blickkonstellationen etabliert sich im performativen Vollzug eine räumliche Vorstellung. Der Rezipient teilt innerhalb der Erzählung verschiedene Blicke in denselben Raum. Seine Imaginationsleistung besteht im performativen Nachvollzug, also der Synthese vielfältiger, räumlicher Informationen in der Imagination und ihrer semantischen Dekodierung. In diesem Zusammenspiel wird eine Raumimagination ermöglicht, die den Raum dynamisch entstehen lässt, ihm Richtung und Bewegung verleiht. Dank der Übertragbarkeit der Bilder werden Handlungsebene und Wahrnehmungsebene des textexternen Beobachters miteinander verbunden.89 Nicht nur für die Figuren kann der boumgarten auf diese Weise als Raum der geteilten Wahrnehmung erzählt werden. Indem das Sehen als Wahrnehmungsakt mithilfe entsprechender Verben gekennzeichnet und als subjektiver, standortabhängiger Raumeindruck markiert wird, können die genannten Blickkonstellationen auch im Sinne Dennerleins als erzählte Raumwahrnehmung gelten.90 Die Blicke erweisen sich als wichtiges Mittel, mit dem durch die Teilhabe an der Erzählwelt im Sinne de Certeaus Raum erzählt werden kann. Die verschiedenen Formen des Blicks machen das textinterne Blicksubjekt und somit auch den Rezipienten als textexternen Augenzeugen immer auch zu Voyeuren. Nur im bifokalen Blick weiß das Gegenüber um die Beobachtung und erwidert diese seinerseits mit dem Gegenblick. In den anderen Fällen weiß der Beobachtete womöglich nicht, dass er beobachtet wird. Insofern lassen sich solche Blicke auch als heimliche Blicke qualifizieren. Es ist eine Eigenart der Literatur, dass sie Handlungen erzählen kann, die sonst im Verborgenen und ohne textinterne Augenzeugen vor sich gehen würden.91 Um solche Handlungen zu erzählen, muss dieses nicht-öffentliche oder sogar heimliche Geschehen wenigstens für den Rezipienten sichtbar gemacht werden. Wird der Rezipient zum Voyeur und Mitwisser, bricht er selbst die Trennung von Öffentlichem und Nicht-Öffentlichem auf. Der Fall der heimlichen Liebe, den Anthony C. Spearing untersucht, steht beispielhaft für solche Blickkonstellationen.92 „[T]he private becomes public by being seen, and it can be seen because of the gaps in the boundaries between the two spheres“.93 Der Rezipient nimmt nicht nur einen Sonderstatus zwischen Innen und Außen ein. Das Spannungsverhältnis, das unter anderem durch die Blickführung erzeugt wird, verlagert die Frage nach „zulässigem und unzulässigem, ehrenhaftem und unehrenhaftem Handeln“ außerdem auf den Rezipienten.94  Vgl. Wenzel, Spiegelungen, S. 174.  Vgl. Dennerlein, Narratologie des Raumes, S. 146.  Wandhoff weist hier zurecht darauf hin, dass von diesem Umstand insbesondere gängige Erzählschemata wie die Âventiure-Fahrt oder das Brautwerbungsschema betroffen sind. Erzählt wird etwas, dessen innerer Reiz daraus entsteht, dass das Geschehen wie bei der Âventiure-Fahrt gerade für den Hof unsichtbar bleibt. Vgl. Wandhoff, Der epische Blick, S. 169–258.  Vgl. Anthony Colin Spearing: The Medieval Poet as Voyeur. Looking and Listening in Medieval Love-Narratives. Cambridge 1993, S. 26–30.  Spearing, The Medieval Poet as Voyeur, S. 19.  Wenzel, Spiegelungen, S. 149.

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Allein durch Bewegung, Blicke und Kommunikation lassen sich außerdem auch in öffentlichen Schauräumen nicht-öffentliche und intime Räume konstituieren.95 Die Blicke und das Sehen interessieren im Kontext von Gartenerzählungen daher nicht nur unter dem Aspekt der Imaginationssteuerung. Die räumliche und semantische Beschaffenheit des boumgarten lässt sowohl öffentliche als auch nicht-öffentliche bzw. heimliche Handlungen zu. Eine Analyse der Blickkonstellationen und ihrer Funktion für die Raumimagination kommt nicht ohne die Frage nach der semantischen Codierung dieser Blicke aus: Wie verhandeln die Erzählungen beispielsweise die Spannung zwischen der Öffentlichkeit und der möglichen Nicht-Öffentlichkeit der Gartenräume? Erlaubt der Gartenraum vielleicht sogar eine besondere Thematisierung dessen? Mit welcher Rolle bedenkt die Erzählung den textexternen Beobachter hierbei? Die Rolle des Raums und seiner Imagination in diesem Spannungsfeld zu klären, wird eine wichtige Aufgabe der Analysen sein.

4.3 Kinästhetische Bewegungen Bewegung – als Eigenbewegung, Bewegtwerden und als Wahrnehmung von Bewegung – ist diejenige Kategorie, die Raum und Zeit gleichermaßen konstituiert. Am Unbewegten können wir weder Raum noch Zeit begreifen, ja, nicht einmal sagen, dass es ist.96

Hartmut Böhme misst der Bewegung eine ähnliche hohe Bedeutung für die Konstitution und das Erleben von Raum bei wie Michel de Certeau.97 Der durch die Stadt streifende Passant, den de Certeau als Beispiel für seine ‚Alltagskulturgeschichte‘ ins Feld führt, darf als Inbegriff der Bewegung verstanden werden. Bewegung ist dabei zum Teil an den Ordnungen der (erzählten) Welt entlang organisiert, sie verleiht aber dem durch die Bewegung erzeugten Raum ihrerseits auch eine eigene Bahn.98 Raum und Bewegung gehören für de Certeau genuin zusammen und stehen in einem Funktionsverhältnis: Gerade die Bewegung vermag es, Raum zu erzeugen. Wenn Raum das „Resultat von Aktivitäten [ist], die ihm eine Richtung geben“,99 dann erzählt der Modus der Wegstrecke (parcours) dies und macht die Bewegung und infolgedessen auch den Raum für einen Rezipienten nachvollziehbar und performativ imaginierbar. Bewegen, Bewegtwerden und die Wahrnehmung von Bewegung haben auch in der mittelalterlichen Kunst und Literatur ihren Platz. Mittelalterliche Kunst ist, bevor die Zentralperspektive insbesondere im Italien der Renaissance ‚erfunden‘ wird, polyfokal. Anders als bei zentralperspektivisch komponierten Kunstwerken ist der Standpunkt

    

Vgl. Hammer, Räume erzählen, S. 128–130. Böhme, Raum – Bewegung – Grenzzustände der Sinne, S. 57 (Hervorhebung im Original). Vgl. Kap. 3. Vgl. de Certeau, Kunst des Handelns, S. 21–26 u. 189–191. De Certeau, Kunst des Handelns, S. 218.

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Strategien der Raumerzeugung

des Betrachters nicht festgelegt. Einzelne Bilder oder Folgen von Bildern erfordern vom Betrachter die Bewegung und Wahrnehmung von verschiedenen Standpunkten. Die bewegte Wahrnehmung ist die Voraussetzung für das Erfassen des Kunstwerks. Das wohl bekannteste Beispiel für eine derartige Bilderfolge ist der Kreuzweg. Im Umlauf durch das Kirchenschiff macht er die Passion Christi ‚erwanderbar‘. Dass dies nicht nur Bilder (-folgen) betrifft, sondern auch für plastische Kunst Geltung beanspruchen darf, macht exemplarisch das Fürstenportal des Bamberger Doms deutlich. Bilder, Fresken und Skulpturengruppen geben Aufschluss darüber, dass die bewegte Rezeption bereits in der Planung und Herstellung Berücksichtigung fand.100 Dass mittelalterliche Kunst auch den äußerlich stillstehenden Betrachter in Bewegung zu versetzen vermag, legt Jörg Jochen Berns in seiner ‚Anbahnungsgeschichte der filmischen Wahrnehmung‘ dar. Denn erbauungstheologische Ikonographien des 14. bis 17. Jahrhunderts regen den Betrachter dazu an, die Bildfolgen in der Imagination – im inneren Film – in Bewegung zu bringen, um so die Erbauung aus der imaginiert nachvollzogenen Passion zu gewinnen.101 Berns betrachtet diese innere Bewegung der Imagination als Voraussetzung für die Entstehung des äußeren Films.102 Schon die mittelalterliche Wahrnehmungs- und Erkenntnistheorie schreibt diese Befähigung zum inneren Film nicht nur Gesehenem zu. Das innere Sehen lasse auch aus Gehörtem oder Gelesenem lebendige, multisensorische Bilder entstehen. Unbewegtes wird in der Imagination in Bewegung gesetzt.103 „Den verbal stimulierten Bildern der Literatur kommt daher prinzipiell die gleiche Relevanz zu wie den durch Malerei, Bildhauerei oder Webkunst verfertigten Bildern der visuellen Künste“.104 Während in der Kunst die Komposition und die Abfolge von Bildern dafür sorgen, dass vor dem inneren Auge bewegte Bilderfolgen, etwa der Passion Christi, entstehen,

 Vgl. Morsch, Bewegte Betrachter, S. 47–52; Zur Eigenheit der mittelalterlichen Kunst vor der Zentralperspektive vgl. auch Horst Wenzel: Zur Vorgeschichte der kinästhetischen Wahrnehmung. In: ZGerm 9,3 (1999), S. 549 f; Wenzel, Spiegelungen, S. 165–168.  Die Arma-Christi-Ikonographien, von denen Berns ausgeht, bilden mit Hilfe von Einzelsequenzen die Passion Christi ab. Die Beziehungen zwischen Superimago und Subimago triggern den Erinnerungsfluss der Passionsgeschichte, die der Betrachter in einer weitgehend flexiblen und doch regelhaften Bewegung vor seinem inneren Auge – also im Imaginationsfluss – zu erbaulichen Zwecken vollzieht. Vgl. Jörg Jochen Berns: Film vor dem Film. Bewegende und bewegliche Bilder als Mittel der Imaginationssteuerung in Mittelalter und Früher Neuzeit. Marburg 2000, S. 30–39.  Berns zeichnet in seiner Anbahnungsgeschichte des Films eine Komplexitätsreduktion vom inneren zum äußeren Film nach. Die Arma-Christi-Ikonographien bringen aufgrund ihrer Bildkomposition die Imagination in eine vom Betrachter frei zu erzeugende Bewegung, in der er das Leiden Christi vor dem inneren Auge verfolgt. In der Übertragung und Weiterentwicklung dieser Bildkomposition kommt es – schließlich gipfelt diese Entwicklung im äußeren Film des Kinos oder Fernsehens – zu einer Preisgabe des symbolischen Bezugs. Der Wegfall der Kombinationsleistung, die fortan von außen gegeben wird, bewirkt eine Entlastung des Betrachters. Berns sieht in dieser Entwicklung eine Entkopplung von Imaginations- und Illusionsgeschichte. Vgl. Berns, Film vor dem Film.  Vgl. Wandhoff, Ekphrasis, S. 24–28.  Wandhoff, Ekphrasis, S. 27.

Kinästhetische Bewegungen

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dient in der Literatur insbesondere erzählte Bewegung dazu, den Rezipienten imaginativ in Bewegung zu versetzen. An Pleiers Meleranz arbeitet Carsten Morsch heraus, inwieweit Bewegung nicht nur erzählt, sondern in ihrer Ausgestaltung auch eine nachvollziehende Bewegung des Betrachters angeleitet wird. Eine zentrale Rolle spielen die Wahrnehmungen und raumgreifenden Bewegungen des Helden, der zur Assistenzfigur des Rezipienten werde. Im Spiel mit tatsächlicher und innerer Bewegung ermögliche die narrative Ausgestaltung eine körperliche Erfahrung des Rezipienten. So werde einerseits die im Prolog ausgegebene Lehre plastisch erzählt, während die narrativen Strategien andererseits auch der räumlichen Ausdifferenzierung der erzählten Welt dienten.105 Morsch konkludiert: Im wiederholten Aufbauen und Brechen von Wahrnehmungsroutinen, im Wechsel zwischen der Kopplung an die Bewegung des textinternen Betrachters, dem Appell an das sensomotorische Körpergedächtnis und den imaginationsstimulierenden Provokationen der Blickwendungen, werden Hörer und Leser von Zuschauern zu bewegten Betrachtern […], die sich selbst und ihre eigene Wahrnehmung ins Auge fassen.106

Um die narrativen Strategien zu untersuchen, mit deren Hilfe Literatur die Rezipienten zu Wahrnehmenden macht und sie körperlich in Bewegung versetzt, schlagen Christina Lechtermann und Carsten Morsch die Begriffe ‚Kinästhetik‘ und ‚kinästhetische Wahrnehmung‘ vor. Ausgehend von den Annahmen der Psychologie und Physiologie des 19. Jahrhunderts lässt sich Kinästhetik als die „Lehre davon [verstehen, T.S.], wie Wahrnehmungsroutinen überhaupt erst erlernt werden, indem ihr Nachvollzug am eigenen Körper“ eingeübt wird.107 Indem sie nach einem körperlichen Nachvollzug des Erzählten fragen, knüpfen Lechtermann und Morsch in ihrem Sammelband an die phänomenologische Auffassung, dass das leibliche In-der-Welt-Sein entscheidend auf das Welt- und Raumerleben wirkt, an und untersuchen diese im Kontext von Literatur und anderen Medien. Es geht jedoch nicht allein darum, inwiefern Literatur die „Sichtbarkeit der nonverbalen Zeichen und die ‚Lesbarkeit‘ der Körper“108 aus dem Raum der geteilten Wahrnehmung in die Schrift transferiert. Vielmehr konzentriert sich der Zugriff über das Konzept der Kinästhetik darauf, mit welchen narrativen Mitteln der Rezipient zu einer imaginativen Versetzung seines Körperschemas angeregt und affiziert wird. „Im Spannungsverhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit ist die Perzeption einer Erzählung deshalb […] ähnlich einem kinästhetischen Vollzug zu denken wie die Betrachtung eines Teppichs oder eines Freskos.“109 An Lechtermann, Morsch und Wenzel knüpft Matthias Däumer in seiner rezeptionsästhetischen Studie zu den höfischen Artusromanen an. Neben der Frage, wie fiktive

    

Vgl. Morsch, Bewegte Betrachter, S. 45–72. Morsch, Bewegte Betrachter, S. 59. Lechtermann/Morsch, Einführung Kunst der Bewegung, S. I–XIV, hier S. III. Wenzel, Visualität, S. 549–556, hier S. 552. Wenzel, Visualität, S. 553.

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Strategien der Raumerzeugung

Bewegungen in Literatur abgebildet sind, interessiert sich Däumer vor allem dafür, wie im Rezeptionsvorgang zwischen Text, Publikum und Rezitator eine kinästhetische Wahrnehmung aktualisiert wird.110 Wie bei jeder Kunstrezeption komme es dabei zu einer Verschaltung des realen Rezipientenkörpers mit einem imaginierten Körperschema, welches zum Avatar für den Rezipienten werde. „Der so erschaffene Avatar hat die Aufgabe, durch virtuelle Bewegung die in der Fiktion beschriebene Welt nachzuzeichnen und so imaginativ wahrnehmbar zu machen.“111 Das Körperschema, das Däumer mit ‚Avatar‘ synonym setzt, stellt in Anlehnung an Jacques Lacan ein Abbild des realen Selbst dar, mit dessen Hilfe der Rezipient mit der vom Rezitator dargebotenen Fiktion in Austausch zu treten vermag.112 Die kinästhetische Wahrnehmung nimmt sowohl Bezug auf das Körperschema als auch auf den realen Körper des Rezipienten und lässt den Rezipienten affektiv am Erzählten und Aufgeführten teilhaben.113 Die Untersuchung der Bewegung in höfischer Literatur und mehr noch des imaginativen Bewegtwerdens durch sie untermauert die neuere mediävistische Forschung immer stärker auch durch Rückgriff auf die neurophysiologischen Erkenntnisse zu den sogenannten Spiegelneuronen. Bemühungen, den Bewegungsapparat selbst als sensibel und wahrnehmend zu konzipieren, finden sich bereits seit dem 19. Jahrhundert in physiologischen und psychologischen Betrachtungen.114 Die Entdeckung der Spiegelneuronen in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts durch die Forschergruppe um Giacomo Rizzolatti verleiht diesen Überlegungen empirische Evidenz.

 Vgl. Däumer, Stimme im Raum, S. 89.  Däumer, Stimme im Raum, S. 100.  Vgl. Däumer, Stimme im Raum, S. 91–94. Während Däumer den Begriff ‚Körperschema‘ auf Jacques Lacan hin perspektiviert, wird ‚Körperschema‘ in der vorliegenden Studie mit Maurice Merleau-Ponty als Vorstellung vom eigenen Körper als zusammengehöriges Ganzes im Raum verstanden: „In gleicher Weise ist auch mein Körper für mich kein Gerüst räumlich zusammengestellter Organe. Ich habe ihn inne in einem unteilbaren Besitz, und die Lage eines jeden meiner Glieder weiß ich durch ein sie alle umfassendes Körperschema“. Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 123 (Hervorhebung im Original).  Wie die Rezipienten von Artusromanen und Computerrollenspielen über den körperlichen Nachvollzug der Handlung ebenfalls zu aktiven Teilnehmern werden, untersucht Franziska Ascher in ihrer komparatistischen Studie zu den ludonarrativen Logiken von Artusromanen und Computerrollenspielen. In enger Anlehnung an Däumer nimmt sie an, dass der Avatar im Artusroman wie im Spiel gleichermaßen Trägermedium für das Körperschema des Rezipienten werde und über kinästhetische Wahrnehmungen an der erzählten Welt teilhabe. Vgl. Franziska Ascher: Erzählen im Imperativ. Zur strukturellen Agonalität von Rollenspielen und mittelhochdeutschen Epen. Bielefeld 2021 (Populäres Mittelalter. 2), S. 211–246.  Nadia Ghattas verweist hier etwa auf William Carpenter, der 1875 entsprechende Phänomene beschreibt. Vgl. Nadia Ghattas: Polyfokalität des Textes. Kinästhetische Aspekte im Yvain und Iwein. In: Kunst der Bewegung. Kinästhetische Wahrnehmung und Probehandeln in virtuellen Welten. Hrsg. von Christina Lechtermann, Carsten Morsch. Bern/Berlin/Brüssel 2004 (Publikation zur Zeitschrift für Germanistik N.F. 8), S. 161.

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Die Spiegelneuronen bilden als besondere Neuronenart ein „somatisches Resonanzsystem“,115 das dem Gehirn eine innere Simulation von gesehenen, vorgestellten oder geplanten Handlungen ermöglicht. Erkennen wir eine Handlung als höchstwahrscheinlich zielgerichtet, kommt es zu einer neuronalen Aktivierung des motorischen Handlungssystems im Körper. Ohne dass die Bewegung selbst nachgemacht wird, wird der Körper neuronal in Bereitschaft versetzt, so dass eine schnelle Ansprechbarkeit garantiert ist.116 Gerhard Lauer perspektiviert diese Erkenntnisse auf die menschliche Nachahmungsfähigkeit: Er [der Mensch, T.S.] verfügt über einen neuronalen Mechanismus, der es ihm ermöglicht, Vorstellungen und Handlungen des Selbst mit Vorstellungen und Wahrnehmungen des anderen zu überbrücken. Diese Überbrückung leistet die Nachahmung im weitesten Sinn. […] Neuronales Korrelat dieser Nachahmung sind die Spiegelneuronen.117

Nachahmung und damit einhergehend Empathie, deren neuronale Grundlage die Spiegelneuronen bilden, seien maßgeblich dafür verantwortlich, dass der Mensch Literatur habe und auch genießen könne.118 Schon das Reden und – man wird ergänzen dürfen – Erzählen von Handlungen genüge, um im Körper an den betreffenden Stellen Resonanz hervorzurufen.119 Dass auch die Erzählung einen vergleichbar ‚bewegenden‘ Effekt auf die Imagination und die Körper hat wie real Wahrgenommenes, wie es die mittelalterliche Wahrnehmungs- und Erkenntnistheorie annahm, lässt sich demnach empirisch stützen. So wird deutlich, „that rigid boundaries between perceptive, cognitive and motor processes must be seen as artificial, and that the motor areas of the brain are far more involved in processes of perception and cognition than was previously believed“.120 Der

 Nadia Zaboura: Das empathische Gehirn. Spiegelneuronen als Grundlage menschlicher Kommunikation. Wiesbaden 2009, S. 57.  Vgl. Zaboura, Das empathische Gehirn, S. 57–76; Vgl. weiter Giacomo Rizzolatti, Corrado Sinigaglia: Empathie und Spiegelneuronen. Die biologische Basis des Mitgefühls. Frankfurt a.M. 2008 (edition unseld); Weiterführende Literaturhinweise gibt auch Zaboura. Ebenso in etwas ausgewählterem Maße auch Gisela Fehrmann, Ludwig Jäger: Sprachbewegung und Raumerinnerung. Zur topographischen Medialität der Gebärdensprache. In: Kunst der Bewegung. Kinästhetische Wahrnehmung und Probehandeln in virtuellen Welten. Hrsg. von Christina Lechtermann, Carsten Morsch. Bern/Berlin/ Brüssel 2004 (Publikation zur Zeitschrift für Germanistik N.F. 8), S. 314–337.  Gerhard Lauer: Spiegelneuronen. Über den Grund des Wohlgefallens an der Nachahmung. In: Im Rücken der Kulturen. Hrsg. von Karl Eibl, Katja Mellmann, Rüdiger Zymner. Paderborn 2007 (Poetogenesis. 5), S. 144. Gerhard Lauer stellt in seinem Beitrag die Relevanz dieser neurowissenschaftlichen Erkenntnisse für das Verständnis von Literatur heraus.  „Literatur besteht aus Nachahmungsgeschichten. Der Grund des Vergnügens an ihnen liegt in den Spiegelneuronen und dem mit ihnen verbundenen Mechanismus der Nachahmung.“ Lauer, Spiegelneuronen, S. 152.  Vgl. Lauer, Spiegelneuronen, S. 149–151.  Hans Rudolf Velten: Laughing at the Body. Approaches to a Performative Theory of Humor. In: JLT 3,2 (2009), S. 364.

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Leib muss demnach als am Erzählen unmittelbar perzeptiv und kognitiv beteiligt gedacht werden. Auch die bereits diskutierte phänomenologische Auffassung, dass das leibliche In-der-Welt-Sein zentral für das Welt- und Raumerleben ist, erfährt so empirische Bekräftigung. Das Erzählen bedient sich der Fähigkeiten des menschlichen Gehirns zum imaginativen Nachvollzug von Bewegung, Wahrnehmung, Emotion oder auch Lachen.121 Das Konzept der kinästhetischen Wahrnehmung leistet so nicht nur einen wichtigen Beitrag für die Frage danach, wie Erzähltes insgesamt performativ nachvollziehbar wird. Um einen Raum plastisch und konsistent als Imaginationsraum hervorzubringen, kommt dem körperlichen Nach- und Mitvollzug des Erzählten eine wichtige Rolle zu. Insofern erlaubt das Konzept der kinästhetischen Wahrnehmung in Anlehnung an Lechtermann, Morsch und Wenzel eine differenzierte Analyse von erzählter Bewegung, wie sie im Modus der Wegstrecke (parcours) für die narrative Raumerzeugung in Dienst genommen wird. Während die Forschung unter der kinästhetischen Wahrnehmung auch die Blickführung und -bewegung mitverhandelt, die hier bereits als narrative Strategie diskutiert wurde, soll im Folgenden der Fokus auf der kinästhetischen Bewegung, d. h. der erzählten Bewegung oder deren textinterner Wahrnehmung liegen. Neben der Deixis und dem Blick stellt kinästhetische Bewegung eine weitere narrative Strategie dar, um den Raum für den Rezipienten erfahrbar und imaginierbar zu machen. Sie erzeugt eine Dynamik, die den inneren Film des Rezipienten in Bewegung zu versetzen vermag. Eine damit einhergehende interaktive Verlebendigung des Erzählten in der höfischen Literatur – die auf die Fähigkeit der Rezipienten Bezug nimmt, multisensorische Wahrnehmung von Bewegung in einer höfischen Kultur der Sichtbarkeit zu deuten – bedarf jedoch nicht erst der Vortragssituation,122 auf deren Bedingungen sich beispielsweise Däumer bei der Analyse von kinästhetischer Wahrnehmung konzentriert. Vielmehr muss davon ausgegangen werden, dass narrative Strategien der Erzählung selbst schon eine Belebung der Imagination zum Ziel haben.

 Hans Rudolf Velten diskutiert mit Blick auf den komischen Körper und das Lachen über den Körper, inwiefern die Erkenntnisse zu den Spiegelneuronen auch phänomenologische Thesen einer Einleibung (embodiment) stützen und inwiefern sich diese Erkenntnisse für das Lachen über den Körper in Literatur in Anschlag bringen lassen. Vgl. Velten, Laughing at the Body, S. 363–369.  Vgl. Lechtermann/Wenzel, Repräsentation und Kinästhetik, S. 191–196. Die unauflösliche Verbindung der Sprache mit dem Körper und infolgedessen auch mit der Bewegung stellt der interdisziplinär angelegte und von Christina Lechtermann und Carsten Morsch herausgegebene Band eindrücklich heraus. Sibylle Krämer macht beispielsweise im Rahmen des Sammelbandes auf die rezente ‚Entkörperlichung‘ von Sprache aufmerksam, die ein Effekt der zunehmenden Virtualisierung von Sprache und vor allem Sprachtheorie ist. Vgl. Sibylle Krämer: Zur Kinästhesie der verkörperten Sprache. In: Kunst der Bewegung. Kinästhetische Wahrnehmung und Probehandeln in virtuellen Welten. Hrsg. von Christina Lechtermann, Carsten Morsch. Bern/Berlin/Brüssel 2004 (Publikation zur Zeitschrift für Germanistik N.F. 8), S. 343–356. Die Zusammengehörigkeit von Sprache, Körper und auch Raum stützen Gisela Fehrmann und Ludwig Jäger, wenn sie der Phylogenese unserer Sprache und ihrer genealogischen Verbindung zur Gebärdensprache auf der Spur sind. Vgl. Fehrmann/Jäger, Sprachbewegung und Raumerinnerung, S. 311–342.

Kinästhetische Bewegungen

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Die Bewegung von Figuren ist an den Raum zurückgebunden, so dass der Rezipient dieser Bewegung folgt und es zu einer Ausdifferenzierung der Raumimagination kommt.123 Die bewegte Figur fungiert dabei als subsidiärer Leib. Sie ist Teil des Raums, den sie durch ihre Bewegung im Modus der Wegstrecke (parcours) performativ herstellt, indem sie dem Raum Dynamik, Ausdehnung und Richtung verleiht. So vermag die erzählte Bewegung auch visuelle Bezugspunkte im Raum anzusteuern.124 Um die Bewegung an den Raum rückzubinden und um mit ihrer Hilfe Raum performativ zu erzeugen, bedarf es auf sprachlicher Ebene unter anderem deiktischer Prozeduren. Ihre Aufgabe ist es, wie oben dargelegt, eine Verortung der Figur im Raum (Origo) zu gewährleisten, in die der Rezipient sein Körperschema hineinversetzen kann. Wird Figurenbewegung textintern von anderen Figuren wahrgenommen, entsteht eine noch komplexere Raumkonstellation. Denn nicht nur die sich bewegende Figur wird ins Verhältnis zum sich aufspannenden Raum gesetzt. Auch die wahrnehmende Figur wird zu der erzählten Bewegung relationiert, so dass ein konsistenter und plastischer Handlungs- und Imaginationsraum entsteht. In beiden Fällen kann die Bewegung vom Rezipienten aus einer teilnehmenden, körperlich involvierten Position heraus imaginiert werden. So wird mithilfe von kinästhetischer Bewegung der imaginative Nachvollzug der Bewegung am eigenen Leib möglich. Die in den Baumgartenszenen erzählte und beobachtete Bewegung ist darauf zu befragen, wie sie an das sensomotorische Körpergedächtnis appelliert. Der Modus einer Bewegung und seine sprachliche Repräsentation können einen unterschiedlichen Effekt auf den Appell an das Körpergedächtnis besitzen und beeinflussen die Vorstellung des erzählten Raums. Ob eine Figur sich vorsichtig vortastet und womöglich noch weitere Empfindungen dieser Bewegung erzählt werden, unterscheidet sich für den kinästhetischen Vollzug beträchtlich von einer Figur, die ohne weitere Details von einem Punkt im Raum zu einem anderen gelangt. So bringen die performativen Strategien des Textes die Imagination des Rezipienten in Bewegung und involvieren den Leib des Rezipienten in das Raumerleben der erzählten Welt. „Sie inszenieren die kinästhetische Wahrnehmbarkeit des Dargebotenen, das heißt Hörer und Leser werden im Vollzug der Lektüre als aktiv Wahrnehmende in Bewegung gesetzt“.125 Die Leiblichkeit erweist sich daher auch für das Erzählen von Bewegung innerhalb eines Raums der Erzählwelt als zentraler Faktor. Die Assistenzfigur, die sich im Raum der erzählten Welt bewegt, bietet dem Rezipienten eine Origo an, in die er sein

 Unter dem Oberbegriff ‚Bewegungsraum‘ widmet sich Andrea Glaser nicht nur dem Weg und den Räumen, die sich aus sich selbst heraus bewegen. Am Beispiel von Munsalvaesche zeigt sie auf, wie Figurenbewegung und deren textinterne Beobachtung zu einer Ausgestaltung der Raumvorstellung von Innenräumen beitragen können. Vgl. Glaser, Held und sein Raum, S. 182–194.  Vgl. Ghattas, Polyfokalität des Textes, S. 163–169. Nadia Ghattas zeigt in einem close reading von Chrétiens Yvain, wie kleinteilig der Text Bewegung und Wahrnehmung der Figuren konstruiert und wie die Beobachtung von Bewegungen auf den Rezipienten wirkt.  Morsch, Lektüre als teilnehmende Beobachtung, S. 110.

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Körperschema transponieren kann, um von dieser aus den sich aufspannenden Raum zu imaginieren. In den nun folgenden Analysen gilt es demnach zu untersuchen, inwiefern deiktische Prozeduren, Blicke und kinästhetische Bewegung als narrative Strategien den boumgarten als konsistenten Handlungs- und Imaginationsraum erzeugen, welche semantischen Codierung mit dieser Ausgestaltung einhergehen und inwiefern der boumgarten als polyvalenter Schwellenraum für die Handlung inszeniert und funktionalisiert wird.

5 Analysen 5.1 Gottfrieds von Straßburg Tristan: Taktiken der Intimisierung Das belauschte Stelldichein im Baumgarten ist eine der verbreitetsten Szenen der Tristan-Erzählungen und der Artusepik insgesamt. Beinahe die Hälfte der Bildzeugnisse zum Tristan-Stoff entfällt auf die Szene, in der Tristan und Isolde von dem im Baum sitzenden König Marke beobachtet werden und die Entdeckung ihrer heimlichen Liebe gerade noch verhindern können.1 Zwischen dem 12. und 16. Jahrhundert findet die Szene vor allem im französischen und deutschen Raum rege Verbreitung. Handschriften, Teppiche, Minnekästchen, Gegenstände der weiblichen Toilette und vieles mehr werden mit der besonderen Konstellation im Baumgarten geschmückt. Nicht nur die Trägermaterialien sind vielfältig. Die Darstellungen der ersten Baumgartenszene werden außerdem häufig aus der Tristan-Überlieferung herausgelöst und in einen schwankhaften Kontext überführt. Dort werden sie etwa Seite an Seite mit Aristoteles und Phyllis abgebildet und illustrieren die Listigkeit der Frauen und die damit einhergehenden Schmähungen für überlistete Männer.2 Im Angesicht dieser vielfältigen Verbreitung und Kontextualisierung ist die Konstanz der Bildkomposition umso verblüffender. Das Zentrum der Darstellung nimmt der Baum ein. Zur linken und rechten Seite des Baumes stehen Isolde und Tristan in gehörigem Abstand zueinander. Auch auf der horizontalen Achse ist die Szene streng symmetrisch organisiert. Aus der Baumkrone lugt Markes gekröntes Haupt hervor. Gleichzeitig spiegelt sich das Konterfei des Königs zu Füßen der beiden Liebenden in dem Wasser der Gartenquelle.3 Obschon die Darstellung der Figuren teilweise durch höfische Attribute ergänzt wird, bleibt die räumliche Ordnung stets erhalten.4 Doch wie kann man die Konstanz der Darstellung deuten? Was leistet das so stabile Arrangement für die Abbildung?

 Einen Katalog mit allen den Herausgebern bis dato bekannten Bildzeugnissen bietet: Norbert H. Ott: Katalog der Tristan-Bildzeugnisse. In: Text und Illustration im Mittelalter. Aufsätze zu den Wechselbeziehungen zwischen Literatur und bildender Kunst. Hrsg. von Hella Frühmorgen-Voss. München 1975 (Münchener Texte und Untersuchungen zur Deutschen Literatur des Mittelalters. 50), S. 140–174.  Vgl. Hella Frühmorgen-Voss: Tristan und Isolde in mittelalterlichen Bildzeugnissen. In: Text und Illustration im Mittelalter. Aufsätze zu den Wechselbeziehungen zwischen Literatur und bildender Kunst. Hrsg. von ders. München 1975 (Münchener Texte und Untersuchungen zur Deutschen Literatur des Mittelalters. 50), S. 119–139.  Anders als etwa Eilhart nimmt Gottfried eine Veränderung vor, wenn er Marke und Melot nicht durch eine Spiegelung im Wasser der Quelle, sondern durch ihren Schatten auf dem Rasen enttarnt. Vgl. René Wetzel: Erkennen und Verkennen. Schattenwurf und Spiegelbild in mittelalterlichen Tristandichtungen und -bildzeugnissen. In: LiLi 45 (2015), S. 45–66.  Vgl. Doris Fouquet: Die Baumgartenszene des Tristan in der mittelalterlichen Kunst und Literatur. In: ZfdPh 92 (1973), S. 360–370. https://doi.org/10.1515/9783110795455-005

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Abb. 1: Spiegelkapsel aus Elfenbein, Paris, Musée de Cluny – Musée national du Moyen Âge, 7 x 7 cm, Mitte des 14. Jahrhunderts.

Auf einer Spiegelkapsel aus der Mitte des 14. Jahrhunderts (Abb. 1)5 thront Marke, seinem Status als König scheinbar angemessen, über Tristan und Isolde. Sie werden dank der Anlage des Baumgartens durch das Spiegelbild im Wasser seiner Anwesenheit gewahr. Tristans Schrittstellung suggeriert sogar eine gewisse Dynamik. Die Anwesenheit des Dritten stoppt die Bewegung auf die Geliebte zu abrupt. Mit seiner rechten Hand weist Tristan auf das verräterische Abbild Markes in der Quelle, damit Isolde den lauernden Hinterhalt bemerkt. Mit wenigen Mitteln stellt die Abbildung die charakteristische Bewegungsabfolge der ersten Baumgartenszene dar und bildet sie im Moment der größten Spannung ab. Diese strenge Symmetrie und stillgelegte Dynamik weist auch die Abbildung auf einem Buchsbaumkamm aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts (Abb. 2) auf.6 Die Arme von Tristan und Isolde sind wie zur gegenseitigen Begrüßung ausgebreitet. Zugleich weisen die Hände der Liebenden hinab auf die Quelle, in der sich der Lauscher auf dem Baum spiegelt. Die um die Szene geschlungenen Spruchbänder bilden eine Sprachlist ab, mit deren Hilfe Tristan und Isolde die Bewegung des Entgegengehens stoppen und die Brisanz der Situation vor Marke unbemerkt entschärfen. Isolde weist auf den pisson de la fonteine hin, was Tristan vorgeblich dazu veranlasst, seinen König herbeizuwünschen. Als heimlicher Beobachter dieses Geschehens wird der König so von der Unschuld seiner Frau und seines Neffen überzeugt und verwünscht die Verleumder, die ihn gegen die scheinbar zu Unrecht Verdächtigten aufgebracht haben.7

 Vgl. Ott, Katalog, S. 163.  Vgl. Ott, Katalog, S. 164 f.  Jeder Figur ist dementsprechend ein Spruchband „in ungelenkem Französisch“ zugeordnet. Darauf heißt es für Isolde: „tristram gardee de dire vilane por la pisson de la fonteine“. Tristan anwortet:

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Abb. 2: Kamm aus Buchsbaum, London, British Museum, 19,8 x 19,3 cm, 1. Hälfte des 15. Jahrhunderts.

Diese typische Bildkomposition bildet zum einen die zentralen räumlichen Merkmale der Szene ab. Genau darin hält sie aber, so meine ich, die für die Handlung konstitutive Verknüpfung von Raum, Bewegen, Wahrnehmen und Sprechen fest. Der zentrale Konflikt zwischen Marke, Isolde und Tristan wird mit all seinen semantischen Implikationen in den beiden Abbildungen der ersten Baumgartenszene auf kleinstem Raum darstellbar. Die Abbildung dieser Szene darf als emblematische Repräsentation der Erzählung als Ganzes verstanden werden.8 Ihre Fähigkeit, den Roman pars pro toto herbeizuzitieren, ist für Gerd Dicke ein Grund ihrer großen Beliebtheit.9 Im Baumgarten wird ein Spannungsverhältnis enggeführt, das den gesamten zweiten Handlungsteil des Tristan bestimmt. Die durch den Minnetrank entfesselte, machtvolle Liebe steht im Widerstreit zu einer öffentlichen Sphäre, die das Ausleben dieser Liebe eigentlich unmöglich macht. Die Bildzeugnisse der Baumgartenszene bilden die ständige Gefahr einer Entdeckung ab, der die Liebenden über die Erzählung hinweg ausgesetzt sind. Selbst der Baumgarten als Raum der heimlichen Treffen ist bedroht. Die Beobachtungen zu den Bildzeugnissen der ersten Baumgartenszene erlauben es, den Blick für die Analyse des boumgertelîn, wie Gottfried von Straßburg den Garten in

„dame ie voroi per ma foi qui fv ave nos monsignor le roi“. Marke hingegen sagt: „de dev sot il condana qui dementi la dame loial“. Ott, Katalog, S. 164 f.  Vgl. Michael Curschmann: Images of Tristan. In: Gottfried von Straßburg and the Medieval Tristan Legend. Hrsg. von Adrian Stevens. Cambridge 1990 (Publications of the Institute of Germanic Studies, University of London. 44), S. 7 f.  Vgl. Gerd Dicke: Das belauschte Stelldichein. Eine Stoffgeschichte. In: Der Tristan Gottfrieds von Straßburg. Symposion Santiago de Compostela. Hrsg. von Christoph Huber, Victor Millet. Tübingen 2002, S. 202.

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seinem Tristan10 einführt, zu schärfen. So simpel die räumliche Konstellation auf dem hölzernen Kamm oder dem Spiegelkästchen aus Elfenbein auch scheinen mag, ist für den Tristan danach zu fragen, mit welchen narrativen Strategien Gottfried den Baumgarten als Raum der Handlung erzeugt. Obwohl die so häufig abgebildete Szene die prominenteste des Tristan sein mag, ist sie nicht die einzige Baumgartenszene. Daher erscheint insbesondere die Frage nach dem inneren Zusammenhang der Gartenszenen interessant. Inwiefern bauen sie sowohl beim Erzählen von Raum als auch bei der semantischen Codierung der Gartenhandlung aufeinander auf? Schon aus den beiden Abbildungen wird deutlich, dass der Baumgarten mehr als eine Kulisse zu sein scheint. Demnach ist zu fragen, welche Funktion er für die Handlung hat. Ist er in seiner Eigenschaft als Schwellenraum vielleicht sogar besonders geeignet, den Grundkonflikt zwischen der magischen Trankliebe und der Ordnungsinstanz der höfischen Öffentlichkeit zu verhandeln? Um diese Fragen beantworten zu können, soll der Baumgarten im Folgenden in seiner sukzessiven Inszenierung entlang des Syntagmas analysiert werden. Die Analyse der Raumerzeugung des boumgarten mithilfe von narrativen Strategien bildet die Grundlage dieses Vorhabens. Um zu prüfen, ob und in welchem Maße der boumgarten als plastischer Imaginationsraum die Handlung bedingt, soll neben der narrativen Raumerzeugung auch die semantische Codierung der Szene in Betracht gezogen werden. Beide Aspekte müssen in der Analyse auf gegenseitige Bezüge befragt und gemeinsam verhandelt werden. Wenn der boumgarten tatsächlich ein Handlungsraum ist, der den Grundkonflikt der Erzählung auf besondere Weise erzählt, dann sind die Erkenntnisse der Analyse schlussendlich auch für eine Gesamtdeutung des Tristan einzuordnen.

5.1.1 Marjodo auf Tristans Spur Tristans Ansehen bei Hof und darüber hinaus steht – noch, wie der Rezipient ahnt – in voller Blüte (vgl. V. 13451–13455), als sein cumpanjûn Marjodo in die Erzählung eingeführt wird. Schon bei seiner Vorstellung wird deutlich, dass die Freundschaft der beiden nicht so innig und vertraut ist, wie es das gemeinsame Nachtlager glauben machen will. Zu dieser Freundschaft kommt Tristan, verrät der Erzähler, nur durch die süezen küniginne (V. 13468), auf die der Truchsess Marjodo ein Auge geworfen hat. Die mit wenigen Worten etablierte Dreieckskonstellation bietet den Auftakt für die drohende Entdeckung des Liebespaares, die essentiell an den Handlungsraum des Baumgartens geknüpft ist. Anhaltspunkte, wie es um den bislang noch unbekannten Handlungsraum bestellt ist, liefert nicht erst Marjodo. Bei genauerem Hinsehen legt schon Tristans nächtlicher Ausflug erste Bezugspunkte für die Entstehung des Vorstellungsraums Baumgarten fest. der stal sich tougenlîche dan (V. 13486) markiert auf sprachlicher Ebene nicht nur

 Gottfried von Straßburg: Tristan und Isold mit dem Fragment des Thomas. 2 Bde. Hrsg., übers. u. komm. von Walter Haug, Manfred Günter Scholz. Berlin 2011 (Bibliothek deutscher Klassiker. 192).

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durch Bewegungsverb und Adverb eine besondere Art von körperlicher Bewegung, sondern direktionalisiert diese Bewegung auch mithilfe des Richtungsadverbs dan. Kurz darauf wird dieser Weg noch einmal ganz parallel mithilfe von Bewegungsverb, Adverb und deiktischer Prozedur wiederholt (vgl. V. 13502). Die Origo der Wegdeixis ist wieder Tristans Schlafkammer. Zunächst ist noch Isolde als personales Ziel der Bewegung genannt: an den selben pfat geleit, / den er underwîlen ie / z’Îsôte vrôlîche gie (V. 13494–13496). In der parallelen Wiederholung von Tristans Weg wird nun die Kemenate als räumliches Ziel preisgegeben: wan gienc et baltlîche dar, dâ man im sîne tougenheit bescheiden haete und ûf geleit. nu er in die kemenâten kam (V. 13502–13505)

Tristans Weg erinnert zunächst an das ritterliche Unterwegssein, bei dem nur Ausgangs- und Zielpunkt erzählt werden, der eigentliche Weg aber weitgehend ausgespart bleibt.11 Gottfried gibt allerdings doch einiges über das Dazwischen preis. Der pfat, über den Tristan zu Isolde eilt, was des nahtes besnît (V. 13497). Die Nacht hellt zusätzlich der Mondschein auf (vgl. V. 13498 f.). Durch welchen Raum oder welche Räume der Weg führt, verschweigt der Erzähler, obwohl er von der Origo der Schlafkammer aus Tristans Weg folgt. Dass die tougenlîche Unternehmung (vgl. V. 13503 f.) zum Scheitern verdammt ist, verrät der Erzählerkommentar dennoch: dô haete im Misselinge ir stricke, ir melde, ir arbeit an den selben pfat geleit, den er underwîlen ie z’Îsote vrôlîche gie (V. 13492–13496)

Zusammen mit dieser Vorausdeutung, die der Nennung von Schnee und Mondschein unmittelbar vorangestellt ist, gibt Gottfried nur jene räumlichen Ausstattungsmerkmale preis, die das Scheitern des nächtlichen Ausflugs überhaupt erst ermöglichen. Dazu zählt außerdem die von Brangäne nicht verschlossene Tür (vgl. V. 13508 f.). Denn die in den Schnee gebannten und gut ausgeleuchteten Fußspuren leiten Marjodo bekanntlich zur unverschlossenen Tür von Isoldes Kemenate. Obwohl die Art des durchquerten Raums und seine räumliche Anlage vorerst noch eine ‚Blackbox‘ bleiben, lässt sich auf sprachlicher Ebene die Etablierung eines Durchgangsraums beobachten. Denn die deiktischen Prozeduren indizieren eine direktionale Bewegung, die der Rezipient imaginativ zusammen mit Tristan vollzieht und

 Vgl. beispielsweise Brinker-von der Heyde, Zwischenräume, S. 203–214; Störmer-Caysa, Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen, S. 65–67; Lorenz, Raumstrukturen, S. 59–62 u. 75–79.

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die Isoldes Kemenate zum Ziel hat. Die mit dieser Ausgestaltung auf Wortebene einhergehende Gerichtetheit und Dynamik stellen die Voraussetzung dafür dar, dass es sich bei dem Dazwischen um einen Raum im hier definierten Sinne handelt. Beachtenswert ist, dass Tristans Bewegung nachvollziehbar wird, obwohl Gottfried zunächst auf weitere räumliche Merkmale verzichtet, um Tristans Weg und den durchquerten Raum zu konkretisieren. Genannt werden einzig jene räumlichen Bedingungen, denen der Rezipient offenbar auch im weiteren Erzählen wegen ihres Gefahrenpotentials Beachtung schenken soll. Raum und Handlung scheinen sich hier bereits gegenseitig zu bedingen. Die räumlichen Umstände von Tristans Weg bleiben in dem noch unbekannten Durchgangsraum allerdings nicht lange so unbestimmt. Von seinem Ebertraum aufgeschreckt, sucht Marjodo vergebens nach Tristan. Sogleich vermutet er eine Heimlichkeit als Grund für Tristans Abwesenheit, womit die Einschätzung des Erzählers vom Figurenbewusstsein bestätigt wird. Analog zu Tristans Aufbruch setzt sich auch Marjodo sehr leise schleichend in Bewegung und tritt vor die Tür der Schlafkammer. Diese Position bildet die Origo für den monofokalen Blick auf Tristans Spur, die unmittelbar dervor zu sehen ist (V. 13563). Origo der Bewegung ist erneut die Kammer, doch erst Marjodos nach unten gerichteter Blick ermöglicht dem Rezipienten das Sehen in dem durchquerten Raum, der ihm bislang weitgehend vorenthalten wurde. Was der Erzähler und auch Tristan nicht preisgaben, wird mit Marjodo als subsidiärem Leib für den Rezipienten sichtbar, durchwanderbar und somit imaginierbar. er sleich vil lîse hin zer tür unde wartete dervür und sach Tristandes spor dervor. hiemite sô volgete er dem spor hin durch ein boumgertelîn. (V. 13561–13565)

Bei der Suche nach Tristan auf dem gemeinsamen Nachtlager wie auch in Isoldes Kemenate ist dem Truchsess das Sehen als Wahrnehmungsquelle vorenthalten. Er bleibt hier wie dort auf taktile Wahrnehmung verwiesen. Auf dem Nachtlager heißt es: und reichte mit der hant dô dar, / und alse er nihtes wart gewar (V. 13545 f.). Ähnlich tastend bewegt sich Marjodo auch in der Kemenate von Isolde: sus gienc er allez enbor und greifende mit henden an mûren unde an wenden […] und hôrte al ir gelegenheit (V. 13590–13595)

Die fehlende Beweiskraft von Tast- und Hörsinn werden später für Marjodo gegenüber Marke zum Problem, weshalb er die in der Nacht gereiften Vermutungen als am Hof entstandenes Gerücht über das Verhältnis zwischen Isolde und Tristan präsentiert

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(vgl. V. 13637–13651).12 Umso mehr muss auffallen, dass Tristans vermeintlicher Freund für die Imagination des folgenden Raums gerade aufgrund seiner visuellen Wahrnehmung zu einer wichtigen Assistenzfigur für den Rezipienten wird. Die wiederholte Raumdurchquerung betont das Bewegungsverb volgen und die deiktische Prozedur hin durch. Nur wird der durchquerte Raum diesmal als boumgertelîn identifiziert (V. 13564 f.). Dass nun die räumliche Leerstelle gefüllt wird, verdeutlichen Mondschein und Schnee als Ausstattungsmerkmale dieses Raums. Zwar ist dies die erste Nennung des Baumgartens, doch dem Rezipienten ist dieser Raum nicht fremd. Die Lage zwischen den beiden Kemenaten wie auch seine Eigenschaft als Durchgangsraum wurden durch Tristans Bewegungen bereits als eine Art Koordinatensystem eingeführt. Mondschein und Schnee ließen bereits den Schluss zu, dass es sich um einen Raum handelt, der nach oben hin den Naturgewalten (weitgehend) offensteht. Die wiederholte, direktionale Bewegung verleiht ihm auf der horizontalen Achse Tiefe. Die Bezeichnung als boumgertelîn verweist auf ein insbesondere im Umfeld des höfischen Romans gemeinhin verfügbares Vorstellungskonzept. Insofern kann boumgarten mit Gruenter als raumgesättigtes Wort verstanden werden, das eine grundlegende, überindividuelle Raumvorstellung evoziert.13 Sie enthält basale räumliche Merkmale wie eine je unterschiedlich geartete Abgeschlossenheit gegen den umgebenden Raum, die Nähe und Zugehörigkeit zum Hofkomplex sowie eine zweckorientierte Ausstattung. Zum Vorstellungskonzept boumgarten gehört außerdem eine Ausstattung, die an den Beschreibungstraditionen des locus amoenus und des Paradieses partizipiert. So werden dem boumgarten etwa Bäume, Blumen und oft auch eine Quelle zugeschrieben.14 Mit dieser Benennung des Durchgangsraums als Baumgarten fügt Gottfried dem bisherigen Raumgerüst eine ikonische Vorstellung mit hohem Visualisierungsgrad hinzu. „Als vertraute Gegenstände der Wahrnehmung regen sie [die raumgesättigten Wörter, T.S.] das Gedächtnis der Hörer an und rufen gespeicherte Bilder, Modelle des Bezeichneten ab“.15 Die evozierte Vorstellung wird in der Sukzession des Erzählens in die bisherige Raumimagination eingebunden, so dass das überindividuelle Vorstellungskonzept boumgarten als Raum der Handlung je spezifisch ausdifferenziert wird. Während Rainer Gruenter der Meinung ist, die mittelalterliche Literatur komme über diese raumgesättigten Wörter und einfachste Nähe-Ferne- oder Höhe-Tiefe-Relationen nicht hinaus,16 ist zu fragen, wie Gottfried das evozierte Konzept räumlich weiter konkretisiert und auf welche Weise er den Schwellencharakter des Baumgartens auserzählt und für die Erzählung funktionalisiert.

 Vgl. Urban Küsters: Marken der Gewissheit. Urkundliche und Zeichenwahrnehmung in mittelalterlicher Literatur. Düsseldorf 2012, S. 649–661.  Vgl. Gruenter, Problem der Landschaftsdarstellung, S. 294–296.  Vgl. Kap. 2.2.  Velten, Sprache und Raum, S. 34.  Vgl. Gruenter, Problem der Landschaftsdarstellung, S. 295.

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Die Origo der Wahrnehmung liegt immer noch bei Marjodo, den der Mond über snê und über gras (V. 13567) durch den Garten leitet. Zum ersten Mal wird der Baumgarten gemeinsam mit dem einfallenden Mondlicht zum Funktionsträger. Dem Schnee kommt dabei eine doppelte Funktion zu. Ähnlich wie in der Blutstropfenszene des Parzival wird schnell deutlich, dass der Schnee im Baumgarten „kein gewöhnlicher Schnee“ ist.17 In Verbindung mit Tristans Fußabdrücken sorgt er einerseits dafür, etwas hervorzubringen, das zuvor nicht (mehr) wahrnehmbar gewesen wäre.18 Die entstandene Bahnung, die den Garten als Durchgangsraum entstehen ließ, wird vom Mondlicht bestens in Szene gesetzt und stellt Tristans heimlichen Ausflug zumindest für den Blick des Truchsessen nachhaltig und unmissverständlich aus. Andererseits semantisiert der durch die Fußstapfen gezeichnete Schnee das Geschehen in der Kemenate als höchst problematisch. Die Treue und Aufrichtigkeit von Isolde und Tristan sind durch die heimliche Liebe von nun an ähnlich nachhaltig beschädigt wie die zertretene Schneedecke im Baumgarten. Das in der nächtlichen Helligkeit von Schnee und Mond enttarnte tête-àtête zeigt zudem, dass die ambivalente Codierung von Dunkelheit und Helligkeit, die den zweiten Teil des Tristan prägt,19 an dieser Stelle noch nicht greift. Denn in der hellen Nacht wird offenbar, was eigentlich tougen, also im Dunklen bleiben sollte. Aus dem Blick Marjodos entpuppt sich das boumgertelîn zunächst als ein Raum, in dem das Licht Zeichen heimlicher Unternehmungen für die eigentlich exkludierten Teilnehmer der öffentlichen Hofsphäre zugänglich macht.20 Für den Rezipienten wird noch einmal erkennbar, was er ohnehin wusste. Der sich etablierende Wahrnehmungsraum gestaltet sich ambivalent. Offenbar bietet die grundsätzliche Abschließbarkeit des Raums gute Voraussetzungen für den Weg zum heimlichen tête-à-tête. Andererseits ist dieser Schutz und mit ihm das illegitime Liebesverhältnis von Beginn an durch die höfische Öffentlichkeit bedroht. Die Erzählung folgt dem subsidiären Leib Marjodo bis an die offen gelassene Kemenatentür, durch die er dar în tritt (V. 13585). Anhand dieser deiktischen Prozedur wird sichtbar, dass der Baumgarten aus dieser Perspektive als Außenraum wahrge-

 Joachim Bumke: Die Blutstropfen im Schnee. Über Wahrnehmung und Erkenntnis im Parzival Wolframs von Eschenbach. Tübingen 2001 (Hermaea. 94), S. 63.  „Es ist nicht so, daß der Schnee nur den weißen Hintergrund bildet, auf dem sich das Bild aus Blutstropfen abzeichnet. […] Beide zusammen, Blut und Schnee, machen das schöne Antlitz von Condwiramurs präsent.“ Bumke, Blutstropfen im Schnee, S. 63.  Vgl. Werner Röcke: Im Schatten des höfischen Lichts. Zur Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit im mittelalterlichen Tristan-Roman. In: Licht. Religiöse und literarische Gebrauchsformen. Hrsg. von Walter Gebhard. Frankfurt a.M. 1990 (Bayreuther Beiträge zur Literaturwissenschaft. 14), S. 37–55.  Die Anwesenheit des exkludierten Dritten bedroht die Intimdyade. Mangelt es dem Exkludierten jedoch an beweiskräftigen Beobachtungen, kann gerade seine Anwesenheit die Intimität der Liebenden besonders in Szene setzen. Vgl. Sebastian Baier: Heimliche Bettgeschichten. Intime Räume in Gottfrieds Tristan. In: Virtuelle Räume. Raumwahrnehmung und Raumvorstellung im Mittelalter. Akten des 10. Symposiums des Mediävistenverbandes, Krems, 24.–26. März 2003. Hrsg. von Elisabeth Vavra. Berlin 2005, S. 190–193.

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nommen wird. Zwar handelt es sich um einen zum Hof gehörigen Raum, aber der Baumgarten ist hier kein Innenraum. Der Übergang vom Garten zum Damengemach ist klar markiert. Dem arbeiten auch die Lichtverhältnisse zu, denn kaum im Innenraum der Kemenate angekommen, ist es nicht nur mit Licht und Mondschein vorbei, sondern auch mit Marjodos visueller Wahrnehmung. Für den Rest der Szene bleibt er blind, kann nur hören, was hinter dem Schachbrett vonstattengeht.21 Weder der Rückweg Marjodos noch der Tristans spielen danach für die Erzählung noch eine Rolle. Mit kêrte er umbe und gie dan (V. 13617) und kam ouch Tristan wider schiere (V. 13620) sind sie schnell erzählt. Der Imaginationsraum Baumgarten ist angelegt, die räumlichen und motivischen Fäden vorerst ausgelegt. Schon anhand dieser beiden knappen Szenen zeigt sich, dass Gottfried einen konsistenten Imaginationsraum entwirft. Die über das Syntagma verteilten Details zu dessen räumlicher und semantischer Ausgestaltung halten den Rezipienten fortwährend zur Ausdifferenzierung des Handlungsraum in der Imagination an. Insbesondere mit Marjodo als subsidiärem Leib erfährt der Rezipient den Handlungsraum boumgarten im Modus der Wegstrecke über deiktische Prozeduren, Blicke und Bewegungen.22

5.1.2 Brangäne führt Tristan Nachdem Marjodo mit seinen Vermutungen bei Marke zwîvel und arcwân gesät hat, bricht eine schwierige Zeit für das Liebespaar an. In den Bettgesprächen gelingt es Isolde durch Sprachlisten wiederholt, die Entdeckung der geheimen Liebe zu verhindern und Markes Misstrauen zeitweilig zu zerstreuen.23 Die Spirale von wiedergewonnenem Vertrauen und erneutem Zweifel gipfelt schließlich in der Trennung der Liebenden: sî niht mohten hân / keine state under in zwein, / daz si geredeten in ein (V. 14312–14314). Mussten die intimen Begegnungen zuvor schon in die Nicht-Öffentlichkeit von Isoldes Kemenate

 Vgl. Küsters, Marken der Gewissheit, S. 649–661.  Hübner fasst Marjodo ist seiner narratologischen Analyse als Raumfilter auf, weil der Rezipient den Raum aus seiner Wahrnehmung sieht. Als fokale Figur ist dem Rezipienten darüber hinaus sein Figurenbewusstsein zugänglich. Das heißt, der Rezipient lernt nicht nur die Deutung seiner Wahrnehmung, sondern auch seine motivationalen Beweggründe kennen. „Die narrative Form führt den Rezipienten den Weg entlang, an dessen Ende der Antagonistenstandpunkt [Marjodos, T.S.] steht – doch das kognitive Privileg über die Figur sichert jene Distanz, die verhütet, daß der Rezipient selbst den Standpunkt wechselt.“ So reiht sich diese Szene für Hübner in Gottfrieds ‚Anerzählen gegen den TunErgehen-Zusammenhang‘ ein. Vgl. Hübner, Erzählform, S. 328–330, hier S. 329 f.  Einen Überblick über die Listenkette, der die Listen von Tristan und Isolde in Sprach- und Handlungslisten differenziert, gibt Monika Schulz. Vgl. Monika Schulz: Gottfried von Straßburg: Tristan. Stuttgart 2017, S. 97–116.

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verlagert werden, so hat die höfische huote schließlich auch diesen Raum erfasst.24 Marke erkennt an den gemarterten Körpern von Frau und Neffe, dass sie einander gerne träfen, wüssten sie nur wo oder wie (vgl. V. 14348 f.). Doch vorerst existiert kein solcher Raum an Markes Hof mehr, in dem sich Tristan und Isolde jeweils ihre vor dem Hof versteckte Innenwelt offenbaren und die magische Liebe ausleben können. Gottfried macht Brangäne zur Urheberin der entscheidenden Idee.25 Sie soll die Trennung überwinden und durch sie avanciert der boumgarten zu einem zentralen Handlungsraum des zweiten Teils. Ihre Anweisung an Tristan, wie ein Treffen in besagtem Baumgarten ablaufen solle, reichert den bislang als Durchgangsraum initiierten boumgarten nicht nur mit neuen Ausstattungsmerkmalen an. Eine Vielzahl von deiktischen Prozeduren sorgt für ein enges Verweisnetz zwischen Figuren und Natur und verändert den Garten räumlich wie semantisch. Die Stelle, an der Brangäne mit Tristan spricht, ist nicht genauer spezifiziert. Sie ist offensichtlich irrelevant, denn Tristans Aufmerksamkeit und mit ihr die des Rezipienten ist ganz allein auf das Gesagte gerichtet. So ist es nicht verwunderlich, dass der Imperativ die alles bestimmende Verbform dieser direkten Rede darstellt (vgl. insb. V. 14417–14460). Bereits die Anweisung, wie Tristan die Späne vorzubereiten habe, ist so präzise, als führe Brangäne selbst Tristan Schritt für Schritt die Hand (vgl. V. 14423–14429). Nachdem Tristan im Sprechzeitraum der beiden Gesprächspartner mit den Spänen bewaffnet ist, heißt es: gât zem boumgarten în (V. 14431). Den angesprochenen Baumgarten hat der Rezipient mithilfe von Tristan und Marjodo bereits als ikonisch ausgestatteten Durchgangsraum kennengelernt. Er muss auf dem Weg von Tristans Kammer zu Isoldes Kemenate durchschritten werden. Dieser räumlich und semantisch codierte Vorstellungsraum wird von Brangäne nun für die folgenden Anweisungen reaktiviert und im Verlauf ihrer direkten Rede transformiert. Das Erzählen kehrt, vorerst nur gedanklich, in diesen Raum zurück. Brangänes Anweisung an Tristan differenziert die noch recht unspezifische Imagination des Handlungsraums weiter aus. Während sich die Räume des heldischen Unterwegsseins wie ein Teppich kurz vor dem Helden aus- und hinter ihm direkt wieder einrollen,26 wird die Raumimagination des boumgertelîn wiederbelebt und in Brangänes Rede erweitert. Tristan wird also in den boumgarten geschickt (vgl. V. 14431). Das Hineingehen vollzieht sich nicht in der tatsächlichen Erzählwelt der gegenseitigen Kommunikation,

 Von Marke auf die sich ausbreitenden Gerüchte hingewiesen, hält sich Tristan explizit von jenem Typ von Raum fern, der ihm vorher das Zusammentreffen mit Isolde ermöglichte: Tristan meit iegelîche stat, / dâ der vrouwen heinlîche was (V. 14296 f.).  Durch diese Veränderung gegenüber den Vorgängern analogisiert Gottfried die folgende Szene mit Brangänes Hilfe nach dem Genuss des Minnetranks. Vgl. Walter Haug, Manfred Günter Scholz: Kommentar. In: Gottfried von Straßburg: Tristan und Isold mit dem Fragement des Thomas. Bd. II. Hrsg. von dens. Berlin 2011, S. 589. Die Treueversicherung der Zofe (vgl. V. 14450–14460), die bekräftigt, ihr Leben in den Dienst des Paares und seiner Liebe zu stellen, bestätigt die enge Verbindung der Szenen.  Vgl. Störmer-Caysa, Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen, S. 63–76.

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sondern im Vorstellungsraum der beiden Gesprächspartner. Brangäne leitet Tristan dazu an, sich den Baumgarten vorzustellen und die von ihr erdachte Abfolge des Geschehens imaginativ in diesem Raum nachzuvollziehen. und gât zem boumgarten în ir wizzet wol daz bechelîn, daz von dem brunnen dâ gât, hin dâ diu kemenâte stât: dar în sô werfet einen spân und lât in vliezen unde gân hin vür der kemenâten tür (V. 14431–14437)

Die Präposition în zeigt, dass der Baumgarten dieses Mal nicht nur Durchgangsraum bleibt. Im Gegenteil, als Innen gegen die umgebende Erzählwelt des Hofes abgegrenzt, wird der Gartenraum zum Zielpunkt der gerichteten Bewegung und zum Handlungsraum für die erdachte Choreographie. Mit ir wizzet wol fokussiert Brangäne Tristans Raumvorstellung auf daz bechelîn, / daz von dem brunnen dâ gât (V. 14432 f.). Tristan und Brangäne kennen den Baumgarten. Doch im gleichen Maß, in dem die Ausstattungsmerkmale und die dazugehörigen deiktischen Prozeduren genutzt werden, um Tristans Aufmerksamkeit zu fokussieren, dienen sie dem Rezipienten dazu, neue Merkmale in den Vorstellungsraum zu integrieren. Brangänes Imperative richten sich über Tristan auch an den Rezipienten, so dass der Liebende für diesen zum subsidiären Leib wird. Die in V. 14432 verwendete deiktische Prozedur dâ gehört zur Raumbereichsdeixis. Ihr Relatum ist der zuvor genannte Baumgarten. Ob dâ origoexklusiv oder origoinklusiv verwendet wird, ist nicht leicht zu entscheiden. Als origoexklusive deiktische Prozedur verwiese es vom unbestimmten Standpunkt der sich unterhaltenden Figuren auf den aufgerufenen Vorstellungsraum. Doch die deiktische Prozedur kann auch origoinklusiv verstanden werden. Durch Brangänes Rede versetzt Tristan sein Körperschema in den imaginierten Baumgarten hinein (gât zem boumgarten în, V. 14431). Alle Anweisungen konzentrieren sich auf sein imaginiertes Tun und Wahrnehmen. Infolge dieser Versetzung kann Tristan als Origo betrachtet werden. dâ (V. 14333) platziert die Quelle und den Ausgang des Baches zwar in einer unbestimmten Entfernung von Tristans (imaginiertem) Standpunkt, aber gemeinsam mit ihm innerhalb des Gartenraums. Die Richtungsdeixis von … hin (V. 14433 f.) führt den Bachverlauf von diesem dâ aus durch den Baumgarten hindurch bis zur Kemenate und verstärkt die bekannte, nachbarschaftliche Beziehung der beiden Räume. Tristans Standpunkt, die Quelle und Isoldes Kemenate werden sprachlich in eine räumliche Beziehung gesetzt. Isolde wird vorerst allein über ihren Raum, die Kemenate, bestimmt. Wie schon durch Tristans Spur und Marjodos Verfolgung erhält der boumgarten auf sprachlicher Ebene Gerichtetheit und Ausdehnung. Das unterstützen auch die Späne, die Tristan auf dem Bach vliezen unde gân lassen soll (V. 14436). Sie durchwandern den Baumgarten von der Quelle aus hin vür der kemenâten tür (V. 14437) hin zu Isolde.

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Brangänes Schilderungen fallen mit einem auktorialen Blick zusammen. Was Brangäne anweist, kann sich der Rezipient als eine quasi stattfindende, bewegte Handlung vorstellen. Tristan wird zum subsidiären Leib, nimmt aber selbst nichts wahr. Gottfried gibt durch Brangänes Anweisung preis, was passiert. So wandert der erzählerische Blick den Spänen auf ihrem Weg nach, bleibt dort vor der Kemenate gewissermaßen haften und schlägt um. Denn dâ, also vür der kemenâten tür (V. 14437), gân wir z’allen zîten vür (V. 14438), lässt Brangäne Tristan wissen. Bislang wurde das Geschehen von Tristans Standpunkt aus erzählt. Mit wir (V. 14438) versetzt sich Brangäne inklusive der imaginierten Isolde nun in den Vorstellungsraum. dâ gân wir z’allen zîten vür, ich und diu vröudelôse Îsôt, und weinen unser herzenôt. als wir in danne ersehen dâ, dâ bî bekennen wir iesâ, daz ir dâ bî dem brunnen sît. dâ der öleboum schate gît, dâ wartet unde nemet war (V. 14438–14445)

Die Origo wechselt, denn mit der Raumbereichsdeixis dâ (V. 14438 u. 14441) rekurriert die Zofe auf die vor der Kemenate gelegene Stelle am Bach, an der die Frauen gemeinschaftlich die Trennung von Tristan beklagen. Die Späne fungieren als Zeichen und lösen einen Inferenzschluss aus: Sehen die Frauen die Späne vorbeifließen, wissen sie, dass ihr Sender Tristan sie zuvor im boumgarten zu Wasser gelassen hat. Dank Brangänes genauer Choreographie wissen sie sogar, wo sich Tristan von ihnen aus gesehen aufhält: dâ bî dem brunnen (V. 14443). In entgegengesetzter Richtung zum Bach durchmisst diese wiederholte Raumbereichsdeixis mit den Frauen als Origo den Baumgarten zurück zu Tristans Standpunkt. Die Bezogenheit der Standpunkte von Tristan und Isolde aufeinander wird demnach weiter intensiviert. Die Quelle, an der Tristan steht, wird zum Fixpunkt innerhalb der Gartennatur. Es folgt ein letzter Wechsel des Blicks zurück zu Tristan. An der Stelle, an der der Olivenbaum Schatten wirft, dort soll Tristan warten (vgl. V. 14444f.). Die doppelte Verwendung von dâ (dâ bî dem brunnen, V. 14443; dâ der öleboum schate gît, V. 14444) fügt dem Ensemble aus Quelle und Bach mit dem Olivenbaum eine neue Komponente hinzu. Dass er Schatten spendet, in dem sich Tristan aufhalten kann, lässt auf einen großen, ausladenden Baum schließen. Die zuvor etablierte vertikale Achse gestaltet Gottfried mit dem einfallenden Licht, dem Baum mit seinen schattenspendenden Blättern und dem sich darunter abzeichnenden Schatten weiter aus. In diesem Ensemble wartet Tristan auf die sich ihm nähernde Isolde (vgl. V. 14446). Dass er dort nicht nur warten, sondern auch wahrnehmen soll (vgl. V. 14445), wird sich für das Liebespaar noch bezahlt machen. Mit Brangänes direkter Rede, wie die Trennung überwunden werden kann, wird der Gartenraum räumlich wie semantisch transformiert. Die vorgestellte Handlung innerhalb des Gartens macht ihn vom Durchgangsraum zum Handlungsraum. Die einan-

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der entgegengesetzten Bewegungen der Späne im Bach und die imaginierte, herannahende Isolde verleihen dem boumgarten räumliche Tiefe. In der Handlungslist mit den Spänen funktionalisiert Brangäne die direkte Verbindung zwischen dem Baumgarten und Isoldes Kemenate, von der der Rezipient bereits wusste, im Dienste der Liebenden. In Tristans Einweisung nimmt sie bravourös eine Deixis am Vorstellungsraum (‚Phantasma‘ bei Bühler) vor. Im Gespräch mit Tristan reaktiviert sie den Baumgarten und weist Tristan an, sein Körperschema imaginativ in den Vorstellungraum boumgarten zu versetzen. Ganz im Sinne Ehlichs dienen die deiktischen Prozeduren dazu, Tristans Aufmerksamkeit im imaginierten Raum zu lenken.27 Die mehrfache Verwendung der Raumbereichsdeixis dâ stellt sowohl von Tristans wie von Brangänes imaginierter Origo eine Beziehung zwischen zwei komplementären Situationen her: Tristan sendet an der Quelle die Zeichen aus, Isolde und Brangäne empfangen sie und schließen auf Tristans Anwesenheit, genauer noch auf dessen Position im Baumgarten. Obwohl die Positionen nicht gegenseitig einsehbar sind, stellen die deiktischen Prozeduren eine Nähe her.28 Aus beiden Richtungen wird auf die Sender- und Empfängerpositionen im Raum verwiesen. Durch Tristan wendet sich Brangänes Anweisung auch an den Rezipienten. Ihr imperativischer Modus macht sie sogar umso eindringlicher. Ist das Gespräch zwischen Tristan und der Confidente für den Erzähler im Vorstellungsraum der Erzählung positioniert, so wird Brangänes direkte Rede für den Rezipienten zu einer ‚Deixis am Vorstellungsraum im Vorstellungsraum‘. Das heißt: Innerhalb des Vorstellungsraums wird ein abwesender Vorstellungsraum imaginiert. Darin werden Relationen hergestellt und Handlung wird erzählt. Der durch die imperativische Rede angeleitete Tristan wird zum subsidiären Leib und erzeugt durch seine Bewegungen Raum. Vermittelt über die am Gespräch beteiligten Figuren wird der Rezipient zur Origo der Raumbereichsdeixis und folgt dem Blick, mit dem Brangäne das zu vollziehende Geschehen erzählt. Die Wechsel des Blicks von Tristan in Richtung der am Bach wartenden Damen und umgekehrt schlüsseln die Gerichtetheit und Dreidimensionalität des Gartens von zwei Seiten her auf. Nur Brangänes direkte Rede vermag das Potential dieser Deixis am Vorstellungsraum ungebrochen zur Geltung zu bringen.29 Ihrem Rat kann man so präzise folgen wie Marjodo Tristans Schneespur.30

 Vgl. zur Fokussierung der Aufmerksamkeit durch deiktische Prozeduren Ehlich, Sehen und Zeigen, S. 340.  Vgl. Velten, Sprache und Raum, S. 36 f.  „Entscheidend ist nämlich, dass gerade hier, im Augenblick einer Orientierung im Raum, Gottfried die ungefilterte direkte Rede Brangänes gebraucht, um das gesamte Imaginationspotential deiktischer Verweise und einer zugehörigen außerräumlichen und raumschaffenden Origo zu nutzen.“ Velten, Sprache und Raum, S. 37. Velten betrachtet Brangäne insofern als origoexklusiv, als sie im Moment, in dem sie die Anweisungen formuliert, nicht Teil des Raums ist. Es wurde oben gezeigt, inwiefern diese Einschätzung durch die Versetzung der Körperschemata von Tristan und Brangäne zu ergänzen ist.  Heißt es über Marjodo sô volgete er dem spor (V. 13564), sagt Brangäne später: sô volget doch dem râte mîn (V. 14418). So eindeutig der Mond Tristans Fußspuren freilegt, so präzise kann Tristan den Schritten von Brangänes Plan folgen.

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In diese dynamische Bezugnahme sind die neuen Ausstattungsmerkmale des Baumgartens eingelassen. Tristan kennt sie und muss von Brangäne nur auf sie fokussiert werden. Für den Rezipienten werden sie in diesem Zuge neu eingeführt und zugleich präzise zueinander und zu Tristan in Relation gesetzt. Es ergibt sich so ein Raumensemble aus Olivenbaum, Quelle und Bach, das den Kern des Baumgartens bildet. Das anschauliche Konzept, das das raumgesättigte Wort boumgarten bei seiner ersten Nennung evozierte, wird mithilfe der deiktischen Prozeduren und den neuen Ausstattungsmerkmalen konkretisiert. Die Raumimagination des boumgarten wird immer weiter transformiert und angereichert.31 Die schon in der ersten Szene angelegten Achsen des Gartenraums werden so ausdifferenziert, dass der Raum an Dreidimensionalität gewinnt. Brangänes Deixis am Vorstellungsraum ist nicht nur eine Anweisung für Tristan. Sie dient Brangäne zugleich als Rückversicherung für die Zuverlässigkeit der Zeichen. Nur wenn sie Tristan den Ablauf einschärft, können sie und Isolde die Zeichen unmissverständlich deuten. Wieder hat die Gartennatur eine wichtige Funktion für das Gelingen der Handlung: „ohne Bach keine Botschaft, ohne Garten und Quelle kein Treffpunkt“.32 Diese räumlichen Transformationen sind ursächlich für eine semantische Transformation des boumgarten. Für Marjodo war der Baumgarten noch ein Raum, der für offensichtliche Zeichen eine klare Deutung zuließ. Der heimliche Ausflug Tristans wurde dort mithilfe von Schnee und Mondlicht erbarmungslos der Öffentlichkeit in Gestalt Marjodos preisgegeben.33 Ohne dass in der Erzählwelt eine tatsächliche Handlung ausgeführt wird, verändert Brangäne den Status des Baumgartens. Indem der Baumgarten auf diese Weise als Raum erzeugt wird, wird seine Abgrenzung gegen das Außen semantisch verstärkt. Zugleich akzentuiert Brangänes Anweisung durch die wechselseitigen Raumbezüge für Tristan und den Rezipienten die Nähe von Gartenraum und Kemenate. Der verbindende Bach ermöglicht ein geheimes Prozedere. War die Liebe zwischen Tristan und Isolde zuvor ohnehin heimlich, also vor dem Zugriff der Öffentlichkeit verbal-ideell und räumlich durch verschiedenste Maßnahmen – Sprachlisten in Form der dissimulatio, Treffen in nichtöffentlichen Innenräumen – geschützt, ist die Spankommunikation die Initiation dafür, dass der Baumgarten ein Raum für die intimen Begegnungen zwischen Tristan und Isolde werden kann. Der Baumgarten wird für die intime Interaktion funktionalisiert.34

 Die räumliche Konsistenz, die durch die komplexe und dynamische Verwendung von Deiktika und Blickwechseln erzeugt wird, verdeutlicht, dass Brangänes Anweisung mehr leistet als die Beschreibung einer zusammenhängenden Großlandschaft, wie Ingrid Hahn meint. Vgl. Hahn, Raum und Landschaft, S. 44 f.  Velten, Sprache und Raum, S. 35.  Die Tatsache, dass Marjodo an der entscheidenden Stelle die autoptische Beglaubigung fehlt, verhindert, dass seine Entdeckung vollends in das Licht der Öffentlichkeit treten kann. Vgl. Küsters, Marken der Gewissheit, S. 655 f.  Baier spricht von intimen Räumen (locus intimus). Vgl. Baier, Heimliche Bettgeschichten, S. 189–202.

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‚Heimlichkeit‘ und ‚Intimität‘ bezeichnen mit Blick auf die Liebesbeziehung grundsätzlich den gleichen Gegenstand. Allerdings blicken sie aus verschiedenen Richtungen auf ihn.35 Heimlichkeit ist von der Öffentlichkeit aus zu denken. heinlîch ist das, was aus dem öffentlichen Raum ausgeblendet wird, vor der Öffentlichkeit verborgen bleibt und bleiben muß, weil es der institutionalisierten Form organisierter Herrschaft nicht entspricht oder im Widerspruch steht zu den Verhaltensmustern, die mit gesellschaftlicher Anerkennung (êre) honoriert werden.36

Die Liebe zwischen Tristan und Isolde ist demnach heimlich. Zugleich ist sie aus der Innensicht des Paares betrachtet aber auch intim. Die Intimdyade der beiden Liebenden mit Brangäne als einziger Vertrauter produziert ein exkludiertes Drittes und verlegt sich in ihrer Realisation in Räume, die einen Schutz der intimen Beziehung gegen das Außen ermöglichen – so zumindest der Wunsch.37 Heimlichkeit und Intimität können daher als zwei Seiten einer Medaille verstanden werden. Die narrativen Strategien, die mit Brangänes Unterweisung einen Imaginationsraum entstehen lassen, machen den Baumgarten performativ zu einem intimen respektive heimlichen Raum. Die erdachte Abfolge stellt eine wechselseitige Verbindung zwischen Sender und Empfänger her. Sie stellt aber auch eine Verbindung zwischen dem Schwellenraum Baumgarten und der Kemenate her, deren Heimlichkeit zuvor durch den umherstolpernden Marjodo zerstört wurde. Das räumliche Verhalten der Liebenden vereindeutigt den Schwellenraum Baumgarten, indem er durch Handlung und Bewegung als intimer, abgelegener und isolierter Raum konstruiert wird. Ausgehend von Brangänes Idee entsteht eine Taktik der Intimisierung, die den Baumgarten als eben diesen intimen Raum erzeugt. Schwankt der Baumgarten per definitionem zwischen Hof und Peripherie, höfischer und außerhöfischer Sphäre, Zugänglichkeit und Isolation, Öffentlichkeit und Heimlichkeit, erzeugt Gottfried zeitweilig einen Raum, der diese Spannungsverhältnisse außer Acht lässt. Erzeugt wird ein Raum, in dem Öffentlichkeit und Kultur scheinbar völlig verdrängt sind. Im Gegenzug kann eine Verbindung zwischen den Liebenden hergestellt werden, die ihr Aufeinandertreffen ermöglicht. Dass Tristan und Isolde das Prozedere in ahte tagen wol ahte stunt (V. 14505) gelingt, verstärkt den heimlichen Charakter des Gartenraums. Insbesondere durch deiktische Prozeduren und kinästhetische Bewegung stellen Brangänes Anleitung und deren Wiederholungen eine Taktik der Intimisierung des Baumgartenraums dar. Die schwellenhafte, kulturelle Architektur des boumgarten wird durch die erzählte, räumliche Bewegung im Modus des parcours unterminiert. Die Handlung transformiert den Garten

 Vgl. Wenzel, Öffentlichkeit und Heimlichkeit, S. 342 f. Wenzel zeigt eben dies für den Begriff ‚Heimlichkeit‘ selbst.  Wenzel, Öffentlichkeit und Heimlichkeit, S. 344.  Baier nennt dies unter Bezug auf Abram De Swaan die ‚Grammatik der Intimität‘ und untersucht das Verhältnis von Raum und intimer Interaktion. Vgl. Baier, Heimliche Bettgeschichten, S. 189–202.

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zu einem Raum, in dem vorläufig vil heinlîch […], / daz nie nieman wart kunt / noch ez kein ouge nie gesach (V. 14504–14507), das wiederholte Aufeinandertreffen der getrennten Liebenden möglich wird. Die tatsächliche Ausführung der Spanlist wird, obwohl sie offenbar achtmal stattfindet, nicht besonders ausgreifend erzählt. Nachdem Tristan die Späne wie befohlen geschnitzt und ausgesendet hat, kam er und sîn vrouwe Îsôt zem brunnen an des boumes schate vil heinlîch und ze guoter state in ahte tagen wol ahte stunt, daz ez nie nieman wart kunt, noch ez kein ouge nie gesach. (V. 14502–14507)

Dass das Prozedere letztlich in einer direktionalen Bewegung auf den Treffpunkt hin kontrahierbar ist, hängt mit den ausführlichen Anweisungen Brangänes zusammen. Eine ähnliche Kontraktion des Erzählens von sich wiederholenden beziehungsweise sehr ähnlichen Handlungen nutzt zum Beispiel auch Hartmann von Aue. Im Iwein38 nimmt Kalogrenant sich ebenfalls sehr viel Zeit, den von ihm absolvierten Weg und dessen Anwohner ausführlich zu thematisieren. Währenddessen ist Iweins Weg erzählerisch so stark gerafft, dass er in nur 26 Versen an das gleiche Ziel kommt (vgl. V. 963–989). Sowohl im Iwein als auch bei den wiederholten Treffen im boumgarten ist vom Geschehen, das sich zuvor ereignet hat oder noch ereignen wird, sehr viel plastischer die Rede als in der tatsächlichen Durchführung durch die Protagonisten. Indem die Deixis am Vorstellungsraum von Tristan wie auch dem Rezipienten die Versetzung des Körperschemas in den imaginierten boumgarten fordert, läuft imaginativ tatsächlich eine zu vollziehende Handlungsfolge – durch Brangänes Imperative verstärkt – ab. Man imaginiert Tristan, der die Späne schnitzt, in den Brunnen wirft, wartet, bis die Botschaft die Damen erreicht und Isolde ihm entgegeneilt. So baut Gottfried eine Raumvorstellung und eine kinästhetische Bewegungsfolge auf, die der Rezipient im zusammengezogenen Bericht der tatsächlichen Treffen erneut bemühen muss. Man imaginiert schließlich auch genau, was Iwein vorfindet, wenn er auf den griulîchen man (V. 980) trifft, der ihm den Weg weist. Unmittelbar nachdem der Erzähler von den mehrfach geglückten, heimlichen Treffen, die der Rezipient als Teilnehmer am eigenen Leib mitvollziehen konnte, berichtet hat, wird die räumliche Choreographie gebrochen. Eines nachts geht Tristan des endes (V. 14509), also dahin. Es scheint, als werde der Rezipient dazu angehalten, den bekannten Ablauf erneut gedanklich mit Tristan nachzuvollziehen. Allerdings bemerkt Melot, vom Erzähler gleich mit Verwünschungen bedacht, Tristan und folgt

 Hartmann von Aue: Gregorius, Der arme Heinrich, Iwein. 4. Aufl. Hrsg. u. übers. von Volker Mertens. Frankfurt a.M. 2004 (Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch. 29).

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ihm. Indem er Tristan heimlich nachschleicht, offenbart er sich wie Marjodo zuvor als Widersacher des Paares und somit als ein aus der Intimität Ausgeschlossener. und sach in zuo dem boume gân und niht vil lange dâ bî stân, unz daz ein vrouwe zuo z’im gie und er die nâhe zuo z’im vie. wer aber diu vrouwe waere, des was er ungewaere. (V. 14515–14520)

Der Zwerg gibt den monofokalen Blick auf ein Geschehen frei, das zuvor nur aus der Origo der Teilnehmer, vornehmlich Tristans, imaginiert wurde. Der Rezipient wird zum Voyeur einer Bewegung im Raum, die er in der Vorstellung mehrfach am eigenen Leib vollzogen hat. Der Beobachter wird bei seiner heimlichen Beobachtung vom Rezipienten beobachtet. Dies trägt einerseits zur Reflexion der eigenen Rezipientenposition bei und begünstigt andererseits eine multiperspektivische Raumimagination.39 Indem die Handlung im Gartenraum aus unterschiedlichen Positionen imaginiert wird, nimmt die Plastizität, Konsistenz und Stabilität dieses Raumes zu. Die Taktik der Intimisierung wird ein weiteres Mal vollzogen, aber mit veränderten Vorzeichen. Ohne dass der Ausgangspunkt des Blickes räumlich genauer bestimmt wird, ist deutlich, dass es sich um den Blick eines eigentlich Ausgeschlossenen handelt. Heimlich ist er, weil die Beobachteten keine Notiz von ihm nehmen. Als Teil der Hofgemeinschaft offenbart Melot die Fragilität des Gartenraums. Tristan und Isolde unterlaufen mit ihren Treffen die Ordnung. Auch das geheime Prozedere vermag es nicht, den Baumgarten räumlich oder semantisch gänzlich aus dem Hofkomplex zu lösen. Die totale Abschottung, die selbst im Außerhalb der Minnegrotte nicht gelingt, wird wiederum als Illusion entlarvt. Als Schwellenraum zwischen Zentrum und Peripherie, höfischer und außerhöfischer Sphäre bleibt der Garten des geheimen Treffens vom öffentlichen Zugriff bedroht. Mehr noch, durch die Beobachtung wird das Vorgehen aus der Perspektive der höfischen Öffentlichkeit selbst neuerlich als subversiv markiert. Die Öffentlichkeit bleibt in Reichweite, hat zumindest teilweise Zugang und Einblick in den Garten und ihre Werte und Normen können den Gartenraum potentiell erfassen. Obwohl die Dunkelheit die Identifikation von Tristans Gegenüber verhindert,40 zeigt die Nähe der Figuren dem Zwerg doch, dass es sich um eine intime Geste zwischen Ritter und Dame handelt. Tristans Klugheit verhindert, dass der Zwerg seine Beobachtungen gegen das Paar instrumentalisiert. Melot gibt sich Tristan gegenüber als Isoldes Bote aus und

 Mit der Figur Melots wird eine Blickkonstellation etabliert, die für die erste Baumgartenszene räumlich wie semantisch konstitutiv ist. Spearing hat die Rolle von Blicken und Voyeurismus besonders in Bérouls Tristan-Dichtung ausführlich beschrieben. Vgl. Spearing, The Medieval Poet as Voyeur, S. 51–74.  Zur schützenden Funktion von Dunkelheit und Schatten vgl. Röcke, Im Schatten des höfischen Lichts, S. 37–55; Wetzel, Erkennen und Verkennen, S. 45–66.

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will ein neuerliches Treffen provozieren. Er solle sie dort treffen, sagt er, ine weiz, ir wizzet wol wâ (V. 14548) und spielt somit auf den Baumgarten als Treffpunkt an. Tristan durchschaut das doppelte Spiel des Zwerges, der sich als Unterstützer der intimen Beziehung ausgibt; auch weil der mit Brangäne abgesprochene Plan diese Form der Kontaktaufnahme ausschließt. Die routinierte Abfolge von Bewegungen und Positionierungen, diese Taktik der Intimisierung im boumgarten, schützt das Paar.

5.1.3 Erste Baumgartenszene Bis die Erzählung endlich zur in Literatur, Kunst und Forschung viel beachteten Baumgartenszene vordringt, hat Gottfried also bereits ein differenziertes räumliches wie semantisches Bild des Gartenraums evoziert und durch die mehrfache Aktivierung der Raumimagination gefestigt. In Zusammenarbeit mit dem Mondschein als naturräumlichem Helfer erwies sich der boumgarten für Marjodo als ein Raum, der zuverlässig Zeichen von nichtöffentlichem, heimlichem Verhalten für einen Exkludierten preisgab. Mit dem Blick Melots wird der Rezipient daran erinnert, dass Gottfrieds boumgertelîn ein liminaler Raum ist. Seine vollständige Isolation gegen den Hofkomplex scheint unmöglich. Melot kann Tristan folgen und sieht in der schützenden Dunkelheit genug, um weitere Turbulenzen für das Paar auszulösen. Tristan und Isolde haben jedoch mit Brangänes Hilfe eine räumlich und kommunikativ äußerst diffizile Taktik der Intimisierung entwickelt. Sie erlaubt den beiden Liebenden das Treffen im Baumgarten und gewährt zumindest teilweise Schutz vor den Intrigen ihrer Widersacher. Der so evozierte Imaginationsraum boumgarten bildet die Voraussetzung für die sogenannte erste Baumgartenszene.41 Nachdem Melot auf seinen Herrn Marke eingewirkt hat, er müsse sich vom Geschehen mit eigenen Augen überzeugen, heißt es vermeintlich lapidar: nu si in den boumgarten / bî nahtzîte kâmen, / ir gewerbes war genâmen (V. 14600–14602). Während bei der ersten Nennung (vgl. V. 13565) zunächst noch ein prototypisches Vorstellungsmuster evoziert wurde, übersteigt die Nennung im vorliegenden Kontext die Funktion der raumgesättigten Wörter, wie Rainer Gruenter sie beschreibt, deutlich.42 Mithilfe der beschriebenen, narrativen Strategien hat Gottfried die Raumimagination des boumgarten in den vorangegangenen Szenen auf sprachlicher wie narrativer

 Die vorangegangene Analyse hat gezeigt, dass es sich in der Sukzession des Erzählens eigentlich bereits um die dritte Baumgartenszene handelt. Da die Rede von der ersten Baumgartenszene für das belauschte Stelldichein in der Forschung jedoch etabliert ist, soll sie hier der Klarheit halber beibehalten werden.  „Die sogenannten raumgesättigten Wörter beschreiben den Raum nicht, in dem sich die bezeichneten Objekte befinden oder den sie selbst in ihrer Lage und Beschaffenheit einnehmen, sondern sie suggerieren Raumvorstellungen, die sie nicht konkretisieren.“ Gruenter, Problem der Landschaftsdarstellung, S. 297.

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Ebene stark ausdifferenziert. Nicht nur die räumliche Anlage, insbesondere der Verbund aus Quelle, Bach und Baum, sondern auch die semantischen Codierungen werden auf diese Weise an das Substantiv boumgarten geknüpft und als Raumvorstellung jeweils neuerlich aktiviert. Als Handlungsraum der Erzählung wird der Baumgarten präsent gehalten und fortwährend modifiziert. Wenn Marke und Melot nun also in den Baumgarten eintreten, betreten sie einen Raum, den der Rezipient als ausdifferenzierten Imaginationsraum aufrufen und sich in ihm orientieren kann. Neben den bekannten Ausstattungsmerkmalen verfügt der Garten über dekeine stat noch kein geberc (V. 14604), denn Marke und Melot suchen vergebens nach einem geeigneten Versteck. Solche verneinenden Aussagen ermöglichen ex negativo Inferenzschlüsse auf die räumliche Ausstattung.43 Dem Baumgarten fehlt es demnach an Artefakten, beispielsweise in Form von Pergolen, oder größeren, natürlichen Gewächsen, die den Lauschern Schutz für ihre Unternehmung geboten hätten. Der Boden scheint flach, ohne größere Erhebungen zu sein.44 nu stuont dâ, dâ der brunne vlôz, ein öleboum, der was mâze grôz, nider unde doch billîche breit. dâ zuo tâten s’ir arbeit, daz si ûf den beide gestigen: ûf dem sâzen s’unde swigen. (V. 14607–14612)

Einzig der bekannte Olivenbaum bietet durch ein breites Blätterdach und niedrigen Wuchs ein Versteck für die Lauscher.45 Wieder dient die Raumbereichsdeixis dâ aus der Sicht der Eingetretenen dazu, auf das Raumzentrum zu fokussieren und die Verbindung zwischen Baum, Quelle und indirekt dem Bach zu betonen. Die Art des Raumerzählens erinnert an Brangänes Anweisungen und damit unvermeidlich auch an das heimliche Geschehen, das sich dort abzuspielen pflegt. Die räumliche Beschaffenheit des Baumgartens zwingt Marke und Melot dazu, sich an dieser einzig möglichen Stelle zu verstecken. Somit konzentriert die Erzählung den schwelenden Konflikt zwischen der magischen, heimlichen Trankliebe und der Öffentlichkeit auf engstem Raum – im wahrsten Sinne des Wortes. Indem das Versteck ausgerechnet mit der Stelle im Raum zusammenfällt, von der aus das Treffen initiiert und an der es abgehalten wird, werden die Außenwelt des Hofs mit ihren Ansprüchen und die Innenwelt der Liebenden gnadenlos miteinander kon Vgl. Dennerlein, Narratologie des Raumes, S. 91–96.  Vgl. Velten, Sprache und Raum, S. 37 f.  Die semantische Codierung des Ölbaums ist ausgreifend und steht teils quer zueinander. Er lässt sich christlich, paradiesisch, topisch oder gar als teuflisch deuten. In den Baumgartenszenen Gottfrieds spielt er „vor allem in pragmatischer Hinsicht, als Funktionsträger der Handlung“ eine Rolle. Vgl. Velten, Sprache und Raum, S. 39. Vgl. weiterführend zur Polyvalenz des Ölbaums Haug/Scholz, Kommentar, S. 589 f. Vgl. auch Velten, Sprache und Raum, S. 38 (Fußnote 44).

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frontiert und die bevorstehende Eskalation forciert. In seiner Analyse des Tristan macht Gert Hübner deutlich, dass sich der Zerfall von Außen- und Innenwelt bereits in der Elternvorgeschichte vollziehe und dass den Außenweltgeschehnissen nur noch vor dem Hintergrund ihrer Konsequenz für die Innenwelt narratives Interesse zukomme.46 In den Erzählpassagen rund um den Baumgarten zeichnet sich ein großer Einfluss der Außenwelt auf die Innenwelt der Protagonisten ab. Neugier und Neid des ‚Außenweltlers‘ Marjodo verdrängen das Paar aus der sicher geglaubten Intimität der Kemenate. Sie führen dazu, dass der Baumgarten zum intimen Raum und heimlichen Rückzugsort umfunktioniert werden muss. Brangäne, Tristan und Isolde machen ihn durch ihre Rede, ihre Bewegungen und Blicke zu einem räumlichen Pendant der Innenwelt der Liebenden.47 Das Eindringen von Marke und Melot stellt eine erneute Bedrohung der Innenwelt durch das Außen dar. Gottfried positioniert die Lauscher entsprechend Markes Status als König direkt über der Stelle des Zusammentreffens. In der Tat scheint es, als okkupierten sie so den boumgarten. Die Position oberhalb des Geschehens soll ihnen eine Übersicht bieten, ohne selbst gesehen zu werden. Der Baumgarten wird erneut zum Handlungsraum, in dem die Beziehung zwischen Außen und Innen räumlich wie semantisch zugespitzt und verhandelt wird. Tristan wurde die Fragilität des Gartenraums bereits durch Melots Täuschungsversuch vor Augen geführt. Entsprechend verändert sich seine Bewegung zu einem Schleichen, eine Bewegungsart, die bislang für die Widersacher (zunächst Marjodo, dann Melot) kennzeichnend war. Dass Tristan ûf sîne vart (V. 14614) schleicht, nimmt erneut Bezug auf die dem Rezipienten bekannte Choreographie. Über auktoriale Blicke verfolgte der Rezipient zunächst die Lauscher. Nun beobachtet er, wie Tristan der gefährlichen Szenerie entgegenschleicht.48 Das in V. 14614 aufgerufene, konzentrierte Bewegungsschema wird im Anschluss erneut konkreter auserzählt. Tristan, dô ez nahtende wart, er sleich aber ûf sîne vart. nu er in den boumgarten kam, sîne boten er ze handen nam und leite s’in die giezen und lie si hine vliezen. die seiten ie genôte der senenden Îsôte, daz ir gesele waere dâ. (V. 14613–14621)

 Der damit verbundene Fokalisierungseffekt „beruht vielmehr darauf, daß die Innenweltpassagen einen Bewertungshorizont für die Außenweltereignisse etablieren, ja daß die Außenwelt überhaupt nur zählt, insofern sie Konsequenzen für die Innenwelt hat.“ Hübner, Erzählform, S. 319.  Hübner weist darauf hin, dass der Baumgarten diesen Status lange vor der Allegorisierung der Minnegrotte einnehme. Vgl. Hübner, Erzählform, S. 371–375.  Hübner identifiziert in seiner narratologischen Analyse zunächst die Spione, dann Tristan und später Isolde als sogenannte Raumfilter. Vgl. Hübner, Erzählform, S. 372.

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Die erzählte Bewegung und die deiktischen Prozeduren machen deutlich, dass der Blick nun Tristan in den Baumgarten folgt. Seine Position wird zunächst zur Origo, von der aus er die Späne hine vliezen (V. 14618) lässt. Von Isoldes Standpunkt vor der Kemenate aus wird Tristans Position zum Bezugspunkt der deiktischen Prozedur: die [Späne, T.S.] seiten ie genôte / der seneden Îsôte, / daz ir geselle waere dâ (V. 14619–14621), also an der Quelle unter dem Baum. Wenn auch verkürzt, so werden exakt die Bewegungen, Blickwechsel und Raumbezüge erzählt, die Brangänes Anweisung kennzeichnen. Ungeachtet der Lauscher im Baum funktioniert bis hierher alles wie gehabt. Im Moment der von Tristan noch unerkannten Gefahr berichtet der Erzähler nun erstmals, was Tristan tut, bevor Isolde erscheint. Tristan gienc über den brunnen sâ, dâ beidiu schate unde gras von dem öleboume was. aldâ gestuont er trahtende, in sînem herzen ahtende sîn tougenlîchez ungemach. sus kam, daz er den schate gesach von Marke und Melôte, wan der mâne ie genôte durch den boum hin nider schein. nu er des schates von in zwein bescheidenlîche wart gewar, nu haete er michel angest dar, wan er erkande sich iesâ der vâre unde der lâge dâ (V. 14622–14636)

Brangänes direkte Rede und auch die geschilderten Treffen sparten die Wartezeit bislang aus. Tristan geht zu dem Brunnen (vgl. V. 14622).49 Mit dâ und aldâ wird auf den Brunnen als jene Stelle referiert, an der sich Gras, Schatten und somit auch der dafür verantwortliche Olivenbaum finden (vgl. V. 14622–14625). Obwohl die für den boumgarten wichtigen Merkmale des locus amoenus erneut im Verbund erzählt werden, geht seine erzählerische Konstruktion über ein Lob der Naturschönheit hinaus, das der Topos Curtius zufolge leistet.50 Auch Tristans Gedanken sind nicht beschwingt oder erhebend. Am Brunnen stehend richtet er den Blick nach innen und bedenkt sorgenvoll seine Situation. Zwar hat er die List Melots geistesgegenwärtig erkannt und

 Dieser Vers bleibt seltsam folgenlos, könnte man doch vermuten, dass er den Auftakt für die Entdeckung der Lauscher im Spiegel der Wasseroberfläche bildet. Tatsächlich fällt der Schatten von Marke und Melôt bei Eilhart und Béroul auf die Quelle. Obwohl Gottfried das Spiegelmotiv nicht direkt übernehme, sei mittels des Spiels von Licht und Dunkelheit die Thematisierung von Erkennen und Verkennen ohne Einschränkungen möglich, so Wetzel. Vgl. Wetzel, Erkennen und Verkennen, S. 45–66.  Vgl. Curtius, Rhetorische Naturschilderung, S. 219–256.

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pariert, dennoch weiß Tristan darum, dass der Gartenraum keinen völligen Schutz mehr bietet und potentiell Gefahr droht. Tristans Sorge ergießt sich als Atmosphäre in den Raum. Seine emotionale Konstitution schärft sein Sensorium im Moment der Wendung ins Innere so sehr, dass er der Schatten gewahr wird.51 Der Rezipient folgt dem monofokalen Blick Tristans nach unten. Dass Marke und Melot in diesem erzählten Blick als Urheber der Schatten genannt werden, suggeriert, dass Tristan die Schatten unmittelbar zuordnet, statt sie nur zu erkennen. Als geübter Sender und Deuter von Zeichen knüpft sich an seinen Wahrnehmungsakt der kognitive Akt des Erkennens an.52 Das Mondlicht bildet die Lauscher als Schatten unter Tristan ab und ermöglicht diesem die Entdeckung von Marke und Melot in der Baumkrone. Hof und Natur, Helligkeit und Dunkelheit seien im ersten Handlungsteil noch eindeutig voneinander getrennt, so Werner Röcke. „Mit dem Genuß des Minnetranks aber und damit der Trennung zwischen höfischer Öffentlichkeit und privater Neigung ist dieser eindeutige Dualismus aufgehoben.“53 Ermöglicht das Licht der Hofgesellschaft normalerweise zuverlässige Erfahrungen und öffentlich-repräsentatives Handeln, suspendiert der Mondschein hier das Begehren der Öffentlichkeit, unbemerkt in den intimen Raum vorzudringen und das Geschehen ans Licht der Öffentlichkeit zu zerren. Denn das Licht des Mondes verursacht überhaupt erst den Schatten von Marke und Melot. Indem der Schatten sich als Schutz für die Liebenden erweist, weil er besondere Erkenntnis- und Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung stellt, wird das Licht als Ursprung der Schatten zugleich umgewertet. Dass Tristan die über ihm befindlichen Figuren im Zusammenspiel aus Licht und Schatten erkennt, leuchtet das soziale Gefüge weiter aus. Der Tristan sozial übergeordnete Marke befindet sich auch räumlich oberhalb von Tristan, in der Überzeugung, von dort oben könne er zweifelsfrei und ungesehen beobachten, was sich unter ihm – räumlich wie sozial – abspielt. Die räumliche Anlage des Baumgartens und Tristans Scharfsinnigkeit desavouieren den Plan und eine semantische Codierung der Überlegenheit wird unterlaufen. Die versteckten Lauscher, die etwas Heimliches heimlich beobachten wollten, werden bemerkt, noch bevor sich das Heimliche überhaupt ereignet hat. Wenzel sieht Marke und Melot in dieser Umkehrung der Situation

 Jutta Eming versteht Atmosphäre als materialisierte und sich in den Raum ergießende Emotion. Damit knüpft Eming an den Phänomenologen Hermann Schmitz an, der die Atmosphäre als eine objektive, räumliche Qualität versteht, die auf die Wahrnehmung und Empfindung der im Raum Anwesenden zurückwirken kann. Schmitz’ These, dass Emotionen in literarischen Texten noch stärker materialisiert seien als in der realen Welt, nimmt Eming zum Anlass für ihre Deutung vom wechselseitigen Bedingungsverhältnis zwischen Tristans Innerem und dem Raum. Vgl. Jutta Eming: Emotionen im Tristan. Untersuchungen zu ihrer Pragmatik. Göttingen 2015 (Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung. 20), S. 131–154; vgl. auch Küsters, Marken der Gewissheit, S. 663.  Vgl. Wetzel, Erkennen und Verkennen, S. 53 f.; Küsters, Marken der Gewissheit, S. 661–674.  Röcke, Im Schatten des höfischen Lichts, S. 49.

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in einer „engeren Heimlichkeit“, in der emblematisch wird, wie sehr Markes Herrschaft bereits beschädigt ist.54 Dies offenbart sich schon in der Existenz des boumgarten als intimem Raum. Dass Brangäne, Tristan und Isolde den Baumgarten durch ihr Handeln und Sprechen überhaupt erst zu einem intimen Raum machen konnten, offenbart Markes Versäumnisse als Herrscher, Onkel und Ehemann gleichermaßen. Sie zwingen ihn dazu, innerhalb seines eigenen Herrschaftsbereichs – der boumgarten ist ja Teil des höfischen Einflussbereichs – zum Lauscher zu werden und sich seinerseits in eine Heimlichkeit zu begeben. Dass Tristan die Schatten sehen und deuten kann, ist nicht der semantischen Codierung und auch nicht ausschließlich Tristans geschärfter Wahrnehmung zu verdanken. Der Mondschein illustriert einerseits die Umwertung der Lichtsemantik und platziert die Figuren andererseits im Spannungsfeld zwischen Öffentlichkeit und Heimlichkeit. Die Gerichtetheit des Mondscheins verleiht der ansonsten still gestellten Szenerie eine Dynamik und löst mithilfe einer „minutiösen Raumregie“55 das weitere Geschehen aus. Die Voraussetzung dafür schafft der Raum: wan der mâne ie genôte / durch den boum hin nider schein (V. 14630 f.). Die vertikale Achse, die Gottfried früh für den nach oben hin offenen Baumgartenraum einführte, entfaltet nun ihre volle Funktion. Oberhalb von Marke steht der Mond am Himmel. Sein Schein erfasst die Beobachter auf dem Baum und bildet dann ihre Anwesenheit in den Schatten auf dem Gras des Baumgartens unterhalb von Tristan ab. Während der Mondschein Marjodo half, nur das ohnehin Vorhandene besser zu sehen, bringt er hier das zu Erkennende erst eigens hervor. Der Mond wird zum naturräumlichen Helfer Tristans, wenn er die Anwesenheit der exkludierten Dritten im intimen Raum sichtbar und so für den Liebenden erfahrund deutbar macht. Durch diese handlungsauslösende Funktion der Natur, zu der das Mondlicht gehört, erhält der boumgarten als Imaginations- und Wahrnehmungsraum eine neue Qualität.56 Denn das räumliche Auserzählen des Baumgartens und seine Funktionalität machen ihn zu einem Handlungsraum, dessen Requisiten für die Handlung selbst unverzichtbar sind.57 Ohne das bislang herauspräparierte Erzählen vom Baumgar-

 Wenzel, Öffentlichkeit und Heimlichkeit, S. 347.  Velten, Sprache und Raum, S. 40.  Baier macht diese Beobachtung ebenfalls, kann sie im Rahmen des übergeordneten Themas Heimlichkeit, zu dem er mehrere Szenen thematisiert, allerdings nicht in letzter Konsequenz raumtheoretisch ausführen. Vgl. Baier, Heimliche Bettgeschichten, S. 197–199.  Insofern darf auch Veltens Rede vom Bühnenraum in diesem Zusammenhang nicht im Sinne einer entbehrlichen Kulisse missverstanden werden. Das genaue Gegenteil ist, wie dort beschrieben, der Fall. Vgl. Velten, Sprache und Raum, S. 39–41; an die Ausführungen Veltens schließt auch Bluhm an, der in der Baumgartenszene „Züge einer Bühnenaufführung“ sieht und auf die Ambivalenzen des Baumgartens verweist. Lothar Bluhm: Und der Garten ist voller Leut. Gartenszenen in der deutschen Literatur. In: Ich wandle unter Blumen / Und blühe selber mit. Zur Kultur- und Sozialgeschichte des Gartens. Hrsg. von dems., Markus Schiefer Ferrari, Christoph Zuschlag. Baden-Baden 2018 (Landauer Beiträge zur Kultur- und Sozialgeschichte. 1), S. 156–163, hier S. 157.

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ten als Raum wäre die Handlung nicht denkbar: diejenige Handlung, die sich im Syntagma bis zur Entdeckung der Lauscher ereignete, ebenso wenig wie die nun folgende. Nachdem sich Tristan nun der lâge dâ (V. 14636), also der räumlichen Konstellation und der mit ihr einhergehenden Bedrohung für das Paar, bewusst wird, sind seine Emotionen nochmals transformiert.58 Sann er zuvor über seine schwierige Situation nach, herrscht nun Angst. In der folgenden Psychonarration verdeutlicht Gottfried nicht nur die Verzweiflung Tristans,59 sondern rekurriert erneut auf die vorangegangenen Szenen rund um den Baumgarten. ‚got hêrre‘, dâhte er wider sich, ‚beschirme Îsôte unde mich! ist daz si dise lâge niht bî disem schate inzît ersiht, sô gât si vür sich her ze mir. […] bewar Îsôte an disem wege; beleite sunder alle ir trite; warne die reine eteswâ mite dirre lâge und dirre archeit‘ (V.14637–14649)

Die Wahrnehmung der Schatten erscheint Tristan essentiell, um die Gefahr zu erfassen und angemessen zu handeln, doch sie ist an die Stelle unterhalb des Baums gebunden. Ohne diese Erkenntnis, das macht Tristans Überlegung deutlich, setzt sich das bereits durch die Späne initiierte Bewegungsprofil (parcours) im boumgarten fort, das ihn bislang zu einem heimlichen Raum machte. Isolde würde sich auf Tristan zubewegen, als sei der Baumgarten weiterhin ein heimlicher Raum, und würde die Katastrophe unausweichlich machen (vgl. V. 14639–14652). Einerseits wird Brangänes Anweisung reaktiviert (diu senede gât ie zuo z’iu dar, V. 14446). Andererseits kennt der Rezipient das Aufeinandertreffen im Baumgarten und den folgenden engen Körperkontakt auch aus der Sicht des Außenseiters Melot (unz daz ein vrouwe zuo z’im gie / und er die nâhe zuo z’im vie, V. 14517 f.). So wird eine Folie aufgerufen, vor der Isoldes Verhalten auf diejenigen Handlungsweisen fokussiert wird, die von diesem nun unheilbringenden Muster abweichen. Isolde und Brangäne warten unterdessen auf Tristans Boten. Sie tun dies […] in ir jâmergarten, in dem si z’allen stunden, sô sî vor vâre kunden, ir jâmer clageten under in (V. 14662–14665)

 Vgl. Eming, Emotionen im Tristan, S. 150.  Vgl. Hübner, Erzählform, S. 372.

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Bekannt ist, dass Isolde in Begleitung von Brangäne vor die Kemenate tritt, denn dort führt der Bachlauf die Boten entlang (vgl. V. 14437 f.). Außerdem war zu erschließen, dass der Baumgarten in unmittelbarer Nachbarschaft zu Isoldes Kemenate gelegen ist.60 Marjodo folgte Tristans Spuren schließlich hin durch ein boumgertelîn / […] unz an der kemenâten tür (V. 13565 u. 13569). Man darf sich daher in der Überzeugung, beim jâmergarten handele es sich bereits um den Baumgarten beziehungsweise einen Ausläufer dessen, bestätigt sehen. Gleichwohl wurde die Position der wartenden Frauen bislang noch nicht expressis verbis als Teil des Gartens bezeichnet. Der metaphorische Bedeutungsgehalt der Bezeichnung beansprucht in diesem Fall die Aufmerksamkeit. Erstmals wird das Klagen und Leiden von Isolde und Brangäne detaillierter erzählt. Während zuvor nur die räumliche Funktion als Warteplatz am Rand des Baumgartens (oder in Angrenzung daran) von Bedeutung war, erzählt Gottfried nun aus, wie sehr diese Situation von Emotionen erfüllt ist. Ungeachtet der Trennung sind Tristan und Isolde wie auch Brangäne vor allem eine Schicksals- und Leidensgemeinschaft. Das macht das weibliche Klagen deutlich.61 Die Bezeichnung der Stelle am Bach vor der Kemenate parallelisiert zudem die Situation der Liebenden. Zum einen sind sie in dieser Situation beide noch Wartende. Tristan wartet auf Isolde an der Quelle im boumgarten und Isolde wartet auf die geschnitzten Späne, die ihr den Aufbruch in den Garten hinein signalisieren. Zum anderen spiegelt das auserzählte Leid Isoldes auch Tristans Angst und Verzweiflung ob der Anwesenheit der Lauscher im vormals intimen Gartenraum. Îsôt diu vienc si [die Späne, T.S.] und sach s’an, si las ‚Îsôt‘, si las ‚Tristan‘: si nam ir mantel al zehant, umbe ir houbet si den want und sleich durch bluomen und durch gras, hin dâ boum und brunne was. (V.14673–14678)

Der Rezipient versetzt sich nun in Isoldes Ausgangsposition und teilt ihren wiederum nach unten gewendeten Blick auf die vorbeifließenden Späne.62 Sie sind die Initialzündung für Isolde, den Weg in den Baumgarten anzutreten. Interessanterweise hat sich auch Isoldes Fortbewegung im Vergleich zu den vorausgegangenen Treffen verändert. Wie Tristan schleicht sie durch bluomen und durch gras, / hin dâ boum und

 Vgl. Frühe, Das Paradies ein Garten, S. 205–210. Dagegen nimmt Baier eine räumliche Distanz zwischen Hof und Garten an. Vgl. Baier, Heimliche Bettgeschichten, S. 189–202. Jedoch stützen weder die Zugehörigkeit des Gartens zum Hofkomplex, noch das Erzählen des Raumes über die Szenen hinweg diesen Schluss.  Vgl. Eming, Emotionen im Tristan, S. 147 f. Emings Einschätzung, der jâmergarten konstituiere einen eigenen Raum, ist jedoch wie oben dargelegt nicht zuzustimmen.  Die Späne können hier nur im Rahmen ihrer Funktion als Raum durchquerende Boten thematisiert werden. Zur Rolle der Späne als Beglaubigungsinstrument und ihrem Bezug zu urkundlichen Zeichen. Vgl. Küsters, Marken der Gewissheit, S. 664–674.

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brunne was (V. 14677 f.), und wieder werden die topischen Merkmale des Gartens in sehr konzentrierter Form zum Teil ihres Weges. Die deiktischen Prozeduren akzentuieren zusammen mit der vorsichtigen Bewegungsart die räumliche Tiefe des Baumgartens. Sie stimulieren die Imagination des Rezipienten, der diese Bewegungsart mit Isolde als subsidiärem Leib so imaginieren kann, als dringe er selbst in das Zentrum des boumgarten vor. Des Weiteren verlangsamt die Bewegung das Geschehen und erhöht die Spannung, ob sich Isoldes Verhalten von dem bekannten parcours abheben wird. nu daz si kam sô nâhen, daz si beide ein ander sâhen, Tristan stuont allez ze stete, daz er doch nie dâ vor getete: si’n kam ê mâles zuo z’im nie, er’n gienge verre gegen ir ie. (V. 14679–14684)

Isolde nähert sich Tristan nun so weit, dass sie sich gegenseitig sehen können (vgl. V. 14679 f.). Die Sichtachsen dieser bifokalen Blickkonstellation verleihen dem Raum und damit insbesondere der Entfernung zwischen Tristan und Isolde Tiefe. Das gegenseitige Erblicken fokussiert zudem die starke Bezogenheit der Liebenden aufeinander, durch die sie sich den Beobachtern noch als überlegen ausweisen werden. Die bifokalen Blicke – daz si beide ein ander sâhen (V. 14680) – initialisieren den Baumgarten als einen Raum der geteilten Wahrnehmung zwischen Tristan und Isolde sowie dem Rezipienten. Konnten die Lauscher zwar in den Schwellenraum boumgarten eindringen und den dort etablierten, heimlichen Raum bedrohen, erzeugt die visuelle Verbindung zwischen den Blickpartnern nun einen intimen Wahrnehmungsraum. Obwohl die Lauscher noch ungenannt bleiben – Isolde als Wahrnehmungssubjekt weiß von ihrer Existenz noch nicht –, werden sie erneut zu Exkludierten. Mit Isolde als subsidiärem Leib sieht der Rezipient Tristan unbeweglich unterhalb des Baumes am Brunnen stehen (vgl. V. 14681 f.). Die mit den Blicken verschränkte Psychonarration kontrastiert das von Isolde beobachtete mit dem herkömmlichen Verhalten Tristans (vgl. V. 14683). Die mehrmaligen Treffen haben die Abläufe des Paares so ritualisiert, dass das ausbleibende Entgegeneilen durch Tristan Isolde Anlass für Verwunderung und Sorge gibt (V. 14681–14688).63 Ihre mentale Verfassung wird denn auch in ihrer Haltung und Bewegung verkörpert. Sie senkt den Kopf, richtet den Blick zu Boden und bewegt sich noch einmal vorsichtiger, nämlich vorhtlîche auf Tristan zu. ir herze daz wart swaere. si begunde ir houbet nider lân und vorhtlîche gegen im gân. si der verte sô grôz angest nam. nu si alsô lîse gênde kam

 Vgl. Küsters, Marken der Gewissheit, S. 664.

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dem boume ein lützel nâher bî, nu gesach si mannes schate drî und wiste niuwan einen dâ. (V. 14688–14695)

Erneut ermöglicht eine meisterhafte Raumregie Isolde das Erkennen der Beobachter. Tristans Angst vor einem unbedachten Handeln Isoldes paralysiert ihn. Diese Abweichung von der bislang ritualisierten Taktik der Intimisierung wird von Isolde zur Kenntnis genommen und wirkt sowohl auf ihre mentale Verfassung als auch auf ihren Körper. Ihre Bewegung auf Tristan und die Lauscher im Baum zu verlangsamt sich weiter, wird noch vorsichtiger und ihr Blick wendet sich sorgenvoll zu Boden. Im Zusammenwirken von Bewegungen, Blicken und verkörperten Emotionen nähert sich Isolde nur so weit an den Baum und Tristan an, bis sie die drei Schatten sieht.64 Analog zu Tristan löst diese visuelle Wahrnehmung einen Inferenzschluss aus. Sie weiß nun um die Anwesenheit der Intriganten und nach kurzer Überlegung kommt sie zu dem Schluss, dass Tristans Immobilität wiederum ein Zeichen für dessen eigenes Erkennen der Situation sein muss: nu bedûhte si zehant, / daz er die lâge haete erkant, / wan s’in in den gebaerden sach (V. 14713–14715). Da die direkte Kommunikation zwischen den Liebenden nicht möglich ist – sie würden sich dadurch verraten –, ist die Kommunikation auf das Verhalten der Körper im Raum verlagert. Gedanken und Gefühle wirken auf den Körper und seine Bewegung im Raum. Gegenseitige Blicke überbrücken die räumliche Entfernung der beiden und ihre Deutung sorgt dafür, dass Isolde das Verhalten Tristans als Devianz erkennt, was ihrerseits deviante Bewegung hervorbringt.65 Isolde befindet sich nun gemeinsam mit Tristan, wenn auch in gebührlicher Entfernung, unterhalb des Baums, denn beide haben die Schatten und auch das Erkennen des anderen erkannt. Die Erzählung kulminiert nun in der räumlichen Organisation, auf die die unterschiedlichsten Bildzeugnisse in immer gleicher Komposition referieren. Die räumliche Funktion des Baumgartenraums und deren semantische Codierung erschließen sich jedoch nur unzureichend allein aus dieser Szene. Wie zu sehen war, bilden die vorangegangenen Baumgartenszenen einen unverzichtbaren Beitrag zur ersten Baumgartenszene. Tristans und Marjodos nächtliche Ausflüge initiieren den boumgarten als Raum der durchquerenden Bewegung in unmittelbarer Nachbarschaft zu Isoldes Kemenate. Den räumlichen Merkmalen des Baumgartens, Schneefall, Gras und Mondlicht, kommt eine handlungsauslösende Funktion zu. Brangänes ‚Deixis am Vorstellungsraum im Vorstellungsraum‘ erzeugt im Modus des parcours einen ausdifferen-

 Vgl. Eming, Emotionen im Tristan, S. 151–153.  Eming betrachtet diese „leiblich-atmosphärische Kommunikation“ unter dem Primat der Emotionen. Eming, Emotionen im Tristan, S. 148–153, hier S. 153. Es zeigt sich, dass gerade die leibliche Einbettung der Figuren in den Raum der erzählten Welt der Kommunikation des Paares ihre Wirkmacht verleiht. Der Garten wird zum Raum der gegenseitigen Wahrnehmung. Tristan und Isolde nehmen das ‚Im-Raum-Sein‘ des Gegenübers wahr und sind aufgrund der ritualisierten Bewegungsabläufe in der Lage, die beobachteten Devianzen zu deuten, um selbst entsprechend handeln zu können.

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zierten Handlungs- und Wahrnehmungsraum, dessen Zentrum der räumliche Verbund aus Baum, Quelle und Bach bildet. Mithilfe von deiktischen Prozeduren, Blicken und in den Raum eingebetteten Bewegungen entsteht der boumgarten als konsistenter, dreidimensionaler Imaginationsraum. Die räumliche Bezogenheit der Liebenden aufeinander erzeugt einen intimen Raum. Die wiederholten Treffen im Baumgarten agieren dann tatsächlich aus, was zuvor nur imaginiert wurde. Indem Melot das Treffen der Liebenden ausspäht, wird jedoch in Erinnerung gerufen, dass der Baumgarten ein Schwellenraum ist, der zumindest teilweise von der Hofsphäre und damit ihrem moralischen Einflussbereich erfasst wird. Die von Brangäne erdachte Taktik der Intimisierung macht den Schwellenraum boumgarten zeitweise zu einem intimen Raum für das Stelldichein. Doch dieser Effekt ist fragil und nicht in der Lage, das Außen dauerhaft auszuschließen. Die erzählten Treffen im boumgarten reaktivieren und verfestigen die Verbindung von Raum und Bewegung. So erhält der Baumgarten in seiner Funktion als Handlungsraum Stabilität. Das Eindringen der Lauscher, ihre Entdeckung durch Tristan und das davon abhängige Erkennen Isoldes sind räumlich nur vor der Folie dieser Taktik der Intimisierung verständlich. Der Baumgarten selbst bringt durch seine räumliche Anordnung den handlungsauslösenden Schatten hervor. Die Wahrnehmung des Schattens unterbindet das bekannte Bewegungsprofil im Garten. Im Figurenbewusstsein von Tristan und Isolde tritt zu Tage, welche Schlüsse sie jeweils aus den Zeichen im Raum ziehen und wie sich diese Erkenntnis wiederum auf ihre körperliche Bewegung auswirkt. Das bedeutet etwas pointierter: ohne Gartennatur kein Schatten, ohne Schatten kein Erstarren Tristans, ohne Tristans Immobilität keine Erkenntnis Isoldes, die die Enttarnung der heimlichen Liebe verhindert. Die Art und Weise, in der Gottfried den boumgarten als Handlungs- und Wahrnehmungsraum aufbaut, verhindert – zumindest vorerst – die Katastrophe. Mit der wichtigen Funktion des Baumgartens als Handlungsraum korrespondiert ein Erzählen, das den boumgarten als multisensorischen und polyfokalen Imaginationsraum erzeugt. Wiederholt werden Tristan und Isolde zu subsidiären Leibern, in die der Rezipient sein Körperschema versetzt und somit an ihren Bewegungen durch den Baumgarten teilnimmt. Doch auch die Widersacher werden zu subsidiären Leibern, so dass der Rezipient den Baumgarten ebenfalls aus der Sicht der Exkludierten imaginiert. Die narrativen Strategien sorgen dafür, dass der Garten von verschiedenen Blickpunkten aus imaginiert werden kann. Das wiederholte Aufrufen der räumlichen Konstellationen und initialisierten Bewegungsmuster hält den Garten als zentralen Handlungsraum präsent. Indem die Erzählung sowohl aus der Origo von Tristan und Isolde als auch aus der Origo von Marke und Melot erzählt, privilegiert sie den Rezipienten. Noch vor Tristan und Isolde weiß er um die Fragilität des intimen Raums und seine wachsende Bedrohung durch die Öffentlichkeit. Da Gottfried zunächst Markes Eintritt in den boumgarten und das Besteigen des Baums erzählt, kann der Rezipient auch die Origo und den Kenntnisstand der Lauscher einnehmen und nachvollziehen. Er weiß, dass

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Marke und Melot Tristan und Isolde zwar beobachtet haben müssen, doch er weiß auch, dass ihnen die für die Wahrnehmung und Deutung des räumlichen Geschehens zentrale Psychonarration der Protagonisten verschlossen geblieben ist.66 Obwohl die Origines von Tristan und Isolde vom Erzähler bevorzugt werden, kann die Perspektive der Beobachter präsent gehalten werden. Die Blickkonstellationen erzeugen für den Rezipienten eine Polyfokalität auf den Raum. Sie verleiht ihm Konsistenz und Stabilität und führt gleichermaßen zu einer Reflexion der Beobachterposition. Für Gottfried gilt, was Spearing für Bérouls Gartenszene pointiert: „In this scene Mark is a concealed voyeur, but so are we, spying on him spying on the lovers; and the fact that the story is about an act of voyeurism surely encourages us to become aware that we too are voyeurs, only more sharp-eyed ones than the king.“67 Die Beteiligung des Rezipienten an beiden Blickperspektiven auf den Raum führt vor Augen, dass der Baumgarten zugleich ein von den Liebenden hergestellter intimer Raum wie auch ein von der Öffentlichkeit entdeckter Raum des Geheimnisses ist. So kann er dank dieser Doppelstruktur sowohl von innen als auch von außen imaginiert und interpretiert werden.68 Der Voyeurismus von König und Zwerg wird jedoch unterbunden. Die Gartennatur verschafft den Liebenden eine kognitive wie auch räumliche Überlegenheit. Die im Zusammenspiel aus Mondschein, Baum und Gras beziehungsweise Quelle entstandenen Schatten privilegieren Tristan und Isolde. Während alle späteren Verhaltensweisen und Zeichen ambivalent sind, bringt der Raum im Schatten ein unmissverständliches Zeichen hervor.69 Doch ausgerechnet dieses Zeichen fehlt dem König. Seine räumliche Position über den Dingen und seine Schwäche, das Offensichtliche zu erkennen, werden ihm zum Verhängnis. Durch die Schatten löst der Gartenraum zunächst die Erkenntnisprozesse und im Anschluss daran die Verstellung von Tristan und Isolde aus. Die Taktik der Intimisierung wird als Folie präsent gehalten. Tristan und Isolde sind den Lauschern in ihrer Mobilität und Fähigkeit zur Deutung von Wahrnehmung jedoch überlegen. Auf der Basis ihrer heimlichen Choreographie sind sie in der Lage, die Intimität ihrer Treffen durch ihr körperliches Verhalten im Raum zu schützen. Indem sie für die Lauscher den Baumgarten als Raum des höfischen Aufeinandertreffens von Ritter und Herrin inszenieren, schützen sie paradoxerweise den boumgarten als intimen Raum vor Entdeckung.  Für Hübner repräsentiert der Gleichlauf der Innenwelten von Tristan und Isolde „in aller Ausführlichkeit die Innenweltgrotte, die für Marke, anders als für Erzähler und Rezipient, undurchdringlich bleibt“. Hübner, Erzählform, S. 372. Entscheidend ist, dass dieser Gleichlauf auf Basis der räumlichen Verhältnisse und Dynamiken auserzählt wird. Ohne die räumliche Choreographie keine Psychonarration, die den emotionalen wie kognitiven Gleichklang der Liebenden inszeniert.  Spearing, The Medieval Poet as Voyeur, S. 54 (Hervorhebung im Original).  Vgl. Wenzel, Öffentlichkeit und Heimlichkeit, S. 345–350.  Während der Schatten und das tatsächlich vollzogene Stelldichein in den stofflich verwandten Schwänken wegerklärt werden, um den Lauscher zu überlisten, wird die Problemkonstellation bei Gottfried in einen vielschichtigen, multiperspektivischen Imaginationsraum eingebettet. Vgl. Dicke, Das belauschte Stelldichein, S. 216–220.

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Bildet die angepasste Bewegung durch den Raum den Auftakt dieser Inszenierung, so stellt die Unterhaltung zwischen Ritter und Herrin ihre Krönung dar. „Denn Isoldes Treueversicherung ihrem Ehemann Marke gegenüber ist in Wirklichkeit das Bekenntnis ihres Treuebruchs mit Tristan“ (vgl. V. 14760–14766).70 In einer doppelten Adressierung versichern sich die Gesprächspartner einander ihrer Liebe, während sie die Lauscher davon überzeugen, dass es nichts Intimes auszuspähen gibt.71 Die Lauscher nehmen nur die lügenhafte Variante der doppeldeutigen Rede wahr. Im Gegensatz dazu weiß der Rezipient um die zurückliegenden Listen und hat an der Innenwelt der Liebenden teil. Er versteht sowohl die lügenhafte, wie die wahre Seite des Gesprächs. Die räumliche Versetzung in Markes Origo wird ergänzt durch die kognitive Versetzung auf Markes Wissensstand, um dessen Rezeption des Dialogs nachvollziehen zu können.72 Überhaupt vervollkommnet die Sprachlist die Überlegenheit der Ausgespähten. Auf der Ebene der Kommunikation wird nachgebildet, was sich vor dem Gespräch bereits auf der Ebene des Handlungsraums zeigt. Räumlich, kognitiv und kommunikativ sind Tristan und Isolde dermaßen aufeinander bezogen, dass sie den Versuch des Ausspähens parieren und in diesem Zuge sogar noch ihre Bindung vertiefen können. Subversiv nutzen sie Handlungsraum und Sprechraum für ihre Zwecke. Selbst in der akuten Bedrohung von außen festigen die beiden das sie verbindende intime Band weiter.73 Obwohl Tristan und Isolde den boumgarten für sich zu einem intimen Raum machen, zeigt ihr körperliches und sprachliches Verhalten eine Orientierung auf die öffentliche Norm hin. Das liegt unter anderem im Konzept des Baumgartens selbst begründet. Der Garten ist kein Raum, der dauerhaft aus dem höfischen Komplex ausgegrenzt werden kann. Auch wenn er einen liminalen Sonderraum am Rand der höfischen Zivilisation bildet, bleibt er der höfischen Öffentlichkeit und ihren Normen zugänglich. Im Schwellenraum befinden sich Öffentlichkeit und Heimlichkeit, höfi-

 Schulz, Gottfried von Straßburg, S. 107.  Gottfried spielt mit den Grenzen des Sagbaren und Verschweigbaren. Einerseits offenbart die Unterhaltung rückhaltlose Intimität, andererseits entspricht das Gespräch auch dank der förmlichen Anrede und dem Abstand der Gesprächspartner den höfischen Konventionen. Es kann und soll von jedem gehört werden. In dieser Form der Rede sieht Müller die hövescheit an sich problematisiert. Als wahr gilt, was alle hören und sehen. Vgl. Müller, Zwischenräume, S. 305–316; bei Gottfried wird deutlich, dass er „durch alle Manöver des Verhüllens und Enthüllens hartnäckig die Frage nach der Erkenntnis von ‚Wahrheit‘ verfolgt“. Christoph Huber: Gottfried von Straßburg: Tristan. 3., neu bearb. u. erw. Aufl. Berlin 2013 (Klassiker Lektüren. 3), S. 92. Vielfach wurde die erste Baumgartenszene unter dieser Prämisse auf die Aushandlung von Bedingungen des Erkennens und Verkennens hin gelesen. Vgl. Wetzel, Erkennen und Verkennen, S. 45–66; Küsters, Marken der Gewissheit, S. 661–674.  Der Rezipient wird zugleich in der Innenwelt und in der Außenwelt situiert. Obwohl der Standpunktwechsel Relativität herstellt, bleibt die moralische Hoheit bei Tristan und Isolde, denn der Rezipient erkennt, dass Marke der Zugang zum Inneren der Liebenden verwehrt ist. Vgl. Hübner, Erzählform, S. 372; vgl. auch Wetzel, Erkennen und Verkennen, S. 52 f.  Vgl. Baier, Heimliche Bettgeschichten, S. 197–199.

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sche und außerhöfische Sphäre, Zentrum und Peripherie in der Schwebe. Erst die räumlichen Handlungen von Tristan, Brangäne und Isolde erzeugen den boumgarten subversiv als intimen Raum und vereindeutigen den Schwebezustand vorübergehend zugunsten von Intimität und teilweiser Abgeschlossenheit. Nichtsdestotrotz bleiben die Gegenpole latent erhalten und können mehr Einfluss für den Gartenraum beanspruchen. In der Beobachtung von außen durch Melot und der Okkupation des Baumgartens übt die Öffentlichkeit Druck auf den erzeugten intimen Raum aus. Er existiert nur so lange, wie er von den Liebenden aktiv durch ihre Einbettung und Bewegung im Raum performativ aufrechterhalten wird. Das von der Baumgartennatur initiierte Verhalten von Tristan und Isolde im Moment der Bedrohung unterscheidet sich zwar von den vorherigen Treffen, doch genau in dieser Anpassung wird der intime Raum geschützt und hat so unterhalb der Oberfläche vorerst Bestand. Der Gartenraum ermöglicht eine zeitweise, isolierte Suspendierung der öffentlichen Ansprüche, ohne dass es zu einer Auflehnung gegen die öffentliche Ordnung kommt. Gerade in diesem Umstand liegt für Wenzel eine Aufwertung der heimlichen Sphäre, denn durch ihre Innensicht werden die Prinzipien der Öffentlichkeit relativiert. „Die Sphäre repräsentativer Öffentlichkeit wird somit in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit zum Thema. Sie ist gefährdet durch die Heimlichkeit und dennoch grundsätzlich befriedet durch die Heimlichkeit dieser Gefährdung“.74 Obwohl Marke und Melot sehen und hören, bleiben sie für die Intimität, die sie eigentlich beobachten wollten, blind. Ihnen fehlt nicht nur die Kenntnis der Innenwelt, ihnen fehlt auch die Kenntnis der routinierten Intimisierungstaktik, vor deren Hintergrund Tristan und Isolde die drohende Katastrophe verhindern. Auf der Ebene der Raumerzeugung wird der Konflikt zwischen Heimlichkeit und Öffentlichkeit verhandelt, indem der Baumgarten durch deiktische Prozeduren, Blicke und Bewegung als intimer Raum erzeugt und so die kulturelle Architektur des Schwellenraums zeitweise suspendiert wird. Hübners Beobachtung, dass dieser Konflikt auch mit Blick auf die Fokalisierungseffekte virulent wird, stützt diese These. So offenbart sich, wie diffizil Gottfried das Spannungsverhältnis zwischen magischer Liebe und Öffentlichkeit in den Baumgartenszenen verhandelt. Die Eskalation des Konflikts in Form eines Ertappens in flagranti kann durch das gemeinschaftliche Handeln des Paares vorerst vermieden werden. Dennoch hinterlässt das belauschte Stelldichein nur Verlierer. Die Liebhaber verlassen einander trûrende in entgegengesetzte Richtungen: Sus schieden si sich under in. diu küniginne diu gie hin siuftende und trûrende, ameirende unde amûrende, mit tougenlîchem smerzen

 Wenzel, Öffentlichkeit und Heimlichkeit, S. 357. Vgl. auch S. 353–357.

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ir lîbes und ir herzen. der truraere Tristan der gienc ouch trûrende dan (V. 14906–14914)

Isolde geht hin, Tristan geht dan. Die herkömmlichen Treffen sind ungeachtet des verhinderten Verrats nun unmöglich. Nach der Kemenate ist vorerst auch der Baumgarten als intimer Rückzugsort und räumliches Pendant zur Innenwelt (Hübner) von der höfischen huote erfasst worden. Marke verbleibt mit Melot als Letzter im Garten. Als Lauscher, der seiner Wahrnehmung nach nichts Geheimes belauschen konnte, stellt Marke in diesem Moment den Inbegriff des wankenden Ehemanns dar, der Frau und Neffe z’arge haete bedâht (V. 14921).75 Melot kommt ebenso schlecht davon. Das intime Zusammentreffen, das er beobachtete, wiederholt sich nicht. Anstatt mit Anerkennung bedacht zu werden, hält Marke den Zwerg nun für einen hinterlistigen Betrüger (vgl. V. 14925–14928 u. 14932–14935). Die Lauscher verlassen ihre vermeintlich übergeordnete Position, begeben sich wieder auf den Boden der Tatsachen und kehren zurück zur Jagd (vgl. V. 14929–14931).

5.1.4 Zweite Baumgartenszene Die Kommunikation zwischen Tristan und Isolde ist im Nachgang der ersten Baumgartenszene vollends auf die öffentliche Sphäre des Hofs verwiesen. Im Schutz des intimisierten Raums konnten die Blicke zwischen beiden die Katastrophe noch verhindern und die intime Beziehung erhalten. Im Licht der Öffentlichkeit verraten sie jedoch die heimliche Beziehung zwischen Markes Neffen und seiner Frau: si begunden dicke under in zwein ir ougen unde ihr herze in ein mit blicken sô verstricken, daz si sich ûz ir blicken oft und ze manegen stunden nie sô verrihten kunden, Marke envünde ie dar inne den balsemen der minne. durch daz er na mir allez war. (V. 16493–16501)

 Dass Gottfried die Schwanklogiken der verwandten Stoffe nicht übernimmt, zeigt sich hier sehr deutlich. Ist der gehörnte Ehemann dort normalerweise der Verlachenswerte, weil seine eigene Unfähigkeit den Betrug an ihm erst ermöglicht, so verbietet die Einsicht in Markes Zweifeln und Leiden jegliches Auslachen. Zu den ‚Schwank-Verwandten‘ und ihrer Stellung zu Gottfrieds Baumgartenszene vgl. Dicke, Das belauschte Stelldichein, S. 199 f.

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Marke bleibt nichts übrig, als die Liebenden vom Hof zu verbannen. Aus der höfischen Gesellschaft ausgeschlossen, finden Tristan und Isolde ihr Heil vorerst im wunschleben in und rund um die Minnegrotte. Doch obwohl es ihnen in der außerhöfischen Sphäre an nichts zu fehlen scheint, Flora und Fauna stellen ihnen sogar einen Hofstaat, ist diese Lebensform defizitär. Ihr fehlt die soziale Einbettung: si’n haeten umbe ein bezzer leben / niht eine bône gegeben / wan eine umbe ir êre (V. 16875–16877). „Die Asozialität der Wildnis bedeutet insofern Entzug der höchsten Prämie, die die Gesellschaft […] zu vergeben hat. Radikalisiert wäre êre also eine Metonymie für gesellschaftliche Ordnung überhaupt.“76 Der notwendige Bezug der intimen, respektive heimlichen Liebe auf die höfisch-öffentliche Sphäre, der bereits im Handlungsraum boumgarten räumlich wie semantisch zur Darstellung gebracht wurde, wird in der Minnegrottenepisode weiter radikalisiert. Das Ergebnis zeigt, dass sich beide Pole nicht dauerhaft voneinander entkoppeln lassen, und so führt die Erzählung Tristan und Isolde zurück in den höfischen Kontext. Nach ihrer Rückkehr verschärft sich der Konflikt zwischen Heimlichkeit und Öffentlichkeit weiter. Im gleichen Maß, in dem die huote Druck auf Isolde ausübt, um geheime Treffen zu verhindern, erhöhen sich Liebesleid und Begehren für Isolde wie für Tristan. den was diu huote als ande, verbot daz tete in alse wê, daz si alsô vlîzeclîchen ê z’ir state nie gedâhten, biz si’z ouch vollebrâhten nâch allem ir leide. (V. 18118–18123)

Für dieses so ersehnte Treffen kehrt die Handlung in einen bestens bekannten Raum zurück: sus wolte si dem strîte, dem muote unde der zîte mit einem liste entwichen sîn und viel inmitten dar în. si begunde in ir boumgarten ir gelegenheite warten (V. 18135–18140)

Mit dem Possessivpronomen ir (V. 18139) wird der Baumgarten deutlich als derselbe Garten markiert, in dem sich Tristans Spur im Schnee abzeichnete, Melot das Zusam-

 Jan-Dirk Müller: Zeit im Tristan. In: Der Tristan Gottfrieds von Straßburg. Symposion Santiago de Compostela. Hrsg. von Christoph Huber, Victor Millet. Tübingen 2002, S. 392. Ein weiteres Defizit sieht Müller in der leidlosen Existenz, die die Minnegrotte ermöglicht. Da das Leiden ein „notwendiges Ingredienz der minne der edelen herzen“ (S. 396) darstelle, könne die Vollkommenheit des Minnegrottenlebens nicht ungetrübt bleiben, vgl. S. 396 f.

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mentreffen ausspähte und die Lauscher auf dem Baum saßen. Nach und nach hat Gottfried den Baumgarten als zeitweise intimen Raum erzählt, der von Tristan und Isolde durch ihre Bewegung und Wahrnehmung im Raum erzeugt wird und der ihnen Schutz bietet. Er wurde zum gemeinsamen boumgarten von Tristan und Isolde.77 Das Possessivpronomen stellt die Identität des Baumgartens mit dem vorhandenen Vorstellungsraum aus und ruft diesen im gleichen Zuge erneut auf.78 Der Rezipient reaktiviert nicht nur die räumliche Anlage des Baumgartens, sondern auch die bislang dort platzierte Handlung und deren Bedeutung für die Erzählung. Bevor es zum Treffen im Baumgarten kommt, werden Isoldes Überlegungen zu einer geeigneten Stelle im Baumgarten erzählt. Die wörtliche Bedeutung des Gesagten, das sich auf die räumlichen Voraussetzungen bezieht, läuft parallel zu der wieder aufgegriffenen Licht- bzw. Sonnenmetaphorik. Räumlich betrachtet ist vor allem der Schatten eine wichtige Voraussetzung für eine geeignete Zusammenkunft. si suohte zuo z’ir state schate, schate, der ir zuo z’ir state schirm und helfe baere, dâ küele und eine waere. (V. 18141–18144)

Die chiastische Stellung und der Gleichklang von schate und state repräsentieren diesen Zusammenhang auch auf Versebene (vgl. V. 18141 f.). Der Schatten fokussiert die Aufmerksamkeit erneut auf die vertikale Achse des Baumgartens. Passenderweise ist eine schattige Stelle im Baumgarten schon bestens bekannt. Der Platz am Brunnen unterhalb des Olivenbaums erfüllt die Kriterien und ist zuvor bereits von Gottfried als einzige Stelle konstruiert worden, an der ansatzweise Schutz für die Liebenden gegeben ist. Die ausdifferenzierte Raumimagination des boumgarten ermöglicht es, die von Isolde geforderten Eigenschaften im Vorstellungsraum Baumgarten zu identifizieren. Ohne dass das Geschehen dort explizit verortet wird, zeichnet sich ab, dass die Zusammenkunft der Liebenden unterhalb des Olivenbaums stattfinden wird – wie zuvor bereits so häufig. Die Schutzfunktion des Schattens hat die erste Baumgartenszene eindrücklich unter Beweis gestellt. Mit der origoexklusiven Raumbereichsdeixis dâ schreibt Isolde der schattigen Stelle außerdem Kühle und Einsamkeit zu (vgl. V. 18144). Dass Bäume

 Baier nimmt an, es sei „ein boumgarten, diesmal ohne die Ausführlichkeit der Naturdarstellung“. Baier, Heimliche Bettgeschichten, S. 200. Warum ein neuer Garten angenommen wird, dem vermeintlich neue Eigenschaften zugeschrieben werden, ist auch unter dem Gesichtspunkt einer ontologischen Sparsamkeit nicht nachvollziehbar. Zumal die räumliche Ausstattung der Szene sehr wohl auf den bekannten Baumgarten Bezug nimmt.  Es ließe sich freilich argumentieren, ir beziehe sich nicht auf Tristan und Isolde, sondern lediglich auf Isolde. Für die Identifizierung des Gartens mit dem boumgertelîn von zuvor hätte das jedoch keine Folgen, denn bereits bei Tristans nächtlichem Ausflug wird der Garten in direkter Nachbarschaft zu Isoldes Kemenate platziert. In dieser Lage ließe sich der Garten dennoch auch als Isoldes Garten bezeichnen.

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in Gärten eine wichtige Rolle als Sonnenschutz haben, darauf verweist auch Albertus Magnus in seiner Anweisung zur Einrichtung eines Lustgartens. Die Bäume sollen so dicht sein, dass sie den Gartenbesucher vor zu starker Sonneneinstrahlung schützen, ohne dabei den gesundheitsfördernden Luftzug zu unterdrücken.79 Dass die Hoffnung auf Einsamkeit enttäuscht werden könnte, lässt die Vorausdeutung des Erzählers vermuten. Indem er das Figurenbewusstsein Isoldes mit dem Rezipienten teilt, offenbart der Erzähler Isoldes Wunsch: sus wolte si dem strîte, / dem muote unde der zîte / mit einem liste entwichen sîn (V. 18135–18137). Wieder soll das Treffen im Baumgarten eine List sein, um der Öffentlichkeit einen intimen Raum abzutrotzen. Die Gefahr des letzten Zusammentreffens, bei dem sich die Entdeckung nur knapp und unter großen Mühen vermeiden ließ, spielen in Isoldes Überlegungen keine Rolle. Zu sehr scheint sie von dem Verlangen getrieben,80 Tristan wiederzusehen. Sie wird unvorsichtig. Die aus Isoldes Raumeinschätzung gewonnene Hypothese vermag auch die metaphorische Lesart zu stützen. Die vernichtende Wirkung der Sonne auf Isoldes êre hat die Forschung in ihrer Hitze wie in ihrer Helligkeit gesehen.81 In jedem Fall steht die Sonne für eine erhöhte Gefahr, von der Öffentlichkeit ertappt zu werden.82 Der Schatten im boumgarten ist ein Versuch, genau vor der übergeordneten Sphäre der Öffentlichkeit verborgen zu bleiben und die êre zu schützen. Noch vor dem Zusammentreffen betreibt Gottfried einigen Aufwand, um die hohe Gefahr des Scheiterns, i. e. der Entdeckung, räumlich wie semantisch zu illustrieren. Schnell findet Isolde im Baumgarten den entsprechenden Platz – der Rezipient scheint gerechtfertigt darin, diesen unterhalb des Olivenbaums zu imaginieren – und lässt dort geschwind ein prächtig ausgestattetes Bett herrichten.

 „In arboribus tamen illis plus quaeritur umbra quam fructus, et ideo non multum curatur de earum fossura et fimatione, quae caespiti multum ferrent nocumentum. Cavendum etiam est in his, ne sint arbores nimis spissae aut plurimae secundum numerum; quoniam ablatio aurae posset corrumpere sanitatem et ideo viridarium liberum aërem cum umbra vult habere.“ Albertus Magnus, De vegetabilibus, S. 637. Übersetzung d. Clemens Wimmer: „Doch von jenen Bäumen wird eher Schatten als Obst gefordert, und deshalb soll man sich bei ihnen nicht viel um das Umgraben und Düngen kümmern, wovon der Rasen großen Schaden leiden würde. Auch ist dafür Sorge zu tragen, daß die Bäume nicht gar zu dicht beieinander stehen und zu zahlreich sind; denn das Abhalten des Windes kann das Gedeihen zunichte machen, und deshalb verlangt ein viridarium frei wehende Luft und Schatten.“ Wimmer, Geschichte der Gartentheorie, S. 22 (Hervorhebung im Original).  Die proportionale Zunahme des Leidensdrucks und der Begierde ist bereits zu Beginn des huoteExkurses Thema: der gespenstige gelange / der tete in allerêrste wê, / wê unde maneges wirs dan ê. / in was dô zuo z’ein ander / vi langer und vil ander, / dan in dâ vor ie würde (V. 17838–17843).  Vgl. Haug/Scholz, Kommentar, S. 702 f.  Der Ehebruch, den Aphrodite mit dem olympischen Kriegsgott begeht, wird vom gehörnten Hephaistos in Homers Odyssee (8. Gesang) und in Ovids Metamorphosen (4. Buch) ebenfalls zur Mittagszeit entdeckt. Vgl. Alfred Ebenbauer: In Flagranti. Zur literarischen Darstellung entdeckter Ehebrüche. In: Blütezeit. Festschrift für L. Peter Johnson zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Mark Chinca, Joachim Heinzle, Christopher Young. Tübingen 2000, S. 245–269.

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und al zehant si den vant, si hiez ein bette dar zehant rîlîche und schône machen: […] dô leite sich diu blunde in ir hemede dar an. die juncvrouwen hiez si dan entwîchen al gemeine niuwan Brangaenen eine. (V. 18145–18158)

Den boumgarten mit einem Bett auszustatten, stellt den Versuch dar, den Schwellenraum Garten zu einem Innenraum und zu einem Spielraum für Muße umzufunktionieren.83 Ulrich Ernst spricht von einem ‚kemenatisierten‘ Garten.84 Isoldes leichte Bekleidung und ihre Immobilität im Bett stehen im offensichtlichen Gegensatz zu der hohen Dynamik und der ausgefeilten Raumregie der ersten Baumgartenszene. Wurde der Schwellenraum dort durch deiktische Prozeduren, Blicke und geheime, diffizile Bewegungsabläufe als ein zeitweise intimer Raum erzeugt, erscheint Isoldes Ausstattung des Baumgartens wie der gewaltsame und damit dem Raum unangemessene Versuch, eine Intimität herzustellen, die dem Baumgarten an sich nicht eigen ist. Im Spannungsverhältnis zwischen Öffentlichkeit und Heimlichkeit besitzt der höfische Garten zwar das Potential, vorübergehend und performativ zu einem heimlichen respektive intimen Raum zu werden. Allerdings sind dafür besondere Bewegungs- und Handlungsabläufe notwendig, die den Raum aus der öffentlichen Zugänglichkeit herauslösen. All das bleibt in der zweiten Baumgartenszene aus. Zumal sich der boumgarten beim letzten Zusammentreffen als Raum erwiesen hat, der nicht (mehr) vollends vor dem Zugriff der Öffentlichkeit geschützt ist. Die akute Gefahr einer Entdeckung konnte in der ersten Baumgartenszene zwar gebannt werden, aber für weitere Treffen ist er, wie zuvor Isoldes Kemenate, nun ungeeignet. Auffällig ist des Weiteren, dass die Vorbereitungen für das Treffen nicht unter Tristan, Isolde und Brangäne bleiben. Mehrere Jungfrauen helfen im boumgarten, das Bett herzurichten. Nach getaner Arbeit werden sie mit dem direktionalen Bewegungsverb entwîchen aus dem Baumgarten weggeschickt (vgl. V. 18156 f.). Eine auffällig unauffällige Rolle in diesen ganzen Vorbereitungen spielt Brangäne. Zwar bleibt sie allein zunächst im Baumgarten zurück, doch sie ist bei Weitem nicht mehr federführend. Die von Brangäne orchestrierte Kommunikation kommt nicht mehr zum Zuge. Es ist lediglich die Rede davon, dass Tristan ein Bote gesandt werde, um auf die ze stete wartende Isolde aufmerksam zu machen (vgl. V. 18159–18161). Wer oder was der Bote ist, interessiert den Erzähler ebenso wenig wie die Tatsache, woher Tristan weiß, wo diese Stätte ist. Gottfried verweigert jegliche Hinweise darauf. Für den Rezipienten

 Vgl. Becker, Muße im höfischen Roman, S. 372 f.  Vgl. Ernst, Virtuelle Gärten, S. 178 f.

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hat ze stete hingegen einen zeigenden Charakter und verweist auf die Stelle unter dem Baum, an der das Lager aufgeschlagen wurde. Überhaupt ist das Geschehen merklich beschleunigt. Im Präludium zur ersten Baumgartenszene wird die Raumimagination über zahlreiche Verse hinweg schrittweise entfaltet, damit ganz klar nachzuvollziehen ist, wer sich in der entscheidenden Szene wo bewegt, was sehen und wissen kann oder auch nicht. Die Vorbereitungen zur zweiten Szene fallen dagegen im Umfang deutlich kürzer aus. Zudem ist die Erzählung mit einigen Zeitadverbien versehen, die auf ein beschleunigtes, beinahe übereiltes Geschehen hinweisen. Die Vorbereitungen gehen mehrmals zehant oder im nu vonstatten (vgl. u. a. V. 18145, 18146, 18152 u. 18159). Dazu passt auch die Ankunft von Tristan: Unmittelbar nach der Aussendung der Boten taucht er auf – nicht ohne dass der Erzähler sein Handeln mit dem Handeln des seiner Frau hörigen Adam vergleicht85 – und Brangäne geht. Zwar impliziert das Verb komen eine direktionale Bewegung auf etwas hin, doch die Ausführlichkeit, mit der die Bewegungen zuvor in Art und Orientierung durch den Raum dirigiert wurden, fehlt. Mit der Wegdeixis hin verlässt Brangäne den Baumgarten in Richtung der Kemenate: er kam und gie Brangaene hin (V. 18165). Der auktoriale Blick folgt ihr und enthält dem Rezipienten nun das eigentliche Treffen der Liebenden vor. Die angestlîche swaere der sonst so souveränen Brangäne verheißt nichts Gutes (vgl. V. 18162). Auf ihren Befehl hin werden sowohl die Tür zum boumgarten – von ihr weiß man dank Marjodo – als auch die Tür aus der Kemenate in Richtung des übrigen Hofkomplexes geschlossen: si hiez die kameraere alle die tür besliezen und nieman ouch în liezen si selbe enhieze in în lân. (V. 18168–18171)

Die Kemenate wird so zu einer Art Übergangszone zwischen der öffentlichen Hofsphäre und dem Baumgarten. Niemand darf die Kemenate ohne Brangänes Erlaubnis  Lähnemann zufolge fokussiert Gottfried die Verbindung zum Sündenfall nicht, auch wenn die Gartenausstattung paradiesisch sei. Der Sündenfall fungiere als literarisches Modell, das ein Kombinationsangebot darstelle, doch von der Überblendung mit einem theologischen Modell könne nicht die Rede sein. Vgl. Henrike Lähnemann: Tristan und der Sündenfall. Ein Theologumenon auf höfischen Abwegen. In: Der Tristan Gottfrieds von Straßburg. Symposion Santiago de Compostela. Hrsg. von Christoph Huber, Victor Millet. Tübingen 2002, S. 221–242. Schulz hingegen sieht die zweite Baumgartenszene explizit als zweiten Sündenfall an. Vgl. Schulz, Gottfried von Straßburg, S. 151–154. Auch Mangard/Strieder lesen die beiden Baumgartenszenen als Bezug auf das biblische Paradies und den Sündenfall. Vgl. Désirée Mangard, Miriam Strieder: Paradise Perverted? The Garden as the Nucleus of Ungodliness in Gottfried’s von Straßburg Tristan. In: Enchanted, Stereotyped, Civilized. Garden Narratives in Literature, Art and Film. Hrsg. von Feryal Cubukcu, Sabine Planka. Würzburg 2018, S. 63–78. Welche Funktion und welchen Stellenwert die Anspielungen und Bezüge auf Adam und Eva, das Paradies und den Sündenfall in den Baumgartenszenen und im huote-Exkurs haben, kann und muss an dieser Stelle nicht entschieden werden.

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betreten. Neben der Zofe sind weitere Jungfrauen und die kameraere am Geschehen beteiligt. „[D]ie leichtfertig in Kauf genommene Vielzahl der Mitwisser“ signalisiert ein weiteres Mal, dass das Vorhaben zum Scheitern verurteilt ist.86 Das Verlassen der Kemenate durch einen Diener bleibt von Brangäne unbemerkt und stellt die entscheidenden Weichen (vgl. V. 18178–18183). Man kann schließen, dass der Diener die Kemenate in Richtung des Hofes verlässt, denn sogleich kommt ihm Marke entgegen und schlüpft durch die Abriegelung. nu sprach ir iegelîche: ‚si slâfet, herre, ich waene.‘ diu verdâhte Brangaene, diu arme erschrac unde gesweic, ir houbet ûf ir ahsel seic, hende unde herze enpfielen ir. der künec sprach aber: ‚nu saget mir, wâ slâfet si diu künigîn?‘ si wîsten in zem garten în (V. 18184–18192)

Die behelfsmäßige Abgrenzung gegen die Öffentlichkeit des Hofs mit der Kemenate als Schleuse ist löchrig. Einmal in diesem ‚Schleusenraum‘ angekommen, ist die Entdeckung unausweichlich. Das scheint auch Brangäne klar. Als sie Marke sieht, fährt ihr der Schreck in die Glieder. Ihr zusammengesunkener Körper offenbart die Unumkehrbarkeit des Geschehens. Wortlos und prompt beantworten die Zofen Markes Frage mit einem Fingerzeig in den Baumgarten. Ähnlich der hypnotischen Wirkung des Blicks zwingt die Zeigegeste Marke sofort zur Orientierung auf den Garten und initiiert eine gerichtete Bewegung dort hin. Der Blick springt nun unmittelbar zu dem, was Marke, schon im Baumgarten angekommen, vorfindet. Auch wenn sein Eindringen nicht geplant war, heimlich wie noch zuvor ist es nicht mehr. und Marke kêrte hin zehant, dâ er sîn herzeleit dâ vant: wîp unde neven die vander mit armen zuo z’ein ander gevlohten nâhe und ange, ir wange an sînem wange, ir munt an sînem munde; swaz er gesehen kunde, daz in diu decke sehen lie, daz vür das deckelachen gie zuo dem oberen ende (V. 18193–18203)

 Ernst, Virtuelle Gärten, S. 179; vgl. Baier, Heimliche Bettgeschichten, S. 200 f.

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Es ist helllichter Tag und Marke betritt den boumgarten offen durch die Tür zur Kemenate. Während rund um die erste Baumgartenszene mithilfe verschiedenster narrativer Techniken performativ von den Beteiligten ein heimlicher Raum erzeugt wird, fehlt all das bei der Entdeckung in flagranti. Mithilfe von Brangäne trafen die Liebenden zuvor mehrere Vorkehrungen, um zu verhindern, dass ihr Treffen bemerkt wird oder sie sich im schlimmsten Fall vor Lauschern verraten. Als die Anwesenheit von Marke und Melot das routinierte Verhalten unmöglich macht, bietet dieser Ablauf eine Folie, um die Enthüllung zu verhindern. In der vorliegenden Szene fehlt eine solche Taktik fast gänzlich. Das Schließen der Türen ist nur eine unzuverlässige Maßnahme, zumal Tristan und Isolde im Bett liegend jeder Handlungsspielraum genommen ist. Der Versuch einer räumlichen Abgrenzung alleine genügt nicht, wenn es an den performativen Handlungen fehlt. Auch der Schatten als Schutz erweist sich als wirkungslos, denn diesmal lauert die Gefahr nicht versteckt über ihnen im Baum, sondern betritt den boumgarten auf herkömmlichem Wege. Deiktische Prozeduren und Bewegungen machen den boumgarten ausgehend von der vorhandenen Raumimagination noch immer als konsistenten Imaginations- und Wahrnehmungsraum vorstellbar. Doch sie vereinigen sich nicht zu einer Taktik, die den Gartenraum subversiv nutzt und seine kulturelle Architektur unterminiert. Isolde pfropft dem Baumgarten gewissermaßen das Bett als Ausstattungsmerkmal des Innenraums auf. Aber das boumgertelîn ist kein intimer Innenraum, es ist nicht zum dauerhaften Aufenthalt bestimmt. Der Baumgarten ist ein liminaler Raum, der mit den entsprechenden Taktiken eine subversive Nutzung zeitweise ermöglicht. Ohne dies verbleibt er aber als potentiell öffentlicher Raum des Hofkomplexes. Das Bett ist dort fehl am Platze. Isoldes unangemessener Umgang mit dem Raum bereitet das Scheitern ihres Vorhabens auf Ebene der Raumerzeugung entscheidend vor. De facto findet auch die Erkenntnis, dass ihr Baumgarten bereits einmal durch das Eindringen der Öffentlichkeit bedroht wurde, in Isoldes Verhalten keinerlei Niederschlag. Zu sehr scheint sie das Treffen zu begehren, zu groß ist das Leid der Trennung für beide. Dementsprechend geht Gottfried in der Darstellung der Liebenden weiter als bisher: schlafend, ineinander verschlungen, Mund an Mund und nur teilweise von der Bettdecke verhüllt findet Marke Frau und Neffen vor.87 Unschuldig bemerkt der Erzähler, er wisse auch nicht, welche Art von Beschäftigung dem vorausgegangen sei (vgl. V. 18214).88

 Erstarrt und nach dem Liebesakt eingeschlafen werden Tristan und Isolde selbst in Markes Blick zu einem Kunstwerk verklärt. Durch ihre Statik löst Gottfried das darstellerische Problem des ertappten Ehebruchs. Vgl. Ebenbauer, In Flagranti, S. 245–269. Dass der betrogene Ehemann die Schönheit der Verbindung zwischen Isolde und Tristan wahrnimmt, macht den Eindruck noch machtvoller und positioniert Marke nicht als eindeutigen Antagonisten. Vgl. Hübner, Erzählform, S. 320–328.  Eine ähnliche Bemerkung macht der Erzähler schon, als Marke durch das Fenster der Minnegrotte blickt. Für Ebenbauer ist das ein Grund, die beiden Episoden als identisch zu betrachten, denn beide Male werde deutlich, dass es sich um den Schlaf nach dem Liebesakt handele. Vgl. Ebenbauer, In Flagranti, S. 266–269.

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„Das versteckte und verborgene, vermutete, doch immer wieder angezweifelte Verhältnis zwischen Tristan und Isolde sieht der König nun durch Augenschein bestätigt“.89 Die Beobachteten wissen nicht um Markes Anwesenheit und so erlangt Marke und mit ihm der Rezipient einen unverstellten Blick auf die Lage. Während es Tristan und Isolde in der ersten Baumgartenszene noch möglich war, ihre Taktik der Intimisierung so zu transformieren, dass Markes Verdacht zerstreut werden konnte, sind sie nun immobil und durch ihren Schlaf handlungsunfähig gemacht. Ein Wegerklären oder Umdeuten des Gesehenen ist unmöglich.90 Es scheint, als habe sie das Begehren übermannt. Jegliche Vorkehrungen, die den Baumgarten zu einem intimen beziehungsweise heimlichen Raum im engeren Sinne gemacht hätten, fehlen, so dass Marke den boumgarten selbst ungehindert betreten kann. Doch Markes Entdeckung ist noch nicht öffentlich. Um diese Öffentlichkeit herzustellen und eine rechtmäßige Bestrafung zu erlangen, benötigt Marke die autoptische Wahrnehmung seines Rates. sus gienc er swîgende dan. / sînen rât und sîne man / die nam er sunder dort hin (V. 18231–18233). Der auktoriale Blick des Erzählers folgt also Marke, wie er den boumgarten verlässt, um kurz darauf in Begleitung zurückzukehren. Obwohl das an Marke orientierte Geschehen erneut beachtlich dynamisiert erscheint, genügt Markes Abwesenheit für einen herzzerreißenden Abschied zwischen Tristan und Isolde. Wie schon in der ersten Baumgartenszene wird Marke doch noch von Tristan gesehen, ohne sich dessen selbst bewusst zu sein. Nu’n was ouch daz sô schiere nie, daz Marke von dem bette gie und harte unverre was dervan, sô daz erwachete ouch Tristan und sach in von dem bette gân. (V. 18245–18249)

Der Rezipient teilt Tristans Blick, verbleibt im Baumgarten und wird Zeuge des unausweichlichen Abschieds. Im letzten Moment findet Tristan zu seiner gewohnten Scharfsinnigkeit und seiner Kontrolle über das Raumgeschehen zurück. Dazu gehört auch, dass er ihrer beider Schlaf als gewichtigen Fehler erkennt: ‚diz slâfen gât uns an den lîp.‘ (V. 18253). Aber es ist bereits zu spät. ‚mîn hêrre der stuont ob uns hie: er sach uns beide und ich sach in. er gât von uns iezuo dâ hin und weiz binamen alsô wol, sô daz ich ersterben sol‘ (V. 18258–18262)

 Wenzel, Öffentlichkeit und Heimlichkeit, S. 349.  Durch die Möglichkeit eines solchen Wegerklärens zeichnen sich die verwandten Erzählmuster aus, die einer Schwanklogik unterliegen. Vgl. Dicke, Das belauschte Stelldichein, S. 199–220.

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Tristans Analyse der Situation spiegelt exakt die Konstellation in der ersten Baumgartenszene. Auf der vertikalen Achse befindet sich der stehende Marke über Tristan und Isolde unter dem Baum beziehungsweise im Bett. Er sieht sie und wähnt sich unentdeckt. Tristan sieht Marke, ohne dass Marke die Entdeckung bemerkt, woraufhin Tristan Isolde von seiner Entdeckung in Kenntnis setzt. Die zweite Szene zeichnet sich jedoch durch einen entscheidenden Unterschied aus. Obwohl im boumgarten etwas Heimliches stattfindet, ist er dafür doch nicht ausreichend gerüstet. Der Schutz der Dunkelheit ist nicht gegeben, zahlreiche Mitwisser werden zum Risiko und der Baumgartenraum wird in seiner Ausstattung und in dem Verhalten darin fälschlicherweise behandelt, als handele es sich um einen Innenraum. Die Baumgartennatur spielt keine Rolle mehr, nur das höfische Bett bildet den Mittelpunkt der Szenerie. Die von Isolde versuchte Kemenatisierung des Baumgartens schaltet auch die Gartennatur vollends aus, der in der ersten Baumgartenszene noch eine handlungsauslösende Funktion zukam. All das verhindert, dass Tristan und Isolde wieder gänzlich Herr und Frau über die Situation sind. Einzig ein Abschied und Tristans Flucht bleiben ihnen. Wortreich verabschieden sich die Liebenden und versichern sich gegenseitig des ewigen Gedächtnisses an ihre immerwährende Liebe.91 Tristan kehrt dem boumgarten und Isolde den Rücken und wird Cornwall für immer verlassen, Isolde bleibt zurück (vgl. V. 18359–18366). Die Intimdyade ist nun dauerhaft gesprengt. Gerade rechtzeitig kehrt nun Marke mitsamt dem Rat zurück in den Handlungsraum (vgl. V. 18367–18373). Da sich der Delinquent bereits verabschiedet hat, gibt es nun für den Hofrat nichts mehr zu sehen. Marke ergeht es wie Marjodo und Melot, deren Beobachtungen sich im entscheidenden Moment durch Andere nicht validieren ließen: ‚und habet an ir noch niht erkant, / daz wider ir êren müge gesîn? / waz wîzet ir der künigîn?‘ (V. 18392–1894) Deshalb erleidet Marke das gleiche Schicksal. Er wird vom Hofrat für seine haltlosen, weil nicht öffentlich wahrnehmbaren Anschuldigungen zurechtgewiesen (vgl. V. 18374–18400). Trotz der beträchtlichen Unterschiede zur ersten Baumgartenszene – insbesondere in der Rolle des boumgarten als Handlungsraum und seiner räumlichen Ausstattungsmerkmale – zeigt auch die zweite Baumgartenszene, wie eng Heimlichkeit und Öffentlichkeit im boumgarten aufeinander bezogen sind. Die „verquere Allianz“, in der die Liebenden wie der gehörnte Ehemann um die Risiken einer öffentlichen Aufklärung wissen, setzt sich ungeachtet von Markes Gewissheit fort.92 Die Baumgartenhandlung illustriert zum wiederholten Male, wie beschädigt Markes Herrschaft ist. Im Vertrauen auf eine öffentliche Klärung demontiert sich Marke weiter, auch wenn im Gegenzug die königliche Ehe zumindest pro forma bestehen bleiben kann. Ohne dass die Liebe zwischen Tristan und Isolde jemals das Licht der Öffentlichkeit vollends erreicht hat, stört sie die Sphäre der Öffentlichkeit und der herrscherlichen Repräsentation massiv.

 Für einen Überblick zum Abschied zwischen Tristan und Isolde vgl. Schulz, Gottfried von Straßburg, S. 155–156; Huber, Gottfried von Straßburg, S. 141–145.  Wenzel, Öffentlichkeit und Heimlichkeit, S. 358.

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Die zweite Baumgartenszene macht den boumgarten als Schwellenraum stark. Das Spannungsverhältnis zwischen Zentrum und Peripherie, höfischer und außerhöfischer Sphäre, Öffentlichkeit und Heimlichkeit lässt sich, wie Isoldes scheiternder Versuch zeigt, nicht gewaltsam zugunsten des Baumgartens als Innenraum transformieren. Räumlich wie semantisch üben die Öffentlichkeit und ihre Wertvorstellungen Druck auf den Gartenraum aus. Fehlt es an Praktiken, die den Garten wenigstens zeitweise in einen intimen Raum verwandeln, hat die öffentliche Sphäre plötzlich beträchtlichen Zugriff. Dennoch ermöglicht Gottfrieds Raumregie letztlich wenigstens eine rudimentäre Behauptung der Heimlichkeit. So schützt der Baumgarten als Raum der gegenseitigen Wahrnehmung Tristan und Isolde vor einer öffentlichen Entdeckung, auch wenn der Preis die Auflösung der intimen Verbindung und Tristans Flucht ist.

5.1.5 Gottfrieds Baumgarten: Dynamisierung eines Konflikts durch Raum Der Baumgarten erweist sich in seiner Konsistenz und Plastizität für die Handlungen der Figuren wie auch für die Vorstellung des Rezipienten als Raum mit besonderem Profil. Die Handlung kehrt mehrfach in den boumgarten zurück, so dass er als Imaginationsraum der Erzählwelt über längere Strecken hinweg präsent gehalten werden muss. Das hat zur Folge, dass der boumgarten in Gottfrieds Erzählwelt eine besondere Stabilität besitzt. In der Sukzession des Erzählens, innerhalb der jeweiligen Baumgartenszenen und über mehrere Szenen hinweg, wird er als Raum ausdifferenziert und transformiert, so dass die Szenen handlungs- und raumlogisch aufeinander aufbauen. Gottfried profiliert den Baumgarten nicht als Kulisse, sondern als Raum von Handlung, Wahrnehmung und Bewegung. Auf sprachlicher Ebene lassen sich deiktische Prozeduren ausmachen, während kinästhetische Bewegungen und Blicke auf narrativer Ebene daran mitwirken, einen dreidimensionalen, plastischen und konsistenten Raum zu erzeugen, der selbst Handlung auslöst und durch seine räumliche Ausgestaltung die Zuspitzung zentraler Spannungsverhältnisse der Erzählung forciert. Brangänes Anweisung an Tristan entfaltet ihre Wirkung vor allem durch den Einsatz von deiktischen Prozeduren, mit deren Hilfe die Standpunkte von Tristan und Isolde aus je verschiedenen Origines aufeinander bezogen werden. So führen die deiktischen Prozeduren nicht nur den Komplex aus Baum, Quelle und Bach als Zentrum des Raums ein, sondern verleihen dem erzeugten Raum zugleich Richtung und räumliche Tiefe. Eine weitere Dynamik erhält die narrative Erzeugung des boumgarten als Raum durch kinästhetische Bewegungen. Die Figuren erzeugen den boumgarten – in der Sprache angereichert durch deiktische Prozeduren – als Raum im Modus der Wegstrecke (parcours). Die Liebenden werden in diesem Zuge ebenso zu subsidiären Leibern wie ihre Widersacher und ermöglichen dem Rezipienten die imaginative und polyfokale Versetzung in die wahrnehmenden und sich bewegenden Figuren. Der Raum kann auf diese Weise vom Rezipienten am eigenen Leib wahrgenommen werden. Die Liebenden entwickeln routinierte Bewegungsabläufe, die dem entstehen-

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den Raum mit jeder Wiederholung Stabilität innerhalb der Erzählwelt verleihen und eine erhöhte Aufmerksamkeit auf Abweichungen von diesen Routinen richten. Die Gegner der heimlichen Liebe kommen vor allem als Beobachter zu ihrem Recht. Ihre monofokalen, voyeuristischen Blicke auf die Treffen des Liebespaares verleihen dem boumgarten als Raum Konsistenz, indem sie dem Rezipienten eine Außensicht auf die Handlung bieten, die er zuvor als teilnehmender Beobachter imaginierte. Insgesamt sorgen die Blickkonstellationen für eine polyfokale und plastische Imagination des Baumgartenraums und verleihen ihm Dynamik und Richtung. Eine besondere Funktion für die Raumimagination, aber auch für die Handlung haben die bifokalen Blickkonstellationen, wie sie zwischen Tristan und Isolde erzählt werden. In der ersten Baumgartenszene besteht nur für die beiden Liebenden eine gegenseitige Sichtbarkeit. Sie sehen sich gegenseitig im Raum handeln. Ihre Blicke überbrücken die räumliche Distanz, denn ihre Wahrnehmungen sind aufeinander bezogen. Das Gesehene ist selbst wieder der Auslöser für eigenes Handeln im Raum. Obwohl der boumgarten zunächst als Durchgangsraum in Erscheinung tritt, wird er durch diese narrativen Strategien demnach als Handlungs- und Wahrnehmungsraum erzeugt. Es spannt sich ein axialer und konsistenter Raum auf, der selbst Funktionsträger für die Handlung wird. Der boumgarten ist keine Kulisse, die die Bedeutung der Handlung illustriert. Er ist auch keine Funktion der Figur, wie im Unterwegssein des Helden. Gottfried erzählt einen Raum, der den Figuren ihre Positionen im Raum gewissermaßen aufdrängt. Durch den Mondschein und die Relationen aus Baum und Quelle löst der Gartenraum beispielsweise in Tristan die entscheidende Wahrnehmung aus, die die Katastrophe abzuwenden vermag. Der boumgarten besitzt handlungsauslösende Funktion. Er ist unverzichtbar für die Handlung. Ihm kommt Handlungsmacht zu, während die Figuren dieser Handlungsmacht im Gegenzug teilweise beraubt sind. Ohne diese räumliche Ausgestaltung des Baumgartens wäre die Handlung nicht denkbar. Ohne Bach gäbe es keine geheime Kommunikation, demnach kein heimliches Treffen zwischen Tristan und Isolde. Ohne Baum hätten die Beobachter keinen Platz, der ihnen das Gesehene und Gehörte als Wahrheit erscheinen ließe und so fort. Doch was leistet dieser so detailliert entworfene Imaginationsraum für den Tristan insgesamt, dass die Erzählung gleich mehrfach in diesen handlungsmächtigen Raum zurückkehrt? Im boumgarten handelt Gottfried die Grundspannung zwischen der aus der Trankminne resultierenden, intimen Liebesbeziehung und der Öffentlichkeit des Hofs aus. Dieses thematische Erzählprogramm spitzt sich im boumgarten unter je veränderten Vorzeichen zu, bis es schließlich in der zweiten Baumgartenszene den Kollaps vorbereitet. Ralf Simon argumentiert, dass unter dem Einfluss der magischen Liebe von Tristan und Isolde vier semantisch autarke Rechtfertigungsverhältnisse entstehen. Aus der Perspektive der Trankminne erscheint die Beziehung zwischen Tristan und Isolde als legitim (I), wohingegen sie aus der Perspektive der höfischen Öffentlichkeit als illegitim bewertet werden muss (II). Weil Marke Isolde liebt, ihre Ehe Sakrament und politisches Instrument zugleich ist, erscheint sie als legitime Beziehung (III). Doch vor allem Markes Überwachungs- und Überlistungsmanöver machen die Verbindung zugleich

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illegitim (IV).93 Simon sieht diese Legitimitätsverhältnisse im Verlauf der Erzählung wiederholt verunklart, so dass die Erzählung davon angetrieben sei, sie erneut auszubalancieren. „Jede Episode muß also die vollständige semantische Grundkonstellation realisieren oder wenigstens – wenn in einer Episode nicht alle Elemente vorhanden sind – die zukünftige komplette Realisierung nicht ausschließen“.94 Passiert Letzteres doch, fehle die semantische Bewegung und ein Ende der Narration sei unvermeidbar. Halten sich Tristan und Isolde an Markes Hof auf, ist die Grundspannung ständig in besonderem Ausmaß virulent. Nach der Ankunft von Isolde bei Marke muss die intime Beziehung zwischen Isolde und dem Brautwerber Tristan schnell in die Sphäre der Heimlichkeit verdrängt werden, um wenigstens ansatzweise realisiert werden zu können.95 Das jedoch weist sie zugleich als illegitim aus und offenbart ihre Gefährdung der höfischen Öffentlichkeit und somit der Herrschaft Markes. Die andauernde, latente Gefahr der Entdeckung ist die andauernde Gefahr, dass die semantische Grundkonstellation aus dem Gleichgewicht gerät. Aus Isoldes Kemenate werden die beiden Liebenden verdrängt. Die fehlende Verlässlichkeit von Marjodos Wahrnehmung verhindert zwar die Entdeckung, nichtsdestotrotz wird der höfische Raum der Kemenate durch das Eindringen der Öffentlichkeit als Raum für heimliche Treffen unbrauchbar. Nun verlagert sich die Handlung in den boumgarten. Indem Marjodo Tristans Spuren im Schnee entdeckt, ruft Gottfried den boumgarten zunächst als Raum in Erinnerung, der öffentlich zugänglich ist und der die Zeichen von Heimlichkeit freilegt. Es konnte gezeigt werden, dass es einer Taktik der Intimisierung bedarf, die den Schwellenraum boumgarten durch routinierte Praktiken als intimen Raum für die Liebenden erzeugt. Simon greift zu kurz, wenn er in der ersten Baumgartenszene nur die Verständigung zwischen Tristan und Isolde mittels Blickkontakt dem ungestörten Ausleben der magischen Liebe zuordnet.96 Die den Raum durchquerende Spankommunikation, die räumlichen Verhältnisse der Gartennatur, die dynamische Bewegung durch den Raum, die Blickkonstellation zwischen Tristan und Isolde, all das erzeugt das boumgertelîn, wie zu sehen war, als intimen Raum, in dem ungestörte Liebe möglich sein soll. Die narrative Erzeugung des Baumgartenraums und das Handeln in ihm können als Teil dieses Handlungskreises der illegitimen Liebe gelten, den sie selbst erst herstellen. Die mehrmaligen, erfolgreichen Treffen im Baumgar Vgl. Ralf Simon: Thematisches Programm und narrative Muster im Tristan Gottfrieds von Strassburg. In: ZfdPh 109,3 (1990), S. 354–363.  Simon, Thematisches Programm, S. 364.  Simon ordnet jedem Legitimitätsverhältnis einen dafür prädestinierten Handlungskreis zu: die Minnegrotte sowie außerhöfische Orte (HI), heimliche Orte am Hof (HII), das höfische Zeremoniell (HIII), nicht-öffentliche Orte des Königs (HIV). Für die Handlungskreise gilt im Anschluss an die Legitimitätsverhältnisse, dass sie in jeder Episode realisiert sein müssen oder die Episode ihre weitere Realisierung erlauben können muss. Insbesondere an den heimlichen Orten des Hofes und in verborgener Kommunikation werde die Beziehung von Tristan und Isolde vornehmlich in ihrer Illegitimität inszeniert (HII). Vgl. Simon, Thematisches Programm, S. 357–363.  Vgl. Simon, Thematisches Programm, S. 363.

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ten bringen die semantische Balance des Schwellenraums daher zugunsten von Abgeschiedenheit und Intimität aus dem Gleichgewicht. Während die intimen Zusammentreffen im boumgarten die Liebe zwischen Tristan und Isolde abzubilden scheinen, fokussiert die Anwesenheit der Beobachter in der ersten Baumgartenszene die magische Minne erneut in ihrer Illegitimität und stellt ihre Bedrohung durch die Öffentlichkeit dar. Es wurde deutlich, dass die räumliche Ausgestaltung des boumgarten die Figuren an ihre Positionen zwingt und dass der Gartenraum die Grundspannung der Erzählung somit in bemerkenswerter Weise selbst neuerlich in Schwingung versetzt. Der boumgarten illustriert damit nicht einfach. Es konnte gezeigt werden, dass Gottfried stattdessen einen handlungsmächtigen Raum erzählt. Seine räumliche Inszenierung forciert die Zuspitzung des Konflikts zunächst. Indem der Baumgarten selbst entscheidende Zeichen, wie beispielsweise mit Blick auf die Ausleuchtung von Tristans Spuren im Schnee oder die Schatten der Lauscher zu erkennen war, hervorbringt, besitzt er außerdem handlungsauslösende Funktion. Als Handlungsraum wirkt der boumgarten also derart auf die Handlung ein, dass er die Grundspannung der Erzählung emblematisch verdichtet und ihre Aushandlung vorantreibt. Unter dem durch König und Zwerg repräsentierten Druck der Öffentlichkeit spielen die Liebenden jedoch ihre kognitive und räumliche Überlegenheit aus. Nicht nur die Sprachlist kommt dem Handlungskreis der sich behauptenden, illegitimen Liebe zu.97 Die zuvor etablierte Taktik der Intimisierung bildet die Grundlage für das Handeln in und mit dem Gartenraum, das die Entdeckung verhindern soll. Durch ihre minutiöse Raumbewegung, die gegenseitige Bezogenheit aufeinander und ihre kognitive Scharfsinnigkeit gelingt es Tristan und Isolde, die Entdeckung zu verhindern. Die Grundspannung wird aufrechterhalten, indem der Handlungskreis der heimlichen, illegitimen Liebe vor dem Kollaps bewahrt wird. Die Zuspitzung der Spannungsverhältnisse sorgt in der semantischen Codierung der ersten Baumgartenszene ebenso für eine zunehmend unscharfe Verschränkung der Legitimationsverhältnisse.98 Einerseits halten Tristan und Isolde dank der bekannten Praktik den intimen Raum aufrecht. Andererseits inszenieren sie auf Basis dessen einen öffentlichen Raum für die Lauscher und schützen so ihre intime Beziehung. In der Gleichzeitigkeit der Blicke offenbart sich die Doppelstruktur der Szene. Die maßgeblich durch die räumliche Konstruktion vermittelte Doppelstruktur führt zu einer Stärkung und teilweisen Behauptung der heimlichen Sphäre. Dennoch wurde deutlich, dass der für Tristan und Isolde intime Raum des boumgarten nachhaltig gestört ist. Indem der Rezipient aber räumlich wie kognitiv an beiden Standpunkten Anteil nehmen kann,

 Simons kurze Zuordnung der Baumgartenszene zu den vier Handlungskreisen bleibt also auch mit Blick auf den zweiten Handlungskreis unvollständig, wenn die Rolle des Raumerzählens und der Handlungen im Raum nicht bedacht wird. Vgl. Simon, Thematisches Programm, S. 363.  Vgl. Velten, Sprache und Raum, S. 46 f.

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wird eine eindeutige Bewertung unmöglich.99 Eindeutigkeit wird so räumlich wie semantisch unmöglich gemacht. In dieser fehlenden Eindeutigkeit sieht Ralf Simon das Erzählprinzip des Tristan und wertet die erste Baumgartenszene als „erzählerische Elaborierung“ des damit einhergehenden Erzählprogramms.100 Die fehlende Eindeutigkeit ist für Gert Hübner ein Beleg dafür, dass Gottfried eine sympathetische Lesart anstrebt. Sie beantworte die Frage nach Legitimität nicht, sondern konturiere das Geschehen durch den Zusammenfall von Erzählerstimme und Figurenbewusstsein als unvermeidlich.101 Nachdem die erste Baumgartenszene die magische Liebe in der Bedrohung durch die Öffentlichkeit beinahe zum Verschwinden gebracht hat, erzählt die Minnegrottenepisode dagegen an. Frei von Verstellung kommt die totalitäre Liebe zur vollen Entfaltung, denn ihre Ambivalenz ist aufgehoben. Dass alle anderen Legitimationsverhältnisse in der Minnegrotte abgeschaltet sind, lässt die Episode jedoch zur Allegorie gerinnen.102 Das wunschleben erweist sich mangels gesellschaftlicher Einbindung als defizitär. Somit bewahrt Markes Entdeckung die Erzählung vor dem Abbruch und verhilft der Öffentlichkeit des Hofs wieder zu neuem Einfluss auf die Narration. Obwohl die magische Liebe im Kontext der Öffentlichkeit unmöglich ist, kommt sie nicht ohne sie aus. „Die Sphäre repräsentativer Öffentlichkeit wird somit in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit zum Thema. Sie ist gefährdet durch die Heimlichkeit und dennoch grundsätzlich befriedet durch die Heimlichkeit dieser Gefährdung“.103 Die Erzählung kehrt in das boumgertelîn zurück, in dem sie das Spannungsverhältnis wie in keinem anderen Raum entfalten kann. Mit Blick auf die zweite Baumgartenszene konnte gezeigt werden, dass die veränderten Vorzeichen der ersten Baumgartenszene keinen Einfluss auf das Handeln der Figuren im Raum beanspruchen. Es fehlt vielmehr völlig an Taktiken und Praktiken, die den boumgarten als intimen Raum herstellten. Im Zuge dieser anscheinend gewaltsam betriebenen Kemenatisierung des Baumgartens verliert er seine Handlungsmacht und die vorangegangene Erzeugung als Bewegungs- und Wahrnehmungsraum wird zurückgedrängt. Wie zu sehen war, herrscht im boumgarten anstelle von Dynamik Statik vor. Mehr denn je kann die Sphäre der Öffentlichkeit daher in den Baumgarten eingreifen. Wenn die Minnegrottenszene gegen das Verschwinden der magischen Liebe innerhalb einer Kette von Heimlichkeiten anerzählt,104 so setzt die zweite Baumgartenszene die grundlegende Aporie ins Bild. Die magische Liebe kann nicht ohne die höfische Öf-

 Vgl. Wenzel, Öffentlichkeit und Heimlichkeit, S. 355–361.  Simon, Thematisches Programm, S. 373. Zum Erzählprinzip der semantischen Zerstörung von Eindeutigkeit vgl. Simon, Thematisches Programm, S. 363–365.  Vgl. Hübner, Erzählform, S. 312–397.  Vgl. Simon, Thematisches Programm, S. 364.  Wenzel, Öffentlichkeit und Heimlichkeit, S. 357.  Vgl. Simon, Thematisches Programm, S. 364.

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fentlichkeit gedacht werden. In der höfischen Öffentlichkeit gerät sie jedoch gerade nach ihrem Aufleben in der Minnegrotte dermaßen unter Druck, dass eine Ausbalancierung der Grundspannung nicht mehr möglich ist. Die Einbindung der Liebe in die semantische Grundspannung, die die Narration im Anschluss an die Minnegrotte fordert,105 ist nicht mehr möglich. Indem allerdings nur Marke die Gewissheit der Liebe und der vorangegangenen Intrigen erlangt, wird das Zusammenbrechen des zweiten Handlungskreises – die Behauptung der illegitimen Liebe im Kontext des Hofes – verhindert. Dass der herbeigerufene Kronrat nichts Verwerfliches mehr zu sehen bekommt, schützt die Heimlichkeiten der Liebenden letztlich. Die ‚verquere Allianz‘ zwischen den Ehebrechern und dem Betrogenem hat Bestand. Allerdings ist das nur auf Kosten der unbändigen Liebe zwischen Tristan und Isolde möglich. Durch Tristans Abschied am Ende der zweiten Baumgartenszene wird die Realisierung dieser magischen Liebe – Simons Handlungskreis I – unmöglich gemacht. Der Tod der Protagonisten und das Ende der Narration sind ab diesem Zeitpunkt unausweichlich, selbst wenn sich das Geschehen nun auf Tristan und Isolde Weißhand verlagert. Gottfried hat das Schicksal seiner Figuren besiegelt. Im boumgarten wird wie in keinem anderen Raum von Gottfrieds Tristan die Grundspannung zwischen magischer Liebe und dem Primat der Öffentlichkeit verhandelt. Indem die Gartenszenen den boumgarten als polyvalenten Schwellenraum in je unterschiedlicher Gewichtung erzählen, ermöglicht der boumgarten als Handlungsraum eine besondere Ausgestaltung dieser erzählerischen Grundspannung. Immer wieder wird dieses Spannungsverhältnis im Baumgarten an den Rand des Kollapses geführt. Seine räumliche Ausgestaltung kann selbst handlungsauslösende Funktion einnehmen und bestimmt darüber hinaus die Handlungs- und Wahrnehmungsmöglichkeiten der Figuren. In keinem anderen Raum verhandelt Gottfried die Kopräsenz von heimlicher Intimität und Öffentlichkeit so pointiert. Dieser Umstand macht den boumgarten zu einem Handlungs- und Wahrnehmungsraum, an den die Erzählung wiederholt zurückkehren kann. Die Fähigkeit, mithilfe von räumlichen Praktiken im Modus des parcours einen intimen Raum zu erzeugen, stellt die Schlüsselkompetenz von Tristan und Isolde dar. Selbst in der akuten Bedrohung können sie aufgrund dessen das räumliche Pendant ihrer Innenwelt und damit diese selbst schützen. Fehlen diese Praktiken, kann eine subversive Nutzung des höfischen Gartenraums nicht dauerhaft erfolgreich sein. Der große Einfluss des Baumgartens als Raum wird wie gesehen durch besondere narrative Strategien geleistet. Gottfried gestaltet den boumgarten narrativ so aus, dass der Rezipient die Handlung als teilnehmender Beobachter in einem konsistenten Vorstellungsraum quasi am eigenen Leib imaginieren kann. Assistenzfiguren auf beiden Seiten machen den Handlungsraum und somit auch den Konflikt multifokal imaginierbar. In dieser Zuspitzung der Legitimationsverhältnisse ist es nicht mehr möglich zu beurteilen, wer im Recht oder Unrecht ist, wer Intrigant oder Opfer ist, wer aufrecht liebt oder nicht. Dem

 Vgl. Simon, Thematisches Programm, S. 375 f.

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Handlungsraum boumgarten kommt bei der semantischen Zerstörung von Eindeutigkeit als Erzählprinzip des Tristan eine zentrale Rolle zu. Da die Handlung mehrfach in den Baumgarten zurückkehrt, wird die Entwicklung des grundlegenden Spannungsverhältnisses darstellbar. Es zeigt sich, dass die Existenz einer magischen Liebe, die den Werten und Normen der Öffentlichkeit zuwiderläuft und die repräsentative Herrschaft subkutan schwächt, dauerhaft keinen Platz in der öffentlichen Sphäre behaupten kann – letztlich nicht einmal mehr temporär im Schwellenraum boumgarten.

5.2 Hartmanns von Aue Erec: Taktiken der Exklusion Die Joie de la curt ist Erecs letzte Bewährung, bevor er an den Artushof und nach Karnant zurückkehrt. In einem boumgarten muss er gegen einen Ritter kämpfen, der dort mit seiner Geliebten von der Gesellschaft abgekapselt lebt. Ohne dass zunächst allzu viel von den Rahmenbedingungen dieser Herausforderung bekannt ist, wird schnell deutlich, dass die betrübte Stimmung auf Brandigan mit der âventiure im Baumgarten verknüpft ist. Deren Namen Joie de la curt, also des hoves vreude (V. 8006), deutet auf einen Sachverhalt hin, der am Hof des Königs Ivreins nicht mehr zu beobachten ist. Die typische Hoch- und Feststimmung der Hofgesellschaft ist verschwunden, es fehlt an eben jener Freude, die einen Hof normalerweise auszeichnet. So scheint der auf Brandigan befindliche boumgarten in Hartmanns von Aue Erec1 in untrennbarer Verbindung zu seiner betrübten Umgebung zu stehen. Befragt man den Baumgarten Hartmanns daher auf seine räumliche und semantische Ausgestaltung und auf die Funktion dieses Handlungsraums für die Schlussbewährung, so muss dies zugleich eine Analyse der räumlichen und semantischen Beziehungen zwischen Baumgarten, Hof und Burgkomplex beinhalten. Aus diesem Grund berücksichtigt die Analyse auch die Ausgestaltung des Burgkomplexes und seines Verhältnisses zum Baumgarten, wie sie im Annäherungsprozess der Protagonisten erzählt werden. Dies ist aus einem weiteren Grund geboten. Erecs letzte Bewährung zeichnet sich dadurch aus, dass sowohl der Erzähler als auch die Figuren immer wieder Hinweise auf die Beschaffenheit und den Grund der âventiure geben, die Preisgabe von weiteren Erkenntnissen aber wiederholt verweigern und aufschieben. Die narrative Erzeugung des Gartenraums erstreckt sich so über die gesamte Brandigan-Episode.

 Hartmann von Aue: Erec. 3. Aufl. Hrsg. von Manfred Günter Scholz. Frankfurt a.M. 2017 (Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch. 20).

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5.2.1 Gestörtes Brandigan Folgt man Guivreiz’ Reaktion so führt der Weg die Protagonisten nur aufgrund einer Verkettung unglücklicher Umstände nach Brandigan und damit zu Erecs letzter âventiure. Eigentlich wollte man erneut Artus aufsuchen, doch an einer Wegscheide folgt man eben jenem Weg, der nicht zu Artus, sondern zum Burgkomplex von Brandigan führt. nû truoc si der huofslac ûf einer schoenen heide an eine wegescheide: welh wec ze Britanje in daz lant gienge, daz was in unerkant. die rehten strâze si vermiten: die baz gebûwen si riten. (V. 7811–7817)

Die Attribuierungen der beiden Wege als reht auf der einen und baz gebuwen auf der anderen Seite ist in der Forschung nach wie vor Anlass zur Analyse. Auch weil Erec sich, als Guivreiz erschrocken feststellt, man sei verre / geriten von unser strâze (V. 7899 f.), nicht vom eingeschlagenen Weg abbringen lässt. ‚ich weste wol, der selbe wec gienge in der werlde eteswâ, rehte enweste ich aber wâ, wan daz ich in suochende reit in grôzer ungewisheit, unz daz ich in nû vunden hân. got hât wol ze mir getân, daz er mich hât gewîset her, dâ ich nâch mînes herzen ger vinde gar ein wunschspil, dâ ich lützel wider vil mit einem wurfe wâgen mac. (V. 8521–8532)

Einerseits ruft Hartmann die christliche Wegsymbolik auf, wie man sie aus Matthäus 7,13–14 kennt. Ob es sich allerdings um eine tatsächliche Wertung der vermeintlichen Wahl des Weges handelt oder diese Symbolik nicht viel mehr unterlaufen werde, ist Frage und Gegenstand zahlreicher Forschungsbeiträge.2  Vgl. hierzu stellvertretend Trachsler, Weg im Artusroman, S. 194–224; Ulrich Hoffmann: Arbeit an der Literatur. Zur Mythizität der Artusromane Hartmanns. Berlin 2012 (Literatur – Theorie – Praxis. Beiträge zur kulturwissenschaftlichen Mediävistik. 2), S. 186–193; Glaser, Held und sein Raum, S. 52 f.; Udo Friedrich: Anfang und Ende. Die Paradieserzählung als kulturelles Narrativ in der Brandanlegende und im Erec Hartmanns von Aue. In: Anfang und Ende. Formen narrativer Zeitmodellierung in der Vormoderne. Hrsg. von Udo Friedrich, Andreas Hammer, Christiane Witthöft. Berlin 2014 (Literatur – Theorie – Geschichte. 3), S. 283 f.

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Für den gegenwärtigen Zusammenhang erscheinen mit Blick auf den Weg nach Brandigan zwei Aspekte relevant. Erstens: Ohne an dieser Stelle detailliert auf die Semantisierung des Scheidewegs und die nachträgliche Rechtfertigung durch Erec einzugehen, klingen zwei unterschiedliche Deutungsmuster an, auf die auch Udo Friedrich hinweist.3 Zum Konzept des christlichen Heilsweges, wie es die Wahl zwischen einem besser und einem offenbar schlechter ausgebauten Weg aufruft, tritt das Konzept des âventiure-Wegs. Auf der Suche nach dem sozialen Wert der êre nimmt der Held diesen Weg risikofreudig und ohne Kenntnis des Ziels auf sich und gleicht dabei einem Spieler, der nicht weiß, ob ihm der nächste Wurf einen Erfolg oder eine Niederlage bescheren wird. Hartmann setzt somit zwei unterschiedliche Deutungsmuster in Spannung zueinander, die in ähnlicher Form auch in der folgenden âventiure selbst eine Rolle spielen, wie zu zeigen sein wird. Der Weg nach Brandigan ist für die Baumgartenszene des Erec zweitens mit Blick auf seine räumlichen Charakteristika von Bedeutung. Für die räumliche Ausgestaltung der Szene bedeutet der Scheideweg nicht einfach nur das Vorhandensein von zwei Wegen, einem besser und einem schlechter ausgebauten. Das Lokaladverb reht versetzt den Rezipienten gleichzeitig in die Origo der heranreitenden Figuren. Von deren Standpunkt aus betrachtet liegt ein Weg rechter und ein Weg linker Hand. Die Axialität der Figurenkörper wird für Rezipienten zum Bezugspunkt dieser deiktischen Prozedur in der erzählten Welt. Mit nû truoc si der huofslac / ûf einer schoenen heide / an eine wegescheide (V. 7811–7813) wird eine Bewegung auf diese Stelle im Raum hin erzählt. So erhält der Raum bereits eine Richtung und Tiefe. Die wegescheide etabliert daher nicht nur ein semantisches Spannungsverhältnis, sondern fordert den Rezipienten insbesondere dazu auf, sich in die Figuren als subsidiäre Leiber hineinzuversetzen. Dies führt dazu, dass der nun erzählte Burgkomplex von Brandigan in seiner räumlichen und semantischen Ausdifferenzierung vor allem vom Standpunkt der heranreitenden Protagonisten erzählt und imaginiert wird, was sich im Folgenden sowohl auf Ebene des Raums wie auch der Semantisierung als zentral erweist. Der Weg nach Brandigan initialisiert darüber hinaus die gestaffelte Informationsvergabe als bestimmendes Prinzip, das auch in der Annäherung an den boumgarten zum Tragen kommt. Die Beschaffenheit von âventiure und Baumgarten wird innerhalb der Episode über mehrere Stellen hinweg erzählt. Die Gestalt des boumgarten, seine Grenze und sein Zugang erzählen gleich mehrere Figuren inklusive Erzähler gewissermaßen in verteilten Rollen. Der boumgarten muss so wiederholt aufgerufen werden und wird räumlich wie semantisch so ausdifferenziert, dass sich schrittweise ein Imaginationsraum zusammensetzt, in dem die âventiure situiert wird. Vorangegangenes vermag ergänzt oder problematisiert zu werden. Allein diese formale Ge-

 „Unabhängig davon, ob es sich um einen Heilsweg handelt oder eine andere Art des Weges, werden Aventiureweg und Suche auf ein ersehntes Ziel hin perspektiviert.“ Friedrich, Anfang und Ende, S. 284.

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staltung der gestaffelten Informationsvergabe lässt vermuten, dass ein komplexer, polyfokaler Handlungsraum erzeugt wird, der räumlich wie semantisch eine bestimmende Funktion für die Handlung im Baumgarten von Brandigan hat. Gertrud Höhler ist in ihrer motivgeschichtlichen Arbeit zu Hartmanns Joie de la curt der Meinung, dass Burg, Stadt und Berg – man wird im Geiste wohl auch den Baumgarten hinzufügen dürfen – „freischwebende, unsortierte Versatzstücke“ seien. Es gehe gar nicht um eine raumlogische Anordnung, denn die Landschaft sei stattdessen ein „geistiger Bedeutungsträger“.4 Dass dies nicht zutrifft und Hartmann ein kontinuierliches Raumarrangement mit Bedeutung und Funktion entwirft, soll im Folgenden anhand der narrativen Erzeugung des boumgarten als Handlungs- und Imaginationsraum gezeigt werden. Vermeintliche Sprünge im Raumerzählen gilt es, in der Sukzession des Erzählens und vor dem Hintergrund der gestaffelten Informationsvergabe zu kontextualisieren. Schon in der Scheidewegsituation ist die Versetzung des Körperschemas in die Origo der Figuren angelegt. Die Figuren dienen dem Rezipienten als subsidiäre Leiber, aus deren Origo heraus die sich auftuende Burg imaginiert werden kann: ein burc si sâhen vor in stân, / michel unde wol getân (V. 7820 f.). Als teilnehmender Beobachter folgt der Rezipient den monofokalen Blicken von Erec, Enite und Guivreiz. Insbesondere Guivreiz’ Wahrnehmung der Burg ist mit einer emotionalen Reaktion gekoppelt, deren Grund zunächst im Dunklen bleibt. Der Zwergenkönig ist bestürzt, als er im Angesicht der Burg erkennt, wohin sie gelangt sind. Eine Schilderung der Burg wird jedoch durch einen Einwurf eines imaginären Rezipienten – ein beliebtes Mittel Hartmanns5 – verzögert. Dieser fragt nach dem Grund für Guivreiz’ Erschütterung. Die Antwort des Erzählers, der eine genauere Beschreibung der Burg zunächst verweigert, weil man nichts vorwegnehmen solle, daraufhin aber doch detailliert Auskunft gibt, richtet sich über den imaginierten Rezipienten direkt an den textexternen Rezipienten: ich enwil iuch niht verdagen, / wie diu burc geschaffen waere: / daz vernemet an dem maere (V. 7831–7833). Der Wechsel des Blicksubjekts wird für die kommende Beschreibung explizit gemacht, wenngleich sich der Erzähler sofort wieder zurücknimmt, indem er sich auf seine Quelle beruft (vgl. V. 7835–7836). Was nun folgt, wird also nicht mehr aus der Origo der Heranreitenden beschrieben, wie Glaser meint,6 sondern mithilfe des auktorialen Blicks des Erzählers. Der zweifache Bezug auf die Quelle am Anfang der Beschreibung und seine Wiederholung am Ende (vgl. V.7893) legen außerdem nahe, dass nicht etwas beschrieben wird, das der Erzähler im Moment des Beschreibens selbst ‚sehen‘ kann, sondern dass es sich um eine zweifach vermittelte Raumwahrnehmung handelt: von der Quelle zum Erzähler und von dort

 Gertrud Höhler: Der Kampf im Garten. Studien zur Brandigan-Episode in Hartmanns Erec. In: Euphorion 68 (1974), S. 378.  Es findet sich im Erec unter anderem bei der Schilderung von Enites Sattel (vgl. V. 7493–7525) und in der Erzählung des Kampfes zwischen Mabonagrin und Erec (vgl. V. 9169 f.).  Vgl. Glaser, Held und sein Raum, S. 53 f.

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zum Rezipienten. Um eine Distanzierung vom Erzählten7 handelt es sich dabei nur insofern, als der Erzähler auf die Vermittlung durch die Quelle angewiesen ist und sich so eigenen Rechtfertigungs- oder Wahrheitsbekundungen entzieht. Für die Frage nach dem raumlogischen Zusammenhang ist es nicht nur wichtig, eine vertikale Schilderung von unten nach oben zu beobachten.8 Zusätzlich sind die aufgespannten Dimensionen zu beachten. Zunächst spricht der Erzähler von der Lage der Burg auf einem breiten Felsen, der ûf von der erde den Schleudern entwahsen (V. 7843 f.) ist. Diese Formulierung erzeugt einen dynamischen Raumeindruck. Er verleiht der Burg insbesondere auf einer vertikalen Achse Ausdehnung. ez was ein sineweller stein, dâ niender bühel ane schein, ebene, sam er waere gedrân, und ouch rehte getân nâch des wunsches werde, ûf von der erde entwahsen wol den mangen. den berc hete in gevangen ein burcmûre hôch und dic. ein ritterlîcher aneblic zierte daz hûs innen. ez rageten vür die zinnen türne von quâdern grôz (V. 7838–7850)

Dass die Mauer auf dem Berg hôch und dic (V. 7846) ist, verfestigt die Ausdehnung in die Höhe und fügt ihr eine horizontale Achse hinzu. Während die Burgmauern in die Höhe aufragen, lenkt der Erzähler den auktorialen Blick nun in die räumliche Tiefe. Der Rezipient wird aufgefordert, seinen Blick innerhalb des aufgespannten Imaginationsraums in das Burginnere, also hinter oder über die Mauer zu lenken, wo er die Wohngebäude sehen kann (vgl. V. 7849 f.). Neben der Ausdehnung in die Höhe werden die Türme der Wohngebäude und die Zinnen in ein Vorder-/Hintergrund-Verhältnis gesetzt. Die deiktischen Prozeduren sorgen in Verbindung mit den Bewegungsverben entwahsen und ragen dafür, dass der Imaginationsraum räumliche Tiefe erhält. Indem der Erzähler nach und nach eine Ausdehnung in Höhe, Breite und Tiefe konstruiert, wird ein dreidimensionaler Imaginationsraum erzeugt. Mit Bezug auf die Türme heißt es weiter: dâ enzwischen was diu stat gezimbers niht laere. dâ sâzen die burgaere nâch grôzer ir werdekeit.

 Vgl. Hoffmann, Arbeit an der Literatur, S. 196.  Vgl. Glaser, Held und sein Raum, S. 53–55.

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alsô was daz hûs zebreit mit den türnen. nâch ir zal sô was ihr drîzec über al. sus was daz hûs gevieret: die türne gezieret obene mit goldes knophen rôt, der iegelîcher verre bôt in daz lant sînen glast. daz bewîste den gast, dem dar ze varne geschach, daz er den schîn verre sach und er des hûses ûf der vart des tages niht verirret wart. (V. 7857–7873)

Der Blick wird kurzfristig zwischen die Türme in den umschlossenen Bezirk gelenkt (vgl. V. 7857–7860), um dann wieder auf die Türme zurückzukehren. Die goldenen Kugeln der Turmspitzen strahlen in das Land aus und bilden somit einen peripheren Licht- oder Glanzraum, dessen Zentrum Brandigan bildet.9 Der hier vollzogene Wechsel zwischen der Beschreibung des Burginneren und der Konkretisierung ihrer Befestigung ist nicht als Sprung zwischen verschiedenen Beschreibungsaspekten oder -ebenen zu sehen. Indem immer wieder zwischen verschiedenen Entfernungsgraden und Raumachsen gewechselt wird, erzeugt die Erzählung einen dreidimensionalen, stabilen Imaginationsraum, in dem sich die Elemente des Burgkomplexes räumlich verorten und integrieren lassen. Es handelt sich demnach nicht um inkonsistente Sprünge in der Raumvorstellung, sondern um eine Raum-Regie, die mithilfe narrativer Strategien einen plastischen Raum zu erzeugen vermag. Der Blick, der als Durchquerung des Raumes mit der Strahlkraft von der Burg in die Ferne gelenkt wurde, wird über die Annäherung eines vom Licht geführten Gastes10 wieder an die Burg zurückgebunden (vgl. V. 7869–7873). Doch bei dem Gast handelt es sich keineswegs um eine tatsächliche Figur der Erzählwelt. Als ‚leeres Zentrum‘ fungiert die Figur als Angebot, einen kollektiven Blick zu übernehmen. Unabhängig von den Figuren wird der hypostasierte Gast zur Origo der erzählten Raumwahrnehmungen. Der Rezipient kann sein Körperschema in die Origo des imaginierten Gasts hineinversetzen

 Vgl. Glaser, Held und sein Raum, S. 56; Das Motiv der verzierten und in die Ferne strahlenden Knäufe ist unter anderem auch aus dem Brief des Priesterkönigs Johannes bekannt. In der Pariser Prosaübersetzung heißt es dazu: Vff dem palast stent zwene gülden knoppe. In den knoppen stent zwene karfunckel, die lüchtent ein halbe myle vmm vnde vmm, alz were es dag (V. 146–148). Die Epistola presbiteri Johannis. Lateinisch und deutsch. Überlieferung, Textgeschichte, Rezeption und Übertragungen im Mittelalter. Hrsg. von Bettina Wagner. Tübingen 2000 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters. 115), S. 615.  Vgl. Glaser, Held und sein Raum, S. 53–58. Zum Glanz der Knäufe vgl. insbesondere S. 53 f. Andrea Glaser betont für die Beschreibung Brandigans das Zusammenspiel von visuellen Anziehungs- und Abstoßungseffekten, das die Ambivalenz Brandigans ins Bild setzt.

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und die Annäherung an die Burg am eigenen Leib imaginativ mitvollziehen. Auf der Burg angekommen, dient sein Standpunkt nun als Bezugspunkt der deiktischen Prozedur drunder hin, die den Fluss des Gewässers in seiner räumlichen Position und Ausdehnung unterhalb des Burgbergs beschreibt (vgl. V. 7874–7876). ein wazzer drunder hin vlôz, des val gap michelen dôz, wan ez durch ein gevelle lief. daz selbe tal was alsô tief, swer ûf die zinnen sitzen gie und er ze tal die ougen lie, den dûhte daz gevelle, sam er saehe in die helle: der swindel in ze tal zôch, sô daz er wider in vlôch. (V. 7874–7883)

Die Fließbewegung des Wassers, die die Wegdeixis hin impliziert, erzeugt ein Getöse, das den Rezipienten über eine imaginierte auditive Wahrnehmung noch stärker involviert. Die imaginierte Figur des Gastes wird zum subsidiären Leib, der dem Rezipienten eine multisensorische Imagination ermöglicht. Mit dem folgenden Relativpronomen swer (V. 7878) positioniert der Erzähler ein kollektives Zentrum und mit ihm den Rezipienten auf den Zinnen der Burg. Die Erzählung generiert also ein Blicksubjekt, das im bisher entworfenen Imaginationsraum genau lokalisierbar ist. Zunächst wendet sich der kollektive Blick von den Zinnen hinab ze tal (V. 7879). Die Tiefe der Schlucht entwickelt sogar eine regelrechte Sogwirkung. Der damit einhergehende Schwindel führt letztlich zu einem Rückzug des Blicks und einer Wendung des hypostasierten Blicksubjekts zum Burginneren (vgl. V. 7882 f.). Der Rezipient kann nicht nur den Blick des kollektiven Bewusstseinszentrums teilen, sondern auch die daraus resultierenden Affekte und Bewegungen gewissermaßen am eigenen Leib miterleben. Der Einsatz eines solchen kollektiven Blickangebots spielt für die Raumimagination eine große Rolle. Indem erzählt wird, „was alle hätten sehen können, nicht ein einzelner“,11 erlangt die Raumvorstellung größere Verbindlichkeit. Dieses erneute, aber noch plastischere Erzählen entlang der Vertikalen erzeugt eine dreidimensionale Raumvorstellung und codiert die räumliche Tiefe über die affektive Reaktion des Abwendens semantisch. Zudem ergänzt der kollektive Blick die Raumimagination um eine weitere Blickperspektive. Während zuvor der auktoriale Blick von einem anscheinend übergeordneten Standpunkt den Burgkomplex als Imaginationsraum entwirft, besitzt der kollektive Blick eine eindeutige Verortung im Raum. Die Kombination dieser Blicke verleiht dem Burgkomplex eine höhere Konsistenz und Stabilität, weil sie ihn von mehreren Origines aus plastisch imaginierbar macht.

 Schulz, Erzähltheorie, S. 385 (Hervorhebung im Original).

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an der anderen sîten, dâ man zuo mohte rîten, dâ stuont ein stat vil rîche, bezimbert rîchlîche, diu einhalp an daz wazzer gie. anderhalp daz undervie ein boumgarte schoene und wît, daz weder vor noch sît dehein schoener wart gesehen (V. 7884–7892)

Der Erzähler setzt die weitere Beschreibung vom Standpunkt des von der Schlucht abgewandten leeren Zentrums fort. Hübner beurteilt dementsprechend die Verortung an der anderen sîten als situative Deixis, deren Origo sich auf das ‚leere Zentrum‘ bezieht, das sich soeben von den Zinnen zur Burg hingewendet hat.12 Auf einer Seite der Burg liegt also der Fluss, auf der gegenüberliegenden Seite der Burg befindet sich die Stadt. Dass die Stadt nicht durch den Fluss von der Burg getrennt ist, was jedoch eine ganze Reihe von Interpretationen stark machen,13 verdeutlicht der Relativsatz dâ man zuo mohte rîten (V. 7885). Die prächtige Stadt befindet sich also in direkter räumlicher Nachbarschaft zur Burg und grenzt somit eben einhalp an daz wazzer (V. 7888). Der Baumgarten wiederum wird anderhalp (V. 7889), also auf der anderen beziehungsweise gegenüberliegenden Seite der Stadt verortet. Als Bindeglied grenzt die Stadt an die Burg, liegt ebenso wie diese am Fluss und grenzt zur gegenüberliegenden Seite an den Baumgarten.14 Im weiteren Erzählverlauf bestätigt sich diese Anordnung einerseits in ihren Nachbarschaftsverhältnissen und andererseits in ihrer vertikalen Anordnung, denn die Burg wird oberhalb der Stadt platziert: seht ir den boumgarten, / der under dem hûse lît? (V. 8009 f.; vgl. V.8061). Burg, Stadt und boumgarten bilden demnach einen konsistenten Vorstellungsraum. Dass der Baumgarten ein zur Hofsphäre gehöriger Raum ist, wird hier zunächst über die räumliche Anlage des Hofkomplexes deutlich. Die

 Vgl. Hübner, Erzählform, S. 60 f.  Dass Gertrud Höhler Burg, Stadt und Berg als lose Versatzstücke sieht, denen eine Verortung fehlt, wurde bereits erwähnt. Vgl. Höhler, Kampf im Garten, S. 378. Waltraud Fritsch-Rößler, die sich in ihrem Aufsatz der Geräuschregie der Joie de la curt widmet, meint, dass der rauschende Fluss eine akustische Trennung für Burg und Garten sei. Vgl. Waltraud Fritsch-Rößler: Enite und Joie de la curt. Rede gegen die Mauer des Schweigens. In: Dies.: Finis Amoris. Ende, Gefährdung und Wandel von Liebe im hochmittelalterlichen deutschen Roman. Tübingen 1999 (Mannheimer Beiträge zur Sprach- und Literaturwissenschaft. 42), S. 69 f. Auch Andrea Glaser sieht den Baumgarten aufgrund der Verortung an der anderen sîten (V. 7884) auf der gegenüberliegenden Flussseite (sie spricht von Schlucht) positioniert. Des Weiteren werde die Lage von Ansiedlung und Garten innerhalb des Komplexes allerdings nicht deutlich. Vgl. Glaser, Held und sein Raum, S. 56. Ulrich Hoffmann untersucht die Semantisierung der Lageunterschiede mit Blick auf die vertikale Achse, so dass nicht klar ersichtlich ist, welche Verbindungen er zwischen den räumlichen Gegebenheiten sieht. Vgl. Hoffmann, Arbeit an der Literatur, S. 188–190.  Vgl. Silvan Wagner: Erzählen im Raum. Erzeugung virtueller Räume im Erzählakt höfischer Epik. Berlin/New York 2015 (Trends in Medieval Philology. 28), S. 234 f.

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Zusammengehörigkeit des gesamten Komplexes wird im weiteren Erzählverlauf also mit Rekurs auf die Beschreibung erzählt und die räumlichen Eigenschaften bleiben konstant. Es zeigt sich, dass nach der genauen Entfaltung der drei Raumachsen die Verortung von Stadt und Baumgarten mit wenigen Sätzen ermöglicht wird. Während Gruenter annimmt, der Perspektivenwechsel störe die räumliche Geschlossenheit von Beschreibungen,15 zeigt sich, dass Hartmann eine genaue Blickregie vornimmt, so dass die Wechsel der Blickrichtung fließend in das Erzählte eingepasst werden. Obwohl die Erzählinstanzen wechseln, bleibt die Imaginationssteuerung auf diese Weise konsistent. Innerhalb eines schon aufgespannten, imaginären Koordinatensystems können neue Informationen eingepflegt werden, die Brandigan als Vorstellungsraum stufenweise konkretisieren und ausweiten.16 Es handelt sich hier weder um eine „Unsicherheit der Raumvorstellung“17 noch um eine „typisch diskontinuierliche Raumvorstellung“.18 Hartmann stellt für die Schlussbewährung seines Helden ein in sich geschlossenes Raumensemble zusammen. Im Vergleich zu Chrétien findet sich bei Hartmann eine deutlich komplexere Raumvorstellung, wobei der räumlichen Einheit dieses Komplexes eine höhere Aufmerksamkeit und mehr Detailreichtum zukommt.19 Die Erzeugung dieses Raumkomplexes geht dem tatsächlichen Betreten durch den Helden voraus und erfolgt, ohne dass Rezipient und Held besonders viel von Brandigan wissen. Über die räumlichen Begebenheiten und ihre Semantisierung wird das Geschehen auf Brandigan bereits gedeutet, bevor auf der Handlungsebene Gründe für die seltsame Situation von Burg und Bewohnern gegeben werden. Der zwischen Außen- und Innensicht wechselnden Blick- und Raumregie bei der Raumerzeugung von Brandigan korrespondiert im Folgenden eine semantische Diskrepanz zwischen innen und außen. Indem sich das für die mittelalterliche Kultur der Sichtbarkeit problematische Auseinanderfallen von außen und innen an die Raumbeschreibung anlagert, wird der ausführlichen  Vgl. Gruenter, Problem der Landschaftsdarstellung, S. 301–304.  Zudem wird in der Analyse deutlich, dass es nicht immer nur die kontinuierliche Schilderung von Vorder-, Mittel- und Hintergrund braucht, um räumliche Elemente anzuordnen und ihnen eine räumliche Gliederung zu verleihen. Vgl. Gruenter, Problem der Landschaftsdarstellung, S. 299.  Gruenter, Problem der Landschaftsdarstellung, S. 303.  Glaser, Held und sein Raum, S. 56. Diese Auffassung vertritt auch Poser, wenn er zur Analyse des Burgkomplexes resümiert: „Damit sind nun zwar sämtliche Elemente der räumlichen Einheit von Brandigan benannt, doch bleibt ihre konkrete Anordnung weitgehend unklar.“ Poser, Raum in Bewegung, S. 83; Vgl. u. a. auch Becker, Muße im höfischen Roman, S. 329–332.  Brandiganz liegt bei Chrétien auf einer Insel, die nur durch eine einzige Brücke erreichbar ist. Burg und Stadt werden auf einer vertikalen Achse miteinander in Beziehung gesetzt. Abgesehen von einem Weg, der von dort zum vergier[,] qui estoit pres (V. 5681), führt, wird die räumliche Anlage der Burg kaum weiter auserzählt. Mit Störmer-Caysa kann der Garten als Sprossraum verstanden werden. Diese Sprossräume zeichnen sich dadurch aus, dass sie erst unmittelbar vor dem Betreten durch die Figuren in der Erzählwelt auftauchen. Ihre Existenz muss vorher weder postuliert werden noch bedarf es einer konkreten Verortung. Vgl. Störmer-Caysa, Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen, S. 71.

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Darlegung der Situation auf Brandigan mithilfe der räumlichen Ausgestaltung und deren semantischer Codierung vorgegriffen. Dass der Baumgarten räumlich als Teil eines homogenen und räumlich konsistenten Burgkomplexes konstruiert wird, stellt für die Verhandlung des Problems, mit dem sich dieser Hof konfrontiert sieht, und dessen Lösung eine zentrale Voraussetzung dar. Nur so wird deutlich, warum der Baumgarten, der sich als mehrfach abgeschlossen erweist, solche massiven Konsequenzen für Brandigan und seine Bewohner hat. Die Spannung zwischen innen und außen zeigt sich bereits, wenn Erec nach der Schilderung des schönen und prachtvollen Burgkomplexes in die Burg einreitet und von deren Bewohnern mit Wehklagen und bösen Vorhersagen über sein drohendes Schicksal begrüßt wird (vgl. V. 8065–8114). Diese emotionale und daher innere Reaktion der Burgbewohner passt in keiner Weise zum äußeren Erscheinungsbild von Brandigan.20 Die Korrelation zwischen außen und innen ist in Brandigan offensichtlich nicht verlässlich. Guivreiz’ angstvolle Reaktion, die offenbar von seinem Wissen über die Burg und nicht durch die äußere Wahrnehmung der prächtigen Anlage bestimmt ist, deutet das ebenfalls an. Selbst das Verhalten der Burgbewohner kann den eintretenden Gästen kein sicheres Zeichen für ihre Gefühlsverfassung sein. Am eindrücklichsten ist das bei den Witwen zu beobachten, von denen Hartmann erzählt, sie empfingen die Gäste fröhlicher als es ihrem Gemüt eigentlich entspräche: dise vrouwen si emphiengen / baz, dan si wâren gemuot (V. 8251 f.). Einzig Erec trotzt dieser gestörten Ordnung mit demonstrativer Zuversicht und unerschütterlichem Gottvertrauen,21 denn weder das Klagen der Bewohner und Witwen noch die Bitten und Berichte des Burgherrn können ihn davon abhalten, die âventiure bestehen zu wollen. Der Höhepunkt findet sich in Erecs Gruß als ultimativem Ausdruck von Zuversicht. Sein Lachen stellt hier wie auch schon in V. 8442 Überlegenheit und Unerschütterlichkeit aus.22 nû reit er zuo und gruozte sî mit lachendem munde. nû huop er dâ ze stunde ein vil vroelîchez liet. (V. 8155–8158)

Diese Kontraste zwischen innen und außen haben für die semantische Codierung des Raums zwei Effekte: Erstens erweist sich der gesamte Burgkomplex als hochgradig gestörter Raum, in dem außen und innen nicht mehr kongruent sind. Es deutet sich an, dass der Baumgarten der Ausgangspunkt dieses disharmonischen Zustands ist,  Vgl. Glaser, Held und sein Raum, S. 53.  Schließlich ist es gerade das Vertrauen in Gott, das das Finden und Bestehen von âventiuren ermöglicht. Vgl. dazu Mireille Schnyder: Âventiure? waz ist daz? Zum Begriff des Abenteuers in der deutschen Literatur des Mittelalters. In: Euphorion 96 (2002), S. 257–272.  In Korrespondenz mit Erecs Reaktion auf Keie in V. 4745 wertet Annette Sosna Erecs Lachen ebenfalls als Zeichen der Überlegenheit. Vgl. Annette Sosna: Fiktionale Identität im höfischen Roman um 1200. Stuttgart 2003, S. 94, Anm. 74.

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der sich auf ganz Brandigan auswirkt. Das nach außen hin so wehrhafte Brandigan steht der durch Angst und Trauer gestörten inneren Ordnung ohnmächtig gegenüber. Die vreude als Zeichen für einen regelgerechten und funktionstüchtigen Hof fehlt und nimmt vorweg, dass ein gravierendes Problem auf Brandigan besteht, das genuiner Bestandteil des Raumkomplexes ist, aber von innen heraus nicht behoben werden kann. Diese narrative Erzeugung der Burg und ihre semantische Codierung setzen ein Prinzip, das für die gesamte Brandigan-Episode Geltung beanspruchen kann: Nichts ist tatsächlich so, wie es sich zunächst von außen darstellt. Zweitens dient dieses Setting dazu, Erec durch seine Entschlossenheit und Unerschütterlichkeit als bestmöglichen Ritter für diese Herausforderung erscheinen zu lassen, was ihn gegenüber seinen Vorgängern besonders auszeichnet.23 Erec erkennt gerade mit Blick auf die Witwen den disharmonischen Zustand und versteht, dass er überwunden werden muss.24 Es zeichnet ihn aus, dass er sich zwar affizieren lässt, die Emotionen der anderen jedoch nicht distanzlos teilt, wie Guivreiz und Enite das tun. Neben den angeführten Kontrasten, die den gesamten Burgkomplex betreffen und sich entlang der Pole ‚außen‘ und ‚innen‘ organisieren lassen, zeichnen sich auch die Anspielungen auf den Baumgarten durch die Etablierung von Kontrasten aus. Obwohl der boumgarten der zentrale Raum für Erecs Schlussbewährung ist, erfährt der Rezipient zunächst nur sehr wenig über ihn. Man erfährt, er sei schoene und wît (V. 7890), so dass es keinen schöneren boumgarten geben könne. Beide Eigenschaften genügen, um den Topos des locus amoenus aufzurufen. Der Baumgarten hebt sich in dieser knappen Nennung schon deutlich von der Schlucht ab, die kurz zuvor beschrieben wurde. Letztere ist vollständig Teil der außerhöfischen Umgebung, während der Baumgarten aufgrund seiner Lage auch Teil der höfischen Sphäre ist. Als Schwellenraum zwischen höfischer und außerhöfischer Sphäre gelegen akzentuiert die Erzählung hier seine höfische Zugehörigkeit. Der locus amoenus steht der Wildnis der Schlucht gegenüber. Zwar wird die für das Tempe-Motiv25 typische Kontrastharmonie zwischen schroffer Umgebungsnatur und lieblichem Lustort aufgerufen, doch das Motiv selbst findet keine Verwendung.26 Entscheidend für diesen Befund ist die Einbindung des boumgarten in den höfischen Gesamtkomplex Brandigans, der etwa bei der außerhöfischen Minnegrotte, auch wenn diese hochartifiziell ist, nicht gegeben ist. Nichtsdestotrotz verfehlt die bei Hartmann vorliegende Kontrastharmonie zwischen Hof und Außenwelt ihre Wirkung nicht. Damit

 Vgl. Höhler, Kampf im Garten, S. 380; Christoph Cormeau: Joie de la curt. Bedeutungssetzung und ethische Erkenntnis. In: Formen und Funktionen der Allegorie. Symposion Wolfenbüttel 1978. Hrsg. von Walter Haug. Stuttgart 1979 (Germanistische Symposien. Berichtsbände. 3), S. 195; Irmgard Gephart: Das Unbehagen des Helden. Schuld und Scham in Hartmanns von Aue Erec. Frankfurt a.M. 2005 (Kultur, Wissenschaft, Literatur. 8), S. 88 f.; Sosna, Fiktionale Identität, S. 94.  Vgl. Cormeau, Joie de la curt, S. 196.  Vgl. Curtius, Europäische Literatur, S. 206–209; Curtius, Rhetorische Naturschilderung, S. 246.  Gruenter sieht dies, ähnlich wie bei der Minnegrotte Gottfrieds, auf Brandigan jedoch als gegeben. Vgl. Gruenter, Das wunnecliche tal, S. 382 f.

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werden erneut werden zwei Pole diametral in Stellung zueinander gebracht, zwischen denen sich Erec und Enite seit ihrem Weggang aus Karnant fortwährend bewegen.27 Ein Zeichen für unbändige Naturkräfte ist auch der schwindelerregend tiefe Blick bis zum Flusslauf hinab. Verstärkt wird diese Aufladung durch den erneuten Einbezug heilsgeschichtlicher Semantik. Der Blick von den Zinnen auf den Flusslauf herunter macht einen glauben, man saehe in die helle (V. 7881), wodurch eine semantische Opposition zum schönen Baumgarten hergestellt wird, der später noch als ander paradîse (V. 9542) bezeichnet wird. Vor dem Hintergrund dieses transzendenten Deutungsmusters ließe sich prinzipiell auch die weitere Erzählung deuten. Ob die Heilssemantik als Deutungsmuster aber tragfähig ist, muss sich erst noch erweisen, denn sowohl Erec als auch dem Rezipienten mangelt es noch an Informationen über die eigentliche âventiure. Erste Details der Herausforderung erwähnt Guivreiz erst, nachdem er den Namen der âventiure preisgegeben hat: ‚nû wil ich iuch wizzen lân, wie diu âventiure ist getân, und rehte, wie’z dar umbe stât, sît ir’s niht wellet haben rât. s’ist Joie de la curt genant. […] seht ir den boumgarten, der under dem hûse lît? dâ hât sich nû vil manege zît ein ritter gehalten inne. si stât ze selhem gewinne, als ich iu rehte wil sagen. swer si hie sol bejagen, daz hât er im ze rehte, daz er si an im ervehte.‘ (V. 7998–8017)

Erec erfährt, dass ein Ritter sich mit seiner Dame schon seit langer Zeit im Baumgarten aufhält. Diese Konstellation aktiviert Vorwissen in zwei unterschiedlichen Bereichen. Zum einen gemahnt diese Situation der Vereinzelung in einem Garten gerade vor dem Hintergrund der christlichen Heilssemantik an Adam und Eva im Garten Eden, so dass hier mit der Erinnerung an die Schöpfungsgeschichte einerseits positive Konnotationen – im Sinne eines idyllischen, mühelosen und gottnahen Zustandes – geweckt werden, wohingegen die Verbindung zum Sündenfall negative Konnotationen hervorruft. Die dauerhafte Exklusion des Liebespaares aus dem höfischen Raum ist nicht neu und beansprucht neuerlich Aufmerksamkeit.28 Ohne dass man Genaueres über den Grund  Vgl. Wagner, Erzählen im Raum, S. 235.  Ausgehend von Hugo Kuhns einflussreichem Aufsatz zum Erec hat sich die Forschung lange und in andauernder Ausführlichkeit mit dem Verhältnis der Situationen auf Karnant und Brandigan beschäftigt. Vgl. Hugo Kuhn: Erec. In: Dichtung und Welt im Mittelalter. 2. unveränderte Aufl. Hrsg. von

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der räumlichen und sozialen Exklusion erfährt, kann der Zustand im Baumgarten als deviant in zweierlei Hinsicht verstanden werden. Erstens läuft der dauerhafte Aufenthalt im Baumgarten der vorgesehenen Nutzung dieses höfischen Raums zuwider. Als Teil einer Burganlage ist der Baumgarten ein Raum des zeitweiligen Aufenthalts. Zwar konnte auch das Leben des gesamten Hofs im Sommer größtenteils dort stattfinden,29 aber in erster Linie hat der Baumgarten einen Erholungszweck. Zudem ist er ein Sammelplatz der höfischen Gesellschaft, die sich im boumgarten zu Vergnügungen und ausgelassener Lebensfreude zusammenfindet.30 Schon Albertus Magnus weist im 12. Jahrhundert darauf hin, dass der Garten nur für kurze Dauer betreten werden und zur Freude und Entspannung der Sinne genutzt werden solle.31 Im Übergang vom 13. zum 14. Jahrhundert greift auch Petrus de Crescentiis den Erholungszweck in seinem Gartentraktat auf. Er macht darauf aufmerksam, dass der Aufenthalt nur zeitweilig zur Erfrischung gedacht sei, nicht dauerhaft.32 Durch dauerhaften Aufenthalt wird der Gartenraum gewissermaßen zweckentfremdet, denn die höfische Gesellschaft wird ihres Erholungsraums beraubt.

dems. Stuttgart 1969, S. 133–150; Die Forschung arbeitet sich dabei nicht nur an Kuhns Allegorie-These ab, sondern versucht, das Verhältnis auf vielfältige Weise mit unterschiedlichem begrifflichen Instrumentarium zu fassen. Im Rahmen dieser Arbeit soll diese Diskussion allerdings nicht wiederaufgenommen und vertieft werden. Dennoch sei natürlich auf einige, bei weitem nicht alle, Beiträge dazu hingewiesen. Scholz gibt in seinem Stellenkommentar gleich an mehreren Stellen einen Überblick über die Forschungspositionen. Vgl. Manfred Günter Scholz: Stellenkommentar. In: Erec. 3. Aufl. Hrsg. von dems. Frankfurt a.M. 2017 (Bibliothek des Mittelalters. 5), S. 964 f., 972 u. 975–977; vgl. u. a. Marianne Wünsch: Allegorie und Sinnstruktur in Erec und Tristan. In: DVjs 46 (1972), S. 513–538; Cormeau, Joie de la curt, S. 194–205; Bruno Quast: getriuwe wandelunge. Ehe und Minne in Hartmanns Erec. In: ZfdA 122,2 (1993), S. 162–180; Elisabeth Schmid: Spekulationen über das Band der Ehe in Chrétiens und Hartmanns Erec-Roman. In: Vom Mittelalter zur Neuzeit. Festschrift für Horst Brunner. Hrsg. von Dorothea Klein. Wiesbaden 2000, S. 109–127; Joachim Bumke: Der Erec Hartmanns von Aue. Eine Einführung. Berlin 2006 (De Gruyter Studienbuch); Wagner, Erzählen im Raum, S. 219–239; Ulrich Hoffmann bietet einen ausführlichen Überblick über die Ausgangsdiskussion und die sich daraus entwickelnden Thesen. Zugleich positioniert er sich mit seiner mythostheoretischen Arbeit innerhalb der Forschungsdiskussion. Vgl. Hoffmann, Arbeit an der Literatur, S. 212–221.  Vgl. Frühe, Das Paradies ein Garten, S. 229.  Vgl. Frühe, Das Paradies ein Garten, S. 240–243; Hennebo, Gärten des Mittelalters, S. 70 f.  „[…] cum quo reficiendi sunt sensus, et homines insideant ad delectabiliter quiescendum.“ Cap. XIV, § 121 Albertus Magnus, De vegetabilibus, S. 637. Wimmer übersetzt: „[…] damit dort die Sinne (sensus) Erquickung fänden und die Menschen sich niederlassen könnten zu vergnüglicher Ruhe.“ Wimmer, Geschichte der Gartentheorie, S. 21 (Hervorhebung im Original).  „In tali itaque viridario non semper delectetur rex, sed aliquando, cum seriis et necessariis satisfecerit rebus, renoventur in eo, glorificans deum excelsum, qui omnium bonarum et licitarum delectationum principium est et causa.“ (Lib. VII, 3, 6) Petrus de Crescentiis, Ruralia commoda, S. 15. Vollmann übersetzt: „In einem solchen Lustgarten vergnügt sich der König nicht ständig, vielmehr wird er sich von Zeit zu Zeit, wenn er die ernsthaften und notwendigen Dinge erledigt hat, in ihm erholen, wobei er den höchsten Gott preist, der aller guten und erlaubten Vergnügungen Ursprung und Ursache ist.“ Petrus de Crescentiis, Erfolgreiche Landwirtschaft, S. 545.

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Zweitens widerspricht die permanente Abkehr von der Gesellschaft der höfischen Kultur und kann, wie die Erzählung bereits gezeigt hat, zu schwerwiegenden gesellschaftlichen Problemen führen. Der Garten wird in diesem Fall zum Raum der gesellschaftlichen Isolation, während Burg und Stadt den Zustand bî den liuten (V. 9438) repräsentieren.33 Durch seinen Schwellencharakter inszeniert der boumgarten diese Situation besonders gut, denn er ist zwar dezidiert Teil der Burganlage von Brandigan, aber er ist von dieser räumlich wie semantisch doch so deutlich unterschieden, dass sich das Paar im Baumgarten von der Gesellschaft exkludieren kann. Die Erzeugung des boumgarten als plastischer Imaginationsraum inszeniert die Widrigkeit dieses Zustandes. Im räumlich konsistenten Hofkomplex Brandigan kann die Isolation des Paares im Baumgarten in ihrem Konfliktpotential für den gesamten Hof erkennbar werden. Dass die Isolation zweier Gruppenmitglieder innerhalb eines Sozialverbundes und die unzweckmäßige Usurpation des boumgarten aufgehoben werden müssen, erscheint vor diesem Hintergrund folgerichtig. Hartmann eröffnet so das Problemfeld, in dem sich später Erecs und Mabonagrins Gespräch bewegt und in dem sich auch die Forschung zu den Minnevorstellungen des Erec umgetan hat.34 Die heilsgeschichtlichen und topischen Semantiken rufen zudem beim Rezipienten Erwartungshaltungen hervor. Man nimmt zunächst an, dass der Baumgarten auf Brandigan ein paradiesischer Raum der Hofsphäre sei. Von dieser Erwartung ausgehend werden in der eigentlichen âventiure weitere Kontraste etabliert, denn der Baumgarten und die dort situierte Handlung entziehen sich, wie noch zu zeigen sein wird, dieser Deutung und stellen sich ihr teilweise klar entgegen. Ebenso bilden die verschiedenen Kontraste zwischen Außen und Innen eine Folie, vor der sich die weitere Handlung abspielt und mit der sie abgeglichen wird. Alles, was der Rezipient über Brandigan weiß, kann er in Verbindung zum Geschehen im Baumgarten setzen. Außerdem werden Baumgarten und Burg selbst zu den beiden Polen eines Kontrastes. Brandigan stellt für den abgeschlossenen Baumgarten ein Außen dar. Dagegen grenzt sich der Garten als Innen ab. Die Konstruktion dieser je leicht unterschiedlich gelagerten Kontraste knüpft somit maßgeblich an die narrative Raumerzeugung Brandigans an, die den Burgkomplex multiperspektivisch als plastischen Imaginationsraum erzeugt. Indem der boumgarten als Teil eines homogenen Burgkomplexes erzählt wird, können die folgenden, semantischen Codierungen in Bezug zu Burg und Baumgarten gesetzt werden und lassen sich so auf die Situation Brandigans beziehen. Eine räumlich fixierte Opposition, wie etwa zwischen dem Hof Markes und der abgeschiedenen Idylle der Minnegrotte

 Vgl. Wagner, Erzählen im Raum, S. 234 f.  Stellvertretend für die Auseinandersetzung mit diesem Thema sei hier nur verwiesen auf Quast, getriuwiu wandelunge, S. 162–180; Schmid, Band der Ehe, S. 109–127; Haiko Wandhoff, Gefährliche Blicke und rettende Stimmen. Eine audiovisuelle Choreographie von Minne und Ehe in Hartmanns Erec. In: „Aufführung“ und „Schrift“ in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Jan-Dirk Müller. Stuttgart/ Weimar 1996 (Germanistische Symposien. Berichtsbände. 17), S. 170–189.

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in Gottfrieds Tristan, vermag es nicht, das Problematische der auf Brandigan vorliegenden Isolation zu erfassen. Das von Hartmann entworfene Spannungsverhältnis bietet die Folie, vor der die Erzählung nun auch den Baumgarten als Raum der Handlung und Imagination weiter ausfaltet, semantisch codiert und mit Handlung versieht. Als Gesamtkonstrukt fungiert Brandigan als räumlicher wie semantischer Kontext für die Schlussbewährung des Helden. Diese Vorschaltung konstatiert auch Silvan Wagner, weist ihr jedoch im Kontext seines Konzepts des Erinnerungsraums eine andere Funktion zu. Brandigan habe memoriale Funktion und diene dazu, die gesamte Erzählung in einem abgeschlossenen Raum engzuführen. Insofern sei auch die konkrete Raumschilderung der Burg ein Hinweis an den Rezipienten. Sie zeige, dass es für den weiteren Verlauf der Erzählung wichtig sei, auf solche Erinnerungsräume wie Brandigan und später den Baumgarten zu achten. Daher könne die konkrete Beschreibung Brandigans nicht als „ein seltener Niederschlag ‚realistischer‘ Raumschilderung in der höfischen Romanepik“ gesehen werden.35 Die Analyse hat bis hierher jedoch bereits gezeigt, dass Hartmann ein durchaus konsistentes Raumensemble herstellt, mit dem ein mannigfaltiges Bedeutungsgeflecht verknüpft ist. Insofern hat Brandigan, wie Wagner und Schröder argumentieren, eine zwar vorausdeutende Funktion. Dass dieses Vorwegnehmen und Andeuten der âventiure im Baumgarten aber zentral über die narrative Raumerzeugung geleistet wird und die semantischen Codierungen mit dieser genuin verschaltet sind, sehen Wagner und Schröder nicht.36 Die räumliche und semantische Konstruktion Brandigans ist mehr als nur ein Hinweis auf etwas anderes Wichtiges; ebenso wie die ganze Episode nicht nur eine „allegorische Erzählung“37 ist, wiewohl auch die „komprimierte Vergegenwärtigung von synchroner und diachroner Bedeutungssetzung“ eine Rolle spielt.38 Dennoch geht die Episode nicht ausschließlich in in ihren intertextuellen Verweisen, etwa auf Erecs verligen, auf. Räumlich und semantisch hat die narrative Erzeugung Brandigans die Funktion, innerhalb eines Raumkomplexes Kontraste und Problemstellungen anzuerzählen. Das bindet die Handlung zu einem nicht voneinander lösbaren Kontinuum zusammen. So ist es gerade die besondere Art der Raumerzeugung und des Erzählens des BrandiganKomplexes, der für die gesamte Joie de la curt kennzeichnend ist. Innerhalb eines plastischen Raumkontinuums wird sie maßgeblich über Kontraste und Oppositionen organisiert. So wird nicht nur Bedeutung zugewiesen, sondern diese mithilfe der genannten Spannungsverhältnisse erst erzeugt und auch problematisiert.

 Wagner, Erzählen im Raum, S. 235 f.  Im Grunde ist Wagners Position eine Version der These Schröders, dass die besondere Beschreibung und Pracht der Burg eine Hinweisfunktion für das weitere Geschehen erfüllten. Vgl. Joachim Schröder: Zu Darstellung und Funktion der Schauplätze in den Artusromanen Hartmanns von Aue. Göppingen 1972 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik. 61), S. 298 f.  Kuhn, Erec, S. 145.  Cormeau, Joie de la curt, S. 200.

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5.2.2 Zwischen Burg und Baumgarten Der Erec entwirft den boumgarten von Brandigan als Teil eines konsistenten Hofkomplexes, der sich sowohl in seiner räumlichen Erzeugung als auch in seiner semantischen Codierung durch vielfältige Spannungsverhältnisse zwischen Innen und Außen auszeichnet. Als Schwellenraum zwischen Zentrum und Peripherie, höfischer und außerhöfischer Sphäre, Öffentlichkeit und Heimlichkeit impliziert das Vorstellungskonzept des boumgarten eigentlich eine grundsätzliche Zugänglichkeit für die Mitglieder des Hofs. Obwohl der Baumgarten deutlich als räumlicher Bestandteil von Brandigan konstruiert wird, ist er von seiner höfischen Umwelt abgegrenzt, dem Hof ist der Zugang verwehrt. Erst nach und nach erfährt Erec mehr über die âventiure, den Baumgarten und den Weg dorthin. Im Folgenden wird daher zweierlei zu untersuchen sein: Wie erzeugt Hartmann den boumgarten und vor allem dessen Grenzbereich als Handlungs- und Imaginationsraum? Außerdem: Inwiefern wirkt sich diese narrative Erzeugung des Baumgartens auf die dortige Handlung und auf Brandigan insgesamt aus? Die besondere Ausgestaltung des Grenzbereichs und die starke Zugangsregulierung des boumgarten lösen ihn auch räumlich aus dem höfischen Burgkomplex heraus. Außen-Innen-Differenzierungen arbeiten der Abkapselung erzählerisch zu, noch bevor sich die Figuren dem Baumgarten genähert haben. Guivreiz fokussiert Erecs Blick auf die Stelle, an der die âventiure stattfinden wird (seht ir den boumgarten / der under dem hûse lît? V. 8009 f.) und erzählt ein erstes Mal von dem Ritter und seiner Dame, die sich in ebenjenem Raum aufhalten. Ähnlich beginnt Ivreins seine Erläuterung zur Joie de la curt etwas später mit den Worten: er sprach: ‚dâ wonet inne mit sîner vriundinne ein ritter sô manhaft, daz eht er mit sîner kraft alle die erslagen hât, die des niht wolden haben rât von tumbes herzen stiure, sine suochten âventiure. ich sage iu, swelh ritter guot her kumt ûf den selben muot, der suoche wan die porte: bî dem êrsten worte sô vindet er si offen stân. er mac drin rîten oder gân: die andern belîbent hie vor. sô besliuzet sich daz tor (V. 8474–8489)

Die Präposition inne trennt den Baumgarten als Raum vom Außen ab, dessen Inneres einer anderen Ordnung als die Umgebung zu folgen scheint. Seine kulturelle Architektur weicht offenbar von Beginn an von der eines allgemein verfügbaren Gartenkon-

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zepts ab. Die Hofgesellschaft ist aus dem boumgarten ausgeschlossen, im Gegenzug lebt das Liebespaar dauerhaft und abgegrenzt von der höfischen Gemeinschaft in ihm. Noch bevor die eigentliche âventiure beginnt, konstruiert Hartmann eine räumlich wie semantisch pervertierte Ordnung. Von der Grenze und ihrer Beschaffenheit ist zuvor nur oberflächlich die Rede, wenn der Erzähler Ivreins’ Schilderung an die Figuren in indirekter Rede zusammenfasst: er sagete, der boumgarte, / der waere gevestent harte / und wie er waere umbegeben (V. 8468–8470). In Ivreins darauffolgender direkter Rede erfährt man von der porte, durch die man dank eines magischen Öffnungsmechanismus in den Garten gehen oder reiten könne. Ivreins imaginiert in seiner Rede einen Ritter, der von passender Verfassung und Gesinnung wäre, die âventiure zu bestreiten. Erec hatte zuvor auf mehrmaliges Abraten hin versichert, er werde die âventiure nicht in Angriff nehmen, wolle aber doch wenigstens etwas darüber wissen, um bei Bedarf Rechenschaft ablegen zu können (vgl. V. 8446–8457). Doch schon der Weg nach Brandigan und sein Einzug dort zeigen Erecs wilde Entschlossenheit, die âventiure zu wagen. Vor dieser Folie lassen sich Ivreins’ Ausführungen wie ein Fingerzeig an Erec verstehen. Im Vorstellungsraum seiner Rede entwirft Ivreins einen sich dem Baumgarten annähernden Ritter. Durch die sich öffnende Pforte könne der Ritter seine Bewegung in den Garten hinein fortsetzen, allerdings müsse er seine Begleiter vor dieser Tür zurücklassen. Innerhalb des Gartens sei der Ritter dann auf sich alleine gestellt. Für den Rezipienten wie auch für Erec fungiert der imaginierte Ritter als subsidiärer Leib, aus dessen Origo er sich den Weg in den boumgarten hinein vorstellen kann. Die Pforte ist somit einer der ersten Hinweise auf eine zwischen Baumgarten und Hof bestehende Grenze. Indem Hartmann das Erzählen dieses Gartenzugangs vorwegnimmt, macht er es an späterer Stelle wieder abrufbar, ohne die räumlichen Begebenheiten noch einmal zu erzählen. In diesem Modus entstehen für den Rezipienten über die Erzählung hinweg einzelne Versatzstücke, die den Zugang in den Garten und dessen Grenze imaginierbar machen. Sie können in Erecs späterer Annäherung an den Baumgarten reaktiviert und in dessen Bewegung integriert werden. Die Existenz einer Grenze und eine Zugangsbeschränkung verfestigen die zuvor von Guivreiz etablierte Außen-Innen-Differenzierung. Der magische Zugangsmechanismus und der alleinige Zutritt indizieren ebenso eine Störung des Raums wie die mehrmalige Erwähnung, dass der Ritter und seine Freundin dauerhaft und exklusiv im Baumgarten leben. Nachdem Brandigan zuvor als spannungsreicher Gesamtkomplex konstruiert wurde, löst Hartmann den boumgarten nun als Teilraum mit besonderen Lizenzen aus dem Hofganzen heraus. Während die Burg auf den ersten Blick einen idealen gesellschaftlichen Zustand verkörpert – auf den zweiten Blick ist die vreude wenigstens zeitweise getrübt –, ist der Baumgarten ein Raum der gesellschaftsfeindlichen Exklusion von Liebenden. Doch diese Abgrenzung des Baumgartens aus dem höfischen Raumkomplex ist zunächst nicht ausschließlich negativ konnotiert. In seiner Umgrenzung erinnert der boumgarten auch an das Paradies, das man sich im Mittelalter als irdisches Paradies

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räumlich greifbar und durch Mauern von der Umwelt abgegrenzt vorstellte.39 Insofern ruft die Abgeschlossenheit von Mann und Frau in einem Garten auch einen idealen paradiesischen Zustand auf, der heilsgeschichtlich betrachtet als ebenso erstrebenswert verstanden wird wie auch das Paradies als solches. Nicht zufällig werden hier wieder gesellschaftlich-soziale und christliche Normen gegeneinandergesetzt. Hartmann lässt den Erzähler wie auch seine Figuren aber noch deutlich mehr Details über die Begrenzung des Baumgartens geben. Wie schon beim Burgkomplex gibt die Erzählung nach und nach Details preis. Indem der boumgarten aus verschiedenen Warten heraus erzählt wird, erhält er als Imaginationsraum Konstanz und Konsistenz. Wiederholt wird der Rezipient dazu angehalten, den Imaginationsraum zu reaktivieren und ihn räumlich wie semantisch weiter auszudifferenzieren. In diesem Prozess der Aneignung kann der Baumgarten als Raum entstehen, der innerhalb der Erzählwelt verankert und imaginativ verfügbar ist. Insofern unterscheidet sich der boumgarten von den Räumen des Unterwegsseins, der chévauchee. Letztere sind flüchtig und stets auf den auf âventiure befindlichen Ritter hin orientiert.40 Obwohl Ivreins intradiegetisch die gewünschten Informationen zur Gestalt des Baumgartenraums besitzt und diese an die Figuren weitergibt, entpuppt sich auch der Erzähler als wichtige Quelle für Erkenntnisse zur räumlichen Anlage des boumgarten. Er tritt als Instanz der Informationsvergabe zuweilen deutlich hervor, wenn er die Figurenrede etwa nur indirekt wiedergibt (vgl. V. 8468–8470). Der so suggerierte Wissensrückstand für den Rezipienten erhöht einerseits die Spannung hinsichtlich der Beschaffenheit der âventiure.41 Andererseits lässt es das Prinzip der gestaffelten Informationsvergabe auf weitere Details im Fortgang der Erzählung hoffen. Das gestaffelte Raumerzählen durch verschiedene Figuren und den Erzähler impliziert jedoch nicht automatisch ein diskontinuierliches Bild der Gartenanlage und ihrer Begrenzung.42 Auf Ebene der Figuren sind vor allem Guivreiz und der Burgherr Agenten dieses Raumerzählens. Der Erzähler hat an der Erzeugung des Baumgartens als Imaginationsraum Anteil, indem er einerseits Handlung erzählt (vgl. etwa V. 8671–8695, 8754–8777 u. 8874–8900), aber andererseits auch statische Beschreibungen in die Handlung einspielt (vgl. insbesondere V. 8698–8753). Das Erzählen von der Grenze visualisiert den boumgarten von vorne herein als konkreten, betretbaren und vorstellbaren Raum. Er ist weder nur virtuell43 noch als rein symbolisch oder allegorisch44 zu verstehen. Analysiert man die einzelnen Merkmale und beachtet ihre räumliche Relation zu einander, kann man sich den von

     

Vgl. Friedrich, Anfang und Ende, S. 284. Vgl. Störmer-Caysa, Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen, S. 63–69. Vgl. Schröder, Darstellung und Funktion der Schauplätze, S. 302. Vgl. Glaser, Held und sein Raum, S. 60–62; Fritsch-Rößler, Enite und Joie de la curt, S. 71 f. Vgl. Ernst, Virtuelle Gärten, S. 175; Wagner, Erzählen im Raum, S. 224–226. Vgl. Kuhn, Erec, S. 146 f.

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Brandigan abgetrennten Raum in konzentrischen Kreisen vorstellen. Ihr Zentrum bildet der Gartenraum, die angrenzende Stadt liegt im Außenbereich. Der Weg, auf dem sich Erec zum Baumgarten bewegt, spannt einen dreidimensionalen Raum auf. Deiktische Prozeduren und erzählte Bewegung beziehen sich auf den reitenden Erec, der sich seinen Weg durch den Menschenauflauf bahnt: enmitten reit Êrec / nider jenen burcwec, / der in ze dem boumgarten truoc (V. 8684–8686). Den Garten umgibt alumbe ein eben ban (V. 8708), so der Erzähler. Das Adverb legt eine Gestaltung des Baumgartens als Rund nahe. Dennoch kann der Garten von dieser Bahn aus nicht einfach betreten werden. Er ist eben niuwan ze einer sîten, / an einer vil verholnen stat (V. 8711–8713) betretbar. Auf dem Weg, den Erec von der Burg zum Garten hin einschlägt, ist das verholne[] tor (V. 8758) die erste konkrete, räumliche Begebenheit, auf die die Figuren treffen. Hierher weist Ivreins die Gruppe. Das Ziel ist der Baumgarten. nû reit der wirt selbe vor in gegen dem boumgarten hin, daz er in bewîste an die stat zuo dem ritter, als Êrec bat, hin ze dem verholnen tor. (V. 8754–8758)

Erecs Bewegung dorthin wird vom Erzähler vorerst durch eine größtenteils statische Beschreibung des boumgarten und seiner Grenze unterbrochen. Nach dem Verweis auf die Quelle gibt der Erzähler zunächst eine Negativdefinition der Grenze (vgl. V. 8698–8702). ob uns daz buoch niht liuget, sô was alsô erziuget der selbe boumgarte, daz uns mac wundern harte, witzige und tumbe. ich sage iu, daz dar umbe weder mûre noch grabe engie, noch in dehein zûn umbevie, weder wazzer noch hac noch iht, daz man begrîfen mac. dâ gienc alumbe ein eben ban, und enkunde doch dehein man dar in gân noch geriten (V. 8698–8710)

Hartmann kombiniert so die Retextualisierung des Chrétien-Stoffes mit seiner eigenen Erzählprogrammatik. Bei Chrétien findet man an ähnlicher Stelle die positive Beschreibung der Grenze als Luftmauer.45 Hartmanns negative Beschreibung lässt den Bezug

 Vgl. Chrétien de Troyes: Erec et Enide. Altfranzösisch / Deutsch. Hrsg. u. übers. von Albert Gier. Stuttgart 2017 (RUB. 8360), V. 5689–5695.

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auf die Quelle ins Leere laufen. Seine Aufzählung schließt alle zeitgenössisch denkbaren, natürlichen Begrenzungen aus (mûre, grabe, zûn, wazzer, hac, V. 8704–8706). Dass die Umfriedung aus nichts bestehe, was taktil erfahrbar sei (vgl. V. 8707), verlegt die Beschaffenheit der Grenze in den Bereich des Magisch-Mythischen hinein. Obwohl die Grenze weder fest, noch flüssig oder taktil wahrnehmbar ist, muss sie Ivreins Erläuterungen an die Figuren zufolge dennoch stark befestigt sein. Doch die Frage nach der Beschaffenheit wird vorerst aufgeschoben. Der Erzähler berichtet in der Zwischenzeit vom Zugang. Ausgehend von der vil verholnen stat (V. 8712) wird eine direktionale Bewegung in den boumgarten hineinerzählt. Sie ist nur an dieser fast unbekannten Stelle möglich. Mit der Raumbereichsdeixis dâ wird an dieser versteckten Stelle ein engez phat (V. 8713) verortet, das die Orientierung auf das Innere des Baumgartens fortsetzt. Dass es sich tatsächlich um den Übergang in den Garten handelt, machen die folgenden Verse deutlich: da gienc ein engez phat: daz enweste der liute niht vil. swer ouch zuo dem zil von geschihte in kam, der vant dâ, swes in gezam von wünneclîcher ahte, boume maneger slahte, die einhalp obez bâren und andersît wâren mit wünneclîcher blüete: ouch vreute im daz gemüete der vogele süezer dôz. (V. 8713–8724)

Auch wenn die Beschaffenheit der Grenze noch nicht aufgeklärt ist, beschreibt der Erzähler den Weg in den boumgarten und das, was man dort erwarten kann. Wieder wird mit swer ein kollektives Zentrum benutzt, in das sich der Rezipient hineinversetzen kann. Noch bevor Erec selbst zum subsidiären Leib wird und diesen Weg auf sich nimmt, kann sich der Rezipient mithilfe des kollektiven Zentrums bereits als Eintretender imaginieren und erfährt von der topischen Ausstattung des Gartens. So sieht er zahlreiche Bäume und Blüten, die wunderbar duften und hört den Vogelgesang. Die Imagination der Gartennatur wird zu einem multisensorischen Erlebnis. Der Zusammenfall von Blüte und Frucht deutet auf eine mythische Zeitordnung, die innerhalb des Baumgartens wirksam ist, so dass die Eigengesetzlichkeit des Gartens wie auch seine gestörte Ordnung betont werden. Außerdem werden die zuvor angedeuteten Reminiszenzen an das Paradies neuerlich aktiviert.46 Mit dâ oder hie werden die

 Vgl. Bruno Quast: Daz ander paradîse. Mythos und Norm in den Artusromanen Hartmanns von Aue. In: Text und Normativität im deutschen Mittelalter. XX. Anglo-German Colloquium 2007. Hrsg. von Elke Brüggen [u. a.]. Berlin/Boston 2012, S. 67 f.; Hoffmann, Arbeit an der Literatur, S. 199–201.

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Bestandteile des locus amoenus im Folgenden an den boumgarten räumlich zurückgebunden. Im Unterschied zum Paradies berichtet der Erzähler, dass der Genuss jeglichen Obstes in vollem Umfang erlaubt sei. Allein dessen Entfernen aus dem Baumgarten sei nicht möglich (vgl. V. 8739–8744). Dieses Verbot bekräftigt die Trennung zwischen dem Garteninneren und der Umgebung. Im Zuge dieses Verbots lenkt der Erzähler die Aufmerksamkeit mithilfe einer rhetorischen Frage erneut auf die Beschaffenheit der Grenze: hoeret ir iht gerne sagen, / wâ mite der boumgarte / beslozzen waere sô harte? (V. 8745–8747). Diese Frage nimmt Bezug auf den bereits zuvor angesprochenen Widerspruch zwischen starker Befestigung und fehlender taktiler Wahrnehmbarkeit. Wie dieses Phänomen denkbar ist, lässt Hartmann den Erzähler erklären, bevor er die Beschaffenheit an sich endlich thematisieren wird. Hartmann spricht den Zeitgenossen die zur Errichtung einer so beschaffenen Mauer nötigen Kenntnisse ab und verlagert die Entstehung der Mauer damit in eine unbestimmte mythische Vorzeit.47 Die tatsächliche Begrenzung erweist sich letztlich als Wolke: man sach ein wolken drumbe gân, / dâ niemen durch mohte komen, / wan als ir dâ habet vernomen (V. 8751–8753). Obwohl nicht greifbar, ist die Grenze optisch wahrnehmbar und materialisiert, so dass sie ein gegenständliches Hindernis bildet.48 Die Motivgeschichten von Wolken, Nebeln und Luft als Mauern weisen Höhler zufolge insofern Gemeinsamkeiten auf, als sie alle Abgrenzungen zwischen heiligen und profanen Bereichen bilden. Sie seien magische Grenzen, die das Umschlossene als verborgen und unirdisch auswiesen.49 Diese mythische Abgeschlossenheit verleiht dem gestörten Inneren Intimität, die durch einen eindringenden Herausforderer nur zeitweise gestört werden kann.50 Die erzählte Bewegung mit Erec als subsidiärem Leib für den Rezipienten, die von der statischen Beschreibung unterbrochen wurde, wird mit dem Wiedereinsetzen der Figurenbewegung fortgesetzt. Die Erzählung kehrt auf die Handlungsebene zurück und die Annäherung an den Baumgarten setzt sich fort. Ein erster Halt findet am verholnen tor statt:

 Obwohl Hartmann auf den ausdrücklichen Negromantie-Hinweis von Chrétien verzichtet (vgl. V. 5692), kann noch keine Rede von der Öffnung für eine psychologische Deutung sein, wie sie Ulrich Ernst und Ernst Trachsler ins Spiel bringen. Vgl. Ernst, Virtuelle Gärten, S. 175; Trachsler, Weg im Artusroman, S. 201 u. 207; ebenso wenig wird dadurch die unnatürliche Herkunft der Mauer in Frage gestellt. Vgl. Annette Gerok-Reiter: Körper – Zeichen. Narrative Steuermodi körperlicher Präsenz am Beispiel von Hartmanns Erec. In: Körperkonzepte im arthurischen Roman. Hrsg. von Friedrich Wolfzettel. Tübingen 2007, S. 425 f.  Dies steht der Auffassung von Glaser und Gruenter entgegen, die Grenze sei immateriell konstruiert. Vgl. dazu Glaser, Held und sein Raum, S. 60–62; Gruenter, Das wunnecliche tal, S. 383.  Vgl. Höhler, Kampf im Garten, S. 383–388. Ernst Cassirer betrachtet die Grunddifferenz zwischen Heiligem und Profanem als wichtigen Aspekt des mythischen Denkens, in dem diese Opposition insbesondere räumlich abgebildet wird. Vgl. Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken. Hamburg 2010 (Philosophische Bibliothek. 608), S. 87–97. Vgl. zur Anwendung dieses Begriffspaares auf Brandigan außerdem Höhler, Kampf im Garten, S. 391; Quast, Daz ander paradîse, S. 65–77; Hoffmann, Arbeit an der Literatur, S. 199 u. 231.  Vgl. Ernst, Virtuelle Gärten, S. 177.

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nû reit der wirt selbe vor in gegen den boumgarten hin, daz er in bewîste an die stat zuo dem ritter als Êrec bat, hin zem verholnen tor. hie beleip daz volc allez vor âne vrouwen Ênîten. ouch muoste mite rîten Guivreiz der herre: ir menige wart niht merre, niuwan dise viere. (V. 8754–8764)

Mit der Absicht, Erec an das Ziel zuo dem ritter zu bringen, nähert sich Ivreins dem tor. Das Burg- oder Stadttor ist die erste von mehreren Isolationsstufen beziehungsweise Zugangsbeschränkungen. Hier bleibt das Volk zurück und nur Erec, Enite, Guivreiz und Ivreins passieren das Tor. Auch wenn die Figuren nun das Außen von Stadt und Burg verlassen, betreten sie nicht automatisch den Baumgarten. Dass es sich nicht um die von Ivreins zuvor genannte porte (V. 8484) in den boumgarten handeln kann, zeigt die Tatsache, dass Erecs weitere Isolation erst später erfolgt (vgl. V. 8874–8876). Der Rezipient weiß, dass der Herausforderer erst an der porte alleine in den Garten einziehen muss. Enites spätere Ohnmacht in diesem noch nicht spezifizierten Dazwischen (vgl. V. 8817–8828) ist ein weiteres Indiz dafür, dass die Figuren sich noch nicht im boumgarten befinden, denn dort lindert die liebliche Natur jeglichen Kummer (vgl. V. 8817–8832). Der durch das verholne[] tor betretene Raum ist somit noch nicht der Baumgarten selbst. Geprägt ist dieser Raum durch den Steckenring. Doch was für eine Art von Raum ist dieser ‚Vorhof‘ und welche Funktion hat er für den boumgarten? Während Stadt und Burg das Außen bilden und der Garten das Innen bildet, gehört der betretene Raumbereich keinem von beiden an. Das mythische Denken kennt diesen Zwischenbereich zwischen profanem Außen und heiligem Innen als Schwelle. Sie betont zum einen die Wichtigkeit des zu betretenden Raums, zum anderen die Bedeutsamkeit des Übergangs selbst.51 Selbst wenn der abgegrenzte Innenraum nicht sakral oder heilig ist, so ist er im mythischen Denken weder mit dem verlassenen noch dem zu betretenden Raum identisch. Es handelt sich im Anschluss an Arnold van Gennep und Victor Turner um einen liminalen Raum. Die ethnologischen und anthropologischen Untersuchungen von Übergangsriten verschiedener Gesellschaften durch van Gennep und Turner zeigten, dass die

 Zur Funktion der Schwelle im mythischen Denken führt Ernst Cassirer aus: „Jeder mythisch bedeutsame Inhalt, jedes aus der Sphäre der Gleichgültigen und Alltäglichen herausgehobene Lebensverhältnis bildet gleichsam einen eigenen Ring des Daseins, ein umhegtes und umfriedetes Seinsgebiet, das sich durch feste Schranken gegen seine Umgebung abscheidet […]. Für den Eintritt in diesen Ring wie für den Austritt aus ihm gelten ganz bestimmte sakrale Vorschriften. Der Übergang von einem mythischreligiösen Bezirk in den andern ist stets an sorgfältig zu beobachtende Übergangsriten gebunden“. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Das mythische Denken, S. 122.

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Übergänge zwischen verschiedenen Zuständen oder Lebensphasen durch liminale Phasen bestimmt und häufig „mit einem Raumwechsel, einer geographischen Ortsveränderung verbunden“ sind.52 Der Initiand des Rituals besitzt in einer solchen liminalen Phase weder Eigenschaften der vorgegangenen noch der kommenden Phase.53 Darüber hinaus ist dieser Zustand von besonderen Lizenzen geprägt. Die von Hartmann entworfene Schwelle verräumlicht Erecs Übergang aus dem gesellschaftlichen Verbund des Hofs in die soziale Exklusion des offensichtlich stark mythisch codierten Baumgartens. Die Schwelle bildet einen liminalen Sonderraum. Während Hartmann minutiös über die Anlage von Brandigan und die Verortung seiner Teilkomplexe informiert, taucht der liminale Sonderraum als Vorhof des boumgarten wie ein Sprossraum54 erst im Verlauf der Narration auf. Die mythische Verfasstheit und die besonderen Lizenzen von Schwelle und Baumgarten ermöglichen dieses Raumerzählen. Teil dieses Sonderraums ist der Steckenring, der ähnlich plötzlich wie die Schwelle der erzählten Welt hinzugefügt wird. nû kâmen si vil schiere, daz si daz begunden ane sehen, des si von schulden muosten jehen, ez waere ein seltsaene dinc. hie was gestalt ein wîter rinc von eichînen stecken. des wunderte Êrecken. ir iegelîch was sus bedaht, ein mannes houbet drûf gestaht, wan einer, der was laere. (V. 8765–8774)

Die Merkmale des Steckenrings sind so bildgewaltig, dass es keiner ausführlichen Beschreibung bedarf, um eine grauenerregende Imagination zu ermöglichen. Der Steckenring ist, darauf deutet auch seine Entstehungsgeschichte hin, von Hybridität gekennzeichnet, denn er scheint vor allem mit Bezug auf den Raum ebenso zügellos wie regelhaft verfasst zu sein. Seine Genese wird Erec, Enite und Guivreiz von Ivreins eröffnet: ‚ob ir’z noch geloubet, sehet, daz sint diu houbet: diu hât der ritter abe geslagen. ouch wil ich iu mêre sagen:

 Victor W. Turner: Das Liminale und das Liminoide in Spiel, Fluß und Ritual. In: Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels. Neuausgabe. Hrsg. von dems. Frankfurt/New York 2009, S. 36.  Vgl. Victor W. Turner: Betwixt and Between. The Liminal Period in Rites of Passage In: Betwixt and Between: Patterns of Masculine and Feminine Initiation. 2. Aufl. Hrsg. von Louise Carus Mahdi. La Salle 1987, S. 3–22; Vgl. Turner, Das Liminale und das Liminoide in Spiel, Fluß und Ritual, S. 35.  Vgl. Störmer-Caysa, Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen, S. 71.

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der stecke, der noch laere stât, der ist der iuwer gebiten hât, dâ sol iuwer houbet ûfe stân.‘ (V. 8786–8792)

In seiner Entstehung und Erweiterung strotzt der Ring mit den aufgespießten Schädeln nur so vor antisozialem und antihöfischem Verhalten. Die Zerstückelung des Gegners und das Aufspießen seines Schädels sind Zeichen dafür, dass der Gegner die stark regulierten, ritterlichen Kampf-performances missachtet. Der Steckenring steht demnach nicht nur für die offenbar vollständige Verweigerung ritterlichen Verhaltens, sondern kommt einer Absage an ein Leben in Gemeinschaft überhaupt gleich.55 Der leere Pfahl ist nicht nur eine Warnung an den nächsten Gegner, der den Platz für seinen Schädel im wahrscheinlichen Falle der Niederlage dort bereits besichtigen kann. Diese Praxis verhindert außerdem eine christliche Bestattung der Leichname. Diese Grausamkeit des Sonderraums hat eine starke, emotionale Wirkung auf Enite (vgl. V. 8817–8832). Dennoch offenbart der Umgang mit den getöteten Rittern eine sorgfältige Raumchoreographie. Die Besiegten werden der höfischen Welt dauerhaft entzogen. Doch können ihre toten Körper nicht im Baumgarten selbst verweilen. Dieser ist nur für die zeitweise Aufnahme eines fremden Ritters ausgelegt. Der Kampf gegen den Herausforderer, mit dem Ziel zu siegen, dient der wiederholten Bestätigung und Aufrechterhaltung des vermeintlich idyllischen Gartenzustands. Verblieben die toten Körper im boumgarten, wären sie für den Ritter Mabonagrin und dessen Dame ein fortwährendes Mahnmal, dass die isolierte Hingabe an die Minne immer wieder zu einem hohen Preis erkauft werden muss. Die Exklusion der Toten sichert die vermeintliche Idylle des Baumgartens. Gleichzeitig können sie nicht in die höfische Welt entlassen werden und verbleiben stattdessen in dem liminalen Sonderraum. Die narrative Ausgestaltung des Steckenrings verräumlicht so die Folgen der Vereinzelung und deren hohe Kosten.56 Gertrud Höhler bietet mit Blick auf die Traditionslinien und die Herkunft dieses Steckenring-Motivs eine ergänzende Erklärung. Der Steckenring mitsamt den aufgespießten Schädeln verweise auf die keltische Tradition, in der man annahm, dass die Körper der Besiegten, befänden sie sich in der Nähe des Siegers, ihre Kraft an diesen übertrügen.57 Auch diese Überzeugung verweist auf die mythische Verfasstheit der Schwelle, denn hinter ihr steht ein Grundprinzip des mythischen Denkens: juxta hoc, ergo propter hoc. Das Nebeneinander von Dingen wird zum Kausalnexus zwischen diesen.58 Da der Schä-

 Vgl. Schröder, Darstellung und Funktion der Schauplätze, S. 303.  Indem sie abstraktes Denken über die Isolation im Baumgarten und deren Konsequenzen ermöglichen, erfüllen sie eine ähnliche Funktion wie die heiligen Gegenstände in Übergangsriten. Sie dienen dem Initianden dazu, auf abstrakte Weise über die Beschaffenheit ihres kulturellen Milieus nachzudenken. Vgl. Turner, Betwixt and Between, S. 17.  Vgl. Höhler, Kampf im Garten, S. 394.  Vgl. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Das mythische Denken, S. 56 u. 100. Zu der besonderen Weise, in der das mythische Denken Kausalbeziehungen herstellt, führt Cassirer aus: „Es

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del des Toten sich in direkter Nachbarschaft zum Sieger befindet, ginge die Kraft des Unterlegenen auf den Sieger über und mache ihn stärker. Die besiegten Ritter müssen also auch deshalb im liminalen Raum, wie in einer Art Limbus, verbleiben. Nur ein siegreicher Ritter hätte die Möglichkeit, in die durch seinen Sieg wiederhergestellte höfische Gemeinschaft zurückzukehren. Erec befindet sich in diesem Schwellenraum wie der Initiand eines Übergangsrituals. Ihm wird seine feste Position in der höfischen Gesellschaft entzogen. Außerdem hat er nur vage, wenn auch furchterregende Aussichten, was ihn im Kampf mit dem Ritter im Baumgarten erwarten wird. Im Grunde weiß er nichts über den Baumgarten und seine âventiure, bis auf die Tatsache, dass ein Kampf stattfinden wird. Anhand des Steckenrings wird eine Raumchoreographie verkörpert, die unterschiedliche Stadien durchläuft: Verlassen des höfischen Außenbereichs, Betreten und Passieren des liminalen Raums, zeitweise und zweckgerichtete Aufnahme in das Innen, Absonderung aus dem Innen zurück in den liminalen Raum. Letzterer ist in vielerlei Hinsicht ein Sonderraum, der nicht Teil des Außen ist.59 Die Sequenzialität des Geschehens, ablesbar und räumlich gebannt in den vielen aufgepflanzten Schädeln, versteht Hoffmann als Implementierung einer mythischen Zeitstruktur.60 All das zeigt, dass der Vorhof des boumgarten ein liminaler Sonderraum mit exklusiven Lizenzen und Eigenschaften ist.61 Der Baumgarten selbst ist jedoch kein Schwellenraum mehr.62 Die Isolation wie auch der dauerhafte Aufenthalt desavouieren die ihm eingeschriebenen Spannungsverhältnisse und stellen den Versuch einer ‚Vereindeutigung‘ dar, so dass die Liminalität auf den Grenzbereich des Baumgartens ausgelagert wird. Die Ausgestaltung der Schwelle und die mit ihr verbundene räumliche Taktik ist unmittelbar auf den problematischen Akt der dauerhaften Exklusion in einem dafür eigentlich nicht geeigneten Raum bezogen. Diese Taktik der Exklusion erzeugt neben dem liminalen Sonderraum einen Baumgarten, der subversiv genutzt wird und quer zu gesellschaftlichen und sozialen Normen der höfischen Kultur steht. Der liminale Sonderraum stellt den Versuch dar, diesem die Gesellschaft destabilisierenden Zustand räumlich wie semantisch Halt und Stabilität zu geben,

ist als wenn das reine Erkenntnisbewußtsein und das mythische Bewußtsein den Hebel der ‚Erklärung‘ an ganz verschiedenen Stellen einsetzten. Jenes [das reine Erkenntnisbewusstsein, T.S.] ist befriedigt, wenn es ihm gelingt, das individuelle Geschehen in Raum und Zeit als Spezialfall eines allgemeinen Gesetzes zu begreifen […]. Dieses [das mythische Bewusstsein, T.S.] dagegen richtet die Frage des ‚Warum‘ gerade auf das Besondere, auf das Einzelne und Einmalige. Es ‚erklärt‘ das individuelle Geschehen durch die Setzung und Annahme individueller Willensakte“ (S. 60).  Im Gegensatz zu Höhler, die argumentiert, die kultischen Verfahren seien auf den Profanbereich übertragen. Vgl. dazu Höhler, Kampf im Garten, S. 395.  Vgl. Hoffmann, Arbeit an der Literatur, S. 202.  Vgl. Hoffmann, Arbeit an der Literatur, S. 201; Höhler, Kampf im Garten, S. 383; Schnyder, Künstliche Paradiese, S. 64 f.  Anders als Glaser, die den ganzen Garten als Schwelle deklariert. Vgl. dazu Glaser, Held und sein Raum, S. 52–70.

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um die von diesem Übergang ausgehende Gefahr möglichst einzudämmen. Gleiches beobachtet van Gennep für die archaischen Gesellschaften und ihre Übergangsriten.63 Die Anlage des Steckenrings wird zunächst aus dem Blick der herannahenden Figuren erzählt, denn alle sehen das seltsaene dinc (V. 8768). Auf Erecs Frage, was es damit auf sich habe, erläutert Ivreins das Geschehen rund um die aufgespießten Schädel in direkter Rede. Seine Erklärung ist wenig dynamisch und nutzt – etwa im Gegensatz zu Brangänes direkter Rede im Tristan – kaum narrative Strategien zur performativen Raumerzeugung. Im Steckenring ist die Taktik der Exklusion gewissermaßen geronnen und legt zugleich Zeugnis über deren zyklische Durchführung ab. Denn jeder Schädel, das macht Ivreins Erklärung deutlich, ist der Beweis für den Vollzug dieser räumlichen Praktik. Nur so kann die dauerhafte Isolation von der höfischen Außenwelt bewerkstelligt werden, denn „[d]ie Abkapselung zu zweit ist aggressiv gegen die höfische Gesellschaft gerichtet“, so Müller.64 Hartmann erzählt mit der diffizilen Raumchoreographie eine Taktik der Exklusion, die die räumliche Absonderung des boumgarten aus der höfischen Sphäre abbildet. In diesem Zuge findet überdies eine semantische Differenzierung statt, denn der Steckenring offenbart den antisozialen und antihöfischen Charakter der Schwelle und des durch sie geschützten Baumgartens. Der Zugang zum eigentlichen Baumgarten ist von fortschreitender Vereinzelung geprägt. Wie der Rezipient weiß, kann der Zutritt dank der undurchdringlichen Wolkengrenze nur an einer speziellen Stelle erfolgen: der schon erwähnten vil verholnen stat (V. 8712). Dort, wo der enge phat (V. 8713) in den boumgarten führt, muss auch die porte verortet werden, von der Ivreins zuvor berichtete (vgl. V. 8484–8489). Sie öffnet und schließt sich, offenbar auf ein Wort hin, selbsttätig und lässt nur einen Ritter eintreten. in wîste vür die stecken der wirt selbe mit der hant ûf einen stîc, den er dâ vant: der was grasic und niht breit. si beliben alle, er eine reit. (V. 8881–8885)

Über den Steckenring hinaus weist Ivreins Erec mit der Hand auf einen Weg. Stîc und phat sind als verschiedene Bezeichnungen für das gleiche, räumliche Phänomen zu verstehen, auf dem sich die porte befindet. Wie der Ritter durch sie in den boumgarten eintreten kann, hat der Rezipient bereits von Ivreins erfahren. Die Durchführung dieses magisch anmutenden Mechanismus wird nicht erzählt, denn ihr Fokus liegt auf der fortschreitenden Vereinzelung Erecs, die auf dem Weg zur porte ihr Maximum erreicht. Selbst der Erzähler sagt sich kurzzeitig von Erec los:

 Vgl. Matthias Warstat: Liminalität. In: Metzler Lexikon Theatertheorie. 2. aktualisierte und erweiterte Aufl. Hrsg. von Erika Fischer-Lichte, dems., Doris Kolesch. Stuttgart/Weimar 2014, S. 197.  Müller, Zwischenräume, S. 299.

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si beliben alle, er eine reit. ich enweiz, wie ez im ergie: ez enwas eht ritter nie mê g’untroestet, dan er wart. (V. 8885–8888)65

Als sich der Erzähler nach wenigen Versen wieder Erec zuwendet, beschreibt er dessen schmalen Weg ebenfalls als grasig und aktualisiert die Spannung zwischen Heils- und âventiure-Konzept, die bereits an der wegescheide aufgerufen wird. Auf den ersten Blick hat eine Veränderung stattgefunden. Denn plötzlich ist Erecs Weg nicht mehr baz gebûwen, sondern grasic und niht breit. Es findet erneut eine Inversion statt. Selbst wenn der Heilsweg ein beschwerlicher Weg sein muss, so deutet doch die Anlage des boumgarten und die dort wartende âventiure auf eine durch und durch weltliche, gesellschaftliche Herausforderung hin. Am Ende von Erecs erfolgreichem Weg steht nicht das Heil des christlichen Glaubens, sondern eine vollwertige Wiedereingliederung in die höfische Lebenswelt – für das Baumgartenpaar einerseits, schlussendlich aber vor allem für Erec und Enite, so dass Erecs Weg hier gar nicht oder wenigstens kaum christlich codiert erscheint. Während der Weg in den Garten und die Beschaffenheit des Schwellenraums zuvor detailliert erzählt werden, ist Erec in der Sukzession der Erzählung nun bereits in den boumgarten vorgedrungen. Über Erecs Annährungsbewegung hinweg wird der Baumgarten mitsamt seiner Umgebung immer weiter räumlich ausdifferenziert. Einzelne räumliche Bestandteile wie porte oder phât lassen sich aufeinander aufbauend in Beziehung setzen und erzeugen so eine konsistente, plastische Raumvorstellung. Diese Vorwegnahme führt dazu, dass der tatsächliche Zugang Erecs in den Baumgarten – ähnlich wie die mehrfach wiederholte Taktik der Intimisierung im Baumgarten des Tristan – nun nicht mehr explizit erzählt wird. Der Rezipient ist bereits innerhalb des Schwellen- und Gartenraums orientiert, so dass er die nun erzählte Bewegung in diesen Imaginationsraum aus Wolkenmauer, Steckenring und Türchen einpassen kann. Der vom Steckenring bestimmte liminale Raum wird verlassen und der Gartenraum beginnt. Analog zum gestaffelten Erzählen von Erecs Bewegung in den Gartenraum hinein erfolgt auch der Zugang selbst gestuft. Der liminale Sonderraum organisiert den Zugang und verräumlicht das Wissen um die Art des Kampfes und den boumgarten. Es zeigt sich, dass Erec der einzige ist, der diesen ritualisierten Zugang durchschreiten und sich zeitweise im Bezirk des Innen, dem Baumgarten, aufhalten kann. Es bedarf dazu nicht nur der Wegweisung durch Ivreins, sondern auch des nötigen Geschicks (von geschihte, V. 8716). Die tumbes herzen stiure

 Dass die Grenze des Baumgartens von Konkreszenz betroffen sei und die eingangs erwähnte Exklusivität im Betreten des Gartens durch die ganze Gruppe nachträglich aufgehoben werde, wie Poser meint, ist nicht zu erkennen. Vgl. Poser, Raum in Bewegung, S. 91 f. Ebenso wenig plausibel erscheint die Vermutung, dass die Begleiter sich vor dem Kampf innerhalb und nach dem Kampf außerhalb des Baumgartens aufhalten, wie Höhler behauptet. Vgl. Höhler, Kampf im Garten, S. 391.

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(V. 8480), die seine Vorgänger prägte, fehlt Erec offenbar, weshalb es ihm gelingt, den boumgarten lebendig und siegreich zu verlassen. Die räumliche Anlage des Zugangs und die darin verewigten devianten Verhaltensweisen machen aus dem Grenzbereich einen liminalen Raum, der von Erec auf dem Weg aus dem Außenraum Brandigan in den Innenraum des Baumgartens als Schwelle passiert werden muss. Obwohl die räumlichen Informationen zur Grenze und zum Eintritt in den Baumgarten an verschiedenen Stellen und von unterschiedlichen Instanzen erzählt werden, ergibt sich, wie gezeigt werden konnte, schlussendlich ein räumlich sehr konsistentes Bild. Zuvor erzählte räumliche Bewegungen müssen vom Rezipienten präsent gehalten und in die Erzählung von Erecs Bewegung in den Baumgarten integriert werden. Hartmann erzeugt so auf verwickelte Weise und durch zahlreiche Rück- und Querbezüge innerhalb der Erzählung einen plastischen Grenzraum des Gartens und nimmt bereits einige Merkmale des boumgarten vorweg. Die Zugangschoreographie und die damit verbundene Taktik verräumlicht nicht nur Erecs besonderen Status, sondern erzeugt den boumgarten als besonderen Handlungsraum. In ihm findet nicht nur der Kampf zwischen zwei Rittern statt. Vielmehr wird dort ein Grundproblem der höfischen Gesellschaft ausgefochten und verhandelt: Das Balanceproblem zwischen Ritter- und Gesellschaftsverpflichtungen auf der einen Seite und den Verlockungen der Minne auf der anderen Seite. Hartmann verhandelt diesen grundlegenden Konflikt, wie es Bruno Quast zufolge eine Vorliebe der höfischen Literatur überhaupt ist, in einem besonderen Raum mythischen Zuschnitts.66

5.2.3 Kampf im ander paradîse Der boumgarten, den Erec schließlich betritt, ist von ungeheurem, mythischen Ausmaß.67 Erec reitet weit in sein Zentrum hinein, das letztlich auch das Zentrum der ganzen Brandigan-Episode ist. Erecs Bewegung verschafft dem Garten Ausdehnung und erzeugt so Raum im Sinne de Certeaus. hie reit der künec Êrec eine den grasigen wec wol drîer rosseloufe lanc

 „Die obersten Werte der höfischen Gesellschaft werden in magisch-mythischen Sonderräumen fundiert“. Quast: Daz ander paradîse, S. 76. Die Umgebung des Gartens ist als liminaler Sonderraum konstruiert und die Erzählung wählt mit dem boumgarten einen besonderen Raum. Sein Schwellencharakter ist durch die räumliche Anlage zeitweise zugunsten eines isolierten, pseudo-paradiesischen Lebens von Liebenden vereindeutigt. Doch gerade dieser Umstand erfordert den liminalen Sonderraum und macht die Existenz des so gestalteten Gartens zum Problem.  Erec reitet wol drîer rossloufe lanc […] in jenen boumgarten vort (V. 8898 u. 8900). Scholz erläutert in seinem Kommentar, dass der rosslouf als Maß dem römischen stadium entspricht, das 185 Meter misst. Vgl. Scholz, Kommentar, S. 958.

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durch bluomen und durch vogelsanc in jenen boumgarten vort. nû sach er vor im dort eine pavelûne stân, rîch unde wol getân, beide hôch unde wît, zweier slahte samît, von strichen swarz unde wîz und gemâl en allen vlîz. (V. 8896–8907)

Erec wird zum subsidiären Leib, der den boumgarten ‚erreitet‘ und ihn in seiner Ausstattung wahrnimmt. In einem monofokalen Blick sieht Erec in einiger Entfernung, wie die origoexklusive Raumbereichsdeixis dort suggeriert, eine pavelûne.68 Durch Erecs Blick kann der Rezipient am Zelt alle die Merkmale wahrnehmen, die schon in der altfranzösischen Literatur typisch sind.69 Pracht und Schönheit strahlt das mit Samt bespannte Zelt aus, das hôch und wît (V. 8904) bemessen ist. Malereien und Stickereien zieren farbenfroh eine Zeltplane, ein goldener Adler bildet den oberen Abschluss des Zeltes (vgl. V. 8915–8917). Seine raumgreifende Eigenschaft findet nicht nur in seinen Maßen Erwähnung, sondern wird gleich doppelt durch das Adjektiv gespannen (V. 8918) und die abgespreizten Seidenschnüre (vgl. V. 8918–8925) aktualisiert, so dass der Raum als dreidimensionaler und gerichteter Raum entsteht.70 Zelte sind in der Ausstattung von Baumgärten durchaus bekannt. Beachtung haben sie in der Forschung zur mittelhochdeutschen Erzählliteratur als höfische Innenräume gefunden. Im Gegensatz zu anderen Innenräumen zeichnen sie sich aber gerade durch ihre Portabilität und die Möglichkeit zur schnellen Installation aus.71 Das Zelt trennt einen Teilraum ab, löst ihn aus der meist wilden Umgebung und höfisiert ihn. Dieser der Umgebung abgetrotzte Innenraum des Zeltes kann als Handlungsraum, aber auch als Zeichen an sich von Bedeutung für die Erzählung sein. Im Baumgarten von Brandigan ist der umgebende Raum aber gerade nicht ausnahmslos wild, sondern Teil einer höfischen Sphäre. Nur das Kampfprozedere, das den Baumgarten bestimmt, schreibt ihm mit Blick auf soziale Normen eine gewisse

 Als Bezeichnung für ein Zelt ist das aus dem Altfranzösischen entlehnte Femininum insbesondere im höfischen Roman zu finden. Vgl. Christoph Schanze: Zelt. In: Literarische Orte in deutschsprachigen Erzählungen des Mittelalters. Ein Handbuch. Hrsg. von Tilo Renz, Monika Hanauska, Mathias Herweg. Berlin/Boston 2018, S. 608.  Vgl. Susanne Friede: Die Wahrnehmung des Wunderbaren. Der Roman d’Alexandre im Kontext der französischen Literatur des 12. Jahrhunderts. Tübingen 2003 (Beihefte zur Zeitschrift für Romanische Philologie. 317), S. 82–114.  Vgl. für eine Motivgeschichte zum Zelt auch Höhler, Kampf im Garten, S. 403–413.  Vgl. Markus Stock: Das Zelt als Zeichen und Handlungsraum in der hochhöfischen deutschen Epik. In: Innenräume in der Literatur des deutschen Mittelalters. XIX. Anglo-German Colloquium Oxford 2005. Hrsg. von Burkhard Hasebrink [u. a.]. Tübingen 2008, S. 69.

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Wildheit ein. Normalerweise dazu gedacht, einen unwirtlichen Ort vorübergehend bewohnbar zu machen, erfährt das Zelt wie der Baumgarten auf Brandigan eine Zweckentfremdung.72 Es dient im boumgarten weder als zeitweilige Herberge noch als vorübergehender Aufenthaltsort zur Erholung. Es wird zum Bestandteil eines dauerhaften Lebens im boumgarten gemacht. hie under er gesitzen sach ein wîp, als im sîn herze jach, daz er bî sînen zîten âne vrouwen Ênîten nie dehein schoener hete gesehen. […] daz bette, dâ si ûfe saz, wol erziuget was daz: die stollen grôz silberîn, von guotem gewürhte der schîn. dô er si dâ sach sitzen, mit zühteclîchen witzen sô erbeizete der gast. sîn ros bant er an einen ast. an den stam leinte er beide schilt und sper. sînen helm er abe bant und sturzte in ûf des schiltes rant. des hüetelîns wart sîn houbet blôz, wan sîn zuht was vil grôz. alsô gienc er vür si stân. (V. 8926–8930 u. 8954–8968)

Auch die eindeutige Abgrenzung des Zeltes gegen seine Umgebung ist räumlich aufgeweicht, indem die zurückgeschlagene Zeltplane Erec den Blick auf die prächtig gekleidete Dame im Inneren des Zeltes eröffnet. Erec betritt das Zelt, das in einiger Entfernung (dâ, V. 8958) von ihm platziert ist, nicht. Er bewegt sich auf das Ensemble aus Zelt und Dame zu, doch er bleibt vor ihm stehen. Die gesamte Beschreibung von Zelt, Bett und Dame ist an Erecs Wahrnehmung geknüpft, so dass der Rezipient zum teilnehmenden Beobachter dieses Raumensembles inmitten des boumgarten werden kann. Die den Innenräumen eigene Verhandlung von Differenz, Grenze und Überschreitung73 findet im Kontext von Zelt und Baumgarten nicht statt. Vielmehr wird auf Brandigan das Verhältnis zwischen dem Baumgarten und der umgebenden, höfischen Sphäre mithilfe des liminalen Sonderraums ausgehandelt, so dass die Öffnung des Zeltes innerhalb des Baumgartens für Erecs Blick offenbar gefahrlos stattfinden kann. Die Angst vor

 Vgl. Höhler, Kampf im Garten, S. 404 f.  Vgl. Burkhard Hasebrink [u. a.]: Einleitung. In: Innenräume in der Literatur des Mittelalters. XIX. Anglo-German Colloquium Oxford 2005. Hrsg. von dens. Tübingen 2008, S. XI.

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Verletzlichkeit ist im abgekapselten Baumgartenraum gegenstandslos geworden.74 Die ungezügelte Gewalt, die sich im Gartenkampf offenbart und vor der ein Zelt in der Regel schützen soll,75 ist im boumgarten selbst gewählt. Mehr noch: Die Gewalt ist für den Fortbestand der Minne und des Baumgartens konstitutiv. Erec erkennt das Zelt und seinen Umkreis sofort als Raum, in dem höfische Konventionen gelten. Vor der Annäherung mit zühteclîchen witzen (V. 8959) steigt er vom Pferd ab und entwaffnet sich. Indem allerdings die Dame den regelkonformen, gestisch erfolgten Gruß (vgl. V. 8971 f.) durch ihre Rede zurücknimmt beziehungsweise einschränkt, offenbart sie zweierlei: Erstens suspendiert sie durch ihre barsche Antwort und die damit verbundene Drohung, ez muoz iu an den lîp gân, / und ersiht iuch mîn herre (V. 8986 f.), die höfischen Konventionen. Wie schon bei der Annäherung an Brandigan wird der höfische Schein als Trugbild entlarvt. Indem die Dame das drohende Geschehen und die Nähe ihres Ritters vorwegnimmt, formuliert sie eine Dominanz gegenüber dem eintretenden Ritter. Mit der Kontaktaufnahme bietet Erec unwissentlich den Anstoß für eine Bewährung gegen den Ritter, der noch unsichtbar, aber unverre (V. 8989) ist.76 Erecs Bewegung auf die Dame zu und die Platzierung der Dame im Gartenzentrum setzen die Taktik der Exklusion fort; beides arbeitet dem Kampf zwischen Eindringling und Gartenherrn zu. Die Annäherung des Ritters an Zelt und Dame stellt eine Dreierkonstellation her, die für das Fortbestehen des boumgarten wie auch den Bestand von Mabonagrins Versprechen problematisch ist. Die Drittfigur entlarvt die problematische Ordnung im Baumgarten, der einen dauerhaften Aufenthalt in Isolation nicht vorsieht. Infolgedessen kann die prekäre Ordnung nur durch Bekämpfung des Eindringlings, seine dauerhafte Entfernung aus dem Garten und dem Leben vorläufig stabilisiert werden. Nicht nur durch das von ihr geforderte Versprechen ist die Minnedame ursächlich für das Geschehen verantwortlich. Als eine Art Lockvogel setzt sie die Voraussetzungen für den Kampf und initiiert so das Prozedere, auf das zuvor bereits der Steckenring schließen ließ. Ihr Zelt ist daher nicht in erster Linie ein Zelt der Minne, sondern vor allem ein Zelt der Herrschaft. Vom Zentrum des boumgarten aus beherrscht Mabonagrins Dame dessen Aufrechterhaltung und die gemeinsame Isolation als ‚unbewegte Bewegerin‘. Hartmann verräumlicht in der narrativen Ausgestaltung des Baumgartenzentrums bereits, was der Rezipient erst deutlich später in Mabonagrins Bericht erfährt.  Zumal die Dame als Zentrum des Gartens dem Blick durch ihre raumgreifende Kleidung nur bruchstückhaft preisgegeben wird. Erwähnenswert ist, dass ihre Kleidung mit dem umfangenden Hermelinmantel aus Samt und dem Wimpel (!) im gebundenen Haar gleichermaßen als Zelt beschrieben wird (vgl. V. 8937–8945). Dieses Innenzelt schützt dann, wie die Unkenntnis des Erzählers und Erecs beweist (vgl. V. 8946–8953), tatsächlich vor dem Eindringen von Blicken.  Vgl. Jacob Klingner: Zelte der Minne. Beobachtungen zu einem Handlungsort der mittelhochdeutschen Minnereden. In: Wissenspaläste. Räume des Wissens in der Vormoderne. Hrsg. von Gesine Mierke, Christoph Fasbender. Würzburg 2013 (Chemnitzer Arbeiten zur Literaturwissenschaft. 2), S. 227.  Wie für Parzival, wenn er über das Zelt und Jeschute herfällt, wird auch für Erec das Zelt zum Index für die Nähe des zugehörigen Ritters. Vgl. Stock, Zelt als Zeichen und Handlungsraum, S. 73.

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Die subversiv ausgestaltete und daher problematische kulturelle Architektur des boumgarten spiegelt die kunstvoll gestaltete Zeltplane (vgl. V. 8908–8914). Das aufgemalte Menschenpaar, die täuschend echten Vögel und mit ihren Namen versehenen Tiere (vgl. V. 8910–8914) referieren auf den Paradieszustand vor der Verführung.77 Zugleich täuschen sie Dynamik vor. Während jener paradiesische Zustand unproblematisch, wenn auch statisch ist, ist die exklusive Herrschaft der Minne durch und durch problematisch – vor allem räumlich. Schließlich ist die Abgrenzung nach außen gesellschaftsfeindlich und normwidrig. Des Weiteren ist der Baumgarten vollkommen vom Stillstand bestimmt. Diese Dynamik sowie die Taktik der Exklusion sollen letztlich eine performative Stabilisierung des Raums leisten. Die Vögel bewegen sich eben nur sam si vlügen und trügen den Betrachter in ihrer Dynamik (V. 8910 f.). Die Dekoration des Zeltes erfüllt eine Kommentarfunktion,78 indem sie den bestimmenden Konflikt des Raums konzentriert und verschlüsselt zur Abbildung bringt. Die Isolation gegen die umgebende Welt und das exklusive Leben in Zweisamkeit sind nur im Garten Eden paradiesisch. Außerhalb dessen bedeutet beides einen Verstoß gegen die gesellschaftliche Ordnung. Dieser Zustand hat fatale Auswirkungen auf alle.79 Das Zelt ist demnach nicht nur ein Ausstattungsmerkmal des Imaginationsraums Baumgarten. Hartmann stilisiert es auch zum Zeichen für eine nur pseudoparadiesische Okkupation des Gartens. Nachdem die Nähe des Baumgartenritters von der Dame angekündigt ist, bricht die Interaktion zwischen Erec und ihr ab. Die Warnung der Dame kommt zu einem Zeitpunkt, da sich der Ritter bereits akustisch ankündigt, so dass ihr keine Folge mehr geleistet werden kann und wohl auch nicht werden soll. Die Stimme des Ritters dringt von einem unbestimmten Punkt lûte sam ein horn dôz (V. 8994) an Erecs Ohr, noch bevor der Ritter selbst zu sehen ist. So erfüllt der Schall den Raum und macht ihn zu einem multisensorischen Wahrnehmungsraum. Der Erzähler folgt dem Schall in ent Schon Haug sieht diese Anspielung, ohne sie jedoch zu explizieren. Vgl. Walter Haug: Joie de la curt. In: Blütezeit. Festschrift für L. Peter Johnson zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Mark Chinca. Tübingen 2000, S. 277; Schnyder führt in dieser Hinsicht aus: „Auf der der Szenerie unterlegten Folie des Sündenfalls und des paradiesischen Zustands von Adam und Eva kommt es so zu einer narrativen Perversionsfigur, über die das hier beschriebene ‚zweite Paradies‘ als verkehrtes Paradies erkennbar wird.“ Schnyder, Künstliche Paradiese, S. 66 f.; Friedrich beobachtet die Inversion mit Blick auf das heilgeschichtliche Narrativ ähnlich. Vgl. unter anderem Friedrich, Anfang und Ende, S. 284 f.  Jacob Klingner stellt fest, dass das Zelt in seiner Eigenschaft als Artefakt durchaus poetologisches Potential habe. Vgl. Klingner, Zelte der Minne, S. 227. Glaser sieht in der Zeltdekoration vor allem das Thema der Täuschung verhandelt. Vgl. Glaser, Held und sein Raum, S. 66 f. Um einem poetologischen Potential des Zeltes nachzugehen, ließe sich daher fragen, inwiefern die vorgetäuschte Bewegung bei völligem Stillstand nicht nur auf Brandigan, sondern auf Dichtung selbst referiert. Denn die Dichtung vermag es, in äußerlichem Stillstand einen ‚inneren Film‘ (Berns) zu erzeugen.  „In Brandigan aber wird die Inversion des âventiure-Gedankens und der Paradieserzählung zugleich inszeniert. Statik tritt an Stelle der dynamischen Bewegung, Einschließlung statt Ausschließung wird zum Problem. […] es handelt sich um ein gestörtes Paradies, eine Heterotopie des Privaten gegen die Ansprüche der Öffentlichkeit.“ Friedrich, Anfang und Ende, S. 285 (Hervorhebung im Original).

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gegengesetzter Richtung durch den Raum: wan im was der drozze grôz, / von dem si gie (V. 8995 f.). Bevor der Ritter sich nun auf Erec und das Zelt seiner Dame zubewegt, hatte er sich von dort entfernt, um durch den Baumgarten zu streifen. Diese direktionale Bewegung vom Zelt weg, durch den Baumgarten und nun zurück zum Zelt, verdeutlicht die Ausdehnung des Baumgartens und spannt ihn als gerichteten Raum auf. Die Erzählung wendet sich nicht nur der Bewegung des Ritters zu, sondern macht ihn nun auch zum Blicksubjekt. nû ersach er dâ ze stunde disen gast vor der vrouwen stân. daz dûhte in toerlîch getân und wolde im versmâhen, und begunde gâhen wider umbe zuo dem vremden man. (V. 9003–9008)

Die origoinklusive Raumbereichsdeixis dâ offenbart die Entfernung, aus der sich Mabonagrin Erec und dem Zelt nähert. Der Rezipient kann sein Körperschema in die Figur Mabonagrins hineinversetzen und erhält so eine weitere Blickperspektive auf den Raum. So kann nicht nur der Blick auf Erec und die Dame nachvollzogen werden. Mithilfe einer Psychonarration wird darüber hinaus deutlich, wie der Baumgartenritter die Situation einschätzt. Was er sieht, missfällt ihm und löst eine direktionale Bewegung auf Erec zu aus. Die direktionale Bewegung Erecs ins Innere des Baumgartens wird um eine weitere Annäherung aus einer anderen Richtung ergänzt. Die Bewegungen laufen auf die im Zelt befindliche Dame als räumliches Zentrum zu. Der Blick wechselt erneut, wenn der Beobachtete nun des boumgarten herre (V. 9011) auf sich zureiten sieht, und gibt Gelegenheit für eine descriptio. Anschließend verharrt die Erzählung zunächst beim Blickobjekt und erzählt die Bewegung des Ritters hin zu Erec weiter aus. Die sukzessive, gegenseitige Perzeption initialisiert eine Agonalität, welche sich sprachlich sowohl in der Reizrede als auch im konsequent wechselnden Subjekt-/Objektstatus der Handlung fortsetzt. Der gesamte Agon zwischen Mabonagrin und Erec ist auf die horizontale Achse konzentriert und von ständigem aufeinander Zu- und Wegbewegen bestimmt: Zu Pferd mit der Lanze, zu Fuß mit dem Schwert80 oder mit blanken Fäusten schenken sich die Gegner nichts. Ständiges Gegeneinander-Anrennen macht aus der vormals lieblichen Natur eine winterliche Kargheit, so dass die Natur gewissermaßen zu einer Funktion des Kampfes wird:

 In V. 9106–9117 ist der Schwertkampf per pedes mithilfe der Minnemetaphorik beschrieben. Nicht nur in der Diskussion um Kuhns Allegorie-These hat diese Passage vielfach Beachtung und Analyse erfahren. Aus diesem Grund muss hier ein Verweis auf Scholz’ Kommentar und seine Einordnung der Forschung genügen. Vgl. Scholz, Kommentar, S. 964 f.

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sô sluoc in aber Êrec her widere den selben wec. der kêre si sô vil tâten, unz daz si gar vertrâten beide bluomen unde gras, daz dâ niht grüeners was dan umbe mitte winterzît. (V. 9160–9166)

Die agonal organisierten Blicke und Bewegungen verleihen dem boumgarten als Handlungs- und Wahrnehmungsraum eine erhöhte Konsistenz und Stabilität. Abwechselnd werden Erec und Mabonagrin zu Assistenzfiguren des Rezipienten, der den Kampf so aus der Sicht beider Teilnehmer imaginieren kann. Der Wechsel in den Faustkampf bringt eine Veränderung in der Vertikalen mit sich und verändert das Kräftegleichgewicht: Êrec sîn kraft erzeicte. als sich jener neicte, dô sazte er sîn ahselbein, daz ez an jenes brüsten schein, sô daz er in niht zuo im liez. vil vaste er in von im stiez unde zuhte in sô gâhes wider dan, daz der michel man sîgen begunde. von swaere er niht enkunde sich erholn, er’n suochte die erde. hie beviel in der werde, Êrec der wunderaere machete im sô swaere, als eht in wol luste. er kniete im ûf die bruste und gap im sô manegen stôz, daz jenen lebennes verdrôz, der dâ under im lac: aller wer er gar verphlac. (V. 9296–9315)

Erec wird zum wunderaere (V. 9308), wenn er den großen Mabonagrin niederstreckt und auf dessen Brust kniet. Damit geht wiederum nicht nur räumliche, sondern auch sprachliche Dominanz einher. Zum ersten Mal wird Erec vom Unterlegenen als Ritter adressiert (vgl. V. 9319), der um Frieden und Schonung gebeten wird. Erst die regelgerechte Lösung der Situation durch die Namensnennung des Besiegten und das Erbarmen Erecs beenden das Anrennen und die Reizreden. Das gemeinsame Erheben und die gegenseitige Entkleidung (vgl. V. 9389–9392) lösen den Agon räumlich wie sprachlich durch Gleichstellung auf:

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als er die sicherheit empfie, nû half er im ûf bî der hant. ir ietweder enbant des anders wâfenriemen, wan in half ander niemen und entwâfenten ir houbet. hie wurden si beroubet hazlîches muotes (V. 9387–9394)

Wenn sich beide zesamene ûf das gras setzen (V. 9398), ist der Kampf endgültig beschlossen und das gemeinsame Gespräch beginnt. Im Verbund aus Gesprächsführung, Syntax und Bewegung im Raum wird die totale Agonalität der beiden Ritter zur Auflösung gebracht. Die Beschädigung der Gartennatur erweist sich in der Gesamtschau als erster Schritt einer Auflösung des boumgarten. Wieder ist sie räumlich und sprachlich organisiert. Während Baumgarten und Schwellenbereich die gestörte Ordnung des Baumgartenlebens zuvor bereits verräumlichten, wird sie im Gespräch zwischen den Rittern sprachlich aufgearbeitet. Am Ende seiner âventiure-Kette angekommen, ist Erec nun an der Reihe, sich über den fehlenden Ausgleich zwischen Minne und gesellschaftlichen Verpflichtungen zu wundern: swie wünneclîch eht hinne sî und swie deheiner slahte guot sô sêre ringe den muot sô dâ liep bî liebe lît, als ir und iuwer wîp sît, sô sol man waerlîchen den wîben doch entwîchen ze etelîcher stunde. […] wie ir mohtet belîben, ein alsô waetlîcher man, wie mich des niht verwundern kan! wan bî den liuten ist sô guot. (V. 9417–9424 u. 9435–9438)

So erfreulich die Liebe auch ist, erst im richtigen Maß und in der Einbindung in eine soziale Gruppe findet sie die höchste Erfüllung. Die Vereinzelung der Liebenden ist also nicht nur den Ritterverpflichtungen abträglich, sondern auch der Liebe selbst. Als Reaktion auf Erecs Verwunderung berichtet Mabonagrin von seiner Geschichte und dem ihm von seiner Dame abgerungenen Versprechen. Die Einschätzung der Dame, die Liebenden hätten im Baumgarten daz ander paradîse (V. 9542) und einen Spielraum der Muße gefunden, entpuppt sich als Fehleinschätzung, denn Muße ist

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eine singuläre Erfahrung.81 In der Assoziation des boumgarten mit dem Paradies reaktiviert Hartmann die schon in der wegescheide kontrastierten Semantiken. Das paradiesische Leben ist zwar ein heilsgeschichtlich wünschenswerter Zustand, den der Mensch wiederzuerlangen hofft. Aber in der Logik der höfischen Gesellschaft ist die soziale Isolation ein devianter Zustand. Erst das Leben innerhalb des Hofverbundes – räumlich wie sozial – ermöglicht ein ausgeglichenes, höfisches Dasein. Die narrative Erzeugung des Gartens als Handlungsraum wie auch seine semantische Codierung bestätigen: Der räumliche Rückzug und die Reduktion auf die Zweisamkeit bedeutet Verlust der Reibung am Gegensätzlichen, am Anderen und als Folge Verlust des Handlungs- und Interaktionsinstrumentariums, wodurch die paradiesische Idylle letztlich in ihr Gegenteil kippt.82

Dies gilt nicht nur für das Baumgartenpaar, sondern auch für den gesamten Hof. Die vollständige Isolation der Liebenden im boumgarten stört den Hofkomplex nicht nur als Raum, sondern nimmt der Hofgesellschaft jegliche vreude. sît daz in mîn abe gie, sô enwart eht hie nie deheiner slahte spil erhaben: […] sô ist eht Joie de la curt genzlîchen nider gelegen. (V. 9596–9602)

Erecs Sieg befreit also nicht nur Mabonagrin und seine Dame, sondern gibt dem Hof seine räumliche Integrität zurück und stellt in der Folge auch seine Ordnung wieder her. Während die Auflösung des boumgarten im Gespräch der Ritter zunächst sprachlich betrieben wird, beginnt seine räumliche Auflösung mit dem dreimaligen Blasen des Horns. Aus dem Innen übersteigt der Schall des Horns den liminalen Sonderraum und tut den Sieg des Herausforderers im Außen der umgebenden Gesellschaft kund (vgl. V. 9628–9642). Der Schall verbindet die vormals getrennten Räume und bringt den Schwellenraum des Steckenrings und mit ihm die Zugangsbeschränkungen zum Verschwinden. Lapidar wird das vom Erzähler mit der Rede vom Einsetzen der alten Ordnung quittiert: nû wart âne twâle / wider dem alten site getân (V. 9643 f.). Dass Erecs Begleiter den Baumgarten nun betreten können, bestätigt das Ende der räumlichen Exklusion, denn Enite, Guivreiz und Ivreins gehen an die Stelle, dâ si die herren sâhen an (V. 9654). Alle Hindernisse, die Hartmann über die gesamte Szene hinweg entworfen hatte, sind ohne große Umstände plötzlich verschwunden. Sie verräumlichten eine Störung, die nicht mehr besteht. Der boumgarten erhält seine eigentliche

 Vgl. Becker, Muße im höfischen Roman, S. 329–342.  Becker, Muße im höfischen Roman, S. 341.

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Funktion zurück und ist erneut für alle betretbar. Die Art und Weise der räumlichen Auflösung ist dabei zunächst zweitrangig. Die im Steckenring entfaltete räumliche Taktik der Exklusion wird von Erec durchbrochen. Der Kampf und die anschließende Auflösung der räumlichen Barriere stellen dem eine räumliche Taktik entgegen, die letztlich die schrittweise räumliche und soziale Reintegration in die Hofsphäre bewirkt. Aus dem Gegeneinander von Bewegung und Blicken wird die gemeinsame Reflexion und räumliche Restitution der Ordnung. Ihr folgt die soziale Reintegration des Paares, die in Form des Gesprächs der Damen ihren Ausgang im Baumgarten nimmt und sich dann im Hofkontext fortsetzt. Indem die im boumgarten abgeschlagenen und im Schwellenraum aufgepflanzten Häupter beim Verlassen desselben abgenommen und angemessen bestattet werden (vgl. V. 9774 f.), wird auch für die Witwen die soziale Ordnung wiederhergestellt. nû vuoren wîp unde man ûz dem boumgarten dan. diu houbet, als ir hôrtet sagen, diu drinne wâren abe geslagen, diu nam man abe den stecken – des êre got Êrecken –, unde wurden boten gesant nâch der phafheit in daz lanz, daz man si begrüebe nâch êren. hie begunde sich êrste mêren diu vreude ûf Brandigân. (V. 9744–9754)

In diesem Zuge verschwindet auch das letzte Merkmal des hermetisch abgeriegelten Bezirks des boumgarten. Dass die vreude ûf Brandigan (V. 9754) wieder einsetzt, ist die letzte Bestätigung dafür, dass die herkömmliche Ordnung des höfischen Raums, zu dem der boumgarten gehört, ebenso wie die soziale Ordnung der Hofgesellschaft wiederhergestellt sind.

5.2.4 Joie de la curt: Verräumlichung eines untauglichen Minnekonzepts Erst am Ende von Erecs abschließender âventiure kann man das Schicksal von Brandigan in Gänze erfassen. Immer wieder wird Erec die umfassende Information über die Art der Herausforderung und ihre Hintergründe verweigert oder nur schrittweise preisgegeben. Dieses gestaffelte Erzählen prägt auch die narrative Erzeugung des boumgarten und seines liminalen Sonderraums. Hartmann entwirft den Burgkomplex Brandigan im Wechsel von Außen- und Innensicht zunächst als konsistenten Imaginationsraum. Burg, Stadt und Baumgarten werden mithilfe von deiktischen Prozeduren und Blicken, in die der Rezipient sein Körperschema versetzen kann, als räumliche Einheit imaginiert. Doch die semantische Codierung unterläuft die Raumeinheit, indem

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innerhalb des Raums semantische Kontraste angelegt werden. Sie nehmen die räumliche Dialektik zwischen Außen und Innen auf und zeigen, dass Außen und Innen auf Brandigan auseinanderfallen: Der Schein trügt. Der Hof von Ivreins leidet unter einer gestörten Ordnung, deren Ausgangspunkt der boumgarten ist. Obwohl er räumlich zu Brandigan gehört, etabliert ihn die Erzählung als Raum einer unterminierten Ordnung und lagert in ihm ein konträres Wertekonzept aus. Dem boumgarten ist ein liminaler Sonderraum mythischen Zuschnitts vorgelagert, der den Zugang mithilfe einer zauberhaften Wolkenmauer und einer sich selbst auf ein Wort öffnenden Pforte streng reguliert. Die mythische Verfassung des Grenzbereichs markiert das Umschlossene, den Baumgarten, als gestörten Raum, der von der höfischen Umgebung getrennt werden muss. Die Schwelle lagert damit für den Hof einen gestörten Raum aus und schützt den zweckentfremdeten boumgarten gleichzeitig vor dem Zugriff der höfischen Öffentlichkeit. Diese beinahe hermetische Abriegelung macht für den Eintritt eines Herausforderers daher eine spezifische Raumpraktik nötig, die die Exklusion aufrechtzuerhalten vermag. Der im Grenzbereich befindliche Steckenring bildet diese sich wiederholende Taktik der Exklusion ab. Zu ihr gehört es, dass der Herausforderer Mabonagrins zunächst selbst aus der höfischen Umgebung abgesondert wird. Ein Zugang zum Baumgarten jedoch ist nur für die Zeit des Kampfes möglich, denn das deviante Wertkonzept einer völlig aus der Gesellschaft zurückgezogenen Minne und die dauerhafte Vereinzelung im boumgarten können nur mit Gewalt vor dem Kollaps bewahrt werden. Im Anschluss bedarf es einer Aussonderung des Besiegten zurück in den Schwellenbereich, der zugleich die Rückkehr der Toten in die höfische Umgebung verhindert. Die narrative Erzeugung des Baumgartens und des umgebenden Schwellenraums ist maßgeblich an Erecs Weg dort hinein gekoppelt. Indem das Erzählen von Baumgartenund Schwellenraum über eine weite Strecke der Erzählung verteilt ist, wird der boumgarten in der Imagination des Rezipienten dauerhaft präsent gehalten. Der Imaginationsraum wird wiederholt aufgerufen und ausdifferenziert, wodurch er als Handlungsraum der Erzählwelt eine hohe Stabilität und Konsistenz erhält. Insbesondere erzählte Bewegung leistet einen großen Beitrag zur narrativen Erzeugung des boumgarten als Raum. Hartmann nutzt dafür nicht nur die Figuren, sondern wiederholt auch hypostasierte, sich in der Erzählwelt bewegende Figuren, in die sich der Rezipient hineinversetzen kann. Im Baumgarten angekommen, wird der Kampf zwischen Mabonagrin und Erec durch agonale Blickverhältnisse und Bewegungen in Szene gesetzt. Die Gegner werden jeweils abwechselnd zu subsidiären Leibern und verleihen dem Raum Polyfokalität. Den Ausgangspunkt für den Kampf und das Zentrum des pseudoparadiesischen Baumgartens bildet nicht nur räumlich Mabonagrins Geliebte in ihrem Zelt. Erecs Sieg transformiert das von ihr ausgehende räumliche und sprachliche Gegeneinander des Kampfes zu einer gemeinsamen Aufarbeitung des Konflikts. Eine schrittweise räumliche und semantische Auflösung des Gartenraums löst die Taktik der Exklusion ab und führt zu einer Reintegration von boumgarten und Paar in den höfischen Raumkomplex und die Gesellschaft.

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Auf Brandigan ist es nicht einfach der Entschluss der Liebenden, abseits der Gesellschaft zu leben, der das höfische Leben stört. Im boumgarten gestaltet Hartmann für das Paar einen Raum, den er zunächst als genuinen Teil des Hofes entwirft. Die Abkapselung von Mabonagrin und seiner amîe stört die räumliche und soziale Integrität Brandigans. Größte Anstrengungen und rohe Gewalt sind nötig, um den der höfischen Gesellschaft normalerweise zugänglichen Baumgarten aus dem Burgkomplex zu lösen und ihn zweckzuentfremden. Die Absonderung der Liebenden vom Hof innerhalb eines eigentlich weitgehend homogenen Hofkomplexes wird zur Provokation, die es zu beheben gilt.83 Die letzte âventiure von Erec und Enite zeichnet sich durch eine räumliche Stabilität und Konsistenz aus, die anderen âventiuren fehlt. In allen âventiuren arbeiten die beiden Protagonisten auf die eine oder andere Weise ihre Krise auf und bringen die dort zu Tage getretenen Rollenkonflikte nach und nach in Einklang. Brandigan bricht aus dieser Kette aus, weil die problematische Balance zwischen Liebe und Gesellschaft hier vom Beginn der Episode räumlich auserzählt wird. Wie gezeigt werden konnte, bietet der boumgarten in seiner grundsätzlichen Zugehörigkeit zum höfischen Raum und in seinem Schwellencharakter die Möglichkeit, die katastrophalen Folgen eines Ungleichgewichts auf engstem Raum auszuerzählen. Die Joie de la curt verräumlicht nicht nur ein deviantes Minne- und Wertkonzept und erzählt dessen Folgen für alle Beteiligten. Sie zeigt ebenso die räumliche und semantische Überwindung dieser nicht gesellschaftsfähigen Minneauffassung. Als Handlungs- und Imaginationsraum gestaltet der boumgarten die Unmöglichkeit aus, sich aus dem gesellschaftlichen Verbund zugunsten der Liebe auszusondern. Das ander paradîse wird dekonstruiert, so dass eine paradiesische Isolation aus der Gesellschaft als verfehltes Ideal für das höfische Zusammenleben entlarvt wird.

5.3 Konrad Flecks Flore und Blanscheflur: Paradigmatisches Auserzählen sô wirt sîn leben wunneclich, wil er sô behüeten sich daz im nihtes sî ze vil, swâz im kume an das zil (V. 15–18)

Ein glückliches Leben kann auf Erden derjenige führen, der sein Ziel trotz aller Widrigkeiten verfolgt. Diese Quintessenz gibt der Prolog von Konrad Flecks Flore und Blan-

 „Der Sonderraum des boumgarte im Hof selbst ist die Provokation.“ Müller, Zwischenräume, S. 299 (Hervorhebung im Original).

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scheflur1 dem Rezipienten mit auf den Weg in die Erzählung. Das gemeinsame Glück der beiden Kinder Flore und Blanscheflur, die am gleichen Tag geboren werden und sich wie ein Ei dem anderen gleichen, wird durch eine hinterlistige Trennung in der Tat in großes Leid verkehrt. Die vorherige Idylle ist zerstört und Flore muss auf der Suche nach der verkauften Blanscheflur allerlei Widrigkeiten erdulden. Dieser Stoff erfreute sich von der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts bis ins hinein in das 16. Jahrhundert einer ungebrochenen Popularität und verbreitete sich ab der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts über ganz Europa. Ein Ausgangspunkt für seine abendländische Rezeption findet sich vermutlich in Spanien oder Frankreich.2 Wann genau Konrad Flecks Bearbeitung entstand, lässt sich nicht eindeutig datieren, allerdings gilt eine Eingrenzung der Entstehungszeit um 1200 im elsässischen Raum als denkbar. Die Literaturgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat den höfischen Roman der Gattung der sogenannten Minne- und Âventiureromane zugeschlagen, obwohl er mit seinen Gattungsgenossen abgesehen von der Makrostruktur wenige Gemeinsamkeiten aufweist. Die Folge sei, so Christine Putzo, eine Marginalisierung der Erzählung gewesen.3 Die neuere Forschung scheint die von der literaturgeschichtlichen Einordnung und Wertung aufgestellten Hürden aber mittlerweile genommen zu haben. Sie hat sich Flore und Blanscheflur etwa mit Blick auf die Konstruktion von Gender und Emotionen, unter Berücksichtigung der Erkenntnisse zu Visualitäts- und Bildlichkeitsforschung4 sowie im Rahmen einer neuerlich betriebenen Dingforschung5 gewidmet, um nur einige untersuchte Gesichtspunkte zu nennen. Dass der Weg zum weltlichen Glück Flore und Blanscheflur natürlich auch durch einen Baumgarten führt, mag vielleicht wenig verwundern. Doch während sich andere hier untersuchte höfische Romane dadurch auszeichnen, dass ihr jeweiliger Baumgarten im Erzählsyntagma wiederholt zum Handlungs- und Imaginationsraum wird, verfügt die Erzählung Konrad Flecks gleich über verschiedene Baumgärten,

 Konrad Fleck: Flore und Blanscheflur. Text und Untersuchungen. Hrsg. von Christine Putzo. Berlin/München/Boston 2015 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters. 143).  Vgl. Fleck, Flore und Blanscheflur, S. 1–27.  Vgl. Christine Putzo: Eine Verlegenheitslösung. Der ‚Minne- und Aventiureroman‘ in der germanistischen Mediävistik. In: Hybridität und Spiel. Der europäische Liebes- und Abenteuerroman von der Antike zur Frühen Neuzeit. Hrsg. von Martin Baisch, Jutta Eming. Berlin 2013, S. 41–70. Putzo bietet nicht nur eine literaturgeschichtliche Forschungsgeschichte der Gattung des ‚Minne- und Aventiureromans‘, sondern diskutiert auch deren mögliche Kriterien kritisch.  Vgl. auch Wandhoff, Ekphrasis, S. 301–316; Haiko Wandhoff: Bilder der Liebe – Bilder des Todes. Konrad Flecks Flore-Roman und die Kunstbeschreibungen in der höfischen Epik des deutschen Mittelalters. In: Die poetische Ekphrasis von Kunstwerken. Eine literarische Tradition der Großdichtung in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Christine Ratkowitsch. Wien 2006, S. 55–76.  Vgl. auch Ingrid Kasten: Der Pokal in Flore und Blanscheflur. In: Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Harald Haferland. München 1996 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur. 19), S. 189–198; Ulrich Hoffmann: Griffel, Ring und andere ding. Fetischisierung und Medialisierung der Liebe in Floris-Romanen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. In: Dingkulturen. Objekte in Literatur, Kunst und Gesellschaft der Vormoderne. Hrsg. von Anna Mühlherr [u. a.]. Berlin/Boston 2016 (Literatur – Theorie – Geschichte. 9), S. 358–388.

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drei an der Zahl. Obwohl der Baumgartenraum im Tristan oder Erec ebenfalls für eine Reaktivierung der Imagination im Verlauf der Erzählung in Anspruch genommen werden, ist Konrad Flecks Roman doch vor allem mit Blick auf das mehrmalige Auftreten verschiedener Gartenräume für die vorliegende Arbeit von Interesse. Zu den Fragen nach der narrativen Erzeugung der Baumgärten und ihrer semantischen Codierung gesellen sich somit weitere: In welcher Beziehung stehen die verschiedenen Gärten zueinander und inwiefern wirkt sich ihre Existenz auf die Makrostruktur der Handlung aus? Welche Funktion erfüllt ein solches ‚Durchspielen‘ von verschiedenen Gartenräumen für die Erzählung vom Schicksal Flores und Blanscheflurs?

5.3.1 Erzählen im Baumgarten Das Erzählen vom Schicksal Flores und Blanscheflurs ist in der Rahmenerzählung in einem boumgarten situiert. Analog zur Einführung des Erzählgegenstands im vorangegangenen Prolog wird der Gartenraum über den Weg vom Allgemeinen zum Konkreten in mehreren Stufen erzeugt und ausdifferenziert.6 Nachdem Konrad Fleck Ruoprecht von Orlent als seine Vorlage identifiziert hat (ez hât Ruopreht von Orlent / getihtet in welschen / mit rîmen ân gevelschen, V. 142–144), springt die Erzählung in eine unbestimmte Zeit und entwirft zunächst einen Natureingang. In einen zîten ez beschach, sô des winters ungemach mit vröiden zergât und der sumerwunne lât der kalten mânôde zît den wehsellîchen strît, so die bluomen entspringent und wunneclîchen singent die vogel in dem walde und uns nâhet balde meige nâch aberellen, sô hât sîn gesellen swaz lebendes ie wart, iegelîchez in sîner art. (V. 147–160)

Obwohl später deutlich wird, dass der boumgarten wohl in Karthargo lokalisiert werden kann – die Erzählerin wird als eines küniges tohter von Kartâge (V. 258) vorgestellt –, bleibt die zeitliche Einordnung unbestimmt, obgleich der frühlingshafte  Zur rhetorischen Verfasstheit des ersten Prologs, bei dem der Autor nach konventionellem Prologmuster den Weg vom allgemein Höfischen zum Spezifischen geht und so die Minne zunehmend „zum ‚legitimen‘ Erzählgegenstand“ (S. 114) macht, vgl. Amelie Bendheim: Wechselrahmen. Medienhistorische Fallstudien zum Romananfang des 13. Jahrhunderts. Heidelberg 2017 (Studien zur historischen Poetik. 22), S. 112–116.

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Natureingang wenigstens eine jahreszeitliche Einordnung des Geschehens ermöglicht, wenn die zyklische Wiederkehr des Frühlings in der Natur in Szene gesetzt wird.7 Wenn der Erzähler das Personalpronomen uns benutzt (V. 156), gemeindet er nicht nur sich, sondern auch die Rezipienten in das Erleben der aufblühenden Frühlingsnatur ein. Erzähler und Rezipient werden zu einer Rezeptionsgemeinschaft, die einen imaginierten Winter erduldet hat. Verben wie zergân (V. 149), entspringen (V. 153) und nâhen (V. 156) konstruieren den Jahreszeitenwechsel als dynamisches Naturereignis, dem die Rezeptionsgemeinschaft erlebend beiwohnt. Als pars pro toto für den Frühling und den beginnenden Sommer bewegen sich die Monate April und Mai auf den Erzähler wie den Zusammenschluss der Rezipienten zu (vgl. V. 156–160). Die Symmetrie und Harmonie der Natur und ihres Jahreszeitenverlaufs wird zu einem allgemeinen Prinzip alles Lebenden erhoben. Während der erste Prolog8 vom Allgemeinen zum konkreten Erzählgegenstand voranschreitet, findet dieses Harmonie-Prinzip seine Konkretisierung etwas später in der geordneten Kommunikation über die Minne und im Kontext der eigentlichen Erzählung, dann in der Harmonie und Unzertrennlichkeit ihrer Protagonisten.9 So legt die Rahmenerzählung ein grundsätzliches Prinzip aus, dessen Instanziierungen sich bis weit in die Erzählung von Flore und Blanscheflur verfolgen lassen. Der Erzähler entwirft in diesem ersten Schritt einen Natureingang in eine Frühlings- bzw. Sommerszenerie. Die sich nach oben kämpfenden Blumen und der ertönende Vogelgesang sind Beispiele für einen wieder aktiv werdenden Naturraum, der neuerlich Dynamik und Schönheit entfaltet und vom Rezipienten als teilnehmendem Beobachter wahrgenommen werden kann. Insbesondere der Thema setzende Beginn der Rahmenerzählung und die Versetzung der Szenerie in eine unbestimmte Zeit sorgen dafür, dass bei den Rezipienten ein überindividuelles mythisches Vorstellungskonzept ‚Frühjahr in der Natur‘ aktiviert wird.

 Diese zyklische Wiederkehr und die folgende Abgrenzung gegen die Umgebung machen den Baumgarten jedoch nicht automatisch zu einem exklusiven Ort, wie Margreth Edigi meint. Vgl. Margreth Egidi: Implikationen von Literatur und Kunst in Flore und Blanscheflur. In: Geltung der Literatur. Formen ihrer Autorisierung und Legitimierung im Mittelalter. Hrsg. von Beate Kellner, Peter Strohschneider, Franziska Wenzel. Berlin 2005 (Philologische Studien und Quellen. 190), S. 173.  Amelie Bendheim untersucht die Mehrfachrahmung und zerlegt sie in ihre strukturellen Elemente, um sie auf ihre Abfolge und Funktion für die Haupterzählung hin zu befragen. Sie stellt fest, dass in Flore und Blanscheflur auf den ersten Prolog (V. 1–146), die Binnengeschichte (V. 147–271) mit zwei weiteren Prologen folgt (2. Prolog: V. 272–345, 3. Prolog: V. 346–358). Vgl. Bendheim, Wechselrahmen, S. 111–192.  Felix Urban stellt fest, dass das Prinzip der natürlichen Harmonie der Homophilie-Annahme der antiken Freundschaftstheorie entspricht und das Narrativ der Ähnlichkeit mitbestimmt, dem sich Urban in Flecks Flore und Blanscheflur widmet. Vgl. Felix Urban: Gleiches zu Gleichem. Figurenähnlichkeit in der späthöfischen Epik Flore und Blanscheflur, Engelhard, Barlaam und Josaphat, Wilhalm von Wenden. Berlin/Boston 2020 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte. 101), S. 209–262, hier S. 249 f.

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Eine erste Ausdifferenzierung des anerzählten Vorstellungskonzepts bietet die Rahmenerzählung zum einen mit dem Auftauchen textinterner Figuren und zum anderen mit der Identifizierung dieser Naturszenerie als boumgarten (V. 164). sus kâmen durch schouwen riter unde vrouwen und durch warten in einem boumgarten der sumergrüene niuwer güete. dâ von wart ir gemüete aller sorgen belôst. der bluomen schîn gap in trôst und der süeze vogelsanc, wan sie des winters getwanc überwunden hâten. (V. 161–171)

Als raumgesättigtes Wort referiert boumgarten auf ein allgemeines und kollektiv verfügbares Vorstellungskonzept. Ausgehend von dieser Grundlage kann die Erzählung den Imaginationsraum schrittweise performativ ausdifferenzieren. Auf natürliche Weise vollzieht sich in der Gartennatur etwa der Jahreszeitenwechsel. Die Anlage des Baumgartens, der für den Menschen eine Erholungs- und Zerstreuungsfunktion hat, unterscheidet sich somit aber deutlich von der außerhöfischen Sphäre. Das sich bietende Schauspiel ist auf den Menschen hin orientiert. Die Augenlust bewegt die Ritter und Damen zum Eintritt in den Baumgarten. Dieser Umstand weist auf die Bedeutung von Sehen und Wahrnehmung für diesen Raum hin, der nicht nur auf die textinternen Figuren, sondern auch auf den Rezipienten als teilnehmenden Beobachter wirkt. Ein Wahrnehmungsraum ist im Entstehen begriffen. Die direktionale Eintrittsbewegung kâmen in (V. 161–164) regt den Rezipienten erneut an, sein Körperschema in die eintretenden Figuren hineinzuversetzen und in der Folge die dargebotenen Eindrücke am eigenen Leib zu imaginieren. Darüber hinaus wird der Baumgarten durch diesen Eintritt von der umgebenden Erzählwelt als Außen abgegrenzt. Der Baumgarten wird zunächst – in Anknüpfung an den Natureingang der Hirtendichtung und speziell der Minnelyrik – mit topischen Merkmalen des locus amoenus ausgestattet: Blumen, Gras sowie Vogelgesang der verschiedensten Arten zieren ihn (vgl. V. 161–187). dâ sach man bluomen unde gras wîz grüene purpervar. alsô dûhte sie diu heide gar mit listen wol gezieret. […] dâ sanc der galander, daz merlîn und diu nahtegal; die hôrte man dâ über al. (V. 174–184)

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Ebenso bedient die Farbvielfalt die insinuierte Wahrnehmungslust der eintretenden Figuren. Sie weist den Gartenraum als höfischen Raum aus.10 Insbesondere die Blumen präsentieren sich in den verschiedensten Farben und werden zum Objekt eines kollektiven Blicks (dâ sach man, V. 174). Die Menge der Damen und Ritter wird zum Blicksubjekt und dient als kollektiver, subsidiärer Leib. Für den Rezipienten wird imaginierbar, „was alle hätten sehen können“.11 Der imaginierten Wahrnehmung am eigenen Leib wird so Nachdruck und Glaubwürdigkeit verliehen. Die räumliche Anlage des Baumgartens steht bislang nicht im Vordergrund. Die origoexklusiv verwendete Raumbereichsdeixis dâ wird mehrfach benutzt, um Eindrücke oder Ausstattungsmerkmale im boumgarten zu verankern, doch eine Relationierung der Elemente bleibt aus. Es ist die Wirkung, die die Gartennatur an den Besuchern zeitigt, die im Vordergrund des Wahrnehmungsraums steht. Die erwachende und aufblühende Natur befreit das Gemüt von Sorgen (vgl. V. 148–167), Blumenpracht und Vogelkonzert spenden Trost (vgl. V. 168 f.) und die grüne Wonne des Sommers löst die Sorgen des Winters in Wohlgefallen auf (vgl. V. 165–172). Insofern erweist sich der Baumgarten als aktiver Raum, der in seiner Pracht und Wahrnehmungsvielfalt auf die Figuren wirkt und in ihrem Innern Veränderungen zeitigt. Stellvertretend für die raumgreifende Vielfalt der Natur wird der gesamte Baumgarten vom Gesang der verschiedenen Vögel erfasst (vgl. V. 182–184). Die zuvor entworfene Naturszenerie wird in V. 161–187 zu einem Gartenraum konkretisiert, in dem die Natur selbst auf die Eintretenden wirkt und sie in eine gehobene, sorgenfreie Stimmung versetzt, sie ruft Frühlingsgefühle hervor. Topische Merkmale des locus amoenus werden als visuelle und akustische Wahrnehmungsreize dargestellt, die der Rezipient dank der eintretenden Menge als Assistenzkollektiv und dank des kollektiven Blickangebots als teilnehmender Beobachter am eigenen Leib imaginieren kann. Die Erreichbarkeit für die höfische Gesellschaft und die Polychromie der Vegetation weisen den Baumgarten als einen Raum der höfischen Sphäre aus. Die Konkretisierung des Imaginationsraums setzt sich fort, denn der erzählerische Blick wird auf das Zentrum des boumgarten verengt, das nun im Laufe des Syntagmas erzeugt wird. Der Rezipient ist daher angehalten, den Imaginationsraum fortwährend auszudifferenzieren und zu konkretisieren. Zunächst wird die höfische Menge im Zentrum des Raumes platziert, bevor um sie herum eine Art Amphitheater erzeugt wird:

 „Weiterhin gelten Farben als Zeichen von Macht und Wohlstand, daher überschlagen sich vor allem der Hof und der höfische Kontext in ihrer Farbigkeit. Überbordende Polychromie wird zum Aushängeschild des Höfischen – ein Aspekt der sich auch besonders für höfische Literatur festhalten lässt.“ Carolin Oster: Die Farben höfischer Körper. Farbattribuierung und höfische Identität in mittelhochdeutschen Artus- und Tristanromanen. Berlin/Boston 2014 (Literatur – Theorie – Geschichte. 6), S. 17. Passend dazu stellt auch Mareike Klein fest, dass Polychromie in heldenepischen Texten genutzt wird, um Herrschaft, aber auch Fremdheit auszustellen und zu verhandeln. Vgl. Klein, Farben der Herrschaft, S. 303–308.  Schulz, Erzähltheorie, S. 385 (Hervorhebung im Original).

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vier boume habeten in guoten smac und schaten: man mahte dâ mit staten vil schône gesitzen, in schâte in hitze der sunnen glast kleine. […] die [vier Bäume, T.S.] wâren von einer paile der besten von Thesaile alsô behenket, ob ieman gedenket wie ûf dirre erden ie bezzeres möhte werden, der kames niht an ein ende. dâ mite wâren vier wende an den boumen ûf geslagen (V. 190–209)

Die Bäume sind um die Menge herum angesiedelt, denn der Schatten ihrer Kronen reicht über die Köpfe der Ritter und Damen und bietet ihnen Schatten. Mit dem gelobten Schattenwurf der Bäume wird der Ausdehnung des Baumrings auf horizontaler Ebene auch das Aufwachsen in die Vertikale hinzugefügt. Eine Art prächtiger Überwurf aus Stoff, eine paile (V. 201), verbindet Ölbaum, Lorbeer, Zypresse und Zeder miteinander, so dass vier Wände entstehen. Wie auch die Zeltkonstruktionen in anderen höfischen Romanen, konstruiert dieser zeltähnliche Aufbau eine Art Innenraum im boumgarten;12 hier wird das Zentrum des Baumgartens gegen die weitere Gartenumgebung abgegrenzt. Eingedenk der Abgeschlossenheit des Baumgartens gegen die Außenwelt, handelt es sich um eine doppelte Abgrenzung. Während sich die Zelte in anderen hochhöfischen Erzählungen jedoch durch und durch als kunstvolle Artefakte präsentieren und daraus auch ihren Zeichencharakter beziehen, bleibt der durch die Planen abgegrenzte Gartenraum ein Hybrid. Einerseits trennen die Stoffbahnen das Gartenzentrum vom restlichen boumgarten ab. In ihrem Innern laden Sitzgelegenheiten als höfische Artefakte zum Verweilen ein (vgl. V. 221–223). Andererseits benötigt diese Konstruktion die Baumkronen und damit die Gartennatur, um eine tatsächliche Herauslösung des Inneren zu bieten, so dass das Zentrum die Eigenschaft des Baumgartens als höfischer Naturraum insgesamt potenziert. So erzeugt der Erzähler eine Art intimen Innenraum, der die besten Bedingungen für die folgende, höfische Kommunikation bietet. Die Verbindung dieses Raumteils zum Baumgarten bleibt aber ungebrochen. Das zeigt auch der Brunnen, der seinen Ursprung in der Gartenmitte hat und sich von dort in den Baumgarten hinein ausdehnt, so dass der Imaginationsraum wiederum eine räumliche Ausdehnung erfährt.  Zum Zelt als Handlungsraum und Zeichen vgl. Stock, Zelt als Zeichen und Handlungsraum, S. 67–86. Bedenkt man den noch aufkommenden Gesprächgegenstand so wäre die Zeltkonstruktion der Rahmenhandlung nach Stocks Unterscheidung wohl am ehesten als Minnezelt zu kennzeichnen, obwohl Minne nicht selbst ausagiert, sondern nur imaginiert wird.

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Die besondere Wirkmacht der Natur differenziert sich im Zuge ihrer räumlichen Anreicherung ebenfalls aus. Der von den Bäumen ausgehende Schatten und ihr Geruch komplettieren den boumgarten als multisensorischen Wahrnehmungsraum (vgl. V. 190 f.). Die Natur wirkt jedoch nicht nur auf den Menschen, sondern der durchquerende Bach sorgt gleichzeitig dafür, dass der Baumgarten über eine ausreichende Feuchte verfügt (vgl. V. 214 f.), um sowohl für die Vegetation als auch die Besucher ideale Bedingungen zu schaffen. Der so erzeugte und ausdifferenzierte Baumgarten wird als Raum der höfischen Zusammenkunft und aufgrund seiner Schönheit und positiven Wirkmacht als Ideal eines locus amoenus erzählt. Daran ändern weder die zeitliche Unbestimmtheit13 noch die ebenso mythisch anmutende Aufschwellung der Gartengesellschaft: ir [der Menge, T.S.] was wol tûsent unde baz, / die dar komen wâren (V. 224 f.). Obgleich erst im Folgenden tatsächliche Handlung einsetzt, erweist sich der boumgarten nicht als kulissenhafter, statischer Ort,14 sondern als dreidimensionaler Wahrnehmungsraum, an dessen Wahrnehmungsqualitäten der Rezipient imaginativ teilhat. In diesem aufgespannten Raum setzt nun mit den beginnenden Gesprächen der Gartenbesucher Handlung ein. Die mit der Jahreszeit aufkommenden Frühlingsgefühle versetzen die Hofgemeinschaft in eine geeignete Verfassung, um über Minne zu reden. Je zwei Männer und zwei Frauen finden sich zusammen.15 Als diu riterlîche schar in vröiden gar daz gestüele besaz […] unlange sie verbâren sie enretten von der minne, diu ir aller sinne zuo der zît verkêrte und sie dar an lêrte. zwei und zwei gelîche vil bescheidenlîche retten dâ besunder. (V. 221–233)

 Gegen Hupfeld, der dem Baumgarten eine rein kulissenhafte Funktion für die Rahmenerzählung zuschreibt: „Diese absolute Geschichtslosigkeit, die zugleich auch die Schicksalslosigkeit der Figuren bedeutet, und die Stilisierung ins Beschauliche machen den idyllischen Charakter der Szene im Baumgarten aus.“ Klaus Bernhard Hupfeld: Aufbau und Erzähltechnik in Konrad Flecks Floire und Blanscheflur. Hamburg 1967, S. 35.  So etwa Bendheim, die den Garten der Rahmenhandlung als „völlig statischen Naturraum“ begreift. Bendheim, Wechselrahmen, S. 116.  Ich folge hier der Interpretation von Caroline Emmelius: Gesellige Ordnung. Literarische Konzeptionen von geselliger Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. Berlin/Boston 2010 (Frühe Neuzeit. 139), S. 60 f.

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„Diese Konstruktion vermag die Öffentlichkeit der mengîn einerseits zu reduzieren, ohne dabei andererseits einer beargwöhnten heimlichkeit einzelner Paare Vorschub zu leisten.“16 Es entstehen durch diese Ordnungen Teilöffentlichkeiten der dialogischen Rede. Die Gartennatur und das Gesprächsthema Minne werden eng miteinander verbunden, indem Ersteres die emotionale Disposition für das Letztere herstellt und es so wiederum zu einer Erhöhung des muotes beiträgt (vgl. V. 234–241). Konrad Fleck entwirft in der Sukzession des Erzählens einen Vorstellungsraum, der als idealer Raum der höfischen Zusammenkunft und des gemeinsamen Erzählens konstruiert wird. Er wird zum prädestinierten Raum für Kurzweil und Zerstreuung der Hofgesellschaft.17 Auf der Schwelle zwischen Öffentlichkeit und Intimität respektive Heimlichkeit ist der Baumgarten deutlich vom öffentlichen Raum der Repräsentation geschieden und verhindert eine übermäßige Heimlichkeit des Gesprächs durch die Zusammensetzung der Gesprächspartner. Neben einigen Eigenschaften der Anlage, etwa Polychromie der Vegetation oder zeltähnliche Konstruktion zum Aufenthalt im Gartenzentrum, weist sich auch der kommunikative Akt als genuin höfisch aus.18 Das Publikum ist vom natürlichen Zyklus der Jahreszeiten affiziert und bietet dem Rezipienten so die Möglichkeit, sich als Teil der Menge im boumgarten zu imaginieren. Auf diese Weise können die multisensorischen Wahrnehmungen als Wahrnehmungen am eigenen Leib imaginiert werden. Die Beschaffenheit des Wahrnehmungsraums wirkt sich mittelbar auf die Themenwahl der höfischen Gesellschaft aus und begünstigt die naturanaloge Organisation der Gesprächspartner, so dass das allgemeine Prinzip vom Beginn der Rahmenerzählung an seine Gültigkeit für die Besucher unter Beweis stellt. Sogar eine homogene Zuhörer-Sprecher-Ordnung ist möglich, bei der dialogische Rede ganz selbstverständlich und reibungslos in monologische Rede übergehen kann, wenn die beiden Schwestern anheben, eine Geschichte zu erzählen (vgl. V. 242–272).19 In Form des gegenseitigen Erzählens und des gemeinsamen Zuhörens in einem Raum, der eigens die dafür benötigte Gemütslage hervorzubringen vermag und in seiner Eigenschaft als Schwellenraum die nötige Konstellation aus Intimität und Öffentlichkeit ermöglicht, inszeniert die Rahmenerzählung die ideale höfische Beschäftigung.20 Ob die so dargestellte Idealität allerdings eine direkte Kontrafaktur der tatsächlich von Dichtern vorgefundenen Erzählumstände ist, kann nur Spekulation bleiben.21 Die wei Emmelius, Gesellige Ordnung, S. 61 (Hervorhebung im Original).  Man nimmt an, dass die Gärten im Mittelalter gerade im Sommer dazu genutzt wurden, das Hofleben in die kultivierte Natur und die frische Luft zu verlegen. Vgl. Frühe, Das Paradies ein Garten, S. 215; Vgl. Hennebo, Gärten des Mittelalters, S. 62.  Vgl. Egidi, Implikationen, S. 174–176.  Vgl. Emmelius, Gesellige Ordnung, S. 58–64.  Vgl. Margit Dahm-Kruse: Diu valschen minner nieman lât / komen dar sie kâmen. Minne zwischen christlicher Fügung und künstlerischer Verhandlung in Konrad Flecks Flore und Blanscheflur. In: Euphorion 110,3 (2016), S. 355–387, hier S. 367.  Lieb/Müller tragen die Eigenschaften der Erzählsituation im boumgarten mit Hinblick auf Raum, Zeit, Publikum und Erzähler zusammen. Ausgehend von diesen Erkenntnissen diskutieren sie, inwiefern

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tere Fokussierung der Narration auf eine der karthagischen Schwestern etabliert textintern für die nun beginnende Erzählung eine neue Erzählerfigur. Durch ihre Schönheit und ihre höfische Erscheinung fügt sich die Dame fast ganz natürlich in den entworfenen Raum (vgl. V. 250–258). Die Erzählerin wird zum ordnenden Fixpunkt, denn die Aufmerksamkeit wird innerhalb des abgehängten Kreises so auf sie konzentriert, dass sie als ‚vertikale Ordnungskraft‘ den Moduswechsel der Kommunikation organisiert.22 Die Erzählsituation innerhalb der Rahmenerzählung sorgt für eine Verdopplung der Aufführungssituation, denn „inner- und außertextlicher Erzählraum werden vergleichend übereinander geblendet“.23 Da die eigentliche Erzählung nicht selbst im Gartenraum beginnt, eröffnet dieser einen „narrativen Reflexionsraum“, der literarische Kommunikation verräumlicht und sie, möglicherweise auch in ihrer problematischen Situativität, als Prozess reflektiert.24 Diese Reflexion des kommunikativen Gelingens teilt Konrad Flecks höfischer Roman mit anderen Versionen dieser Stofftradition wie etwa dem altfranzösischen Conte Floire et Blancheflur und Giovanni Boccaccios Filocolo.25 Mithilfe der neu etablierten Erzählerin und dem verdoppelten Erzählakt nähert sich die im boumgarten situierte Rahmenerzählung der nun folgenden Erzählung von Flore und Blanscheflur. Das natürliche Prinzip, dass alles Lebende harmonisch auf ein anderes bezogen ist (vgl. V. 158–160), findet in der Erzählung dieser außerordentlichen Minne seine neuerliche Bestätigung. Die Erzählerin aktualisiert darüber hinaus die Ausführungen des ersten Prologs für die Welt der Rahmenerzählung und deutet ihre Realisierung innerhalb der eigentlichen Flore-Erzählung an: Minne ist immer mit Leid verbunden. Flore und Blanscheflur zeigen, wie sich ihre zwischenzeitlich mit Kummer beladene Minne letztlich zur großen Freude für beide entwickelt. wer mac sanfte liep gewinnen? des hânt uns bilde gegeben zwei geliebe, der leben was von minnen kumberlich, diu sider wurden vröiden rîch. […] daz was Flôre und Blanscheflûr,

das Idealbild Rückschlüsse auf spezifische, situative Problematiken des literarischen Erzählens erlaubt. Vgl. Ludger Lieb, Stephan Müller: Situationen literarischen Erzählens. Systematische Skizzen am Beispiel von Kaiserchronik und Konrad Flecks Flore und Blanscheflur. In: WolfSt 18 (2004), S. 33–57.  Vgl. Emmelius, Gesellige Ordnung, S. 58–64.  Bendheim, Wechselrahmen, S. 117.  Vgl. Bendheim, Wechselrahmen, S. 119.  Velte untersucht, wie über metanarrative und metafiktionale Strategien jeweils eine spezifische Erzähltradition etabliert wird. Vgl. Laura Elisa Velte: Vom Erzählen wiedererzählen. Selbstreferentielle Erzählstrategien in Floire et Blancheflor, Konrad Flecks Flore und Blanscheflur und Giovanni Boccaccios Filocolo. In: Renarrativierung in der Vormoderne. Funktionen, Transformationen, Rezeptionen. Hrsg. von Thorsten Glückhardt, Sebastian Kleinschmidt, Verena Spohn. Baden-Baden 2019 (Faktuales und fiktionales Erzählen. 7), S. 149–178, hier S. 173.

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die nâch grôzer swaere sît mit liebe lebeten manige zît beidiu mit ein ander (V. 290–301)

Die narrativen Strategien der Rahmenerzählung sorgen dafür, dass der Rezipient sich als ein Zuhörer der Erzählung im boumgarten imaginieren kann, obwohl dieser im Syntagma nicht mehr auftaucht und auch die Rahmenhandlung nicht geschlossen werden wird. Nichtsdestotrotz bleibt der boumgarten im Hintergrund der Erzählung präsent. Besonders virulent wird der subkutane Bezug zur Rahmenerzählsituation, wenn auf intradiegetischer Ebene Baumgärten auftauchen, so dass sich eine Verdopplung der Handlung im boumgarten und eine Verdopplung der Gartenräume selbst vollzieht.

5.3.2 Idyllische Kinderminne Während der Baumgarten der Rahmenerzählung trotz der hervorgerufenen Frühlingsgefühle explizit nur für das Reden über Minne gedacht ist, agieren die Protagonisten ihre Kinderminne am vollkommensten wiederum in einem Baumgarten aus. Ab dem Alter von fünf Jahren werden die Kinder Flore und Blanscheflur auf Drängen Flores gemeinsam erzogen. Ungeachtet ihres jungen Kindesalters verstehen sich die beiden, so der Erzähler, außerordentlich auf die Minne und deren vuoge. dô begunden sie sich verstân wie man sol wesen undertân der minne, der sî haben wil. der vuoge hâten sie sô vil daz ir witze wâren unglîch sô vil jâren. (V. 615–620)

Summarisch schildert der Erzähler ihr Verhalten als typisch für Liebende: die Abwesenheit des einen schmerzt den anderen, Blicke und Rede offenbaren Zuneigung, Küsse werden ausgetauscht (vgl. V. 686–699). Der Erzähler resümiert: alsô hâte under ir brusten / minne ir stat besezzen (V. 700 f.). Einblicke in das Bewusstsein der Kinder erhält der Rezipient vor allem mithilfe der Psychonarration. In deren Zuge beschreibt der Erzähler auch, dass die große, sorgenlose Freude der Kinder vorerst öffentlich in ihrer kindlichen Art verborgen bleibt. Doch die Erkenntnisse, die die Kinder aus ihrer gemeinsamen Lektüre der ‚Minnebücher‘ erlangen, deuten zumindest an, dass sich die klugen Kinder allein aus ihrem Verhalten heraus noch nicht im Klaren über die Ursache ihrer Gefühle und deren Folgen sind (vgl. V. 702–731). Dass es sich um Minne handelt, diagnostiziert vorerst nur der Erzähler für den Rezipienten. Denn erst die Lektüre schließt den Kindern das typische Schicksal der Minne und der Minnenden auf, das dem bereits bekannten Prinzip ‚auf Minnefreu-

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den folgt unausweichlich Leid‘ gehorcht. Erst diese aus der Literatur gewonnene Erkenntnis macht die Kinder verständig oder wenigstens noch verständiger für ihre eigene Minne und das vorerst noch leidlose Glück (vgl. V. 743–755). dâ vunden sie geschriben an von minnen vil manigen list, […] Alsô dô den kinden wart ze rehte kunt der minnen art. dô wart ir vröide merre, wan sie gedâhten verre nâch der liebe die sie hâten. (V. 714f. u. 743–747)

Der Erzähler beansprucht im Erzählen dieser Entwicklung eine große Rolle. Er schildert das Verhalten der Kinder summarisch, ohne von konkreten Ereignissen zu erzählen, und deutet das Verhalten und die Erkenntnisse der Kinder im Rahmen seiner Erzählerrede für den Rezipienten. Erst die folgende Baumgartenszene bietet ein konkreteres Geschehen in der Kindheitserzählung. Erstmals kommen die beiden Protagonisten im gemeinsamen Gespräch zu Wort. Der Baumgarten wird zum Raum des gemeinsamen, intimen Gesprächs und des Auslebens der Kinderminne. Obgleich der Besuch des boumgarten vom Erzähler als regelmäßig markiert wird,26 unterscheidet sich die Szene vom bislang Erzählten, indem zum einen der Raum der Handlung auserzählt wird und zum anderen Figurenrede dort ihren Platz findet. Der boumgarten wird, so der Inferenzschluss, am Hof des Heidenkönigs Fenix imaginiert. Denn immer, wenn die Kinder vom Unterricht am heimischen Hof heimkehren, gehen sie ohne Umschweife in diesen Garten. sô sie heim kâmen, sô giengen die zarten in einen boumgarten. der was schoene unde wît. dar inne hôrte ze aller zît Flôre und sîn âmîe die vogel ûf dem zwîe. dar zuo stuont dâ von grase gewahsen ein schoener wase, mit bluomen bedecket und mit boumen bestecket rôt brûn grüene wîz. (V. 756–767)

 Wendungen wie swenn sie ze schuole sollten gân (V. 749) oder sô sie heim kâmen, / sô giengen die zarten / in einem boumgarten (V. 756–758) suggerieren eine wiederholbare und regelmäßige Verknüpfung von Ereignissen.

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Die Zutrittsbewegung giengen in (V. 757 f.) trennt den Baumgarten räumlich von seiner höfischen Umgebung ab. Flora und Fauna werden mit der deiktischen Prozedur dar inne (V. 760) im Baumgarten platziert27 und gestalten sein Inneres aus, so dass eine Innen-Außen-Differenzierung stabilisiert wird. Dass Flore und Blanscheflur offen über ihre Minne sprechen und Zärtlichkeiten austauschen können, verfestigt die Abgrenzung des Baumgartens von seiner höfischen Umgebung auch semantisch. Dauernder Vogelgesang (vgl. V. 760–762) weist den Baumgarten durch die Konkreszenz der Jahreszeiten als zeitenthobenen Raum aus, in dessen Natur Unterschiede und Veränderungen suspendiert sind.28 Vervollständigt wird die Gartenausstattung durch die topischen Ausstattungsmerkmale Gras, Bäume und Blumen. Deren Polychromie dient wie schon in der Rahmenerzählung dazu, den Raum als Teil der höfischen Sphäre zu markieren. Der Zeitvertreib der Kinder im Baumgarten ist ebenfalls ein durch und durch höfischer. Sie nehmen dort Mahlzeiten ein, betreiben gemeinsam Kommunikation und leben in einem kleineren Rahmen auch Zweisamkeit aus. die gespiln ervröiweten sich, swann sie dar inne sâzen. sô sie danne gâzen, alsô vil sô sie geluste, Flôre und Blanscheflûren kuste (V. 770–774)

Für ähnliche Zeitvertreibe dürften die realen Baumgärten tatsächlich auch für die ganze Hofgesellschaften gedacht gewesen sein.29 Problematisch ist im Falle von Flore und Blanscheflur jedoch ihre unterschiedslose Gemeinsamkeit in einem lieblichen, selbst Veränderungen und Unterschieden enthobenen Gartenraum. Denn dieser Zustand kollidiert mit der Realität, die den heidnischen Königssohn Flore und Blanscheflur als Tochter einer christlichen Gefangenen durch Standes- und Glaubensunterschiede trennt. Die in Prolog und Rahmenerzählung vertretene und im Baumgarten der Kinderminne aktualisierte Ähnlichkeitsnorm tritt so in Konkurrenz zur Position des Heidenkönigs.30 dô der künic dô vernam disiu leiden maere, dô was ez im swaere, beidiu zorn und ungemach.

 Wiederholt wird diese deiktische Prozedur außerdem, wenn die Freuden erzählt werden, die die Kinder im Garteninneren erfahren (vgl. V. 771).  Vgl. Urban, Gleiches zu Gleichem, S. 220 f.  Vgl. Hennebo, Gärten des Mittelalters, S. 69–71; vgl. Frühe, Das Paradies ein Garten, S. 227–244.  Vgl. Urban, Gleiches zu Gleichem, S. 221 f. Im Gegensatz zu Egidi, die die Episode der Kinderminne als völlig sujetlos wertet, plädiert Urban dafür, in der beschriebenen Kollision die semantische Grenzüberschreitung im Sinne Lotmans zu sehen. Vgl. Margreth Egidi: Der Immergleiche. Erzählen ohne Sujet. Differenz und Identität in Flore und Blanscheflur. In: Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. Hrsg. von Matthias Meyer, Hans-Jochen Schiewer. Tübingen 2002, S. 133–158.

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[…] wan er wol erkande daz er wîp niemer genaeme, swenn er ze sînen tagen kaeme, von sîner genôzschefte. (V. 860–873)

Die Geschehnisse im boumgarten und auch der Gartenraum selbst bleiben, anders als etwa bei Tristan und Isolde oder Engelhard und Engeltrud, von diesen Entwicklungen jedoch verschont. Die Intimität des boumgarten bleibt erhalten, so dass er für die weitere Erzählung emblematisch für das Idyll der Kinderminne stehen kann. Einzig der Erzähler und mit ihm der Rezipient haben Einblick in die im Baumgarten zur Darstellung gebrachte Intimdyade. Die Ausgestaltung des boumgarten der Kinderminne kennzeichnet eine geringe Dynamik und räumliche Spezifik. Beide sorgen dafür, dass der Raum, die Protagonisten und ihr Zeitvertreib als homogene und von der Außenwelt abgekapselte Einheit erscheinen. Insofern wirkt der Gartenraum daran mit, Ähnlichkeit, Ununterscheidbarkeit und Konkreszenz zu inszenieren. „Der locus amoenus des Baumgartens wird damit zu einem Wunschort, der allem Weltlichen, das sich durch Unterschiede, Vergänglichkeit und den Wechsel zwischen Freude und Leid auszeichnet, enthoben ist“.31 Ähnlich wie beim boumgarten der Rahmenerzählung ist der Aufenthalt im Baumgarten Flores und Blanscheflurs ein multisensorisches Erlebnis, so dass der Gartenraum die freudige Gestimmtheit seiner kindlichen Besucher hervorbringt (vgl. V. 770 f.). Der Baumgarten erzeugt so die Voraussetzung und bietet den Schutz, unter dem Flore und Blanscheflur zum ersten Mal selbst über ihre Liebe sprechen. Sie artikulieren ihre Freude und gegenseitige Zuneigung, die sie nie mehr missen möchten und deren Intensität sie sich selbst kaum verständlich machen können. ‚Nû Flore, süezer amîs, joch minne ich iuch ze glîcher wîs und weiz got noch mêre. doch wundert mich sêre waz mir sî und wâ von.‘ (V. 787–791)32

Das Lesen und Erzählen von Minne, das Sprechen über Minne und das Ausleben von Minne stehen in der Baumgartenszene und auch ihrem Umfeld in einem engen Wechselverhältnis. Ihr Fühlen und Handeln finden die Kinder in Literatur wieder und thematisieren es im Gespräch. Die Literatur wiederum verhilft ihnen dazu, die Natur der

 Urban, Gleiches zu Gleichem, S. 220 f.; ähnlich Bendheim: „Im eklatanten Gegensatz zur und völlig unbeeinflusst von der lebensweltlichen (Roman-)Wirklichkeit ist in der Kinderminne jede Differenz aufgelöst.“ Bendheim, Wechselrahmen, S. 172.  Für Flores Einschätzung vgl. V. 777–785.

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Minne zu erkennen. Es wird ein wechselseitiges Repräsentationsverhältnis konstruiert: „jedes von beiden [Liebeserfahrung und Literatur, T.S.] bildet sich in einer infiniten Bewegung im jeweils anderen ab“.33 Zum Wechselverhältnis zwischen Minne und Minnekommunikation gehört außerdem der boumgarten als deren Raum. So wie sich der boumgarten des Rahmens als prädestinierter Raum für höfische Minnekommunikation erweist, so ist auch der boumgarten der Kinderminne der ideale Raum, die Besonderheiten der kindlichen Verbundenheit zu beherbergen. Hier wie dort stellt der Gartenraum nicht nur die Rahmenbedingungen – vor allem Intimität und Schutz – her, sondern wirkt entsprechend auf die Gemüter seiner Besucher. Insofern bildet der Baumgarten der Kinderminne eine Reminiszenz an den der Rahmenerzählung.34 Kommt es im Rahmen der Erzählung zu einer Verdopplung der Aufführungssituation, so sorgt das erneute Auftreten eines boumgarten als Handlungs- und Imaginationsraum für eine Verdopplung der Gartenimagination. Die Verdopplung der Gartenräume stellt nicht nur eine mise en abyme dar. Sie deutet zum ersten Mal auf eine Präsenz der Gartenräume auf der Ebene der Selektion der erzählten Räume hin.35 Der Rezipient, der sich als Zuhörer der Rahmenerzählung imaginieren soll, imaginiert nun gewissermaßen einen ‚Baumgarten im Baumgarten‘,36 in dem die Erzählung stattfindet. Die Aufforderung vernement wie sie tâten (V. 748) spielt die vorgestellte, mündliche Rezeptionssituation ein und erinnert an die kommunikative Rahmung der folgenden Erzählung von und deren Kommunikation über Minne. Beide Baumgärten werden als ideale Räume inszeniert. Diese Idealität beziehen sie aus der Zusammenfügung von Höfischheit, Minne und lieblicher Natur im Schwellenraum boumgarten wie schon in der Rahmenerzählung. Im Gegensatz zu den Baumgärten des Tristan und Erec befindet sich das Spannungsverhältnis zwischen außerhöfischer und höfischer Sphäre, Intimität und Öffentlichkeit in den Gärten der Rahmenerzählung und der Kinderminne in einem – freilich fragilen – Gleichgewicht. Sie erzählt so die von Natur aus bestehende und um die Lektüreerfahrung ergänzte Minne zwischen Flore und Blanscheflur. Dass die vermeintlich „auffallend ‚sujetlose‘ Erzählung“37 in Aufruhr gerät, hängt nicht mit dem Idyll selbst, sondern seiner höfischen Umgebung zusammen. Indem Flores Vater Standes- und Glaubensunterschiede als Differenzen etabliert, treten diese in Konkurrenz zu der im Kontext der Kinderminne aufgebauten Ähnlichkeitsnorm.38 Das  Egidi, Der Immergleiche, S. 143.  Vgl. Egidi, Implikationen, S. 177 f.  Nünning spricht von der paradigmatischen Achse der Selektion, die für literarische Raumdarstellung zu untersuchen sei, und meint damit die räumliche Selektionsstruktur der Erzählung. Vgl. Ansgar Nünning: Formen und Funktionen literarischer Raumdarstellung: Grundlagen, Ansätze, narratologische Kategorien und neue Perspektiven. In: Raum und Bewegung in Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn. Hrsg. von Wolfgang Hallet, Birgit Neumann. Bielefeld 2009, S. 33–52.  In Anlehnung an Amélie Bendheim, die von einem ‚Raum im Raum‘ spricht, den Garten der Kinderminne aber vor allem als utopisch und hyperbolisch versteht. Vgl. Bendheim, Wechselrahmen, S. 170.  Egidi, Der Immergleiche, S. 136.  Vgl. Urban, Gleiches zu Gleichem, S. 229.

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sich nun abzeichnende Leid der Minnenden kommt allerdings nicht überraschend. Schon im Vorfeld der Baumgartenszene und im Baumgarten der Kinderminne selbst wird wiederholt das mit erfreulicher Minne unverrückbar verbundene Leid angedeutet. daz ist ir natûre, daz sî den minnaere machet mit grôzer swaere sêre wunt, dâr nâch heil, dicke trûric, denne geil, dicke riuwic, dar nâch vrô, und daz er brinnet als ein strô (wan sî in des niht erlât) und machet daz er dar nâch stât sunder mâze kuole. (V. 732–741)

Vor dem Hintergrund der Literaturerfahrung, die Minne und Leid als unauflösbare Verbindung darstellt, wird den Kindern die Exzeptionalität ihrer Minne bewusst. Sie wissen die Besonderheit, dass sie von jeglichem Leid bislang verschont geblieben sind, zu schätzen. Die janusköpfige Art der Minne unterscheidet sich vorerst noch von der friedlichen und glücklichen Minne der jungen Kinder. Zugleich wird vom Erzähler so die Vermutung genährt, dass das notwendigerweise mit der Minne verbundene Leid nur aufgeschoben und nicht aufgehoben sein könnte. Obwohl der Baumgarten selbst von Leiderfahrungen für Flore und Blanscheflur verschont bleibt, werden die Vermutungen für den Rezipienten über den Baumgarten hinaus auf die folgende Handlung gerichtet. Da er eine von Mühsal (noch) unberührte Kinderminne zur Darstellung bringen kann, bleibt der Baumgarten als idealer Raum ein wichtiger Referenzpunkt für die weitere Handlung. Die Unbeschwertheit der tiefen Minne zwischen Flore und Blanscheflur im Baumgarten kann die Erzählung so als wiederzugewinnendes Ideal präsent halten. Dass der boumgarten der Kinderminne zur Chiffre für die ideale, leidlose Minne im Schutz der Gartennatur wird, offenbart sich außerdem in den mehrfachen Rückbezügen der Erzählung auf diese Szene. Unmittelbar nach dem Ende der Baumgartenszene wird erzählt, wie sich die Kinder die Zeit mit gemeinsamen Schreibübungen vertreiben. Gegenstand dieses gemeinsamen Schreibens sind ganz offenbar die Gartenerfahrungen: an ir tevelîn si dî schriben von den bluomen wie sie sprungen, von den vogelîn wie sie sungen, von minnen vil und anders niht; dâ von was ir getiht. (V. 820–824)

Wie schon im boumgarten selbst – und im Baumgarten der Rahmenerzählung – fällt die multisensorische Wahrnehmung mit Minne und dem Schreiben davon zusammen. Blu-

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men und Vögel sind elementare Bestandteile beider Baumgartenszenen.39 Bei ihrem Aufenthalt im Baumgarten kennen die Kinder zudem keine andere Beschäftigung als das Sprechen über oder das Ausagieren von Minne. Auf Figurenebene verdeutlicht dieser Rückbezug, wie stark die Protagonisten von der Gartennatur affiziert werden und wie sehr sie den Aufenthalt in ihr und die völlige Konzentration auf ihre gegenseitige Minne genießen. Auf diese Weise wird die Gartenszene der Kinderminne für den Rezipienten reaktiviert und konserviert. Obwohl sich die Schreibübungen fast unmittelbar an die Baumgartenszene anschließen, markiert Konrad Fleck so die Bedeutung, die dem boumgarten als ‚Merkraum‘ für die weitere Erzählung zukommen wird.40 Rückbezüge, seien sie direkt in Form von weiteren Gartenräumen oder eher indirekt, indem auf einzelne Aspekte von Raum oder Handlung angespielt wird, dienen dazu, die Idylle der Kinderminne im boumgarten für den Rezipienten zu reaktivieren und mit der vorliegenden Szene in Verbindung zu bringen. Die Baumgartenidylle wird so als wiederzugewinnendes Ideal für die Erzählung konserviert. Die Funktion, die Idylle zu konservieren und ihr innerhalb der Erzählwelt ein Denkmal zu setzen, erfüllt auch das Scheingrab, das Flores Eltern errichten lassen, um dem Sohn den angeblichen Tod seiner Geliebten glaubhaft zu machen.41 Im Grabmal für Blanscheflur wird die Minne der Protagonisten exterritorialisiert und als Gedächtnisinhalt der Vergangenheit zugeordnet.42 Die Artifizialität und der angedeutete mythische Ursprung des Grabkunstwerks – bî dem grabe hâten vier gote / vier boume gesetzet, / die der wint niht enletzet / an löibern und an zwîen (V. 2056–2059) – bilden einen deutlichen Gegensatz zur harmonischen Fügung im Schwellenraum des boumgarten. Die Schilderung des Grabes hat Haiko Wandhoff als typisch für einen mittelalterlichen EkphrasisGebrauch identifiziert, der sich von architektonisch-technischen Wunderwerken fasziniert zeigt.43 Das Scheingrab ist einerseits ein ästhetisches Substitut für Blanscheflur selbst.44 Doch der Automat stellt andererseits das Beisammensein des Paares im Schutz des boumgarten ihrer Kinderminne dar: swer sie sach, und erkander / wie diu kint geschaffen

 In der Rahmenerzählung wird bereits das Bewegungsverb entspringen (V. 153) in Zusammenhang mit den Blumen gebraucht. Dies verleiht der Gartennatur nicht nur eine gewisse Dynamik, sondern betont die große Affizierung der Sinne durch die Blumen. Sie springen dem Betrachter förmlich entgegen.  Als Orientierung in der Raum- und Bedeutungsstruktur kommt dem Baumgarten als Merkraum eine ähnliche Funktion zu, wie Uta Störmer-Caysa sie festen und wiederkehrenden Raumarrangements im Artusroman beimisst. Hier wie dort dienen sie als „Strebepfeiler für die Imagination“. Vgl. Störmer-Caysa, Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen, S. 50–52, hier S. 50.  Vgl. Urban, Gleiches zu Gleichem, S. 231–235.  Vgl. Klaus Ridder: Ästhetisierte Erinnerung – erzählte Kunstwerke. Tristans Lieder, Blanscheflurs Scheingrab, Lancelots Wandgemälde. In: LiLi 105 (1997), S. 71–74; ähnlich auch Egidi, Implikationen, S. 180–183; Dahm-Kruse, Diu valschen minner, S. 373–376.  Vgl. Wandhoff, Bilder der Liebe, S. 55–76; vgl. auch Wandhoff, Ekphrasis, S. 301–315.  Vgl. Wandhoff, Bilder der Liebe, S. 64 f.

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wâren, / der sach diu zwei gebâren / jenen zwei gelîche (V. 1998–2001). Der mechanisch organisierte Austausch von Blumen (vgl. V. 2002–2006) kann wohl als symbolische Handlung für die gegenseitige Bezogenheit der Liebenden aufeinander im Baumgarten gelesen werden. Noch deutlicher wird der Rückbezug im wundertätigen Gespräch der ‚Kinder-Automaten‘ (vgl. V. 2030–2042). Die gegenseitige Versicherung der Minne ist deutlich dem vorherigen Gartengespräch nachempfunden. Die für den boumgarten so signifikante Verbindung von Kommunikation über Minne und der Minne selbst bildet das Kunstwerk nach, indem sich ausgiebige Küsse der Abbilder von Flore und Blanscheflur an ihr ‚Gespräch‘ anschließen. dar nâch underkusten sie sich, diu bilde (daz was wunderlich) mê danne tûsent stunt. ungeserwet was ir bêder munt, unz des windes kraft zergie und er sie mit genâden ruowen lie. (V. 2043–2048)

Die schmerzhafte Wirkung des Grabmals liegt für Flore in eben dieser Ähnlichkeit der Situationen begründet: wan er gesach si gebâren / als er mit ir gewone was (V. 2216 f.). Die Forschung bezeichnet die Umgebung des Scheingrabes vor dem Münster vielfach als Garten, ohne aber genauer darauf einzugehen, was sie als solchen qualifiziert. Obgleich das Grabkunstwerk die Baumgartenszene der Kinderminne nachbildet und diese so in der Imagination des Rezipienten zu reaktivieren vermag, ist seine Umgebung selbst kein (Baum-)Garten. Die notwendige Bedingung, von der Umgebung abgegrenzt zu sein, ist für das Grab und seine Umpflanzung nicht gegeben. Im Gegenteil, das Scheingrab mit seiner Lage vor dem Münster profitiert in seiner Wirkung gerade von der fehlenden räumlichen und semantischen Abgrenzung gegenüber der Umgebung. Daz was vor eines münsters tor. swer dar in gie oder vor, der mahte schouwen daz werc; dâ was umb dehein berc. ez mahte schouwen glîche beidiu arm und rîche nâch des küniges gebote. (V. 2049–2055)

Denn jeder, der die Kirche besucht, kann und soll – so kalkuliert es der König – das Kunstwerk sehen, denn als öffentliches Anschauungsobjekt beansprucht das Grabmal eine viel stärkere Faktizität und soll in seiner Schönheit zugleich dem Verdacht entgegenwirken, Flores Eltern könnten der in Stand und Glauben unterschiedenen amîe ihres Sohnes feindlich gesinnt gewesen sein. Zu diesem Ausstellungscharakter des Grabmals und seiner Umgebung gehört, dass es nicht begehbar ist, sondern als Gesamtkunstwerk ein Anschauungsobjekt bil-

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det. Hierin ist wohl der markanteste Unterschied zu einem Baumgarten zu sehen. Während Baumgärten darüber hinaus der höfischen Gesellschaft vorbehalten sind und sich in einer höfischen Umgebung befinden, ist das Grabmal zwar in einem gesellschaftlichen Kontext platziert, der aber nicht exklusiv höfisch ist. Das Grabmal, das vermutlich gut auf einer Art Kirchfriedhof imaginiert werden kann, verfügt über ein religiöses Umfeld, so dass seine Betrachtung nicht nur der höfischen Gesellschaft vorbehalten ist (vgl. V. 2053–2055). Auch wenn es sich nicht um einen Garten handelt, so ist das Scheingrab als artifizielle Ausformung des locus amoenus konstruiert. Blumen und Gras umgeben das Grabmal, das an allen vier Ecken von Bäumen umstanden wird, denen der Erzähler je eine symbolische Bedeutung zuweist. Interessant ist freilich der zusätzliche intratextuelle Rückbezug. Die Nennung vier konkreter Bäume und ihre Anordnung um das Grabmal herum ähneln in auffälliger Weise der Anordnung der mit Stoff umhängten Bäume in der Rahmenerzählung. Hier wie dort ist die Minne ein Gegenstand der Anschauung und der Kommunikation. Dem trauernden Flore bleibt die tatsächliche Liebe allerdings verwehrt. In der öffentlichen Installation des Scheingrabes wird die Intimität der Kinderminne im Baumgarten nachgebildet. Da das Grab öffentlich sichtbar ist, wird diese abgebildete Intimität jedoch vollkommen aufgehoben.45 Die Minnebeziehung, die im Schutz des boumgarten ausgelebt werden konnte, ist entdeckt und – so zumindest die Sicht von Flores Eltern – in der Existenz des Scheingrabes zugleich vernichtet. „Das Grabmal inszeniert damit eine Heimlichkeit, wie sie die Kontrollorgane des Hofs zu verhindern suchten“.46 Anders als die Wirklichkeit erlaubt nur das Kunstwerk eine andauernde Wiederholung der vormals intimen Situation. Flores Reaktion offenbart ebenfalls die bedeutende Diskrepanz zwischen Abbildung und Abgebildetem. Die liebliche Natur des Baumgartens versetzte ihn ehedem in Hochstimmung. Das Gegenteil bewirkt die amoene Umgebung des Scheingrabes, denn sie führt ihm mit den kunstvoll gestalteten Automaten schmerzhaft die verloren geglaubte Liebe und die zerstörte Idylle des Kinderminne-Baumgartens vor Augen. Anders als von den Auftraggebern intendiert, führt die Versetzung der Liebe in die Vergangenheit nicht zu einer Beruhigung und zum Trost Flores. Stattdessen entpuppt sich das falsche Grabmal als Präfiguration der Handlung, indem es sich Flore gegenüber als Täuschung enttarnt und ihn zur Wiedererlangung seiner Geliebten und der gemeinsamen Minne motiviert.47 Obwohl die Grabinstallation selbst kein Baumgarten ist, aktiviert es als eine Art Reminiszenz doch den Baumgarten der idealen Kinderminne als Erinnerungsraum. Die Abweichungen des Kunstwerks von seinem Bezugspunkt stellen zugleich aus, dass der intime Schutz des Baumgartens verloren ist und mit ihm die Zeit der leidlosen Minne zwischen Flore und Blanscheflur. Noch stärker als in den Schreibübungen

 Vgl. Egidi, Implikationen, S. 139–162.  Müller, Zwischenräume, S. 297.  Vgl. Wandhoff, Bilder der Liebe, S. 55–76.

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wird der Baumgarten der Kinder im Scheingrab Blanscheflurs als Chiffre für den idealen Zustand der intimen Liebe der beiden Protagonisten inszeniert. Der Rezipient wird angehalten, nicht nur die Baumgartenszene in der Imagination zu reaktivieren, sondern sie darüber hinaus in Beziehung zur gegenwärtigen Szene zu setzen. In einem Schema von Verlust, Rückeroberung und Wiederherstellung dient die Idylle des boumgarten als wiederzugewinnendes Ideal. Vor diesem Hintergrund muss sich der Fortgang der Erzählung ‚bewähren‘.

5.3.3 Baumgarten des Amirals Die Suche nach Blanscheflur führt Flore in das Reich eines Amirals nach Babylon. Flore kehrt beim Zöllner Daries ein und erfährt durch ihn vom Amiral und der architektonisch-räumlichen wie sozialen Verfasstheit seines Hofes. Neben einem Turm mit prächtiger Ausgestaltung und wunderbarer Wasserversorgung umfasst der Hof auch einen Baumgarten. Bevor Daries aber von diesem erzählt, informiert der Zöllner Flore über das besondere Format der babylonischen Königinnenwahl. sîn muot [des Amirals, T.S.] ze vrömder wîse stât, daz im und anders nieman zimt. swele vrouwen er ze amîen nimt, der pfliget er schône: sî treit mit im die krône ein jâr und niht mêre; sô muoz sî leider die êre koufen harte tiure: er heizet sî in eime viure oder sust verliesen. (V. 4368–4377)

Die Minne des Amirals und die Halbwertszeit des Königinnentums unterliegen einer Jahresfrist. Die Wahl einer Nachfolgerin wird als öffentliches Ereignis der Herrschaft organisiert, indem alle untergebenen Fürsten zu einem Hoftag zusammenkommen, in dessen Rahmen die neue Dame des Amirals ermittelt wird. Die Bestätigung der Partnerinnenwahl durch den Hoftag ist in der höfischen Literatur nicht unbekannt. Die jährliche Wiederkehr dieses Ereignisses mutet jedoch ähnlich mythisch-magisch an wie die gesamte Hofhaltung des babylonischen Herrschers. In diesen Kontext stellt Daries seine Erzählung von der Beschaffenheit und Organisation des fremdartigen Rituals. Die nun beginnende Baumgartenszene nimmt Flore im Sprechzeitraum der Kommunikation mit Daries wahr. Er muss das Erzählte, das nicht physisch präsent ist, imaginieren. Diese Konstellation macht Flore zu einem subsidiären Leib für den Rezipienten. Die Figurenrede des Zöllners spricht den Rezipienten durch die Figur Flores hindurch an und leitet ihn an, das Gehörte zu imaginieren, bevor sich die Handlung tatsächlich im Baumgarten abspielt.

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sô er ein ander minne wil, sô kument sîne vürsten gar ûzer vrömden landen dar, die im sind unterân. sô heizet er die herren gân in sînen boumgarten, dar umbe daz sie warten und daz sie dâ sîen unz er sîne amîen under den vrouwen vinde die er ze gesinde in sîme turne hât. (V. 4386–4397)

Summarisch schildert Daries die Situation. Hoftag, Herrscher und die Heiratskandidatinnen versammeln sich in einem Baumgarten. Das raumgesättigte Wort boumgarte dient dazu, beim Rezipienten ein allgemein und überindividuell verfügbares Vorstellungskonzept zu aktivieren. Bis zu seiner Ausdifferenzierung fungiert es als Grundlage für die Schilderung. Aus vrömden landen (V. 4388) und dem vermutlich in der Nähe gelegenen Turm treten alle in das Innere des Baumgartens ein. Eine deiktische Prozedur aus Bewegungsverb und Präposition oder Deiktikon leistet eine AußenInnen-Differenzierung und grenzt den Baumgarten von dem umgebenden Amiralshof ab. Die Untertanen wohnen nun einem noch unbekannten Geschehen bei, unz er [der Amiral, T.S.] sîne amîen / under den vrouwen vinde (V. 4394 f.). Mit nû vernement vrömden sin, / wie er den juncvrouwen tuot (V. 4400 f.) hebt Daries an, vom eigentlichen Ritual zu erzählen. Doch diese Schilderung wird noch eine Weile zugunsten der Baumgartenanlage an sich aufgeschoben. Bemerkenswert ist, dass mithilfe des Imperativs analog zur Szene der Kinderminne im Baumgarten die Aufforderung zuzuhören die Mündlichkeit der Kommunikation in Erinnerung ruft. An dieser Stelle ist sie sogar verdoppelt. Denn einerseits erzählt Daries Flore von dem, was ihn am Amiralshof erwartet, und andererseits muss diese Erzählung als eingebettet in die Erzählung der karthagischen Königstochter im boumgarten (der Rahmenerzählung) gedacht werden. Der Rezipient kann sich also in doppelter Weise als Zuhörer imaginieren. Der boumgarte der ist wît, und stât geloubet ze aller zît den summer und den winter lanc. dar inne ist der vogele gesanc sô süeze und sô klar ze gelîcher wîse über jâr von der vogele stimme (V. 4403–4409)

Die Ausmaße des boumgarten sind mit dem Adjektiv wît (V. 4403) eher unpräzise und topisch bestimmt. Nichtdestotrotz wird damit eine räumliche Ausdehnung des Gartenraums suggeriert. Eine besonders prominente Eigenschaft des Baumgartens ist das Feh-

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len von Jahreszeiten, deren Veränderung auf die Natur wirkt (vgl. V. 4404 f., 4432–4435, 4451–4453 u. 4458–4460). Die Bäume tragen über das gesamte Jahr hinweg Blüte und Frucht zur gleichen Zeit. Die Vögel singen ohne Unterschied ebenfalls zu jeder Zeit. Obwohl Winter und Sommer als Jahreszeiten genannt werden (vgl. V. 4405), mangelt es der Gartennatur an zyklischer Veränderung. Die Natur ist nicht nur stillgestellt, sondern die Jahreszeiten wachsen in ihr, wie der gleichzeitige Blüten- und Fruchtstand zeigen, zusammen. Diese Konkreszenz der Jahreszeiten ist ein typisches Merkmal mythischer Räume.48 Neben den edelen boumen von art (V. 4431) werden auch Blumen, Kräuter, eine Quelle und Wohlgeruch als topische Ausstattung des Baumgartens genannt. Wiederholt werden sie mithilfe der origoexklusiven Raumbereichsdeixis dar oder dâ in Kombination mit der Präposition inne im Vorstellungsraum des Baumgartens platziert und dienen seiner Ausdifferenzierung. Origo dieser deiktischen Prozeduren ist der Sprechzeitraum von Daries und Flore, denn es fehlt bis hierher an Figuren, die innerhalb der imaginierten Szene handeln, für den Rezipienten zu subsidiären Leibern werden könnten und eine origoinklusive Deixis ermöglichten. Die Ausstattung des boumgarten kennzeichnet neben seinen mythischen Qualitäten vor allem die Exotik von Flora und Fauna. Er beherbergt Vögel der unterschiedlichsten Arten, die kein man ie vernam, / sie waeren wilde oder zam (vgl. V. 4417 f.), und Daries weiß zu berichten, dass die exotischen Bäume eigens durch den Amiral und unter großem Aufwand angeschafft wurden. Ihre Kostbarkeit sei weder mit Silber noch mit Gold aufzuwiegen (vgl. V. 4436–4439). er hât den garten umbemûret und schône gezinnet. ein wazzer dar umb rinnet, und bringet guot gesteine in daz lant: ez ist Eufrâtes genant. daz ist sô tief und alsô breit, daz sie jehent mit wârheit daz niht lebendes, ez envlüge, in den garten iht kumen müge. (V. 4440–4448)

Obgleich der boumgarten ein Teil des höfischen Raumes ist, trennt ihn eine Mauer von seiner höfischen Umgebung ab. Diese Grenze wird ergänzt durch einen ringsherum führenden Wassergraben. Diese Kombination macht die Grenze nahezu unüberwindbar, denn nicht einmal ein fliegendes Lebewesen könnte sie überqueren (vgl. V. 4447 f.). Den Fluss, der einen Teil der Grenze bildet, zeichnet räumlich und semantisch durch zweierlei aus. Erstens handelt es sich bei dem Fluss um den Euphrat. Er fließt nicht nur durch Babylon und ist ein Fluss des Vorderen Orients, sondern er ist neben Tigris, Pison und

 Ernst Cassirer bezeichnet das „Gesetz der Konkreszenz“ als eine zentrale Eigenschaft im mythischen Denken. Vgl. dazu Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Das mythische Denken, S. 78–86, hier S. 78.

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Gihon als Paradiesfluss bekannt (vgl. Gen. 2,10–14). Zweitens: er bringet guot gesteine in daz lant (V. 4443). Die direktionale Fließbewegung des Flusses verbindet das Paradies mit dem boumgarten des Amirals. Dem Imaginationsraum verleiht das zum einen Gerichtetheit und sorgt zum anderen für die räumliche Einordnung Babylons im Osten und damit in der Nähe des irdischen Paradieses. Ähnlich wie im Iter ad paradisum des Straßburger Alexander diffundiert die Exorbitanz des Paradieses über dessen Grenze in die Welt hinaus.49 Der Ursprung der kostbaren Edelsteine, so wird suggeriert, ist das Paradies selbst. Nachdem die Anlage und die Bestandteile des Amiralgartens in diesem ersten Schritt räumlich ausdifferenziert worden sind, konzentriert sich Daries’ direkte Rede vorerst auf das Gartenzentrum. In diesem Vorgehen gleicht die Szene der narrativen Erzeugung des Baumgartens in der Rahmenerzählung. Dort wird ebenfalls zunächst eine Gesamtschau des boumgarten mit seinen darin befindlichen topischen Bestandteilen vorgenommen, bevor das Gartenzentrum in den Blick des Erzählers rückt und im Anschluss daran das Kommunikationsgeschehen im Baumgarten erzählt wird. Ähnlich wie in der Rahmenerzählung ist die Mitte des Baumgartens durch Bepflanzung markiert. Ein boum dâ enmitten inne stât, der grôze gezierde hât, wan er ist über jâr bebluot von rôten bluomen als ein bluot und wirt niemer val. dar ûfe singet diu nahtegal beidiu naht und tac, daz man wol hoeren mac. […] ein brunne springet dar under, der ist sô wunderlîcher tugent daz irz kûme gelouben mugent (V. 4449–4464)

Waren es dort mehrere Bäume, die ein Rund bildeten, ist es hier ein einzelner boum, der dâ enmitten inne stât (V. 4449). Die deiktische Prozedur bindet den Baum an den Vorstellungsraum und weist ihm seinen Platz in diesem zu. Mit der Statik des Verbs stân wird der Baum als fixes Zentrum des Imaginationsraums markiert. Ebenfalls ganzjährig mit Blättern und Blüten geschmückt hebt sich dieser Baum jedoch durch seine einfarbigen, roten Blüten ab. Während Pracht und Vielfalt ansonsten durch Polychromie dargestellt sind, zeichnet den Baum in der Mitte eine Monochromie aus, die mit der Farbe Rot auch auf die Blüten referiert, in deren Schutz Flore in den Turm

 Auf dem Weg zum Paradies stellen Alexander und seine Gefährten beim Befahren des Paradiesflusses ähnliche Beobachtungen an: Dô sâhen si fliezen / dar in obiz unde loub, /daz vil sûzelîchen ruoch. / […] Ouh quamen dâ mite geflozzin / manic scône blûme (V. 6314–6323). Vgl. Pfaffe Lambrecht: Alexanderroman. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Hrsg., übers. u. komm. von Elisabeth Lienert. Stuttgart 2007 (RUB. 18508). Darin Iter ad paradisum V. 6221–6570.

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der Damen gelangte (vgl. V. 5520–5623). [D]ar ûfe (V. 4454) und dar under (V. 4462) verleihen dem Raum nun auch auf der vertikalen Achse Ausdehnung, so dass der Gartenraum als dreidimensionaler Imaginationsraum ausdifferenziert wird. In dieser ersten narrativen Erzeugung des Gartens als Imaginationsraum werden verschiedene semantische Codierungen aufgerufen. Die Exotik und Pracht schildern einerseits die herrscherliche Potenz des Amirals. Das Fehlen von Jahreszeiten und der Edelstein führende Euphrat kennzeichnen den Baumgarten als mythischen Raum, der sich von der umgebenden Erzählwelt unterscheidet. In ihm treten Phänomene der Konkreszenz auf, so dass die Bäume Blüten und Frucht zugleich tragen und die Qualitäten des benachbarten Paradieses zumindest teilweise in den Herrschaftsbereich des Amirals hineindiffundieren. Der boumgarten des Amirals ist semantisch somit nicht nur exotischorientalisch, sondern auch in Ansätzen paradiesisch codiert. Die Wirkung des boumgarten wird sogar expressis verbis mit dem Paradies verglichen: dar inne ist der vogele gesanc sô süeze und sô klar ze gelîcher wîse über jar von der vogele stimme, daz nie man wart sô grimme noch sô junc, noch sô wîs noch sô tump, noch sô grîs, er enwürde wol gemuot, stolz, geil und vruot als in dem paradîse (V. 4406–4415)

Bei genauerer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass die Paradiescodierung mehrfach gebrochen ist. Zum einen besteht eine religiöse Diskrepanz, denn bei dem Amiral handelt es sich um einen heidnischen Herrscher, von dem bereits anzunehmen ist, dass er zur unchristlichen Gewalt neigt. Immerhin hat Daries bereits berichtet, dass der Amiral seine ‚abgelegten‘ Ehefrauen töten lässt. Zum anderen sind die Attribuierungen des paradiesischen Zustands polyvalent. Die Adjektive stolz, geil und vruot beschreiben das Ergebnis der Baumgartenwirkung. Sie können zum Teil auch pejorativ konnotiert sein. stolz kann nicht nur ‚prächtig‘ oder ‚stattlich‘ bedeuten, sondern auch ‚übermütig‘.50 Ebenso bedeutet geil nicht nur ‚fröhlich‘, ‚heiter‘, sondern ebenfalls ‚übermütig‘ oder ‚wild‘.51 Am deutlichsten entzieht sich noch vruot einer negativen Konnotation. Bezogen auf Gemütszustände bedeutet es beispielsweise ‚munter‘ oder ‚froh‘.52

 Vgl. Georg Friedrich Benecke, Wilhelm Müller, Friedrich Zarncke: Art. stolz. In: BMZ 2 (1866), S. 657b–658a.  Vgl. Kurt Gärtner, Klaus Grubmüller, Jens Haustein: Art. geil. In: MhdWB 2 (2021), S. 285–287; Georg Friedrich Benecke, Wilhelm Müller, Friedrich Zarncke: Art. geil. In: BMZ 1 (1854), S. 494a–494b.  Vgl. Georg Friedrich Benecke, Wilhelm Müller, Friedrich Zarncke: Art. vruot. In: BMZ 3 (1866), S. 389a–389b.

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In Verbindung mit der heidnischen Umgebung deutet diese Wortwahl auf eine eher negativ konnotierte Paradiesanspielung hin. Das Erreichen des Edelsteine führenden Euphrats ist im Übrigen auch für den Protagonisten des Straßburger Alexander kein Zeichen von Auserwähltsein, sondern vielmehr ein Ausweis seiner Hybris. Der erzeugte Imaginationsraum deutet an, dass es sich um das pervertierte Paradies eines Heiden handelt. Die damit verbundene Störung des Handlungsraums entfaltet vor allem die folgende Schilderung des Rituals. Sie verleiht der narrativen Erzeugung des boumgarten als Raum im Sinne de Certeaus außerdem Dynamik und Gerichtetheit. Die Schilderung des Rituals schließt sich unmittelbar an die ausführliche narrative Erzeugung des Baumgartens als Imaginationsraum an und greift auf den Anfang der Gartenerzählung des Daries zurück. Dort schilderte Daries, dass die Frauen aus dem zuvor beschriebenen Turm in den Baumgarten gebracht werden. Wie sie und auch der Hofrat den zweifach abgegrenzten boumgarten betreten, ist für den mythischen Raum offenbar nicht von Interesse. Ausgangspunkt des Rituals ist der Bach, der in der Gartenmitte entspringt. In Anlehnung an den Euphrat wird die Klarheit seines Wassers mit der eines Kristalls verglichen (V. 4466 f.). Der Vorgang der Auswahl einer neuen Frau für den Amiral ist zweistufig gestaltet und beginnt mit einer Jungfrauenprobe. dar über müezent sie alle, sô man sie versuochen wil, ir sî lützel oder vil, schrîten her und aber hin. ist keiniu danne under in diu man hât gewunnen, sô wirt der uns von dem brunnen zestunt rehte rôt. swer diu ist, diu muoz den tôt kiesen in kurzen vrist. (V. 4468–4477)

Zur Probe muss jede der Damen zweimal den Bach überschreiten. Die Figurenbewegung verleiht dem Baumgarten Dynamik und räumliche Gerichtetheit und macht ihn nun auch zum Handlungsraum. Die doppelte Überquerungsbewegung intensiviert diesen Effekt und referiert auf die bereits zwischen Baum und Quelle etablierte obenunten-Relation. Übertritt eine Frau, die bereits einem Mann beigelegen hat, den Bach, färbt sich sein Wasser rot und zeigt damit an, dass ihre fehlende Jungfräulichkeit sie als geeignete Frau für den Amiral disqualifiziert. In seiner Verfärbung bildet das Wasser mit den oberhalb hängenden Blüten des Baums eine monochrome, rotfarbige Einheit. Doch „[R]ot ist in seiner Symbolik eine der polyvalentesten Farben“. Positiv symbolisiert die Farbe beispielsweise Mut, Kraft, Liebe und Freude. So etwa im Versteck des Blumenkorbs. Im Gegensatz dazu steht Rot unter anderem für Blut, Tod, Sünde, irdisches Leid

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und Verdammnis.53 Obwohl es im Kontext der Probe auch um Minne geht – die Extension dessen wird noch zu thematisieren sein –, referiert die Farbgebung hier auf den negativen Symbolbereich der Farbe. Die Monochromie, die sich von der Vielfarbigkeit der anderen Gartenräume deutlich abhebt, fungiert als Zeichen für eine gestörte Ordnung.54 Denn die Rotfärbung des Wassers und die damit visualisierte fehlende Jungfräulichkeit sind gleichbedeutend mit einem Todesurteil. Auf mythische Weise erbringt die Gartennatur selbst den entscheidenden Beweis, der über Leben und Tod der Anwärterinnen entscheidet. Die Probe funktioniert ähnlich wie beim Steckenring des Erec-Baumgartens nach dem Prinzip des juxta hoc, ergo propter hoc. Die Gegenprobe dieses Tests besteht darin, dass die den Bach überschreitenden Jungfrauen keine Farbveränderung auslösen. Sie bestehen die Probe. Obwohl diese Probe vom Amiral ausgeht und er sie versuochet hât (V. 4484), erzeugt erst der mythische Gartenraum performativ die entscheidende Erkenntnis. Er ist nicht nur handlungsauslösend, sondern handelt sogar selbst. Nach diesem Prinzip funktioniert auch der zweite Teil des Auswahlrituals, denn wieder übernimmt die Natur des boumgarten eine prominente Funktion. Der Amiral befiehlt den verbleibenden Anwärterinnen, sich vom Bach unter den Baum und damit zur Quelle des Wassers zu begeben. Das zuvor als Zentrum des Imaginationsraums identifizierte Ensemble wird für beide Schritte der Probe zum Handlungsraum. dar nâch heizet er sie gân under den boum ze ringe. dâ ist ir gedinge trûric unde swaere, wan daz ist unwandelbaere, diu dâ ze vrouwen wirt erkorn, sî müeze sîn verlorn hin umb der jârgezît. […] der boum ist gemachet sô mit zouber, als ich waene, (sîn art diu ist seltsaene), als ez der amiral gebôt, daz einer sîner bluomen rôt muoz ûf die maget vallen, die er vor in allen in sîme herzen minnet. (V. 4486–4503).

 Oster, Carolin: Die Farben höfischer Körper. Farbattribuierung und höfische Identität in mittelhochdeutschen Artus- und Tristanromanen. Berlin/Boston 2014 (Literatur – Theorie – Geschichte. 6), S. 150 f., hier S. 150.  Vgl. Oster, Farben höfischer Körper, S. 239.

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[Z]e ringe meint zum einen eine ringförmige Anordnung der Damen, während es sich zum anderen auf den dort wartenden Hofrat, das Gericht, bezieht. Die origoexklusive Raumbereichsdeixis dâ knüpft das Schicksal der Frauen an die Position unterhalb des Baums. Die Auswahl der Königin leistet erneut selbsttätig die Gartennatur, indem auf magische Weise eine rote Blüte auf die Erwählte hinabfällt. Während die dynamische Überquerungsbewegung der Frauen im ersten Schritt eine Zustandsveränderung des Flusswassers bewirkte, ist die Konstellation im zweiten Schritt umgekehrt. Die Jungfrauen stehen still im Kreis und eine Blüte bewegt sich vom Baum auf eine von ihnen hinab. Obgleich die Blüte anzeigt, wer die neue Frau des heidnischen Herrschers wird, ist sie weder Zeichen der Freude noch der Minne. Schließlich besiegelt die Auswahl den Tod der künftigen Ehefrau in genau einem Jahr. In Ansätzen wird der zweite Schritt des Verfahrens jedoch auch mit Minne in Verbindung gebracht. Auf mythischmagische Weise korreliert die Blütenentscheidung nämlich mit der vom Amiral empfundenen Minne. Die Wahl fällt auf diejenige, die der Herrscher aus seinem Harem am liebsten hat. Ein weiteres Mal beweist der boumgarten Handlungsmacht. In einem performativen Akt macht die herabfallende Blüte die Beregnete zur Dame des Amirals. Unmittelbar zeitigt dieser Akt Folgen, denn die maget man beginnet / heizen vrouwe über al (V. 4504 f.). Auch wenn der Abschluss der Probe offenbar eine bestätigende Hochzeit nach sich zieht (vgl. V. 4506 f.), geht doch der entscheidende Akt vom Handlungsraum selbst aus. Das Ergebnis der Probe verbreitet sich demnach in Windeseile in der Öffentlichkeit der höfischen Gesellschaft. Das ist wenig verwunderlich, denn die Wahl der Heiratskandidatinnen ist kein intimer Vorgang, der im Nachhinein das öffentlichkeitswirksame placet des Hoftages benötigt. Vielmehr ist die jährliche Wahl der richtigen Gemahlin ein öffentliches Herrschaftshandeln und repräsentiert die Macht des heidnischen Herrschers. Das Spannungsverhältnis zwischen Öffentlichkeit und Intimität bzw. Heimlichkeit, das den boumgarten als Schwellenraum ausmacht, ist im Amiralsgarten eindeutig zugunsten des Ersteren aus dem Gleichgewicht gebracht. Indes verkörpert er das Gegenteil der bisherigen Gartenräume, bei denen das Gleichgewicht entweder gewahrt blieb (im Baumgarten der Rahmenerzählung) oder eher zugunsten der Intimität auserzählt wurde (wie im Baumgarten der Kinderminne). Dahingegen hat der Baumgarten des Amirals eine „landesöffentliche Rechtsbedeutung als Gerichts- und Versammlungsort“.55 Was normalerweise im Schutz der Intimität geschieht, ist öffentlich in einem Raum ausgestellt, der eigentlich nur bedingt für Öffentlichkeitsfähiges geeignet ist. So findet erneut eine Überkreuzung der beiden Sphären innerhalb des Gartenraums statt.56

 Küsters, Garten, Baumgarten, S. 174.  In Anlehnung an Müller, der mit Bezug auf das Grabmal und die Kinderminne feststellt: „In der Öffentlichkeit findet Heimliches statt und in der Heimlichkeit Öffentlichkeitsfähiges.“ Müller, Zwischenräume, S. 297.

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Der Baumgarten des Amirals dient weder dem höfischen Zeitvertreib noch als Schutzraum für intime Minne. Die Probehandlung im Baumgarten ist nur peripher mit Minne verknüpft. Zudem wird die Minne des Amirals für die Auserwählte von der Grausamkeit des Rituals überschattet. Mehr noch, die Minne des Amirals erweist sich in mittelbarer Zukunft als tödlich. Die bisherigen Gartenräume zeichneten sich dadurch aus, dass erstens die Gartennatur eine der Minne zuträgliche Stimmung herzustellen vermochte und der Baumgarten zweitens den idealen Raum für die Kommunikation über Minne oder die Minne selbst bildete. Der babylonische Baumgarten hingegen negiert beide Eigenschaften. Zwar hebt der Gartenraum die Stimmung seiner Besucher, doch scheint es, als sei Übermut das Ergebnis. Der Vergleich mit dem Paradies fokussiert somit nicht den glücklichen, von Gott ungeschiedenen Zustand der ersten Menschen, sondern hebt auf die Überschätzung und Renitenz ab, die Adam und Eva das Paradies kosteten.57 Der Gartenraum wird durch seine mythische Raumgestaltung bestimmt, die sich der Zöllner durch nichts anderes als Zauber erklären kann: der boum ist gemachet sô / mit zouver, als ich waene / (sîn art diu ist seltsaene) (V. 4496–4498). In dieser Verfasstheit besitzt der Gartenraum eine direkte Beteiligung an der mythisch-magischen Prozedur der Frauenwahl. All dies ist nur im Kontext der heidnischen Exotik des Vorderen Orients denkbar.58 Sofern Minne im Auswahlritual des Amirals eine Rolle spielt, ist sie untrennbar mit Grausamkeit und Tod verknüpft. Der Minne des heidnischen Herrschers von Babylon fehlt es ganz offenbar an Innigkeit, Intimität, von steter Verbundenheit ganz zu schweigen. Seine Minne entpuppt sich als deviant und pervertiert. In der Baumgartenszene wird er als falsch Minnender inszeniert.59 Konrad Fleck ordnet dem Amiral als falsch Minnendem mit dem mythisch-magischen Baumgarten, der zu einem öffentlichen Raum der Herrschaftsausübung umfunktioniert ist und sich als pervertiertes Paradies herausstellt, den entsprechenden Raum für seine Damenwahl zu. Die Relevanz dieses Berichts durch Daries wird spätestens klar, wenn der Zöllner Flore informiert, dass die nächste Wahl in Kürze anstehe und Blanscheflur die besondere Gunst des Herrschers genieße. Es sei daher damit zu rechnen, dass sie als seine Gemahlin gewählt werde (vgl. V. 4511–4535). Zu diesem Zeitpunkt käme eine Rettung für Blanscheflur und eine gemeinsame Heimkehr des Liebespaares zu spät. Allerdings gelingt es Flore, in den Turm zu seiner Geliebten zu gelangen. Doch beide werden  Vgl. Finsterbusch, Der Garten in Eden, S. 33–51.  „Die magischen Prozeduren gehören zu den Regeln der Heidenwelt, die eben so sind, weil Heidenregeln ungerecht sein dürfen und sollen.“ Uta Störmer-Caysa: Lose Enden. Nichterzähltes und Unbeendetes in Konrad Flecks Flore und Blanscheflur. In: Hybridität und Spiel. Der europäische Liebesund Abenteuerroman von der Antike zur Frühen Neuzeit. Hrsg. von Martin Baisch. Berlin 2013, S. 335.  Die falsche Minne des Amiral hänge – so Dahm-Kruse – vor allem mit seinem Heidentum zusammen. Diese Verbindung zeige sich auch in den Artefakten und Orten heidnischer Provenienz. Vgl. Dahm-Kruse, Diu valschen minner, S. 382. Der übergeordneten These, dass Artifizialisierung (bei Schulgarten, Grabmal, Turm und Baumgarten) einem sich wiederholenden Sündenfall gleichkomme, indem die natürliche Liebe künstlich überformt werde, kann indes nicht zugestimmt werden.

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dort vom Amiral entdeckt. Flore kann eine sofortige Tötung abwenden, indem er sich das Wissen um die anstehende Gartenversammlung und deren Öffentlichkeit zunutze macht. Er bittet, in diesem Rahmen eine Gerichtsverhandlung zu erhalten: sît doch morne anevâhent iuwer hôchgezît nâch dem site, sô êrent iuwer vürsten dâ mite daz sie vernement iuwer klage, und dâ wider waz ich sage. mîner schulde ist doch sô vil daz ich vür wâr wizzen wil daz ich von rehte erstirbe. (V. 6450–6457)

Der Amiral tobt ob der Aussicht, die Wahl seiner Gemahlin – der Erzähler ruft das Vorgehen dieser Wahl erneut in Erinnerung (vgl. V. 6462–6476) – werde von der Verhandlung über Flores und Blanscheflurs Schicksal verzögert. Am folgenden Morgen werden beide gefesselt in den rinc (V. 6481) geführt. Mit rinc wird nicht nur die Gerichtsversammlung bezeichnet, die im Baumgarten abgehalten wird, sondern diese ist auch in Form eines Rings um die Delinquenten platziert. Im Zentrum des Baumgartens, in dem die Rituale zur Königinnenwahl – wie aus Daries’ Schilderung bekannt – abgehalten werden, entsteht durch die Anordnung der Gerichtsversammlung wiederum ein liminaler Raum. Dort, wo sonst ein mittelbares Todesurteil für die ausgewählte Gattin gefällt wird, wird nun über die Zukunft von Flore und Blanscheflur geurteilt. Über die innige Minne der Protagonisten wird demnach in einem Handlungsraum entschieden, der sich für den Rezipienten bereits als pervertiertes Paradies eines falsch Minnenden erwiesen hat. Der Bezug Flores sowie des Erzählers auf das anstehende Ritual reaktiviert den Baumgarten als Imaginations- und Handlungsraum für den Rezipienten. Die Reaktivierung der Imagination schließt zum einen die räumliche Dynamik des Geschehens und zum anderen die damit verknüpften semantischen Codierungen ein. Allem Leid zum Trotz betont der Erzähler Flores und Blanscheflurs innige Verbundenheit: ir vröide was zergangen, doch beleip diu liebe staete: sie mahte kein ungeraete von einander gescheiden. (V. 6492–6495)

Dass der Baumgarten ein öffentlicher Versammlungsraum und kein Raum der Minne ist, bestätigt der Erzähler, wenn er verlauten lässt, dass die Einrichtung des Baumgartens vom Amiral eigens für seine Hoftage veranlasst wurde: den [Baumgarten, T.S.] er gemachet hâte dar zuo / mit gezierde wol getân, / swenn er hof wollte hân (V. 6514–6516). So lässt der Erzähler zunächst keinen Zweifel daran, dass das Schicksal seiner Protagonisten besiegelt ist. Die anstehende Verhandlung über die beiden Liebenden sorgt zudem mit ein michel menegîn, / grâven, vrîen, künige, herzogen, / und daz liut von der

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stat (V. 6538–6540) für eine große Zahl von Zuschauern. Im schon bekannten Raum des Baumgartens sitzt der Rat, wie man schließen kann, nun unter dem Baum an der Quelle zusammen. Der Amiral fordert den Tod für die Entdeckten und macht keinen Hehl aus dem Zorn, dass ihm die Favoritin für die Position der Gemahlin genommen wurde. Nachträglich ergänzt die Erzählung das Detail, dass der Amiral offenbar vor der Wahl über eine oder möglicherweise mehrere Favoritinnen verfügt, die der Gartenraum im Laufe des Rituals erwählt beziehungsweise bestätigt. In der eigentlichen Verhandlung spielt der zuvor erzeugte Baumgartenraum als solcher keine Rolle mehr. Im Zentrum stehen die innige Minne und die damit einhergehende Opferbereitschaft der Liebenden für den Partner. Letztere mündet sogar mehrfach in eine Diskussion, wer als rechtmäßiger Verursacher der Situation gelten könne und daher für den anderen sterben dürfe (vgl. V. 6775–6779). Nach dem Streit um einen Fingerring betreten die Delinquenten den Baumgarten. Sie treten mitten in die wartende Versammlung und die herbeigeeilte Menge (vgl. V. 6790–6793). Diese direktionale Bewegung ins Garteninnere nimmt der Erzähler zum Anlass, das Äußere von Flore und Blanscheflur zu beschreiben. dô kâmen die gevangen mitten ûf den hof gegangen under al die menegîn. […] wan sie wâren sô wolgetân, swer sie rehte anesach, daz er in sîme herzen jach daz sie waeren wol geborn. (V. 6791–6793 u. V. 6808–6811)

Die Imagination des Rezipienten wird hierfür auf doppelte Weise angesprochen. Erstens wird der Rezipient mithilfe eines subsidiären Leibes zum teilnehmenden Beobachter. Das verallgemeinernde Pronomen swer erzählt den kollektiven Blick der textinternen Beobachter. So werden die Zuschauermenge und der Hofrat zur kollektiven Assistenzfigur des Rezipienten. Der kann sich als Teil dieser Menge im Gartenzentrum imaginieren und sein Körperschema dementsprechend in den Vorstellungsraum versetzen. Die Figuren bewegen sich somit auf den Rezipienten als teilnehmenden Beobachter zu, so dass ihre direktionale Bewegung dem Imaginationsraum Gerichtetheit und Ausdehnung verleiht.60 Zweitens spricht die Erzählung den Rezipienten als imaginierten Zuhörer im Baumgarten der Rahmenerzählung an: [n]û vernement von ir getât (V. 6813, vgl. auch V. 6873). Die Erzählung stellt einen Bezug zur Rahmenerzählung her. Dort werden die narrativen Strategien so eingesetzt, dass sich der Rezipient als Teilnehmer der Gartengemeinschaft

 Ebenso findet sich diese narrative Strategie in V. 6966 f.

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imaginiert. Als solcher nimmt er imaginativ an der mündlichen Erzählung der kathargischen Prinzessin teil. Während die Verhandlung im Baumgarten des Amirals kurz bevorsteht, spielt die Erzählung die Rahmenerzählung ein und verdoppelt so erneut die Gartenräume. Dies dient vor allem dazu, die Diskrepanz der beiden Gärten zu verdeutlichen. Indem sich der Rezipient zum teilnehmenden Beobachter der Erscheinung von Flore und Blanscheflur machen kann, ermöglicht ihm die Erzählung, auch vom Erbarmen der Gartenmenge affiziert zu werden. Die Wirkung ist ein Zusammenspiel von äußerer und innerer Schönheit, wobei Letztere vor allem die vollkommene Minne und die Opferbereitschaft der Liebenden auszeichnet (vgl. V. 6973–6977 u. V. 7018–7021). Weil dieser emotionale Effekt den Amiral zunächst ausspart, wird das Minnekonzept Flores und Blanscheflurs zu dem des babylonischen Herrschers in Kontrast gesetzt. Er erkennt die ideale Liebe des ihm gegenüberstehenden Paares zunächst nicht. Das an den boumgarten als Handlungsraum gebundene Minnekonzept des heidnischen Amirals beginnt unterminiert zu werden. Indem Flore vom Amiral aufgefordert wird, seine Herkunft und Absichten zu offenbaren, verleiht er seiner Zuneigung zu Blanscheflur erneut Nachdruck. Der anschließende Disput, wer es eher verdient habe, den Tod für den Partner auf sich zu nehmen, bestätigt die Vollkommenheit des Paares und seiner Minne performativ, so dass dô wart aller êrest schîn / daz nie liebe wart sô grôz (V. 7160 f.).61 Performativ dekonstruieren Flore und Blanscheflur die pervertierte Minne des Amirals62 und bringen in diesem Zuge den mit ihr verbundenen Baumgarten zum Verschwinden. dô begunde er sich versinnen nâch ir dienste, sîner minnen, wie wol sî im dâ vor geviel: und von dem gedanke enpfiel im daz swert ûz der hant, wan in diu triuwe überwant, die er sach eht an in beiden sô staete und ungescheiden, daz sie den tôt niht entsâzen. (V. 7225–7233)

Der Amiral lenkt ein und verschont die Liebenden. Auf allgemeines Bitten erzählt Flore seine und Blanscheflurs Geschichte und bittet schließlich den Amiral um Versöhnung (vgl. V. 7392–7467). Nachdem die Minneauffassung des Amirals und das Ritual der Frauenwahl bezwungen scheinen, wird der Baumgarten zu einem Raum, in dem von Minne erzählt wird. Erneut verweist die Erzählung somit auf ihren Rahmen,

 In gewisser Weise erinnert der Austausch von Worten und Dingen natürlich an die Situation der leidlosen Minne im Baumgarten des spanischen Hofs und ihrer Adaption im Scheingrab. Urban sieht an diesem Punkt das Ideal der Liebe unter Gleichen motivisch wiederaufgenommen. Vgl. Urban, Gleiches zu Gleichem, S. 237–239.  Vgl. Küsters, Garten, Baumgarten, S. 175.

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indem sie die ideale Nutzung des Gartenraums zur höfischen Kommunikation über Minne in einen Gartenraum überträgt, der zuvor in vielerlei Hinsicht deviant erschien. So dient der Bezug nicht als bloße Erinnerung an die Rahmenerzählung, sondern weist die Veränderung, die Flores und Blanscheflurs Beständigkeit und Minne im Baumgarten und auch beim Amiral bewirkt haben, aus. Höhepunkt ist die Vermählung des Paares durch den Amiral. Auf sie folgt die Schwertleite Flores und die Heirat des Amirals mit Claris. Während der Baumgarten als Raum des heidnischen Frauenwahlrituals zuvor völlig zum Verschwinden gebracht wurde, wird er in der Hochzeit des Amirals ein letztes Mal mit Blick auf seine vorherige Funktion in Erinnerung gerufen. Denn die Erzählung suggeriert, dass Claris das Ritual nach der gwonheit, / als iuch dâ vor ist geseit (V. 7549 f.) durchläuft. Inwiefern der Minnetriumph von Flore und Blanscheflur eine nachhaltige Auswirkung auf die Halbwertszeit der babylonischen Herrscherehe hat, lässt sich nicht eindeutig ermessen. Uta Störmer-Caysa betrachtet das Schicksal von Claris als ein ‚loses Ende‘ der Erzählung, zeigt aber auf, inwiefern eine Schonung von Blanscheflurs Freundin denkbar wäre. Denn als Nebenfigur komme dem Amiral die Lizenz zu, seine Entscheidungen zu revidieren, eine andere Wahl zu treffen und somit von bisherigen Verhaltensmustern abzuweichen.63 nâch der vröide giengen sie in den boumgarten ezzen. und sô sie wâren gesezzen, Flôre mahte niht gelâzen, sô sie beidiu sament sâzen dem amiral bî den sîten (V. 7566–7571)

Im Kontext der Feierlichkeiten taucht der Baumgarten Babylons noch einmal auf, allerdings in veränderter Funktion. Als Raum des höfischen Festes und der gemeinsamen Mahlzeiten erscheint der Raum des Baumgartens in prädestinierter Funktion: Er dient der Unterhaltung, Zerstreuung und Erholung der Hofgesellschaft in der Peripherie des höfischen Raums. Es wird gespeist, getrunken, gelacht, Spielleute geben Musik und Kunst zum Besten. Weder Heimlichkeit noch die öffentliche Herrschaftsausübung dominieren ihn. Auch die Verbindung zwischen Claris und dem Amiral wird als einträchtig und innig präsentiert. Die mit dem Baumgartenraum zuvor assoziierte Grausamkeit und sein Dasein als pervertiertes Paradies sind vollständig oder zumindest vorläufig – je nachdem wie man Claris’ Zukunft einschätzt – aufgehoben. Der aus dem Gleichgewicht geratene Schwellenraum wird durch die Taten und Worte

 Vgl. Störmer-Caysa, Lose Enden, S. 332–338. Störmer-Caysa nimmt mit Blick auf die Lizenzen der Hauptfiguren Bezug auf die Erkenntnisse Klaus Hupfelds. Vgl. Hupfeld, Aufbau und Erzähltechnik, S. 140.

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von Flore und Blanscheflur, kraft ihrer Minne, dekonstruiert und in einen Raum des höfischen Zeitvertreibs und des höfischen Festes transformiert.

5.3.4 Vervielfältigungen des Baumgartens Konrad Flecks ‚Minne- und Abenteuerroman‘ Flore und Blanscheflur zeichnet sich hinsichtlich der Selektion der erzählten Räume, wie zu sehen war, durch eine paradigmatische Häufung von Baumgärten aus, die von der Rahmenerzählung über die Kindheitserzählung der Protagonisten bis hin zur glücklichen Zusammenführung des Paares in Babylon reicht. Aus diesem Grund gilt es zum Abschluss nicht nur die in den Analysen gewonnenen Erkenntnisse zusammenzufassen, sondern sie auch in ihrer Bedeutung für die gesamte Erzählung zu beleuchten. Die Geschichte von Flore und Blanscheflur wird als Gegenstand eines höfischen Erzählereignisses in einem frühlingshaften Baumgarten eingeführt. Der Erzähler entwirft einen multisensorischen Wahrnehmungsraum und fokussiert dessen affektive Wirkung auf die höfischen Besucher des boumgarten. In einem aus Bäumen und Stoffbahnen erschaffenen Zelt versammeln sie sich, um von der lieblichen Gartennatur angeregt selbst über Minne zu sprechen und der Geschichte von Flore und Blanscheflur zu lauschen. Wie die Analyse zeigt, verläuft die narrative Erzeugung des Baumgartens schrittweise, wenn dieser zunächst als locus amoenus entworfen wird, der von der höfischen Öffentlichkeit abgegrenzt und mit topischen Ausstattungsmerkmalen versehen wird. Der erzählerische Blick verengt sich immer weiter und fokussiert zuletzt die Gartenmitte mit dem improvisierten Zelt. Die höfischen Besucher werden für den Rezipienten zum subsidiären Kollektivleib, so dass dieser das multisensorische Gartenerlebnis am eigenen Leib und sich selbst als Zuhörer der karthargischen Königstochter imaginieren kann. In seiner Ausgestaltung bietet der Baumgarten den idealen Raum der höfischen Zusammenkunft zum Zwecke des Erzählens. Die wechselseitige Verbindung des Gartenraums mit dem Erzählen von Minne und mit der Minne selbst findet sich außerdem im boumgarten der Kinderminne wieder. Dort wirkt die liebliche Natur ebenfalls auf die Gemüter der verliebten Kinder, und von der höfischen Umgebung abgegrenzt bietet der Baumgarten einen Schutzraum für das intime Gespräch über Minne und das Ausagieren derselben. Insofern fungiert der Baumgarten der Kinderminne als Reminiszenz an den boumgarten der Rahmenerzählung. Es wird eine imaginative Verdopplung der Gartenräume herbeigeführt. Die narrative Raumerzeugung des boumgarten konzentriert sich mithilfe deiktischer Prozeduren vor allem auf eine Abgrenzung des Gartenraums gegen den höfischen Raum und die Erzeugung eines multisensorischen Wahrnehmungsraums. So entwirft die Erzählung des Gartens einen intimen Schutzraum für die ideale, unterschiedslose Minne der Kinder. Ähnlichkeit und Homogenität bestimmen sowohl die Protagonisten als auch den Imaginationsraum in Abgrenzung zum umgebenden Raum der Erzählwelt. Dem Baumgarten als Raum der leidlosen Kinderminne wird imaginativ Stabilität verliehen, indem sich die

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Erzählung in den Schreibübungen der Kinder wie auch im Scheingrab für Blanscheflur auf die Szene zurückbezieht und der Kinderminne gewissermaßen textintern Denkmäler setzt. Insbesondere im Grabmal – es stellt die Heimlichkeit der Kinderminne öffentlich als Vergangenheit aus – wird die Baumgartenszene als wiederzugewinnendes Ideal abgebildet, dessen schmerzlicher Verlust Flore antreibt, die noch lebende Geliebte und mit ihr die Minne wiederzugewinnen. Gänzlich anders präsentiert sich zunächst der Baumgarten des babylonischen Amirals, denn er wird in Nachbarschaft zum Paradies als mythischer Raum eines grausamen, heidnischen Frauenwahlrituals erzeugt. In einem zweistufigen Verfahren, das durch magische Transformation organisiert ist, wählt die Gartennatur in einem performativen Akt die zukünftige Gemahlin des Amirals aus. Der boumgarten ist ein Raum des öffentlichen Herrschaftshandelns, er besitzt Rechtsbedeutsamkeit. Vergleiche zum Paradies, die etwa über den Paradiesfluss Euphrat oder die Wirkung der Natur auf die Besucher hergestellt werden, dekonstruiert die Erzählung, so dass der boumgarten des Amirals als pervertiertes Paradies und er selbst als falsch Minnender markiert werden. Zunächst wird der Baumgarten als Imaginationsraum im Gespräch von Flore und dem Zöllner Daries erzeugt. Kollektive Blicke und Figurenbewegung bewirken eine Dynamisierung und verleihen dem Baumgarten Gerichtetheit und dreidimensionale Ausdehnung. Obwohl der Baumgarten des Amiral in seiner ursprünglichen Anlage durch die von Flore und Blanscheflur ausagierte Liebe zur Auflösung gebracht wird, weist er imaginativ dennoch eine konsistente und stabile Raumvorstellung auf. Es ließ sich somit zeigen, dass diese narrativen Strategien den boumgarten in einer ‚Deixis am Vorstellungsraum‘ als Raum im Sinne Michel de Certeaus erzeugen. Bemerkenswert ist, dass der Baumgarten des Amirals seine Funktion als Raum des mythisch-magischen Rituals in dem Moment verliert, als Flore und Blanscheflur im Rahmen der Verhandlung ihre innige Minne und gegenseitige Opferungsbereitschaft unter Beweis stellen. In diesem Verhalten agieren sie ihre ideale Minne, die so in Kontrast zur pervertierten Minne des Amirals tritt, performativ aus. Da der Baumgarten genuin mit diesem devianten Minnekonzept verbunden ist – er bringt, wie gezeigt wurde, die Auswahl der Dame selbst erst hervor –, wird er als Handlungsraum in seiner bisherigen narrativen Ausgestaltung und Funktionalisierung zum Verschwinden gebracht. Das Handeln der Protagonisten im Raum erfüllt für den boumgarten wie auch den Amiral selbst eine Erlösungsfunktion. Erst nach der Versöhnung und der Doppelhochzeit taucht der boumgarten wieder auf. Durch Flores und Blanscheflurs Minne ist er zu einem Raum des höfischen Festes, in dem sich Öffentlichkeit und Intimität wieder im Gleichgewicht befinden, transformiert worden. Gleich drei Baumgärten werden in Flore und Blanscheflur zu plastischen Handlungs- und Vorstellungsräumen. Der Baumgarten tritt als Raum für die Erzählung und als Handlungsraum selbst mehrfach auf. Anders als im Tristan oder Erec handelt es sich nicht um ein- und denselben Gartenraum, sondern es werden verschiedene Baumgärten konstruiert. Sie erfüllen für die Narration zwar unterschiedliche Funktionen, nehmen jedoch stark aufeinander Bezug. Vereint sind sie durch konsistente Stra-

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tegien der sprachlichen und narrativen Raumerzeugung. Eine schrittweise Erzeugung des Gartenraums sorgt für eine zunehmende Bewegung in und Fokussierung auf den boumgarten. Am Anfang dieses Prozesses steht die Bezeichnung des zu entwerfenden Raums mit dem raumgesättigten Wort boumgarten. Das damit verbundene, überindividuelle Vorstellungskonzept stellt ein räumliches und semantisches Grundkonzept zur Verfügung. Ausgehend von diesem rudimentären ‚Grundgerüst‘ wird der Baumgarten zunächst als eine Art Gesamtpanorama entworfen, indem er mit topischen Elementen ausgestattet und diese auf der sprachlichen Ebene mithilfe von deiktischen Prozeduren im Raum verankert werden, ohne dass ihnen jedoch eine spezifische Relation oder Position innerhalb des Raums beigegeben wird. In Verbindung mit Raumbereichsdeiktika und Präpositionen entsteht der Imaginationsraum als eine von der umgebenden Hofwelt abgegrenzte Einheit, deren Inneres auf eine spezifische Weise ausgestaltet ist. Die narrative Ausgestaltung der Grenzen verstärkt eine Außen-InnenDifferenzierung. Im Anschluss war eine Verengung des auktorialen Blicks auf die narrative Erzeugung der Gartenmitte zu beobachten. Ausgehend von einem oder mehreren Bäumen und meist einer Quelle wird ein konsistentes, räumliches Zentrum des Imaginationsraums erzeugt. Dorthin bewegen sich die Figuren, die im Folgenden in diesem Imaginationsraum handeln und ihm mithilfe von Bewegung und Blicken eine stärkere Dreidimensionalität, Gerichtetheit und Ausdehnung verleihen. Diese narrativen Strategien erzeugen die Baumgärten als Räume. Beim Baumgarten des Amirals steht diese räumliche Ausgestaltung wie schon beim Garten der Rahmenerzählung unter dem Vorzeichen des mythischen Denkens. Während der imaginative Entwurf des Gartenpanoramas für den Rezipienten vorwiegend origoexklusiv erfolgt, dienen die im Baumgarten handelnden Figuren dem Rezipienten als subsidiäre Leiber, so dass er durch die Versetzung seines Körperschemas das Erzählte am eigenen Leib imaginieren und als teilnehmender Beobachter von einem origoinklusiven Standpunkt aus am Geschehen teilhaben kann. Neben dem Sehen kommen der multisensorischen Wahrnehmung und der affektiven Wirkung der Natur auf die Figuren eine große Bedeutung zu. Der boumgarten wird als konsistenter und stabiler Handlungs- und Wahrnehmungsraum erzeugt. Dass der Baumgarten der Kinderminne weniger als die übrigen Baumgärten durch seine innere Ausgestaltung als durch seine räumlich gebotene Intimität und seine affektiven Qualitäten bestimmt ist, inszeniert die Homogenität und Ähnlichkeit der Protagonisten und die Idealität ihrer Minne. Stabilität als Imaginationsraum kommt aber auch diesem boumgarten zu, indem die Erzählung in ihrer Sukzession auf seine räumliche und semantische Verfasstheit rekurriert. Dies führt dazu, dass der boumgarten als Imaginationsraum präsent gehalten werden muss und die jeweiligen Szenen oder Raumarrangements ihre Bedeutung maßgeblich in Abhängigkeit von dieser Referenz auf den Baumgarten der Kinderminne generieren. Die analoge Verfahrensweise der Raumerzeugung im babylonischen Baumgarten stellt auch eine Verbindung zum Baumgarten der Rahmenerzählung her, so dass es

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zu einer imaginativen Verdopplung der Gartenräume kommt. Der Rezipient kann sich als teilnehmender Beobachter im zweifachen Sinne imaginieren: Erstens imaginiert er sich als Teil der Menge, die der Erzählung von Flore und Blanscheflur lauscht, und zweitens kann er sich darüber hinaus als teilnehmender, textinterner Beobachter der Erzählung imaginieren. Diese imaginative Verdopplung führt dazu, dass der Baumgarten der Rahmenerzählung eine Deutungsfolie für den Rezipienten bietet, vor der er den pervertierten boumgarten des Amirals imaginieren und reflektieren kann. Die optimale Verbindung der Gartennatur mit dem höfischen Erzählen von Minne, wie sie in der Rahmenerzählung gegeben ist, entlarvt den Amiralsgarten zusätzlich als gestörten Raum. Die Baumgärten der Erzählung sind jedoch nicht nur durch eine gemeinsame Taktik der Raumerzeugung miteinander verbunden. Es kommt zu einer paradigmatischen Häufung des Baumgartens als Handlungs- und Imaginationsraum. Sie verleiht der Erzählung Kohärenz, indem die Gartenräume – so verschieden ihre Handlungen und Funktionen zunächst scheinen mögen – über die Handlung hinweg gemeinsame Problemstellungen thematisieren. Felix Urban stellt in Flore und Blanscheflur noch eine paradigmatische Kohärenz anderer Art fest. Auf der Suche nach Narrativen der Ähnlichkeit identifiziert Urban die Gärten der Kinderminne und des Amirals sowie das Scheingrab und den babylonischen Turm als Raumarrangements,64 die Ähnlichkeit – verstanden als „religiös überhöhtes, paradiesisches Ideal“ – erzählen und so auf paradigmatischer Ebene einen syntagmatischen Angleichungsprozess begleiten.65 Während es Urban also um das Narrativ der Ähnlichkeit geht, konnte die Analyse darlegen, dass die über die Erzählung hinweg auftretenden Baumgärten selbst gerade in ihrer räumlichen Ausgestaltung wie auch ihrer semantischen Codierung vor allem zwei Themenkomplexe auserzählen.66 Zum einen stehen sich zwei Minne-Baumgärten gegenüber. Sie verhandeln unterschiedliche Minnekonzepte und dienen so der Reflexion der im Prolog propagierten Vorstellung von idealer Minne. Der Baumgarten am spanischen Hof bringt an der Peripherie des Hofes und auf der Schwelle zwischen höfischer und außerhöfischer Sphäre eine ideale, unterschiedslose Minne zur Anschauung. Zwar ist die Kinderminne in ihrer Heimlichkeit und den aus Sicht des Hofes ignorierten Standes- und Glaubensunterschieden nicht vollends unproblematisch. Nichtsdestotrotz  Urban ordnet die beiden Gärten als natürliche Orte ein, während es sich bei Turm und Scheingrab um künstliche Orte handele. Vgl. Urban, Gleiches zu Gleichem, S. 234–239. Mit Blick auf die Gärten ist freilich anzumerken, dass Gartenräume keineswegs in einem neuzeitlichen Sinne als ‚natürlich‘ – im Gegensatz zu ‚künstlich‘ – gedacht werden können, da dem Mittelalter die Gegenüberstellung dieser abstrakten Konzepte fremd ist. Indes hat der Garten ob seiner Lage an der Peripherie des Hofes Anteil an der außerhöfischen Sphäre. Zugleich gehört der Garten jedoch zum Komplex der höfischen Sphäre.  Vgl. Urban, Gleiches zu Gleichem, S. 251–254.  Hupfeld kommt zu dem Ergebnis, dass Motivwiederholungen ein Strukturprinzip des Flore-Stoffes seien. Eine paradigmatische Wiederholung der Gartenräume mit Blick auf die narrative Raumerzeugung wie auch die dort stattfindende Handlung kann daran anschließen. Vgl. Hupfeld, Aufbau und Erzähltechnik, S. 71.

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nutzt die Erzählung das geschützte Ausleben von und Kommunizieren über Minne als ‚Merkraum‘, dessen Zustand der Homogenität und Leidlosigkeit es wiederzuerlangen gilt. Im Gegensatz dazu bewähren sich der öffentliche boumgarten des Auswahlrituals und die pervertierte Minne des Amirals nicht. Indem Flore und Blanscheflur in diesem Raum ihre stete Minne und gegenseitige Aufopferungsbereitschaft unter Beweis stellen, dekonstruieren sie ihn, so dass sich ihre Minne, die der Baumgarten am spanischen Hof emblematisch abbildet, als beständig erweist. Zum anderen konstruieren die Baumgärten in Flore und Blanscheflur ein je unterschiedlich auserzähltes Spannungsverhältnis zwischen Öffentlichkeit und Intimität respektive Heimlichkeit. Dass auch dieser Komplex mit der Funktion der Baumgärten als Merkräume zusammenwirkt, ist gerade mit Blick auf die Öffentlichkeit des Amiral-Baumgartens leicht zu erkennen. Obwohl der Baumgarten ein grundsätzlich für den Hof zugänglicher Raum ist, stellt Konrad Fleck doch aus, dass er als Raum des öffentlichen Herrscherhandelns und des öffentlichen Auswahlrituals keinen Bestand hat. Der aus dem Gleichgewicht geratene Schwellenraum boumgarten erweist sich als nicht überlebensfähig. Er muss aufgelöst und transformiert werden, so dass die Erzählung schlussendlich einen babylonischen Baumgarten verlässt, der wieder Raum der höfischen Festfreuden ist, zu denen auch der Genuss von Musik und Literatur zählt. Insofern bildet der transformierte Baumgarten des Amirals eine Reminiszenz an den Baumgarten der Rahmenerzählung, der sich unter anderem durch seine affektive Wirkung und seine Lage an der höfischen Peripherie als prädestinierter Raum des höfischen Zeitvertreibs und des höfischen Erzählens erweist. Intimität und Öffentlichkeit sind in der Kommunikations- und Raumordnung des Baumgartens fein austariert. Als Raum der Kommunikation über Minne wird auch der Baumgarten am spanischen Hof konstruiert. Für Flore und Blanscheflur stellt er darüber hinaus einen Schutzraum für die kindliche Intimität der Protagonisten dar, in dem sie der (noch) leidlosen Minne frönen können. Allein der Rezipient wird zum Beobachter und Teilnehmer an dieser Intimdyade innerhalb des Baumgartens. Dem Baumgarten als besonderem Raum der höfischen Literatur kommt in Konrad Flecks Flore und Blanscheflur somit auf zweifache Weise Stabilität zu. Die Analyse konnte zeigen, dass die jeweiligen Baumgärten als konsistente, dreidimensionale Imaginationsräume narrativ erzeugt werden. Deiktische Prozeduren auf der sprachlichen Ebene sowie Blicke und Figurenbewegungen auf der narrativen Ebene offerieren dem Rezipienten, sich als teilnehmender Beobachter im Gartenraum zu imaginieren. So entwirft Konrad Fleck die Baumgärten als stabile Vorstellungsräume, die immer wieder aktivierbare Bestandteile der erzählten Welt sind. Des Weiteren war zu erkennen, dass die Erzählung ein enges Referenznetz zwischen den Baumgärten herstellt. In ihren unterschiedlichen Konfigurationen dienen die Gartenräume jeweils als Deutungshorizont und Referenznetz für die weiteren Baumgärten oder die auf sie bezogene Raumarrangements. Zum einen verleihen die Baumgärten der Handlung somit eine paradigmatische Kohärenz. Der wiederholte Einsatz des boumgarten als Handlungs- und Imaginationsraum der Erzählung sorgt außerdem für eine Stabilität dieses

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Raumtypus – in der Erzählwelt, wie in der Imagination. Mithilfe der Baumgärten können über die Erzählung hinweg zentrale Themenkomplexe prominent verhandelt werden. Sie dienen der Erzählung als semantisches Netzwerk.

5.4 Konrads von Würzburg Engelhard: Taktiken der Immunisierung In einem Baumgarten am Hof des dänischen Königs Fruote treffen sich Engelhard und Engeltrud zu einem heimlichen Stelldichein. Es kommt, wie es kommen muss: Beide werden erspäht und die Entdeckung führt zu einem Gerichtskampf, den Engelhard nur mithilfe der Stellvertretung durch seinen Freund Dietrich für sich entscheiden kann. Obwohl es scheint, als handele es sich um eine ähnlich brisante Baumgartenszene wie bei Gottfried, hat die Baumgartenszene aus Konrads von Würzburg höfischem Roman Engelhard bislang kaum Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Der als Frühwerk Konrads eingeordnete höfische Roman1 schließt an die Stofftradition der Amicus-Amelius-Erzählung an. Zwei junge Adelige, die sich gleichen wie ein Ei dem anderen, schließen Freundschaft und müssen je eine Probe für den Freund absolvieren. Da die letzte Probe darin besteht, dass einer der Freunde die eigenen Kinder töten muss, um den anderen, am Aussatz erkrankten Freund zu heilen, ist der Stoff häufig legendarisch oder mit Anklängen an das legendarische Erzählen ausgestaltet worden. De Boor bezeichnet den Engelhard in seiner Literaturgeschichte daher als „Freundschaftsroman mit legendärer Schlußwendung“.2 Die Diskussion der Gattungszugehörigkeit und die Identifikation eines Strukturprinzips waren die Hauptinteressen der älteren Forschung. Die Minnehandlung und damit auch die Baumgartenszene sind kaum je textimmanent analysiert worden, sondern entweder auf ihre (Nicht-)Passung für die jeweils attestierte Gattung oder ihr Gewicht für die Struktur der Freundschaftserzählung hin befragt worden.3

 Horst Brunner nimmt an, der Engelhard könne kurz nach dem Schwanritter in einem Zeitraum zwischen 1255–1260 am Niederrhein im Umfeld der Grafen von Kleve entstanden sein. Vgl. Horst Brunner: Art. Konrad von Würzburg. In: 2VL 5 (1985), Sp. 272–304; Klaus Jörg Schmitz: Zu Ort und Zeit der Entstehung des Engelhard Konrads von Würzburg. In: JOWG 5 (1988/1989), S. 309–318.  Helmut de Boor: Die deutsche Literatur im späten Mittelalter. Erster Teil. 5. Aufl. München 1997 (Geschichte der deutschen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. III/1), S. 29.  Auf der Suche nach kompositorischen Symmetrien macht Heinz Rupp die Liebesentdeckung als Mittelachse aus, um die sich je zwei Episoden gruppieren. Vgl. Heinz Rupp: Über den Bau der epischen Dichtungen des Mittelalters. In: Die Wissenschaft von deutscher Sprache und Dichtung: Methoden, Probleme, Aufgaben. Festschrift für Friedrich Maurer Hrsg. von Siegfried Gutenbrunner [u. a.]. Stuttgart 1963, S. 366–382, hier S. 381. Da die Minnehandlung die Handlungsnormierungen der Verserzählung überschreite, könne der Engelhard, so Barbara Könneker, als Versuch verstanden werden, den Stoff zu einem Versroman aufzuschwellen. Den Handlungsreihen fehle jedoch eine Verbindung, so dass sie diesen Versuch als Fehlschlag versteht. Er zeige symptomatisch, dass die Dichter seit der zwei-

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Ein größerer Stellenwert kam der Baumgartenszene zu, wenn sich die Forschung auf die Suche nach Vorbildern Konrads und nach Gemeinsamkeiten mit zeitgenössischen Werken machte. Wenig verwunderlich ist es, dass Konrads Baumgarten und sein Minneideal vor allem auf Gemeinsamkeiten und Abweichungen von Gottfrieds Tristan hin untersucht wurden. Ein solcher Abgleich deckt zwar zuweilen interessante Aspekte auf, doch wird er der Szenengestaltung Konrads und der Stellung der Baumgartenszene innerhalb des Engelhard kaum gerecht.4 Im Gegensatz zur Entdeckung der Protagonisten im Baumgarten hat das sich daran anschließende Gottesurteil, das die erste Freundschaftsprobe erfordert, mehr Beachtung gefunden. Neben den Parallelen zu Gottfried widmen sich viele Beiträge der Frage, wie Konrad narrativ damit umgeht, dass Engelhard – obwohl de facto zurecht beschuldigt und im eigenen Wissen um sein Verfehlen – als Sieger aus dem manipulierten Gottesurteil hervorgehen könne, ohne danach moralisch diskreditiert zu werden.5 Darüber hinaus ist gerade die neuere Forschung darum bemüht, einzelne Motive und Themenfelder Konrads wie beispielsweise Ebenbildlichkeit, Ähnlichkeit, Freundschaft oder Männlichkeit zu erhellen.6

ten Hälfte des 13. Jahrhunderts nicht mehr an ihre Vorbilder der höfischen Blütezeit heranzureichen vermocht hätten. Vgl. Barbara Könneker: Erzähltypus und epische Struktur des Engelhard. In: Euphorion 62 (1968), S. 239–277. Peter H. Oettli weist die Minnehandlung als eine von vier Erzähleinheiten aus, die von Konrad im Stil einer Episodentechnik aneinandergefügt und in gewissem Maße autonom seien. Vgl. Peter H. Oettli: Verschränkung und Steigerung: Zur Interpretation von Konrads von Würzburg Engelhard. In: ZfdPh 105,1 (1986), S. 13–46; vgl. auch Peter H. Oettli: Tradition and Creativity. The Engelhard of Konrad von Würzburg, its Structure and its Sources. New York 1986 (Australian and New Zealand Studies in German Language and Literature. 14). Karl-Heinz Göttert zufolge ist die Probe und die damit illustrierte triuwe das Gestaltungsprinzip der Erzählung. Insofern komme der Minnehandlung eine strukturelle Funktion zu, denn sie bereite die erste Probehandlung vor. Vgl. Karl-Heinz Göttert: Tugendbegriff und epische Struktur in höfischen Dichtungen: Heinrichs des Glîchezâre Reinhart Fuchs und Konrads von Würzburg Engelhard. Köln 1971 (Kölner germanistische Studien. 5), S. 135–170. Erst Rohr präsentiert, soweit ich sehe, einen Vorschlag, dem Engelhard eine Gesamtkonzeption eigenen Rechts zu unterlegen. Freilich ist sein Versuch, Engelhards Lebensweg in Form einer Doppelwegstruktur zum Kern des Werks zu machen, selbst zumindest problematisch. Vgl. W. Günther Rohr: Konrads von Würzburg kleiner Roman Engelhard. In: Euphorion 93 (1999), S. 305–348.  Wenn Hans-Joachim Behr beispielsweise zu dem Ergebnis kommt, in Konrads Gartenszene fänden sich nicht nur Gottfrieds erste Baumgartenszene, sondern auch Aspekte der Minnegrotte und Isoldes Auftritt beim Hoftag in Irland wieder, so ist mit einer solchen Feststellung weder für Gottfrieds Tristan noch für Konrads Engelhard etwas gewonnen. Vgl. Hans-Joachim Behr: Liebe und Freundschaft im Engelhard Konrads von Würzburg. In: JOWG 5 (1988/1989), S. 323–325.  Vgl. beispielsweise Peter Kesting: diu rehte wârheit. Zu Konrads von Würzburg Engelhard. In: ZfdA 99,4 (1970), S. 246–259; Rüdiger Schnell: Die ‚Wahrheit‘ eines manipulierten Gottesurteils: Eine rechtsgeschichtliche Interpretation von Konrads von Würzburg Engelhard. In: Poetica 16,1–2 (1984), S. 24–60; Eva Lieberich: Von und durch Neid erzählen: Rhetoriken des Neids in Konrads Engelhard. In: Diegesis 5,2 (2016), S. 1–20.  Vgl. beispielsweise Judith Klinger, Silke Winst: Zweierlei minne stricke. Zur Ausdifferenzierung von Männlichkeit im Engelhard Konrads von Würzburg. In: Aventiuren des Geschlechts. Modelle von

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Die angestrebte Analyse der Baumgartenszene und der Blick auf die Gestaltung und Funktionalisierung von Dietrichs Aussatzinsel schließen sich der beobachteten Tendenz der Forschung zum Engelhard an, einzelne Szenen oder Motive in den Fokus einer textnahen Analyse zu nehmen. Im Folgenden ist danach zu fragen, ob und mithilfe von welchen narrativen Strategien Konrad den Baumgarten als Handlungs- und Wahrnehmungsraum erzeugt und welchen Einfluss der boumgarten als Raum auf die Handlung nimmt. Die Frage nach der narrativen Erzeugung von Raum spielt in der Forschung bislang kaum eine Rolle, so dass die Erkenntnisse der Analyse möglicherweise auch Anlass sein können, den Engelhard an weiteren Stellen auf das Raumerzählen hin zu befragen. Die vorangegangenen Ausführungen haben illustriert, wie schwer sich die Forschung damit tut, dem Engelhard ein Strukturprinzip zu unterlegen, das sich nicht normativ an behaupteten Gattungskriterien abarbeitet, sondern die Episoden der Erzählung als Teil eines Ganzen wahrnimmt. Zwar soll auf die Formulierung allgemeingültiger Strukturprinzipien verzichtet werden, dennoch wird es interessant sein, die strukturelle, räumliche und semantische Funktion der Baumgartenszene im Lichte der weiteren Handlung – vor allem des manipulierten Gottesurteils – in Augenschein zu nehmen. Dass die Gartenszene die erste Probe vorbereitet, ist eine wenig spezifische Beobachtung, denn sie träfe auf jede andere Art von Konflikt ebenso zu, der in der Lage wäre, einen Gerichtskampf bzw. ein Gottesurteil herbeizuführen. Doch es lohnt sich ein genauerer Blick: Inwiefern erweist sich die Baumgartenszene in ihrer spezifischen Gestaltung als konstitutiv für den Fortgang der Handlung? Ähnlich einschneidend für die Struktur der Erzählung wie die Baumgartenszene ist der Aufenthalt des kranken Dietrich auf der Insel außerhalb seiner Burg. Bei der Insel wie auch dem dort befindlichen plân handelt es sich, wie darzulegen sein wird, nicht um einen Baumgarten, sondern um einen lieblichen Naturort. Die Analyse dieser Szene ergänzt einerseits den Blick auf die Makrostruktur der Erzählung und die Funktion der beiden Räume in diesem Zusammenhang. Andererseits bietet der plân auf Dietrichs Aussatzinsel die Gelegenheit, den Mehrwert der Definition des Baumgartens, wie sie in Kapitel 2.2 vorgeschlagen wurde, zu reflektieren. Beachtung verdient vor Beginn der Analyse noch die besondere Überlieferungslage des Engelhard. Denn es liegen keine handschriftlichen Textzeugen vor. Der Engelhard ist einzig in einem 1537 in Frankfurt am Main entstandenen Druck überliefert. Unter dem Titel Ein schöne Historia von Engelhart auß Burgunt / Hertzog Dietherichen von Brabant / seinen Gesellen / und Engeldrut / deß Koenigs Tochter auß Dennmarck / wie es jhnen ergangen / und was jammers und not sie erlitten / Gantz lustig und kurt-

Männlichkeit in der Literatur des 13. Jahrhunderts. Hrsg. von Martin Baisch. Göttingen 2003 (Aventiuren. 1), S. 259–289; Andreas Kraß: Kämpfende Freunde: Symbiotische Mechanismen im Erec Hartmanns von Aue. In: Geschichte(n) von Macht und Ohnmacht: Narrative von Männlichkeit und Gewalt. Hrsg. von Uta Fenske, Gregor Schuhen. Bielefeld 2016, S. 71–82.

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zweilig zu laesen sind bis heute sieben Exemplare dieses Drucks bekannt geworden.7 Im 19. Jahrhundert unternahm der Philologe Moriz Haupt die Rekonstruktion „eines mittelhochdeutschen, am Stil Konrads von Würzburg orientierten Textes“.8 Entgegen den Vermutungen Haupts geht man mittlerweile von einer jüngeren Vorlage und einer größeren Anzahl an Überlieferungsstationen zwischen der Entstehungszeit der Erzählung und dem durch Kilian Han im 16. Jahrhundert angefertigten Druck aus. Obwohl mittlerweile auch eine Faksimile-Ausgabe des Drucks greifbar ist,9 stützt die Forschung sich doch weiterhin mehrheitlich auf den nach Haupt noch mehrfach verbesserten, mittelhochdeutschen Text.10 Auf dieser Beobachtung fußend wird auch die folgende Analyse aus pragmatischen Gründen ebenfalls die mittelhochdeutsche Rekonstruktion von Konrads Engelhard als Untersuchungsgegenstand zugrundelegen. Die daran gewonnenen Ergebnisse auf die Textgestalt des Drucks zu beziehen, stellt eine eigene Aufgabe dar, der vielleicht an anderer Stelle genüge getan werden kann.

5.4.1 Instruktion Engelhards durch Engeltrud Das Treffen im Baumgarten ist das vorläufige Ergebnis einer Vereinbarung, die Engeltrud dem liebeskranken Engelhard auf dessen Krankenbett unterbreitet. Konrad lässt keinen Zweifel daran, dass die Königstochter gewillt ist, die Zuneigung des trûtgeselle wert (V. 2354) zu erwidern, und dies auch als ihre Pflicht ansieht: lieze ich nû verderben dich, / friunt, wie taete ich danne? / man sol getriuwem manne / mit liebe leit vertrîben (V. 2374–2377). Doch die höfischen Konventionen verhindern sowohl eine sofortige Erfüllung des Begehrens als auch eine unmittelbare Vermählung. Engeltrud mahnt, dass es nicht lange verborgen bleiben könne, wenn sie Engelhards Frau werden solle. Ihnen drohe Kummer, sollte der Hof vorab von der heimlichen Absicht und Zuneigung Kenntnis erlangen (vgl. V. 2338–2341). Sie macht zur Voraussetzung, dass Engelhard zunächst die Schwertleite erhalte und sich als Ritter bei einem Turnier bewähre, bevor sie seine Zuneigung auch tatsächlich erwidern werde. Konrad macht die ritterliche Bewährung damit nicht nur zur sozialen Voraussetzung für eine Heirat – erst so wird Engelhard zum angemessenen Partner für die Königstochter11 –, sondern auch zur Vorausset Vgl. Ein schöne Historia von Engelhart auss Burgunt. Der Engelhard Konrads von Würzburg in Abbildung des Frankfurter Druckes von 1573. Hrsg. von Hans-Hugo Steinhoff. Göppingen 1987 (Litterae. 107), S. 3 f; Rüdiger Brandt: Konrad von Würzburg. Kleinere epische Werke. Berlin 2000 (Klassiker Lektüren. 2), S. 131 f.  Konrad von Würzburg: Engelhard. 3., neu bearb. Aufl. Hrsg. von Ingo Reiffenstein. Tübingen 1982 (ATB. 17), S. VI.  Vgl. Ein schöne Historia von Engelhart.  Eine Abwägung zur Brauchbarkeit von Haupts Rückübersetzung findet sich mit einigen zusätzlichen Argumenten jüngst auch bei Urban, Gleiches zu Gleichem, S. 255 f.  Wiederholt wurde in der Forschung bislang die Rolle von Engelhards sozialem Aufstieg für die Erzählung diskutiert. Vgl. etwa Rohr, Konrads kleiner Roman Engelhard, S. 305–348.

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zung für die tatsächliche Erfüllung der emotionalen Verbindung zwischen beiden. Durch diese Setzung wird die Heilung von Engelhards Liebeskrankheit zunächst aufgeschoben. An den Hof zurückgekehrt, bittet – ja, fordert beinahe – der Ritter die Verehrte heimlich, das Versprochene einzulösen, um endlich Erlösung von seinen Liebesqualen zu erlangen (vgl. V. 2898–2913). Indem er seine emotionalen Nöte zum Gegenstand des heimlichen Gesprächs macht, tritt die soziale Komponente der von Engeltrud formulierten Voraussetzung in den Hintergrund. Das nun vorgeschlagene Treffen steht daher gänzlich im Zeichen von heimlicher Minne. Engeltrud versichert nun ihrerseits, dass sie gewillt ist, die eingeforderte triuwe walten zu lassen und bekräftigt ihre emotionale Verbundenheit mit Engelhard (vgl. V. 2915–2921). Wie und wo es zum Zusammentreffen kommen soll, erläutert Engeltrud in direkter Rede. Innerhalb des Sprechzeitraums der beiden Kommunikationsteilnehmer ruft sie einen Imaginationsraum auf, in dem sie Engelhard mithilfe von imperativischen Anweisungen räumlich orientiert und leitet. Die Zeit des Mittagsschlafs soll der liebeskranke Ritter nutzen, um sich zum Baumgarten zu bewegen: sô soltû balde sundern vor allen liuten eine dich. kein wort ensage noch ensprich und ganc ze dem boumgarten în durch die kemenâten mîn: dâ vindestû mich inne. […] ûf unser zweier minnespil enmac nieman gewarten. wan umbe den boumgarten ein vil hohiu mûre gât. kein ander tor dar inne stât wan eht durch mînen palas. (V. 2924–2937)

Mithilfe des raumgesättigten Wortes boumgarten wird eine grundlegende, überindividuelle Raumvorstellung aufgerufen, die nicht nur räumliche Ausstattungsmerkmale umfasst, sondern auch auf die im boumgarten virulenten, semantischen Spannungsverhältnisse referiert. Wie schon bei Gottfried, Hartmann und Konrad Fleck wird der boumgarten als Raum der Handlung auf Basis dieses überindividuellen Vorstellungskonzepts spezifisch ausdifferenziert und für die Erzählung funktionalisiert. Indem der boumgarten als Raum des heimlichen Treffens bestimmt wird, aktiviert Konrad nicht nur ein grundlegendes, räumliches Vorstellungskonzept. In aller Kürze legt er in Verbindung mit dem boumgarten drei Typen von Räumlichkeit aus. Aus dem Raum der höfischen Öffentlichkeit soll Engelhard sich unbemerkt absondern. In einer imaginierten direktionalen Bewegung leitet Engeltrud ihr Gegenüber durch ihre Kemenate ze dem boumgarten în. Von der höfischen Öffentlichkeit ausgehend muss der Baumgarten

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durch den nichtöffentlichen Innenraum des Damengemachs betreten werden. Insofern ist der Zugang doppelt kontrolliert: Erstens gibt es offenbar nur einen einzigen Zugang, und zweitens erfolgt dieser durch einen höfischen Innenraum, der seinerseits wieder über bestimmte Zugangsbeschränkungen verfügt und so kontrolliert werden kann. Der Baumgarten fungiert als eine Art tertium comparationis, denn der Zielraum positioniert sich semantisch betrachtet genau zwischen dem Hof und der Kemenate. Zwar erfolgt der Zugang zum Baumgarten durch den nichtöffentlichen Innenraum, doch er selbst ist zunächst einmal ein der Öffentlichkeit prinzipiell zugänglicher Raum.12 Die besondere Art des Zugangs weist den boumgarten allerdings gleichzeitig als Raum aus, der der Öffentlichkeit nicht in vollem Maße und unbeschränkt zugänglich ist. Konrad gestaltet im Zugang das Spannungsverhältnis zwischen Öffentlichkeit und Heimlichkeit, in dem sich der Baumgarten bewegt, zugunsten einer tendenziellen Exklusion der höfischen Öffentlichkeit und damit einer schützenden Heimlichkeit der Liebenden aus. Im Gespräch mit Engelhard konstruiert die Königstocher den aufgerufenen Vorstellungsraum des boumgarten somit als einen Raum des Dazwischen.13 Engeltruds direkte Rede fordert den Rezipienten dazu auf, gemeinsam mit Engelhard den erzählten Weg imaginativ nachzuvollziehen. Der Rezipient kann sein Körperschema in Engelhard hineinversetzen und nimmt so an der ‚Deixis am Vorstellungsraum im Vorstellungsraum‘ teil, als bewege er sich mit seinem eigenen Leib durch die Räume auf den boumgarten zu.14 Konrad macht Engelhard zum subsidiären Leib für den Rezipienten. Denn Engeltrud erzählt die Bewegung im Modus der Wegstrecke (parcours), deren Zielpunkt schließlich der Baumgarten darstellt. Mithilfe der doppelt verwendeten, origoexklusiven Raumbereichsdeixis dâ verweist die Königstochter auf den imaginierten Raum, in dem sie auf Engelhard treffen wird. Der boumgarten wird durch den origoexklusiven Verweis und die zuvor verwendete Präposition în als abgegrenzter Raum in direkter Nachbarschaft zu den Frauengemächern erzeugt. Er ist damit nicht nur semantisch, sondern auch räumlich vom Ausgangs- und Durchgangsraum unterschieden. Die vil hôhiu mûre (V. 2935) dient als räumliches Abgrenzungsmerkmal. Die Mauer und der singuläre Zugang durch das zur Kemenate hin gelegene tor suggerieren eine hohe Zugangskontrolle zum boumgarten. Darüber hinaus sorgt die Abgeschlossenheit des boumgarten auch dafür, dass voyeuristische Blicke unmöglich werden. Ungestört werden die

 Lieberich und von Bloh nehmen an, dass der Garten außerhalb der Burg gelegen sei und diese Entkopplung vom Hof bereits die Widrigkeit von Engelhards Verhalten andeute. Vgl. Ute von Bloh: Engelhart der lieben Jaeger. ‚Freundschafft‘ und ‚Liebe‘ im Engelhart. In: ZGerm 8,2 (1998), S. 329; Lieberich, Von und durch Neid erzählen, S. 4. Im Gegenteil weist die direkte Nachbarschaft von Kemenate und Baumgarten letzteren als Teil des Hofkomplexes aus. Aus diesem Umstand entsteht maßgeblich das spätere Konfliktpotential.  Die Tageszeit ist ebenfalls als ein Dazwischen konstruiert, denn obwohl es Tag ist, schlafen alle. Vgl. Müller, Zwischenräume, S. 300.  Auch im Tristan findet sich eine solche ‚Deixis am Vorstellungsraum im Vorstellungsraum‘. Vgl. Kap. 5.1.2.

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Liebenden, so Engeltrud, im Garteninneren den Anblick von Blumen und Gras genießen können (vgl. V. 2938). Obwohl im Gespräch am Krankenlager auch die sozialen Voraussetzungen für eine offizielle Eheschließung Thema waren, verdeutlicht Konrad in Engeltruds Anweisung mehrfach, dass es sich um ein Stelldichein unter Liebenden handelt. Es scheint, als habe Engelhards Bewährung als Ritter die Bedenken rund um eine baldige Eheschließung und die Gefahr einer verfrühten Entdeckung vorerst stillgestellt. Zumindest tauchen sie im Gespräch der Liebenden nicht mehr auf. Stattdessen wird der Baumgarten als Raum konstruiert, der ein vor der Öffentlichkeit verborgenes Geschehen erlaubt. Der Hof schläft, der Zugang erfolgt allein durch Engeltruds Kemenate, eine hohe Mauer schützt vor ungebetenen Spähern und noch dazu will Engeltrud ihre Damen anweisen, dem Ritter auf dem Weg in den Garten nicht in die Quere zu kommen. Es scheint, als hätten die Liebenden die maximale Kontrolle, um das heimliche Treffen am Hof zu realisieren. Die Deixis am Vorstellungsraum wie auch die erzählte, kinästhetische Bewegung erzeugen im Modus der Wegstrecke (parcours) einen Gartenraum und eine räumliche Verbindung zwischen der Hoföffentlichkeit, der intimen Kemenate und dem Schwellenraum boumgarten. Mit Engelhard als subsidiärem Leib erwandert der Rezipient den Weg in den Baumgarten, bevor die Erzählung dann tatsächlich im boumgarten der Erzählwelt ankommt. Semantisch und räumlich entwirft Konrad durch die Akzentuierung von Abgeschlossenheit und heimlicher Liebe im boumgarten einen Schutzraum gegenüber der höfischen Öffentlichkeit. Als Schwellenraum kann er, obwohl nicht vollends aus dem Hofkomplex gelöst, Raum der Zuflucht vor höfischer huote werden.15

5.4.2 Heimliches Stelldichein Die direkte Rede Engeltruds sorgt dafür, dass der Baumgarten als Imaginationsraum für den Rezipienten erzeugt wird. Wenn Engelhard unmittelbar nach der Schilderung den Weg in den Baumgarten antritt, greift die Erzählung auf diesen Imaginationsraum und die imaginierte Bewegung des Protagonisten zurück und reaktiviert sie für die Erzählung. Ersichtlich wird dieser Rückbezug auch in der Substitution des Substantivs boumgarten durch die selbe stat (V. 2958, später auch V. 3107). Die Zeit des Mittagsschlafs wird für Engelhard, wie von Engeltrud beschrieben, zum Startschuss für seine Bewegung an diese Stelle, den Baumgarten. Mit dem Bewegungsverb komen (V. 2952) wird Engelhards Weg anders als in Engeltruds Erläuterung zum Treffen wenig spezifisch erzählt. Ausgangs- und Endpunkt der Bewegung spielen eine Rolle, doch der Durchgang durch die Kemenate wird nicht eigens erzählt. Der Rezipient weiß jedoch um ihn und kann Engelhards Weg ohne ausführlichen Bericht des Erzählers sehr konkret räumlich

 Vgl. Ernst, Virtuelle Gärten, S. 180 f.

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imaginieren. Wie schon im Tristan kann die tatsächliche Durchführung der Bewegungsfolge im Angesicht der vorherigen, detaillierten Imagination gerafft erzählt werden. Mit dar in diu schoene komen bat (V. 2954) rekurriert die Erzählung zum einen anaphorisch auf das zurückliegende Gespräch der Liebenden. Die lokaldeiktische Prozedur referiert zum anderen nochmals auf den boumgarten und ruft dem Rezipienten die Abgrenzung und Ausstattung indirekt ins Gedächtnis. Nachdem zunächst Engelhards direktionale Bewegung in den Baumgarten erzählt worden ist, widmet sich der Erzähler im Anschluss Engeltrud. In Verbindung mit den Adverben tougenlîch und aleine akzentuiert das Bewegungsverb slîchen die Heimlichkeit des Wegs und des Treffens (V. 2955 f.). Gefährlich ist das heimliche Treffen zwar für beide Parteien, doch in der Art ihrer Bewegung schlägt sich das hohe Risiko für die Königstochter explizit nieder. Indem der Erzähler die direktionalen Bewegungen der Figuren je einzeln in den Blick nimmt, rückt der Baumgarten als gemeinsamer Treffpunkt stärker in den Fokus. Insgesamt dreimal wird so in unterschiedlicher Ausführlichkeit die Absonderungsbewegung vom Hof erzählt. Der boumgarten ist der Zielraum einer Bewegung aus der Öffentlichkeit heraus in die Heimlichkeit. Die so ermöglichte Zweisamkeit wird von Konrad bis hierher durchweg als heimlich markiert. Eine Innensicht, die das Treffen als intim ausweisen würde, bleibt ausgespart, so dass das Geschehen zunächst textintern aus der Warte der Öffentlichkeit betrachtet und damit als etwas markiert wird, das im „Widerspruch steht zu den Verhaltensmustern, die mit gesellschaftlicher Anerkennung (êre) honoriert werden“.16 Einen gewissen Grad an Intimität stellt Konrad erst in der descriptio der sich nähernden Engeltrud her (vgl. V. 2966–3102). Der Erzähler wendet sich mit der rhetorischen Frage an die Rezipienten, ob Engelhard denn nicht recht daran tue, die Königstochter zu begehren. Die vom Erzähler gegebene, ausführliche descriptio ist für den Rezipienten nunmehr mit dem Auftrag verbunden, die Antwort auf die suggestive Frage zu prüfen. swaz ein edel herze sol reizen ûf der Minnen spil, des wart er nâch dem wunsche vil an ir lîbe wol gewar. (V. 2962–2965)

Die beschriebene Engeltrud wird zum Objekt eines männlichen Blicks und Engelhard zum Blicksubjekt eines monofokalen Blickes auf die Angebetete. Die Verallgemeinerung, dass Engeltruds Erscheinung biete, was auch immer edle Herzen zur Minne reize, macht Engelhard zur Assistenzfigur. Bereits im Baumgarten angekommen ist die descriptio in den Blick Engelhards auf die sich nähernde Engeltrud eingelassen. Die Rezipienten können Engelhards Blick teilen. Die Bewegung durch den Garten auf die Origo des Blicks zu ist durch die descriptio unterbrochen und kurzzeitig stillgestellt. Das sich anschließende und über die gesamte Beschreibung verteilte man sach verdeutlicht, dass Engelhards  Wenzel, Öffentlichkeit und Heimlichkeit, S. 344.

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Blick die Stellvertretung eines kollektiven, männlich codierten Blicks auf den Frauenkörper ist. Beschrieben wird, was jeder vor seinem inneren Auge imaginieren kann und soll. Über Haut, Haar, Gesicht, Wuchs, Hände, Stirnband, Hemd, Brust, Füße und wieder zurück auf das Hemd bewegt sich der kollektive Blick immer wieder auf einer vertikalen Achse über den gesamten Körper der Frau und nimmt in unterschiedlicher Fokuslage Details in den Blick. Gemeinsam mit deiktischen Prozeduren macht diese Beschreibung Engeltrud zu einem dreidimensional auserzählten Figurenkörper.17 Dass der Erzähler sie im Moment des Herannahens beschreibt (kam si geslichen ûfreht, V. 3001), bindet die Beschreibung somit an den Gartenraum zurück. Die erotische Codierung der descriptio, die sich vor allem in Konrads Spiel einer Entblößung durch Verhüllung zeigt, lässt keinen Zweifel daran, dass der boumgarten ein Raum der (körperlichen) Minne ist.18 Dô kam geslichen Engeltrût / über gras und über krût / engegen Engelharte (V. 3103–3105) nimmt die Bewegung, in die die Beschreibung eingebettet war, wieder auf. Die Bewegung über das Gras und die Pflanzen des Baumgartens auf Engelhard zu (engegen) verleiht dem entstehenden Raum Tiefe und konkretisiert seine Ausstattung. Als Raum entsteht der boumgarten so über die erzählte Bewegung der Figuren. Nicht nur Engeltrud bewegt sich auf den Ritter zu. Nachdem sie Engelhard empfangen hat, womit Konrad die erotische Codierung wieder aufnimmt und die folgende Liebesbegegnung vorbereitet,19 führt sie den Ritter dô besunder / ûf einen senften materaz / ein wênic wol hindane baz (V. 3110–3112). Die Erzählung macht in der kinästhetischen Bewegung und den damit verbundenen deiktischen Prozeduren ein Angebot an den Rezipienten, sein Körperschema in die imaginierte Origo hineinzuversetzen. Von der Stelle, an der Engelhard seine Angebetete auf sich zukommen sah, folgt der Rezipient imaginativ der Bewegung ein wênic wol hindane auf das Ruhepolster. In dem Moment, in dem sich die Figuren dort niederlassen, erfährt der Rezipient von dem schattenspendenden Laubdach, das das Polster wie zum Schutz überragt. Die Ausstattung des Baumgartens ist weder vorgängig noch wird sie en bloc in Form einer descriptio geboten. Vielmehr wird der boumgarten mit den Figuren als subsidiären Leibern vom Rezipienten erwandert,

 Deiktische Prozeduren wie ûfe ligen (V. 3011), stuonden drinne (V. 2989) und andere etablieren oben-unten- sowie Vordergrund-Hintergrund-Relationen, die es erlauben, den Körper als plastisches, dreidimensionales Gebilde zu imaginieren.  Eine ausführliche Analyse der descriptio Engeltruds bietet Martina Feichtenschlager. Sie fokussiert insbesondere die Beschreibung des verhüllenden und gleichzeitig entblößenden Hemdes und wertet sie als Anzeichen für einen ironischen Bezug Konrads auf die descriptio-Tradition. Vgl. Martina Feichtenschlager: daz mantellîn si ûfe tete unde enpfienc in drunder. Entblößung und Verhüllung in Konrads von Würzburg Engelhard. In: Haut und Hülle, Umschlag und Verpackung. Techniken des Umschließens und Verkleidens. Hrsg. von Ute Seiderer, Michael Fisch. Berlin 2014, S. 66–83; Klinger/Winst sprechen im Zusammenhang von Engeltruds descriptio gar von einer „Weiblichkeits-Apotheose“. Klinger/Winst, Zweierlei minne stricke, S. 279.  „Mit dem Öffnen des Mantels signalisiert Engeltrut den (körperlichen) Empfang Engelhards – das Kleidungsstück wird damit zu einem szenisch-gestischen Requisit, das zugleich symbolisch aufgeladen wird.“ Feichtenschlager, daz mantellîn si ûfe tete, S. 79.

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so dass der Vorstellungsraum fortwährend präsent gehalten und erweitert wird. Der Schatten und das mit Blüten durchwobene Blätterdach führen eine vertikale Achse in den Gartenraum ein und differenzieren ihn so in die Höhe aus. Darüber hinaus bietet das Blätterdach einen weiteren Schutz für die Liebenden, die nun durch die Mauer, den beschränkten Zugang auf der horizontalen und den über dem Polster gelegenen Baum auf der vertikalen Achse geschützt sind. Die gemeinsame Bewegung durch den Baumgarten erzeugt nach und nach einen dreidimensional aufgespannten Handlungsraum. Auf dem Polster angekommen wird deutlich, dass der Baumgarten auch ein affektiv aufgeladener Raum ist. Die Blüten des Baumes versetzen das Paar in Hochstimmung, Blumen und Rosen lindern ihre Sorgen. Konrad entwirft eine wahre Augenweide, deren Schönheit nicht nur negative Emotionen abzumildern vermag. Die von der Gartennatur ebenfalls hervorgerufene Hochstimmung der Liebenden bereitet ebenso die körperliche Annäherung vor. Die Gegenseitigkeit dieser Annäherung nimmt ihren Ausgang in der bifokalen Blickkonstellation, bevor sie sich in der körperlichen Bewegung der Münder aufeinander zu fortsetzt: ze rehte muosten beide ie lachen ein daz ander an. daz süeze wîp, der werde man, dûhten sich vil saelec […] dô munt engegen munde getriuweclîchen strebete. (V. 3134–3143)

Die Gartennatur initiiert die körperliche Vereinigung nicht nur, sie dient auch als metaphorisches Feigenblatt für den Akt selbst. Die Liebenden freuen sich in maneger wîs so sehr, dass ihnen dadurch ein saelden paradîs zugänglich wird (V. 3147–3149). Während sich das Paar in der erzählten Welt im Baumgarten für das tête-à-tête niederlässt, wird der voreheliche Beischlaf als Lustwandeln in einem Garten der Minne auserzählt: si giengen ûf der Minnen plân20 und brâchen freuden bluomen dâ. sô schoene daz man anderswâ minneclicher nie gebrach. nû flôz dar zuo der Minnen bach und hôher gnâden brunne. (V. 3150–3155)

 Wie in Kapitel 2.2 dargelegt, erfüllt der plân in der Regel nicht die notwendigen Bedingungen, um als (Baum-)Garten gelten zu können. Vgl. S. 19–20. Die Nähe der Bildbereiche scheint mir aber in diesem Fall eine Parallelisierung zu rechtfertigen.

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Konrad überblendet den Raum der Erzählwelt mit dem metaphorischen Bildbereich und schafft im Ausagieren der Minne gewissermaßen einen ‚Garten im Garten‘. Auch der metaphorische Garten ist ein locus amoenus mit Blumen, Bach und Quelle. Die Freude spendende Wirkung, die die tatsächliche Gartennatur auf Engelhard und Engeltrud hat, wird gewissermaßen dupliziert, indem auch der metaphorische Garten Wonne einer ganz besonderen Art spendet. Mit der Raumbereichsdeixis dâ wird in V. 3158 nicht nur auf das Liebeslager im Baumgarten der Erzählwelt verwiesen, sondern auch auf den metaphorischen Garten der paradiesischen Liebesfreuden. Nur die Nachtigall sei die Wächterin der Liebenden (vgl. V. 3163–3167), die sich vor nichts fürchteten, lässt der Erzähler wissen. Diese Verdopplung des Gartens potenziert den Baumgarten der Erzählwelt als Raum der Minne und markiert ihn wie auch den Liebesakt als natürlich und daher beinahe zwangsläufig. Insofern arbeitet diese metaphorische Überblendung auch einer moralischen Entlastung der Protagonisten zu. Der Gartenraum und seine liebliche Natur scheinen dem Paar die Liebesvereinigung geradezu aufzudrängen. Die Exklusivität der Liebenden im Schwellenraum boumgarten setzt Konrad in Verbindung mit der Abgeschiedenheit und den Freuden des Paradiesgartens. Die Gestaltung des Baumgartens treibt Konrad so weit, dass der Baumgarten beinahe gar nicht mehr als höfischer Raum präsentiert wird.21 Indem er die Ausgestaltung des boumgarten stark auf das exklusive Ausleben der Minne fokussiert, wird zwar die höfische Öffentlichkeit ausgeblendet, zugleich aber wird akzentuiert, dass die räumlich und sozial exklusive Erfüllung den höfischen Normen zuwiderläuft. Man denke nur an die Joie de la curt, deren narrative, insbesondere räumliche Ausgestaltung exakt diesen Aspekt problematisiert.22 Während das Treffen im Baumgarten zu Beginn der Szene aus einer öffentlichen Perspektive geschildert und als heimlich markiert wird, fokussiert Konrad das körperliche Aufeinandertreffen aus der Perspektive der Intimdyade, so dass das Geschehen als intim ausgewiesen wird. Die mehrmals wiederholte Absonderungsbewegung, die auf dem Weg in den Baumgarten vollzogen wird, lässt als erster Teil einer Taktik der Immunisierung einen Raum entstehen, der von der höfischen Welt vollkommen abgelöst zu sein scheint. Nachdem diese räumliche und semantische Gestaltung initialisiert worden ist, erzählt Konrad den Baumgarten als Handlungs- und Wahrnehmungsraum zwischen den Liebenden aus. Einzig der Rezipient hat an diesem Raum teil. Er erwandert ihn durch die Versetzung seines Körperschemas in die Figuren und wird durch seine imaginative Teilhabe zum legitimen Beobachter des Liebestreffens. Konrad erzählt so einen Baum-

 In seiner Untersuchung von Figurenähnlichkeit im Engelhard weist Felix Urban darauf hin, dass sich die Baumgartenszene in eine Reihe von Szenen einreihe, die in paradiesisch anmutenden oder explizit als Paradies bezeichneten Räumen stattfinden. Immer sei das Ziel dort eine vorübergehende Angleichung der Figuren, die im Anschluss aufgelöst werde und in der Trennung der Figuren resultiere. Vgl. Urban, Gleiches zu Gleichem, S. 281–284.  Vgl.Kap. 5.2.

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garten, der seinen Schwellencharakter mit Blick auf die Spannungen zwischen außerhöfischer und höfischer Sphäre, Heimlichkeit und Öffentlichkeit weitgehend zugunsten des jeweils Ersteren eingebüßt zu haben scheint. Es lässt sich eine narrative Immunisierung des Gartenraums gegen seine höfische Umgebung beobachten. Doch gerade die vermeintliche Eindeutigkeit, mit der Konrad den boumgarten als Raum der heimlichen Liebe auserzählt, erzeugt mit Blick auf den Schwellencharakter des Baumgartens ein besonderes Konflikt- und Handlungspotential.

5.4.3 Zufällige Entdeckung Dass auf Liebe unausweichlich Leid folgen müsse (vgl. V. 3168–3170), lässt die scheinbar vollständige Exklusion des boumgarten gegen die Öffentlichkeit trügerisch und damit auch problematisch erscheinen. Die Eintracht ist fragil, denn der Gartenraum gehört dem Hofkomplex an und befindet sich daher grundsätzlich im Einflussbereich höfischer Normen und Werte. Als Verursacherin des drohenden Leids weist der Erzähler Frou Minne (V. 3171) aus, denn sie gewähre niemals Freude ohne Mühen.23 Mit der Raumbereichsdeixis dâ und der Bezeichnung als wünnecliche[] stat wird die bevorstehende Entdeckung des Paares vorausgreifend im Baumgarten lokalisiert (V. 3188 f.). Während die Liebenden dem Rezipienten zuvor als subsidiäre Leiber dienten, mit deren Hilfe er den Gartenraum und die von ihm ausgehende Wonne am eigenen Leib erfahren konnte, löst der Erzähler ihn nun aus der voyeuristischen Teilnahme an dieser Intimdyade heraus. Die Vorausdeutung auf die bevorstehende Entdeckung und das damit einhergehende Leid spielen eine Außensicht auf das heimliche Stelldichein im Baumgarten ein, die zuvor narrativ ausgeblendet wurde. si kâmen dâ ze melde / und wurden zuo den stunden / bî ein ander funden (V. 3192–3194). Denn der Baumgarten ist kein Raum gänzlich eigenen Rechts. Außerdem ist er nicht vollständig von seiner Umgebung ablösbar. Obwohl der boumgarten ein Schwellenraum ist, der daher besondere Handlungsspielräume ermöglicht, bleibt er nicht nur räumlich, sondern auch in seiner semantischen Codierung auf den Hof bezogen. Die Auflösung des Schwellencharakters zugunsten der Eindeutigkeit und Eintracht eines paradiesischen Raums für ein heimliches Geschehen muss in dieser Konstellation notwendig scheitern. Die Erzählzeit des heimlichen Treffens ist von Konrad stark aufgewertet. Die Ausführlichkeit von Engeltruds Schönheitsbeschreibung und die metaphorische Einbettung der Liebesvereinigung in die Freude spendende Natur suggerieren eine Zeitenthobenheit des Gartenraums. Doch die tatsächlich erzählte Zeit sei – so lässt der Erzähler wissen – nicht einmal lang genug gewesen, als dass man eine Meile hätte reiten können (vgl. V. 3202–3207). Indem der Erzähler das Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit

 Vgl. Rohr, Konrads kleiner Roman Engelhard, S. 321.

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relativiert, setzt er die begonnene Problematisierung der vorangegangenen Gartenszene fort. Das Erzählen verlässt daraufhin die Intimdyade im Baumgarten und wendet sich dem Widersacher Ritschier zu. Auf dem Hof umhergehend und einen Sperber abrichtend wird Ritschier als Repräsentant einer höfischen Öffentlichkeit eingeführt und auch räumlich in der entsprechenden Sphäre lokalisiert. Die Zähmung des wilden sperwer (V. 3213) rekurriert einerseits auf die Jagd als zutiefst höfische Betätigung, deutet andererseits jedoch auch den Konflikt an, der dem Prozess der Abrichtung und damit in gewisser Weise der Zivilisierung von Trieben innewohnt. In raumgreifenden Bewegungen schickt Ritschier den Sperber her und dar aus (V. 3214). Als Extension seines eigenen Einflussbereichs erfasst das Tier den höfischen Raum und bleibt dabei jeweils an den Besitzer als Fixpunkt zurückgebunden. Doch innerhalb dieses Prozesses bricht der Vogel von ungeschihte aus und entfliegt (V. 3216). Obwohl der Erzähler das Geschehen als eine Verkettung unglücklicher Umstände markiert, wird das Ausreißen des Tieres als ein Rückfall in einen naturbestimmten Zustand erkennbar. Die Triebe bemächtigen sich des noch nicht vollends abgerichteten Tiers. Von Ritschiers Position am Hof aus fliegt er schier in den boumgarten hin, / dâ die gelieben under in / bî ein friuntlîche lâgen (V. 3217–3219). Den Rückfall des Vogels in seine Triebhaftigkeit verbindet Konrad durch die direktionale Bewegung des Vogels räumlich mit der Liebesvereinigung von Engelhard und Engeltrud und somit dem Konflikt zwischen Heimlichkeit und Öffentlichkeit. Das Tier bricht zeitweise aus dem Prozess der höfischen Zähmung aus. Die Liebenden brechen im Baumgarten zeitweise aus dem normierten Bereich der höfischen Öffentlichkeit aus und geben sich ihrem Verlangen hin. Der Kontrollverlust Ritschiers über das Tier wird so mit der Situation im Baumgarten parallelisiert, in der die höfische huote versagt hat. als dicke wilde vogele tuont, ûf den boum ez dô gestuont dar under lâgen disiu zwei. si wâgen lîhte alsam ein ei meld und starke huote. (V. 3225–3229)

In der Szene des Stelldicheins konstruiert Konrad den Raum als mehrfach gesichert. Mauer und singulärer Zugang sichern den boumgarten gegen den Zutritt Unbefugter, der Baum bietet dem Paar auf einer vertikalen Achse Schutz. Ebenso versucht die Taktik der Immunisierung, den erzeugten Gartenraum von der höfischen Umgebung zu isolieren. Dass der Vogel sich ausgerechnet auf dem Baum direkt oberhalb des Paares niederlässt, zeigt, dass die Sicherung auf der vertikalen Achse nicht gewährleistet ist. Als Grenzgänger zwischen Hof und Außenwelt wählt der Vogel eben die Stelle im Raum, unterhalb derer sich ebenfalls Grenzgänger – zwischen Heimlichkeit und Öffentlichkeit – befinden. Die Gefahren durch melde und huote haben sie in ihrer Exklusion im Baumgarten als zu gering eingeschätzt. Das wird ihnen nun zum Verhängnis. Der Zufall offenbart die Problematik der Szene: Inmitten des Hofkomplexes, von die-

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sem aber unbemerkt, haben sich Ritter und Dame heimlich aus der Gesellschaft exkludiert, um einer (noch) unzulässigen Liebe zu frönen. wande als Ritschier daz gesach und bevant diz maere daz im der sperwaere entflogen in den garten was, dô kam er durch den palas geloufen alzehant dar în und vant daz veihe türelîn offen lâzen von geschiht, wan Engelhart beslôz ez niht. (V. 3232–3240)

Ritschier sieht, dass der Vogel in Richtung des Baumgartens entfliegt und nimmt die Verfolgung auf. In die direktionale Bewegung durch den palas und in den boumgarten kann der Rezipient sich auch deshalb gut hineinversetzen, weil er diesen Weg bereits mehrmals mitvollzogen hat, als Engelhard und Engeltrud den Raum aufsuchten. Auffällig ist, dass der Erzähler das Passieren eines Türchens erst bei Ritschiers Weg in den Baumgarten erzählt. So wird fast beiläufig offenbart, was dem Rezipienten bislang vorenthalten wurde. Die Tür ist von Engelhard auf seinem Weg in den Baumgarten nicht verschlossen worden. Somit erweist sich der Schutz des Gartens auf der horizontalen Achse als mangelhaft. Erneut ist der Zufall (hier diu geschiht, V. 3239) für die mangelhafte Abgrenzung verantwortlich. Beide Mechanismen, die den boumgarten zum heimlichen Raum des ungestörten Schäferstündchens machen sollten, versagen. Dieser räumliche Umstand macht deutlich, dass der boumgarten kein Raum ist, der von der Öffentlichkeit der Hofgesellschaft räumlich oder semantisch dauerhaft und erfolgreich abgetrennt werden kann. Er bleibt Teil des höfischen Komplexes und wird, wenn auch ‚nur‘ durch geschiht, von Drittfiguren betreten. In seiner Funktion als Entdecker des heimlichen Treffens vergleicht Hans-Joachim Behr Ritschier mit Marjodo.24 Sie sind sich freilich darin ähnlich, dass beide dem Paar, insbesondere dem Ritter, feindlich gesinnt sind und sich aus der Entdeckung eigene Vorteile erhoffen. Auch die Zufälligkeit des Geschehens ähnelt sich. Dennoch darf nicht vergessen werden, dass Marjodo bei Gottfried weder am belauschten Stelldichein noch an der tatsächlichen Entdeckung des Paares in der zweiten Baumgartenszene beteiligt ist. Während Marjodos Erkenntnisse in der Nacht des Ebertraums gerade daran kran-

 Behr sieht in Konrads Baumgartenszene sogar drei Szenen aus Gottfrieds Tristan eingearbeitet: Brangänes Anweisung zum Treffen im Gespräch mit Tristan, Aspekte der Minnegrottenhandlung und Isoldes Auftritt beim Hoftag in Irland. Vgl. Behr, Liebe und Freundschaft, S. 323–324. Unabhängig von sich ähnelnden Szenen bei Gottfried und Konrad geht Behr auf die Suche nach gemeinsamen Konzepten oder Motiven oder solchen, die Konrad von Gottfried ausgehend umdeutet. Wiewohl die literaturgeschichtlich enge Beziehung zwischen Tristan und Engelhard unbestritten ist, haben das Vorgehen Behrs und die so erlangten Erkenntnisse nur bedingt Überzeugungskraft.

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ken, dass er keine optische Bestätigung seiner Vermutung hat, kann der Rezipient Ritschiers monofokalen Blick auf das entdeckte Liebespaar teilen (vgl. V. 3254–3275). Die Raumbereichsdeixis dâ (V. 3259) verdeutlicht noch einmal, dass Ritschier die Liebenden an der Stelle unterhalb des Baumes findet, an der der Rezipient zuvor das heimliche Stelldichein nachvollziehen konnte. Ritschiers voyeuristischer Blick, in den sich der Rezipient als Blicksubjekt versetzen kann, fokussiert insbesondere die körperliche Nähe und Verschlungenheit. Das Paar erscheint – beinahe wie Tristan und Isolde im Moment ihrer Entdeckung25 – als Kunstwerk. Auf dem Polster liegend sind sie vollkommen immobil und nicht für eine Entdeckung gewappnet. Die Entdeckung selbst nehmen die Liebenden völlig passiv hin, und erst nachdem Ritschier den Baumgarten wieder verlassen hat, beginnen sie damit, Überlegungen über das weitere Vorgehen anzustellen. trüebez leit ersetzt für beide den vil liehten freuden schîn (V. 3318 f.). zorn, ungetriuwer muot und Neid charakterisieren Ritschier. Sie offenbaren sich auch in seiner Ansprache an das ertappte Paar (V. 3276–3284). Diese systematische Demontage der Figur Ritschier durch unbegründete Aggressionen gegen Engelhard dienen Konrad dazu,26 Engelhard und Engeltrud in der folgenden gerichtlichen Auseinandersetzung als Inhaber der rehten wârheit (V. 4037) darzustellen und so ihr offenkundiges Vergehen moralisch weiter abzumildern.27 Während die Spannung zwischen der Öffentlichkeit des umgebenden Hofes und der im Baumgarten hergestellten Heimlichkeit im Liebeslager von Engeltrud und Engelhard mithilfe einer Taktik der Immunisierung im Garteninneren suspendiert war, thematisiert Engelhard sie, nachdem der intime Raum entdeckt und aufgebrochen wurde: wer hat uns vermeldet hie? / von welhen sachen oder wie / wart unser tougen offen? (V. 3305–3307). Nachdem Ritschier den boumgarten verlassen (vgl. V. 3222) hat, sind die Liebenden aus ihrer Starre befreit. ir freude liezens under wegen und stuonden ûf erschrocken, als man die sturmglocke haet über si geliutet. (V. 3288–3291)

Analog zum Sperber, der die Entdeckung aus der Position oberhalb des Liebespaares einleitet, fühlen sich die Ertappten, als werde über ihnen eine Sturmglocke geläutet. Die Atmosphäre aus lieblicher Natur und den freudigen Gemütern der Liebenden

 Vgl. dazu S. 119f.  Lieberich liefert eine ausführliche Analyse, inwiefern Konrad den Neid des Antagonisten als Legitimations- und Entlastungsmechanismus für die Handlung nutzt. Vgl. Lieberich, Von und durch Neid erzählen, S. 1–20.  Kesting kontrastiert nicht nur zwei unterschiedliche Konzepte und Verwendungen von wâhrheit im Zusammenhang mit dem manipulierten Gottesurteil, sondern legt außerdem dar, dass die Minnehandlung in vergleichbarem Maße von triuwe bestimmt ist wie die jeweiligen Freundschaftsproben. Vgl. Kesting, diu rehte wârheit, S. 246–259.

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wird durch dieses imaginierte, akustische Signal unmittelbar zerstört. Nicht nur die Freude der Liebenden verschwindet, auch die Gartennatur mit ihrer stimulierenden Funktion tritt vollends in den Hintergrund. Die Entdeckung macht offenbar, dass der Baumgarten ein Raum ist, dessen hermetische Abriegelung gegen den Hof trotz entsprechender Praktiken nicht dauerhaft und vollumfänglich zu gewährleisten ist. So enttarnt die Entdeckung nicht nur den vorhandenen Konnex zwischen boumgarten und Hof, sondern macht das Entdeckte selbst zu einem Problem für den Hof.28 Dementsprechend ist das Gespräch zwischen den Liebenden auf den Hof und die Frage, was nun am besten zu tun sei, konzentriert. Obwohl sie die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass Engelhard den Hof verlässt, um sein Leben zu schützen, entschließen sich letztlich beide zu dem, was ihnen ihre gegenseitige triuwe gebietet: Keiner will den anderen alleine leiden lassen. Engelhard kann es nicht hinnehmen, dass Engeltrud der Bedrohung ihrer êre allein entgegentreten muss. Engeltrud wiederum will unbedingt das Leben des Geliebten schützen, auch wenn das den eigenen Ehrverlust bedeutet. Letztlich kommt Engelhard zu dem Schluss: swie mir ez aber drumbe ergê, die fluht wil ich vermîden und mit iu gerne lîden swaz mir ze lîdenne geschiht. wan ich enmac genesen niht, swenn ich von hinnen kêre. (V. 3410–3415)

Nur durch das gemeinsame Erdulden des sich abzeichnenden Konflikts kann Konrad die Verbindung zwischen den Liebenden aufrechterhalten und deren gegenseitige minne und triuwe betonen. Dort, am Hof, wo sie gemeinsam dem Liebesglück frönten, müssen die Liebenden auch gemeinsam dem daraus entstandenen Leid begegnen (vgl. V. 3420 f.). Ein Weggang vom Hof ist auch deshalb nicht denkbar, weil der Konflikt zwischen Öffentlichkeit und Heimlichkeit nur am Hof selbst gelöst werden kann. Eine Verlagerung des Konflikts wäre daher handlungslogisch kaum denkbar. In der Hoffnung auf göttlichen Beistand fassen die Liebenden den Plan, den in der Öffentlichkeit des Hofes zu erwartenden Vorwurf zu leugnen. Obwohl die folgende Handlung schlussendlich bestätigt, dass Engelhard die rehte wârheit (V. 4042) auf seiner Seite hat29 und Ritschiers Vorwürfe vom Erzähler als durch Neid getrieben entlarvt werden,30 erscheint das Geschehen im Baumgarten und der gefasste Plan zunächst als moralisch zweifelhaft. Die Liebenden trennen  Vgl. Müller, Zwischenräume, S. 301. Dass dieser heimliche Vorgang auch eine negative Wirkung auf die êre des Königs hat, daran erinnert Ritschier, als er den König von seiner Entdeckung berichtet und zum Einschreiten bewegen will (vgl. V. 3504–3521).  Vgl. Kesting, diu rehte wârheit, S. 246–259; Schnell, Wahrheit, S. 24–60.  Eine weitere Einordnung von Ritschiers Verhalten und seinen Beweggründen gibt der Erzähler unmittelbar im Anschluss an die Baumgartenszene (vgl. V. 3485–3499). Vgl. zum Neid des Antagonisten als Legitimationsstrategie Lieberich, Von und durch Neid erzählen, S. 1–20.

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sich und kehren aus dem Schwellenraum boumgarten in die Öffentlichkeit des Hofes zurück, in dem sie sich nun dem Problem ihrer heimlichen Exklusion stellen müssen. Trotz der räumlichen Rückkehr in die höfische Sphäre wird der boumgarten als Handlungs- und Wahrnehmungsraum präsent gehalten, indem Ritschier und Engelhard in ihrer ‚Beweisführung‘ auf den boumgarten Bezug nehmen. Nach einer Wechselrede zwischen den beiden Rittern, in der Beschuldigung auf Abwehr folgt, nimmt zuerst Ritschier Bezug auf das Gartengeschehen: durch liebe noch durch leide lâz ich die wârheit under wegen. ir sît ir nâhe bî gelegen dort in dem boumgarten. wil sîn der künic warten, den boum ich im noch zeige dar under iuwer veige minne wart zeim ende brâht. diz maere hân ich niht erdâht, wan ich nie keinen man verlouc. mîn sperwaere mir enflouc ûf daz rîs dar under diu Minne schuof ir wunder an iu beiden, wizze Krist. (V. 3904–3917)

Mit der origoexklusiven Raumbereichsdeixis dort referiert Ritschier von seinem Standpunkt in der höfischen Öffentlichkeit auf den Baumgarten und markiert die semantische als räumliche Entfernung zwischen beiden Räumen. Da nicht nur der König, sondern auch der Rezipient Adressat der Rede ist, wird Letzterer dazu aufgerufen, den Imaginationsraum des boumgarten zu reaktivieren. Er teilt jedoch den Standpunkt Ritschiers und imaginiert das vergangene Geschehen aus der Perspektive der höfischen Öffentlichkeit. Dies steht im Kontrast zur eigentlichen Szene des Stelldicheins, in der sich der Rezipient mithilfe der Protagonisten, ihrer Blicke und Bewegungen in den Baumgarten hineinversetzen und als legitimer, teilnehmender Beobachter imaginieren konnte. Konrad lässt Ritschier die vorgefundene Situation und die zur Entdeckung führenden Umstände genau rekonstruieren, um seiner Schilderung Authentizität zu verleihen. Für den Rezipienten wird das Stelldichein im Baumgarten mit wenigen narrativen Strategien wieder verfügbar gemacht. Durch den Rückbezug auf den Gartenraum erhält dieser eine gesteigerte Stabilität im Raum der erzählten Welt. Die deiktischen Prozeduren entwerfen ihn als einen präsenten Raum, auf den vom Standpunkt des Hofes aus gezeigt werden kann. Dieser Effekt wird verstärkt, wenn Ritschier seine Ausführungen damit legitimiert, dass er jederzeit den Baum, unter dem sich alles zutrug, zeigen könne.31 Der

 Ebenso dient der entflogene Vogel, den Ritschier im Anschluss an die Entdeckung nicht wieder einfing, als Beweisstück für die Richtigkeit und Verlässlichkeit seiner Aussage (vgl. V. 3928–3932).

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boumgarten wird als Teil der (höfischen) Erzählwelt verfügbar und existent gehalten, auch wenn dort gerade nicht gehandelt wird. Ritschiers Beweise erscheinen allerdings dürftig und werden sogleich in Engelhards Replik dekonstruiert. welt ir diu dinc bewaeren mit wilden sperwaeren, daz ist ein fremdez wunder. ir dürfet wol dar under geziuges unde urkündes mêr. der künic edel und hêr mac prüeven an der rede wol daz niemen iu gelouben sol als üppeclicher maere. wan ich gar tobis waere, swenn ich mich durch minne zuo der küneginne naehte in einen garten, und ich den unbewaren offen dâ gelieze den rigel an der porten tür. wer solte lâzen eine tür unbeslozzen an der zît swenn er bî liebe tougen lît um den lîp und um sîn leben? (V. 3935–3955)

Obwohl sich Ritschier als Augenzeuge ersten Ranges ausweist, hat er doch außer Indizien nichts vorzubringen. Der vorzeigbare Baum, unter dem das Liebestreffen seinen Lauf nahm, mag autoptisch für alle einsehbar sein und auch die Abwesenheit des Vogels wäre feststellbar, doch das tête-à-tête selbst lässt sich nicht mehr zeigen. In dieser Hinsicht teilt Ritschier das Schicksal von Marjodo, Melot und Marke, die jeweils Augenoder Ohrenzeugen eines geheimen Stelldicheins werden, ohne aber darüber hinaus eine verlässliche Beglaubigung vorweisen zu können, die die Heimlichkeit schlussendlich ans Licht der Öffentlichkeit zu ziehen vermag. In der nachträglichen Rekonstruktion des Geschehens nimmt Konrad vermutlich auch Anleihe an der Erzählung von Susanna im Bade im Buch Daniel (Dan 13,1–64). Die Alten können eine verleumderische Version der Vorkommnisse erfinden, weil weder sie selbst noch der Gartenraum für die Öffentlichkeit voll zugänglich oder durch sie kontrolliert waren. Ähnlich wie die Alten fungiert Ritschier als Vertreter einer Öffentlichkeit, die aber als Kollektiv das flüchtige Geschehen nicht mehr verifizieren kann. Auch aus diesem Grund kann Engelhard Ritschiers Argumente für den Betrug als unzureichend dekonstruieren. In einem zweiten Schritt entwirft er eine eigene Version des Geschehenen – oder eben nicht Geschehenen. Bemerkenswert ist, dass Konrad den Protagonisten dafür das unverschlossene Türchen in die Pflicht nehmen lässt. Bei Engelhards Eintritt in den boumgarten enthielt der Erzähler es dem Rezipienten noch vor. Erst als es zu spät

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ist und die Entdeckung unmittelbar bevorsteht, findet es Erwähnung und bleibt fortan auch in dem Gespräch zwischen Engelhard und Engeltrud ausgespart. Engelhard nutzt den Umstand, dass das Türchen nicht verschlossen war, als Argument, dass sich das von Ritschier Geschilderte nicht habe zutragen können. Bei genauerem Hinsehen lässt sich Engelhards Argument in zwei Teile zerlegen. Erstens, so Engelhard, würde er für ein heimliches Stelldichein nicht den Baumgarten als Ort der Liebesbegegnung aussuchen. Zweitens ließe er, falls er doch den boumgarten wählen würde, auf keinen Fall das Türchen unverschlossen. Mit beiden Aspekten gelingt es Engelhard, sich als jemanden auszuweisen, der die höfischen Regeln und die Struktur des höfischen Raums kennt. Dass der zum Hof gehörige und diesem prinzipiell zugängliche Gartenraum nicht der passende Raum für die Erfüllung heimlicher Liebe sei, gibt der junge Ritter zu wissen vor. Er gibt weiterhin zu bedenken, dass er wisse, welche Vorkehrungen für ein heimliches Treffen zu tätigen seien. So inszeniert sich Engelhard selbst als kundiger Höfling, der über den Unterschied zwischen heimlichem und öffentlichem Handeln bestens Bescheid weiß und daher keinen so törichten Fehler begehen kann. Ergo, so der Schluss aus seinem Argument, könne das von Ritschier zum Besten gegebene Geschehen nicht den Tatsachen entsprechen. Über die Reaktivierung des Handlungsraums hinaus, animieren die Plädoyers von Ritschier und Engelhard den Rezipienten dazu, die geschilderten Versionen imaginativ an den boumgarten zurückzubinden. Konrad spielt auf diese Weise – wie die biblische Erzählung von Susanna im Bade im Übrigen auch – die Überlegenheit des Rezipienten aus, denn nur der Rezipient weiß um das tatsächliche Geschehen, und zwar aus beiden Perspektiven. Sowohl Ritschier als auch die Liebenden werden für ihn in der eigentlichen Baumgartenszene zu subsidiären Leibern, mit deren Hilfe der Baumgarten imaginativ aus verschiedenen Perspektiven wahrgenommen werden kann. Das verleiht ihm als Raum in der Imagination eine Stabilität, auf der das spätere Gespräch über die Handlung im boumgarten fußt. Indem die Erzählung alternative Wirklichkeiten durchspielt, regt sie den Abgleich und die Reflexion des Erzählten mit dem Vorangegangenen an. Da die Ritter jeweils auf unterschiedliche, räumliche Merkmale und Relationen Bezug nehmen, richtet sich diese Reflexion zum einen auf die narrative Ausgestaltung des boumgarten, zum anderen wird gerade in Engelhards Plädoyer auch die semantische Codierung des boumgarten als Schwellenraum wieder virulent. Letztlich verhandeln die Figuren in ihren unterschiedlichen Entwürfen Wahrscheinlichkeiten. Es geht darum, der intradiegetischen Zuhörerschaft eine plausible Variante der Geschehnisse zu liefern. Als in der Erzählwelt fest verankerter Raum kann der Baumgarten von den Figuren zu diesem Zweck auf unterschiedliche Weise instrumentalisiert werden. Da die höfische Öffentlichkeit nicht sicher entscheiden kann, wer Recht und wer Unrecht hat, muss die Lösung des Patts wie im Buch Daniel Gott überlassen werden. Während der Gott der Bibel die Unschuldige entlastet und die Verleumder bestraft, gewinnt bei Konrad jedoch die Partei das Gottesurteil, die

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nach eigener Aussage nicht die Wahrheit sagt. Anders als in der Bibel erweist sich der Gott der höfischen Literatur auch als höfische Instanz, wie Jan-Dirk Müller betont: In der Konkurrenz höfisch-öffentlichen Sprechens kommt authentische Rede, kommt die Wahrheitsfrage, die Alternative von wahr und falsch, gut und böse gar nicht mehr vor. […] Gott läßt sich auf die Ambiguität höfischen Sprechens ein und hält sich an das, was alle hören können.32

Engelhard gelingt es daher in der Kombination aus manipulierten Zeichen und der Vertretung durch den tatsächlich unschuldigen Freund Dietrich als Inhaber der rehten wârheit aus dem Gottesurteil hervorzugehen und moralisch entlastet zu werden.33

5.4.4 Dietrichs plân Die erste Freundschaftsprobe, in der Dietrich seinen Freund Engelhard im Kampf gegen den Widersacher Ritschier vertritt, nimmt ihren Ausgang von der Baumgartenszene. Erst das heimliche Stelldichein und dessen Entdeckung in flagranti bringen den Konflikt zwischen Heimlichkeit und Öffentlichkeit an die Oberfläche. Die Reaktivierung des Imaginationsraums im Gespräch und der Bezug auf seine räumlichen und semantischen Eigenschaften gibt zudem Aufschluss darüber, warum Engelhards Verhalten letztlich doch zur Wahrheit der höfischen Öffentlichkeit werden kann. Unter einem Primat der Öffentlichkeit wird die Ersetzung der Freunde im Gerichtskampf daher nicht zum moralischen Problem. Die zweite Freundschaftsprobe hat ihren Ursprung auf einem plân auf der Insel vor Dietrichs Burg. Kurze Zeit nachdem Dietrich für seinen Freund Engelhard das Ordal gegen Ritschier bestritten hat, erkrankt er am Aussatz. Mit der Verschlechterung der Krankheit zieht sich Dietrich auf eine Insel zurück, die über einen locus amoenus verfügt. Dort erscheint ihm ein Engel und verkündet, wie er geheilt werden könne. Obwohl die Ausgestaltung des plân auf den ersten Blick der des Baumgartens zu ähneln scheint, handelt es sich doch um zwei unterschiedliche Raumkonfigurationen, die es kurz textintern zu kontrastieren gilt. Beide besetzen eine ähnliche Stelle in der Makrostruktur der Erzählung, denn sie motivieren die Freundschaftsproben.34 Doch was zeichnet die jeweiligen Raumkonfigurationen aus, wie werden sie erzählt und für die Handlung funktionalisiert? Die Analyse der räumlichen und semantischen Ausgestaltung der Aussatzszene bietet außerdem die Gelegenheit, mögliche Vorteile der vorge-

 Müller, Zwischenräume, S. 313.  Ein weiterhin wichtiger Hinweis Müllers ist, dass die Erzählungen sowohl im Tristan als auch im Engelhard nicht zwischen Schein und Sein unterscheiden. Das für den Hof Sichtbare legitimiert sich außerdem durch den Bestand, den es für die Erzählung erhält. Vgl. Müller, Zwischenräume, S. 313–316.  Unter anderem Göttert und Rohr befragen die beiden Probekomplexe auf Gemeinsamkeiten. Vgl. Göttert, Tugendbegriff, S. 135–148; Rohr, Konrads kleiner Roman Engelhard, S. 305–348.

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schlagenen engen Definition von boumgarten zu skizzieren und einen Hinweis auf die Frage zu geben, worin das spezifische Potential dieses Handlungsraums besteht. Analog zu Engelhard verwandelt sich Freude auch für seinen Freund Dietrich kurze Zeit nach der ersten Probe in Leid, denn er erkrankt an der miselsuht.35 Von der Krankheit gezeichnet, der Herrschaft beraubt, den eigenen Untertanen zuwider geworden (vgl. V. 5148–5217) und auf eine Insel ‚abgeschoben‘ wird Dietrich im wahrsten Sinne des Wortes zum Aussätzigen.36 Die Insel (vgl. V. 5230–5243) wie auch der plân (vgl. V. 5322–5347), auf dem Dietrich der Engel mit dem entscheidenden Hinweis auf die einzige Heilungsmöglichkeit erscheint, zeichnen sich durch eine Fülle an topischen Ausstattungsmerkmalen aus und machen sie zu schönen Naturorten. Zwar suggerieret das Wachsen der Blumen und Bäume wie auch das Fließen des Wassers eine gewisse Dynamik, doch entsteht die Insel als Ganzes dadurch nicht als konsistenter, plastischer Imaginationsraum. Der Fokus von Konrads Beschreibung liegt eher auf der durch die prächtige Natur entstehenden Atmosphäre: alsam ein irdesch paradîs / beschoenet stuont diz einlant (V. 5234 f.). Der plân wird in seiner räumlichen Ausstattung allerdings detaillierter narrativiert. Er ist ein Teil des insularen Naturraums und daher nicht von diesem abgegrenzt. Mit der Raumbereichsdeixis dâ referiert der Erzähler auf eine Quelle, die der kranke Dietrich aufsucht, um in der lieblichen Natur Linderung zu erhalten. Langsam bewegt er sich über den plân auf die Quelle zu (vgl. V. 5322 f.), wo von böumen obe ein walt / vil maneger hande leie (V. 5324 f.) thront. Die so etablierte, vertikale Achse gestaltet Konrad aus, indem er unter anderem die Farben der Äste, Blüten und Blätter beschreibt. Kollektive Blicke dienen dazu, die Umgebung rund um den Brunnen als multisensorisches Erlebnis zu erzählen. In Verbindung mit den deiktischen Prozeduren und Dietrichs erzählter Bewegung entsteht die Brunnenumgebung so als räumlicher Kern der nicht abgetrennten Grünfläche. Das Ensemble aus Brunnen, Bäumen und Sonne kann als dreidimensionaler Raum von Handlung und Wahrnehmung imaginiert werden. Konrad verwendet für die Raumerzeugung des insularen plân also in einem ähnlichen Maße solche narrativen Strategien, wie sie die Analysen auch für die Raumerzeugung der Baumgartenszenen herausgearbeitet haben. Den in dieser Arbeit gewählten methodischen Zugriff festigt diese Erkenntnis zur Raumerzeugung des plân, legt sie doch nahe, dass er sich dazu eignet, auch außerhalb des Baumgartens die narrative Erzeugung von Raum zu untersuchen. Während aber der boumgarten nicht nur bei Konrad mithilfe von wechselnden Blickkonstellationen, Figurenbewegungen und dem erzählerischen Rückbezug als Raum aus unterschiedlichen Origines imaginierbar wird, mangelt es dem Naturraum des plân an einer solchen Polyfokalität.

 Vgl. Göttert, Tugendbegriff, S. 153–162.  Jacob Grimm, Wilhelm Grimm: Art. Aussatz. In: DWb Bd. 3: Antagonismus–azyklisch. Leipzig 2007, Sp. 1320 f.

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Dietrich fehlt auf seiner Aussatzinsel nicht nur die höfische Einbindung, sondern auch die Interaktion, die eine Polyfokalität mit sich bringen würde. Obwohl er anfänglich noch durch die Höflinge versorgt wird, ist der Naturraum vollends von der Öffentlichkeit des Hofs abgegrenzt. „Wer auf einer Insel lebt, ist im höfischen Roman ‚tot‘, aus der Welt.“37 Bewegungen oder gar Blicke zwischen dem Hof und der Insel spielen kaum eine Rolle und werden vom Erzähler nicht zugunsten einer narrativen Raumerzeugung in Dienst genommen. Statt die räumliche und topologische Verbindung auf der horizontalen Achse auszuerzählen, widmet sich Konrad der vertikalen Achse dieser Brunnennatur. Der jâmerhafte Dieterich ûf sînen elenbogen sich leinte zuo dem brunnen und barc sich vor der sunnen hin under dâ es schate was. wazzer, bluomen unde gras sach er mit vollen ougen an. (V. 5351–5357)

Auf dieser Achse zwischen der Quelle unten, dem darüber gebeugten Dietrich und den vor der Sonne Schutz spendenden Bäumen oben gesellt sich eine weitere Instanz hinzu. Nach der Klage über sein Leid und den daran anschließenden Todeswunsch schläft der Kranke erschöpft ein und gibt Gelegenheit für den Eingriff Gottes in das irdesch paradîs.38 Als oberste Instanz auf der vertikalen Achse des Brunnenensembles sendet Gott einen Engel hin under (V. 5434–5441), der ihm eingibt, dass er nur geheilt werden könne, wenn Engelhard sîner zweier kinder leben / für dich [Dietrich, T.S.] ze pfande gibt (V. 5465 f.). Im Kontext der höfischen Literatur wird auch der (boum-)garten vielfach als irdisches Paradies bezeichnet oder spielt durch seine räumliche und semantische Konstruktion Reminiszenzen an das Paradies ein. Anknüpfungspunkt dieser Zuschreibungen ist meist die exklusive Zweisamkeit von Mann und Frau. Im höfischen Kontext des boumgarten erweist sie sich, wie die hier versammelten Analysen gezeigt haben, letztlich jedoch als pseudoparadiesisch, wenn sie nicht sogar vollends als Illusion entlarvt wird. Als schöner Naturraum innerhalb eines höfischen Raumkomplexes taugt der Baumgarten nicht als irdisches Paradies für Liebende, die sich dem Lichtkegel der Öffentlichkeit entziehen wollen.  Horst Brunner: Die poetische Insel. Inseln und Inselvorstellungen in der deutschen Literatur. Stuttgart 1967 (Germanistische Abhandlungen. 21), S. 51.  Rohr sieht das Eingreifen Gottes in dieser Szene als Parallele zum Eingreifen der Frou Minne, die in der Baumgartenszene dafür sorgt, dass Liebe in Leid verkehrt wird. Vgl. Rohr, Konrads kleiner Roman Engelhard, S. 332. Allerdings ist zu bedenken, dass sich schon im Moment der Erkrankung Freude für Dietrich in Leid verwandelt. Es müsste also genauer geklärt werden, worin genau eine Parallelität zu sehen wäre.

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Bei dem plân und bei der Insel als Ganzes handelt es sich jedoch nicht um einen (Baum-)Garten. Gerade die natürliche, vom Hof vollends getrennte und daher nicht höfische Umgebung des Brunnens ermöglicht wie auch die vertikale Ausrichtung ‚dem Himmel entgegen‘ das Eingreifen Gottes. Sicher ist Dietrichs Verfassung nicht paradiesisch und steht im expliziten Kontrast zur lieblichen Umgebung, aber ihre Verbindung mit Gott macht die Insel tatsächlich zu einem irdesch paradîs. Allerdings vermag diese paradiesähnliche Verbindung von Gott zu Dietrich nicht über den Mangel an sozialer Eingebundenheit hinwegzutäuschen. Denn Gott heilt den Kranken nicht einfach, sondern formuliert vielmehr die zweite Freundschaftsprobe als unbedingte Voraussetzung für seine Heilung. Nach der göttlichen Offenbarung lebt Dietrich zunächst manege stunde / mit jâmer und mit leide (V. 5572 f.) weiter auf der Insel. Zum Aufbruch führt erst die weitere soziale Ächtung, denn seine Versorgung und Pflege werden immer prekärer. Der Erzähler berichtet in Form einer Psychonarration, dass Dietrich dieses Dasein so unehrenhaft und unverdient erscheint, dass er in der Folge den Aufbruch zu seinem Freund wagt. der kunden liute smâcheit tet im alsô wê daz er zuo dem werden ê von dannen wolte kêren ê daz er mit unêren in sînem lande waere. (V. 5614–5619)

Statt um der Heilung willen sucht der Kranke den Freund aufgrund der gegenseitigen triuwe und Freundschaft auf. Er hofft an Dietrichs Hof auf ein Minimum an sozialer Reintegration (vgl. V. 5648–5653). Schließlich wird ihm der Freund ebenso zur körperlichen wie sozialen Rehabilitierung und Reintegration verhelfen, wie er dies für ihn im Gerichtskampf erstritt. Die Verbindung zu Gott und das göttliche Eingreifen in das Schicksal der beiden Freunde qualifiziert den plân der Insel als irdesch paradîs. Doch wie im biblischen Paradies ist die Verbundenheit zwischen dem Menschen und Gott nicht von Dauer, denn sie wird alsbald aufgelöst. Erfolgt die Entfernung aus dem Paradies in der Genesis noch als Strafe, ist die Eingebung des Engels an Dietrich eine Hilfestellung für seine Heilung. Aber nicht Gott bewerkstelligt die Heilung. Auf der sehr handlungsarmen und interaktionslosen Insel wird der Weg zur Heilung angestoßen, denn erst die gegenseitige triuwe der beiden Männer führt zur Heilung und letztlich mit der Hilfe Gottes zur Rettung der Kinder. Insbesondere der fehlende unmittelbare Bezug auf den Hof – räumlich wie semantisch – kennzeichnet den plân auf Dietrichs Aussatzinsel als Raum der außerhöfischen Sphäre und verdeutlicht, dass es sich bei diesem paradiesisch anmutenden locus amoenus nicht um einen Baumgarten handeln kann. Schließlich zeichnet sich das Vorstellungskonzept des Baumgartens eben durch diese im Grunde unauflösliche Verbindung zwischen Baumgarten und Hof aus. Der boumgarten liegt zwar in der Peripherie des

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Hofes, ist aber immer ein Teil des höfischen Raums. Erst diese räumliche und semantische Bindung an seine Umgebung macht ihn zum Schwellenraum. Außerhöfische Räume wie Dietrichs Aussatzinsel oder die Umgebung von Tristans und Isoldes Minnegrotte rekurrieren immer auf die höfische Sphäre, indem sie im räumlichen ‚Draußen‘ in der Regel eine Art Gegenentwurf zur höfischen Sphäre konzipieren.39 Nichtsdestotrotz können sie natürlich auch als konsistente Imaginationsräume in der Narration erzeugt werden und einen wichtigen Einfluss auf die Handlung haben, wie an dem plân auf Dietrichs Insel zu beobachten war. Der plân und die Aussatzinsel als Ganzes geben dem aus der Welt gefallenen und vor der Welt geflohenen Dietrich einen Raum. Im Naturraum sind die Spannungsverhältnisse nicht aktiv und polyvalent wie im boumgarten, denn der schöne Naturort steht explizit in keiner unvermittelten, räumlichen und sozialen Verbindung zur höfischen Öffentlichkeit. In ihrer Funktion als räumliches Draußen problematisiert die Aussatzinsel indes die soziale und räumliche Ausgrenzung aus dem höfischen Raumbereich. Der schöne Naturort setzt in seiner räumlichen Ausdifferenzierung und semantischen Codierung den Entzug der gesellschaftlichen Zugehörigkeit ins Bild. Obwohl die Szene derart handlungsarm ist, gewährt die Konstruktion eines Raums völlig außerhalb der höfischen Sphäre doch eine entscheidende Handlungsmöglichkeit, i. e. der Eingriff Gottes in Dietrichs Schicksal. Im räumlichen wie gesellschaftlichen Draußen der Aussatzinsel wird die Reintegration und Resozialisation des kranken Dietrichs auf den Weg gebracht. Es lässt sich demnach zeigen, dass die Brunnenumgebung wie die gesamte Insel – ungeachtet des für Dietrich gebauten Rückzugsorts – ein lieblicher Naturraum ist und kein boumgarten im hier definierten Sinne. Wenn der Baumgarten als umgrenzter Raum verstanden wird, der in räumlichem und semantischem Bezug zum Hof steht, dessen Ausgestaltung zweckorientiert ist und an den Beschreibungstraditionen des locus amoenus oder auch des Paradiesgartens partizipiert, ergeben sich aus der Analyse des plân auf Dietrichs Aussatzinsel zwei methodische Reflexionen, die den Gewinn einer engen Definition von Baumgarten zu konturieren helfen. Erstens: Obwohl plân und boumgarten liebliche Räume sind, macht dieses „Hauptmotiv aller Naturschilderung“40 den plân der Insel nicht automatisch zum Garten. Der Topos des locus amoenus kann für die unterschiedlichsten Räume diesseits und jenseits der Grenze zwischen höfischer und außerhöfischer Sphäre Verwendung finden. Zwar ist in der Regel jeder (Baum-)Garten ein locus amoenus – das gilt in gewisser Weise auch noch für solche Gärten, die als locus terribilis konstruiert werden, denn sie konterkarieren die Eigenschaften des Topos gezielt –, doch nicht jeder locus amoenus ist ein (Baum-)Garten.

 Christian Kiening weist dieser Spannung zwischen höfischer und außerhöfischer Existenz für den höfischen Roman einen experimentellen Charakter zu. Das Spannungsverhältnis diene dazu, Übergänge und Diskontinuitäten zwischen den Polen zu verhandeln. Vgl. Kiening, Zwischen Körper und Schrift, S. 60 f.  Curtius, Europäische Literatur, S. 202.

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Zweitens: Auch die Abgrenzung gegen das Außen, die für die Insel ebenso konstitutiv ist wie für den Garten,41 qualifiziert den plân noch nicht als (Baum-)Garten. Der Brunnenumgebung, in der sich Dietrich aufhält, fehlt die räumliche und semantische Bindung an den Hof. Es wird deutlich, dass diese Bindung des Baumgartens an den Hof eine wichtige Bedingung für diesen darstellt. Das Handlungs- und Konfliktpotential des Baumgartens als Handlungsraum besteht gerade darin, dass er seiner Abgrenzung zum Trotz ein Teil des höfischen Raums ist und die höfische Öffentlichkeit daher zumindest potentiell räumlichen wie semantischen Zugriff auf den Gartenraum hat. Bei Konrad ist es vielmehr so, dass Dietrichs Insel vollständig von der höfischen Welt getrennt ist. Auch wenn Dietrich vom Hof aus versorgt wird, ist seine Insel ausdrücklich antisozial, nichtöffentlich und nichtrepräsentativ konstruiert. Dietrich ist dort auf sich selbst zurückgeworfen und gerade deshalb bedarf er des einen Freundes, an den allein er sich noch wenden kann. Eine enge Definition von ‚boumgarte‘ ermöglicht es, wie stellvertretend an diesen beiden Raumkonfigurationen des Engelhard zu sehen war, nach Eigenheiten der narrativen Erzeugung des boumgarten als polyvalenten Schwellenraums zu fragen und dessen Funktionalisierung für die Erzählung in den Blick zu nehmen. Indem die Erzählungen von und im Baumgarten zu dessen Schwellencharakter Stellung beziehen und ihn narrativ als Handlungsraum auserzählen können, generieren sie, wie die Analysen zeigten, ein Handlungspotential, das diesen Raum genuin auszeichnet. Im direkten Spannungsfeld zwischen außerhöfischer und höfischer Sphäre, Heimlichkeit und Öffentlichkeit, Peripherie und Zentrum können die höfischen Romane mit dem boumgarten als Handlungs- und Wahrnehmungsraum Normen und Strukturen der höfischen Gesellschaft problematisieren und ihre Konflikte auserzählen.

5.4.5 Konrads Baumgarten und plân: Problematisierung sozialer Exklusion Der boumgarten in Konrads Engelhard zeichnet sich zu Beginn eher weniger durch die narrative Ausgestaltung seines Inneren aus. Er wird räumlich und semantisch als Kontrapunkt zur umgebenden höfischen Öffentlichkeit entworfen. Die mehrfach erzählte und wieder aufgerufene Figurenbewegung in den Baumgarten nimmt ihren Ausgangspunkt in der Mitte der höfischen Öffentlichkeit und führt die Liebenden als subsidiäre Leiber des Rezipienten über die Nicht-Öffentlichkeit von Engeltruds Kemenate in den Gartenraum. Indem sich der boumgarten räumlich durch eine hohe Mauer, einen singulären Zugang und einen das ruhende Paar überragenden Baum auszeichnet, wird die Exklusion gegen das Außen von Konrad räumlich inszeniert. Das Arrangement des boumgarten ist somit maßgeblich durch die räumliche und semantische Differenzierung gegen seine höfische Umgebung bestimmt. Im tatsächli-

 Vgl. Brunner, Die poetische Insel, S. 237–264.

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chen Stelldichein ist diese Umgebung hingegen deutlich ausdifferenziert. Mithilfe von erzählter Bewegung, deiktischen Prozeduren und bifokalen Blickkonstellationen wird ein dreidimensionaler Handlungs- und Wahrnehmungsraum erzeugt, in dem der Rezipient dem heimlichen Treffen von Engelhard und Engeltrud beiwohnt. Der Fokus der Erzählung liegt nun auf der Freude spendenden Natur, denn sie bildet die Voraussetzung für die körperliche Vereinigung und stellt hierfür zugleich die passende Metaphorik zur Verfügung. So entsteht im Stelldichein ein ‚Garten im Garten‘, der die Naturhaftigkeit der ausgelebten Minne akzentuiert und die moralische Entlastung der Protagonisten vorbereitet. Eine Taktik der Immunisierung versucht, den Baumgarten als intimen Raum gegen die höfische Umgebung abzuschotten. Der zufällige Einflug des Vogels und die darauffolgende Entdeckung durch Ritschier brechen diese traute und bis dahin als unproblematisch dargestellte Exklusion auf und spielen erneut die Außenperspektive des Hofs auf das heimliche Geschehen ein. Während der Rezipient das Geschehen zuvor als Teilnehmer an der Intimdyade imaginierte, markiert Konrad das Geschehen in der Entdeckung aus der Sicht des Hofes als heimlich und somit problematisch. Die zuvor ausführlich erzählte Gartennatur tritt völlig zurück. Stattdessen stehen erneut die Abgrenzungs- und Schutzvorrichtungen im Fokus der Erzählung. Sie entpuppen sich auf der vertikalen wie horizontalen Achse als funktionslos oder wenigstens mangelhaft – der Sperber greift von oben in den Gartenraum ein, das Tor in den Baumgarten bleibt unverschlossen. Konrad inszeniert den Versuch der Immunisierung gegen die höfische Öffentlichkeit dadurch als vergeblich und unmöglich. Der prinzipielle Einfluss und Zugriff des Hofs auf den Gartenraum lässt sich ebenso wenig ausschalten wie die Gefahr einer Entdeckung; beide Aspekte sind permanent wenigstens latent gegeben. Durch diese narrative Erzeugung des boumgarten wird dessen Spannungsverhältnis zwischen Öffentlichkeit und Heimlichkeit zum Thema. Die vom Erzähler und den Figuren betriebene ‚Vereindeutigung‘ des Schwellenraums hin zu einem heimlichen, intimen Raum der Liebe muss scheitern. Vor dem Stelldichein und im Moment der Entdeckung ist die narrative Erzeugung des Gartenraums maßgeblich auf die räumliche und semantische Exklusion des boumgarten gegen das Außen konzentriert. Die narrative Raumerzeugung des Garteninneren spielt hingegen als Voraussetzung für das Stelldichein und die Entdeckung eine wichtige Rolle für die Handlung, bevor die gescheiterte Exklusion im Zuge der Entdeckung erneut virulent wird. Es zeigt sich, dass die narrative Raumerzeugung des Gartenraums bei Konrad nicht einem durchgehenden Muster folgt, sondern dass Konrad die Verschiebung des erzählerischen Fokus der Raumnarration funktional für die Ausgestaltung des Imaginationsraums einsetzt. Wiederholt wird der Rezipient dazu angehalten, den Imaginationsraum erneut zu reaktivieren und ihn weiter imaginativ auszugestalten. Der boumgarten ist als Raum der erzählten Welt grundsätzlich – für die Imagination des Rezipienten wie für die Handlung – verfügbar. Indem das Erzählen immer wieder direkt oder indirekt auf ihn rekurriert, erhält er eine besondere räumliche Stabilität, wie sie Zumthor zufolge vor allem den Räumen der demeure eigen ist.

Konrads von Würzburg Engelhard

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Auch wenn das Gottesurteil dank der Freundschaftsprobe zugunsten von Engelhard ausgeht und ihn im Besitz der rehten wârheit zeigt, bleibt die Problemkonstellation der Baumgartenszene grundsätzlich gegenwärtig. Heimlichkeit bedroht die Öffentlichkeit, so dass es im Interesse der Letzteren liegt, heimliches Geschehen – sofern es kein heimliches, aber letztlich der Öffentlichkeit zuträgliches Herrscherhandeln ist42 – zu sanktionieren und womöglich gänzlich zu verhindern. Der Ausgang des Kampfes kann als Relativierung eines Unbedingtheitsanspruchs der Öffentlichkeit verstanden werden. Indem sich Engelhard die Regeln des öffentlichen Sprechens zunutze macht, behauptet er die Existenz des heimlichen Raums innerhalb des höfischen Raums nachträglich. Diesen grundlegenden Konflikt zwischen Öffentlichkeit und Heimlichkeit knüpft Konrad an den boumgarten als Schwellenraum. Er ist zunächst räumlich, aber ebenso semantisch von der Öffentlichkeit getrennt, liegt aber letztlich dennoch in ihrem Einflussbereich. Nicht nur die Handlung im Baumgarten, die Konrad, wie zu sehen war, jeweils mit unterschiedlichen Fokusverschiebungen in den Blick nimmt, agiert diesen Konflikt aus, sondern auch die narrative Erzeugung des Baumgartens – die nicht funktionsfähige Abgrenzung sowie das Zurücktreten der Gartennatur im Moment der zerstörten Freude – inszeniert die Problemstellung auf der Ebene des erzählten Raums und seiner semantischen Codierung. Die Problematik der sozialen Exklusion verhandelt Konrad anhand von Dietrichs Aussatzerkrankung in anderer Schattierung. Ihm wird der Bezug zur Öffentlichkeit seines Hofes nach und nach vollkommen verweigert. Insbesondere der Umstand, dass es sich bei Dietrichs Aussatzinsel und dem dazugehörigen plân nicht um einen Baumgarten handelt, vermag es, dies auch räumlich zur Darstellung zu bringen. Dem fehlenden Bezug zur Gesellschaft stellt Konrad das göttliche Eingreifen zur Seite. Dietrichs irdesch paradîs ermöglicht ihm zwar nicht die Heilung, doch herrscht in diesem Naturraum zumindest zeitweise eine Verbindung zu Gott, die es dem Kranken erlaubt, von seiner einzigen Heilungsmöglichkeit zu erfahren. Die letztendliche Heilung vermag jedoch nur der innige Freund zu leisten. Beide Freundschaftsproben beheben für die Freunde daher letztlich ein gestörtes Verhältnis zur höfischen Gesellschaft, das in den die Proben vorbereitenden Szenen vor allem räumlich ausdifferenziert und problematisiert wird. Insofern ist auch der paradiesähnliche Aufenthalt Dietrichs auf der Aussatzinsel nur vorübergehend und muss wie der Aufenthalt im biblischen Paradies beendet werden. Zwar erleben auch Engelhard und Engeltrud bei ihrem Stelldichein im Baumgarten ihr saelden paradîs (V. 3148), doch der boumgarten selbst erweist sich dank des gescheiterten Exklusionsversuchs höchstens als Kontrafaktur eines Paradieses. Das gesellschaftliche Ideal des Engelhard ist die räumliche und soziale Inklusion im Verbund des Hofes, zu der die Freunde einander verhelfen. Den Baumgarten und den plân Dietrichs lediglich als Paradiesräume zu verstehen und zu parallelisieren, lässt das Konfliktpotential im Widerstreit zwischen Öffentlichkeit

 Vgl. Wenzel, Öffentlichkeit und Heimlichkeit, S. 335–345.

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und Heimlichkeit außer Acht und greift daher zu kurz.43 Denn die Gemeinsamkeit ist nicht die Gestaltung der Räume als Paradies. Die Paradiesanspielung wird in der Baumgarten- wie auch der Aussatzszene vielmehr eingespielt, um in Auseinandersetzung damit die Einschränkung oder problematische Unzulänglichkeit dieser Bezeichnung narrativ herauszuarbeiten. Vielmehr dienen Konrad beide Räume dazu, die Bedingungen und Konflikte von höfischer Öffentlichkeit sowie Heimlichkeit bzw. Intimität in diesem Kontext zu problematisieren. Während die Baumgartenszene den Widerstreit zwischen Öffentlichkeit, Nicht-Öffentlichkeit und Heimlichkeit ins Bild setzt, problematisiert die Aussatzinsel die völlige soziale und räumliche Ausgrenzung aus der höfischen Sphäre. Wie zu sehen war, wird dies maßgeblich über die narrative, räumliche und semantische Ausgestaltung der beiden unterschiedlichen Räume bewerkstelligt. Innerhalb der höfischen Welt ist die Abschottung von Liebenden immer problematisch und erweist sich auch im Fall von Engelhard und Engeltrud als trügerisch. Weil der Baumgarten ein Raum ist, der Teil des höfischen Raums ist, ohne jedoch ein vollgültig öffentlicher Raum zu sein, kann dieses Konfliktpotential zwischen Öffentlichkeit und Heimlichkeit gerade in den höfischen Gartenszenen – wie hier in Konrads Engelhard – so differenziert räumlich und semantisch konstruiert werden. Ebenso muss die vollständige, gesellschaftliche Isolation Dietrichs zusammen mit seinem Aussatz geheilt werden. Trotz der göttlichen Unterstützung kann nur der Freund unter Aufbietung großer Opfer die Reintegration Dietrichs in die höfische Sphäre leisten. Vor dem Hintergrund der hier analysierten Szenen, die jeweils die beiden zentralen Freundschaftsproben bedingen und vorbereiten, erscheint neben der unbedingten triuwe der Freunde die räumliche und soziale Inklusion in den Verbund des Hofes als das gesellschaftliche Ideal des Engelhard.

5.5 Vielfalt der Baumgärten in der höfischen Literatur Ausgehend vom Baumgarten als einem polyvalenten und spannungsreichen Schwellenraum entwerfen die bislang analysierten höfischen Romane mit bemerkenswert konsistenten Mitteln ganz verschiedene Baumgärten. Indem in den Gärten das fragile Gleichgewicht zwischen höfischer und außerhöfischer Sphäre, zwischen Zentrum und Peripherie sowie Öffentlichkeit und Heimlichkeit aus der Balance gebracht wird, generieren sie ganz spezifische Handlungs- und Konfliktpotentiale. Die Vielfalt des Erzählens von und im Baumgarten zeigt sich in der höfischen Literatur auch jenseits der obigen Analysen. Zu deren Abschluss gilt es, den Blick auf die Vielgestaltigkeit der Baumgärten in der höfischen Literatur auszudehnen. Zu fragen ist außerdem nach

 Die Erkenntnis Felix Urbans, dass es in beiden Räumen – und darüber hinaus in weiteren Szenen – zu einer vorübergehenden Angleichung der Figuren kommt, scheint auch ohne die Parallelisierung der Räume als Paradiesräume sehr interessant. Vgl. Urban, Gleiches zu Gleichem, S. 281–284. Für die Frage nach den Strukturprinzipien des Engelhard könnte es gewinnbringend sein, die Erkenntnisse zum Garten als Handlungsraum und dem Prinzip der Figurenähnlichkeit zusammenzubringen.

Vielfalt der Baumgärten in der höfischen Literatur

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dem Erkenntnisgewinn, den die vorgelegten Analysen für weitere Gartenszenen der höfischen Romane bieten. Auf einen Baumgarten stößt auch Iwein, als er auf dem Weg zur Burg zum Schlimmen Abenteuer ist. Zuvor noch aktiv auf der Suche nach der nächsten Herausforderung, ist Iweins Weg durch die menschenleere Burg in den Garten plötzlich von einem passiven Bewegungs- und Wahrnehmungsschema gekennzeichnet.1 Die Forschung hat den besonderen Bewegungsmodus des auf âventiure befindlichen Ritters und die damit einhergehende Eigenheit des Raumerzählens vielfach beschrieben.2 Für den ausreitenden Ritter ist es nicht die Zeit für Beständigkeit oder Sicherheit und schon gar nicht die passende Zeit, um sich auszuruhen. Klagende, garstige Anwohner, die den Ritter vom Betreten ihrer Burg abhalten wollen, und eingesperrte Damen verheißen indes, dass âventiure nicht weit sein kann. Alles an der Burg zum Schlimmen Abenteuer deutet auf ein solches hin. Die anstehende Herausforderung und Iweins plötzliche Passivität wollen nicht so recht zueinander passen. Der Baumgarten, den Iwein betritt, was lanc unde wît / daz er vor des noch sît / deheinen schoenern nie gesach (V. 6436–6439).3 Zu diesem Unüberbietbarkeitstopos gesellen sich die topischen Merkmale des locus amoenus. Eine räumliche Ausdifferenzierung, wie sie sich in den bislang untersuchten Szenen an die Nennung des raumgesättigten Wortes boumgarten anschloss, bleibt allerdings aus. Obwohl der Weg Iwein durch einen Palas und eine Treppe hinaufführt, mangelt es an detaillierten deiktischen Prozeduren, Blicken oder kinästhetischen Bewegungen, die räumliche Relationen herstellten. Zwar wird mit Rückgriff auf den Topos eine diskursive Oberfläche erzeugt, doch diese zeichnet sich nicht durch räumliche Präzision und Konsistenz aus.4 Im Baumgarten findet Iwein ein Ehepaar vor, dessen wunderschöne Tochter ihnen vorliest. Ihnen, ihrer topischen Vollkommenheit und der Kurzweil gilt die Aufmerksamkeit des Erzählers. Der Rezipient bleibt auch dann textexterner Beobachter der Szene, als der Erzähler berichtet, wie Iwein begrüßt, neu eingekleidet und zum Gespräch von der Tochter in den boumgarten geführt wird. Die Bewegung der Figuren wird nicht zum Raum, in dem sie stattfindet, in Beziehung gesetzt. Möglichkeiten, das Körperschema in den Vorstellungsraum zu versetzen, um das Erzählte am eigenen Leib imaginieren zu können, gibt es nicht. Die narrativen Strategien, die den boumgarten als konsistenten Handlungs- und Vorstellungsraum erzählen könnten, fehlen oder sind  Vgl. Becker, Muße im höfischen Roman, S. 303.  Hier sei aufgrund ihres weitreichenden Einflusses nur beispielhaft auf Uta Störmer-Caysas Studie verwiesen. Vgl. Störmer-Caysa, Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen. Für einen kurzen Forschungsabriss zu den Räumen des Unterwegsseins vgl. S. 26–28.  Hartmann von Aue: Gregorius, Der arme Heinrich, Iwein. 4. Aufl. Hrsg. u. übers. von Volker Mertens. Frankfurt a.M. 2004 (Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch. 29).  Dorothea Klein, die unter anderem anhand dieses Baumgartens die Inanspruchnahme des Topos des locus amoenus in der höfischen Literatur untersucht, konkludiert: „Das Kollektive besteht in der Verfügbarkeit der Sprachbilder; das Individuelle erweist sich im produktiven Umgang mit ihnen.“ Klein, Amoene Orte, S. 70–74, hier S. 83.

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nicht systematisch in das Erzählen eingebunden. Aufgrund der fehlenden Dynamik und Gerichtetheit entsteht kein konsistenter Handlungs- und Imaginationsraum. Im Sinne Michel de Certeaus wird hier eher ein Ort (lieu) initialisiert. Die Statik der Szene und räumliche Indifferenz unterscheiden sich deutlich vom zurückliegenden und folgenden âventiure-Weg Iweins. An der Peripherie der menschenleeren und – wie sich wenig später herausstellt – von Riesen drangsalierten Burg bildet der Baumgarten ein Refugium der Muße und des aus der Welt gefallenen Seins. Diese Funktion kann im höfischen Komplex aufgrund seiner Lage, seiner lieblichen Natur und seiner besonderen Zwecksetzung allein der Baumgarten einnehmen. Die Gartenszene stellt einen Zustand der Muße dar, in dem das Lesen zum Zeitvertreib den Nukleus der Gartengesellschaft bildet.5 Im Gegensatz dazu ist die Umgebung kaum noch höfisch. Der Hof ist menschenleer, von den eingesperrten Damen erfährt man erst noch. Die Differenz zwischen dem Baumgarten und seiner höfischen Umgebung findet sich bei Hartmann auf die Spitze getrieben. Er wirkt als letzte verbliebene Insel des Höfischen innerhalb einer grausamen und unhöfischen Umgebung. Unter diesen Vorzeichen ist das Spannungsverhältnis zwischen dem Baumgarten und dem Hof dermaßen radikalisiert, dass es bedeutungslos zu werden droht. Dem Baumgarten fehlt handlungsauslösende Qualität ebenso wie räumliche Plastizität. Daher ist es wenig verwunderlich, dass nicht klar zu erkennen ist, wann Iwein und die Familie den boumgarten verlassen. Nach dem Kampf gegen die Riesen und die Befreiung der eingesperrten Damen verschwindet er wieder im Modus des ritterlichen Unterwegsseins. Bedeutung kommt dem Baumgarten nicht als Handlungs- oder Imaginationsraum zu, sondern in seiner atmosphärisch-semantischen Codierung. Kontrastiv inszeniert er die gestörte Ordnung der Burg, deren Wiederherstellung Iweins Aufgabe wird. Ein ähnliches Beispiel, in dem ein Baumgarten nicht als konsistenter Imaginationsraum erzeugt, sondern als Ort initialisiert wird, wurde bereits im Kontext der raumtheoretischen Überlegungen besprochen.6 Im Minneroman Mai und Beaflor wird Mai in einem boumgarten (V. 3510) in der Nähe des Hofes als idealer Herrscher inszeniert. Topische Ausstattungsmerkmale und höfische Artefakte wie Sitzgelegenheiten gestalten den Baumgarten als Schauplatz eines großen Hoffestes aus. Auf eine Relationierung der natürlichen und artifiziellen Objekte innerhalb des Baumgartens wird

 Vgl. Becker, Muße im höfischen Roman; als Beispiel für weltliches Lesen widmet sich Mireille Schnyder der Konstruktion der Tochter als ideale Vorleserin, die vor das Gelesene tritt. Vgl. Mireille Schnyder: Kunst der Vergegenwärtigung und gefährliche Präsenz. Zum Verhältnis von religiösen und weltlichen Lesekonzepten. In: Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Peter Strohschneider. Berlin/New York 2009, S. 441–444. Außerdem zum reflexiven und poetologischen Potential der Szene vgl. Manfred Kern: Iwein liest ‚Laudine‘. Literaturerlebnisse und die ‚Schule der Rezeption‘ im höfischen Roman. In: Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. Hrsg. von Matthias Meyer, Hans-Jochen Schiewer. Tübingen 2002, S. 395–397.  Vgl. Kap. 3.1.

Vielfalt der Baumgärten in der höfischen Literatur

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ebenso verzichtet wie darauf, das Raumerleben der Figuren zu erzählen. In einer Art ‚Draufsicht‘ schildert der Erzähler das Geschehen von einem der Erzählwelt enthobenen Standpunkt. Obwohl die liebliche Natur als Raum keine Rolle für die Szene spielt, staffiert sie das Fest so aus, dass Mais Idealität als Herrscher zum Ausdruck kommt, der – ähnlich wie Gott im Paradies für Adam und Eva – großzügig und gerecht für seine Untertanen sorgt. Die Bedeutung der Szene ist daher in erster Linie eine symbolische. Ähnlich wie im Iwein wird der boumgarten seinem eigentlichen Zweck angemessen zur gemeinsamen Mahlzeit, zu höfischem Fest und Kurzweil genutzt. Wieder hat der boumgarten keine Funktion für den Fortgang der Handlung und verschwindet nach dem Fest offenbar aus der höfischen Erzählwelt. Die Besonderheit des Baumgartens als Schwellenraum besteht unter anderem darin, dass er zwar Teil des höfischen Burgkomplexes ist, ohne aber ein vollständig intimer oder öffentlicher Raum desselben zu sein. Als Wigalois am Hof Laries ankommt, trifft er nicht direkt auf die Königin: in einen garten ûf ein gras vuort in der truhsaez bî der hant; dô schuter abe sîn îsengwant under einer linden grüene; her Gwîgâlois der küene kuolte und ruowet dâ. (V. 4072–4077)7

Mit der Nennung des raumgesättigten Wortes garten und der beiden topischen Merkmale des locus amoenus ist die Ausgestaltung des Gartens abgeschlossen. Eine narrative Raumerzeugung wie auch Angebote an den Rezipienten, sich imaginativ in den zu erzeugenden Raum hineinzuversetzen, bleiben aus. Als konsistenter und dynamischer Handlungs- und Imaginationsraum spielt der garten offenbar keine Rolle. Dass Wigalois am Hof angekommen zunächst dorthin geleitet wird, hat aber dennoch in zweifacher Weise Kalkül. Larie, ihre Mutter und Nereja beratschlagen vor dem Zusammentreffen mit Wigalois, wie sie den Ritter, den sie für die Rückeroberung ihres okkupierten Königreichs gewinnen wollen, auf die überzeugendste Weise empfangen (vgl. V. 4055–4061). Wigalois wird also im Garten, ergänzt durch die von Larie verfügte Neueinkleidung, ein angenehmer, erster Empfang bereitet. Der Planung des Empfangs in der höfischen Öffentlichkeit und damit der eigentlichen Ankunft des Ritters am Hof verschafft das mehr Zeit für eine gut inszenierte Begrüßung. Die Funktion dieser kurzen Szene speist sich also aus der Stellung des Gartens im höfischen Raumkomplex und seiner Bestimmung, der Erholung zu dienen. Um sie für die Erzählung einzusetzen, bedarf es keiner diffizilen Handlung im Garten.

 Wirnt von Gravenberc: Wigalois. Text – Übersetzung – Stellenkommentar. 2., überarb. Aufl. Hrsg., übers. u. mit einem Nachwort versehen von Sabine Seelbach und Ulrich Seelbach. Berlin/Boston 2014.

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Es zeigt sich, dass das Erzählen von und im Garten auch über Tristan, Erec, Engelhard sowie Flore und Blanscheflur hinaus vielfältig ist. Die Inanspruchnahme und der funktionale Einbezug des Baumgartens als Raum kann unterschiedlich ausgeprägt sein. Der Baumgarten kann auch als Ort erzählt werden. Zum einen erlauben die Baumgärten im Iwein, in Mai und Beaflor sowie im Wigalois einen Blick auf die vordringlich symbolische Codierung des Gartens. Die Erzeugung der Gärten als dreidimensionale, konsistente Vorstellungsräume hierbei entweder zurückgenommen oder nicht vorhanden. Zum anderen erzählen die angesprochenen Szenen Baumgärten, die den Baumgarten als Teil des Hofkomplexes konstruieren und deren Erholungszweck betonen. Die Spannungsverhältnisse, die den Baumgarten als polyvalenten Schwellenraum kennzeichnen, werden nicht thematisch. Die Baumgärten in Konrads von Würzburg Partonopier und Meliur8 zeigen eine weitere Facette des höfischen Gartenerzählens. Als Ort für Unterredungen wird der Baumgarten gleich zweimal Kulisse der Handlung.9 baneken und âventiur (V. 4058) führen den Sarazenen Sornagiur in einen Baumgarten hinein. Dort versammelt er sich mit seinen Gefährten, um über die weiteren Kampfhandlungen gegen Partonopier zu beraten (vgl. V. 4059). In langen Figurenreden werden die verschiedenen Positionen erörtert. Doch in welcher Umgebung sich der Baumgarten befindet, ob man sich ihn im Kontext eines Hofes vorstellen muss, wie es die enge Definition als Bedingung für einen Baumgarten vorschlägt, oder aber offen auf einer Art Lagerfläche, wird ebenso wenig thematisiert wie das Verlassen des Baumgartens. Die topische Ausstattung des Gartens, wie zum Beispiel Früchte, ein Baum und Gras (vgl. V. 4060–4067), tritt vollends hinter das Gespräch zurück. Der boumgarten fungiert als Eingangskulisse, wirkt sich aber weder auf das Gespräch noch dessen semantische Codierung aus. Als konsistenten Imaginationsraum und in seinem Schwellencharakter nimmt die Erzählung ihn nicht in Dienst. In analoger Weise präsentiert sich das Gespräch über die Nachteile der Minne und das vermeintliche Schicksal des verstoßenen Partonopier zwischen Irekel und ihrer Schwester Meliur. Ein kollektives Blickangebot und die origoexklusive Raumbereichsdeixis dâ binden die topischen Ausstattungsmerkmale an den boumgarten zurück und entwerfen skizzenhaft eine Eingangskulisse, vor der sich die Schwestern niederlassen:

 Konrad von Würzburg: Partonopier und Meliur. Hrsg. von Karl Bartsch. Berlin 1970 (Deutsche Neudrucke).  Einen weiteren Garten sieht Partonopier, als er Meliurs Königreich von den Türmen der Burg in Augenschein nimmt (vgl. V. 2309–2339). Er zeichnet sich durch eine paradiesische Vielfalt der Bepflanzung aus. Vor dem Hintergrund, dass es sich um einen wurzegarten (V. 2316), also einen Nutzgarten handelt, erscheint die Bepflanzung zwar exotisch, jedoch nicht wie Küsters meint ‚kurios‘. Vgl. Küsters, Garten, Baumgarten, S. 174. Solche Wurzgärten treten in der höfischen Literatur nur selten auf und sind kaum je detaillierter in ihrem Aufbau und ihrer Nutzung beschrieben. Vgl. Hennebo, Gärten des Mittelalters, S. 95 f.

Vielfalt der Baumgärten in der höfischen Literatur

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mit ein ander giengen dô die klâren und die zarten in einen boumgarten, der gezieret schône was. erwelter bluomen durch daz gras sach man dâ dringen manegen soum. dâ stuont ein wünneclicher boum dâ phersich ûfe bluoten. dâ sâzen die vil guoten geselleclichen under und triben rede ein wunder von seneclicher swaere (V. 11268–11279)

Irekel gelingt es, bei ihrer Schwester Zweifel am Umgang mit Partonopier zu säen. Des Weiteren erfährt sie durch Meliur vom anstehenden Turnier, zu dem Irekel Partonopier versteckt einschleusen wird. Das Gespräch bringt Erkenntnisse hervor, die Einfluss auf die weitere Handlung haben. Der Baumgarten als Ort der Unterhaltung ist dafür jedoch nicht konstitutiv, er bietet lediglich einen Ort für ein Gespräch unter vier Augen. Wieder tritt er hinter das Gespräch zurück, so dass im Weiteren keine Rede mehr von ihm ist. Er ist weder als konsistenter Handlungs- und Imaginationsraum konstruiert noch wird er in räumlicher und semantischer Hinsicht zu einem die Handlung beeinflussenden Faktor. Anhand dieser versammelten Beispiele lässt sich zeigen, dass die höfischen Romane für die Inszenierung ihrer Baumgärten offenbar unterschiedlich stark auf die hier erarbeiteten narrativen Strategien zurückgreifen. Dementsprechend vielfältig fällt die Konstruktion des Baumgartens als Raum oder Ort aus. Der boumgarten kann als plastischer und konsistenter Imaginationsraum entworfen werden; doch seine räumliche Verfasstheit kann auch nur angedeutet werden oder geht möglicherweise kaum über das überindividuelle Vorstellungskonzept des boumgarten hinaus. Von dem Grad der narrativen Raumerzeugung hängt es auch ab, ob dem boumgarten innerhalb der erzählten Welt und der Imagination Stabilität zukommt. Innerhalb der Analysen war zu sehen, dass eine sukzessive Erzeugung des Raums über die Erzählung hinweg dem Baumgarten ebenso Stabilität verleiht wie die imaginative oder tatsächliche Rückkehr in einen zuvor als Handlungsraum ausdifferenzierten Baumgarten. Die obigen Beispiele illustrieren mithin solche Fälle, in denen der Baumgarten keine konstitutive syntagmatische oder paradigmatische Größe für die Erzählung darstellt.10 Doch wie lässt sich der graduelle Unterschied in der narrativen Raumerzeugung und der Stabilität als Handlungs- und Imaginationsraum erklären? Auffällig ist, dass die Baumgärten dieses Kapitels die kulturelle Architektur des boumgarten weder unter-

 Konrad etwa platziert zwei Gespräche in Baumgärten, doch mit dieser Wahl scheint keine Programmatik verbunden zu sein. Die Stellen stehen abgesehen von einem gemeinsamen Schauplatz in keinem bedeutsamen Bezug zueinander.

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minieren noch transformieren.11 Sie stellen vielmehr typische Formen der höfischen Gartennutzung dar: In ihnen werden zum Beispiel höfische Feste abgehalten, sie sind Platz für Unterhaltungen oder bieten Erholung und Ablenkung. Die Erzählungen machen sich diese besondere Stellung und Funktion des Baumgartens im höfischen Raumgefüge zunutze. So wird etwa im Iwein oder im Wigalois ausgestaltet, dass der Baumgarten nicht vollkommen von der Hoföffentlichkeit erfasst wird und zum Zweck der Erholung oder des vertrauten Gesprächs gedacht ist. Des Weiteren kann er als Aufenthaltsort einer feiernden Hofgesellschaft dargestellt werden, wie es im Fall von Mai und Beaflor deutlich wurde. Auch wenn die Erzählungen mit Bezug auf Intimität versus Öffentlichkeit, außerhöfische versus höfische Sphäre sowie Peripherie versus Zentrum unterschiedliche Akzente setzen, so befinden sich diese Spannungsverhältnisse, die den Baumgarten als Schwellenraum kennzeichnen, doch in einer Balance. Eine Problematisierung des polyvalenten Schwellenraums, indem die Spannungsverhältnisse zugunsten eines Pols aus dem Gleichgewicht gebracht würden, bleibt aus. Eine Zuspitzung des Schwellencharakters, die zum Konflikt führt, gibt es nicht. Weder der Baumgartenraum noch das dort Erzählte verhalten sich zur kulturellen Architektur des boumgarten subversiv, problematisierend oder kommentierend. In der Zusammenschau der in diesem Kapitel versammelten und der zuvor untersuchten Szenen wird offenkundig, dass die Art und Weise, wie Gartenszenen erzählt werden, mit ihrer spezifischen Funktion für die Erzählung als Ganzes zusammenhängt. Dass der Baumgarten nicht immer als Raum im Sinne Michel de Certeaus erzeugt wird und narrative Strategien daher keinen oder nur bedingten Einsatz finden, ist keinesfalls Ausweis eines defizitären Erzählens von Raum. Diese Auffassung findet sich, implizit oder explizit, vielfach in der älteren Forschung, die annahm, mittelalterliche Autoren seien nicht in der Lage gewesen, Raum plastisch und konsistent zu erzählen.12 Es ließ sich jedoch bereits darlegen, dass die performative Raumerzeugung in der Sukzession des Erzählens ebenso spezifisch eingesetzt wird wie der damit verbundene Einfluss des Baumgartenraums auf die Szene und deren Bedeutung für die gesamte Erzählung. Oder anders: Da es sich bei dem Baumgarten um einen polyvalenten Schwellenraum handelt, besitzt er innerhalb der höfischen Erzählwelt das besondere Potential, als Handlungsraum diese Spannungsverhältnisse zu problematisieren und auszuagieren. Die narrative Erzeugung des Gartenraums, seine Funktionalisierung für die Handlung sowie seine Stabilität im Paradigma oder Syntagma der Erzählung arbeiten einer derartigen Problematisierung zu. Ausgehend vom Baumgarten als polyvalentem Schwellenraum entwirft die höfische Literatur eine große Bandbreite des Erzählens von und im Garten. Wie detailliert  Zur kulturellen Architektur des boumgarten vgl. Kap. 2.2 und Kap. 3.  Rainer Gruenter begreift die Landschaftsdarstellung des höfischen Romans etwa, wie sein Aufsatztitel verrät, als problematisch. Auf der Suche nach Raum-Reizen, die die Rezeptionsgewohnheiten der modernen Leser bedienen, stellt er unter anderem fest: „Von einem Raum-Reiz ist nichts oder fast nichts zu spüren, und ihn empfinden zu lassen, lag wohl nicht in den Absichten und Möglichkeiten des Dichters.“ Gruenter, Problem der Landschaftsdarstellung, S. 304.

Vielfalt der Baumgärten in der höfischen Literatur

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die Baumgärten in ihrer räumlichen Ausstattung und semantischen Codierung konstruiert werden und welche Funktion die Baumgärten für die Handlung einnehmen, ist keineswegs zufällig. Das eröffnete Panorama zeigt, dass die höfische Literatur die Handlungs- und Konfliktpotentiale, die der Baumgarten als Schwellenraum besitzt, gezielt für ihr Erzählen nutzbar macht. Der vorliegende Ansatz bietet die Möglichkeit, nach dem Ausmaß der narrativen Erzeugung von Raum zu fragen. Wie die Beispiele deutlich machen, lässt sich im Anschluss daran außerdem eruieren, ob und inwiefern der Baumgarten in seiner spezifischen Charakteristik als Raum für die Handlung funktionalisiert wird. Sofern ihr Erzählen die semantischen Eigenschaften und atmosphärischen Effekte des Baumgartens ausgestaltet, erzählen die obigen Gartenszenen die besonderen Möglichkeiten des Baumgartens als Teil der höfischen Erzählwelt.

6 Schlussbetrachtungen: Konflikt- und Handlungspotentiale des Baumgartens im höfischen Roman Innerhalb der höfischen Sphäre kommt dem Baumgarten in seiner narrativen Raumerzeugung und in der Funktion, die er als Handlungsraum für die Erzählung innehat, eine Sonderrolle zu. Seine Umgrenzung löst den boumgarten aus dem höfischen Raumkomplex, innerhalb dessen er angesiedelt ist, heraus. Obwohl er weiterhin vom Einflussbereich des Hofes erfasst wird, macht ihn die Grenze ebenso zu einem vom Hof abgegrenzten Innen. Aufgrund dieser Lage bringt die höfische Literatur im Baumgarten Spannungsverhältnisse zur Anschauung, die in der genuin höfischen Sphäre keinen Platz haben. Als Raum ist der Baumgarten zwischen höfischer und außerhöfischer Sphäre, zwischen Peripherie und Zentrum sowie zwischen Intimität bzw. Heimlichkeit und Öffentlichkeit angesiedelt. Diese Eigenschaft zeichnet ihn als polyvalenten Schwellenraum aus. In den höfischen Romanen wird der Baumgarten nicht nur als konsistenter, dreidimensionaler Raum erzeugt, der vom Rezipienten plastisch imaginiert werden kann. Indem in diesem Zuge seine kulturelle Architektur auserzählt wird, geraten die ihn auszeichnenden Spannungsverhältnisse aus der Balance. Das sich daraus ergebende Handlungs- und Konfliktpotential zeichnet den Baumgarten unter den Räumen der demeure aus. Es war die Aufgabe dieser Untersuchung aufzuzeigen, wie der boumgarten als Raum in der Sukzession des Erzählens erzeugt wird. Darüber hinaus war zu analysieren, auf welche Weise der Baumgarten als plastischer Handlungs- und Imaginationsraum erzeugt und für die Szenen funktionalisiert wird. Ausgehend von Michel de Certeau wurden Ort (lieu) und Raum (espace) als Varianten von Räumlichkeit unterschieden. Raum (espace) wird im aktiven, sich bewegenden und sinnlich wahrnehmenden Umgang mit den räumlichen Begebenheiten hervorgebracht und repräsentiert. Während der Ort eine überindividuelle Ordnung etabliert, die vor allem im Modus eines panoptischen Sehens wahrgenommen wird, erzeugt das sich dynamisch bewegende, leibliche Subjekt Raum erst performativ. Bewegung und Gerichtetheit werden zu Praktiken, die die Ordnung des Ortes dynamisieren und sich zu ihr verhalten. Im höfischen Roman verbinden sich die narrativen Strategien (deiktische Prozeduren, Blicke und kinästhetische Bewegungen) zu solchen Praktiken, die auf bemerkenswert konsistente Weise die vielgestaltigen Baumgärten sukzessive als plastische Handlungsräume entstehen lassen. Die Räumlichkeit des Baumgartens wird mithilfe der narrativen Strategien und dem Einsatz von Figuren als subsidiären Leibern vom Rezipienten ‚am eigenen Leib‘ imaginiert. Diese Umgangsweisen mit dem Raum sind in den analysierten höfischen Romanen sogar zu Taktiken im Sinne de Certeaus verbunden, die sich die Struktur und Ordnung des boumgarten, mithin seine kulturelle Architektur, aneignen und sie räumlich wie semantisch unterminieren oder gänzlich https://doi.org/10.1515/9783110795455-006

Schlussbetrachtungen

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neu codieren. Die Grundlage für diese Ausgestaltung und Transformation des erzählten Gartenraums bildet das raumgesättigte Wort boumgarten und das so evozierte überindividuelle Vorstellungskonzept. Figurenbewegungen und -wahrnehmungen sind häufig derart gestaltet, dass der Rezipient sein Körperschema in die Figuren hineinversetzen kann. Indem der entstehende Raum am eigenen Leib imaginierbar wird, fungiert die sich bewegende Figur als subsidiärer Leib. In Verbindung mit Blicken und deiktischen Prozeduren, die den Raum durchmessen, verleiht die kinästhetische Bewegung dem boumgarten Dynamik und Gerichtetheit, so dass er als dreidimensionaler, konsistenter Imaginationsraum entsteht. Die sukzessive Raumerzeugung der Baumgärten erlaubt mit der ‚Deixis am Vorstellungsraum im Vorstellungsraum‘ außerdem eine räumlich komplexe Ausgestaltung des Baumgartens noch bevor die Figuren den Garten tatsächlich betreten. Die Aussagen von Brangäne, Ivreins, Engeltrud oder auch Daries richten sich über das textinterne Gegenüber unmittelbar an den Rezipienten und weisen ihn an, performativ einen Imaginationsraum zu erzeugen, in dem sich das Gesagte zuträgt oder zutragen soll. Des Weiteren erfordert eine solche über mehrere Szenen zerdehnte Raumerzeugung, dass der imaginierte Raum neuerlich aufgerufen wird und im Fortgang der Handlung gedanklich weiter ausdifferenziert wird. So entfaltet sich sukzessive ein konsistenter Raum, dessen Raumimagination – entgegen zuweilen von der Forschung vertretener Thesen – nicht sprunghaft oder versatzstückhaft, mithin nicht defizitär ist. Besonders komplex und ausdifferenziert ist die Raumimagination, wenn im Baumgarten mehrere Figuren Handlung und Bewegung wahrnehmen oder sich selbst bewegen. Indem sich die Figuren sogar gegenseitig bei ihren gerichteten Bewegungen durch den boumgarten sehen, wird ein polyfokaler und multisensorischer Raum der geteilten Wahrnehmung erzeugt, an dem der Rezipient teilhat. Abhängig davon, wie die Blicksubjekte sich zum Geschehen im Baumgarten verhalten, ob sie etwa Teil der Intimdyade sind oder ob sie ausgeschlossene Drittfiguren sind, haben die Blickverhältnisse auch eine bewertende Funktion für die Handlung. Voyeure etwa codieren und werten das Beobachtete aus einer höfischen Perspektive. So wird die konfliktträchtige Handlung im Baumgarten in erster Linie über deren Räumlichkeit erfahrbar. Die narrativen Strategien erzeugen eine Räumlichkeit, die wie auch die darin angesiedelte Handlung vom Rezipienten teilnehmend mitvollzogen werden können. Eine solch ausdifferenzierte Imagination von Räumlichkeit machen die untersuchten Baumgärten zu ihrem poetologischen Prinzip. Als Imaginationsraum zeichnet den boumgarten zudem eine bemerkenswerte Stabilität aus. Während die Räume der chevauchée flüchtig sind, wird der Baumgarten als persistenter Raum der höfischen Erzählwelt konstruiert. Sowohl die Erzählung als auch die Imagination des Rezipienten können den Baumgarten wiederholt ansteuern und vor Augen rufen, was wiederum zur Stabilisierung des Raums in der Erzählwelt beiträgt. Als Raum innerhalb des höfischen Raumkomplexes kommt dem boumgarten somit eine narrative Stabilität und Vertrautheit zu, die Paul Zumthor zufolge die

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Schlussbetrachtungen

Räume der demeure im mittelalterlichen Raumerleben auszeichnen. Inwiefern auch andere Räume der demeure (möglicherweise etwa die Kemenate oder der Palas) eine solche performative und konsistente Raumerzeugung und einen ähnlich hohen Funktionalisierungsgrad für die Handlung aufweisen, wäre ausgehend von den hier erlangten Erkenntnissen noch genauer zu untersuchen. Überhaupt werfen die Erkenntnisse zur Stabilität und Komplexität des Baumgartens als Raum der Handlung und der Imagination die Frage auf, ob die einheitlichen höfisch-ritterlichen Raumkonzepte, wie sie Störmer-Caysa für die chevauchée postuliert, weiterhin Gültigkeit beanspruchen können. Wären neben den Räumen der demeure nicht auch die Räume der chevauchée vielmehr auf ihr Zusammenspiel von Raumerzeugung und Funktionalisierungsgrad hin zu befragen? In dieser Hinsicht erscheint durchaus denkbar, dass auch den Räumen der chevauchée eine geringere Flüchtigkeit als bislang angenommen zu eigen ist und sie, im Gegenteil, sogar eine höhere narrative und imaginative Stabilität aufweisen, wenn sie für die Erzählungen zur Kristallisation zentraler Konflikte und Probleme werden. Die Praktiken der Raumerzeugung, die zu dieser Stabilität des Baumgartenraumes führen, sind indes nicht losgelöst von der Handlung. Vielmehr ist die minutiöse Raumregie auf beachtliche Weise Teil der Gartenhandlung. Für den Rezipienten wird die Handlung über die Erfahrung von Räumlichkeit – imaginiert am eigenen Leib – überhaupt erst vorstellbar und deutbar. Als Raum ist der boumgarten für die Handlung so funktionalisiert, dass seine Räumlichkeit für das Erzählen unverzichtbar wird. Die Figuren handeln mit und durch den Raum auf eine spezifische Weise: Ohne Bach ist bei Gottfried zum Beispiel eine unauffällige Benachrichtigung Isoldes nur schwer realisierbar. Indem der Baumgarten die Figuren an bestimmte Positionen zwingt, schafft er nicht nur semantisch wirksame Konstellationen, sondern forciert die weitere Handlung. Erecs Zusammentreffen mit der Minnedame im Gartenzentrum spitzt den bevorstehenden Konflikt mit Mabonagrin zu und bildet die problematische Dreierkonstellation ab. Des Weiteren beweisen die hier untersuchten Baumgärten wiederholt eigene Handlungsmacht, wenn ihre naturräumliche Ausgestaltung selbst eine Handlung überhaupt erst anstößt oder hervorbringt. Das ist bei dem mythischen Auswahlritual im Amiralsgarten ebenso der Fall wie bei dem vom Baumgarten hervorgebrachten Schatten, der Tristan und Isolde auf die Späher aufmerksam macht. Die Erzählungen setzen die Gartennatur gezielt für die Handlung ein. Die narrative Erzeugung des boumgarten ist so eng mit der Handlung verwoben, dass der Baumgarten kein Bühnenbild ist, sondern in der Tat einen Handlungsraum darstellt. Er hat entscheidenden Einfluss auf das, was sich in dem Baumgarten zuträgt und wie es codiert wird. Erst die Handlung mit und im Raum ist es, die den Baumgarten für den Rezipienten als konfliktualen Raum erfahrbar macht. Die Analysen haben gezeigt, dass sich die narrativen Strategien der Raumerzeugung zu Taktiken verdichten können. Sie differenzieren die kulturelle Architektur des boumgarten aus. Spannungsverhältnisse geraten dabei aus dem Gleichgewicht und die labile Ordnung des Gartens wird unterminiert oder gänzlich neu codiert. Die Folge ist

Schlussbetrachtungen

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eine Vereindeutigung des polyvalenten Schwellenraums. Sie strapaziert die inhärenten Spannungsverhältnisse des Raums über Gebühr, verleiht ihm indes aber auch besondere Lizenzen. Der boumgarten, der, wie etwa in Mai und Beaflor oder Partonopier und Meliur zu sehen war, eigentlich der höfischen Gesellschaft für Feste, Kurzweil und Gespräche offensteht, wird zweckentfremdet: etwa wenn er zu einem exklusiven, hermetisch abgeriegelten Raum der illegitimen Liebe gemacht wird. Die damit verbundene Unterminierung oder Missachtung der höfischen Regeln und Normen macht den Baumgarten und das dortige Geschehen zum Problem für seine Umgebung. Dieser besondere Umgang mit dem boumgarten als Schwellenraum begründet sein spezifisches Handlungs- und Konfliktpotential. Eine erhöhte Kontrolle und Beobachtung setzen den boumgarten und das dortige Geschehen unter einen zunehmenden Druck der höfischen Öffentlichkeit. Die Figuren im Innen erwehren sich dieses Drucks und versuchen, den boumgarten sowie die in Frage stehenden Handlungen zu behaupten. Das gelingt beispielsweise Tristan und Isolde mithilfe einer diffizilen Raumregie, selbst wenn diese Verteidigung letztlich nur vorläufig erfolgreich ist. Die höfische Öffentlichkeit erlangt zumindest einen Teil ihres Einflusses auf den boumgarten zurück. Eine weitere Option, wie die höfischen Romane mit dem vom boumgarten evozierten Konfliktpotential umgehen, ist seine Auflösung. Erec obliegt ebenso wie Flore und Blanscheflur etwa die Aufgabe, den aus dem Gleichgewicht geratenen mythischen Schwellenraum aufzulösen und sein Gleichgewicht wiederherzustellen. Wie die Erzeugung des Baumgartens so ist auch seine Auflösung ein performativer, sukzessiver Prozess, an dessen Ende bei Hartmann und Konrad Fleck resozialisierte Paare und ein Baumgarten stehen, der in den höfischen Raumbereich reintegriert ist. Zurück bleibt ein intakter Schwellenraum, der wieder Schauplatz des höfischen Festes wird. Wiewohl die untersuchten Baumgärten beträchtliche Gemeinsamkeiten in ihrer Raumerzeugung und Funktionalisierung aufweisen, realisieren die höfischen Romane diese doch sehr spezifisch für ihre Erzählung. Indem im Tristan etwa in erster Linie die Liebenden zu Assistenzfiguren werden, über die Räumlichkeit erzeugt und imaginierbar wird, entsteht im Baumgarten eine, freilich labile, Intimität und Heimlichkeit. Der unauflöslich scheinende Konflikt, der die Handlung am Leben hält, wird aus Sicht der bedrohten Intimdyade erzählt und bleibt so lange Zeit virulent, bevor Konflikt wie Handlung zum Erliegen kommen. Im Baumgarten werden die Konflikte enggeführt, die die Motoren von Gottfrieds Erzählen sind. Im Gegensatz dazu fokussiert Hartmann im Erec den Baumgarten durch die schrittweise Annäherung vor allem als einen vom höfischen Außen isolierten Raum. Nicht die bedrohte Intimdyade ermöglicht die plastische Imagination von Stadt, Burg und Garten, sondern die sich annähernden Agenten einer höfischen Öffentlichkeit. Obwohl der Baumgarten auf Brandigan von Beginn an als dreidimensionaler Raum imaginierbar ist, spannt erst Erecs Eintritt das Innere des boumgarten als plastischen Handlungsraum auf, der erst am Ende des Kampfes in den Hofkomplex reintegriert werden kann.

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Schlussbetrachtungen

Dass sich das heimliche Geschehen im Baumgarten in der Öffentlichkeit behaupten kann, stellt Engelhard unter Beweis. Wie auch bei Gottfried, an dessen erster Baumgartenszene Konrad deutliche Anleihen nimmt, wird der Versuch unternommen, den Baumgarten als intimen Raum umzufunktionieren. Doch die Entdeckung ist vor allem der räumlichen Nachbarschaft zum Hof, Engelhards Nachlässigkeit beim Eintritt und nicht zuletzt dem Zufall geschuldet. Vor dem Hof gelingt es Engelhard jedoch im Anschluss das intime Geschehen im Baumgarten zu schützen und die Heimlichkeit so zu behaupten. Dietrichs Aussatzinsel und der Baumgarten problematisieren bei Konrad das fragile Verhältnis von Öffentlichkeit, Heimlichkeit und Nicht-Öffentlichkeit. In Flore und Blanscheflur spannen hingegen mehrere Baumgärten ein enges Referenznetz über die Erzählung, das in je unterschiedlichen Facetten richtige und falsche Minne sowie einen Konflikt zwischen Heimlichkeit und Öffentlichkeit gegeneinander ins Bild setzt. Konrads Minnekonzept erweist sich als derart wirkmächtig, dass die Liebenden den mythisch verfassten Baumgarten des Amirals zur räumlichen und semantischen Auflösung bringen können. Der Amiralsgarten steht bei Konrad Fleck nicht den Liebenden im besonderen Maße offen. Vielmehr bestätigt der Baumgarten durch seine mythischmagische Wirkweise das Herrschafts- und Minnekonzept des babylonischen Herrschers, das den Raum selbst als deviant und damit problematisch erkennbar macht. In diesen spezifischen Arten, wie die Baumgärten der höfischen Romane erzählt und funktionalisiert werden, offenbart sich eine Reihung von kulturellem Wissen. Die Beschreibungstraditionen des locus amoenus und des Paradieses finden über die Antike und das Frühmittelalter nicht nur Eingang in die geistliche, sondern auch in die höfische Literatur. So etabliert sich in der höfischen Literatur ein Vorstellungskonzept des Baumgartens, das durch dessen Zwecksetzung im höfischen Leben ebenso bestimmt ist wie durch seine räumliche Ausstattung und deren semantische Codierung. Die hier untersuchten höfischen Romane zeigen eine Stabilisierung dieses Vorstellungskonzepts, die mit einem diffizilen und kunstvollen Auserzählen einhergeht. Gerade in ihrer literaturgeschichtlichen Abfolge verdeutlichen die höfischen Romane einen literarischen Diskurs, der unauflöslich mit dem Baumgarten verbunden ist. Nur in einem Raum, der zu den Räumen des Bleibens gehört, in ihm ob seiner außerhöfischen Anteile jedoch nicht aufgeht, wird die für die höfische Gesellschaft grundlegende Problematik gesellschaftlicher Exklusion mit ihren Gefahren und Konsequenzen verhandelbar. Zwar können auch schöne Naturorte, wie etwa Gottfrieds Minnegrotte, auf dieses Problem hin gelesen werden. Da der direkte Konflikt dort aber gänzlich in die außerhöfische Lebenswelt ausgelagert ist, wird er zugleich entschärft. Der Baumgarten als Handlungsraum hingegen setzt eine soziale und normative Isolation in die direkte Opposition zu der den Garten umgebenden höfischen Öffentlichkeit. Inmitten des Raum- und Sozialkomplexes des Hofes platzieren die Erzählungen Baumgärten, die als Raum selbst und in Verbindung mit der dortigen Handlung für ihre Umgebung zum Problem werden. Was dort innerhalb der höfischen Sphäre geschieht, aber der Kontrolle der höfischen Öffentlichkeit entzogen ist,

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wird von den höfischen Romanen – freilich in unterschiedlicher Konnotation – als potentiell gesellschaftsfeindlich markiert.1 „Der höfische Roman beginnt, sich für die öffentlichkeitsferne Sphäre zu interessieren, und thematisiert, was hinter dem, das sich zeigt und allgemein gilt, steht.“2 Die höfischen Romane verhandeln in dieser Hinsicht die Gefahren und Folgen, die entstehen, wenn höfische Normen und Werte und die damit einhergehende Kontrolle in Bedrängnis geraten. Diesen Diskurs führen die höfischen Romane im, mit und durch den boumgarten. Sie tun dies jedoch nicht vornehmlich über symbolische Aufladungen des Baumgartens oder der Gartenhandlung. Vielmehr ist die narrative Erzeugung des Baumgartens als Handlungs- und Imaginationsraum die zentrale Voraussetzung dafür, dass dessen Potential als polyvalenter Schwellenraum durch die Handlung im Baumgarten zur Entfaltung gelangen kann. Die Problematisierung und Subversion des Primats der höfischen Öffentlichkeit wird möglich, weil der Baumgarten mythische Implikationen besitzt. Seine Liminalität vereint widerstreitende Handlungsweisen, Werte und Normen, ohne dass diese unterschiedslos ineinander aufgingen. Indem die kulturelle Architektur des boumgarten Peripherie und Zentrum, Intimität/Heimlichkeit und Öffentlichkeit sowie Außerhöfisches und Höfisches zusammen- aber auch gegeneinander führt, entsteht innerhalb des Gartenraums eine labile Form der Koexistenz. Wiewohl die Handlung die Spannungsverhältnisse in die eine oder andere Richtung vereindeutigen kann, lässt sich keiner der einander widerstrebenden Pole dauerhaft ausschalten. Der Konflikt bleibt virulent. Diese mythische Konkreszenz, die den Baumgarten wie keinen Raum der demeure auszeichnet, bildet die Grundlage dafür, dass die Erzählungen die Gegensätze zusammenführen und gleichzeitig aufeinander hin befragen können.3 So wird in den Baumgärten erzählt, wie die Balance der höfischen Sphäre vor allem durch Minne, aber auch durch deviante Herrschaftskonzepte aus dem Gleichgewicht gerät. Diese basale mythische Verfasstheit, die zwar um weitere mythische Eigenschaften und Wirkungsweisen ergänzt sein kann, dieser jedoch nicht erst bedarf – lässt den Baumgarten zu einem Kristallisationspunkt für die höfische Selbstbetrachtung werden. Die problematisierten Geltungsansprüche der höfischen Öffentlichkeit treten – in unterschiedlichem Maße implizit oder explizit – zu Tage, weil sie in einem komplexen Handlungsund Imaginationsraum mit dem sonst Kontrollierten oder Ausgeschlossenen zusam-

 Vgl. Müller, Zwischenräume, S. 291.  Müller, Zwischenräume, S. 274.  Poser betont die Affinität von Höfischem und Mythischem und das sich daraus ergebende Potential zur höfischen Selbstbetrachtung. „Wenn [...] die Funktion literarischen Erzählens darin liegt, die jeweils herrschenden kulturellen Ordnungsvorstellungen in einem von anderweitig geltenden Referenzzwängen entlasteten Raum zur Reflexion zu bringen, dann gewinnt die nicht-zweiwertige Logik des Mythos überall dort an Signifikanz, wo die entsprechenden kulturellen Sachverhalte sich einer widerspruchsfreien (Selbst-)Beschreibung auf der Basis zweiwertiger rationaler Modelle entziehen.“ Poser: Raum in Bewegung, S. 35–38, hier S. 35 f.

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Schlussbetrachtungen

mengeführt werden. Was für die höfische Öffentlichkeit nicht vollständig kontrollieroder exkludierbar ist, hat seinen Raum in der höfischen Literatur auch innerhalb der demeure im boumgarten. Abgegrenzt vom Hof gehören der Baumgarten wie auch das dortige Geschehen doch zum Hof. Sie behaupten sich gegen ihn, stellen ihn in Frage und fordern ihn heraus.

7 Abbildungsverzeichnis Abb. 1 Spiegelkästchen aus Elfenbein, Paris, Musée de Cluny – Musée national du Moyen Âge, 7 x 7 cm, Mitte des 14. Jahrhunderts (Signatur: cl. 13298). © RMN-Grand Palais (Musée de Cluny – Musée du Moyen Âge) / Michel Urtado 82 Abb. 2 Kamm aus Buchsbaum, London, British Museum, 1. Hälfte des 15. Jahrhunderts (Signatur: 1895,1220). © The Trustees of the British Museum (Shared under a Creative Commons AttributionNonCommercial-ShareAlike 4.0 International (CC BY-NC-SA 4.0) licence) 83

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8 Literaturverzeichnis 8.1 Abkürzungen ATB BMZ DVjs DWb

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Register Albertus Magnus 2, 15, 17, 115, 140 Architektur, kulturelle 40, 48–49, 52, 58, 95, 111, 119, 143, 159, 235–236, 238, 240, 243 Assistenzfigur 53, 71, 75, 79, 87, 127, 161, 195, 210, 241 Axialität 29, 41, 55, 130 Bewegung, kinästhetische 6, 56, 78–80, 95–96, 122, 209, 211, 231, 238–239 Bleiben 28–30, 51, 242 Blick 1, 6, 12–13, 40, 46–47, 49, 53, 55–57, 61–62, 65–73, 78, 80, 86, 88–89, 92–93, 97–98, 100–102, 105–109, 111–112, 116–120, 122–123, 125, 131–136, 139, 143, 153, 156–161, 164, 171, 176, 195, 198–200, 202, 208, 210–212, 217, 219, 223–224, 231, 234, 238–239 carte 40–45, 70 chevauchée 29–30, 50, 239–240 Deixis 6, 59, 61–64, 78, 93–94, 96, 107, 135, 187, 199, 208–209, 239 demeure 29–31, 50–51, 228, 238, 240, 243–244 Dunkelheit 88, 97–98, 101–102, 121 Durchgangsraum 48, 85–88, 90–92, 123, 208 espace 29–30, 37–38, 48, 52, 68, 238 Exklusion 25, 139, 144, 150–153, 158–159, 163–165, 208, 214–215, 219, 227–229, 242 Grenze 1, 4–5, 16, 19, 21–22, 28–29, 32, 58, 68–69, 110, 130, 144–148, 154–155, 157, 187, 200, 226, 238 Heimlichkeit 4, 23, 50, 86, 95, 103, 110–111, 113, 116, 121–122, 124, 126–127, 143, 174, 184, 192, 197, 199, 201–202, 208, 210, 214–215, 217–218, 220, 222, 227–230, 238, 241–243 Heterotopie 5–6, 12, 44, 159 hortus conclusus 3, 10 Immunisierung 213–215, 217, 228 Intimdyade 88, 95, 121, 179, 202, 213–215, 228, 239, 241 Intimisierung 95, 97–98, 107–109, 111, 120, 124–125, 154 https://doi.org/10.1515/9783110795455-009

Intimität 22–23, 88, 95, 97, 100, 109–111, 116, 125, 127, 148, 174, 179–180, 184, 192–193, 199–200, 202, 210, 230, 236, 238, 241, 243 Karte 41–44, 70 Kemenate 7, 85–95, 100–101, 105, 107, 112, 114, 116–119, 124, 207–209, 227, 240 Kinästhetik 56, 75 Konkreszenz 9, 154, 178–179, 187, 189, 243 Körpergedächtnis 53, 55–56, 62, 66, 75, 79 Körperschema 55, 59–60, 66, 68, 71, 75–76, 79–80, 91, 93, 96, 108, 131, 133, 160, 164, 170, 195, 200, 208, 211, 213, 231, 239 Kulisse 4, 24, 26, 36, 60, 84, 103, 122–123, 234 Leib, subsidiärer 49–50, 53, 56, 59, 68, 71, 79, 86, 88–89, 91–93, 106, 108, 122, 130–131, 134, 144, 147–148, 156, 165, 171, 185, 187, 195, 200, 208–209, 211, 214, 221, 227, 238–239 Leiblichkeit 30, 45–46, 48, 50, 58–59, 66, 79 Licht 9, 88–89, 92, 94, 101–103, 112, 114, 121, 133, 220 lieu 31, 37–38, 39, 48, 232, 238 locus amoenus 2–3, 4, 8–9, 18–19, 24, 32, 87, 101, 138, 148, 170–171, 173, 179, 184, 198, 213, 222, 225–226, 231, 233, 242 Minnegrotte 18, 97, 100, 113, 119, 124, 126–127, 138, 141, 204, 226, 242 mythisch 5, 11, 16, 18, 25, 147–152, 155, 165, 169, 173, 182, 187, 189–191, 193, 199–200, 240–243 Mythos 3, 243 natûre 19–20, 181 Naturort, schöner 8, 16, 19–20, 25, 223, 226, 242 Naturraum 169, 172–173, 223–224, 226, 229 Nicht-Öffentlichkeit 72–73, 89, 227, 230, 242 Öffentlichkeit 1, 4, 13, 22–23, 25, 52, 67, 73, 84, 88, 94–95, 97, 99, 102–103, 108–113, 115–116, 118–128, 143, 159, 165, 174, 180, 192, 194, 198–199, 202, 207–210, 213–222, 224, 226–230, 233, 236, 238, 241–243 Origo 41, 49–50, 53, 55–58, 60–61, 63–64, 68–71, 79, 85–86, 88, 91–93, 97, 101, 108–110, 122, 130–131, 133–135, 144, 187, 210–211, 223

264

Register

Paradies 3–4, 9–11, 21–22, 33, 35, 87, 117, 144–145, 147–148, 159, 163, 188–190, 193–194, 197, 199, 213, 224–225, 229–230, 233, 242 parcours 40, 42–45, 52, 60, 73, 78–79, 95, 104, 106–107, 122, 127, 208–209 Performativität 38, 40 Peripherie 16, 20, 22–23, 95, 97, 111, 122, 143, 197, 201–202, 225, 227, 230, 232, 236, 238, 243 Petrus de Crescentiis 2, 15, 17–18, 140 plân 6, 19, 205, 212, 222–223, 225–227, 229 Polyfokalität 109, 165, 223–224 Praktik 5–6, 38–41, 43–45, 122, 124–127, 153, 218, 238, 240 Prozedur, deiktische 41, 47, 57–64, 65, 66, 68, 71, 79–80, 85, 87–91, 93–95, 101, 106, 108, 111, 116, 119, 122, 130, 132, 134, 146, 164, 178, 186–188, 198, 200, 202, 210–211, 219, 223, 228, 231, 238–239 Räumlichkeit 31, 35–37, 41–45, 48, 207, 238–241 Raumregie 103, 107, 116, 122, 136, 240–241 Schatten 18, 81, 92, 97, 101–104, 107–109, 114–115, 119, 125, 172–173, 212, 240 Schwelle 16, 23, 149–153, 155, 165, 174, 201 Schwellenraum 6, 23–24, 30, 44, 48–50, 58, 80, 84, 95, 97, 106, 108, 110–111, 116, 122, 124–125, 127–128, 138, 143, 152, 154, 163–165, 174, 180, 182, 192, 197, 202, 209, 213–214, 219, 221, 226, 228–230, 233–234, 236–238, 241, 243 Sonderraum 110, 150–152, 154–155, 163, 165–166

Stabilität 30, 37, 40, 50, 97, 108–109, 122–123, 134, 152, 161, 165–166, 198, 200, 202, 219, 221, 228, 235–236, 239–240 Strategie 40–41, 195 Strategie, narrative 6, 25, 49, 52, 54, 56–57, 60–61, 67, 71, 75, 78, 80, 84, 95, 98, 108, 123, 127, 133, 153, 176, 195, 199–200, 205, 219, 223, 231, 235–236, 238–240 Taktik 40–41, 50, 95, 97–98, 107–109, 119–120, 124–126, 152–155, 158–159, 164–165, 201, 213, 215, 217, 228, 238, 240 Topos 2, 4, 8–9, 24, 101, 138, 226, 231 Traktatliteratur 1, 15–16 Unterwegssein 7, 26–30, 50, 85, 90, 123, 145, 231–232 Vorstellungskonzept 4, 9, 14, 16, 20–21, 23, 26, 48–49, 87, 143, 169–170, 186, 200, 207, 225, 235, 239, 242 Wahrnehmung, kinästhetische 56, 62, 75–76, 78 Wegstrecke 42–44, 48–49, 52, 60, 73, 78–79, 89, 122, 208–209 Zentrum 2, 4–5, 12, 20–23, 38–39, 43, 71, 81, 97, 106, 108, 111, 122, 133, 143, 146, 155, 158, 160, 165, 171–172, 188, 191, 194–195, 200, 227, 230, 236, 238, 243 Zentrum, leeres 69–70, 133, 135